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    Plenarprotokoll 12/14 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 14. Sitzung Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 Inhalt: Tagesordnungspunkt 2 (Fortsetzung): a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1991 (Haushaltsgesetz 1991) (Drucksache 12/100) b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Der Finanzplan des Bundes 1990 bis 1994 (Drucksache 12/101) Dr. Hans-Jochen Vogel SPD 737 B Dr. Alfred Dregger CDU/CSU 747 D Dr. Gregor Gysi PDS/Linke Liste . . . 752A Dr. Otto Graf Lambsdorff FDP 756 C Dr. Klaus-Dieter Feige Bündnis 90/GRÜNE 760D Dr. Günther Krause (Börgerende) CDU/ CSU 764 A Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler 764 D Karsten D. Voigt (Frankfurt) SPD . 777D, 791C Dr. Carl-Ludwig Wagner, Ministerpräsident des Landes Rheinland-Pfalz 783 A Florian Gerster (Worms) SPD 785 C Gerd Poppe Bündnis 90/GRÜNE 787 C Dr. Klaus Rose CDU/CSU 789 B Hans-Dietrich Genscher, Bundesminister AA 790D, 791D Dr. Ingomar Hauchler SPD 796D Dr. Karl-Heinz Hornhues CDU/CSU . . . 799B Dr. Rose Götte SPD 801B Irmgard Karwatzki CDU/CSU 803 A Dr. Barbara Höll PDS/Linke Liste . . . 804 D Dr. Sigrid Hoth FDP 806 A Christina Schenk Bündnis 90/GRÜNE 807D, 814 A Norbert Eimer (Fürth) FDP 808 C Norbert Eimer (Fürth) FDP 809 D Hannelore Rönsch, Bundesminister BMFuS 809D, 815 B Dr. Rose Götte SPD 812B Dr. Barbara Höll PDS/Linke Liste . . 812C Gudrun Weyel SPD 813A Margot von Renesse SPD 814 C Angelika Barbe SPD 815A, 820C Dr. Konstanze Wegner SPD 815C Maria Michalk CDU/CSU 818 A Ingrid Matthäus-Maier SPD 820A Dr. Angela Merkel, Bundesminister BMFJ 820C, 827 B Regina Kolbe SPD 822D Dr. Konrad Elmer SPD 823 A Dr. Edith Niehuis SPD 823 D Dr. Joseph-Theodor Blank CDU/CSU 824 C II Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 Ursula Männle CDU/CSU 827 C Doris Odendahl SPD 829A Uta Würfel FDP 829 C Dr. Konrad Elmer SPD 830 B Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister BMI 830 B Gerd Wartenberg (Berlin) SPD 833 B Dr. Burkhard Hirsch FDP 836 B Johannes Gerster (Mainz) CDU/CSU . . 837D Dr. Burkhard Hirsch FDP 839 B Dr. Gerhard Riege PDS/Linke Liste . . 840B Ingrid Köppe Bündnis 90/GRÜNE . . . 842 C Wilfried Seibel CDU/CSU 843 C Johannes Gerster (Mainz) CDU/CSU . 843 D Doris Odendahl SPD 845 B Dr. Hans de With SPD 847 A Erwin Marschewski CDU/CSU 849 B Dr. Wolfgang Ullmann Bündnis 90/GRÜNE 851A Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister BMJ . 852 C Nächste Sitzung 856 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 857* A Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt 2 a) Erste Beratung des von der Bundesregierunmg eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1991 (Haushaltsgesetz 1991) b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung — Der Finanzplan des Bundes 1990 bis 1994 Michael Glos CDU/CSU 857* C Wolfgang Roth SPD 858* D Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) FDP . . 862* D Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) PDS/ Linke Liste 863* D Werner Schulz (Berlin) Bündnis 90/GRÜNE 864* C Dr. Rudolf Sprung CDU/CSU 866* B Dr. Uwe Jens SPD 868* B Kurt J. Rossmanith CDU/CSU 830*A Jürgen W. Möllemann, Bundesminister BMWi 871*B Bernd Wilz CDU/CSU 873* D Walter Kolbow SPD 875* B Carl-Ludwig Thiele FDP 878* D Andrea Lederer PDS/Linke Liste 880* B Vera Wollenberger Bündnis 90/GRÜNE 881* C Hans-Werner Müller (Wadern) CDU/CSU 883* B Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 737 14. Sitzung Bonn, den 13. März 1991 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Augustin, Anneliese CDU/CSU 13. 03. 91 Bierling, Hans-Dirk CDU/CSU 13. 03. 91 ** Brandt, Willy SPD 13. 03. 91 Bühler (Bruchsal), Klaus CDU/CSU 13. 03. 91 * Conradi, Peter SPD 13. 03. 91 Dr. Däubler-Gmelin, SPD 13. 03. 91 Herta Dempfwolf, Gertrud CDU/CSU 13. 03. 91 Dr. Fell, Karl H. CDU/CSU 13. 03. 91 Fuchs (Köln), Anke SPD 13. 03. 91 Funke, Rainer FDP 13. 03. 91 Frhr. von Hammerstein, CDU/CSU 13. 03. 91 C.-D. Dr. Hennig, Ottfried CDU/CSU 13. 03. 91 Heyenn, Günther SPD 13. 03. 91 Horn, Erwin SPD 13. 03. 91 ** Ibrügger, Lothar SPD 13. 03. 91 ** Jaunich, Horst SPD 13. 03. 91 Kleinert (Hannover), FDP 13. 03. 91 Detlef Kossendey, Thomas CDU/CSU 13. 03. 91 Krause (Dessau), CDU/CSU 13. 03. 91 Wolfgang Dr. Kübler, Klaus SPD 13. 03. 91 Lenzer, Christian CDU/CSU 13. 03. 91 * Lowack, Ortwin CDU/CSU 13. 03. 91 ** Maaß (Wilhelmshaven), CDU/CSU 13. 03. 91 Erich Mischnick, Wolfgang FDP 13. 03. 91 Paintner, Johann FDP 13. 03. 91 Dr. Probst, Albert CDU/CSU 13. 03. 91 Rawe, Wilhelm CDU/CSU 13. 03. 91 Dr. Reinartz, Bertold CDU/CSU 13. 03. 91 Schaich-Walch, Gudrun SPD 13. 03. 91 Dr. Scheer, Hermann SPD 13. 03. 91 * Schmidt (Spiesen), Trudi CDU/CSU 13. 03. 91 Dr. Schneider CDU/CSU 13. 03. 91 (Nürnberg), Oscar Schulte (Hameln), SPD 13. 03. 91 ** Brigitte Dr. Sperling, Dietrich SPD 13. 03. 91 Weiß (Berlin), Konrad Bündnis 90/ 13. 03. 91 GRÜNE * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ** für die Teilnahme an Sitzungen der Nordatlantischen Versammlung Anlagen zum Stenographischen Bericht Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt 2 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1991 (Haushaltsgesetz 1991) b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung - Der Finanzplan des Bundes 1990 bis 1994 Michael Glos (CDU/CSU): Wenn Karl Marx die ökonomischen und ökologischen Hinterlassenschaften seiner Erben in Osteuropa betrachten könnte, er würde sich noch heute im Grabe herumdrehen. Er könnte nur noch bitten: „Proletarier aller Länder verzeiht mir! " Der Bundesfinanzminister hat gestern im einzelnen jene finanziellen Leistungen erläutert, die der Bund und die westlichen Länder zur ökonomischen, ökologischen und sozialen Sanierung der ehemaligen DDR zur Verfügung stellen. Damit werden die Voraussetzungen zur Finanzierung der Länder- und Kommunalhaushalte, zur notwendigen Anpassung der Infrastruktur an das westliche Niveau und zur Übernahme unseres sozialen Sicherungsnetzes geschaffen. Dies alles ist mit hohen finanziellen Aufwendungen verbunden. Allerdings stehen jetzt genügend Finanzmittel zur Verfügung, so daß der wirtschaftliche Aufschwung am Geld nicht scheitern kann. Die Probleme sind nicht über Nacht entstanden, sie können deshalb auch nicht von einem auf den anderen Tag bewältigt werden. Das Gebot der Stunde lautet deshalb: Solidarität in den alten und Geduld in den neuen Ländern! Auch wenn es ohne Zweifel sowohl Grenzen der Solidarität als auch Grenzen der Geduld gibt, so bin ich doch sicher: Gemeinsam werden wir es schaffen! Der Aufbau der Infrastruktur, die Beseitigung der Altlasten im Umweltbereich, der Aufbau effizienter Verwaltungen und nicht zuletzt die Durchführung von Investitionen zur Schaffung neuer und Sicherung bestehender Arbeitsplätze und damit der schrittweise Abbau der zu Beginn der Währungsunion von den meisten unterschätzten Produktivitätslücke zwischen West und Ost - dies alles erfordert Zeit. Wir müssen deshalb all jene warnen, die glauben die Sanierung der neuen Länder könne sich quasi an einem Terminplan orientieren nach dem Muster: 8. November 1989 Öffnung der Mauer - 1. Juli 1990 Währungsunion, 3. Oktober 1990 Vollendung der Einheit und 1. Dezember 1991 endgültige Beseitigung aller Unterschiede in den Lebensbedingungen. Wir müssen uns vielmehr im klaren sein: Beim sich jetzt vollziehenden Übergang von einer sozialistischen Planwirtschaft in ein marktwirtschaftliches System handelt es sich ja nicht um einen evolutionären Schritt, sondern um einen revolutionären Sprung, für den es in der bisherigen Wirtschaftsgeschichte kein historisches Vorbild und in den Werken der Nationalökonomie keine praktische Handlungsanweisung gibt. Auch aus diesem Grunde empfehle ich dringend, die Erwartungen realistisch zu formulieren und nicht nach wenigen Monaten Marktwirtschaft die sofortige Beseitigung der vor Öffnung der Mauer sicherlich von 858* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn. Mittwoch, den 13. März 1991 vielen erheblich unterschätzten Erblast des Sozialismus zu verlangen. Auch ich habe das Ausmaß der Erblast in den neuen Bundesländern unterschätzt. Ein Großteil der aktuellen wirtschaftlichen Schwierigkeiten rührt allerdings vom nahezu vollständigen Zusammenbruch des Handels mit den ehemaligen RGW-Staaten. Dort sind die Hinterlassenschaften des real existierenden Sozialismus noch grausamer als in der ehemaligen DDR. Geduld brauchen wir auch für die Einkommensentwicklung. Wer bei Löhnen und Gehältern angesichts der enormen Produktivitätslücke eine sofortige Angleichung der Tarife in Ost und West fordert, der läuft Gefahr, damit einen Beitrag zur Entstehung dauerhafter Massenarbeitslosigkeit zu leisten. Bei der Angleichung der Löhne stehen die Tarifpartner vor einem Dilemma: Eilt die Lohn- der Produktivitätsentwicklung voraus, droht Dauerarbeitslosigkeit. — Verläuft der Anpassungsprozeß zu langsam, drohen die Pendlerbewegungen und die Abwanderung von Fachkräften zu einem Dauerzustand zu werden. Eine passive Sanierung der neuen Länder kann jedoch nicht das Ziel unserer Wirtschaftspolitik sein. Deshalb müssen die Tarifpartner bei dieser Gratwanderung verstärkt zu einer Differenzierung der Lohnstruktur greifen, damit die gut ausgebildeten Fachkräfte im Land bleiben. Zur Solidarität gehört allerdings auch eine maßvolle Lohnpolitik bei uns. Die Warnstreiks der ÖTV sind in dieser Hinsicht leider kein ermutigendes Zeichen. Mit dem Bundeshaushalt 1991 und hier insbesondere mit dem Gemeinschaftswerk für den Aufschwung im Osten schaffen wir die finanziellen Rahmenbedingungen für die Entsorgung der sozialistischen Altlasten. Vorbildliche finanzielle Rahmenbedingungen reichen jedoch zur Sanierung der neuen Länder nicht aus. Wichtiger als Finanzmittel und Investitionspauschalen sind nach meiner Überzeugung grundlegende Änderungen im mentalen Bereich unserer Mitbürger in den neuen Ländern. Ich warne jedoch vor einer Oberlehrerhaltung seitens des Westens. Erforderlich ist Fingerspitzengefühl. Die Menschen drüben brauchen Hilfe und Unterstützung von uns, damit sie das notwendige Vertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit entwickeln können. Die neuen Mitbürger waren 40 Jahre lang quasi Sozialuntertanen des Zentralkommitees einer Partei. Ihr Denken war ausgerichtet auf die Erfüllung der von oben kommenden Planauflagen. Raum für selbständiges Denken, für Eigenverantwortung, für Eigeninitiative blieb dabei nicht viel. Kurz: Die Menschen müssen erst lernen, in marktwirtschaftlichen Kategorien zu denken. Dies gilt für Betriebsleiter und Arbeitnehmer ebenso wie für selbständige Landwirte, Handwerker und Freiberufler, aber auch für die im Aufbau befindlichen Verwaltungen. Gerade hier müssen verstärkt Initiativen ergriffen werden, um Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes, Beamte und Angestellte, zu veranlassen, in die neuen Bundesländer zu gehen. Es muß sich für die Mitarbeiter sowohl der Privatwirtschaft als auch des öffentlichen Dienstes karrierefördernd auswirken, am Wiederaufbau in den neuen Ländern mitzuwirken. Es gehört deshalb auch zum Gemeinschaftswerk, den betroffenen Menschen bei der Übernahme marktwirtschaftlicher Denkkategorien zu helfen. An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich die diesbezüglichen Bemühungen der Unternehmen, der Wirtschaftsverbände, der Handwerks- sowie der Industrie- und Handelskammern hervorheben. Ein dauerhafter Aufbruch im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereich wird nur gelingen, wenn es uns gemeinsam gelingt, diese vom doktrinären Menschenbild des Sozialismus herrührenden mentalen Altlasten zu beseitigen. Die jüngsten Zahlen bezüglich der Gewerbeanmeldungen und der Inanspruchnahme der ERP-Programme stimmen zuversichtlich. Auch in den neuen Ländern muß sich der Mittelstand zum Rückgrat der Wirtschaft entwickeln. In der jetzigen Phase erfordert das auch eine gezielte Mittelstandspolitik der neuen Landesregierungen. Ich denke dabei vor allem an eine Bevorzugung der neuen mittelständischen Unternehmen, vor allem der Handwerksbetriebe, bei der Vergabe öffentlicher Aufträge. Eine weitere Starthilfe muß darin bestehen, daß die öffentlichen Auftraggeber dem neuen Mittelstand bei der Bearbeitung von Ausschreibungen behilflich sind; denn es kann niemand von diesen Unternehmen erwarten, sofort und ohne fremde Hilfe mit schwierigen Regelungen wie VOB oder VOL fertig zu werden. Es geht jetzt nicht darum, darüber zu streiten, wer wann welche Kosten richtig oder falsch eingeschätzt hat. Es geht vielmehr darum, mit realistischem Optimismus das große Gemeinschaftswerk zügig umzusetzen, um so dem gemeinsamen Ziel der Angleichung der Lebensverhältnisse ein entscheidendes Stück näher zu kommen. Wolfgang Roth (SPD): Die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung steht im Osten Deutschlands vor dem Abgrund. Illusionen, Fehleinschätzungen, mangelnde Analyse der Wirklichkeit und die eigene Handlungsunfähigkeit haben dazu geführt. Die Bundesregierung hat dies verschuldet, weil sie die Bedeutung der Aufgabe der wirtschaftlichen Vereinigung stets falsch eingeschätzt hat. Sie hat letztes Jahr den Eindruck erweckt, als ob die Marktwirtschaft die Probleme praktisch im Selbstlauf lösen würde. Laßt tausend Mittelstandsblumen blühen; das war die Hoffnung, die bald zur Illusion wurde. Nun zeigt sich: Die wirtschaftliche Situation in den neuen Bundesländern ist dramatisch, es gibt keine Entwarnung. Im Gegenteil: Unsere Befürchtungen wurden leider Wirklichkeit und durch viele Fehler der Bundesregierung noch übertroffen. Wie oft wurde im letzten Jahr der schnelle Erfolg der Marktwirtschaft in der DDR vorhergesagt? Jetzt wird langsam und verschämt eingeräumt, daß alles viel schwieriger wird. Eines kann aber leider nicht durchgehen: Man habe das alles nicht gewußt. Daß Sie es nicht wissen wollten, das ist wahr. Aber hier im Deutschen Bundestag ist die gewaltige Herausforderung oft genug zutreffend beschrieben worden. Sie wollten es nur nicht hören. Ich tue mich übrigens bei der Meinungsbildung schwer, ob der Herr Bundeskanzler gelogen hat oder ob er sich selbst getäuscht Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 859* hat. Seiner Verantwortung gerecht geworden ist er auf keinen Fall. Die Bilanz der Wirtschaftspolitik der Bundesregierung in den neuen Bundesländern ist eine Bilanz der Versäumnisse und Illusionen. Die Idelogie hat den Blick verstellt. Man wollte den großen staatlichen Handlungsbedarf einfach nicht zur Kenntnis nehmen, den eine funktionstüchtige Marktwirtschaft als Grundlage braucht. Das war nichts anderes als unterlassene Hilfeleistung. Notwendige Maßnahmen wurden gar nicht, zu spät, unzureichend oder konzeptionslos ergriffen. Erst jetzt schimmert manchmal Einsicht durch, die Katastrophe zu benennen und zuzugeben, daß sich die Bundesregierung bei der Einschätzung der Entwicklung in der DDR selbst getäuscht hat. Allerdings hat der Lernprozeß viel zu lange gedauert. Der Zeitverlust bedeutet zum Schaden der Bundesrepublik höhere Kosten im Westen und längere Aufbauzeiten im Osten. Die volkswirtschaftlichen Kosten werden unerträglich nach oben getrieben. Übrigens: Uns wäre es wirklich lieber gewesen, wir hätten uns bei der Prognose geirrt. Leider muß ich sagen, wir haben recht behalten. Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit bewegen sich in Richtung der 3-MillionenGrenze. Die Produktion ist kollabiert. Am Außenhandel mit Osteuropa hing jeder fünfte Arbeitsplatz. In diesem Jahr bleiben trotz der bisherigen Stützungsmaßnahmen davon kaum welche übrig. Die Abwanderung nach Westen geht weiter, Apathie und Resignation breiten sich aus. Die Aggressivität steigt. Dies ist das Ergebnis falscher Versprechungen der Bundesregierung. Marktwirtschaft in der früheren DDR, das wollten die Menschen. Aber sie wollten eine Marktwirtschaft, in der die Rahmenbedingungen stimmen. Sie wollten eine soziale Marktwirtschaft, keine ideologischen Predigten. Was ist das aber für eine Marktwirtschaft, in der unklare Eigentumsverhältnisse keinerlei Investitionssicherheit gewährleisten? Was ist das für eine Marktwirtschaft, in der Länder und Gemeinden in den neuen Ländern nun über Monate so gut wie pleite sind? Was ist das für eine Marktwirtschaft, in der die öffentliche Verwaltung praktisch handlungsunfähig ist, in der Investoren verläßliche Entscheidungen nicht bekommen? Wir haben im letzten Jahr permanent vor der Verharmlosung der Übergangsprobleme gewarnt. Natürlich war die Währungsunion notwendig, aber die schlechte Vorbereitung dieser wichtigsten Aufgabe der deutschen Wirtschaftspolitik seit der Währungsreform 1948 ist von Ihnen verschuldet. Aber es hilft nun nichts. Wir müssen das Ruder herumreißen. Jetzt sind Nachbesserungen notwendig. Daher habe ich die Vorstellungen des neuen Wirtschaftsministers Möllemann für seine wirtschaftspolitische „Strategie Ost" als ersten Schritt in die richtige Richtung begrüßt. Möllemann hat durch seinen Kurswechsel alle Reden von Waigel und Lambsdorff Lügen gestraft. Erstmals hat damit die Bundesregierung öffentlich zugegeben, daß die Opposition die Entwicklung in den neuen Ländern frühzeitig richtig eingeschätzt hat und auch die richtigen Therapievorschläge gemacht hat. Ob dieser Realismus anhält, werden wir genau beobachten. Leider beginnt auch bei Möllemann schon wieder der Selbstbetrug. Während Minister Möllemann bei der Vorstellung seines Papiers vor einem Monat noch von 3 Millionen Arbeitslosen in den fünf neuen Ländern im Jahr 1991 sprach, blieben davon im Jahreswirtschaftsbericht nur noch 1,1 bis 1,4 Millionen übrig. Mit Durchschnittsrechnungen und Tricks, was die Kurzarbeit anbetrifft, hat er nun das Problem erneut verharmlost. Kommt sie wieder, die alte Tendenz zur Verharmlosung und Gesundbeterei, Herr Möllemann? Ich hoffe nicht, daß Ihre wirtschaftspolitischen Vorschläge von Ihrer Partei und Ihrer Koalition wieder auf Stromlinienform gebracht werden. Dann nämlich bestünde die Gefahr, daß Sie ein weiterer in der Reihe der Ankündigungsminister im Kabinett Kohl werden. Übrigens sollten Sie wissen: Wer so viel Wind macht wie Sie, kann nicht auf Milde rechnen, wenn er Ausweichmannöver macht. Die Bundesregierung hat nun ihre Finanzpolitik korrigiert. Abgesehen von den skandalösen sozialen Ungerechtigkeiten dieser Operation ist jetzt Spielraum für die wirtschaftliche Vereinigung entstanden. Aber: Nachdem nun Geld da ist, kommt es um so mehr darauf an, wirtschaftspolitisch sinnvolle Maßnahmen auch tatsächlich zu ergreifen, nicht nur darauf, sie anzukündigen. Die Bundesregierung zaudert immer noch, die grundlegenden Voraussetzungen für Investitionen wirklich herzustellen. Die ungeklärten Eigentumsverhältnisse sind eines der wichtigsten Investitionshemmnisse. Die investionsfeindliche Fehlentscheidung im Einigungsvertrag haben wir Bundeskanzler Kohl und vor allem Graf Lambsdorff zu verdanken. Ohne klare Eigentumsverhältnisse geht nun einmal nichts. Das haben der Ihnen nicht gerade fernstehende Kronberger Kreis und Professor Engels von der „Wirtschaftswoche" im Dezember glasklar festgestellt: Man hat nicht den Eindruck, daß es die Weisheit erfahrener Juristen war, die dem Gesetzgeber die Hand geführt hat, als dieser den Restitutionsanspruch auf Grundvermögen — in Konkurrenz zum Entschädigungsanspruch — ausgestaltete, um den geschädigten Grundeigentümern eine Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, die Millionen anderen Geschädigten des Unrechtsstaates vorenthalten bleiben muß, ja, die zur Folge hat, daß diese anderen nun noch länger als eigentlich nötig auf eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen warten müssen. Allmählich hat sich auch bis zur Bundesregierung herumgesprochen, daß Unternehmen nicht auf Grundstücken investieren, deren endgültiger Eigentümer unbekannt ist. Eine eindeutige und unbürokratische Klärung — und nur die beseitigt die ökonomischen Barrieren — liefert aber auch der Gesetzentwurf von Minister Kinkel nicht. Das hat die Anhörung im Rechtsausschuß gezeigt. Jetzt wurde nachgebessert, aber der Grundsatz nicht verändert. 860* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 Wir bleiben dabei: Entschädigung muß vor Rückgabe gehen. Investoren müssen Eigentum an Grund und Boden erwerben können. Alteigentümer müssen angemessen entschädigt werden. Nur dann wird diese fundamentale Investitionssperre entschärft. Das zweite Nadelöhr für Investitionen im Osten Deutschlands sind die öffentlichen Verwaltungen. Hier fehlen grundlegende Kenntnisse des bundesdeutschen Rechts. Gesetze müssen aber angewendet, ihre Anwendung muß ordnungsgemäß überwacht werden. Außerdem fehlen Managementfähigkeiten. Wer soll beispielsweise Grundbücher führen oder kommunale Investitionsvorhaben organisieren? Immer mehr stellt sich heraus, daß die Personalausstattung der öffentlichen Verwaltungen in den neuen Bundesländern nur durch einen massiven Personaltransfer grundlegend verbessert werden kann. Appelle helfen da nicht weiter. Organisieren muß das die Bundesregierung. Voraussetzung ist, daß sie nicht nur Mittel bereitstellt, sondern die vorübergehende Tätigkeit von Beamten und Angestellten in den neuen Bundesländern durchsetzt. Berufsbeamtentum bedeutet Vorteile. Deshalb muß eine Abordnung von qualifizierten Beamten in einer kritischen Phase erforderlichenfalls rechtlich durchgesetzt werden können. Wer Privilegien besitzt, wie Schutz vor Arbeitslosigkeit, muß auch besondere Pflichten übernehmen. Der Zusammenbruch der ostdeutschen Wirtschaft verlangt vor allem eines: eine schnelle Reaktion, schnelle wirtschaftspolitische Maßnahmen. Auch der breite Ausbau vor allem der wirtschaftsnahen Infrastruktur muß schnell gehen. Ob die ohnehin überforderten Verwaltungen in den neuen Ländern und ihren Kommunen dies ermöglichen, ist mehr als fraglich. Ich stelle auch in Frage, ob wir alle inhaltlichen und verfahrensmäßigen Anforderungen unseres westdeutschen Planungsrechts in den ostdeutschen Bundesländern aufrechterhalten können. Ohne unverzichtbare Rechte der Bürger aufzugeben, sind doch sicher differenzierte Lösungen im Osten möglich. Wo bleibt das angekündigte Maßnahmengesetz? Falls die Bundesregierung diese grundlegenden Investitionshindernisse nicht ganz schnell beseitigt, läuft die ganze Investitionsförderung ins Leere. Es wäre genauso, als ob man bei gezogener Bremse immer mehr Gas geben würde. Obwohl die neuen Vorschläge von Minister Möllemann in die richtige Richtung gehen, reichen sie nicht aus. Vor allem muß endlich die industrielle Basis der neuen Länder gestärkt werden. Die Produktivität, die Wettbewerbsfähigkeit muß steigen. Arbeitsplätze im Osten werden nicht durch konsumtive Ausgaben geschaffen. Nachbessern ist notwendig. Dazu wird es die Unterstützung der SPD geben, wenn die folgenden Vorschläge, die wir bereits im Februar 1990 veröffentlicht haben, jetzt nach mehr als einem Jahr verwirklicht werden: Erstens. Wir fordern eine massive und gezielte Förderung von privaten Investitionen. Statt der unglaublichen Zersplitterung der bisherigen Förderung auf zinsbegünstigte Kredite, Investitionszulagen und Investitionszuschüsse brauchen alle Unternehmen in der bisherigen DDR für einen befristeten Zeitraum drastische Investitionsfördermaßnahmen. Wir schlagen deshalb eine einheitliche Investitionszulage und Sonderabschreibungen vor. Zweitens. Wir haben seit einem Jahr immer vor der Überschuldung der Betriebe in der früheren DDR gewarnt. Für viele Betriebe sind die Altschulden zu einer Überlebensfrage geworden. Um den verschuldungsbedingten Zusammenbruch dieser Betriebe und den Verlust dringend benötigter Arbeitsplätze zu verhindern, hätte endlich eine Lösung geboten werden müssen. Nichts ist geschehen, was der Treuhand die Entscheidung ermöglicht. Drittens. Eine Überlebenschance für die alten DDR-Betriebe hat die Bundesregierung schon leichtfertig verspielt. Die traditionellen Handelsbeziehungen zu Osteuropa sind schon zusammengebrochen oder gerade dabei. Auch hier können Sie nicht sagen, niemand habe dies gewußt. Der im Staatsvertrag und im Einigungsvertrag zugesagte Vertrauensschutz war für Sie wohl nur eine Floskel. Umgesetzt wurde er jedenfalls nicht. Unnötige Arbeitsplatzverluste haben Sie billigend in Kauf genommen. Bei aller Anerkennung der Vereinbarungen mit der Sowjetunion: Ihr eigentlicher Fehler liegt darin, daß sie ein umfassendes Konzept für die Stützung der Handelsbeziehungen mit allen ehemaligen RGW-Ländern bräuchten, dies aber noch nicht erkannt worden ist. Ich schlage folgende Elemente vor: — Die Streichung der Negativsalden der RGW-Partner gegenüber der ehemaligen DDR in Transferrubeln, — eine befristete zinslose Devisenkreditlinie für Käufer von Produkten aus Betrieben der neuen Bundesländer für alle ehemaligen RGW-Länder, — einen Devisenaufbaufonds mit verlorenen Zuschüssen für die osteuropäischen Länder. Das alles ist viel billiger als die Finanzierung des Nichtstuns in den neuen Ländern. Viertens. Was ist Ihr sturkturpolitisches Konzept, um das Hauptproblem des schwierigen Umstrukturierungsprozesses in den neuen Ländern zu bewältigen: die Lücke zwischen dem schnellen Zusammenbruch nicht wettbewerbsfähiger Unternehmen und dem langsamen Aufbau neuer Beschäftigungsmöglichkeiten zu einem viel späteren Zeitpunkt? Aufgabe der Strukturpolitik in dieser Situation ist es, eine tragfähige Grundlage für neue Wirtschaftsstrukturen zu schaffen und die Zeitspanne bis zum Entstehen neuer Arbeitsplätze zu überbrücken. Plattmachen kann keine Lösung für die neuen Länder sein. Neben der Schaffung neuer Arbeitsplätze muß die Strukturpolitik deshalb auch die Sanierung und Umstrukturierung bestehender Betriebe unterstützen. Die Verantwortung für die Sanierung liegt sicher auf Dauer bei den privaten Unternehmen. Aber natürlich müssen wir auch akzeptieren, daß die maroden Unternehmen im Osten Übergangszeiten in öffentlicher Verantwortung brauchen. So war es übrigens in der Vergangenheit bei VW oder Salzgitter, bei VEBA oder der VIAG im Westen. Warum sollte diese öffentliche Verantwortung im Osten nicht wahrgenommen werden? Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 861* Warum zahlen Sie Milliarden für den Airbus zum Ausgleich des Wechselkursrisikos? Die ostdeutsche Industrie fliegt auch wegen veränderter Wechselkurse aus dem Markt. Da ist es natürlicher Strukturwandel, während die Risiken bei Daimler-Benz für ein Jahrzehnt subventioniert werden. Herr Möllemann, wie sehen die angeblich neuen Akzente der Treuhandpolitik, wie sieht der neue Sanierungsauftrag der Treuhand praktisch aus? Erhard hat Industriepolitik in weniger kritischen Zeiten betrieben, als sie jetzt die östlichen Länder durchmachen. Ich erinnere nur daran, daß er beispielsweise ein staatliches Investitionshilfegesetz durchsetzte, das eine Sonderabgabe für die Industrie erhob. Das Geld kam zwei nachhinkenden Sektoren zugute. Sie wurden also durch die Lenkung von Investitionsmöglichkeiten auf die Beine gebracht. Natürlich brauchen wir Industriepolitik im neuen gemeinsamen Deutschland. Die Treuhand wäre ein geeignetes Instrument dafür. Auch hier haben Sie viel Zeit verspielt. Warum wurde die Treuhand nicht früher besser ausgestattet? Lange Zeit war die größte Holding der Wirtschaftsgeschichte in einer Verfassung, mit der nicht einmal ein mittleres Unternehmen zu führen wäre. Sie haben meine Unterstützung, wenn Sie die Treuhand industriepolitisch nutzen wollen. Dazu ist sie in der Tat besser beim Wirtschaftsministerium auf gehoben — das füge ich hinzu — dieses Haus nicht mit ideologischen Scheuklappen an diese Aufgabe herangeht. Sanierung und Privatisierung dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Aber: oft wird eine ökonomisch sinnvolle Sanierung erst die Voraussetzungen für eine wirtschaftliche Zukunft schaffen können. Betriebe, die nach Vorlage der Eröffnungsbilanz und dem Urteil externer Gutachter als sanierungsfähig eingestuft werden, müssen von der Treuhandanstalt privatisiert werden, damit mit ihrer Sanierung zügig begonnen werden kann. Bei sanierungsfähigen Betrieben, für die kein privater Käufer gefunden wird, der das Risiko einer vollständigen Übernahme eingeht, muß sich die Treuhand auch an der Sanierung beteiligen. Natürlich unter Einbeziehung von privatem Kapital und privatem Management. Nach erfolgter Sanierung können diese staatlichen Betriebe dann verkauft werden. So war es in der Vergangenheit im Westen in der Aufbauphase. Warum haben die Menschen in der früheren DDR weniger Industriepolitik verdient? Nicht mehr rentable Unternehmen müssen in Qualifizierungs- und Beschäftigungsgesellschaften umgewandelt werden. Die Bundesregierung darf nicht länger die Augen davor verschließen, daß übergangsweise viele Beschäftigte ohne Normalarbeitsplatz sein werden. Ihnen müssen wir helfen, ehe sich dieser Zustand verfestigt und viele Menschen in Sozialhilfe und Armut landen. Ich begrüße daher Ihr Vorhaben, nun endlich auch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen innerhalb von Betrieben zu fördern. Setzen Sie es unverzüglich in die Tat um. Unser Beifall kann Ihnen sicher sein, für eine von uns seit einem Jahr geforderte Maßnahme. Die von Arbeitslosigkeit Betroffenen können durch Umschulung, Weiterbildung und Beschäftigung mit sinnvollen Arbeiten im bisherigen Arbeitsumfeld arbeits- und lernfähig bleiben, bis ein neuer Arbeitsplatz zur Verfügung steht. Ihnen müssen zukunftsorientierte Qualifikationen und berufliche Basiskenntnisse für neue Arbeitsplätze vermittelt werden. Sie könnten Aufgaben im öffentlichen Interesse in Wohnumfeld, Umwelt und Infrastruktur erledigen. Aber das geht nur, wenn die Bundesanstalt für Arbeit die Mittel bereitstellt. Es geht auch nur dann, wenn die Bundesregierung endlich einer aktiven Arbeitsmarktpolitik den Vorrang gibt und auch diese Vereinbarung des Einigungsvertrages verwirklicht. Fünftens. Durch die Investitionsförderung kann Produktion nach Ostdeutschland verlagert werden. Aus Patriotismus wird dies jedoch kein Unternehmen tun. Sie werden sich sehr sorgfältig überlegen, ob Geschäfte zumachen sind, d. h. ob die Produktion aus den neuen Betrieben auch absetzbar sein wird. Deshalb muß Nachfrage in die östlichen Bundesländer gelenkt werden. Deshalb muß der Zugang zu öffentlichen Aufträgen für Betriebe aus der ehemaligen DDR erleichtert werden. Bei staatlichen Aufträgen könnte ein bedeutender Teil aus den neuen Ländern bezogen werden müssen. Nur dann wird der Aufbau der neuen Länder auch diesen selbst zugute kommen und Arbeitsplätze dort schaffen. Heilige Kühe darf es hier nicht geben. Die Bundesregierung sollte prüfen, ob nicht die Möglichkeit für die Auftraggeber geschaffen werden kann, daß bis zu zwei Drittel des Auftragsvolumens aus den neuen Ländern geliefert werden muß. Ich sehe sehr wohl die EG-rechtliche Problematik. Aber es müssen sich doch zeitlich befristete Ausnahmeregelungen mit der EG-Kommission vereinbaren lassen. Die Bundesregierung sollte endlich auf dem Verhandlungswege versuchen, die EG zur Genehmigung dieser Ausnahmeinstrumente in einer Ausnahmesituation zu bewegen. Lassen Sie mich noch ein Wort zur heftigen Diskussion über Rüstungsexporte sagen. Auch bei dieser zweiten großen aktuellen Herausforderung der deutschen Wirtschaftspolitik, der Rüstungsexportkontrolle, hat die Bundesregierung versagt. Der legale, genehmigte Export von Rüstungsgütern in Spannungsgebiete geht munter weiter, es gibt inzwischen skandalöse Geschäftsvereinbarungen. Wahr bleibt: Noch im letzten Jahr hat die Koalition aus CDU/CSU und FDP alles unternommen, um die von meiner Fraktion verlangten Verschärfungen der Rüstungsexportgesetze zu unterlaufen. Es ist bekanntlich nur mit Hilfe der Bundesratsmehrheit der A-Länder im September 1990 gelungen, eine Verschärfung der Rüstungsexportkontrollen durchzusetzen, die wir aber bei dieser Gelegenheit schon als nicht ausreichend qualifiziert hatten. Alle unsere weiterreichenden Vorschläge aus den vergangenen Jahren im Anschluß an die Libyen-Giftgasaffäre sind von den Koalitionsparteien verbissen abgelehnt worden. Jetzt liegt das Kind im Brunnen, und jetzt hat es keiner hineinfallen lassen. Aber Herr Möllemann hatte damals fröhlich angefeuert, als das Kind auf den 862* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 Brunnen zulief. Ich erinnere nur an seine Forderung, Leopardpanzer in den Nahen Osten zuliefern: „Leo buchstabiert sich rückwärts als Oel. " Einige von unseren Forderungen aus den Vorjahren sind jetzt aufgegriffen worden, so z. B. die Erhöhung des Strafrahmens und der Wegfall der qualifizierenden Strafbarkeitsvoraussetzungen in § 34 des Außenwirtschaftsgesetzes. Damit ist etwas gewonnen. Dies genügt aber nicht. Wir fordern weiterhin, daß Rüstungsexporte außerhalb des Bündnisses untersagt werden. Wir fordern, daß eine Endverbleibsregelung bei Kooperationsprojekten im Rüstungsbereich wirksam gemacht wird, damit der Endverbleib im Bündnis sichergestellt ist. Die Praxis der Lieferungen von Kooperationspartnern in Spannungsgebiete hat im konventionellen Waffenbereich die Spannungen ebenfalls erheblich gesteigert. Dies darf so nicht weitergehen. Wir haben eigene Vorschläge dazu vorgelegt. Gerade der neue Bundeswirtschaftsminister muß lernen, daß publizistisch der Aktionismus ohne Taten kurze Beine hat und daß es zuallererst auch um eine politische Wendung im Rüstungsexportbereich geht, nämlich darum, das politische Klima des „augenzwinkernden Einverständnisses" und der „stillschweigenden Ermutigung", die unter dieser Bundesregierung eingerissen sind, endlich zu ändern. Ich warne die Koalition davor, das Gesetzgebungsverfahren zu mißbrauchen, um von Fehlern abzulenken. Der von Ihnen auf einmal hochgespielte Zeitdruck soll über Ihre bisherige Untätigkeit hinwegtäuschen. Sie haben nun plötzlich noch nicht einmal mehr Zeit, um die Beratungen in den befaßten Ausschüssen abzuwarten. Die Konzentration auf die innerdeutsche Vereinigung darf nicht zur Vernachlässigung der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion führen. Der Binnenmarkt ist noch nicht fertig. Ich sehe die Gefahr, daß wir bei unserer Neigung zur Nabelschau vergessen, wie wichtig die europäische Einbindung für die deutsche Einheit war und auch weiterhin ist. Die Bundesregierung muß endlich auch dafür sorgen, daß die EG mehr ihrer Verantwortung in der Weltwirtschaft gerecht wird. Ein Rückfall in den kleinkarierten Protektionismus der vergangenen Jahrzehnte würde die Weltwirtschaft stark belasten. Daher ist ein Erfolg bei den Verhandlungen über ein neues Zoll- und Handelsabkommen im Rahmen des GATT für die Bundesrepublik lebenswichtig. Die sich abschwächende Weltkonjunktur, aber auch die rezessiven Tendenzen in den wichtigsten Partnerländern machen das nicht leichter. Leider wird Protektionismus gerade jetzt zum Ausschalten lästiger Konkurrenten attraktiv. Die Bundesrepublik würde durch eine solche Entwicklung in eine besonders schwierige Lage geraten. Als einer der größten Exporteure der Welt müssen gerade wir ein Interesse daran haben, daß der Welthandel offenbleibt. Selbst die USA, aber auch andere europäische Länder können sich die Rolle eines Zaungastes eher leisten. Ohnehin ist die Situation für die deutsche Exportwirtschaft nicht leichter geworden. Durch das Zinsgefälle gegenüber ausländischen Geld- und Kapitalmärkten ist der Wert der D-Mark an den Devisenmärkten gestiegen; gegenüber dem Dollar hat der Wert der D-Mark im Jahr 1990 rund 14 % zugenommen. Beides, rezessive Tendenzen in den Partnerländern und die starke D-Mark, werden nicht ohne Bremsspuren in der deutschen Exportwirtschaft bleiben. Der Erfolg der GATT-Verhandlungen setzt einen akzeptablen Kompromiß im Agrar-Streit voraus. Den hat die Bundesrepublik bisher verhindert. Die von ihr aufgebauten illusionären Verhandlungspositionen der EG haben im Dezember die GATT-Verhandlungen mit zum Scheitern gebracht. Die Feigheit der Bundesregierung gegenüber einer völlig undiskutablen europäischen Agrarpolitik ist unerträglich. Das hat den objektiven Interessen der Bundesrepublik geschadet, im übrigen auch den Interessen der Entwicklungsländer und der osteuropäischen Reformländer. Die Bundesregierung hat bis heute kein Konzept in der Agrarfrage vorgelegt, das die berechtigten Interessen der Landwirte wie die wichtigen Exportinteressen der übrigen Wirtschaft gleichermaßen berücksichtigt. Ist es nicht ein Totalversagen der deutschen Handelspolitik, haben viele Industrievertreter kürzlich an den Kanzler geschrieben und beklagt, daß die Interessen der Industrie ignoriert werden? Ich meine, die Bundesregierung muß endlich zur Kenntnis nehmen, daß die Bundesrepublik kein Agrarland ist. Sie muß endlich sehen, daß der Agrarhaushalt langsam zu einem Sprengsatz der Europäischen Gemeinschaft wird. Die Bundesregierung muß sich endlich auf eine wirksame Hilfe für kleine und mittlere Landwirte ohne Preissubventionen entscheiden. Ich halte es für einen Fortschritt, daß die EG-Kommission jetzt eine durchgreifende Reform der Agrarpolitik vorschlägt. Wieder ist es der deutsche Landwirtschaftsminister, der sich querlegt. Wo ist hier ein klares Wort von Möllemann? Jetzt ist Bundeswirtschaftsminister Möllemann gefordert, seinen Ankündigungen Taten folgen zu lassen. Aber: Die Wirtschaftspolitik muß sich die Fähigkeit erhalten, die großen Herausforderungen dieses Jahres zu lösen. Mehr als bisher muß sie über liebgewordene Vorurteile und eingefahrene Bedenken hinwegsehen. Im Interesse der wirtschaftlichen Vereinigung biete ich dazu unsere Unterstützung an. Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (FDP): Im Bereich des Wirtschaftsministeriums gibt es mit Beginn der neuen Wahlperiode einschneidende Änderungen, die insbesondere die handelnden Personen betreffen. Der neue Bundesminister Jürgen Möllemann wird nach meiner festen Überzeugung wie schon in der vergangenen Wahlperiode im Bildungsministerium den notwendigen neuen Schwung in sein Haus, vor allem aber in die Wirtschaftspolitik bringen. Dies ist um so mehr erforderlich, weil nach der deutschen Vereinigung enorme Aufgaben auf diese Wirtschaftspolitik warten. Drei Aspekten will ich mich in dieser kurzen EtatRede zuwenden: der von Möllemann initiierten Strategie „Aufschwung Ost", den neuen Aufgaben des Wirtschaftsministeriums im Zusammenhang mit dem Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 863* Abzug der sowjetischen Truppen und energiepolitischen Aspekten. Der Schock der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion für die neuen Bundesländer war einschneidender als erwartet: 40 Jahre sozialistischer Mißwirtschaft hatten eine Wirtschaftsstruktur entstehen lassen, die dem freien Spiel der Marktkräfte in nur ganz wenigen Bereichen tatsächlich gewachsen war. Dazu kommt, daß die fehlende Verwaltung, die für westliche Begriffe total marode Infrastruktur, aber auch die Entscheidung mit den Füßen vieler leistungsbereiter Menschen einen Neuaufbau stark verzögern. Die Doppelarbeit „Sanierung bei gleichzeitiger Produktion" sorgt für schwere Einbrüche im Wirtschaftssystem; die dramatische Entwicklung im Bereich der Arbeitsplätze kann nur durch schnelles Handeln abgemildert werden. Dazu kommt der Quasi-Zusammenbruch des gesamten östlichen Wirtschaftssystems, so daß die seitherigen Abnehmer der früheren DDR-Industrieproduktion kaum zahlungsfähig sind. Das Strategiepapier des Wirtschaftsministers von Mitte Februar hat in einem nüchternen Sachstandsbericht die wesentlichen Punkte notwendigen politischen Handelns aufgezeigt. Private Investitionen, vor allem die Schaffung von Arbeitsplätzen, müssen verstärkt gefördert werden, die Privatisierungspolitik zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit bestehender Unternehmen ist fortzusetzen. Unabhängig von den Problemen mit der augenblicklichen Zahlungsfähigkeit der RGW-Staaten darf der Handel mit diesen Ländern nicht abbrechen. Sonderprogramme regionalpolitischer Natur müssen in den Gebieten greifen, in denen mit besonders hohen Arbeitsplatzverlusten zu rechnen ist. Ich will die arbeitsmarktpolitische Flankierung, vor allem die erforderlichen Qualifizierungsmaßnahmen, nicht im einzelnen schildern; auch der Hinweis auf den erforderlichen Ausbau der Verwaltungen und der Infrastruktur ist immer wieder gemacht worden. Sicher ist, daß die Treuhandanstalt eine wichtige Funktion behält, daß es hier aber zu besserer Effektivität der Arbeit kommen muß. Die Frage, bei welchem Ministerium diese Treuhand arbeitet, ist nicht die entscheidende: Sie muß effektiver und vor allem stärker wirtschaftspolitisch orientiert arbeiten. Daß bei ihren Entscheidungen auch die öffentliche Akzeptanz Berücksichtigung finden muß, erwähne ich mit Blick z. B. auf den mir völlig unverständlichen Ablauf bei der DDR-Fluglinie Interflug. Die Ausweitung des Etats des Wirtschaftsministers auf über das Doppelte des früheren Bundesetats hat eine Reihe von Gründen. Wir werden von der Haushaltsseite her die Dinge allerdings sorgfältig und haushälterisch prüfen. Ich sage das mit Blick auf sogenannte Mitnahme-Effekte; das heißt, wo seither zu Recht gespart wurde, darf nicht jetzt nach dem Motto „Darauf kommt es nun auch nicht an" plötzlich der Damm brechen. Eine neue wichtige Aufgabe, die dem Wirtschaftsministerium zugeordnet ist, ist die Flankierung des Abzugs der sowjetischen Truppen. Die Sowjetunion hat einen vertraglichen, aber auch einen moralischen Anspruch darauf, daß ihre zurückkehrenden Soldaten in der Heimat angemessen leben, d. h. wohnen und arbeiten können. Die Kreditanstalt für Wiederaufbau betreut das Programm, wonach im europäischen Bereich der UdSSR ca. 36 000 Wohnungen gebaut werden sollen, die den Soldaten zur Verfügung stehen werden. Sie kennen die öffentliche Diskussion in der Sowjetunion über die Zeitdauer des geplanten Abzugs. Es gibt zwar keinen Grund, die Vertragstreue der Sowjetunion in Frage zu stellen. Tatsache ist aber, daß es zu technischen Abwicklungsproblemen kommt. Wir gehen trotzdem davon aus — und dies werden wir auch finanziell bestmöglich flankieren —, daß der vereinbarte Abzug bis 1994 abgeschlossen sein wird. Die genannten Kosten sind ja gleichzeitig ein Arbeitsbeschaffungsprogramm für das Beitrittsgebiet. Ganz wesentlich werden Baufirmen aus den neuen Bundesländern an der Erstellung der Wohnungen mitwirken. Erlauben Sie einen kurzen energiepolitischen Aspekt: Auch in den neuen Bundesländern wird ein vernünftiger Mix der Energieverbrauchsstruktur notwendig sein. Nach heutigen Pressemeldungen hat der Bundeswirtschaftsminister dem Bau zweier Kernkraftwerke an den bisherigen Kernkraftwerksstandorten Greifswald und Stendal zugestimmt. Hiergegen wird man sich bei aller Skepsis zur Kernenergie in Kenntnis der vorhandenen Situation nicht aussprechen können. Mein dringender Appell geht aber an das Wirtschaftsministerium, keine einseitig auf Produktion und massiven Energieverbrauch orientierte Energiekonzeption zuzulassen. Die Veräußerung der Energiewirtschaft an die westlichen Großkonzerne kann hier schon eine gewisse Besorgnis begründen. Die Chance des Aufbaus einer vernünftigeren Energielandschaft, als sie in der alten Bundesrepublik besteht, darf nicht vertan werden: Aufbau energiesparender Strukturen, bessere Nutzung der Energieträger und natürlich auch bestmöglicher Einstieg in die Verwendung alternativer Energien sind politisch wünschenswert und notwendig. Und das Wirtschaftsministerium sollte gerade unter seiner neuen Führung die Chance in den neuen Bundesländern als Ausgangspunkt einer insgesamt zukunftsorientierten Energiepolitik verstehen. In der schwierigen wirtschaftspolitischen Situation in einem Teil unseres Landes ist dem Wirtschaftsministerium zum tätigen Handeln eine glückliche Hand zu wünschen. Haushaltspolitisch wird die FDP-Fraktion alle notwendigen Maßnahmen flankieren und unterstützen. Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) (PDS/Linke Liste): Die Menschen in der ehemaligen DDR haben im vergangenen Jahr in 4 Wahlen ein eindeutiges Votum für das Gesellschaftskonzept der Bundesrepublik abgegeben. Mehr als 80 % verbanden damit die Erwartung nach mehr Recht und Demokratie, und drei Viertel wollten auch eine schnelle Angleichung der Lebensverhältnisse. Zugegeben, als ich zum erstenmal nach der Wende im Herbst 1989 die westdeutsche Konsumgesellschaft und die ihr zugrunde liegende hocheffektive Wirt- 864* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 schaft erleben konnte, war ich genauso fasziniert. Das ganze im Wahlkampf auszunutzen und Versprechungen zu machen, die natürlich die meisten Menschen ansprachen, war nicht schwer. Es erweist sich aber eindeutig als Trugschluß, daß es auf dem Weg dorthin einfach ausreicht, etwas Altes zu beseitigen. Wenn Herr Friedrich Bohl am 1. März 1991 ausführt — ich zitiere wörtlich — : „Die Überwindung des Sozialismus in den neuen Ländern wäre ohne Steuererhöhung möglich gewesen" , nachzulesen in „Stichworte der Woche", dann verbirgt sich hinter dieser Aussage doch ein ganzes Konzept. Nur hätte man es den Wählern auch vorher so deutlich sagen sollen. Denn die Liquidation der DDR als Ganzes und ihrer, wenn auch uneffektiven Wirtschaft, ohne an deren Stelle gezielt und mit staatlicher Hilfe und Unterstützung etwas Neues zu setzen, war nicht der Wunsch der Wähler. Vielmehr verbanden sich alte soziale Vorstellungen, insbesondere von der Sicherheit des Arbeitsplatzes, mit den Wünschen nach Verbesserung des Lebensstandards. Das wiederum ist aber eben nur erreichbar, wenn echte Struktur- und Wirtschaftskonzepte vorgearbeitet, durchdacht und dann gemeinsam auch in die Tat umgesetzt werden. Daß das alles nicht zum „Nulltarif" zu haben ist, war klar, und die Wähler in Ost und West werden es nicht verstehen, warum die Kosten der Einheit, die ja die meisten Wähler auch verstanden und akzeptiert hätten, einerseits verschwiegen und andererseits noch dadurch künstlich erhöht werden, indem man einen konzeptionslosen Crash-Kurs in der Wirtschaft fährt. Wenn von rund 81 Milliarden DM, die aus dem Haushalt den neuen Ländern zur Verfügung stehen, allein ein Drittel für soziale Aufgaben, darunter ein erheblicher Anteil zur Finanzierung von Kurzarbeits- und Arbeitslosengeld sowie Vorruhestandsgeld, zur Verfügung gestellt wird, aber nur knapp 15 % für die Ankurbelung der Wirtschaft auf der Grundlage des Gemeinschaftswerkes „Aufschwung-Ost" , dann ist doch offensichtlich, daß hier mehr repariert und „kalt gelötet" wird als echt „geschmiedet" . Kalte Lötstellen haben die Eigenschaft, meistens nicht leitfähig zu sein. Nun hofft der Herr Bundeswirtschaftsminister Möllemann, daß seine Maßnahmen endlich greifen, und dem Zitat von Karl Schiller „Nun können die Pferde saufen" setzt er vorsichtigerweise hinzu: „Und ich hoffe und erwarte, sie tun es auch." Nur sehr langsam, und für den rasanten Verfall der ostdeutschen Wirtschaft viel zu langsam, kommt die Erkenntnis bei den Politikern der Koalitionsparteien, daß es sich bei der Eingliederung der ehemaligen DDR nicht um die Gründerzeiten nach 1945 handelt. In dieser Zeit gab es überall nichts. Heute aber steht eine hocheffektive, weltmarkterfahrene, reiche und auf Expansion ausgelegte Industrie des Westens einer völlig anders strukturierten und orientierten Wirtschaft des Ostens gegenüber, die auch noch veraltet und zum Teil staatlich verschuldet war. Diese Erkenntnis bedurfte sicher keiner fünfmonatigen Regierungszeit. Man kann sich eben des Eindrucks nicht erwehren, daß das Ganze nicht als Schicksal abläuft, und das wäre schon schlimm genug, sondern sogar gewollt ist. Denn es bedurfte ja keinerlei staatlichen Regelungsbedarfs über Eigentum, über die Bereitstellung von Grundstücken usw., als es darum ging, die ehemalige DDR als Absatzgebiet zu erobern. Jeder, der es wollte, und viele wollten es, errichteten Verkaufseinrichtungen, übernahmen Vertriebsnetze und kauften sich in den Markt ein. Es gab ja auch viel zu verdienen — für die, die das Geschäft machten, und auch für die, die davon die steuerlichen Mehreinnahmen kassierten. Immerhin betrug der Zuwachs am Bruttoeinkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen im letzten Jahr 9,7 % und damit mehr als jemals in den Jahren zuvor. Nun müßte man glauben, daß die, die daran verdient haben, nun auch verstärkt zu Kasse gebeten werden, doch weit gefehlt. Es wird daran, wie auch an vielen anderen Beispielen, nur zu deutlich, daß nicht die Bundesregierung regiert, sondern das Kapital seinen eigenen Weg geht. Das trifft auch ganz besonders für die Nahrungs- und Genußmittelindustrie der ehemaligen DDR zu. Es gab Anträge in der frei gewählten Volkskammer, den Weg der staatlichen, wirtschaftlichen und sozialen Einheit mit staatlichen Programmen zu begleiten. Sie wurden voller Hohn verworfen. Heute rächt sich das bitter. Werner Schulz (Berlin) (Bündnis 90/GRÜNE): Die Menschen in Ostdeutschland gehen wieder auf die Straße. Am vergangenen Montag in Leipzig waren es mehr als 25 000, die sich mit den Füßen gegen die Politik der Treuhandanstalt zur Wehr setzten. Zu Recht fordern sie ein Konzept, das statt Arbeitslosigkeit zu verwalten, Beschäftigung finanziert. Die Stimmung wird zunehmend explosiv. Das kann niemanden wundern, denn entgegen der zugesagten Verbesserung der Lebensverhältnisse verlieren immer mehr Menschen ihren Arbeitsplatz. Ich verzichte darauf, Ihnen die neuesten Arbeitslosenzahlen der Bundesanstalt für Arbeit hier zu referieren, die Ihnen ohnehin bekannt sein dürften. Statt dessen erinnere ich Sie an einen Kommentar, den der Präsident der BfA, Heinrich Franke, zur Erläuterung der Kurzarbeiterzahlen gegeben hat. Diese Entwicklung, so Franke, deute verstärkt darauf hin, daß hinter der Kurzarbeit nicht nur vorübergehender Nachfrageausfall stehe. Dem ist zuzustimmen. Und weil dem so ist, besteht das dringende Gebot, daß die Bundesregierung mit einer umfassenden überzeugenden wirtschaftspolitischen Konzeption die Probleme im Osten tatkräftig angeht. Zwar haben sich 1990 über eine viertel Million Bürger in den neuen Bundesländern selbständig gemacht, doch allein 45 % davon entfallen auf Handel und Gaststätten. 25 % auf das Handwerk. Größere Produktionsbetriebe sind unter den Neugründungen nicht zu finden. Tausende von Imbißbuden, Videotheken, Getränkeshops oder Gebrauchtwagenhändler können aber nicht wettmachen, was jetzt an Arbeitsplätzen allein in der Textilindustrie oder der vom alten SED-Regime gehätschelten Mikroelektronik wegfällt. Die Wirtschaftspolitik für die ostdeutschen Länder steht unter einem sehr kurzfristigen Erfolgsdruck. Mit Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 865* jedem Tag, der verschenkt und vertan wird, resignieren mehr Menschen, verlassen ihre Heimat und suchen im Westen ihr Glück oder doch zumindest einen Arbeitsplatz. Man kann das Ziel der deutschen Wirtschaftspolitik auf eine einfache Formel bringen: Die Abwanderung von Ost nach West so schnell wie möglich stoppen. Es ist kaum nachvollziehbar, daß die Bundesregierung sich dennoch nicht in der Lage sieht, zeitnah und zuverlässige Übersiedlerzahlen zu veröffentlichen. Sind Sie wirklich so schlecht informiert über die Lage in Deutschland? Fragen Sie doch mal bei den Landesregierungen nach! Der sächsische Wirtschaftsminister beziffert allein die Abwanderung aus Sachsen in die westdeutschen Länder auf monatlich 10 000 Menschen. Zur Umstrukturierung der Wirtschaft in den ostdeutschen Ländern reicht es nicht aus, sie nach dem Bilde der westdeutschen Wirtschaft neu zu orientieren. Vor dem Hintergrund der Probleme in Ostdeutschland gerät allzu leicht in Vergessenheit, daß auch der westdeutsche Wirtschaftsboom zu Lasten der Umwelt und zu Lasten eines großen Teils der Bevölkerung geht. Zeitgleich mit dem notwendigen Aufholen ihres Produktivitätsrückstandes muß der ökologische und soziale Umbau der ostdeutschen Wirtschaft in Angriff genommen werden. Erster und wichtigster Punkt für die wirtschaftspolitische Strategie in den ostdeutschen Ländern ist: Die produktive Struktur, das heißt Betriebe und das heißt Arbeitsplätze, muß soweit irgend möglich erhalten bleiben. Mit der Sanierung aller sanierungsfähigen Betriebe, unabhängig davon, ob sie kurzfristig privatisierbar sind oder nicht, muß sofort begonnen werden. Die Politik der Privatisierung um jeden Preis konnte nicht funktionieren, denn die Privatwirtschaft ist keine Heilsarmee, keine Einrichtung zur Sanierung von Staatsbetrieben. Es ist wohl eher die Ausnahme, daß kapitalistische Unternehmen unproduktive Firmen mit eher trüben Umsatzerwartungen in ihre Übernahmeüberlegungen einbeziehen. Die Sanierung der ostdeutschen Industrie, und das ist unsere Überzeugung, wird entweder zu wesentlichen Teilen aus öffentlichen Haushalten bestritten oder sie wird nicht stattfinden. Daß die Treuhand aktive Sanierungspolitik betreiben muß, erkennt erfreulicherweise jetzt auch die Bundesregierung an. Es fragt sich jedoch, ob sie die daraus folgenden Konsequenzen ebenfalls anzuerkennen bereit ist. Damit fällt nämlich auch der Glaube, die Sanierung sei im wesentlichen durch die Privatwirtschaft, durch Privatkapital zu finanzieren. Der zusätzliche Finanzbedarf, der hier auf die öffentlichen Haushalte zukommt, wird sich nur befriedigen lassen, wenn andere öffentliche Ansprüche an den Kapitalmarkt wirksam zurückgedrängt werden. Die Treuhand hat lange den Eindruck vermittelt, sie würde gar keine Politik machen. Natürlich macht sie Politik. Sie macht Strukturanpassungspolitik, sie macht Industriepolitik, aber sie nennt das nicht so. Aber indem sie das leugnet, entzieht sie sich gleichzeitig der Auseinandersetzung über die Art und Weise, wie sie es macht. Wenn die größte Staatsholding der Welt, und das ist die Treuhand, nach rein betriebswirtschaftlichen Erwägungen alle Betriebsteile, die nicht kurzfristig schwarze Zahlen schreiben können, stillegt, dann ist das Politik, und zwar Kahlschlagpolitik. Diese Politik hat sie, offenbar in Übereinstimmung mit dem Bundesfinanzministerium, bis vor einigen Wochen konsequent betrieben. Die Treuhandanstalt muß in ihrer Politik zu einer volkswirtschaftlichen Sichtweise kommen. Sie muß die gesellschaftlichen Kosten ihres Handelns berücksichtigen, auch wenn sie sich nicht im eigenen Etat widerspiegeln. Wir dürfen nicht zulassen, daß die Treuhandanstalt 1 Million einspart, um gleichzeitig bei der Bundesanstalt für Arbeit 5 Millionen DM zusätzliche Ausgaben zu verursachen. Wenn das Problembewußtsein im Bundesfinanzministerium nicht vorhanden ist, dann ist dies ein Grund mehr, die sachlich ohnehin gebotene Zuordnung der Treuhandanstalt zum Bundeswirtschaftsministerium zu befürworten. Ein zweites tragendes Element einer wirtschaftspolitischen Strategie für Ostdeutschland muß die Entfaltung öffentlicher Nachfrage in den ostdeutschen Ländern sein. Mit der Initiierung des Gemeinschaftswerks Aufschwung-Ost, ist ein erster Schritt in diese Richtung getan. Doch bevor ich zum Inhalt komme, eine Bemerkung zum Namen. Hier liegt schon wieder eine bewußte Täuschung vor. Wieso Gemeinschaftswerk? Tatsächlich handelt es sich doch um ein reines Bundesprogramm. Ich suche vergeblich einen großzügigen, selbstlosen Beitrag der deutschen Wirtschaft zu dem sogenannten Gemeinschaftswerk. Auch der zweite Namensbestandteil, „Aufschwung-Ost" ist mehr Propaganda. In Wirklichkeit hat der Bund ein in vieler Hinsicht noch unzureichendes Nachfrage- und Arbeitsbeschaffungsprogramm aufgelegt. Warum versuchen Sie uns einzureden, es sei anders? Ihr Programm ist im Hinblick auf Zukunftsinvestitionen für die Umwelt und die Infrastruktur viel zu zögerlich ausgefallen. Für diesen Bereich sind erheblich mehr Mittel erforderlich. Es ist abzuwarten, wie die einzelnen Bestandteile des Programms angenommen werden. Wo tatsächlich Bedarf besteht, müssen auch kurzfristig weitere Mittel bereitgestellt werden. Die Ausgabenprogramme des sogenannten Gemeinschaftswerks müssen nicht nur den ostdeutschen Ländern und Gemeinden zugute kommen, sondern auch den in Ostdeutschland ansässigen Betrieben. Eine Umsatzsteuerpräferenz für die ostdeutsche Wirtschaft oder für ostdeutsche Waren und eine Bevorzugung ostdeutscher Anbieter bei der Vergabe öffentlicher Aufträge können die Wirkung eines solchen Nachfragepakets spürbar verstärken. Der keineswegs überraschende, aber verheerende Zusammenbruch des Exports in die RGW-Länder hat die ostdeutschen Länder besonders hart getroffen. Viele an sich durchaus leistungsfähige Betriebe, etwa des Maschinenbaus, stehen mangels Anschlußaufträgen vor dem Aus. Es ist daher unbedingt notwendig, den ostdeutschen Export in die osteuropäischen Länder mit öffentlichen Mitteln zu fördern. Eine Abkoppelung von Osteuropa wäre nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen auf Dauer bedrohlich. 866* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 Sie müßte von unseren europäischen Nachbarn politisch als ein Zeichen zunehmender Selbstbezogenheit der Deutschen gewertet werden. Die Subventionierung unrentabler Exporte in die ehemaligen RGW-Länder kann allerdings nur eine Übergangslösung sein. Doch auch das Milliarden-Geschäft, das Wirtschaftsminister Möllemann aus Moskau mitbrachte, ist risikobehaftet und sollte bei aller Freude genauso viel Vorsicht hervorrufen. Wenn nur ein einziger sowjetischer Betrieb seinen Zahlungsverpflichtungen nicht nachkommt und der deutsche Lieferant die Hermes-Bürgschaft in Anspruch nimmt, darf die Kreditversicherung nach dem sogenannten Länderprinzip kein einziges Geschäft mehr absichern. Neun Milliarden sind dann abzuschreiben und werden sich indirekt belastend auf den Haushalt auswirken. Gleich welche wirtschaftspolitische Strategie die Bundesregierung in den nächsten Monaten verfolgt, die Arbeitslosigkeit wird noch weiter steigen. Damit kommt dem verstärkten Einsatz aller Instrumente der Arbeitsmarktpolitik und einer Politik der sozialen Absicherung eine besondere Bedeutung zu. Ich nenne hier beispielhaft die Einrichtung von Qualifizierungs- und Beschäftigungsgesellschaften sowie zur Einkommenssicherung für diejenigen, die auf Dauer aus dem Arbeitsprozeß ausscheiden, die Anhebung der Sozialhilfesätze und die Verlängerung und Dynamisierung der Sozialzuschläge. Meine Damen und Herren von der Koalition, das freie Spiel der Kräfte führt die Gesellschaft der ehemaligen DDR in eine Abwärtsspirale. Hier verhalten sich zumeist die Unternehmen rational, die ihre Belegschaften radikal abbauen. Privatinitiative des einzelnen heißt nur zu oft Abwanderung nach Westdeutschland. Die Bundesregierung hat seit dem letzten Sommer auf dieses freie Spiel der Kräfte gesetzt. Die Treuhandanstalt hat mitgespielt. Diese Orientierung war falsch und ist falsch. In der jetzigen Übergangssituation sind die Staatskräfte in weit höherem Maße gefordert, als Sie das wahr haben wollen. Dr. Rudolf Sprung (CDU/CSU): Kein Einzelhaushalt spiegelt, allein schon vom Volumen her, die Deutsche Einheit und die daraus erwachsenen Probleme deutlicher wider als der Haushalt des Bundeswirtschaftsministeriums. Die Zuwachsrate beträgt für den vorliegenden Einzelplan 09 110 %. Rechnet man die Ansätze für das Gemeinschaftswerk Aufschwung-Ost hinzu, so ergibt sich eine Steigerungsrate, die auf 150 % zuläuft. Damit schlägt sich insbesondere im Haushalt des Bundeswirtschaftsministeriums das gewaltigste Investitions- und Infrastrukturprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nieder. Um mit dieser Feststellung von vornherein keine Zweifel aufkommen zu lassen: Dieses Programm und die dafür bereitgestellten zusätzlichen Mittel ebenso wie die sich daraus ergebenden Steigerungsraten und Mehrausgaben in den einzelnen Haushaltspositionen sollten unsere Zustimmung über die gesamte Breite des Hauses hinweg finden. Es handelt sich dabei um die finanz- und ordnungspolitischen „Eckpfeiler" für die Schaffung einheitlicher Lebensverhältnisse in ganz Deutschland. Worauf es jetzt ankommt, ist, daß die zur Verfügung gestellten Mittel abfließen, daß die Programme, daß die Maßnahmen so in Gang kommen, wie dies nötig ist, damit die verfolgten Ziele auch erreicht werden. Die Bereitstellung der Mittel ist eine Sache, ihre Verwendung, ihre tatsächliche Inanspruchnahme eine andere. Was diesen Punkt betrifft, so haben wir bereits einschlägige Erfahrungen, nicht nur aus den Monaten vor dem 3. Oktober letzten Jahres, sondern auch aus der Zeit danach. Lassen Sie mich dazu einige zusätzliche Anmerkungen machen: Erstens. Für einen reibungslosen oder auch nur einigermaßen zügigen Ablauf spielen die Verwaltungen auf allen Ebenen eine ausschlaggebende Rolle. Deshalb wurde es höchste Zeit, daß zu ihrem weiteren Auf- und Ausbau aus den alten Bundesländern nunmehr zusätzliche Hilfe möglich wird. Ohne eine funktionsfähige und funktionierende Verwaltung werden die bereitstehenden Mittel zu einem beträchtlichen Teil hängenbleiben. Wer sich umhört in den Ministerien, in den Landkreis- und Stadtverwaltungen in den neuen Bundesländern, kann davon ein Lied singen. Personalkostenzuschüsse und die Einrichtung von „Personaltauschbörsen" sind daher ein Schritt in die richtige Richtung. Darüber hinaus müssen wir jedoch auch unkonventionelle Wege gehen. Dazu zählen für mich insbesondere die vorübergehende Übernahme bzw. Erledigung von besonders vordringlichen Verwaltungsaufgaben in den neuen Bundesländern durch Kommunen, Städte und Landkreise in der alten Bundesrepublik. Warum soll nicht beispielsweise die Verwaltung der Stadt Köln 5 000 Eigentumsanmeldungen der Stadt Leipzig bearbeiten? Mit etwas Phantasie ließen sich so viele Investitionshemmnisse schnell aus dem Weg räumen. Zweitens. Doch dies ist nur die erste Etappe der Umsetzung. Die nächste sind die Unternehmen. Wie sieht es aus mit den vorhandenen Kapazitäten z. B. im Bausektor? Reichen sie aus? Wir wissen aus unseren eigenen Erfahrungen, wie schnell wir bei früheren Konjunkturprogrammen an Kapazitätsgrenzen stießen und nicht nur einmal erleben mußten, daß zusätzliche Ausgaben nur noch zu zusätzlichen Preissteigerungen führten. Auch hier gibt es daher dringenden Anpassungsbedarf, der nur über die Öffnung der Märkte gedeckt werden kann. Drittens. Ein weiterer Engpaß könnte das Angebot an qualifizierten Mitarbeitern in Unternehmen werden. Die Umstrukturierung der Wirtschaft in den neuen Bundesländern ist ja nicht nur mit tief greif enden Veränderungen der Produktionsstrukturen verbunden, sondern eben auch mit grundlegenden Veränderungen im Management, in der Organisation und im Marketing. Wir wissen, wie spezialisiert diese Tätigkeiten zum Teil in unserer Wirtschaft sind. Markt und Wettbewerb erzwingen diese Spezialisierung. Es ist nur natürlich, wenn auch hier Engpässe auftreten. Deshalb sind Qualifizierung und Weiterbildung von größter Bedeutung. Es ist zu begrüßen, daß jetzt die Anreize für Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 867* die Teilnahme an Qualifizierungs- und Weiterbildungsprogrammen verstärkt werden. Damit soll das bereits Geleistete nicht geringgeschätzt werden. Bis Ende 1990 hat die westdeutsche Wirtschaft bereits über 2 Millionen Beschäftigte auf dem Arbeitsmarkt in den fünf neuen Ländern qualifiziert. Diese Qualifizierungsanstrengungen der westdeutschen Wirtschaft auf dem Arbeitsmarkt der fünf neuen Länder sind nachhaltig zu begrüßen und fortzusetzen. Viertens. Auf ein weiteres Hindernis möchte ich aufmerksam machen: Da öffentliche Mittel eingesetzt werden, sind, soweit damit Sachausgaben verbunden sind, öffentliche Ausschreibungen erforderlich, und zwar vielfach nicht nur bundes-, sondern sogar europaweit. Ich meine, daß europaweite Ausschreibungen zumindest für die nächsten zwei Jahre nicht in die Landschaft passen. Der Bundeswirtschaftsminister wird hoffentlich in Brüssel entsprechend intervenieren. Begründungen für eine solche Aussetzung gibt es wahrlich mehr als genug, wenn — und allerdings auch nur dann — Unternehmen in den fünf neuen Ländern vorhanden und in der Lage sind, sich an solchen Ausschreibungen zu beteiligen. Doch auch die Erarbeitung einer Ausschreibung ist eine hochdiffizile Aufgabe: Der Bundeswirtschaftsminister sollte Überlegungen anstellen, wie hier — zumindest vorübergehend — mit vereinfachten Verfahren abgeholfen werden kann. Daß dabei im Rahmen der öffentlichen Auftragsvergabe den Unternehmen, insbesondere dem Mittelstand, in den neuen Bundesländern eine Vorrangstellung einzuräumen ist, brauche ich wohl nicht besonders zu betonen. Der geplante Wohnungsbau im Zusammenhang mit dem Rückzug der sowjetischen Truppen bietet eine erste gute Gelegenheit, Zeichen zu setzen. Wenn auch die jüngsten Entscheidungen wichtige weitere Verbesserungen der Investitionsbedingungen bringen, bleibt doch unübersehbar, daß sämtliche Maßnahmen und die Beseitigung der genannten möglichen Engpässe Zeit benötigen. Das ist alles nicht in wenigen Wochen zu machen, bei aller Bereitschaft, bei allem Engagement, das zweifellos in den fünf neuen Ländern vorhanden ist. Deshalb sollte niemand erstaunt sein, wenn sich zum Jahresende herausstellt, daß nicht alle bereitgestellten Mittel abgeflossen sind. Und nun einige Sätze zum „westlichen Teil" des Haushaltes des Bundeswirtschaftsministeriums: Schwerpunkte des Einzelplans 09 sind, so wie das bisher auch schon der Fall war, die wirtschaftspolitischen Programme. Rund 94 % des gesamten zur Beratung vorliegenden Einzelplanes entfallen auf sie. Wir haben in der Vergangenheit immer wieder beklagt, daß es sich dabei fast ausschließlich um Subventionen handelt. Das hat zu dem bösartigen Vorwurf geführt, daß der Einzelplan 09 letztlich, von den Verwaltungsausgaben einmal abgesehen, ein einziger großer Subventionshaushalt sei. Für den Haushalt des Wirtschaftsministeriums eines Landes, das sich als Gralshüter einer marktwirtschaftlichen Ordnung empfindet, ein bitterer Vorwurf. Es ist begrüßenswert, wenn der Bundeswirtschaftsminister diese Situation nicht nur beklagt, sondern auch die Absicht hat, mit dem Abbau von Subventionen endlich Ernst zu machen. Es ist aber auch wohl davon auszugehen, daß er dabei nicht in erster Linie an andere Einzelpläne, sondern vor allem an seinen eigenen Haushalt gedacht hat. Mit seiner Forderung nach einem massiven Subventionsabbau — 10 Milliarden DM — trägt er nicht nur Forderungen aus vielen Wirtschaftsbereichen, der EG-Kommission, vom Sachverständigenrat und von seiten der Bundesbank Rechnung. Für einen drastischen Subventionsabbau sprechen nicht nur stabilitäts-, sondern insbesondere auch wirtschaftspolitische Gründe. Wir wollen dem Bundeswirtschaftsminister gern bei seinen Subventionskürzungen folgen. Sieht man sich den Haushalt des BMWi an, so fragt man sich allerdings, wie die Kürzungen bewerkstelligt werden können. Bei der Kohle? Bei der Luftfahrt? Bei der Regionalförderung? Bei der Werftindustrie? Lassen wir einmal die einigungsbedingten Steigerungen in diesen Positionen draußen vor — und sie müssen auch in den nächsten Jahren draußen vor bleiben — , so ergibt sich folgendes. Bereich Kohle: 3,5 Milliarden DM. Der größte Posten ist mit 2,5 Milliarden DM die Kokskohlenbeihilfe. Es ist begrüßenswert, daß eine deutliche Rückführung der Kokskohlenbeihilfe um 1,1 Milliarden DM in den nächsten drei Jahren vorgesehen ist. Allerdings bedarf es auch hier der Umsetzung, d. h. entsprechender Verhandlungen mit dem Kohlebergbau. Dabei muß man wissen: Streichung von Mitteln bedeutet Rückführung von Fördermengen. Wir wünschen Ihnen dabei vollen Erfolg, Herr Minister! Luftfahrtförderung (1,5 Milliarden DM). Die verschiedenen Ansätze, Abwicklung des Airbusprogramms und Entwicklungskostenzuschüsse für neue Flugzeugprojekte resultieren aus bestehenden, zum Teil schon seit vielen Jahren von früheren SPD-Regierungen herkommenden Rechtsverpflichtungen. Auch bei den Subventionen für die Werftindustrie haben wir es mit länger laufenden Rechtsverpflichtungen zu tun. Den einzig schon beschlossenen Subventionsabbau in größerem Umfang gibt es im Bereich der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur " . Hiervon ist insbesondere das ehemalige Zonenrandgebiet betroffen. Ergebnis: Für die wirklich zu Buche schlagenden Subventionszahlungen bestehen Rechtsverpflichtungen mit zum Teil noch erheblicher Laufzeit. Natürlich ist solchen Verpflichtungen zu entsprechen. Wo aber, Herr Minister, wollen Sie dann in Ihrem Haushalt Subventionen kürzen? Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen. Wenn Subventionskürzungen aus den vorgenannten Gründen für das nächste und auch vielleicht für das übernächste Jahr in größerem Umfang noch nicht möglich sind, lassen Sie uns einen Grundsatzbeschluß fassen: Schon heute kündigen Sie an, daß alle Subventionen für das Gebiet der alten Bundesrepublik bzw. für Unternehmen im alten Bundesgebiet über einen mittelfristigen Zeitraum hinweg abgebaut wer- 868* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 den. Soweit rechtliche Verpflichtungen bestehen bzw. Vertrauensschutzaspekte zu berücksichtigen sind, wird bereits jetzt von Ihnen im Sinne einer mittelfristigen Konsolidierungspolitik angekündigt, daß mit dem Ende der derzeit gültigen rechtlichen Verpflichtungen die Subventionsprogramme nicht verlängert werden. Für den Kohlebereich sollten Sie die Ankündigung mit einem klaren Konzept für die Kohle verbinden, in dem sowohl die Energiepolitik angesprochen als auch deutlich wird, wie sich die künftige deutsche Kohle- und Energiepolitik im europäischen Rahmen darstellt. Ein solches Konzept müssen Sie schon deshalb vorlegen, weil ja auch die Braunkohle in den fünf neuen Ländern künftig in der Energiepolitik ihren Platz finden muß. Die Mikat-Kommission hat bereits entsprechende Konsequenzen gezogen, wenn sie, wie gestern angekündigt, keinen offiziellen Abschlußbericht zur Zukunft der deutschen Steinkohle mehr vorlegen will. Die Situation habe sich inzwischen grundlegend verändert. Subventionen für die Steinkohle seien jetzt schwerer zu rechtfertigen, da genügend Braunkohle ohne staatliche Zuschüsse gefördert werde. Für die Luftfahrtindustrie sollte zugleich deutlich werden, daß Entwicklungskostenzuschüsse für neue Flugprojekte nicht mehr gewährt werden. Sicherlich könnten Sie damit auch den europäisch-amerikanischen Dauerstreit um die deutschen Airbussubventionen wenigstens teilweise entschärfen und den GATT-Verhandlungen neuen Schub geben. Für die Werftindustrie würde damit der Weg fortgesetzt werden, den die EG seit Jahren verfolgt, nämlich die Wettbewerbshilfen endgültig in Fortfall zu bringen. Lassen Sie, Herr Minister, Ihren eigenen Worten jetzt auch im eigenen Haushalt eigene Taten folgen. Dr. Uwe Jens (SPD): Noch nie hat die Opposition so stark die Politik der Bundesregierung bestimmt wie in der vergangenen Zeit. Mit zeitlichen Verzögerungen — aber immerhin — wurde weitgehend das getan, was die Sozialdemokraten vorher lautstark gefordert hatten. Und so muß es ja auch sein: die Opposition muß die Regierung jagen. Ich weiß, daß es sicherlich nicht opportun ist, einmal die Presse zu kritisieren. Ich persönlich habe auch wenig Grund dazu. Nur, Tatsache ist, daß eine bestimmte Presse von den vielen Vorschlägen, die die Sozialdemokraten auf den Tisch gelegt haben, keine oder nur geringe Notiz genommen hat. Dabei läßt sich anhand unserer Vorschläge noch immer leicht feststellen: Was die Bundesregierung jetzt mit ihrem „Gemeinschaftswerk" vorgestellt hat, ist wenig durchdacht und noch immer unzureichend. Mit aller Vorsicht zunächst ein Wort zu den aktuellen Tarifverhandlungen. Ich glaube, die IG Metall hat mit ihrem Tarifabschluß in Mecklenburg-Vorpommern ein positives Zeichen gesetzt. Ich bin davon überzeugt, daß die Löhne in den neuen Bundesländern deutlich stärker steigen müssen als in der alten Bundesrepublik. Mit den Tarifverhandlungen der ÖTV bei uns hatte ich deshalb zunächst meine Schwierigkeiten. Nur: die jetzt von der Bundesregierung beschlossenen ungerechten Steuererhöhungen rechtfertigen die ÖTV-Haltung. Gerade den kleineren Einkommensbeziehern bei Post und Bahn wird im kommenden Jahr durch Steuererhöhungen und Preissteigerungen deutlich mehr als 4,1 % aus der Tasche gezogen. Das ist unakzeptabel, und deshalb ist die Bundesregierung für die jetzigen Streiks hauptverantwortlich. Aber die Bundesregierung erweist sich auch mit ihrem „Gemeinschaftswerk" als sehr flexibel und anpassungsfähig. Ich möchte noch einmal vier geistige Pirouetten in Erinnerung bringen: Erstens: die konservative Regierung hat sich gerne über wirtschaftspolitische Programme lustig gemacht. Was sie jetzt mit ihrem „Gemeinschaftswerk" vorlegt, ist nichts anderes als ein Wirtschaftsprogramm. Leider mangelt es jedoch an einer sauberen Ursachen-Analyse. Die Maßnahmen sind wenig koordiniert, und der Kardinalfehler: es wirkt nur kurzfristig und nicht langfristig! Somit macht die konservative Regierung Fehler, die sie der sozialliberalen Koalition angekreidet hat. Etwas weniger Lärm wäre glaubwürdiger. Zweitens: die Regierung wollte immer die Lohnnebenkosten senken. Doch die 2,5prozentige Beitragserhöhung zur Arbeitslosenversicherung ist nicht nur ungerecht, sie ist vor allem ökonomisch schwachsinnig. Die Bundesregierung steigert damit die Lohnnebenkosten, fördert die Schwarzarbeit, und — was besonders wichtig ist — sie verschlechtert eklatant den Investitionsplatz Bundesrepublik Deutschland. Drittens: Wendehälse gab es nicht nur in der ehemaligen DDR, sie gibt es auch in der jetzigen Bundesregierung. Die Bundesregierung fordert seit langem einen Abbau von Subventionen und wird darin auch von der SPD unterstützt. Bundesfinanzminister Waigel rechnet deshalb auch vor, daß von 1990 bis 1994 40 Milliarden DM an Subventionen gekürzt wurden, wahrscheinlich um Herrn Möllemann zu retten. Gegenrechnen muß man jedoch die Subventionserhöhungen der Regierung. Die neu eingeführten Steuervergünstigungen von 600 DM bzw. 1 200 DM für Verheiratete bei der Lohn- und Einkommensteuer sind ebenfalls Subventionen. Sie kosten jährlich 1 Milliarde DM. Was wir aus unserer Sicht brauchen, ist jedoch keine Förderung des Konsums, sondern eine Förderung der Investitionen. Auch diese Hilfen sind deshalb ökonomisch völlig verfehlt. Viertens: die Bundesregierung wollte nach wiederholten Bekundungen auch die Entbürokratisierung voranbringen. Sie hätte jetzt eine Chance, indem sie zumindest in den neuen Bundesländern das Standesrecht im Handwerksbereich abschwächt. Nach unserer Auffassung sollten dortige Industriemeister recht großzügig als Handwerksmeister anerkannt werden, damit sie den Sprung in die Selbständigkeit leichter schaffen. Leider kommt die Bundesregierung auch hier nicht voran; der Einfluß der Interessenvertreter ist erheblich, der politische Mut des Bundeswirtschaftsministers aber gering. Wer so mit Grundsätzen umgeht wie diese Regierung, darf keine politische Zukunft haben. Ich hatte gesagt: unsere Forderungen zur Wiederbelebung der Wirtschaftstätigkeit greifen weiter. Aus Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 869* der Fülle unserer Vorschläge trage ich noch einmal einige Kernpunkte vor: Die bisherigen Regionalhilfen für die neuen Bundesländer sind unzureichend. Das Gefälle an Investitionshilfen muß viel stärker zugunsten der neuen Bundesländer ausgebaut werden. Im allgemeinen benötigen wir in den neuen Bundesländern mindestens eine Investitionszulage von 25 Prozent und Sonderabschreibungen von 75 Prozent. Diese Hilfen sind auch deshalb notwendig, weil die Bundesregierung den Realzins in schwindelnde Höhen getrieben hat. Bei einer Alternativ-Betrachtung für Investoren — das kann man jetzt schon getrost feststellen — wären die bisherigen Hilfen nicht ausreichend. Wenn wir gerne beklagen, daß privates Investitionskapital nicht in die neuen Bundesländer fließt, so liegt das nicht an den Unternehmen, sondern vor allem an der falschen Weichenstellung durch die Bundesregierung. Wir brauchen — zweitens — eine eindeutige Regelung, die der wirtschaftlichen Nutzung von Grund und Boden und vorhandenen Betrieben eindeutig Vorrang einräumt gegenüber der Rückgabe. Der jetzt gefundene Kompromiß ist unzureichend und bleibt ein Investitionshemmnis. Die Bundesregierung muß die Marktchancen für ostdeutsche Produkte und Anbieter erhöhen. Die Sozialdemokraten haben dazu eine Kleine Anfrage in den Bundestag eingebracht. Was sich im Bereich der Absatzmöglichkeiten für ostdeutsche Produkte abspielt, ist zum Teil emotionaler Unsinn des Verbrauchers, zum Teil mangelt es den ostdeutschen Betrieben an Wettbewerbsfähigkeit und Marketing-Kenntnissen. Hier ist möglicherweise das Kartellamt, aber vor allem die Bundesregierung gefordert. Und eine weitere Forderung zur Verbesserung der wirtschaftlichen Lage in Ostdeutschland: Nach der Vereinigung hätte Gesamtdeutschland die Handelsbrücke zu den neuen Ländern des ehemaligen Ostblocks werden können. Herr Möllemann kam stolz aus Moskau zurück mit angeblich 9 Milliarden an zusätzlichen Aufträgen für Betriebe in Ostdeutschland. Daß es sich hier nur um die Gegenzeichnung der russischen Seite gegenüber vereinbarten Hermes-Verträgen handelte, wurde nicht so ganz klar. Eines sollte jedoch klar sein: wenn wir die Zahlungsfähigkeit der UdSSR und anderer RGW-Staaten nicht verbessern, gehen diese Lieferungen voll zu Lasten des Bundeshaushaltes. Zur Zeit bricht der Osthandel der ehemaligen DDR-Betriebe völlig zusammen; einige Betriebe verlieren 70 bis 80 % ihres Umsatzes in ehemaligen RGW-Staaten. Was wir hier aus sozialdemokratischer Sicht dringend brauchen, sind zinslose Kredite für den Kauf von Produkten in den neuen Bundesländern — ich spreche von begrenzten Devisenkreditlinien. Ferner benötigen wir Zuschüsse der öffentlichen Hand für bestimmte Käufe der ehemaligen RGW-Staaten in Ostdeutschland — ich denke an eine Art „Marshallplan" mit konkreten Hilfen für die Umstrukturierung. Dies wären nutzbringende Investitionen in die Zukunft. Mit unserer Verständigungspolitik haben wir einen entscheidenden Beitrag geleistet, den West-Ost-Konflikt zu überwinden. Mit dem Ausbau des Handels mit den Staaten Osteuropas könnten wir den Frieden auf Dauer sichern. Unser wirtschaftspolitisches Hauptproblem ist für die nächsten Jahre die Wiederbelebung der Wirtschaftstätigkeit in den neuen Bundesländern. Aber trotz der großen Bedeutung dieser Aufgabe dürfen wir die weitergehenden Probleme nicht völlig vergessen. Neben vielen wichtigen Dingen gibt es zwei Hauptaufgaben in der Wirtschaftspolitik: Ich meine die krisensichere Einbettung unserer Wirtschaft in die Weltwirtschaft und die ökologische Erneuerung unserer Volkswirtschaft. Bundesbankpräsident Pöhl hat zweifellos nicht immer recht. Aber wenn er davor warnt, daß die Verschuldung der öffentlichen Hände nicht weiter ansteigen kann, so ist dem voll und ganz zuzustimmen. Binnenwirtschaftlich ist die exorbitante Verschuldung der Bundesregierung und der Länder und damit der überdimensionierte Realzins das ökonomische Problem Nummer Eins. Nicht die Privaten, sondern der Staat ist der Zinstreiber in der Bundesrepublik. Dies kann auf Dauer nicht gutgehen. Die privaten Investitionen werden nicht anspringen, solange der Realzins so hoch bleibt, wie er ist. Die weltwirtschaftlichen Probleme, die sich jetzt deutlich abzeichnen, werden auf die Bundesrepublik Deutschland übergreifen. Die Bundesregierung tut zu wenig, um diesem Problem zu begegnen. Die Weltwirtschaft zeigt trotz des Golfkrieges noch immer krisenhafte Erscheinungen. Die Vereinigten Staaten sollen allerdings bei einer Bilanz zwischen Einnahmen und Ausgaben am Golfkrieg 20 Milliarden Dollar verdient haben. Was im Einflußbereich der Bundesregierung liegt, wird von ihr jedoch nur halbherzig angepackt. Ich meine, daß die Währungsunion in der EG ohne Verzögerungen vorangebracht werden soll. Der Streit mit Frankreich über den Terminplan ist kleinkariert und überflüssig. Beim Abschluß der GATT-Verhandlungen hat die Bundesregierung bisher eine Bremser-Rolle eingenommen. Dies ist ein schwerer Fehler. Denn unter dem Strich profitiert die deutsche Volkswirtschaft von einem erfolgreichen Abschluß der GATT-Verhandlungen. Hier ist auch Bundeskanzler Kohl gefordert, der ja bekanntlich Schaden vom deutschen Volke abwenden soll. Unsere Volkswirtschaft wird erst dann in einem gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht sein, wenn die betriebswirtschaftlichen Kosten die gesamtwirtschaftlichen Kosten voll widerspiegeln. Auf diesem Felde der „Internalisierung der externen Kosten" bedarf es weitergehender Anstrengungen als bisher. Wir Sozialdemokraten werden in diesem Jahr noch eine Änderung zum Stabilitäts- und Wachstumsgesetz vorschlagen, um die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung stärker auf die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen zu verpflichten. Es wäre gut, wenn die Bundesregierung diesem Anliegen positiv gegenübersteht. An einer weiteren Umgestaltung unserer Wirtschaftsordnung und -gesetze, um Ökologie und Ökonomie miteinander zu versöhnen, führt kein Weg vorbei. 870* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 Die Zeit der ideologischen Wirtschaftspolitik à la Lambsdorff scheint ein für allemal vorbei. Viel gebracht hatte der Monetarismus für die deutschen Bürgerinnen und Bürger nicht. Vielleicht ein bißchen Wirtschaftswachstum über einen längeren Zeitraum, dafür jedoch eine extrem ungerechte Einkommensverteilung und eine gewaltige Zunahme der öffentlichen Verschuldung. Mit Ideologien lassen sich im übrigen nach sozialdemokratischer Auffassung die Probleme von morgen nicht lösen. Die Tatsachen drängen vielmehr zu ökonomischer Nüchternheit und zum Pragmatismus. Das sozialdemokratische Ziel ist jedoch klar: wir wollen schnellstmöglich eine Angleichung der Lebensverhältnisse in den neuen Bundesländern. Wir wollen für ganz Deutschland eine ökologie-orientierte und soziale Marktwirtschaft! Dafür brauchen wir vor allem eine konzertierte Aktion der Verantwortlichen und zielgerichtetes und entschlossenes Handeln der Bundesregierung. Leider sind die Weichen noch immer nicht in die richtige Richtung gestellt. Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): Die Bundesregierung legt mit dem Haushalt 1991 jetzt erstmals einen gesamtdeutschen Haushalt vor. Dies hätte sich vor 11/2 Jahren in der Debatte über den Haushalt 1990 wohl niemand vorstellen können. Mit der deutschen Einheit ist das wichtigste Ziel der deutschen Nachkriegspolitik verwirklicht worden. Zur wirtschaftspolitischen Lage: Die Herstellung der deutschen Einheit stellt die Bundesrepublik vor enorme Aufgaben, für die es in der Geschichte keinen Vergleich gibt. Dies gilt vor allem für die Wirtschaftspolitik. In den neuen Bundesländern ist der Übergang von der sozialistischen Kommandowirtschaft zur sozialen Marktwirtschaft mit einer tiefgreifenden Strukturkrise verbunden. Die Probleme sind insgesamt schwieriger als ursprünglich angenommen. Besonders gravierend ist die steigende Arbeitslosigkeit. Die im alten DDR-System vorhandene verdeckte Arbeitslosigkeit (personell weit überbesetzte Betriebe und überdimensionierter Behördenapparat) tritt jetzt immer deutlicher zutage. Allerdings gibt es auch schon erste Anzeichen einer Besserung — z. B. rund 300 000 neue Existenzgründungen — , die aber bei weitem nicht ausreichen, um den Beschäftigungsabbau in anderen Bereichen zu kompensieren. Die Menschen in den neuen Bundesländern haben Anspruch auf unsere Hilfe. Deutsche Einheit bedeutet auch finanzielle Solidarität. Ich räume ein, daß es innerhalb der Koalition gewisse Fehleinschätzungen gab, als wir davon ausgingen, dies würde sich auch ohne Steuererhöhungen erreichen lassen. Ich verwahre mich aber gegen den Vorwurf des „Steuerbetrugs". Jeder Mensch — auch ein Politiker — hat ein Recht auf Irrtum. Es war nicht vorauszusehen, daß mit dem Golfkrieg und den Hilfen für Osteuropa weitere einschneidende finanzielle Lasten auf die Bundesrepublik zukommen. Damit wurde eine vorübergehende Steuererhöhung unumgänglich. Angsichts der positiven Wirtschaftsentwicklung in den alten Bundesländern halte ich die Steuererhöhung auch insgesamt für verkraftbar. Im vergangenen Jahr hatte die alte Bundesrepublik neben Japan das stärkste Wirtschaftswachstum unter den großen westlichen Industrieländern. Auch für 1991 wird ein weiteres Wachstum von etwa 3 % prognostiziert. Um so wichtiger ist es, dafür zu sorgen, daß die Schere zwischen alten und neuen Bundesländern so schnell wie möglich geschlossen wird. Vordringlich ist deshalb die Schaffung neuer wettbewerbsfähiger Strukturen im Beitrittsgebiet. Dazu bedarf es gemeinsamer Anstrengungen von Bund, Ländern, Gemeinden, Tarifparteien und Verbänden. Mit dem vom Kabinett am vergangenen Freitag beschlossenen Gemeinschaftswerk Aufschwung-Ost hat der Bund ein wichtiges Zeichen gesetzt. Zusätzlich werden 1991 und 1992 insgesamt 24 Milliarden DM zur Förderung von öffentlichen und privaten Investitionen und zur Sicherung von Beschäftigung in die neuen Bundesländer fließen. Es kommt jetzt darauf an, daß dieses Geld schnell und effektiv in beschäftigungswirksame Maßnahmen umgesetzt wird. Nun zum Haushalt des Bundeswirtschaftsministeriums: Auch im Regierungsentwurf dieses Einzelplans schlägt sich bereits der beitrittsbedingte Mehrbedarf nieder. Der Haushalt steigt danach gegenüber 1990 um mehr als das Doppelte auf 14,5 Milliarden DM an. Die Steigerung von rund 7 Milliarden DM betrifft zum einen Maßnahmen der Wirtschaftsförderung in den neuen Bundesländern. Im Vordergrund steht dabei die regionale Wirtschaftsförderung im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur", für die der Entwurf Mittel in Höhe von 2 Milliarden DM vorsieht. Zusammen mit den Landesmitteln ergibt sich ein Fördervolumen von 4 Milliarden DM allein im Jahr 1991. Nimmt man dazu die 12%ige Investitionszulage und die vorgesehenen Sonderabschreibungen, ergibt sich daraus ein erhebliches Präferenzgefälle zugunsten der neuen Bundesländer. Mit diesen positiven Investitionsbedingungen kann der wirtschaftliche Erneuerungsprozeß tatkräftig unterstützt werden. Ein weiterer Schwerpunkt bei den Wirtschaftsförderungsmaßnahmen ist die rasche Entwicklung des Mittelstandes im Beitrittsgebiet. Hierfür sieht der Entwurf rund 650 Millionen DM vor. Für den notwendigen Strukturwandel ist vor allem die Gründung neuer selbständiger Existenzen unerläßlich. Die Erfahrung aus dem alten Bundesgebiet lehrt, daß durch neue mittelständische Unternehmen auch zukunftsträchtige Arbeitsplätze geschaffen werden. Dazu gehört aber auch, daß die Arbeitnehmer ausreichend qualifiziert sind. Ebenso wie die Gründung neuer Unternehmen muß deshalb die berufliche Qualifizierung nachhaltig gefördert werden. Neben den Maßnahmen der Wirtschaftsförderung gibt es aber auch noch andere Folgekosten der deutschen Einheit, die im Einzelplan 09 ihren Niederschlag finden. Als Beispiel seien hier nur die Kosten für die ökologische Sanierung und Rekultivierung der Gebiete des ehemaligen Uranerzbergbaus durch die Wismut AG in Sachsen und Thüringen genannt, wo ganze Landstriche von der Zerstörung bedroht sind. Ich hoffe, daß die Verhandlungen mit der UdSSR über den vollständigen Übergang des Unternehmens in deutsches Eigentum bald abgeschlossen werden kön- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 871* nen, damit die notwendigen Arbeiten zur Umstrukturierung und Sanierung der Bergbauflächen möglichst zügig — im Interesse der dort lebenden Menschen — fortgesetzt werden können. In den nächsten Jahren muß hierfür mit Kosten von mindestens 5 Milliarden DM gerechnet werden. Zuletzt zur Ausgabendisziplin und zum Einsparungszwang: Die historische Aufgabe der deutschen Einheit erfordert einen beträchtlichen Finanzaufwand; deshalb müssen alle Anstrengungen unternommen werden, durch strikte Ausgabendisziplin in den nächsten Jahren die Haushaltsdefizite eng zu begrenzen, um negative Auswirkungen auf die Geldwertstabilität und das Wirtschaftswachstum zu vermeiden. Die Koalition hat den Abbau von Steuervergünstigungen und Finanzhilfen in der Größenordnung von jährlich 10 Milliarden DM ab 1992 beschlossen. Minister Möllemann hat sogar mehrmals öffentlich mit seinem Rücktritt gedroht, falls dieses Ziel nicht erreicht wird. Aus meiner Arbeit im Haushaltsausschuß weiß ich, wie schwierig es ist, einmal zugestandene Subventionen wieder abzubauen. Dies ist für die Betroffenen, die sich an das oftmals „süße Gift" der Subventionen gewöhnt haben, in jedem Falle schmerzlich. Aber die finanziellen Belastungen im Zusammenhang mit der deutschen Einheit haben eine neue Situation geschaffen, die einen mutigen Schritt in Richtung Subventionsabbau nicht nur rechtfertigt, sondern geradezu erfordert. Ich begrüße es deshalb, daß der Bundesminister für Wirtschaft dieses Anliegen so nachhaltig unterstützt, und gehe davon aus, daß er in seinem Etat mit gutem Beispiel vorangehen wird. Jürgen W. Möllemann, Bundesminister für Wirtschaft: Die Wirtschafts- und Finanzpolitik steht vor der größten Bewährungsprobe in Deutschland nach dem Kriege. Innenpolitisch hat der wirtschaftliche Aufbau in den neuen Bundesländern absolute Priorität. Ich bin als Wirtschaftsminister mit dem Ziel angetreten, dafür zu sorgen, daß das gesamte Deutschland gleichermaßen am wirtschaftlichen Aufschwung teilhaben kann und die Bürger in den neuen Ländern eine neue Zukunft für sich und ihre Familien erkennen können. Von uns allen ist jetzt eine große gemeinsame und solidarische Anstrengung für den Wiederaufbau gefordert. Die Bundesregierung hat mit der Verabschiedung des Gemeinschaftswerks Aufschwung-Ost dieses Zeichen der Solidarität gesetzt. In diesem und im nächsten Jahr stehen 24 Mrd. DM für die neuen Bundesländer bereit. Wir haben damit das Notwendige in die Wege geleitet, um die wirtschaftliche Apathie im Osten zu verbannen und in eine dynamische Aufwärtsbewegung zu überführen. Das, was man mit Geld erreichen kann, haben wir auf den Weg gebracht. Unser Leitgedanke: Wer im Osten investieren will, erhält die beste Förderung, die es in der Bundesrepublik je gab. Keine Investition soll am Geld scheitern; keine private, aber auch keine öffentliche. Hier liegt der Schlüssel für neue Dauerarbeitsplätze. Deshalb haben wir die 12-%-Investitionszulage um ein halbes Jahr bis Ende 1991 verlängert. Mit der 50%igen Sonderabschreibung für Bauten und Ausrüstungsgüter haben wir Fördermöglichkeiten geschaffen, mit denen wir jetzt eine Förderintensität von 100 % einer Investition je nach Unternehmensgröße erreichen. Bei mittelständischen Unternehmen bringt die Kumulation staatlicher Hilfen sogar noch höhere Vorteile. Es lohnt sich jetzt auch finanziell, in den neuen Bundesländern zu investieren. Wir haben alles getan, damit — um mit Karl Schiller zu sprechen — die Pferde saufen können. Wir unterstützen die private Initiative mit einem riesigen Infrastrukturprogramm. Allein für Telekommunikation, Straßen und Schienenwege investiert der Bund in diesem Jahr 17 Milliarden DM. Hieraus ergibt sich eine unmittelbare Beschäftigungswirkung vor Ort, vor allem für die Bauwirtschaft und das Handwerk. Insgesamt stehen in den neuen Ländern und ihren Gemeinden 1991 50,1 Milliarden DM für öffentliche Investitionen zur Verfügung; allein 37,5 Milliarden tragen der Bund und die Bundesunternehmen. Das ist pro Kopf der Bevölkerung das größte Investitionsvolumen, das wir jemals auf den Weg gebracht haben. Die ersten Zeichen einer beginnenden wirtschaftlichen Gesundung sind schon zu sehen. Seit Beginn des letzten Jahres hat in den neuen Bundesländern rund i Million Menschen neue Arbeitsplätze gefunden. Ich erwarte, daß der notwendige Abbau unproduktiver Arbeitsplätze mehr und mehr vom Aufbau wettbewerbsfähiger Beschäftigung aufgefangen wird, zumal da wir die Vorfahrtregelung bei Investitionen, Eigentum und Altlasten verstärkt haben. Wir wollen den Vorrang für Investitionen. Wir verlangen aber auch viel von den Menschen, die sich mit ihren Kenntnissen und Fähigkeiten auf die neue Zeit einstellen müssen. Deshalb geben wir Hilfe zur Qualifizierung. Deshalb unterstützen wir im öffentlichen Bereich die extensive Nutzung von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in der Übergangszeit. Wir lassen die Menschen mit ihren Sorgen nicht allein. Jeder muß aber seinen individuell möglichen Beitrag leisten, um die Schwierigkeiten im Übergang zu meistern. Ich bin sicher, wir haben mit dem Gemeinschaftswerk Aufschwung-Ost die richtige Mischung zwischen dem investiven Mitteleinsatz und der arbeitsmarktpolitischen Absicherung gefunden. Alle verfügbaren Instrumente werden genutzt, um den Unternehmen den Weg in die neuen Bundesländer zu ebnen, Verwaltungshürden aus dem Weg zu 872* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 räumen und möglichst vielen Menschen Perspektiven für Selbständigkeit zu eröffnen. Die Eigeninitiative der Bürger ist eine wichtige Hilfe bei allem, was wir tun. Wir setzen auf die freie und verantwortliche Mitwirkung unserer Bürger in ganz Deutschland. Ein Staat, der da verzichtet, bleibt unvermeidlich hinter seinen Möglichkeiten zurück. Je mehr sich Selbständigkeit und Kreativität der Bürger jetzt für den Aufschwung entfalten können, desto eher werden wir unser Ziel erreichen. Einige Punkte möchte ich besonders hervorheben. Erstens. Die Finanzausstattung der neuen Länder und Gemeinden war — gemessen an den jetzt erkennbaren Aufgaben — unzureichend. Wir haben die Möglichkeiten des Einigungsvertrages ausgeschöpft oder — um es mit Herrn Biedenkopf zu sagen — fortgeschrieben und neben dem Gemeinschaftswerk weitere Hilfen in den Finanzrahmen des Einigungsvertrages aufgenommen. Das war richtig und wichtig. Die neuen Länder und ihre Kommunen verfügen jetzt über genügend Mittel, um ihre Aufgabe wahrzunehmen. Zweitens. Mein Vorschlag zur Soforthilfe ist mit der Investitionspauschale von 5 Milliarden für Modernisierung und Instandsetzung in den Gemeinden in vollem Umfang aufgenommen worden. Wichtig ist, daß die Kommunen jetzt schnell handeln und sich auf Instandsetzungs- und Modernisierungsmaßnahmen konzentrieren. Hier hemmen weder große Planungsvorläufe noch Eigentumsprobleme. Die Bürgermeister und Landräte müssen jetzt die vom Bund ausgereichten Schecks in die Hand nehmen und die Renovierung von Schulen, Krankenhäusern und Wohnungen vorantreiben. Dann wird der Aufschwung für die Bürger in jeder Straße ein sichtbares Zeichen setzen. Drittens. Der Übergang vom Unrechtsstaat zum Rechtsstaat, vom Plansystem zur freiheitlichen Marktwirtschaft erfordert in der Eigentumsfrage, daß wir die Hemmnisse überwinden auf dem Weg zu mehr Freiheit und zur Restitution des Rechts — zur Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse und zur Wiederherstellung des Eigentums. Für Arbeitsplätze, Wohnbedarf und notwendige Infrastruktur müssen frühere Eigentümer auf Rückgabe verzichten. Sie bekommen stattdessen den Kaufpreis, den der Investor zahlt — unter Umständen sogar mehr. Das ganze muß schnell und einfach laufen. Wir wollen deshalb zugunsten von Investoren im Beitrittsgebiet die Verfügungssperre vorübergehend aussetzen. Ohne schnelle Klarheit über die Verfügungsrechte öffentlicher Investoren — der Treuhand wie der neuen Bundesländer, der Kreise wie der Kommunen — gibt es keinen Aufschwung, keine Freisetzung der Dynamik, die von öffentlichen Investitionen wie vor allem von Privateigentum ausgeht. Was nicht für Investitionen gebraucht wird, wird natürlich zurückgegeben, sobald klar ist, an wen es zurückzugeben ist. Aber diese Unklarheit darf nicht länger den Aufschwung hemmen. Die Verwaltungsinsuffizienz im Beitrittsgebiet müssen wir überwinden. Aber weil das nicht von heute auf morgen zu schaffen ist, müssen wir überall vereinfachen, nicht nur zur Lösung der Eigentumsfrage, sondern auch bei den Umweltaltlasten. Umweltaltlasten dürfen nicht neue Investitionen verhindern. Es hilft nichts: Die ökologischen Altlasten sind Kosten der Einheit. Der Versuch, sie auf Erwerber abzuwälzen, hemmt den Aufschwung. Kein Unternehmer unternimmt unkalkulierbare Risiken. Kein Vorstand darf das machen. Wenn nach langen Versuchen zur Bewertung der Risiken doch eine kalkulierbare Altlast ermittelt wird, wird jeder Erwerber den Kaufpreis entsprechend verringern. So landet die Altlast wirtschaftlich wieder bei der öffentlichen Hand, nur leider samt den enormen Kosten der Verzögerung des Aufschwungs. Die jetzige Freistellungspraxis ist unzulänglich. Wir müssen die komplexen Anstrengungen um die interne Lastenverteilung zwischen Bund und Ländern, Kreisen und Kommunen vom Privatisierungsgeschäft abkoppeln. Das gilt genauso für die unverzichtbaren Bemühungen, auch die Industrie an der Lösung des Altlastenkomplexes angemessen zu beteiligen. Insgesamt liegen hier Herausforderung und Chance zugleich: Die aktive Beseitigung der Umweltaltlasten fördert gleichzeitig den Ausbau des Umweltsektors in den neuen wie den alten Bundesländern. Sie schafft Arbeitsplätze und bedeutet letztlich das, was man Versöhnung zwischen Ökologie und Ökonomie nennt. Die Mehraufwendungen für den Aufschwung-Ost sind nicht nur unabweisbar. Sie sind mit den steuerpolitischen Beschlüssen der Bundesregierung solide finanziert. Auch wenn manche die Diskussion um die Neidsteuer für Besserverdienende wiederbeleben wollten, den Solidarbeitrag für Gesamtdeutschland müssen wir alle mit den beschlossenen Steuererhöhungen leisten. Die Erhöhung der Einkommensteuer wird klar auf ein Jahr begrenzt bleiben. Die Erhöhung der Mineralölsteuer ist angesichts der Entwicklung der Ölpreise gesamtwirtschaftlich und vom Preisniveau her zu verkraften; darüber hinaus kann der einzelne durch sparsames und umweltfreundliches Verhalten seine Belastung verringern. Mit den Steuerbeschlüssen wird die bisher konsequent durchgehaltene haushaltspolitische Grundlinie der vergangenen Jahre keineswegs verlassen: Die Rückführung der Staatsquote und die Förderung der Marktkräfte bleiben Ziele der mittelfristigen Finanzpolitik. Strikte Ausgabendisziplin, Abbau von Subventionen und Privatisierung staatlicher Unternehmen und Infrastrukturaufgaben sind weiterhin die Leitlinien der Haushaltspolitik. Mit der jüngsten Unterstützung, die die Bundesregierung für die jüngsten Koalitionsbeschlüsse vom DIW erhalten hat, hat die Opposition ein sonst oftmals geschätzter „Kronzeuge" im steuerpolitischen Abseits stehenlassen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 873* Noch wichtiger ist, daß der Deutsche Gewerkschaftsbund den wirtschafts- und finanzpolitischen Kurs der Bundesregierung unterstützt. Das ist ein ermutigendes Zeichen. Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften müssen im Interesse eines schnellen Aufbaus in Ostdeutschland gemeinsam handeln. Der Europäische Binnenmarkt und der Wettbewerb der Produktionsstandorte verlangen von uns auch mittelfristige Weichenstellungen. Die Verbesserung der steuerlichen Rahmenbedingungen und die Neuordnung der Unternehmensbesteuerung bleiben auf der Tagesordnung. Die Unternehmenssteuerreform wird in dieser Legislaturperiode fortgeführt. Das Gesetzgebungsverfahren wird vor Beginn des Europäischen Binnenmarkts abgeschlossen sein. Wenn wir steuerpolitisch glaubwürdig bleiben wollen, müssen wir die Kürzung von Subventionen auf allen Gebieten vorantreiben. Mittelfristig werden Steuervergünstigungen und steuerliche Sonderregelungen — Höhe : 5 Milliarden DM — und Finanzhilfen bis 1994 in Höhe von 1,5 Milliarden DM abgebaut. Auf meine Initiative hin ist die Einsparung von weiteren 4 Milliarden DM beschlossen worden. 1992 wird es zu einem Subventionsabbau von rund 10 Milliarden DM kommen. Schon Mitte des Jahres werden die Kollegen Schäuble, Waigel und ich gemeinsam konkrete Kürzungsvorschläge vorlegen. Der eine oder andere Lobbyist wird dann erstaunt feststellen, daß auch manche heiligen Kühe, die schon Fett angesetzt haben, nicht von der Abmagerungskur verschont bleiben. Wir werden dem Steuerzahler deutlich machen, daß wir mit seinem Geld verantwortungsbewußt umgehen. Die Rückführung der Ausgaben hilft uns, die Neuverschuldung des Bundes zu begrenzen. Wir dürfen die Verantwortung für die Stabilität nicht allein der Bundesbank in Frankfurt überlassen. Die wirtschaftliche Solidität des vereinten Deutschlands ist ein Motor für die Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft und die Weiterentwicklung der Europäischen Integration. Wir treten mit Nachdruck ein für die Vollendung des Europäischen Binnenmarktes, die parallele Verwirklichung der Politischen Union und der Wirtschafts- und Währungsunion, die Herstellung des europäischen Wirtschaftsraumes mit den Staaten der Europäischen Freihandelszone (EFTA). Die Bundesregierung setzt sich intensiv auch für die Erhaltung und Stärkung der freiheitlichen Welthandels- und Wirtschaftsordnung im Rahmen des GATT ein. Ich begrüße die Wiederaufnahme der Verhandlungen im Rahmen der Uruguay-Runde. Wir müssen jetzt den mutigen Schritt wagen, in Sektoren, in denen Marktwirtschaft noch nicht verwirklicht ist Strukturwandel zuzulassen. Wir müssen die Weltwirtschaft unter Wettbewerbsbedingungen weiterentwickeln, wenn wir den Rückfall in den Protektionismus vermeiden wollen. Freihandel und offene Märkte müssen als Grundlage unserer exportorientierten Wirtschaft erhalten bleiben. Ihr verdanken wir unseren Wohlstand. Unsere Unterstützung für die Landwirtschaft wäre ohne sie nicht finanzierbar. Die Kurskorrektur Richtung Markt muß im Agrarbereich jetzt gelingen. Der Handel mit Agrarprodukten darf nicht zu einer ständigen Gefährdung des Welthandels führen. Antiquierte Schutzmechanismen gilt es zugunsten marktkonformer Lösungen umzugestalten. Direkte Ausgleichszahlungen für Landschaftspflege und Umweltschutz stören die Marktkräfte weit weniger als im jetzigen System der Agrarordnung. Ich werbe deshalb für die Erkenntnis, daß es keinen Gegensatz zwischen Industrieinteressen und Landwirtschaftsinteressen gibt, sondern nur ein gemeinsames Interesse an einer wettbewerbsfähigen Wirtschaft. Die anstehenden Vereinbarungen zum geistigen Eigentum, zum Marktzugang und im Dienstleistungsbereich müssen umfassend sein. Mit Teilergebnissen können wir uns nicht zufriedengeben. Hier können wir die Kraft zur politischen Führung im Interesse unseres Gemeinwohls unter Beweis stellen. Kein geringeres Gut als die Grundlagen unseres Wohlstandes steht auf dem Spiel. Unsere Deutschlandpolitik war erfolgreich, weil unsere Außenpolitik immer schon die Bürger in Mecklenburg-Vorpommern wie in Brandenburg, in Sachsen und Sachsen-Anhalt, in Thüringen und dem früheren Ost-Berlin zum Ziel hatte, ihre Freiheit und ihre Selbstbestimmung. Jetzt sind sie frei. Jetzt haben sie frei bestimmt und sich für die Einheit entschieden. Jetzt haben unsere Wirtschaftspolitik insgesamt, unser Eintreten für offene Märkte wie unsere Strategie Aufschwung-Ost wiederum die Einheit zum Ziel: die innere Einheit, den Ausgleich der Lebenschancen und Lebensverhältnisse im vereinten Deutschland. Unsere Deutschland- und Außenpolitik hat die Einheit ermöglicht. Unsere Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik wird die Einheit vollenden. Bernd Wilz (CDU/CSU): Die Bundeswehr ist in die Schlagzeilen geraten! Dies ist in einer pluralistischen Gesellschaft weder ungewöhnlich noch schädlich. Ungewöhnlich und schädlich sind lediglich die äußeren Umstände, unter denen die Bundeswehr ins Gerede gekommen ist. Äußerungen und Verhaltensweisen im Zusammenhang mit der Verlegung von Bundeswehreinheiten in die Türkei bzw. ins Mittelmeer — wenngleich von den Medien teilweise überzeichnet — haben die Frage nach Defiziten bei der Bundeswehr aufgeworfen. Wir müssen uns die Frage stellen, ob unsere Bundeswehr, die eher zur territorialen 874* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 Selbstverteidigung erzogen und ausgebildet wurde, auch dann einsatzfähig, d. h. kriegstüchtig ist, wenn als Bündnisverpflichtung Recht und Freiheit anderswo als auf unserem Boden verteidigt werden sollen. Ich will nichts über einen Kamm scheren. Die überwiegende Mehrheit der Bundeswehrangehörigen hat weder Schwierigkeiten mit ihrem soldatischen Grundverständnis noch mit der Frage der Solidarität gegenüber unseren Alliierten. Einzelstimmen und Minderheiten sorgen allzu rasch für ein falsches Bild. Die nach Erhac, Diyarbakir und ins Mittelmeer entsandten Soldaten haben treu und vorbildlich ihre Pflicht erfüllt. Die Diskussion hier im Lande hat dies nicht genügend widergespiegelt. Um so mehr schuldet das Hohe Haus diesen Soldaten Dank und Anerkennung. Gleichermaßen gilt unser Respekt den Soldaten und zivilen Mitarbeitern der Bundeswehr, die über Jahrzehnte einen wichtigen Beitrag zur Friedenssicherung geleistet haben. Die CDU/CSU bekennt sich nachdrücklich zu unseren Streitkräften. Die Bundeswehr wird auch künftig — wenngleich mit neuem Gesicht und neuen Aufgaben — unsere zuverlässige Risikoversicherung darstellen. Notwendig ist allerdings ein Umdenkungsprozeß. An dessen Ende müssen die Bereitschaft zur Übernahme einer erweiterten Sicherheitsverantwortung und ein umfassenderes Verständnis des Sicherheitsbegriffes stehen. Es ist Aufgabe der Politik, in dieser Frage klare Positionen einzunehmen und den Soldaten eindeutige Vorgaben an die Hand zu geben. Nach Auffassung der CDU/CSU ist Sicherheitsvorsorge auch in Zukunft nur innerhalb kollektiver Sicherheitssysteme möglich. Deutschland muß sich zu seiner Verantwortung innerhalb dieser Solidargemeinschaften bekennen. Für das Ausland, die deutsche Öffentlichkeit und unsere Bundeswehr muß Klarheit bestehen, was die Deutschen künftig tun wollen und können. Wer — wie Teile der Opposition — die Übernahme internationaler Verantwortung auf Blauhelme begrenzen oder gar ganz ablehnen will, muß wissen, daß er sich damit an den Katzentisch der Völkergemeinschaft setzt. Es gibt keine halbe Solidarität — es sei denn um den Preis einer Sonderrolle Deutschlands, die wir jedenfalls nicht wollen. Die jüngsten Ereignisse haben auch die Frage nach dem Für und Wider der Wehrpflicht in den Mittelpunkt gerückt. Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion will ich an dieser Stelle nochmals eindeutig unser Ja zur Wehrpflicht bekräftigen. Wir halten an der bewährten Verankerung der Streitkräfte in unserer Gesellschaft fest. Sie hat sich als vorteilhaft erwiesen und in der Bevölkerung den Gedanken des Dienstes am Gemeinwesen wachgehalten. Wehrdienst ist eine klassische Form des Dienstes an der Gemeinschaft. Wer Kriegsdienstverweigerung und Zivildienst von vornherein als die höheren moralischen Werte einstuft, leugnet das legitime Recht eines Staates zu seiner Verteidigung. Mehr noch: Er hat den objektiven Faktor militärischer Macht als Garant zur Sicherung oder Wiederherstellung von Frieden in Freiheit nicht verstanden oder will ihn nicht verstehen. Mit dem Ja zur Wehrpflicht verbindet sich für uns die klare Forderung, dem Prinzip von Wehr- und Wehrübungsgerechtigkeit noch mehr als bisher Anerkennung zu verschaffen. Wir können die Akzeptanz der Wehrpflichtarmee auf Dauer nur erhalten und weiter erhöhen, wenn wir die Gleichbehandlung aller wehrfähigen jungen Männer sicherstellen. Dies ist der Staat seinen Wehrdienstleistenden schuldig. Die Bundeswehr steht vor den größten Herausforderungen seit ihrem Bestehen. Wir wollen nicht nur die politische Verpflichtung zum Abbau auf 370 000 Mann bis Ende 1994 erfüllen. Gleichzeitig müssen die Integration ehemaliger NVA-Angehöriger vollzogen und eine umfassende Neustruktur der Bundeswehr bewältigt werden. Dabei sind zahlreiche Standortentscheidungen — auch in Abstimmung mit den Alliierten — zu treffen. Das Ergebnis all dieser Maßnahmen muß sich in eine neue NATO-Strategie einfügen lassen, die derzeit entwickelt wird und stärker als bisher das Element der Multinationalität enthalten soll. Diese gewaltigen Aufgaben werden Geld kosten. Umstrukturierungen und auch Reduzierungen sind nicht kostenlos zu haben, wenn sie für die betroffenen Menschen sozial verträglich sein sollen. Was wir heute in der Fürsorge gegenüber den Bundeswehrangehörigen versäumen, kann morgen schmerzhafte Auswirkungen auf das innere Gefüge und den sozialen Frieden in den Streitkräften haben. Dies gilt vor allem für die Soldaten in den neuen Bundesländern. Der Verteidigungshaushalt von 52,6 Milliarden DM bildet für diese Aufgaben einen engen, vielleicht zu engen Finanzrahmen. Ich darf daran erinnern, daß es Ziel der CDU/CSU war, für die Bundeswehr/West einen Verteidigungshaushalt von unter 50 Milliarden DM zu erreichen. Der jetzige Haushaltsumfang, der bezogen auf die zusätzlichen Bedürfnisse der Bundeswehr/Ost schon eine Einsparung um 7 bis 8 Milliarden DM bedeutet, muß nun für die gesamte Bundeswehr ausreichen. Aus verteidigungspolitischer Sicht sind daher mittelfristig weitere Beschneidungen des Verteidigungshaushalts kaum zu verantworten. Der Einzelplan 14 darf nicht zum Selbstbedienungsladen für andere Staatsaufgaben werden! Der Umfang des Verteidigungshaushalts ist nach außen Gradmesser des Solidarbeitrags Deutschlands zur kollektiven Verteidigung. Nach innen ist er Ausdruck der Fürsorgepflicht des Staates gegenüber seinen Streitkräften. Die von Teilen der Opposition geforderte Halbierung des Verteidigungshaushaltes bis 1994 wird weder den sicherheitspolitischen Erfordernissen unseres Landes gerecht noch läßt sie Raum für zusätzlich notwendige Leistungen wie Verifikation, Umweltschutz oder Verbesserung des sozialen Umfeldes. Im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten hat sich die CDU/CSU eine Reihe von Zielen zur Verbesserung der personellen und materiellen Struktur der Bundeswehr gesetzt. Dazu gehören vor allem: erstens die möglichst rasche Gleichstellung der Soldaten und Zivilbediensteten in den alten und neuen Bundesländern; zweitens sozial verträgliche Maßnahmen im Rahmen der Struktur- und Standortentscheidungen; drittens besondere infrastrukturelle Anstrengungen für die neuen Bundesländer. Dazu sollten mehr als Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 875* geplant Infrastrukturmittel West und aus dem Programm „Kaserne 2000" in die neuen Länder fließen. Viertens fordern wir die Fortführung des Attraktivitätsprogramms besonders zur Nachwuchssicherung. Wir wollen auch mehr Führerdichte und den schnellen Abbau des Staus bei unseren Feldwebeln. Darüber hinaus müssen mit Blick auf die Zukunft auch weiterhin ausreichende Mittel für Forschung, Entwicklung und Beschaffung bereitgestellt werden. Technologieentwicklung und Modernisierung bleiben unabdingbare Voraussetzungen für die Funktionstüchtigkeit einer motivierten Armee. Wer heute daran spart, muß morgen doppelt dafür bezahlen! Meine Damen und Herren, die NATO bleibt auch künftig der sichere Anker für unsere Sicherheitsvorsorge. Zusätzlich ist der Blick zu weiten für eine verstärkte Mitwirkung der Bundeswehr im Rahmen unserer Mitgliedschaft in anderen kollektiven Bündnissen. Die Reduzierung der Bundeswehr auf 370 000 Soldaten bedeutet einen Vorgriff auf weitere Rüstungskontrollverhandlungen. Sie stellt aus unserer Sicht für eine längere Zeit die untere Marge des Bundeswehrumfangs dar. Eine 100 000-Mann-Armee, wie von Teilen der Opposition gefordert, läßt die Risiken und Unwägbarkeiten künftiger sicherheitspolitischer Entwicklungen völlig außer acht. Unsere Bundeswehr und mit ihr die verantwortlichen Politiker stehen vor großen Aufgaben. Die CDU/ CSU nimmt diese Herausforderung an. Wir werden mit klaren politischen Vorgaben den Weg in kollektive Sicherheitsstrukturen vorzeichnen und dabei den Platz für unsere Streitkräfte bestimmen. Walter Kolbow (SPD): Die späte Stunde, zu der die Aussprache über den Verteidigungshaushalt 1991 stattfindet, ist symptomatisch für die Öffentlichkeits- und Informationspolitik des Bundesministers der Verteidigung seit seinem Amtsantritt. Ihnen, Herr Bundesminister, kommt es sicher gelegen, daß wir nicht unter den Augen der Öffentlichkeit gewissermaßen live jetzt debattieren, da Ihr Anliegen, ja möglicherweise Ihr Auftrag das Verhindern jeglicher Öffentlichkeit über die Lage der Streitkräfte ist. Gern möchte ich die Aussprache über den Einzelplan 14 beginnen mit einer der wenigen guten Nachrichten der letzten Wochen auf Ihrem Feld, Herr Minister Dr. Stoltenberg, nämlich mit der Meldung über den Abzug von NATO-Einheiten aus der Türkei und damit auch der Rückkehr unserer Soldaten aus diesem Land. Trotz aller politischen Vorbehalte gegen diesen Einsatz deutscher Einheiten möchte ich auch an dieser Stelle unseren Soldaten Dank sagen für die Art und Weise der Erfüllung dieses Auftrages. Wir konnten uns vor Kreta und in Erhac mit einer Delegation des Verteidigungsausschusses überzeugen von der positiven Haltung der Bundeswehrsoldaten und ihrer Einstellung. Trotz einer beinahe schon dramatischen Konzeptionslosigkeit der politischen Leitung des Verteidigungsministeriums, trotz mangelhafter Unterstützung durch die Türkei als „host nation" haben unsere Soldaten ihre Aufgabe beispielhaft erfüllt. Ich nehme dieses aber auch zum Anlaß, für den Einsatz von Bundeswehrsoldaten außerhalb Deutschlands möglichst bald Rechtssicherheit anzumahnen. Wir dürfen unsere Soldaten in der Frage der Rechtsstaatlichkeit ihres Einsatzes und in der möglichen Gewissensnot bei der Anwendung von militärischer Gewalt nicht alleine lassen. Unserem Marinesuchverband, der dieser Tage zur Erfüllung einer humanitären Aufgabe in den Golf unterwegs ist, wünschen wir alles Gute und eine glückliche Heimkehr. Der Golfkrieg hat uns dramatisch mit der Tatsache konfrontiert, daß nach den tiefgreifenden Veränderungen der sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen in Europa vieles in unserer Verteidigungspolitik nicht mehr stimmt. Deutschland gewinnt mit dem Zusammenwachsen Europas seine zentralstrategische Lage in der Region zurück. Erstmals in der neueren Geschichte ist unser Land dabei von Verbündeten und solchen Staaten umgeben, die sich uns politisch und wirtschaftlich rasch annähern und militärischen Ausgleich in einem europäischen Sicherheitssystem suchen. Wir wissen: Unser Land wird militärisch nicht mehr unmittelbar bedroht. Spätestens seit dem Golfkrieg ist uns sehr bewußt geworden, daß wir uns deutsche Nabelschau künftig ebensowenig werden leisten können wie selbstgenügsamen Eurozentrismus. Jetzt rücken die Probleme und Konflikte in den Vordergrund, die allzu lange unbeachtet und vor allem ungelöst blieben. Auch die militärische Führung war fixiert auf das immer wieder Geübte: Rot greift Blau über Finnland oder Österreich an und muß gestoppt werden — wenn notwendig mit dem Ersteinsatz von Nuklearwaffen auf ostdeutsche und osteuropäische Städte. Es war die Stunde von Wintex/Cimex. Keine Rede von einer möglichen horizontalen Eskalation außerhalb Europas oder gar im Nahen Osten; keine Rede von Krisenmanagement in solchen Fällen. Unsere Fragen hierzu blieben auch im Gemeinsamen Ausschuß stets unbeantwortet. Angesichts neuartiger Gefährdungen der Menschheit brauchen wir ein erweitertes, eben internationales Verständnis von Sicherheit. Das Elend in Ländern der Dritten Welt, die gewaltige Verschuldung vieler Entwicklungsländer, Umweltkatastrophen, Flüchtlingsströme und der immer noch weitgehend unkontrollierte Waffenhandel zeigen uns, daß Sicherheit nicht mehr länger in erster Linie ein militärischer, sondern vielmehr ein politischer Begriff ist — Sicherheit ist eben nurmehr gemeinsam möglich, so wie wir Sozialdemokraten dies vor der Entspannung in Europa bereits festgestellt und damit auch Abrüstung zumindestens mitbewirkt haben. Unter dieser Prämisse erscheint uns ein Verteidigungshaushalt von über 50 Milliarden DM mehr denn je als überhöht. Dabei ist uns sehr bewußt, daß vor allem Abrüstungs- und Konversionskosten zusätzlich zu Buche schlagen werden. Unser Nahziel ist daher, den Verteidigungshaushalt auf unter 50 Milliarden DM zu senken und damit weitere 3 Milliarden DM einzusparen. Wir haben hierzu konkrete Vorschläge erarbeitet. Die großen Herausforderungen und Aufgaben für die nächsten Jahre haben sich auch in der Verteidigungspolitik von Grund auf verändert. Es sind dies: Drastische Verringerung der Umfangszahlen, Neu- 876* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 strukturierung der nun gesamtdeutschen Streitkräfte für aktuelle und künftige Aufgaben, Bewältigung der Abrüstungsfolgen, Standorte- und Rüstungskonversion. Der Generalinspekteur sagte bei der 32. Kommandeurtagung: „Nach der Wiedervereinigung steht die Bundeswehr vor der größten Reform seit ihrer Gründung. Sie kommt fast einem Neubeginn gleich." Dieses ist fürwahr eine treffliche Lagebeurteilung. Doch was macht der Bundesminister der Verteidigung daraus? Wer nun glaubte, der von der Bundesregierung vorgelegte Einzelplan 14 dieses Bundeshaushaltes würde diese Erkenntnisse aufnehmen und umsetzen, der sieht sich in der Tat getäuscht. Die Philosophie dieses Haushaltentwurfes heißt vielmehr: Fortführen des Begonnenen, globale Minderausgaben statt Schwerpunktbildung. Das Fazit ist: Hier wird nicht neugestaltet, hier wird wider bessere Erkenntnis nur verwaltet. Dies ist keine Politik, sondern Ausdruck der Hilflosigkeit gegenüber den Problemen und Folge einer gedankenlosen Unbekümmertheit, mit der die Bundesregierung insgesamt an die großen Gegenwartsaufgaben herangegangen ist. Wir treten für Umschichtungen ein, die klare Schwerpunkte setzen; wir treten für Kürzungen ein, die dafür die erforderlichen Finanzmittel freimachen können. Die aktuellen Herausforderungen können nicht mit halbherzigem Krisenmanagement unter Ausschluß der Öffentlichkeit bewältigt werden. Eine auf 370 000 Soldaten schrumpfende Bundeswehr muß entschlossen umstrukturiert und neu gegliedert werden, sie muß anders ausgerüstet werden, sie muß einen neuen Auftrag bekommen auf der Grundlage der unveränderten Wertebestimmung unserer Verfassung! Der vorliegende Einzelplan 14 wird dieser Forderung nicht gerecht, da die bisherigen Ausrüstungs- und Rüstungsprogramme nur fortgeschrieben werden. Sie, Herr Bundesminister, haben es zu verantworten, daß wie in den vergangenen Jahren auch in diesem Haushalt wieder der Jäger 90 mit 800 Millionen DM zu Buche schlägt. Und dies, obwohl das europäische Jagdflugzeug 90 wahrscheinlich nie in die Produktion gehen wird. Wären Sie unseren Vorschlägen der vergangenen Jahre gefolgt, hätten durch Streichung des Jäger 90 schon weit mehr als 5 Milliarden DM eingespart werden können. Gerade die Freien Demokraten spitzen hier wie in anderen Fällen ständig den Mund, pfeifen aber nicht. Das Heer reduziert seine Brigadezahl von 42 auf 28. Dieses ist eine gute Entscheidung, ist sie doch der sicherheitspolitischen Entwicklung angemessen. Warum aber, so frage ich, brauchen wir noch etwa 20 mechanisierte Brigaden mit insgesamt über 4 000 Kampfpanzern, wenn rings um uns künftig nur noch befreundete demokratische Staaten sein werden? Obwohl dieses so ist, sind in diesem Haushaltsentwurf noch über 1 Milliarde DM für die Beschaffung von Kampffahrzeugen angesetzt. Die Beschaffung von Munition verschlingt die Riesensumme von über 2 Milliarden DM. Hier liegt unseres Erachtens noch beachtliches Sparpotential. Die Bewilligung von Mitteln für das Entwicklungsprojekt Panzerabwehr-Hubschrauber 2 erscheint uns nicht plausibel. Dieses mag daran liegen, daß es der Bundesregierung bisher nicht gelungen ist, einen vernünftigen Auftrag für die künftigen deutschen Streitkräfte zu formulieren. Wir werden jedoch die vielpropagierte Luftbeweglichkeit so nicht mitmachen. Schon gar nicht sind uns die voraussichtlich enormen Kosten einer künftigen Luftmechanisierung einsichtig. Für diese Rüstungsprojekte gibt es derzeit kein vernünftiges militärisches Konzept und keine sicherheitspolitische Rechtfertigung. Hier wird aus politischen und wirtschaftlichen Erwägungen Geld verteilt, das wir für andere Aufgaben dringend benötigen. Wir fordern die Streichung bzw. drastische Kürzung dieser abrüstungspolitisch schädlichen, sicherheitspolitisch unnötigen und für eine seriöse Streitkräfteplanung nicht erforderlichen Mittel. Wir fordern die Umschichtung von Mitteln zugunsten der dringend erforderlichen Baumaßnahmen und Sanierungsaufgaben in den neuen Bundesländern, z. B. aus den Ausgaben für die NATO-Infrastruktur und aus dem Attraktivitätsprogramm. Baumaßnahmen in den alten Ländern müssen gestoppt oder zumindest gestreckt werden, um für die Soldaten im Osten zumutbare Verhältnisse zu schaffen. Gleiche Lebensbedingungen in Deutschland heißt auch gleiche Bedingungen für die Soldaten in Ost und West. Durch globale Minderausgaben, insbesondere durch Kürzung der extrem hohen Betriebsausgaben müssen umfangreiche Mittel für die Verbesserung der Infrastruktur und zur Unterstützung der Kommunen geleistet werden. Mein Kollege Neumann aus Gotha wird hierzu im einzelnen sprechen. Es ist zu prüfen, ob weitere Mittel zugunsten der Standortkonversion und zur Beseitigung von Altlasten umgeschichtet werden können. Beide wichtigen Themen werden von der Bundesregierung und hier vom Bundesminister der Verteidigung absolut unzureichend behandelt. Von der Verringerung der Streitkräfte, sowohl der Bundeswehr als auch der Stationierungsarmeen, werden viele Soldaten, zivile Beschäftigte, Städte, Gemeinden und Regionen betroffen. Sie, Herr Bundesminister der Verteidigung, vermeiden hartnäckig den gesellschaftlichen Dialog zur Beantwortung wichtigster Fragen, wie: — Was kommt nach dem Militär in den bisherigen Standorten, wenn Divisionsstäbe, Brigadestäbe, Bataillone, Geschwader und andere Einheiten abziehen? — Wie bewältigen wir die Folgen der Truppenreduzierung? — Wie gelingt uns die Umstellung der bislang militärisch genutzten Ressourcen und Dienstleistungen in zivile Verwendung, damit zum einen die Chancen, die in der Abrüstung liegen, genutzt werden können und damit zum anderen die wirtschaftlichen Folgen der Abrüstung gedämpft werden? Mit einem Satz: Wie planen wir sozialverträglich für die betroffenen Menschen, Kommunen und Regionen die Standortekonversion? Was verstehen Sie unter Sozialverträglichkeit, Herr Bundesminister? Erklären Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 877* Sie, daß Sie gewillt sind, für Besitzstandwahrung der betroffenen Soldaten und Zivilbeschäftigten einzutreten. Erklären Sie, daß es keinem Soldaten oder Zivilbeschäftigten schlechter gehen soll als bisher. Erklären Sie, daß Sie Sozialpläne für jede einzelne Dienststelle entwickeln werden. Und erklären Sie schließlich, daß Sie einen nationalen Sozialplan für die Standortekonversion im Bundeskabinett nicht nur vorschlagen, sondern auch verwirklichen wollen. Um hier richtige Positionen beziehen zu können, bedarf es einer vollständigen Transparenz in den militärischen Angelegenheiten, die insbesondere wirtschaftliche Komponenten haben, und umfassender, frühzeitiger Information der politisch Verantwortlichen, auch des Verteidigungsausschusses, der Betroffenen und Beteiligten durch die Bundesregierung und durch Sie, Herr Bundesminister! Leider weigern Sie sich, Herr Dr. Stoltenberg, die Auswirkungen der Abrüstung und der damit verbundenen Verkleinerung oder Auflösung von Garnisonen öffentlich und mit den Betroffenen zu diskutieren. Sie nennen keine Zahlen für Soldaten und Zivilbedienstete, die betroffen sein werden, Sie nennen keine Standorte und haben kein Konzept für den Verminderungs- und Konversionsprozeß. Ein weiteres Mal hoffen Sie, über einen wichtigen Wahltermin, nämlich den 21. April 1991, im stark betroffenen Bundesland Rheinland-Pfalz zu kommen. Dabei gilt hier der Grundsatz: Je früher Tatsachen offengelegt werden, desto leichter können sich alle Beteiligten darauf einstellen und planen! Die SPD fordert seit Beginn dieser Entwicklung ein Konversionsprogramm, das den wirtschaftlichen Folgen von Abrüstung, Truppenreduzierungen und Standortauflösungen Rechnung trägt und einen Ausgleich vorsieht. Wir verlangten dies bereits Anfang des Jahres 1990 im Zusammenhang mit der frühzeitigen Einbindung aller Betroffenen in diesen Prozeß. In unserem Regierungsprogramm, das uns auch in der Opposition verpflichtet, werden regionale Strukturprogramme für betroffene Gebiete — unter anderem dotiert mit freiwerdenden Mitteln aus dem Verteidigungsetat — vorgesehen. In vielen Fachkonferenzen über die Standortkonversion in den Bundesländern haben wir die Unsicherheit verspürt. Mühevoll haben wir uns Zahlen über die Soldaten und Zivilbeschäftigten in den militärischen Standorten, Aussagen über das Profil der Beschäftigten und ihrer Arbeitsplätze, über die Altersstruktur, über die Wirtschaftskraft der Streitkräfte und die Abhängigkeiten von Dienstleistungen aller Art besorgt. Dies hilft uns, die Fördergebiete, ihre Förderkulisse und die daraus resultierenden Förderungsmittel besser beurteilen zu können. Gegen Ihre Verschleierungstaktik, Herr Dr. Stoltenberg, mußten wir angehen, damit die Bekanntgabe der Pläne über den Abbau und die Umorganisation von Bundeswehrstandorten forciert und schließlich wieder Sicherheit für Arbeits-, Lebens- und Wirtschaftsplanungen der betroffenen Menschen und Regionen geschaffen wird. Die Soldaten und Zivilbeschäftigten sind nämlich nicht so unmündig und passiv, wie Sie offensichtlich vermuten. Vielleicht empfinden sie die Konversion und Reduzierung auch als Chance, ihre bisherige Lebensplanung zu verändern. Sie wollen ihr Schicksal in die Hand nehmen und nicht der Bürokratie im BMVg überlassen. So kann ich nur meinen Appell wiederholen: Informieren Sie lieber schnell als später vollständig! In der Armee ist es inzwischen ein geflügeltes Wort: Der Mensch steht im Mittelpunkt und damit allen im Wege. Jeder weiß, daß bis 1994 militärisches und ziviles Personal in großem Umfang abgebaut werden muß. Vielleicht sage ich Ihnen etwas Neues: Aussteuern und Umsetzen von Personal kostet Geld. In diesem Haushaltsentwurf ist noch nirgendwo ein Hinweis auf die Kosten des im Entwurf schon existierenden Personalstrukturgesetzes. Die Anhebung der Gehälter in den neuen Bundesländern auf Westniveau wird sich nicht dadurch vermeiden lassen, daß man sie nicht in den Haushaltsentwurf aufnimmt. Allen ist bekannt, daß die Bezüge noch in diesem Jahr auf 60 % der vergleichbaren Westgehälter angehoben werden müssen. Auch dieses ist im Haushalt nicht vorgesehen. Auch hier finden wir einen deutlichen Beweis für die Konzeptionslosigkeit der Bundesregierung: Während im Westen in Kürze Stellen in erheblichen Umfängen abgebaut werden müssen, werden derzeit im Osten im großen Stil Stellen angehoben. Der Verdacht drängt sich auf, daß hier an dem Erfordernis vorbei in einer unübersichtlichen Lage noch schnell Karrieren gezimmert werden, die nicht gerechtfertigt sind. Obwohl im Verteidigungshaushalt das Geld an allen Ecken und Enden fehlt, scheut sich diese Bundesregierung nicht, über 640 neue Planstellen für Soldaten und Beamte aus dem Westen zu fordern, die als Führungspersonal für den Aufbau der Bundeswehr im Osten vorgesehen sind, davon allein 14 Generale, 292 Obristen und Oberstleutnante und 77 Stellen für Zivilpersonal im höheren Dienst. Und dies erfolgt alles vor dem Hintergrund der umfangreichsten Personalreduzierung der Bundeswehr, die man sich nur vorstellen kann; dies erfolgt, so grotesk es auch anmutet, parallel zu einem in Arbeit befindlichen Personalverminderungsgesetz. Sollen hier Leute nochmals befördert