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    Plenarprotokoll 12/14 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 14. Sitzung Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 Inhalt: Tagesordnungspunkt 2 (Fortsetzung): a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1991 (Haushaltsgesetz 1991) (Drucksache 12/100) b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Der Finanzplan des Bundes 1990 bis 1994 (Drucksache 12/101) Dr. Hans-Jochen Vogel SPD 737 B Dr. Alfred Dregger CDU/CSU 747 D Dr. Gregor Gysi PDS/Linke Liste . . . 752A Dr. Otto Graf Lambsdorff FDP 756 C Dr. Klaus-Dieter Feige Bündnis 90/GRÜNE 760D Dr. Günther Krause (Börgerende) CDU/ CSU 764 A Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler 764 D Karsten D. Voigt (Frankfurt) SPD . 777D, 791C Dr. Carl-Ludwig Wagner, Ministerpräsident des Landes Rheinland-Pfalz 783 A Florian Gerster (Worms) SPD 785 C Gerd Poppe Bündnis 90/GRÜNE 787 C Dr. Klaus Rose CDU/CSU 789 B Hans-Dietrich Genscher, Bundesminister AA 790D, 791D Dr. Ingomar Hauchler SPD 796D Dr. Karl-Heinz Hornhues CDU/CSU . . . 799B Dr. Rose Götte SPD 801B Irmgard Karwatzki CDU/CSU 803 A Dr. Barbara Höll PDS/Linke Liste . . . 804 D Dr. Sigrid Hoth FDP 806 A Christina Schenk Bündnis 90/GRÜNE 807D, 814 A Norbert Eimer (Fürth) FDP 808 C Norbert Eimer (Fürth) FDP 809 D Hannelore Rönsch, Bundesminister BMFuS 809D, 815 B Dr. Rose Götte SPD 812B Dr. Barbara Höll PDS/Linke Liste . . 812C Gudrun Weyel SPD 813A Margot von Renesse SPD 814 C Angelika Barbe SPD 815A, 820C Dr. Konstanze Wegner SPD 815C Maria Michalk CDU/CSU 818 A Ingrid Matthäus-Maier SPD 820A Dr. Angela Merkel, Bundesminister BMFJ 820C, 827 B Regina Kolbe SPD 822D Dr. Konrad Elmer SPD 823 A Dr. Edith Niehuis SPD 823 D Dr. Joseph-Theodor Blank CDU/CSU 824 C II Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 Ursula Männle CDU/CSU 827 C Doris Odendahl SPD 829A Uta Würfel FDP 829 C Dr. Konrad Elmer SPD 830 B Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister BMI 830 B Gerd Wartenberg (Berlin) SPD 833 B Dr. Burkhard Hirsch FDP 836 B Johannes Gerster (Mainz) CDU/CSU . . 837D Dr. Burkhard Hirsch FDP 839 B Dr. Gerhard Riege PDS/Linke Liste . . 840B Ingrid Köppe Bündnis 90/GRÜNE . . . 842 C Wilfried Seibel CDU/CSU 843 C Johannes Gerster (Mainz) CDU/CSU . 843 D Doris Odendahl SPD 845 B Dr. Hans de With SPD 847 A Erwin Marschewski CDU/CSU 849 B Dr. Wolfgang Ullmann Bündnis 90/GRÜNE 851A Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister BMJ . 852 C Nächste Sitzung 856 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 857* A Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt 2 a) Erste Beratung des von der Bundesregierunmg eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1991 (Haushaltsgesetz 1991) b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung — Der Finanzplan des Bundes 1990 bis 1994 Michael Glos CDU/CSU 857* C Wolfgang Roth SPD 858* D Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) FDP . . 862* D Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) PDS/ Linke Liste 863* D Werner Schulz (Berlin) Bündnis 90/GRÜNE 864* C Dr. Rudolf Sprung CDU/CSU 866* B Dr. Uwe Jens SPD 868* B Kurt J. Rossmanith CDU/CSU 830*A Jürgen W. Möllemann, Bundesminister BMWi 871*B Bernd Wilz CDU/CSU 873* D Walter Kolbow SPD 875* B Carl-Ludwig Thiele FDP 878* D Andrea Lederer PDS/Linke Liste 880* B Vera Wollenberger Bündnis 90/GRÜNE 881* C Hans-Werner Müller (Wadern) CDU/CSU 883* B Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 737 14. Sitzung Bonn, den 13. März 1991 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Augustin, Anneliese CDU/CSU 13. 