werden, um sie kurz darauf in den vorzeitigen Ruhestand zu schicken? Warum gehen Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, so großzügig mit den Steuermitteln unserer Bürger um, so müssen Sie sich fragen lassen. Wir Sozialdemokraten fordern, daß stattdessen im Haushalt 1991 sichergestellt wird, daß alle Portepeeunteroffiziere vor ihrem Ausscheiden zum Stabsfeldwebel befördert werden können. Der Haushalt für 1991 sieht auch wieder keine einzige Planstelle A 13g für Offiziere des militärfachlichen Dienstes vor, obwohl bereits im letzten Haushalt der Verteidigungsausschuß dies beschlossen hatte. In den übrigen Verwaltungen gibt es bei vergleichbaren Tätigkeiten bereits die Möglichkeit, die Besoldungsstufe A 14 g zu erreichen. Den Soldaten verweigert man nach wie vor mit fadenscheinigen und absolut nicht stichhaltigen Gründen das Erreichen der Besoldungsstufe A 13 g. Wir Sozialdemokraten fordern die erforderlichen Planstellen im Haushalt 1991. Auch bei den zivilen Mitarbeitern der Bundeswehr vermissen wir im Haushalt die notwendigen Verbesserungen im Bereich des mittleren und gehobenen Dienstes. Auch das hat mit einer sozialen Politik nichts zu tun. Wir jedenfalls werden in der Kontinuität unserer so- 878* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 zialen Forderungen für die Streitkräfte bleiben. Daher werden wir das Thema Dienstzeitbelastung wieder auf die Tagesordnung dieser Legislaturperiode setzen und darauf drängen, daß eine gesetzliche Regelung der Dienstzeit auch für Soldaten endlich eingeführt wird. Auch die Frage der Beteiligungsrechte werden wir wieder aufnehmen und unseren leider zum Ende der letzten Legislaturperiode abgelehnten Gesetzentwurf wieder einbringen. In Europa sind wir auf dem Wege internationaler Zusammenarbeit und Übertragung souveräner Rechte auf multinationale Institutionen schon ein gutes Stück vorangekommen. Die SPD ist für eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Gemeinschaft. Dies kann am Ende auch gemeinsame europäische Streitkräfte bedeuten. In allen Parteien, in den Medien und in der Bevölkerung wird eine heftige Debatte geführt über die künftige Rolle Deutschlands im Rahmen von Aktionen der Vereinten Nationen. Wir stehen unter erheblichem internationalen Druck zugunsten einer Entscheidung für mehr internationales militärisches Engagement. Im Rahmen einer Fortschreibung des Grundgesetzes muß diese Frage geklärt werden. Vor einer Entscheidung wollen wir jedoch darüber eine breite gesellschaftliche Diskussion führen. Dabei wird eine Rolle spielen, daß der Gewaltverzicht Deutschlands bei den Bürgerinnen und Bürgern tief verwurzelt ist. Andererseits wissen wir, daß die Weltorganisation nicht völlig auf Zwangsmittel verzichten kann. Wir wollen diese Debatte in großer Ernsthaftigkeit und dem Friedensgebot unserer Partei verpflichtet mit der Öffentlichkeit führen. Ich möchte an dieser Stelle die Kolleginnen und Kollegen der Regierungskoalition nachdrücklich auffordern: Brechen Sie eine solche Entscheidung nicht über's Knie. Was wir brauchen ist eine neue Legitimationsbasis für unsere Streitkräfte. Eine Verfassungsänderung muß von einer überzeugenden Mehrheit der Bevölkerung getragen werden. Hierfür werden wir die politischen Bedingungen definieren müssen, unter denen die Bundesrepublik als Mitglied der Vereinten Nationen nötigenfalls auch einen militärischen Beitrag zur Friedensbewahrung oder Friedenswiederherstellung im Rahmen der UNO leisten sollte. Es wird weiterhin zu prüfen sein, wie das Grundgesetz bzw. die zukünftige deutsche Verfassung diese politisch gewollte Entscheidung hinreichend präzise begrenzen kann, um Mißbrauch auszuschließen. Auf dieser Basis lassen sich auch Einzelfragen aus dem Spannungsfeld Wehrpflicht, allgemeine Dienstpflicht, Wehrgerechtigkeit sowie Auftrag und Umfang künftiger deutscher Streitkräfte sehr viel leichter lösen. Meine Damen und Herren, der vorliegende Etatentwurf wird den tiefgreifenden Änderungen der Außen- und Sicherheitspolitik nicht gerecht. Er bietet keine Grundlage für einen Umbau unserer Streitkräfte, der sich an den drastisch veränderten strategischen und operativen Gegebenheiten orientiert. Unsere Bundeswehr muß nicht nur umstrukturiert und neu gegliedert werden. Was das eigentliche Defizit ist: Nach dem Wegfall der Ost-West-Konfrontation hat unsere Bundeswehr keinen konkreten und plausiblen Auftrag. Und hier liegt das Grunddilemma dieses Etatsentwurfs: Wenn der politische und strategische Überbau fehlt, kann eigentlich nicht neu strukturiert werden und sind Rüstungsprogramme reine Makulatur. Was aber tut die Bundesregierung? Was tun Sie, meine Damen und Herren, von der Koalition? Man hält sich bedeckt! Man sitzt aus! Man wartet, bis in den internationalen Gremien vorgedacht wird. Man tastet im nationalen Bereich mit der Stange im Nebel, wo Führung und Gestaltungskraft gefordert sind. So schickt z. B. die CDU ihren Generalsekretär Volker Rühe als Minenhund mit der Bemerkung vor, die Bundeswehr solle im Rahmen der Westeuropäischen Union künftig zur Wahrung europäischer Interessen auch außerhalb Europas eingesetzt werden können, „wenn es" , so Rühe wörtlich, „beispielsweise um die Herstellung internationalen Rechts" gehe. Was sind denn europäische Interessen? Wo ist die Grenze zu Interessen eines europäischen Partnerlandes? Hier ist die Bundesregierung aufgefordert, endlich Klarheit in die Diskussion zu bringen. Zunächst müssen unsere Sicherheitsinteressen klar und eindeutig definiert werden. Was dann den militärischen Anteil unserer Sicherheitspolitik anbelangt, wollen wir, meine Damen und Herren, der Bundeswehr die Mittel und die Möglichkeiten, die sie zur Erfüllung des von uns, vom Deutschen Bundestag gestellten Auftrages braucht, nicht verweigern. Lassen Sie uns dieses gemeinsam in die richtige Reihen- und Prioritätenfolge bringen und uns der Verantwortung bewußt sein, daß Haushaltsgelder, die anderenorts viel dringender gebraucht werden, nicht für unsinnige Programme und überholte Projekte ausgegeben werden dürfen. Erst dann können wir auch die innere Krise, die Desorientierung und Motivationsdefizite in der Truppe überwinden. Unser gemeinsames Ziel muß sein, eine friedens- und abrüstungsorientierte Sicherheitspolitik zu definieren und eine entsprechend den verteidigungspolitischen Erfordernissen richtig strukturierte und gerüstete Bundeswehr als zuverlässiges Instrument dieser Politik zu ermöglichen. Wenn wir dann noch einen hohen Akzeptanzgrad für den Auftrag unserer Streitkräfte in der Bevölkerung erreichen, kann man auch in Etatforderungen umsetzen, was unsere Sicherheit und damit dem Frieden dienlich ist. Carl-Ludwig Thiele (FDP): Als ich im letzten Jahr für den Deutschen Bundestag kandidierte, hatte nicht nur ich, sondern hatten auch große Teile der Bevölkerung das Gefühl, daß das Zeitalter der Bedrohungen beendet sei und das Zeitalter des Friedens Einzug halten werde. Auf grausame Weise sind wir dann ja alle von dem Golfkrieg zunächst eines anderen belehrt worden. Ich hatte damals gewünscht, daß die Sanktionen und die politischen Bemühungen zum Erfolg, nämlich einem Abrücken der irakischen Armee aus Kuwait führen. Rückblickend muß ich feststellen, daß diese Sanktionen wohl nicht zum Erfolg führen konnten, da Saddam Hussein sein Volk so unterdrückte und heute noch unterdrückt, daß auch eine Not im Volk den Sturz des Diktators nicht hätte herbeiführen können Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 879* und offensichtlich auch jetzt noch nicht herbeiführen kann. Dieser Krieg hat aber auch gezeigt, daß für die Bewahrung von internationalem Recht, Frieden und Freiheit notfalls gekämpft werden muß. Ich möchte an dieser Stelle den Streitkräften der Alliierten danken. Dank möchte ich auch unseren Soldaten aussprechen, die in der Türkei und im Mittelmeer gezeigt haben, daß wir Teil der NATO sind und zu unseren Bündnisverpflichtungen stehen. Ich möchte an dieser Stelle aber nicht unerwähnt lassen, daß unser Grundgesetz uns mit gutem Grund enge Schranken für den Einsatz der Bundeswehr auferlegt hat. Nach unserer Auffassung besteht der Auftrag unserer Streitkräfte darin, Kriege zu verhindern und Frieden zu bewahren. Friedenspolitik ist deshalb die beste Verteidigungspolitik. Friedenspolitik ist deshalb auch die liberale Gestaltung der Außenpolitik, denn der Frieden ist die unabdingbare Voraussetzung für ein Leben in Freiheit und Menschenwürde. Liberale tragen seit 1969 die Verantwortung für die deutsche Außenpolitik. Walter Scheel und Hans-Dietrich Genscher haben hierfür in der sozial-liberalen wie auch in der christlich-liberalen Regierung gekämpft und gearbeitet. Diese Friedenspolitik auf der Grundlage von Solidarität und Vertrauen in einem Bündnis demokratischer Staaten führte zu den internationalen Menschenrechts- sowie Abrüstungskonferenzen. Auf Grund des Erfolgs dieser Konferenzen und auf Grund der durch Generalsekretär Gorbatschow ermöglichten tiefgreifenden Veränderungen im Osten, im Ost-West-Verhältnis sowie in dem nunmehr wiedervereinten Deutschland müssen bei uns in der Bundeswehr bisherige Konzepte und Strukturen überdacht und neu definiert werden. Dieser Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 1991 trägt dem schon Rechnung. Die nächsten Haushalte werden es ebenfalls tun. Wenn man sich ansieht, daß der gesamte Haushalt der Bundesrepublik 300 Milliarden DM in 1990 auf gut 400 Milliarden DM in 1991 gestiegen ist, so findet man in diesen Zahlen die deutsche Einheit und die um ein Drittel größer gewordene Bundesrepublik augenfällig wieder. Der Verteidigungshaushalt ist demgegenüber nicht gestiegen, sondern sogar gesunken. Gegenüber dem Haushaltsansatz für die Bundeswehr Ost und West von gut 60 Milliarden DM wurden rund 7,5 Milliarden DM eingespart. Unsere Bundeswehr hatte 495 000 Mann; die NVA hatte 170 000 Mann. Hinzu kamen auf dem Gebiet der alten DDR mehr als 400 000 Mann Betriebskampfgruppen bzw. paramilitärische Verbände. Ohne diese Verbände ergibt sich, daß es vor der deutschen Einheit 665 000 deutsche Soldaten gab. Die Gesamtstärke soll stufenweise auf 370 000 Mann, mithin etwas mehr als die Hälfte, innerhalb von nur vier Jahren bis Ende 1994 gesenkt werden. Da diese Senkung nicht sofort durchgeführt werden kann, haben wir einen Verteidigungshaushalt vorliegen, der so personalintensiv ist, wie noch nie einer war. 48 % werden für Personal ausgegeben. Dies ist ein Anteil, der nur als Übergang in dieser Höhe bestehen kann. An diesen Zahlen wird deutlich, daß der Verteidigungshaushalt 1991 einen Einschnitt in die europäische und die deutsche Politik markiert. Vor allem ist dies ein Einschnitt in Umfang und Struktur der Bundeswehr. Die von der FDP in diesem Hohen Hause unter Berücksichtigung der gesamtpolitischen Entwicklung schon in der 11. Legislaturperiode als verantwortbar geforderte Trendumkehr bei Verteidigungsausgaben unseres Landes nimmt nun konkrete Formen an. Die Verschiebung der Schwerpunkte im Einzelplan 14 kennzeichnet den Umbruch, der sowohl die angestrebte Verkleinerung der Bundeswehr insgesamt wie vor allem die Integration des östlichen Teils — der ehemaligen NVA — personell und materiell verkraften muß. Ein wesentliches Problem besteht in diesem Haushalt auf dem Gebiet der Bundeswehr Ost. Ich hatte noch Dienstag letzter Woche die Möglichkeit, dort Besichtigungen vorzunehmen und Gespräche zu führen. Unser Ziel muß es sein, aus dem Bereich der Bundeswehr Ost und dem Bereich der Alt-Bundeswehr — die in den neuen Bundesländern „Original-Bundeswehr" bezeichnet wird — eine einzige Bundeswehr zu werden. Dies setzt voraus, daß Vertrauen geschaffen wird. Das ist besonders deshalb erforderlich, weil das kommunistische System der SED das Land und die Menschen ausgeplündert hat, um sich hochzurüsten. Lassen Sie mich hierzu einige Zahlen nennen, die einen Teil der Problemlage verdeutlichen: Ca. 250 000 t Munition müssen entsorgt werden. Nach Ratifizierung der Wiener Verträge sind ca. 11 000 Panzer und gepanzerte Fahrzeuge zu vernichten. Von ca. 100 000 vorgefundenen Fahrzeugen sind 70 000 Fahrzeuge auszusondern. Bei der Summe der übernommenen Liegenschaften müssen im erheblichen Umfang Wachdienste geschoben werden. Ein kurzfristig erreichbarer Schwerpunkt muß darin liegen, von der Bewachung auf den Dienst und die Ausbildung übergehen zu können. Dies ist auch wichtig für die Motivation der Bundeswehr im Osten. Vergleicht man ferner die räumliche Unterbringung der Soldaten in den neuen Bundesländern, so wird offensichtlich, daß hier direkter und konkreter Handlungsbedarf besteht. Küchen und Sanitätseinrichtungen sowie die Unterkünfte sind vorrangig herzurichten. Auf Grund der altertümlichen und enorm personalintensiven Heizanlagen sind auch in diesem Bereich schleunigst Verbesserungen herbeizuführen. Es sollte alles getan werden, damit die hierfür vorgesehenen Mittel in der Größenordnung von mehreren hundert Millionen DM sofort eingesetzt werden, damit gröbste Mißstände beseitigt werden. Man muß sich vor Augen führen, daß man hier mit relativ geringen Mitteln ein Maximum an Erfolg und Verbesserung erreichen kann. Diese Aufträge sollten insbesondere an ortsansässige kleinere Unternehmen und Handwerker vergeben werden. Dieses kann dann gleichzeitig zu gewünschter Beschäftigung in den neuen Bundesländern führen. 880* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 Ein ganz wesentliches Ziel von uns allen muß es sein, in den neuen Bundesländern Vertrauen in und für die Bundeswehr zu schaffen. Dieses setzt voraus, daß die innere Führung in der Bundeswehr gerade in den neuen Bundesländern gilt. Es muß deutlich werden, daß es in der Bundeswehr zu den besonderen Pflichten des Vorgesetzten gehört, Würde und Rechte des Soldaten zu respektieren, durch eigene Haltung und Pflichterfüllung innerhalb und außerhalb des Dienstes ein Beispiel zu geben und von seiner Befehlsgewalt im Bewußtsein seiner Verantwortung Gebrauch zu machen. Diese Tradition der inneren Führung in unserer Bundeswehr muß fortgesetzt werden. Es muß deutlich werden, daß in unserem Staat Soldaten Rechte auch gegenüber Vorgesetzten haben. Ich begrüße es, daß von den Generälen der NVA niemand und von den gut 2 200 Obersten lediglich 80, teilweise unter erheblicher Herabstufung, befristet von der Bundeswehr übernommen wurden. Man muß sich immer wieder vor Augen führen, wie kopflastig und funktionärsartig die NVA aufgebaut war: Bei der Bundeswehr gab es für 100 Mannschaftsdienstgrade ca. 12 Offiziere, bei der NVA 32. Lassen Sie mich an dieser Stelle einen Punkt nennen, der noch diskutiert werden muß: Wehrpflichtige in den neuen Bundesländern erhalten 250 DM Weihnachtsgeld und 500 DM Entlassungsgeld. Wehrpflichtige in der alten Bundesrepublik erhalten 380 DM Weihnachtsgeld und 2 500 DM Entlassungsgeld. Da Wehrpflichtige nach meiner Auffassung nicht mit normalen Bediensteten gleichgestellt werden dürfen und auch nicht so einzustufen sind, sondern etwas anderes darstellen, sollte diese unterschiedliche Behandlung im Westen und im Osten Deutschlands aufgegeben und eine einheitliche Regelung gesucht werden. Für mögliche Zusatzausgaben ist eine kostenneutrale Deckung im Einzelplan zu suchen. Lassen Sie mich abschließend für die FDP feststellen, daß nach unserer Auffassung die Bundeswehr im Rahmen der künftigen europäischen Sicherheitspolitik einen wichtigen Beitrag leisten muß und leisten wird. Für mich als neuen Abgeordneten ist es eine besondere Herausforderung, in dieser Zeit als Berichterstatter der FDP für den Verteidigungsetat im Haushaltsausschuß tätig zu sein. Wenn politische Tätigkeit Gestalten und nicht nur Verwalten bedeutet, dann liegen sehr politische Jahre vor uns. Andrea Lederer (PDS/Linke Liste): Wer heute abend die Nachrichten verfolgen konnte, durfte feststellen: Noch bevor hier die Debatte um den Verteidigungshaushalt begonnen hat, fordert Verteidigungsminister Stoltenberg weitere 16,5 Milliarden DM für Neuinvestitionen! Die Kosten für den Minensuchbooteinsatz sind im jetzt vorgesehenen Haushalt auch noch nicht enthalten. Das sind aktuelle Beispiele für die Uferlosigkeit dieses Rüstungshaushaltes. Nicht ohne Grund hatten wir die Verschiebung der Haushaltsdebatte beantragt und als Debattenort Berlin vorgeschlagen. Gerade der Entwurf des Verteidigungshaushaltes rechtfertigt und begründet unseren Antrag. Es zeugt von Demokratieverständnis dieser Regierung, daß den Volksvertreterinnen am Freitag der Vorwoche der mehrere hundert Seiten dicke Haushalt zugeleitet wird, der vier Tage später im Plenum verhandelt werden soll. Die ernsthafte und gründliche Auseinandersetzung mit diesem Haushaltsteil hätte Zeit und umfassende Erläuterungen seitens der Bundesregierung benötigt. Kaum ein anderer Teil des Haushaltsentwurfs vermag so drastisch den Menschen in den sogenannten fünf neuen Ländern vorzuführen, welcher Stellenwert ihrer sozialen und wirtschaftlichen Katastrophe beigemessen wird. An die Adresse des Kollegen Schulz vom Bündnis 90. Gerade auf Grund Ihrer Sympathien für den Inhalt des Antrages halte ich es für wenig nachvollziehbar, diesen mit formaler Argumentation abzulehnen, zumal da der Inhalt offensichtlich nicht schwer zu erfassen war. Ich hätte mir gewünscht, im Jahre 5 nach Einleitung der außen- und sicherheitspolitischen Perestroika in der Sowjetunion und im Jahre 2 nach der Wende in der DDR, kurz: nach dem Ende des Kalten Krieges, zu etwas Erfreulicherem als einem gigantischen Rüstungshaushalt reden zu können. Allein die Existenz des Einzelplans 14 und weiterer offener und versteckter Militärausgaben in anderen Einzeltiteln des Haushalts ist nicht nur ein Ärgernis, sondern beredtes Zeugnis alten Denkens dieser Bundesregierung. Dieses alte Denken setzt sich bei der veranschlagten Höhe der militärischen Ausgaben fort. Während der Öffentlichkeit Verteidigungsminister Stoltenberg quasi am Bettelstab hinkend vorgeführt wird, während von angeblich drastischer Kürzung des Rüstungshaushalts die Rede ist, ergibt sich für 1991 ein Betrag an Finanzmitteln für militärische Zwecke in einer Höhe von über 66 Milliarden DM. Die Gruppe der PDS/Linke Liste macht nämlich die regierungsamtliche Trennung bei den Militärausgaben zwischen den direkten Mitteln für das Verteidigungsministerium und den Mitteln zur Unterstützung des Golfkriegs nicht mit. Dabei sind in dem von mir genannten Betrag weitere militärische Ausgaben noch nicht enthalten: die Rüstungssonderhilfen und NATO-Verteidigungshilfen, die Versorgungsbezüge der Soldaten der Bundeswehr, die Wehrstrafgerichtsbarkeit und anderes. Die realen Ausgaben der BRD im Jahr 1991 für militärische Zwecke dürften weit über dem offiziell eingeräumten Milliardenbetrag liegen. Das ist ein neuer bundesdeutscher Rekord, traurig und zynisch zugleich. Denn mit diesem militärischen Gesamtetat wurde und wird nicht mehr nur der Kalte Krieg, sondern zum ersten Mal in dieser Größenordnung zugleich ein heißer Krieg mitfinanziert. Unter dem Titel „Allgemeine Finanzverwaltung" findet sich der Posten „Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Golfkrieg", der mit einem Betrag von angekündigt insgesamt rund 17 Milliarden DM die Mitverantwortung der Bundesregierung an dem verheerenden Krieg der USA im Nahen Osten symbolisiert. „Allgemeine Finanzverwaltung" — soll das eindeutige Kriegsfinanzierung zur allgemeinen unspektakulären Normalität deklarieren? Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 881* In diesem Kontext ist noch einmal auf das Thema Kriegssteuer einzugehen, denn Finanzminister Waigel hat hier gestern dankenswert offen den Charakter der Steuer dargelegt. Er sagte: Wären nicht die Kriegsausgaben anläßlich des Golfkrieges entstanden, so gäbe es im Frühjahr 91 keine Steuererhöhung: Die Wahrheit liegt vermutlich in der Mitte zwischen Steuerlüge und Kriegsfinanzierung. Aber aus Herrn Waigels Erklärung ist der logische Schluß folgender: Die Bevölkerung darf für diesen Krieg zahlen; die Lage in den neuen Bundesländern war derartige finanzielle Maßnahmen nicht wert; Maßnahmen, die in ihrer von der Bundesregierung beschlossenen Art obendrein zutiefst unsozial sind. In dieser Verteilung der Gelder für heiße und kalte Kriege spiegelt sich das Verständnis wider, das die Bundesregierung von der sogenannten neuen deutschen Verantwortung hat, das — wie alle laufenden Diskussionen von der Eingreiftruppe bis zu Out-ofarea-Einsätze — von Militarisierung, von Großmachtpolitik geprägt ist. Die Menschen in den neuen Bundesländern können Militärausgaben in dieser Größenordnung nur als Zynismus empfinden angesichts der dortigen katastrophalen Lage, die der Crash-Kurs der Bundesregierung nach sich zieht. Wir werden ihnen raten, sich das Geld zum Leben von der Hardthöhe zu holen. Ein weiterer Roßtäuschertrick läuft im Zusammenhang mit der geplanten Reduzierung der Bundeswehr. Laut Unterrichtung der Bundesregierung über den Finanzplan 1990-1994 soll die Reduzierung auf 370 000 Mann bis 1994 „mit dem Inkrafttreten des ersten KSE-Vertrages beginnen" . Die in Paris vereinbarte Reduzierung hat aber unabhängig von den KSE- Verhandlungen zu erfolgen. Diese Verknüpfung ist unzulässig. Abgesehen davon, daß in unseren Augen 70 Milliarden DM Militärausgaben genau 70 Milliarden zuviel sind, zeigt sich unter dem Stichwort Reduzierung eine weitere Entwicklung, die ins Bild paßt: Natürlich sind 370 000 weniger als 495 000 Soldaten. Aber gleichzeitig vollziehen sich im Rahmen dieser Reduzierung eine Modernisierung und Umstrukturierung der Bundeswehr, die — schon lange geplant — jetzt ihren Anfang in den neuen Ländern nehmen und die eine offenkundige Vorbereitung auf das sind, was heute bereits ausführlich diskutiert wurde: Einsatzfähigkeit deutscher Truppenteile, innerhalb und außerhalb des NATO-Gebietes, unter UNO oder NATO oder bundesdeutschem Kommando. Das als Abrüstung in Form der bloßen Reduzierung zu verkaufen, ist Täuschung wie so vieles andere in der Regierungspolitik. Diese Entwicklung muß verstärkt Gegenstand öffentlicher Aufmerksamkeit werden. Selten war der Widerspruch zwischen regierungsamtlicher Friedens- und Abrüstungsrhetorik und der unproduktiven und unsozialen Auswirkungen von Militär so augenfällig wie in der aktuellen Situation. Die PDS/Linke Liste lehnt daher den Rüstungshaushalt ab, weil er für eine Politik steht, die nichts mit Friedenspolitik zu tun hat. Wir unterstützen die Forderungen der Friedensbewegung gegen eine Ausweitung des militärischen Handlungsspielraums der Bundesrepublik, wie er derzeit mit der geplanten Grundgesetzänderung und den Diskussionen um Eingreiftruppen vorbereitet wird, an denen sich zu unserem Bedauern mittlerweile immer mehr SPD-Politiker durch die Befürwortung von Blauhelmtruppen und mehr beteiligen. Wir hoffen, der SPD-Parteitag bringt ein Votum, das der heutigen Anzeige in der Frankfurter Rundschau entspricht: gegen eine Grundgesetzänderung, gegen Schnellschüsse, wo es bitterernst ums Schießen geht! Vera Wollenberger (Bündnis 90/GRÜNE): Dieser Militärhaushalt ist ein Haushalt wie aus den Zeiten des Kalten Krieges; man spürt noch immer den abschreckenden Geist der Ost-West-Konfrontation. Die Bundesregierung hat damit eine große Chance vertan, denn eigentlich hätten vom ersten gesamtdeutschen Haushalt wesentliche Impulse für eine friedliche Zukunft Europas ausgehen müssen. Statt dessen ist der Trend zur Hochrüstung ungebrochen. Um der neuen Situation nach dem Zusammenbruch der Ost-West-Konfrontation dennoch Rechnung zu tragen, versucht die Bundesregierung mit haushaltstechnischen Tricks, kosmetischen Eingriffen und einem finanztechnischen Bäumchen-Wechsel-DichVersteckspiel, der Öffentlichkeit den Eindruck vermitteln, als werde im Militärhaushalt konsequent und hart gespart. Außenpolitisch möchte sie wohl dokumentieren, daß sie sich nach der Ratififzierung der Zwei-plus- Vier-Verhandlungen im Militärhaushalt Einschränkungen auferlege. Leider ist dem nicht so. Die militärische Kunst der Tarnung im Haushaltsressort der Hardthöhe ist lediglich zu einer gewissen Perfektion entwickelt worden. Man könnte es auch bewußte Irreführung der Öffentlichkeit nennen. Die Militärausgaben reduzieren sich keineswegs auf den Einzelplan 14, sondern sind als verteidigungsrelevante Kosten in anderen Einzelplänen versteckt. Zählt man diese getarnten Kosten mit, ergibt sich die unglaubliche Summe von über 73 Milliarden Mark. Damit steht dieser neue Entwurf in der Tradition des Kalten Krieges und des Wettrüstens. Dieser Militärhaushalt ist durch keine sicherheits- oder außenpolitische Entwicklung begründet. Er steht in einem eklatanten Widerspruch zu den außen- und sicherheitspolitischen Veränderungen in Europa, die sich doch eigentlich bis auf die Hardthöhe herumgesprochen haben müßten. Der Warschauer Pakt wird am 1. April 1991 endgültig sein Leben aushauchen; die Sowjetunion hat ihr westliches Vorfeld geräumt und auch ihre Fähigkeit zu „raumgreifenden offensiven Operationen" verloren, und nicht zuletzt sprechen die demokratischen Entwicklungen in Osteuropa gegen eine weitere Aufrechterhaltung des militärischen Apparates in diesem gigantischen Umfang. Was sich dieser Tage in Albanien und in Italien abgespielt hat, ist ein Vorgeschmack dessen, was Westeuropa und Deutschland in unmittelbarer Zukunft erwartet. Gegen ein Millionenheer von ökologischen und wirtschaftlichen Flüchtlingen helfen weder Panzer noch Patriots. Helfen könnten nur radikales Um- 882* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 denken in Richtung eines ökologischen Umbaus der Weltwirtschaft, eines Konzeptes der ökologischen Sicherheit und einer gerechten Weltwirtschaftsordnung. Der notwendige erste Schritt dazu wäre konsequente Abrüstung und Konversion. Aber im Zahlenwald des Militärhaushalts ist von Umdenken nichts zu spüren. Im Gegenteil, während sich der Warschauer Pakt auflöst, wird keineswegs am Abbau der NATO gearbeitet, sondern an einem neuen Feindbild, das die Fortexistenz des Bündnisses legitimieren soll. Im Golfkonflikt wurde ein mittelmäßiger Wüstendiktator zu einem neuen Hitler hochstilisiert, ihm die viertgrößte Militärmacht der Welt angedient, und dann wurde ohne Rücksicht auf die Folgen für die Bevölkerung und die Umwelt der Krisenregion das „zwangsabgerüstet" , was ihm vorher eilfertig und gewinnbringend geliefert worden war. Mit dem Krieg am Golf sollte nicht nur der Irrglauben an die Führ- und Gewinnbarkeit von Kriegen genährt, sondern auch die Forderung nach der HighTech-Waffentechnologie und damit nach weiterer Aufrüstung legitimiert werden. Darüber hinaus soll er für die Befürworter weltweiter Einsätze der Bundeswehr in Zukunft wohl als Paradebeispiel für eine „effektive Konfliktlösung" dienen. Um das zu erreichen, wurde dieser Krieg unter künstlichen Bedingungen geführt, unter einer bewußten Ausklammerung der gravierenden ökologischen Folgen für die Golfregion und darüber hinaus. Aber gerade diese Inkaufnahme scheinbar unscheinbarer „Nebenfolgen" beweist die Unhaltbarkeit der Clausewitzschen Denkweise. Denn für Clausewitz, jenen Kriegstheoretiker der napoleonischen Zeit und Lieblingszitatlieferanten für die amerikanische Militärführung, waren die globalen Folgen moderner Kriegsführung nicht existent und die globalen Folgen hemmungslosen Wettrüstens unbekannt. Kommen wir nun zum Militärhaushalt. Ein Trend durchzieht den gesamten Entwurf: Wenn man schon zur Abrüstung genötigt wird, dann, bitte schön, sollen erst mal die schrottreifen Waffen ausgemustert werden. Wenn man die Zahl der Waffen schon reduzieren muß, dann soll dies wenigstens durch qualitative Verbesserungen ausgeglichen werden. Was diese Regierung vorbereitet, ist keine wirkliche Abrüstung, sondern die propagandistische Vermarktung einer völkerrechtlich verbindlichen Zusage als Anpassung an militärische Notwendigkeiten. High-Tech soll die Lücke schließen, die die Reduzierung hinterläßt. Außerdem ist in diesem Militärhaushalt nicht der geringste Ansatz für den vielprophezeiten Umbau und die Strukturreform der gesamtdeutschen Streitkräfte erkennbar. Dabei ist doch der Zeitraum für diese dringend erforderlichen Veränderungen durch bereits getroffene nationale und internationale Entscheidungen klar vorgegeben. Wo sieht man in diesem Entwurf die Umsetzung der Ergebnisse der Rüstungskontrollverhandlungen in Wien oder die Implementierung der in den Zwei-plus- Vier-Verhandlungen vereinbarten Obergrenze der Personalstärke von 370 000 Mann? Natürlich sind wir als Vertreter des Bündnisses 90/ GRÜNE sehr erfreut, daß im Einzelplan 14 in diesem Jahr erstmals ein Posten „Rüstungskontrolle und Abrüstung" auftaucht — ein Ereignis, auf das die ehemalige Fraktion DIE GRÜNEN IM BUNDESTAG Jahr um Jahr leider vergeblich warten mußte. Leider wurde uns bis jetzt keine Einsichtnahme in die sogenannten geheimen Erläuterungsblätter ermöglicht. Deshalb ergeben sich für uns folgende Fragen: Was verbirgt sich hinter den Ausgaben für wehrtechnische Forschung, Technologie, Entwicklung und Erprobung? Sollen sie der Konversion dienen, oder werden sie für die Entwicklung von Spionagesatelliten genutzt? Worauf bezieht sich der Aufwendungsersatz für die Stornierung der Verträge der ehemaligen NVA? Übernimmt die Bundeswehr möglicherweise ehemalige Rüstungsexportverpflichtungen der NVA? Diese Fragestellung ist uns um so wichtiger, als die für den Aufwendungsersatz veranschlagte Summe von 120 Millionen die Hälfte der Gesamtausgaben des Kapitels ausmachen. Die Bundesregierung setzt voll auf den weiteren Ausbau der modernen Kriegstechnologie, auf die „smarten" Killerwaffen, die präzise durch Bunkertüren Hunderte von Zivilisten töten. Dies zeigt sich an der deutlichen Prioritätensetzung der Ausgaben für Forschung, Entwicklung und Erprobung. Dieser Militärhaushalt wird, nachdem er kaum noch durch die klassische Bedrohung durch die Sowjetunion begründet werden kann, nun mit neuen Bedrohungen und neuen Feinden legitimiert. Nicht umsonst spricht die Bundesregierung in ihrer Unterrichtung (BT-Drs. 12!/201, S. 9) von der Notwendigkeit einer „vernünftigen Sicherheitsvorsorge", weil man neuen Sicherheitsrisiken — gleich woher sie kommen — erfolgreich begegnen möchte. Nicht umsonst verwies der Bundesminister der Verteidigung weit vor der Golfkrise auf die Notwendigkeit einer gemeinsamen Politik der NATO gegenüber diesen neuen Bedrohungen. So führte Minister Stoltenberg im Frühjahr 1990 mehrmals aus: Regionale Konflikte in Verbund mit religiösem Fundamentalismus, Terrorismus und Waffenproliferation, aber auch Drogenhandel, die ökologischen Gefährdungen unserer Zeit und die zunehmenden Probleme der Entwicklungsländer erfordern immer mehr ein gemeinsames Handeln der westlichen Industrienationen. Neben dieser Orientierung an neuen Bedrohungen und neuen Feinden, die den Militärhaushalt legitimieren sollen, fühlt sich die Bundesregierung auch noch der Rüstungsindustrie und dem militärisch-industriellen Komplex verpflichtet. Denn wie sonst ist es erklärbar, daß auch in diesem Jahr für die Entwicklung des Jagdflugzeuges Jäger 90 800 Millionen Mark ausgegeben werden, wo doch jeder Pfennig für die Lösung der wirtschaftlichen und sozialen Probleme in den neuen Ländern benötigt wird? Um die katastrophale Lage in den neuen Bundesländern etwas aufzufangen, schlagen wir vor, auf solche Projekte zu verzichten und mindestens 1 % des Gesamtetats zur Unterstützung von Rüstungskonversion und Konversionsforschung einzusetzen und eine Bundesanstalt für Abrüstungsplanung zu schaffen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 883* Wenn man diese Regierung nicht an ihren Worten, sondern an ihrer Ausgabenpolitik mißt, dann hat sie in der Sicherheitspolitik überhaupt nichts dazugelernt. Die Entwicklungskosten für den Jäger 90 verschlingen zehnmal mehr Steuergelder, als der Umweltminister für das Bundesumweltamt erhält. Wenn die Bundesregierung jetzt keine durch Zahlen beweisbare Abrüstung vornimmt, dann setzt sie sich dem Verdacht aus, in Europa und künftig wohl auch weltweit auf militärische Mittel gegründete klassische Machtpolitik betreiben zu wollen. Verstärkt wird der Eindruck eines Schreis nach militärischem Machtzuwachs durch die gegenüber 1990 sogar noch gestiegenen Beiträge zu den NATO-Militärhaushalten. Die Bundesregierung liegt in den Ketten eines völlig antiquierten Sicherheitsbegriffs. Sie ist immer noch auf eine nahezu ausschließlich militärisch definierte Sicherheit fixiert. Wir sind aber schon heute und erst recht künftig vor allem ökologisch bedroht. Um dieser Bedrohung zu begegnen, müssen Staatsgelder endlich nicht länger für weitere Aufrüstung, sondern für den ökologischen Umbau der Industriegesellschaft eingesetzt werden. Die alte Fraktion der GRÜNEN hatte in ihrem Vorschlag für einen Abrüstungshaushalt 1990 bereits gezeigt, welche finanziellen Ressorucen durch Einsparungen im Rüstungshaushalt gewonnen werden könnten, wenn die Bereitschaft bestünde, eine radikale Defensivierung der Bundeswehr vorzunehmen. Allein der wirtschaftliche Zusammenbruch in den neuen Bundesländern, ganz zu schweigen von den wirtschaftlichen und ökologischen Problemen der Zweidrittelwelt, die in allernächster Zeit auf uns zurückschlagen werden, gebietet es, solche Vorschläge endlich ernsthaft zu durchdenken, statt sie wie bisher nur abzuschmettern. Hans-Werner Müller (Wadern) (CDU/CSU): In der politischen Diskussion der letzten Monate ist der Einzelplan des Bundesministers der Verteidigung zum Steinbruch der Nation erklärt worden. Es gibt so gut wie keine öffentliche Erklärung, von Berufenen oder Unberufenen, die nicht Umschichtungen im Haushalt zu Lasten des Verteidigers vorsieht. Zunächst ist das eine rein fiskalische Aussage. Hinter dieser Erklärung steht sehr oft ein Infragestellen der Verteidigungsbereitschaft schlechthin. Eine gefühlspazifistische Stimmung, von der SPD kräftig geschürt, führt zu einer regelrechten Aufwiegelung gegen die Wehrbereitschaft. Über eine eventuelle Beteiligung unserer Soldaten im Bündnisfall tobte eine heftig SPD-interne Diskussion: Ich zitiere aus der Presse: „Genossen im Zwielicht", „SPD bleibt gespalten", „Björn Engholm schweigt, die SPD spielt Weltmacht", „Doppelfehler der SPD", „Offener Bruch verhindert", „Das Leid der SPD", „Schwungvoller Eiertanz der SPD", „Realos im Streit mit Moralos". Die Liste ist beliebig fortsetzbar. Da braucht man sich ja nicht zu wundern, daß angesichts solcher Stimmung und Stimmen die Anzahl der Wehrdienstverweigerer steigt. Wenn z. B. ein evangelischer Pfarrer in Gladbeck in einem über 3 000mal als Brief versandten Text die männlichen Gemeindemitglieder zwischen 17 und 35 auffordert, den Kriegsdienst zu verweigern, dann erzeugt so etwas Stimmung. Oder wenn immerhin ein früherer SPD-Staatssekretär im Verteidigungsministerium — von Bülow — für seinen Sohn, der demnächst zum Bund muß, einen Musterbrief entwirft, mit dem dieser einen Einsatz im Golf als verfassungswidrig verweigern kann, dann braucht man sich nicht über die Stimmung zu wundern. Es wird die Mentalität geschürt: „Frieden um jeden Preis". Dies führt dazu, daß das Ansehen Deutschlands im Ausland Schaden nimmt. Ich sagte es bereits: Dies wird uns noch teuer zu stehen kommen. Vergessen sind die klugen Sätze, etwa von Madame de Staël: „Freiheit ist eine Bürgschaft; vor Bürgschaften kann man nicht ausreißen, man muß sie leisten. " Oder von Blaise Pascal: „Gerechtigkeit ohne Macht ist hilflos, Macht ohne Gerechtigkeit Tyrannei. " Wir müssen Gerechtigkeit und Macht miteinander in Einklang bringen. Wir sind keine Weltmacht — das ist gut —; aber wir haben keine politische Zwergenrolle. Unsere Friedenspolitik muß die Komponente der militärischen Absicherung einschließen. Genau dieser Komponente unserer Friedenspolitik dient dieser Verteidigungshaushalt. Dabei steht gerade im Jahr 1991 dieser Haushalt unter den 4 folgenden Prämissen: Erstens. Die Bundeswehr wird reformiert. Sie ändert ihren Auftrag, ihre Truppenstärke, ihre Strategie im Bündnis, ihre innere Struktur und ihre Ausbildung. Zweitens. Die Bundeswehr schrumpft. Bei der Vereinigung von Ost und West hatten wir einschließlich der zivilen Bediensteten rund 700 000 Menschen; an Soldaten werden wir Ende 1994 nur noch 370 000 haben. Drittens. Die Bundeswehr ist eine Armee ohne erkennbaren Gegner. Eine neue NATO-Struktur ist überfällig. Viertens. Die Bundeswehr ist eine Armee vor neuen Aufgaben. Lassen Sie mich deswegen unter Einbeziehung dieser Prämissen einiges zu den Zahlen sagen. Erstens. Der Verteidigungshaushalt 1990 Teil West und Ost schließt mit einem Ist von 62,2 Milliarden. Der Entwurf 1991 hat einen Plafond von 52,6 Milliarden, wobei die Kosten der Eingliederung der ehemaligen NVA in die Bundeswehr mit 4,3 Milliarden sowie eine globale Minderausgabe von 1 Milliarde berücksichtigt sind. Der Haushalt wird also von der Regierung — dies ist meine erste Einschätzung — auf ein vernünftiges Maß zurückgeschnitten. 884* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 Zweitens. Es geschieht ein erster Einstieg in die personelle Reduzierung in einer beachtlichen Größenordnung im militärischen wie im zivilen Teil. Drittens. Der Anteil an den Verteidigungsausgaben an den gesamten Bundesausgaben beträgt noch 13,5 %. Das ist der niedrigste Anteil seit 1956. Auch ein Blick auf die vorgesehene Finanzplanung bis 1994 ist nach meiner ersten Einschätzung interessant. Beim Gesamthaushalt haben wir 1992 eine Steigerung von 0,8 %, 1993 eine Steigerung von 2,2 To und 1994 eine Steigerung ebenfalls von 2,2 % zu erwarten. Für den Verteidigungshaushalt ist allerdings ein Senken vorgesehen, und zwar 1992 von 2,9 %, 1993 von ebenfalls 2,9 % und 1994 von 3,0 %. Dies sollte man schon registrieren. Viertens. Wir erleben auch eine deutliche Änderung der Ausgabenstruktur. Der Anteil der Betriebsausgaben an den gesamten Verteidigungsausgaben steigt auf 71,9 % gegenüber 66,4 % im Vorjahr. Gleichzeitig vermindert sich der investive Anteil entsprechend um 5 To auf 28,1 % gegenüber 33,6 % im Vorjahr. Dieses Sinken des inventiven Anteils könnte — dies muß man sehen — negative Folgen für die Bundeswehr und ihre Vertrags- und Bündnispartner haben. Diese Folgen müssen gemindert werden. Lassen Sie mich einige Schwerpunkte im Ausgabenbereich kommentieren. Den ersten Abbauschritt beim Personal habe ich erwähnt. Zum dritten Nachtrag 1990 haben wir im Haushaltsausschuß Beschlüsse gefaßt, die im Bereich Ost eine schnelle Abschmelzung insbesondere beim Zivilpersonal vorsehen. Die Regierung bittet nun mit diesem Entwurf diese Entscheidungen noch einmal zu überdenken. Wir werden uns dieser Frage vorurteilslos stellen, nicht zuletzt unter dem Eindruck einer Berichterstatterreise in der vergangenen Woche in die Standorte südlich von Potsdam. Ich nenne nur einige der Stichworte: veraltete Braunkohlenanlage, veraltete Wirtschaftsgebäude, Aufrechterhaltung von Fernmeldeversorgungen. Mit den Maßstäben in den Altländern kann leider nicht gemessen werden. Diese Korrektur würde, wenn ich richtig rechne, ca. 2 Milliarden kosten. Wir werden auch etwas für die Verbesserung der Laufbahnerwartung für Portepee-Unteroffiziere tun können. Das gilt auch für die Hebung zur Umsetzung des 5. Personaländerungsgesetzes. Das haben wir schon im vergangenen Jahr in Aussicht gestellt. Die Aufgeregtheit der Berufsverbände ist nicht nötig. Ich kündige bereits hier in der ersten Lesung an, daß wir uns im Haushaltsausschuß sorgfältig anschauen werden, wie es mit der unterschiedlichen Bezahlung insbesondere der Grundwehrdienstleistenden in Ost und West bestellt ist, und zwar mit der Tendenz, die bestehenden Unterschiede abzubauen. Erwähnt werden muß auch, daß das Attraktivitätsprogramm fortgesetzt wird, das immerhin 370 Millionen kosten könnte. Ein Wort zu einigen Problemen, die sich aus der Übernahme der NVA ergeben. Da müssen z. B. Bewirtschaftungen fortgesetzt werden, weil zivile Wohnsiedlungen von militärischen Anlagen beheizt werden. Immerhin kostet dies nahezu 1,5 Milliarden DM. Die Bauerhaltung und Modernisierung von Truppenunterkünften muß vorangetrieben werden, wobei der Schwerpunkt bei der Instandsetzung der zum Teil in äußerst schlechtem Zustand befindlichen Unterkünfte, Küchen und Speiseräumen liegen wird. Erwähnt werden muß auch, daß für die Bewachung der Liegenschaften im Beitrittsgebiet etwa 1/2 Milliarde DM aufzubringen ist. Ein Wort zu Materialerhaltung und Betrieb. Hier sind weniger Mittel als im vergangenen Jahr veranschlagt. Auch hier kommen neue Aufgaben auf uns zu für die Delaborierung und Entsorgung von Munition der ehemaligen NVA. Ich befasse mich nun mit Forschung, Entwicklung, Erprobung und den militärischen Beschaffungen. Will man moderne Ausrüstungsgüter beschaffen, so bedarf dies eines Entwicklungsvorlaufs von etwa 10 Jahren. Das, was wir Ende der 90er Jahre brauchen, muß also jetzt entwickelt werden. Wir brauchen intensive Forschung und Entwicklung, damit unsere Armee in ihrer Ausrüstung innovationsfähig bleibt und Alternativen zur Verfügung stehen. Dabei wird die internationale Rüstungsoperation immer wichtiger. Ausgaben für neue Vorhaben stehen im Haushalt 1991 nicht zur Verfügung. Es werden nur die bereits laufenden Entwicklungen fortgeführt. Seit 1987 bereits erleben wir einen deutlichen Abwärtstrend bei den Beschaffungen. Im Entwurf sind diesmal deutlich unter 10 Milliarden vorgesehen. Dabei müssen 160 Millionen aufgewendet werden, die nicht einmal der Beschaffung dienen, sondern Aufwendungsersatz für die Stornierung von Verträgen der ehemaligen NVA sind; rund 140 Millionen sind für Rüstungssonderhilfe an die Türkei und Griechenland bestimmt. Ich will es mit diesem kleinen Streifzug durch das Zahlenwerk sein bewenden lassen. Dieser Haushalt wird, so hoffe ich, dann, wenn wir unsere sorgfältigen Beratungen beendet haben, dazu beitragen, daß das Gerede von einer Armee in der Krise aufhört. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 885* Die Bundeswehr ist nicht irgendein Arbeitgeber, sondern eine Institution mit einem fest umrissenen Verteidigungsauftrag. Dazu, daß dieser Auftrag erfüllt werden kann, gibt der Haushalt die Voraussetzungen. Ich appeliere gerade an die SPD: Überwinden Sie die Phase der Orientierungslosigkeit, in der Sie im Hinblick auf die politische Grundfrage der Wehrbereitschaft stecken, und treten Sie mit uns in einen konstruktiven Dialog über eine leistungsfähige Armee von mündigen Bürgern ein!
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Helmut Kohl


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte dem geschätzten Kollegen, der gerade vor mir sprach, nur sagen: Man kann über vieles von dem streiten und streitig diskutieren, was Sie gesagt haben, aber Sie sollten hier vor dem Forum der deutschen Offentlichkeit nicht den Eindruck erwecken, als würde irgendeiner der Kollegen aus der CDU/CSU-Fraktion oder der FDP-Fraktion gehindert sein, seiner Überzeugung, seinem Gewissen entsprechend abzustimmen. Lassen Sie also bitte derartige Behauptungen aus der Diskussion heraus! Es gibt keinen Fraktionszwang. Das wissen Sie in Wahrheit so gut wie ich.

    (Widerspruch bei der SPD und der PDS/ Linke Liste — Dr. Rose [CDU/CSU]: Bei uns nicht!)




    Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
    — Nun, meine Damen und Herren, bei uns in der Tat nicht! Ich verdächtige Sie doch auch nicht.
    Wir werden mit Sicherheit in diesem Jahr bei zwei Abstimmungen, die ich allerdings hinsichtlich ihrer Gewissensbelastung doch unterschiedlich sehe, quer durch alle Fraktionen ein unterschiedliches Abstimmungsverhalten haben. Das kann man doch schon jetzt sagen. Es wird der Fall sein, wenn es um Bonn oder Berlin geht. Wir sollten auch stolz darauf sein, daß solche Abstimmungen bei uns möglich sind und niemand sie einschränken kann.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zuruf von der SPD: Ab und zu!)