03. 91 Bierling, Hans-Dirk CDU/CSU 13. 03. 91 ** Brandt, Willy SPD 13. 03. 91 Bühler (Bruchsal), Klaus CDU/CSU 13. 03. 91 * Conradi, Peter SPD 13. 03. 91 Dr. Däubler-Gmelin, SPD 13. 03. 91 Herta Dempfwolf, Gertrud CDU/CSU 13. 03. 91 Dr. Fell, Karl H. CDU/CSU 13. 03. 91 Fuchs (Köln), Anke SPD 13. 03. 91 Funke, Rainer FDP 13. 03. 91 Frhr. von Hammerstein, CDU/CSU 13. 03. 91 C.-D. Dr. Hennig, Ottfried CDU/CSU 13. 03. 91 Heyenn, Günther SPD 13. 03. 91 Horn, Erwin SPD 13. 03. 91 ** Ibrügger, Lothar SPD 13. 03. 91 ** Jaunich, Horst SPD 13. 03. 91 Kleinert (Hannover), FDP 13. 03. 91 Detlef Kossendey, Thomas CDU/CSU 13. 03. 91 Krause (Dessau), CDU/CSU 13. 03. 91 Wolfgang Dr. Kübler, Klaus SPD 13. 03. 91 Lenzer, Christian CDU/CSU 13. 03. 91 * Lowack, Ortwin CDU/CSU 13. 03. 91 ** Maaß (Wilhelmshaven), CDU/CSU 13. 03. 91 Erich Mischnick, Wolfgang FDP 13. 03. 91 Paintner, Johann FDP 13. 03. 91 Dr. Probst, Albert CDU/CSU 13. 03. 91 Rawe, Wilhelm CDU/CSU 13. 03. 91 Dr. Reinartz, Bertold CDU/CSU 13. 03. 91 Schaich-Walch, Gudrun SPD 13. 03. 91 Dr. Scheer, Hermann SPD 13. 03. 91 * Schmidt (Spiesen), Trudi CDU/CSU 13. 03. 91 Dr. Schneider CDU/CSU 13. 03. 91 (Nürnberg), Oscar Schulte (Hameln), SPD 13. 03. 91 ** Brigitte Dr. Sperling, Dietrich SPD 13. 03. 91 Weiß (Berlin), Konrad Bündnis 90/ 13. 03. 91 GRÜNE * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ** für die Teilnahme an Sitzungen der Nordatlantischen Versammlung Anlagen zum Stenographischen Bericht Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt 2 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1991 (Haushaltsgesetz 1991) b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung - Der Finanzplan des Bundes 1990 bis 1994 Michael Glos (CDU/CSU): Wenn Karl Marx die ökonomischen und ökologischen Hinterlassenschaften seiner Erben in Osteuropa betrachten könnte, er würde sich noch heute im Grabe herumdrehen. Er könnte nur noch bitten: „Proletarier aller Länder verzeiht mir! " Der Bundesfinanzminister hat gestern im einzelnen jene finanziellen Leistungen erläutert, die der Bund und die westlichen Länder zur ökonomischen, ökologischen und sozialen Sanierung der ehemaligen DDR zur Verfügung stellen. Damit werden die Voraussetzungen zur Finanzierung der Länder- und Kommunalhaushalte, zur notwendigen Anpassung der Infrastruktur an das westliche Niveau und zur Übernahme unseres sozialen Sicherungsnetzes geschaffen. Dies alles ist mit hohen finanziellen Aufwendungen verbunden. Allerdings stehen jetzt genügend Finanzmittel zur Verfügung, so daß der wirtschaftliche Aufschwung am Geld nicht scheitern kann. Die Probleme sind nicht über Nacht entstanden, sie können deshalb auch nicht von einem auf den anderen Tag bewältigt werden. Das Gebot der Stunde lautet deshalb: Solidarität in den alten und Geduld in den neuen Ländern! Auch wenn es ohne Zweifel sowohl Grenzen der Solidarität als auch Grenzen der Geduld gibt, so bin ich doch sicher: Gemeinsam werden wir es schaffen! Der Aufbau der Infrastruktur, die Beseitigung der Altlasten im Umweltbereich, der Aufbau effizienter Verwaltungen und nicht zuletzt die Durchführung von Investitionen zur Schaffung neuer und Sicherung bestehender Arbeitsplätze und damit der schrittweise Abbau der zu Beginn der Währungsunion von den meisten