    Das wird sicherlich auch der Fall sein — und das ist dann eine der wirklich seltenen Gewissensentscheidungen im Leben eines Parlamentariers — , wenn es um den Schutz des ungeborenen Lebens geht, den § 218 und all die Probleme, die damit zusammenhängen.
    Wir sollten gegenüber der Öffentlichkeit doch nicht den Eindruck erwecken, als wären wir untereinander gar nicht mehr gesprächsfähig.
    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir alle führen die heutige Debatte in dem Bewußtsein unserer besonderen Verantwortung für die Menschen in den neuen Bundesländern, für die Entwicklung unserer Bundesrepublik Deutschland, und wir wissen, daß dies in einer schwierigen Zeit geschieht. Wir stehen national wie international vor großen Herausforderungen. Ich will nur drei Bereiche nennen.
    Ich nenne den wirtschaftlichen Neuaufbau in den neuen Bundesländern. Trotz aller Übergangsprobleme können und werden wir schrittweise erreichen, was wir gemeinsam wollen: gleiche Lebensverhältnisse in ganz Deutschland.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zuruf von der SPD: Wann denn?)

    Und, meine Damen und Herren, ich habe überhaupt nichts von dem zurückzunehmen, was ich auf vielen Kundgebungen gesagt habe und auch in sehr naher Zukunft bei Veranstaltungen in den neuen Bundesländern wieder sagen werde: Wir haben alle Chancen, durch unsere gemeinsame Arbeit in — wie ich es formuliert habe — einem Zeitraum von drei bis fünf Jahren dieses Ziel zu erreichen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Wer diese Debatte heute und gestern hörte, mußte sich doch manchmal fragen, ob man hier eigentlich den Kalender völlig außer Betracht gelassen hat. Anfang Oktober ist die deutsche Einheit vollzogen worden. Nur fünf Monate danach kann doch nun wahrhaft niemand erwarten, daß wir die gigantischen Probleme bis dahin hätten lösen können. Ich will gleich einiges dazu sagen.
    Ich habe vor insgesamt vielen Millionen Zuhörern immer wieder gesagt: Es wird ein schwerer Gang; er wird Opfer kosten, aber wir werden es schaffen.

    (Zuruf von der SPD: „Keiner wird schlechtergestellt" !)

    Ich habe von dem, was ich gesagt habe, nichts zurückzunehmen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Ich nenne eine zweite wichtige Herausforderung: unsere Hilfe für die Reformländer Mittel-, Ost- und Südosteuropas auf ihrem Weg zu mehr Demokratie und zu Sozialer Marktwirtschaft. Das allein ist der Weg, der zu dauerhaftem, zu wirklichem Frieden führt, zu gesicherter Freiheit und zur Einheit unseres Kontinents.

    (Zurufe von der SPD — Gegenrufe von der CDU/CSU)

    — Lassen Sie sie doch ruhig lärmen. Wer das für einen passenden Beitrag in einer ernsten Stunde unseres Landes erachtet, kann selbst nicht ernstgenommen werden.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Ich nenne zum dritten unsere Unterstützung für Frieden und Ausgleich am Golf und im gesamten Nahen Osten. Denn dort gilt es, jetzt — nach dem Waffenstillstand — eine dauerhafte und gerechte Friedensordnung zu schaffen.
    All diese Herausforderungen, deren Dimension für jedermann erkennbar ist, müssen von uns bestanden werden. Aber ich füge hinzu — im Gegensatz zu manchem, der hier heute gesprochen hat — : Kaum jemand hat mit einem zeitlichen Zusammentreffen dieser gravierenden Entwicklungen gerechnet.
    Jetzt stehen wir im eigenen Land vor der großen Aufgabe, nach der staatlichen Einheit auch die innere Einheit Deutschlands zu vollenden. Wir alle wollen, daß dieses Ziel möglichst schnell erreicht wird. 40 Jahre SED-Regime haben die ehemalige DDR in den Bankrott geführt.

    (Pfeffermann [CDU/CSU]: So ist es!)

    Man kann es nicht oft genug sagen; denn die Legendenbildung ist bereits im Gange. Ich kann es nicht oft genug wiederholen: Wenn es nicht zur deutschen Einheit gekommen wäre, wäre der SED-Staat wirtschaftlich genauso kollabiert wie andere Länder in Mittel-, Ost- und Südosteuropa.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Herr Kollege Vogel, es ist doch einfach wahr: Selbst als der Kollaps der sozialistischen Kommandowirtschaft schon ganz unübersehbar war, gab es in Ihren Reihen noch genügend Sprecher — denken Sie an das Jahr 1989; das ist immerhin erst zwei Jahre her — , die für die damalige DDR an einem Weg festhalten wollten, der sich längst als katastrophal abgezeichnet hatte. Es gab Unverbesserliche, die an eine Zukunft dieser Art von Sozialismus glaubten.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Die gibt es immer noch! — Dr. Vogel [SPD]: Herr de Maizière zum Beispiel! — Dr. Rose [CDU/CSU]: Die Jusos jetzt wieder!)

    Auf diese Weise wurde eine Wende zum Besseren aufgehalten. Deswegen sind manche Ratschläge, die Sie
    heute uns und vor allem auch mir geben, für mich



    Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
    nicht sehr überzeugend. Denn auf dem Weg zur deutschen Einheit haben Sie schlicht versagt:

    (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    die einen, weil sie kleinmütig waren und an den Auftrag der Geschichte nicht glaubten, und die anderen, weil sie sich aus ganz anderen Gründen mit der deutschen Teilung abgefunden hatten. Herr Kollege Honecker — —

    (Lachen bei der SPD, beim Bündnis 90/ GRÜNE und bei der PDS/Linke Liste)

    — Sie sind sehr leicht zu erheitern.

    (Zuruf von der SPD: Sie haben die Blockparteien in Ihrem Kopf!)

    Herr Kollege Vogel,

    (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP)

    daß aus Ihren Reihen bei jeder nur denkbaren Gelegenheit bis in die letzten Tage auch der ModrowRegierung hinein die Aufforderung kam, wir, die alte Bundesrepublik und die Bundesregierung, sollten zahlen, läßt sich wirklich nicht leugnen. Ich kann Ihnen nur sagen: Lesen Sie die Schmähungen nach, die damals aus Ihren Reihen gegenüber der Bundesregierung laut wurden, als Herr Modrow im Februar 1990 in Bonn zu Besuch war und Sie erklärten, wir müßten jetzt unbedingt alles tun, um ihm zu Hilfe zu eilen.

    (Widerspruch bei der SPD) Wir haben das nicht getan.


    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

    Es war das kommunistische Regime, das uns eine marode Wirtschaft und eine zerstörte Umwelt hinterlassen hat.
    Meine Damen und Herren, in den wenigen Wochen und Monaten seit der deutschen Einigung haben wir alle feststellen müssen, wie groß das Ausmaß dieser bedrückenden Hinterlassenschaft tatsächlich ist. Dabei geht es nicht nur um eine deprimierende Bilanz von Wirtschaft und Verwaltung, von Infrastruktur und Bausubstanz, es geht vor allem — und dies wiegt schwerer — um die immateriellen Schäden aus der Zeit der SED-Diktatur. Ich denke an die schlimmen Wunden, die über 40 Jahre kommunistischer Herrschaft im geistigen Leben und auch in den Seelen der Menschen hinterlassen haben. Gerade vor diesem düsteren Hintergrund haben sich seit Herbst 1989 grundlegende Veränderungen und Wandlungen vollzogen.
    Erstmals seit 58 Jahren leben die Menschen in den neuen Bundesländern in Freiheit. Was es wirklich bedeutet, frei zu sein, weiß wohl nur derjenige, der einer Diktatur — auch einer kommunistischen Diktatur — ausgeliefert war. Wer unter der Bespitzelung und Drangsalierung durch die Stasi zu leiden hatte und wer auch heute immer wieder die fortwirkende Vergiftung durch diese Willkürherrschaft spürt, der weiß, was es bedeutet, sich jetzt auf den Rechtsstaat verlassen zu können. Und erstmals verfügen die Menschen in den neuen Bundesländern mit der D-Mark über eine der stabilsten Währungen der Welt. Leere Regale
    gehören der Vergangenheit an. Die Kaufkraft hat zugenommen. Aus niedrigen Einheitsrenten sind — wie im alten Bundesgebiet seit 1957 — jetzt dynamische Renten geworden. Das heißt: sie steigen in gleichem Maße wie die Einkommen der Beschäftigten.
    Meine Damen und Herren, wer sich dies alles bewußt macht, wird erkennen, daß wir bei allen vorhandenen — und niemand will das beschönigen — schwierigen Problemen der Gegenwart ein gutes Stück vorangekommen sind. Wir werden diesen Weg unbeirrt fortsetzen.
    Ich sage es Ihnen noch einmal: Wir stehen jetzt erst gut fünf Monate nach dem Tag der deutschen Einigung. Wir haben in diesen fünf Monaten wichtige Marksteine errichtet, und wir werden weiter vorankommen.

    (Duve [SPD]: Keinen Zentimeter!)

    — Herr Kollege, Ihr Beitrag ist außer, zugegebenermaßen, ungewöhnlich lauten Zwischenrufen ziemlich unerheblich für den Fortgang der Debatte.

    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP — Zuruf von der CDU/ CSU: Von ihm kann man nichts erwarten!)

    Die Bundesregierung hat in diesen Tagen eine ganze Reihe wichtiger Kabinettsbeschlüsse gefaßt, die ich noch einmal kurz ansprechen will: Wir verbessern die Finanzausstattung der Länder, Städte und Gemeinden in den neuen Bundesländern. Wir geben zusätzliche Hilfen und Anstöße, damit mehr und schneller investiert und die Beschäftigung kurzfristig erhöht wird. Wir leisten entschiedene Hilfe, damit Verwaltung und Justiz in den neuen Bundesländern schnell funktionsfähig werden. Auf allen drei Feldern bleibt eine Frage von zentraler Bedeutung, das vertrauensvolle Einvernehmen zwischen Bund und Ländern bei dieser Zukunftsaufgabe.
    Ich begrüße, daß es nach manchem Zögern jetzt möglich war, im Gespräch mit den 16 Ministerpräsidenten der Bundesländer am 28. Februar zu guten Vereinbarungen zu kommen. In voller Übereinstimmung haben wir gemeinsam eine tragfähige Basis für die künftige Finanzausstattung der neuen Länder geschaffen. Bund und westliche Länder haben sich darauf verständigt, schon für dieses Jahr jeweils rund 5 Milliarden DM zusätzlich bereitzustellen. Allein in diesem Jahr stehen für öffentliche Investitionen in den neuen Bundesländern rund 50 Milliarden DM zur Verfügung.
    Ich will dazu noch ein Beispiel nennen, weil es hier angesprochen wurde: den Ausbau des Telefonnetzes. Die Deutsche Bundespost investiert in diesem Jahr 6,5 Milliarden DM in den neuen Bundesländern. Damit wird u. a. eine halbe Million zusätzlicher Telefonanschlüsse möglich gemacht. Bis 1994 — also in gerade vier Jahren — steigt die Zahl neuer Anschlüsse auf bis zu 1,2 Millionen jährlich. Die gesamte Investitionssumme der Bundespost wird sich bis 1994 auf über 30 Milliarden DM erhöhen.
    Meine Damen und Herren, wenn man diese Zahlen, diese Tatsachen nennt, kann man doch nun beim be-



    Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
    sten Willen nicht behaupten — wie die es hier tun —, es gehe alles abwärts und es geschehe nichts.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Zu den öffentlichen Investitionen kommt die umfangreiche Förderung privater Investitionen, etwa durch die Investitionszulage und Hilfen für Betriebsgründungen. Etwas Vergleichbares hat es in der Geschichte unserer Bundesrepublik ebenfalls nicht gegeben. Auch das ist ein Aktivposten.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Matthäus-Maier [SPD]: Der aber zu spät kommt!)

    — Verehrte, gnädige Frau, Ihr Beitrag besteht darin, daß Sie „Zu spät!" und „Zu wenig! " rufen. Hätten wir heute die Ergebnisse Ihrer Wirtschaftspolitik vom Jahr 1982, dann hätten wir gar nichts leisten können.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Hauchler [SPD]: Es gibt heute mehr Arbeitslose als zu unserer Zeit, Herr Kohl!)

    Wir beschleunigen die notwendige Umstrukturierung zudem durch ein „Gemeinschaftswerk Aufschwung-Ost". Wir haben darüber mit den Gewerkschaften, mit der Wirtschaft, mit dem Handwerk, mit allen führenden Kräften der Gesellschaft gesprochen. Ich freue mich, daß wir in der letzten Woche hierfür eine breite Zustimmung gefunden haben, eine Zustimmung, wie ich sie seit Jahren in dieser Form nicht erlebt habe.

    (Zuruf von der SPD: Wo haben Sie Zustimmung?)

    Das Gemeinschaftswerk ist als Sonderprogramm für
    1991 und 1992 angelegt. Es umfaßt 24 Milliarden DM,
    für dieses Jahr beläuft es sich auf 12 Milliarden DM.
    In diesen Tagen, meine Damen und Herren, geht hiervon bereits ein Betrag in Höhe von 5 Milliarden DM direkt an die kommunale Ebene, um — wie wir wollen und hoffen — vor Ort möglichst rasch Investitionen mit einer hohen Beschäftigungswirkung in Gang zu setzen. Die dazu notwendige Verwaltungsvereinbarung wurde beim Treffen mit den Ministerpräsidenten am 28. Februar geschlossen.
    Die Bürgermeister und Landräte in den neuen Bundesländern haben jetzt die Chance, ganz unverzüglich Aufträge zu vergeben. Sie können bei der Instandsetzung von Schulen, von Altersheimen, von Krankenhäusern helfen, und Sie können damit vor allem die Arbeitsplätze in den Betrieben des Handwerks und des Mittelstands vor Ort sichern und weiter ausbauen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Toetemeyer [SPD])

    Die übrigen 7 Milliarden DM für 1991 stehen für Investitionen, für Qualifizierungs- und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zur Verfügung. Die nochmals verstärkte Investitionsförderung wird vor allem den Ausbau der Verkehrswege und die Modernisierung sowie die Privatisierung des Wohnungsbestandes beschleunigen.
    Alle diese Maßnahmen — dessen bin ich sicher — führen schnell zu mehr Arbeitsplätzen. Zusätzlich er-
    möglichen wir über die bislang vorgesehenen 130 000 Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen hinaus in diesem Jahr weitere rund 150 000 Fördermaßnahmen.

    (Zuruf von der SPD: Bei McDonalds!)

    — Wissen Sie, wie jemand im Deutschen Bundestag sitzen und bei diesen Ausführungen sagen kann, das seien „Arbeitsplätze bei McDonalds", verstehe ich nicht. Da kann ich nur sagen: Sie haben von der Wirklichkeit des Landes keine Ahnung!

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Meine Damen und Herren, wer jetzt immer noch behauptet, das alles reiche nicht, der möge doch zur Kenntnis nehmen, was der Ministerpräsident von Brandenburg zu diesen Beschlüssen gesagt hat — ich zitiere — : „Jetzt sind wir dran!" — Gemeint sind die neuen Länder und ihre Verwaltungen. — „Denn was nützt es uns, wenn man uns mit Investitionsmitteln zuschüttet, wenn wir sie nicht umsetzen können?"

    (Dr. Rose [CDU/CSU]: So ist es!)

    Meine Damen und Herren, bei diesem Umsetzen müssen wir helfen; denn dies braucht ein vernünftiges Zusammenwirken aller. Deshalb ist auch vorgesehen, daß die Landräte und die Oberbürgermeister unverzüglich regionale Aufbaustäbe bilden. In diesen Aufbaustäben sollen erfahrene Mitarbeiter der Arbeitsverwaltung, des örtlichen Handwerks, der örtlichen Wirtschaft, der Verbände, der Kammern und der Gewerkschaften mitwirken.
    Ich will das auch im Blick auf die besondere Verantwortung hervorheben, die wir gegenüber jungen Leuten in den neuen Bundesländern haben, die jetzt eine Lehrstelle suchen. Ich bin sicher, daß es uns — ähnlich wie bei der Lehrstelleninitiative in der ersten Hälfte der 80er Jahre — durch gemeinsame Anstrengung auch diesmal gelingt, ausreichend viele Ausbildungsplätze bereitzustellen. Wir werden alles tun, um das Ziel zu erreichen, daß jeder Jugendliche, der eine Lehrstelle sucht, eine solche Chance auch erhält.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Meine Damen und Herren, wenn ich mich daran erinnere — ich könnte das ja bei fast jedem Satz sagen — , wie Sie damals meine Lehrstelleninitiative in der alten Bundesrepublik mit Häme und mit Kritik begleitet und den Erfolg dann totgeschwiegen haben, dann bin ich überzeugt, daß Sie auch jetzt schweigen werden, wenn die Lehrstelleninitiative in den neuen Bundesländern erfolgreich ist.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Duve [SPD]: Der Bundeskanzler wird langsam zur Leerstelle!)

    Natürlich kommt es jetzt ganz wesentlich auf die Eigeninitiative und die Aktivität der unmittelbar Betroffenen an. Ebenso entscheidend sind die Beiträge der Wirtschaft und der Tarifpartner. Gerade die Tarifpartner können mit ihren Lohnabschlüssen zu einer klaren Zukunftsperspektive für Unternehmen und Arbeitsplätze beitragen

    (Zuruf von der SPD: Was heißt das?)

    und zugleich für die dringend notwendige Lohndifferenzierung sorgen. — Wenn Sie dazu wirklich eine



    Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
    Erläuterung nötig haben, dann frage ich mich, wo Sie in den letzten Monaten, in den letzten Wochen waren, etwa bei der Diskussion um den Tarifabschluß im öffentlichen Dienst, etwa beim Tarifabschluß im Metallbereich.

    (Duve [SPD]: Warum sind Sie so nervös? Warum sind Sie nicht souverän, Herr Bundeskanzler?)

    Sie wissen genau, daß wir hier ein Problem haben, das wir in zwei, drei Jahren lösen müssen, Schritt für Schritt. Wir sind in dieser Frage mit den Gewerkschaften offenbar

    (Duve [SPD]: Was soll denn diese Unsicherheit?)

    mehr einig als mit Ihnen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Duve [SPD]: Sie haben doch eine feste Rede; an der können Sie doch bleiben! — Gegenrufe von der CDU/CSU: Schreihals!)

    — Lassen Sie ihn doch sprechen, meine Damen und Herren! Es ist besser, er ist hier so laut, als zu Hause.

    (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zuruf von der CDU/CSU: Zu Hause darf er nicht! — Zuruf des Abg. Duve [SPD])

    — Das gefällt Ihnen, weil es zutreffend ist!

    (Heiterkeit — Duve [SPD]: Ich weiß, daß Sie aus Erfahrung sprechen, Herr Bundeskanzler!)

    Auf dem schwierigen Feld der Eigentumsfragen in den neuen Bundesländern kommt es darauf an, die berechtigten Interessen früherer Eigentümer und die Notwendigkeit von Investitionen und neuen Arbeitsplätzen gegeneinander abzuwägen. Dabei bleibt es bei dem Grundsatz „Rückgabe vor Entschädigung". In diesem Spannungsfeld führt jede Regelung unvermeidlich zu Härten.
    Aber, meine Damen und Herren, ich denke, wir stimmen wenigstens in einem überein: Es muß ein rechtsstaatlich angemessener Weg gefunden werden. Er muß zu tragfähigen Lösungen für die Menschen und für die wirtschaftliche Entwicklung in den neuen Bundesländern führen.
    Vor diesem Hintergrund und im Blick auf die wirtschaftlichen Erfordernisse in den neuen Bundesländern hat sich die Bundesregierung für eine großzügige Vorfahrtregelung für Investitionen entschieden. Investitionen in neue Arbeitsplätze können in Zukunft wesentlich schneller als bisher durchgeführt werden. Für diejenigen früheren Eigentümer, die in diesen Fällen — das sage ich mit Bedacht — nur noch eine Entschädigung erhalten, ist dies zweifelsohne eine Härte. In der gegenwärtigen Situation, die in nahezu jeder Hinsicht einmalig und ungewöhnlich ist, müssen jedoch die Sozialbindung des Eigentums und damit das hohe Interesse der Allgemeinheit an Arbeitsplätzen und Investitionen Vorrang haben.

    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

    Meine Damen und Herren, die Bundesregierung engagiert sich in solidarischer Weise für den Aufbau in den neuen Bundesländern. Ich will hier noch einmal die Zahlen nennen: Im zweiten Halbjahr 1990, d. h. nach Einführung der D-Mark und der Währungs- und Wirtschaftsunion, war dies ein Betrag von 35 Milliarden DM. Im Haushaltsentwurf für 1991 sind es noch einmal mehr als 50 Milliarden DM für den Bereich der neuen Bundesländer. Zu diesen Zahlen kommt mit dem Gemeinschaftswerk noch ein Betrag von 12 Milliarden DM für 1991 hinzu. Ich erinnere hier auch noch einmal an unsere Soforthilfen in Höhe von 5 Milliarden DM für die Haushalte der neuen Bundesländer.
    Meine Damen und Herren, das heißt: In der Zeit von 18 Monaten, also seit dem Inkrafttreten der Währungs- und Wirtschaftsunion und der Einführung der D-Mark in ganz Deutschland, in der Zeit vom 1. Juli 1990 bis zum Ende dieses Jahres, macht dies insgesamt einen Betrag von knapp über 100 Milliarden DM aus. Ich frage Sie nun wirklich: Wann je in der deutschen und in der europäischen Geschichte gab es eine ähnlich große Kraftanstrengung wie die, die wir gemeinsam und mit allgemeiner Zustimmung jetzt für unsere Landsleute im östlichen Teil Deutschlands unternehmen?

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Bei aller Kritik, daß es an diesem oder an jenem Punkt immer noch zuwenig sei, will ich doch darauf hinweisen, daß wir eine Größenordnung erreicht haben, die die wenigsten in dieser Weise für jetzt möglich gehalten haben. Wir haben das geschafft.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Wir wissen aus eigener Erfahrung, daß dieses Geld für sich allein nicht das leistet, was es leisten soll, wenn wir bei den Strukturen, vor allem in der Verwaltung nicht ebenfalls die notwendige breite Unterstützung geben. Wir versuchen auch als Bundesregierung in diesem Bereich unseren Anteil zu leisten. Die Bundesregierung entsendet eigene Mitarbeiter. Wir unterstützen vor allem die östlichen Landkreise, Städte und Gemeinden dabei, Fachkräfte für ihre Verwaltungen aus den alten Bundesländern zu gewinnen.
    Das entsprechende Personalkosten-Zuschußprogramm für 1991 haben wir auf 100 Millionen DM verdoppelt. Damit können schon heute bis zu 2 000 Fachkräfte in die Kommunen und Landkreise der neuen Bundesländer entsandt werden. Die zentrale Anlaufstelle in Berlin soll bei dieser Vermittlung helfen.
    Mein dringender Wunsch ist es, daß die neuen Bundesländer jetzt ihrerseits den Fachkräftebedarf mitteilen; in diesem Bereich gibt es noch eine ganze Menge zu tun. Wenn der Bedarf genauer erkannt wird, kann noch gezielter und noch wirkungsvoller geholfen werden.
    Im Blick auf die besonders schwierige Personalsituation im Bereich der Justiz hat das Bundeskabinett auf Vorschlag des Bundesjustizministers ein Sofortprogramm von jährlich 120 Millionen DM für die nächsten 3 Jahre beschlossen. In Zusammenarbeit mit den westlichen Bundesländern können somit jetzt sehr rasch bis zu 2 300 Richter, Staatsanwälte und Rechtspfleger in die neuen Bundesländer entsandt



    Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
    werden. Ich gehe davon aus, daß auch die westlichen Bundesländer vergleichbare Anstrengungen unternehmen, um den Verwaltungsaufbau in den neuen Ländern zu beschleunigen.
    Dies alles sind Tatsachen, und dies alles wird dazu beitragen, daß wir ungeachtet der aktuellen Schwierigkeiten aus dem Tal herauskommen können.
    Manche Schwierigkeiten, die den Weg der alten Bundesrepublik zu Wohlstand und sozialer Sicherheit vorübergehend begleitet haben, erleben wir auch jetzt. Aber diejenigen, die die Dinge damals und heute vergleichen, sollten nicht vergessen, daß wir von der Zeit der Währungsreform 1948 bis in die 50er Jahre hinein brauchten, um den Durchbruch zu erzielen. Heute haben wir diese Zeit nicht. Wir müssen schneller vorankommen und, wo immer möglich, noch gezielter handeln. Wir haben aber in den vergangenen fünf Monaten schon ein gutes Stück des Weges zurückgelegt.
    Ich will, weil mancher dies bereits vergessen zu haben scheint, hier einmal folgendes sagen: Im vergangenen Jahr wurden wir von vielen doch zu einem langsameren Tempo gedrängt. Im vergangenen Jahr wurde uns doch gesagt: Die Währungs- und Wirtschaftsunion kommt viel zu früh. Im vergangenen Jahr wurde doch gesagt: Diese Eile ist dem ganzen Thema nicht gemäß. Nun frage ich Sie in diesen Tagen der Ratifikation des Zwei-plus-Vier-Vertrages im Obersten Sowjet: Glauben Sie ernsthaft, daß wir diesen Vertrag heute noch so bekommen würden?

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Es ist wahr: Wenn wir den Ratschlägen der SPD gefolgt wären, hätten wir heute einen Teil unserer Probleme nicht, aber wir stünden bei der deutschen Frage auch nicht dort, wo wir heute sind: Wir hätten die Teilung noch nicht überwunden.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Wir haben — das nehme ich für uns in Anspruch — richtig gehandelt, indem wir zum frühestmöglichen Zeitpunkt die staatliche Einheit unseres Vaterlandes wiederherstellten.
    Meine Damen und Herren, jeder von uns weiß, wie sehr diese tiefgreifenden Veränderungen die Menschen betreffen, betroffen machen und aufwühlen. Es kann doch jeder nachvollziehen, was sich in vielen Familien vollzieht, wenn gefragt wird: Werde ich, wenn ich jetzt meinen Arbeitsplatz verliere, einen neuen Arbeitsplatz bekommen? Werden meine Kinder eine Lehrstelle finden? Bleibt die Wohnungsmiete für unsere Familie bezahlbar? Das sind die selbstverständlichen Fragen im privaten Leben von vielen.
    Mit solchen Fragen verbunden sind zugleich große Hoffnungen auf eine schnelle Besserung der Lage und Erwartungen — auch das habe ich in den großen Veranstaltungen oft genug gesagt — , die sich eben nicht in wenigen Wochen oder Monaten erfüllen lassen.
    Ich habe Verständnis dafür, daß es vielen, die ganz unmittelbar betroffen sind, schwerfällt, sich in Geduld zu fassen. Jene, die auf der Sonnenseite deutscher Geschichte einen ganz anderen Weg gehen konnten, sind nicht die richtigen Ratgeber, um von Geduld zu reden. Ich verstehe die drängende Ungeduld der
    Menschen in den neuen Bundesländern. Ich habe auch Verständnis für manches Wort, das ich in der Sache letztlich nicht für angemessen halte. Aber ich habe Verständnis dafür. Dies ist eine Situation, in der Menschen eben so reagieren. Ich habe allerdings überhaupt kein Verständnis für so manches unbedachte und auch belehrende Wort aus den westlichen Bundesländern zu unseren Landsleuten in den neuen Bundesländern.
    Man muß Verständnis füreinander haben. Man muß miteinander, nicht übereinander sprechen. Wir werden dabei erkennen, daß wir in 40 Jahren in vielem getrenntere Wege gegangen sind, als manche von uns gedacht hatten. Ich selbst sehe in Gesprächen immer wieder deutlich, wie sehr wir uns — das soll man doch zugeben; das ist doch keine Schande — auseinandergelebt haben und wie notwendig es jetzt ist, weit über das Materielle hinaus aufeinander zuzugehen und in der menschlichen Dimension das Miteinander zu gewinnen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Schulz [Berlin] [Bündnis 90/ GRÜNE])

    Unsere Landsleute in den westlichen Bundesländern haben gewiß Grund — auch das darf gesagt werden — , auf die Leistungen in den letzten 40 Jahren, die die Bundesrepublik Deutschland prägten, stolz zu sein. Aber wir sollten gerade jetzt immer wieder deutlich machen, daß die schwierige Lage der Deutschen in den neuen Bundesländern nicht etwa Folge geringeren Könnens oder mangelnden Fleißes ist. Sie ist das Ergebnis von 40 Jahren sozialistischer Mißwirtschaft.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Ich möchte uns alle auffordern, daß wir — auch vielleicht im Umgang miteinander hier im Haus — im Bewußtsein unserer Zusammengehörigkeit mit mehr Takt und Einfühlungsvermögen aufeinander zugehen.

    (Dr. Götte [SPD]: Auf einmal!)

    — Das war immer meine Position. Ich weiß nicht, was daran neu ist.
    Wie im bisherigen Bundesgebiet, so hat jetzt in ganz Deutschland jeder Anspruch auf den Beistand der Gemeinschaft, auf Schutz und soziale Sicherheit. Das gilt bei Renten und Gesundheitsversorgung ebenso wie im Falle von Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit oder bei Mieterhöhungen. Nicht alles, was sich über 40 Jahre auseinanderentwickelt hat, läßt sich schnell und reibungslos zusammenfügen. Deswegen ist ein Prozeß des Umdenkens notwendig. Das ist, wie jeder von uns weiß, ein schwieriger Prozeß.
    Die Menschen in den neuen Bundesländern, die lange genug unter Vormundschaft standen, müssen jetzt Eigeninitiative entwickeln. Es wird von ihnen erwartet, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. All dies kommt nicht über Nacht; denn das planwirtschaftliche System hat in Jahrzehnten Eigeninitiative unterdrückt und Leistungsbereitschaft zerstört. Aber, meine Damen und Herren, wir können noch so viel Geld zur Verfügung stellen: Die Neuorientierung der



    Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
    Menschen ist unerläßlich, wenn die Verbesserung der Lebensverhältnisse erreicht werden soll.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Die Chancen dafür — dies sage ich bewußt nicht zuletzt nach der Rede, die ich gestern hier hörte — sind unverändert günstig; denn uns gemeinsam kommt die erfreuliche wirtschaftliche Verfassung der bisherigen Bundesrepublik zugute.
    Es ist ja schon erstaunlich — wenn ich das einmal sagen darf —, daß bei der Generaldebatte über den Gesamthaushalt das Thema: Wie präsentiert sich eigentlich die alte Bundesrepublik in diesem Augenblick? bisher ausgespart wurde. Herr Kollege Vogel, wenn Sie sich die Katastrophengemälde, die Sie in den letzten acht Jahren entworfen haben, jetzt einmal anschauen, dann verstehen Sie, daß ich das Katastrophengemälde, das Sie jetzt für die nächsten Jahre im Blick auf die neuen Bundesländer malen, nicht so ernst nehme. Sie haben sich immer getäuscht, und Sie werden sich auch jetzt täuschen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Vogel [SPD]: Sie haben sich getäuscht, mein Lieber! Von Täuschen verstehen Sie etwas! — Weitere Zurufe von der SPD)

    — Lieber Herr Kollege Vogel, Sie wissen, daß sich die alte Bundesrepublik — die alten Bundesländer — heute wirtschaftlich in einer Form präsentiert, die vielleicht mit Ausnahme Japans, wohl keinen Vergleich in der ganzen Welt findet. Ich sage ja nun nicht: Das ist der Erfolg dieser Bundesregierung oder der Koalition. Es ist der Erfolg der Menschen, die hier leben; der Unternehmer genauso wie der Gewerkschafter, der Betriebsräte und der Arbeitnehmer, der Beamten und aller anderen.
    Nur: Es waren doch die gleichen fleißigen Deutschen in der alten Bundesrepublik, die bis 1982 solche Ergebnisse nicht erzielt haben. Folglich hat doch die Politik etwas damit zu tun.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Mit Ihrer Wirtschaftspolitik hätten wir doch die Leistungsfähigkeit nicht erreichen können, die wir jetzt erreicht haben.

    (Duve [SPD]: Wer war eigentlich Wirtschaftsminister damals? — Dr. Vogel [SPD] [zu Abg. Dr. Graf Lambsdorff gewandt]: Das geht wieder auf Sie!)

    — Meine Damen und Herren von der SPD, Sie haben doch immer gesagt und vertreten dies doch jetzt auch als ein Argument gegen mich: Es kommt auf den Kanzler an! Den haben doch Sie in jenen Jahren gestellt. Weichen Sie doch jetzt nicht aus!

    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

    Sie können doch nicht dem Kanzler alles Schlechte in die Schuhe schieben und all das, was positiv ist, verschweigen. Sie müssen schon einigermaßen in der Logik der Argumentation bleiben.
    Ich sage Ihnen noch einmal, weil Sie es so gern hören: Bei Wachstum, Beschäftigung und Preisstabilität nehmen wir zusammen mit Japan weltweit eine Spitzenposition ein.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Rede von Hans Klein
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CSU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)
Herr Bundeskanzler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Graf Lambsdorff?

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Helmut Kohl


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Nein.
    Die Beschäftigung in den bisherigen Bundesländern ist so kräftig gestiegen wie zuvor nur ein einziges Mal, nämlich Mitte der 50er Jahre.
    Allein im vergangenen Jahr, meine Damen und Herren, gab es annähernd 700 000 zusätzliche Arbeitsplätze. Die Arbeitslosigkeit ist zurückgegangen.

    (Zurufe von der SPD)

    — Sie mögen ja das alles für falsch halten, aber wenn Sie aus dem Saal hinausgehen und mit den Bürgern im Ruhrgebiet oder anderswo sprechen,

    (Zuruf von der SPD: Machen Sie das mal! — Matthäus-Maier [SPD]: „Steuerlüge" sagen die dann!)

    dann werden Sie feststellen, daß diese Zahlen stimmen und die Menschen dies so empfinden.

    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

    Wir haben gleichzeitig das System sozialer Sicherheit bei den Renten und bei der Gesundheitsversorgung reformiert. Für Familien und Mütter haben wir die Sozialleistungen verbessert und für Eltern den Erziehungsurlaub eingeführt.
    Dies alles, meine Damen und Herren, ist das Ergebnis einer Politik mit Augenmaß; vor allem aber — ich sage es noch einmal — das Ergebnis des Leistungswillens und der Leistungskraft der Menschen in unserem Land.
    Meine Damen und Herren, das Fundament der Sozialen Marktwirtschaft, auf dem wir alle stehen und auf dem die Leistungsfähigkeit unseres Landes beruht, ist auf das engste mit der Solidität der Staatsfinanzen verbunden. Das galt und gilt auch und gerade angesichts der außergewöhnlichen Anforderungen im Gefolge der deutschen Einheit. Dies gilt selbstverständlich ebenso für die jetzigen Entscheidungen. Die finanziellen Verpflichtungen außerhalb der deutschen Grenzen nehmen erheblich zu, und zwar in doppelter Hinsicht. Vor allem zwei Bereiche will ich nennen:
    Ich nenne zunächst die finanzielle Belastung aus dem Golfkrieg. Hierfür waren 1990 und sind im ersten Quartal 1991 zusammen über 15 Milliarden DM aufzubringen. Wir, die Bundesrepublik Deutschland, haben aus den bekannten verfassungsrechtlichen Gründen keine deutschen Soldaten an den Golf entsandt. Gerade deshalb ist es für mich selbstverständlich, daß das wirtschaftlich starke Deutschland seinerseits einen spürbaren Solidaritätsbeitrag leistet; denn am Golf kämpften unsere Freunde und Partner — allen voran die Amerikaner, die Briten und die Franzo-



    Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
    sen — auch dafür, daß wir, die Deutschen, morgen in einer friedlichen Welt leben können.

    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

    Herr Kollege Vogel, ich hätte eigentlich erwartet, daß Sie hier einmal zu der Frage Stellung nehmen, ob die SPD gegen diesen Solidaritätsbeitrag ist

    (Sehr wahr! bei der CDU/CSU)

    und wie Sie — für den Fall, daß Sie dies so aussprechen — international begründen wollen, daß die Deutschen auf der einen Seite im militärischen Bereich keinen Beitrag leisten und dann auf der anderen Seite als eines der drei wirtschaftlich stärksten Länder der Welt auch noch die wirtschaftliche Unterstützung versagen. Glauben Sie denn im Ernst, daß eine Ihrer sozialistischen Bruder- oder Schwesterparteien in Europa für eine solche Argumentation Verständnis hätte?

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Sie haben heute — ich kann das nur begrüßen und unterstützen — im Hinblick auf manche Äußerungen im Ausland gegen die Deutschen nicht nur gute Formulierungen gefunden, sondern ganz überzeugend dargelegt, daß diese Vorbehalte falsch sind. Ich bedanke mich dafür. Ich finde es gut, wenn das der Oppositionsführer hier so ausspricht.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Meine Damen und Herren, die Art und Weise aber, wie gestern Ministerpräsident Lafontaine beispielsweise

    (Zuruf von der CDU/CSU: Wer ist denn das?)

    zu diesem Thema sprach,

    (Zuruf von der SPD: Das war sehr gut!)

    hat sich sehr von dem unterschieden, was Sie heute gesagt haben.

    (Bohl [CDU/CSU]: Wie wahr!)

    Herr Kollege Vogel, Sie sollten den deutschen Bürgern und Bürgerinnen schon sagen, ob Sie ernsthaft glauben, daß angesichts einer Gemeinschaftsaktion mit Zustimmung der Vereinten Nationen gegen ein Regime, das zutiefst verbrecherische Handlungen begangen und das internationale Recht gebrochen hat, Deutschland beiseite stehen und sagen kann: Wir leisten weder Unterstützung durch Soldaten, noch sind wir bereit, einen finanziellen Beitrag zu leisten. Das kann doch nicht ernsthaft deutsche Politik sein.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Wir wissen, daß diese Ausgabe von 15 Milliarden DM nicht vorhersehbar war. Gerade sind hier dazu Ausführungen gemacht worden, die ich überhaupt nicht verstehen kann. Ich wiederhole: Es war nicht klar, in welche Dimension dieser Betrag gehen würde. Wir haben schnell gehandelt, und zwar aus Gründen, die jeder verstanden hat. Dieses Geld fehlt uns aber jetzt für andere, dringliche Aufgaben.
    Ich nenne ein zweites Feld, das Sie hier ganz zu Unrecht karikiert haben, nämlich die deutschen Exporte in die Sowjetunion und in die anderen Länder
    Mittel-Ost- und Südosteuropas, die, wie jeder weiß, im Augenblick fast völlig zusammengebrochen sind. Wir alle wissen, daß im Comecon die Betriebe und die Unternehmen in der früheren DDR nahezu komplett auf diesen Absatzmarkt eingerichtet waren und daß ein Zusammenbruch dieses Marktes für die Betriebe und für die Arbeitsplätze in den neuen Bundesländern schwere Folgen haben muß. Gleich werden Sie durch Zahlen hören, daß dies so ist.
    Die Bundesregierung hatte damit gerechnet, daß der Export aus der damaligen DDR in die sogenannten Staatshandelsländer, vor allem in die Sowjetunion, zwar nicht in der früheren Höhe von 30 Milliarden DM, aber doch zu einem guten Teil aufrechterhalten werden könne. Lassen Sie mich Zahlen nennen: Für das Jahr 1990 betrug der Export der früheren DDR, der jetzigen neuen Bundesländer, in den RGW-Raum 36,4 Milliarden DM. Meine Damen und Herren, diese Zahl entsprach einer Steigerung um 22 % gegenüber dem Jahr 1989.

    (Bohl [CDU/CSU]: So ist es!)

    Die Zahl im Jahr 1990 war nicht geringer als im Jahr 1989, sie ist vielmehr gestiegen.
    Wenn ich speziell die Sowjetunion hervorhebe
    — das ist der wichtigste Brocken — , dann entsprach der Export dorthin im Jahr 1990 21,8 Milliarden DM. Das ist gegenüber 1989 eine Steigerung um 32 % gewesen. Dies bedeutet, daß die Exporte aus dem Raum der früheren DDR nach Osteuropa und in die Sowjetunion 1990 nicht zurückgegangen waren.

    (Dr. Diederich [Berlin] [SPD]: Vergleichen Sie doch mit heute!)

    — Ich komme ja gerade darauf zu sprechen. Warten Sie doch erst einmal ab! Die Argumentation muß doch schließlich von Punkt zu Punkt weitergeführt werden.
    Hierzu haben Aufträge beigetragen, die im Blick auf das Ende 1990 auslaufende Transferrubelsystem vorgezogen wurden. Richtig ist, daß im Blick auf die Umstellung des Handels mit den osteuropäischen Ländern auf Devisenbasis ab 1991 allgemein mit einem Rückgang des RGW-Handels gerechnet wurde.
    Sie haben vorhin eine Kleine Anfrage der SPD zitiert. Ich darf das aufnehmen. Damals, am 24. Oktober 1990, hat die Bundesregierung gesagt:
    Ein zunächst spürbarer Rückgang des Handels mit der UdSSR und den anderen RGW-Ländern ab 1991 nach Übergang des Handelsverkehrs auf Weltmarktpreise und konvertible Währung ist nicht auszuschließen.
    — Die Experten haben jedoch nicht mit dem nahezu vollständigen Zusammenbruch des sogenannten Osthandels gerechnet. Dies erklärt sich daraus, daß
    — zusätzlich zur Umstellung des RGW-Handels auf Devisenbasis — die internen Probleme der Sowjetunion eine viel stärkere Rolle gespielt haben, als dies generell vorherzusehen war.
    Meine Damen und Herren, das ist für mich persönlich ein wichtiger Punkt, weil vor allem ich mich hier angesprochen fühle: Ich habe noch vor wenigen Monaten die Aufrechterhaltung von wenigstens der Hälfte des Exportvolumens für realistisch gehalten.



    Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
    Ich stand mit dieser Meinung nicht allein. Die meisten der Experten — ich habe nie für mich in Anspruch genommen, ein Experte auf diesem Feld zu sein — haben in einer Zahlendimension gerechnet, die knapp an die Hälfte des früheren Volumens herankommt. Das war aber immerhin eine Dimension von über 10, vielleicht sogar bis 15 Milliarden DM. Wenn Sie mich fragen, ob ich mich an einem Punkt geirrt habe, dann ist es genau dieser Punkt.

    (Zurufe von der SPD)

    — Aber Entschuldigung, das sage ich doch jeden Tag. Sie haben mich doch danach gefragt, an welcher Position ich mich geirrt hätte. Ich habe mich an dieser Position geirrt.
    Aber, meine Damen und Herren, wer behauptet, die jetzige Krise im Handel mit der Sowjetunion — das ist doch Ihre Behauptung — sei eine Folge der Währungsunion und der Vereinigung Deutschlands, der stellt die Dinge schlicht auf den Kopf.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Vogel [SPD]: Wer hat denn das behauptet?)

    Es waren die Länder des ehemaligen Ostblocks, die ihren Außenhandel mit Wirkung zum Beginn dieses Jahres auf harte Devisen umgestellt haben. Ausschlaggebend für die jetzigen Probleme ist vor allem die innere Entwicklung der Sowjetunion.
    Die Bundesregierung hat bereits Ende des letzten Jahres zusätzliche Beschlüsse gefaßt, um Exporte aus den neuen Bundesländern in die Sowjetunion noch höher abzusichern. Das heißt für unseren Haushalt, daß wir uns jetzt noch stärker als bisher zur Absicherung des Risikos in diesem Bereich verpflichten. Es gibt dafür gute Gründe; deswegen tun wir es ja auch. Es geht um die Kontinuität im Handel mit der Sowjetunion, der für uns und für die Sowjetunion auch in Zukunft von großer Bedeutung ist.
    Aber, meine Damen und Herren, es geht natürlich in letzter Konsequenz auch um Hunderttausende von Arbeitsplätzen. Fast 40 % aller Exporte der früheren DDR gingen in diesen Raum. Wenn es uns gelungen wäre, den Verlust von Arbeitsplätzen in diesen Jahren stärker zu bremsen, dann hätten wir es jetzt in vieler Hinsicht leichter.

    (Dr. Gysi [PDS/Linke Liste]: Das wäre doch drin gewesen! — Dr. Briefs [PDS/Linke Liste]: Warum haben Sie das nicht gemacht!)

    — Ich komme gleich auf den Punkt zu sprechen.
    Ich zeige dies an einem konkreten Beispiel auf, nämlich an der Tatsache, daß die fünf größten Werften in Mecklenburg-Vorpommern zu über 60% von sowjetischen Aufträgen abhängen. Davon sind etwa 30 000 Arbeitsplätze betroffen.
    Sie fragen, was wir gemacht haben. Bundesminister Möllemann war kürzlich in — —

    (Zurufe von der SPD: Aha! — Gegenruf des Abg. Bohl [CDU/CSU]: Niveaulos!)

    — Ich weiß gar nicht, was das eigentlich soll. Wollen wir hier ein ernsthaftes Gespräch miteinander führen oder wollen wir nur noch Brett gegen Brett halten?
    Bundesminister Möllemann war in diesen Tagen im Auftrag der Bundesregierung in Moskau mit dem Ziel, kurzfristig neue Aufträge im Umfang von rund 9 Milliarden DM zu vereinbaren. So wie die Dinge liegen, hoffen wir, daß dies zu einem guten Abschluß kommt.
    Aber — dieses Aber muß ich korrekterweise hinzufügen — diese neuen Vertragsabschlüsse sind nur möglich, wenn wir unsererseits bereit sind, praktisch vollständige Exportbürgschaften zu übernehmen. Wir werden dies tun, weil wir zum einen hoffen, daß dies der inneren Situation, d. h. der Stabilisierung der Sowjetunion zugute kommt und weil es zum anderen um den Erhalt von Arbeitsplätzen und Betrieben in den neuen Bundesländern geht.

    (Duve [SPD]: Lieber Hermes mit Moskau als Hermes mit Bagdad!)

    Aber ich füge hinzu, dies bedeutet, daß der Bund ein zusätzliches Risiko dabei trägt.

    (Dr. Solms [FDP]: So ist es!)

    Meine Damen und Herren, ich sage noch einmal, die unvorhergesehene Belastung infolge des Golfkrieges und die dramatischen Ausfälle im Osthandel machen zusätzliche Aufwendungen in zweistelliger Milliardenhöhe unumgänglich. Diese Beträge stehen für zusätzliche Maßnahmen zugunsten der neuen Bundesländer nicht mehr zur Verfügung.
    Heute oder gestern wurde in der Debatte gesagt, wir hätten das Geld ohnehin nicht zur Verfügung stellen können. Meine Damen und Herren, wenn wir diese Ausgabenposition nicht hätten, stünde das Geld natürlich zur Verfügung.
    Vor diesem Hintergrund standen wir in der Koalition nach den bereits vorgenommenen beachtlichen Einsparungen im Bundeshaushalt 1991 vor der Alternative, entweder die Nettokreditaufnahme oder die Steuern zu erhöhen. Der auf den ersten Blick bequemere Weg über eine Erhöhung der Nettokreditaufnahme kam nicht in Frage. Im Blick auf Zinsen und Geldwertstabilität dürfen wir den Kapitalmarkt nicht stärker in Anspruch nehmen. Ich würde mir überhaupt wünschen, daß dies in der bundesstaatlichen Ordnung für alle Ebenen unserer Republik gelten würde.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Ich weiß wohl, daß in einer Reihe von Bundesländern der Weg wahrscheinlich gar nicht anders zu gehen ist. Ich sage: in einer Reihe von Bundesländern; auch hier gibt es Unterschiede. Aber es gibt noch mehr Städte und Gemeinden, die sich sehr wohl in diesen Jahren bei der Nettokreditaufnahme einmal etwas zurückhalten könnten, um das Ganze im Blick auf die Geldentwicklung zu stabilisieren.

    (Dr. Hauchler [SPD]: Vermögensteuer!)

    — Ich komme noch auf diesen Punkt. Lassen Sie doch einmal die Rede auf sich wirken; sie wirkt ja offensichtlich.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Lachen bei der SPD — Duve [SPD]: Wir sind Zeugen der Wirkung Ihrer Rede!)




    Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
    Angesichts der notwendigen Rücksichtnahme auf Zinsen und Geldwertstabilität war für uns nur der Weg über eine Steuererhöhung verantwortbar. Unsere Kernfrage war: Wie können Rückwirkungen auf die konjunkturelle Entwicklung so gering wie möglich gehalten werden? Denn über eines besteht kein Zweifel: Nur mit soliden Staatsfinanzen und einer weiter positiven Wirtschaftsentwicklung können wir die anstehenden Aufgaben in den neuen Bundesländern bewältigen. Entscheidend ist dafür, daß wir auch auf den anderen Gebieten das wirtschaftlich und politisch Notwendige voranbringen können. Ich nenne dabei ausdrücklich die vereinbarte Steuerreform zugunsten von Familien, die notwendigen Verbesserungen im Umweltschutz und auch — jetzt komme ich zu diesem Thema, Herr Kollege Vogel — die Fragen der Unternehmensteuerreform.
    Ich verstehe eigentlich nicht, warum wir zu einem Zeitpunkt, zu dem das Gespräch zwischen Bund, Ländern und Gemeinden, das hier ja zwingend notwendig ist, noch gar nicht stattgefunden hat, bereits wieder Schützengräben ausheben.

    (Dr. Vogel [SPD]: Das steht in der Koalitionsvereinbarung! Sie haben es ja hineingeschrieben!)

    — Entschuldigung, ich kann es Ihnen ja vorlesen. Sie wissen genau, daß das so nicht stimmt, wie Sie es dazwischenrufen.

    (Dr. Vogel [SPD]: „Zum frühestmöglichen Zeitpunkt" steht darin!)

    Worum geht es denn, meine Damen und Herren? Das ist doch eigentlich keine Frage, über die wir uns streiten müßten. Es ist eine unbestreitbare Tatsache, daß am 31. Dezember 1992 der große europäische Binnenmarkt vollendet wird. Er ist mit 340 Millionen Menschen der stärkste Wirtschaftsraum der Welt. Die Bundesrepublik Deutschland und auch die neuen Bundesländer haben darin ihre besondere Zukunftschance. Wahr ist auch — es gibt genügend Hinweise und Zahlen, die das belegen — , daß unser jetziges Steuersystem vor allem im Blick auf die Unternehmensbesteuerung unseren Unternehmen nicht mehr, sondern weniger Chancen im Vergleich zu anderen Ländern einräumt.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, dies ist doch wahr.

    (Widerspruch bei der SPD)

    Deswegen ist es richtig, daß die Unternehmen — das gilt übrigens für Arbeitnehmer wie für Arbeitgeber gleichermaßen — am Vorabend des Binnenmarktes, also Ende 1992, wissen müssen, was sie in Zukunft erwartet.
    Wir haben doch nie gesagt, daß Ende 1992 die Unternehmenssteuerreform in Kraft treten werde, sondern wir haben gesagt: Derjenige, der investiert, muß um seine künftigen Belastungen wissen.
    Das, was jetzt in Frage steht, betrifft Themen, die alle angehen. Es geht doch nicht allein um das Thema Vermögensteuer. Es geht auch um die Gewerbekapitalsteuer und um die finanzielle Ausstattung der deutschen Gemeinden. Ich selbst — die Kollegen der CDU, der CSU und der FDP gleichermaßen — habe
    bei jeder Gelegenheit erklärt: Wir wollen nicht die Grundstruktur unseres Selbstverwaltungssystems ändern. Es ist eines der großartigen Ergebnisse deutscher Geschichte, daß wir unabhängige Gemeinden haben, die mit einer gewissen Grundsubstanz ausgestattet sind. Wir wollen nicht die Gemeinden zu Kostgängern machen. Wir wollen, daß sie ihr eigenes Recht haben.
    Aber das bedingt doch, Herr Kollege Vogel, daß wir über diese Fragen miteinander reden.

    (Dr. Vogel [SPD]: Das steht doch alles bei Ihnen in der Koalitionsvereinbarung!)

    — Entschuldigung, dort steht genau, daß wir darüber reden

    (Dr. Vogel [SPD]: Dort steht, daß die Vermögensteuer zum frühestmöglichen Zeitpunkt abgeschafft werden soll!)

    und daß wir im Gesamtkontext auch bezüglich Vermögensteuer und Gewerbekapitalsteuer mit den Gemeiden und mit den Ländern sprechen müssen. Das ist doch keine Sache, die man so einfach über den Tisch schiebt, sondern das ist eine Sache, an der wir gemeinsam arbeiten müssen.
    Ich möchte Sie herzlich einladen, daß wir — bevor Sie, und zwar aus ganz anderen Gründen, weil Sie nämlich wieder den alten sozialistischen Neidkomplex durchs Land tragen wollen,

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    bereits Positionen beziehen, und das sage ich an alle, die Gespräche unmöglich machen — in dieser Frage miteinander die notwendigen Gespräche führen. Wir stehen doch diesbezüglich gar nicht unter Zeitdruck.
    Meine Damen und Herren, ich sage es noch einmal: Die vorgesehenen Maßnahmen sind konjunkturell vertretbar, und sie berücksichtigen in besonderem Maße die wirtschaftliche und steuerliche Leistungsfähigkeit auch des einzelnen. Ich wiederhole: Es gab nur die Alternative zwischen einer höheren Kreditaufnahme und höheren Steuern. Wir haben uns für den ganz gewiß schwierigen Weg der Steuererhöhung entschieden. Damit sind wir in der Lage, trotz unvorhersehbarer Zusatzbelastungen Aufträge, Produktion und Beschäftigung in den neuen Bundesländern zu fördern. Das bedeutet Wachstum in ganz Deutschland.
    Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In dieser Generaldebatte muß auch die Frage nach der Verantwortung des wiedervereinten Deutschlands in der Welt und in Europa gestellt werden. Unsere Partner in der Welt fordern zu Recht, daß das vereinte Deutschland künftig seinen Beitrag zu Sicherheit und Stabilität nicht nur in Europa, sondern auch außerhalb Europas leistet. Es geht darum, dem Anspruch des Grundgesetzes zu genügen, in dem es heißt: Wir wollen als gleichberechtigtes Glied dem Frieden in der Welt dienen. Dabei wissen wir, daß Friedenswahrung eine Aufgabe ist, die heute die Kräfte jedes einzelnen Staates übersteigt. Wir können diese Aufgabe nur gemeinsam bewältigen.



    Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
    Das Grundgesetz weist uns auch hier den Weg. Ich darf zitieren:
    Der Bund kann sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen; er wird hierbei in die Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen, die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern.
    Wir sind auf der Grundlage dieser Bestimmung unserer Verfassung Mitglied des Nordatlantischen Bündnisses und der Westeuropäischen Union. Als Mitglied der Vereinten Nationen haben wir die Pflichten übernommen, die in der Charta der Vereinten Nationen niedergelegt sind. Dazu gehören auch Maßnahmen der kollektiven Sicherheit. Unsere Verfassung — aber auch die deutsche Teilung — hat uns bei der vollen Wahrnehmung dieser Pflichten bisher Schranken auferlegt; das ist eine historische Gegebenheit.
    Jetzt ist es das vereinte Deutschland, das in der Gemeinschaft der Völker der Welt steht. Das ist eine neue Lage, und daraus müssen wir die verfassungspolitischen Konsequenzen ziehen. Wir müssen sehen, daß unsere Entscheidung vor allem als ein Prüfstein für die Ernsthaftigkeit unseres politischen Willens, die Last der internationalen Friedenssicherung mitzutragen, angesehen werden wird.
    Herr Kollege Vogel, ich habe Ihnen keinen Rat zu geben. Aber meine Bitte ist, bevor Sie Festlegungen
    — bis hin zu der doch sehr gewichtigen Festlegung durch einen Parteitag — treffen: Überlegen Sie wirklich, ob das, was Sie heute hier genannt haben
    — wenn ich es richtig verstanden habe: Teilnahme der Bundeswehr lediglich an sogenannten BlauhelmMissionen — , unserer internationalen Position gerecht wird.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Meine Damen und Herren, wir sollten sorgfältig prüfen, auch gemeinsam, wieweit eine Beteiligung der Bundeswehr an militärischen Maßnahmen nach Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen, wieweit die Beteiligung der Bundeswehr an gemeinsamen Aktionen im Rahmen einer künftigen europäischen Sicherheitsstruktur, beispielsweise der Westeuropäischen Union, möglich ist.

    (Dr. Dregger [CDU/CSU]: Sehr gut!)

    Diese Beispiele sind gar nicht so neu. Im alten Bundestag gab es vor langer Zeit einmal leidenschaftliche Debatten über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft.

    (Gansel [SPD]: Zur Verteidigung, aber nicht als Eingreiftruppe! — Weitere Zurufe von der SPD)

    — Ich denke schon, meine Damen und Herren, daß in diesen Wochen auch Leistungen zur Verteidigung von Frieden, Freiheit und Völkerrecht erbracht wurden.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Und ich sage Ihnen auch: Sie müssen doch bei all dem, was Sie jetzt tun — das ist natürlich Ihre Sache, und ich respektiere Ihre Meinung —, bedenken, daß
    wir spätestens — das sage ich Ihnen voraus — im Jahre 1993 in einer Bundestagssitzung über die Dokumente und die Ergebnisse der Regierungskonferenz zur Wirtschafts- und Währungsunion und zur Politischen Union zu entscheiden haben werden. Und es ist doch nun wirklich nicht denkbar, meine Damen und Herren, daß wir ja sagen zur Politischen Union, daß wir — ich will das, und ich komme gleich noch einmal auf das Thema zu sprechen — ja sagen zu mehr Rechten für das Europäische Parlament, aber in Sachen Verteidigung beiseite stehen. Das ist doch nicht denkbar, das kann doch nicht deutsche Politik sein!

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Herr Kollege Vogel, selbstverständlich sind wir uns — da stimme ich Ihnen zu — bewußt, daß Frieden und Stabilität in der Welt nicht nur militärisch gesichert werden können. Der Griff zu diesem Zwangsmittel muß immer Ultima ratio bleiben. Das Schwergewicht muß auf vorbeugender Friedenssicherung liegen. Es geht in der Dritten Welt um die Festigung der wirtschaftlichen und sozialen Stabilität. Es geht um den Ausgleich von Konflikten mit religiösen, nationalen und kulturellen Wurzeln. Es geht um politische Stabilität durch friedliche Konfliktlösungen.
    Gerade der Konflikt am Golf hat uns vor Augen geführt, was es für den Frieden und damit auch für unsere eigene Sicherheit bedeutet, wenn irgendwo in der Welt ein Rüstungspotential, das jedes Maß an Selbstverteidigung überschreitet, angehäuft wird,

    (Gansel [SPD]: Durch Ihr Versagen in der Rüstungsexportpolitik! — Weitere Zurufe von der SPD)

    wenn dort Androhung und Anwendung von Gewalt zum Mittel der Politik werden. Hieraus, meine Damen und Herren, gilt es Konsequenzen zu ziehen, und wir ziehen diese Konsequenzen.
    Der Ausgang des Golfkrieges hat dem Frieden neue Chancen eröffnet.
    Übrigens, Herr Kollege Vogel: Sie haben gesagt, Sie erwägten, einen Untersuchungsausschuß zu beantragen. Ich habe keine Bedenken dagegen.

    (Dr. Vogel [SPD]: Wunderbar!)

    Ich kann Ihnen nur sagen, er wird ein sehr erstaunliches Ergebnis zutage fördern.

    (Zustimmung bei der CDU/CSU — Dr. Vogel [SPD]: Das sage ich auch!)

    Überhaupt möchte ich bei der Gelegenheit einmal sagen — das trifft weniger die Mitglieder des Hauses, aber einen Teil der deutschen und internationalen Öffentlichkeit — : Angesichts der Veröffentlichungen in den letzten Wochen — Tag für Tag — , wer alles in den Irak geliefert hat, müßte eigentlich der eine oder andere Vorwurf gegen die Deutschen sehr rasch verstummen. Das will ich bei dieser Gelegenheit einmal sagen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Das bedeutet aber überhaupt nicht, meine Damen und Herren, daß wir alle irgendein Verständnis für jene hätten, die aus egoistischen, ja, zum Teil verbrecherischen Gründen ihren Beitrag zum Anhäufen von



    Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
    Waffenarsenalen oder zur Entwicklung von schrecklichen Waffen geleistet haben.

    (Zustimmung bei der CDU/CSU — Dr. Vogel [SPD]: Genau darum geht es!)

    Aber darüber können wir ja miteinander sprechen; wir sind gerade dabei, wie ich höre, in dieser oder der nächsten Woche die Gesetzgebung in diesem Haus abzuschließen.

    (Dr. Vogel [SPD]: Den Bericht hätten wir gern!)

    Wir haben uns bei dem Konflikt im Golf auf der Seite von Freiheit, Recht und Gerechtigkeit mit den Mitteln engagiert, die uns nach unserer Verfassung zur Verfügung standen. Ich will bei dieser Gelegenheit gern einmal sagen, weil so viel Falsches darüber verbreitet wurde, daß unsere Verbündeten und Partner dies ausdrücklich gewürdigt haben, egal, ob es sich um Präsident Bush, Staatspräsident Mitterrand oder Premierminister Major handelt. Mit ihnen allen habe ich in dieser kritischen Zeit immer wieder gesprochen, und in all unseren Gesprächen war deutlich, daß sie erstens dankbar sind für die Solidarhilfe aus Deutschland und — zum zweiten — daß sie wissen, daß wir in unseren Handlungsmöglichkeiten noch beschränkt sind. Aber wir alle, auch Sie in der SPD, müssen dann, wenn wir über die Verfassungsänderung sprechen, auch die Frage, die von dort kommt, beantworten: Seid ihr für die Zukunft bereit, auch militärisch Solidarhilfe zu leisten?

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Es bieten sich jetzt nach dem Golfkrieg neue Chancen für dauerhaften Frieden in der Region durch eine Verhandlungslösung. Aber ich denke, die Ideen, Vorstellungen und Elemente müssen vor allem aus der Region selbst kommen. Es besteht auch die Notwendigkeit, aus der Region selbst einen Beitrag zum Aufbau zu leisten.
    Der Kollege Alfred Dregger hat vorhin mit Recht etwas gesagt, was ich aufnehmen will, auch angesichts einer Debatte, die in die Richtung läuft: Was werdet ihr tun? Wir werden sicherlich einen Beitrag zu einer friedlichen Entwicklung leisten. Aber ich sage Ihnen auch, es ist jetzt an der Zeit, daß die reichen Länder dieser Region ihren Beitrag für jedermann erkennbar leisten,

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    und daß man dann darüber diskutiert, ob dieser Beitrag angemessen ist, bevor andere in diesem Zusammenhang wieder angesprochen werden.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

    Meine Damen und Herren, am 31. März werden wir ein historisches Datum verzeichnen können.

    (Zuruf von der SPD: Schon wieder eines!)

    — Ja, das ist auch eins. Daß Sie jetzt diesen Zwischenruf machen, zeigt nur, wie weit Sie von der Wirklichkeit entfernt sind. Ich spreche nämlich von der Auflösung der militärischen Struktur des Warschauer Paktes. Dies ist ein historisches Datum.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Das ist ein Ergebnis auch unserer Politik, und auf unseren Beitrag dürfen wir auch stolz sein.

    (Vorsitz: Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg)

    Manche stellen jetzt — —

    (Zuruf von der SPD: Wann ist die NATO dran?)

    — Ich weiß, Sie wollten immer aus der NATO raus, aber alle Ihre außenpolitischen Wege auf diesem Feld waren Irrwege. Wenn wir Ihnen gefolgt wären, hätten wir gar nichts erreicht.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Auf Ihre Frage, ob wir die NATO brauchen, ist meine Antwort klar: ja. Gerade wir Deutschen haben ein elementares Interesse daran, daß die stabilisierende und friedenswahrende Rolle des Bündnisses in Deutschland unangetastet bleibt.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Ich sage dies angesichts der erfreulichen Entwicklung in Mittelost-, und Südosteuropa, auch in der Sowjetunion. Die NATO braucht zu ihrer Existenzberechtigung wirklich kein Feindbild. Sie gründet sich auf gemeinsame Interessen und vor allem auf gemeinsame Werte. Dieses Bündnis hat den Wandel in Europa und in Deutschland entscheidend geprägt, ja mit herbeigeführt. Die NATO hat in ihrer Gipfelerklärung vom Juli 1990 in London die Konsequenzen aus dem Wandel gezogen. Die dort in Auftrag gegebene Überprüfung der Strategie und der Strukturen macht gute Fortschritte. Wir werden auf diesem Weg weiter vorangehen.
    Eines der Kernstücke des gewandelten Verhältnisses zwischen Ost und West ist der Vertrag über die konventionellen Streitkräfte in Europa. Meine Damen und Herren, wir alle haben ein überragendes Interesse daran, daß die noch bestehenden Hindernisse im Blick auf die Ratifikation dieses Vertrages ausgeräumt werden und daß alle Signatarmächte den Vertrag nach Buchstaben und Geist erfüllen. Ungeachtet der Fortschritte im Bereich der europäischen Sicherheit wissen wir, daß auch in Zukunft militärische Risiken nicht auszuschließen sind. Deshalb muß eine verantwortungsbewußte Sicherheitspolitik auch weiterhin militärische Vorsorgemaßnahmen zur Kriegsverhinderung und zur Verteidigung vorsehen. Das heißt, daß auch für die Zukunft die Rolle der Bundeswehr von großer Bedeutung ist. Frieden und Freiheit gibt es nicht zum Nulltarif, und wir müssen in unserer Gesellschaft das Bewußtsein dafür wachhalten, daß der Schutz unserer freiheitlichen Lebensordnung jeden einzelnen Bürger unmittelbar angeht. Deswegen halten wir entschieden an der allgemeinen Wehrpflicht fest.

    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

    Die Soldaten unserer Bundeswehr leisten einen unersetzlichen Dienst am Frieden für die Sicherung der Freiheit. Gerade nach mancherlei Diskussionen der letzten Wochen ist es wichtig, auch hier vor dem Forum des Deutschen Bundestages noch einmal zu sa-



    Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
    gen: Wir haben allen Grund, unseren Soldaten zu danken.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Herr Präsident, meine Damen und Herren, Ziel der 90er Jahre bleibt für uns die europäische Einigung. Wir wissen, nur eine einige und starke Europäische Gemeinschaft kann auch in Zukunft politischer und wirtschaftlicher Anker unseres Kontinents sein. Wir setzen deshalb unsere ganze Kraft dafür ein, daß beide Regierungskonferenzen über die Wirtschafts- und Währungsunion sowie über die Politische Union zum Erfolg geführt werden, daß die Europäische Gemeinschaft zur Europäischen Union ausgebaut wird.
    Für uns Deutsche ist dabei wichtig — und ich werde das immer wieder sagen — , daß das Ergebnis beider Regierungskonferenzen befriedigend ist und daß es auch bei der Ratifikation als Ganzes gesehen werden muß. Es ist für mich nicht akzeptabel, daß wir auf dem einen Feld Fortschritte erreichen, auf dem anderen Felde aber nicht. Wer die Wirtschafts- und Währungsunion will — wir wollen dies — , muß auch die Politische Union wollen. Wer die Politische Union will, muß auch die Wirtschafts- und Währungsunion wollen. Wir nennen das die „Parallelität" der beiden Konferenzen. Gemeinsam mit Frankreich haben wir diese beiden Konferenzen mit inhaltlichen Anstößen nach vorn gebracht, wobei wir uns der Sensibilität und der Schwierigkeiten der anstehenden Themen in den einzelnen Ländern wohl bewußt sind.
    Ich vermerke hier dankbar, daß gerade bei meinen Gesprächen am Montag dieser Woche mit Premierminister John Major deutlich wurde: Ungeachtet durchaus beachtlicher Gegensätze in einzelnen Feldern der europäischen Politik nimmt der britische Premierminister die ganz klare Position ein, daß Großbritannien nicht außerhalb dieser Gemeinschaft, sondern als eines der Zentren Europas in dieser Gemeinschaft seinen Platz sucht. Ich bin dankbar für diese klare Aussage.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, unser deutscher Standpunkt ist klar. Die Europäische Gemeinschaft muß mit mehr Rechten ausgestattet werden, auch wenn dies einen Einschnitt in die nationale Souveränität bedeutet. Das gilt beispielsweise für den Bereich der Außen- und der Sicherheitspolitik. Wir Europäer können unsere Interessen in einer sich verändernden Welt nur dann gemeinsam durchsetzen, wenn wir auch in diesem Bereich vorankommen.
    Auf Grund eines Vorschlags, den Staatspräsident Mitterrand und ich eingebracht haben, beginnt sich in der Sicherheitspolitik ein Grundkonsens zu entwikkeln. Das wird noch viel Arbeit bringen, aber die Dinge bewegen sich.
    Wir wollen die Westeuropäische Union zu einem integralen Bestandteil des europäischen Einigungsprozesses machen und sie zugleich zum echten europäischen Pfeiler im Atlantischen Bündnis ausgestalten. Meine Damen und Herren, es ist wichtig, dies auszusprechen. Dies alles bedeutet, die Westeuropäische Union ist nicht Ersatz des Atlantischen Bündnisses, sondern Bindeglied zwischen Europa und unseren nordamerikanischen Verbündeten. Wir wollen während unserer WEU-Präsidentschaft ab Sommer dieses Jahres die Arbeiten weiter voranbringen.
    Eine weitere wichtige Forderung an die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik ist für uns die Erarbeitung gemeinsamer Rüstungsexportkontrollen. Ich denke, an diesem Punkt sind wir uns hier einig. Alle nationalen Anstrengungen, so notwendig sie sind, führen nur dann zum Erfolg, wenn sie auf gemeinsamer Ausrichtung beruhen und unseren gemeinsamen Interessen entsprechen.
    Meine Damen und Herren, unsere Bemühungen im Rahmen der Regierungskonferenz über die Politische Union gelten in besonderem Maße der Stärkung der Rechte und Kompetenzen des Europäischen Parlaments. Es kommt hier die Stunde der Wahrheit für viele in EG-Europa: In der Frage, wie wir das Parlament, das im Sommer 1994 gewählt wird, mit Kompetenzen ausstatten wollen, zeigt sich auch etwas von der Überzeugungskraft der europäischen Idee. Wir haben Vorschläge eingebracht für die Wahl des Präsidenten und der Mitglieder der EG-Kommission, für die Ausweitung der Rechte des Parlaments im Haushaltsbereich und bei den Außenbeziehungen und für den Einstieg in eine echte Mitentscheidung des Parlaments in der Gesetzgebung.
    Schließlich ist die Einbeziehung der Kernbereiche polizeilichen und justizpolitischen Handelns in die Gemeinschaftsverträge ein wichtiges Anliegen. Der Wegfall aller Grenzkontrollen innerhalb der Gemeinschaft ist Kern des Europäischen Binnenmarktes, ein Stück „Europa der Bürger".
    Hieraus gibt es enorme Konsequenzen etwa im Bereich der inneren Sicherheit. Wir brauchen vordringlich eine gemeinsame europäische Einwanderungs- und Asylpolitik. Ich will jetzt schon warnend darauf hinweisen: Angesichts der kritischen Entwicklungen in nicht wenigen Staaten Mittel-, Ost- und Südosteuropas ist die Frage eines gemeinsamen europäischen Asylrechts von entscheidender Bedeutung.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Vogel [SPD]: Richtig!)

    Ich nenne ein anderes Beispiel, nämlich die Bekämpfung des organisierten internationalen Verbrechens, des Terrorismus und vor allem der Drogenmafia. Die neuesten Zahlen über den weltweiten Umsatz der Drogenmafia, vor allem in den großen Industrienationen, zeigen, daß wir hier bereits Größenordnungen des Jahresetats großer Industrieländer erreichen.

    (Dr. Dregger [CDU/CSU]: Mein Gott!)

    Ich bin ganz sicher, daß wir bei allem Sinn für föderalistische Strukturen und nationales Denken scheitern werden, wenn wir nicht fähig sind, sehr bald eine internationale Polizeiorganisation auf den Weg zu bringen, die hier tatkräftig zupacken kann. Das ist eine Voraussetzung für viele ganz wichtige Entwicklungen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Die Verwirklichung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion bleibt unser Ziel. Wir stehen zu den inhaltlichen und zeitlichen Vorgaben, die wir im Oktober letzten Jahres in Rom festgelegt hatten. Sie stimmen mit unseren grundsätzlichen Vorstellungen



    Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
    überein. Wir werden davon nicht abgehen. Ich sage noch einmal: Beide Konferenzen gehören für uns zusammen.
    Der dynamischen Entwicklung in der Gemeinschaft stehen zunehmende Schwierigkeiten im Bereich des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe gegenüber. Ab 1. Januar dieses Jahres wird der Handel unter den Mitgliedstaaten in konvertibler Währung verrechnet. Dieser marktwirtschaftlich logische Schritt stellt das bisherige planwirtschaftlich gesicherte System jedoch insgesamt in Frage. Die Entwicklung hat enorme Konsequenzen für uns.
    Erstens gerät die Reformentwicklung in den Staaten Mittel-, Ost- und Südosteuropas immer mehr unter Druck, was zu weiteren Entlastungswünschen an die Adresse der westlichen Staaten führt. Alle Wege von Mittel-, Ost- und Südosteuropa führen, auch so verstanden, über Deutschland.
    Zweitens drohen, wie sich in den neuen Bundesländern zeigt, traditionelle Austauschbeziehungen abzureißen, Beziehungen, die wir doch alle unter marktwirtschaftlichen Vorzeichen fortsetzen wollen. Das heißt, daß wir alles tun müssen, um einen Beitrag zu leisten, daß sich die Idee der Marktwirtschaft dort durchsetzt.
    Wir wissen genau, daß der weitere Erfolg entscheidend von der Lösung der großen wirtschaftlichen und sozialen Probleme abhängt. Der polnische Ministerpräsident Bielecki hat mir in der vergangenen Woche in aller Eindringlichkeit die Entwicklung in seinem Land und auch den Willen dargelegt, die Reformen konsequent fortzusetzen. Ich habe unsere Bereitschaft angekündigt, dafür einzutreten, daß die westlichen Länder diesen Weg Polens und auch der anderen Reformstaaten weiterhin stützen. Aber, es muß vor allem in den Ländern selber das Notwendige an Entscheidungen getroffen werden; denn Hilfe von außen kann nur Hilfe zur Selbsthilfe sein.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Gerade weil wir die deutsche Einheit nicht zuletzt den Reformbewegungen in der Tschechoslowakei, in Polen, in Ungarn zu verdanken haben, sollen diese Länder wissen, daß wir im Rahmen unserer Möglichkeiten helfen wollen.
    Aber wahr ist auch, daß die deutsche Hilfe bereits jetzt weit über das Engagement anderer westlicher Länder hinausgeht. Ich sage das nicht, um diese Tatsache zu beklagen. Ich verstehe diese Leistung als eine Abschlagszahlung auf die Zukunft, auf den Frieden, denn in Europa dürfen keine neuen Wohlstandsgrenzen entstehen. Welch eine Vorstellung, daß sich an der deutsch-polnischen Grenze eine Entwicklung vollziehen könnte, die dann als Wohlstandsgrenze verstanden würde! Das wäre eine katastrophale Entwicklung für die Zukunft. Das kann nicht Ziel unserer Politik sein.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD und beim Bündnis 90/GRÜNE)

    Man kann es auch anders sagen: Wir wollen die Gräben der Ideologie überwinden, aber wir wollen nicht durch ein soziales Gefälle neue Gräben aufreißen.
    Das vereinte Deutschland mißt den Beziehungen zur Sowjetunion zentrale Bedeutung bei. Wir wollen, daß Präsident Gorbatschow seine Politik des neuen Denkens und seinen außenpolitischen Kurs der Zusammenarbeit fortsetzen kann. Wir wünschen ihm Erfolg.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD und beim Bündnis 90/GRÜNE)

    Angesichts mancher internationaler und nationaler Stimmen möchte ich hier noch einmal klar betonen: Ich habe keinen Grund, daran zu zweifeln, daß er die Politik der Perestroika fortsetzen will. Ich habe Grund, zu danken, denn er hat seine Zusage eingehalten, bis Mitte März die Zustimmung zum Zwei-plus-Vier-Vertrag im Obersten Sowjet zu erreichen.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD und beim Bündnis 90/GRÜNE)

    Auch das ist von vielen angezweifelt worden. Wir sollten dankbar erwähnen, daß diese Zusage eingelöst wurde. Der Oberste Sowjet hat zugleich den Vertrag vom 3. November über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit wie auch den deutsch-sowjetischen Wirtschaftsvertrag gebilligt. Das heißt, die Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern stehen auf einem festen und soliden Fundament. Wir wollen auch in Zukunft berechenbare Partner füreinander sein.
    Die Aussöhnung der Deutschen mit den Völkern der Sowjetunion ist ein entscheidender Schritt auch auf dem Weg zu einem größeren Europa, das politisch, wirtschaftlich und sozial zusammenwachsen soll.
    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das vereinte Deutschland ist gefordert und bereit, diesen Weg zu gehen im Geist der Partnerschaft, der guten Nachbarschaft, der Solidarität. Wir wollen ihn zusammen mit den anderen Völkern Europas und auch an der Seite unserer Freunde in den Demokratien Nordamerikas gehen. Die Einheit in gemeinsamer Freiheit, die wir im vergangenen Jahr wiedererlangt haben, bedeutet für uns Deutsche vor allem eine gemeinsame Verpflichtung. Wir wollen uns dieser Pflicht stellen, besonders im Interesse kommender Generationen, am Ende eines Jahrhunderts, das viel Leid und Elend sah und das in Europa — wie wir alle hoffen dürfen — einen guten, einen versöhnlichen Ausklang finden wird.
    Ich darf uns alle einladen, auf diesem Weg ein Stück Miteinander zu finden.

    (Langanhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)