unterschätzten Produktivitätslücke zwischen West und Ost - dies alles erfordert Zeit. Wir müssen deshalb all jene warnen, die glauben die Sanierung der neuen Länder könne sich quasi an einem Terminplan orientieren nach dem Muster: 8. November 1989 Öffnung der Mauer - 1. Juli 1990 Währungsunion, 3. Oktober 1990 Vollendung der Einheit und 1. Dezember 1991 endgültige Beseitigung aller Unterschiede in den Lebensbedingungen. Wir müssen uns vielmehr im klaren sein: Beim sich jetzt vollziehenden Übergang von einer sozialistischen Planwirtschaft in ein marktwirtschaftliches System handelt es sich ja nicht um einen evolutionären Schritt, sondern um einen revolutionären Sprung, für den es in der bisherigen Wirtschaftsgeschichte kein historisches Vorbild und in den Werken der Nationalökonomie keine praktische Handlungsanweisung gibt. Auch aus diesem Grunde empfehle ich dringend, die Erwartungen realistisch zu formulieren und nicht nach wenigen Monaten Marktwirtschaft die sofortige Beseitigung der vor Öffnung der Mauer sicherlich von 858* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn. Mittwoch, den 13. März 1991 vielen erheblich unterschätzten Erblast des Sozialismus zu verlangen. Auch ich habe das Ausmaß der Erblast in den neuen Bundesländern unterschätzt. Ein Großteil der aktuellen wirtschaftlichen Schwierigkeiten rührt allerdings vom nahezu vollständigen Zusammenbruch des Handels mit den ehemaligen RGW-Staaten. Dort sind die Hinterlassenschaften des real existierenden Sozialismus noch grausamer als in der ehemaligen DDR. Geduld brauchen wir auch für die Einkommensentwicklung. Wer bei Löhnen und Gehältern angesichts der enormen Produktivitätslücke eine sofortige Angleichung der Tarife in Ost und West fordert, der läuft Gefahr, damit einen Beitrag zur Entstehung dauerhafter Massenarbeitslosigkeit zu leisten. Bei der Angleichung der Löhne stehen die Tarifpartner vor einem Dilemma: Eilt die Lohn- der Produktivitätsentwicklung voraus, droht Dauerarbeitslosigkeit. — Verläuft der Anpassungsprozeß zu langsam, drohen die Pendlerbewegungen und die Abwanderung von Fachkräften zu einem Dauerzustand zu werden. Eine passive Sanierung der neuen Länder kann jedoch nicht das Ziel unserer Wirtschaftspolitik sein. Deshalb müssen die Tarifpartner bei dieser Gratwanderung verstärkt zu einer Differenzierung der Lohnstruktur greifen, damit die gut ausgebildeten Fachkräfte im Land bleiben. Zur Solidarität gehört allerdings auch eine maßvolle Lohnpolitik bei uns. Die Warnstreiks der ÖTV sind in dieser Hinsicht leider kein ermutigendes Zeichen. Mit dem Bundeshaushalt 1991 und hier insbesondere mit dem Gemeinschaftswerk für den Aufschwung im Osten schaffen wir die finanziellen Rahmenbedingungen für die Entsorgung der sozialistischen Altlasten. Vorbildliche finanzielle Rahmenbedingungen reichen jedoch zur Sanierung der neuen Länder nicht aus. Wichtiger als Finanzmittel und Investitionspauschalen sind nach meiner Überzeugung grundlegende Änderungen im mentalen Bereich unserer Mitbürger in den neuen Ländern. Ich warne jedoch vor einer Oberlehrerhaltung seitens des Westens. Erforderlich ist Fingerspitzengefühl. Die Menschen drüben brauchen Hilfe und Unterstützung von uns, damit sie das notwendige Vertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit entwickeln können. Die neuen Mitbürger waren 40 Jahre lang quasi Sozialuntertanen des Zentralkommitees einer Partei. Ihr Denken war ausgerichtet auf die Erfüllung der von oben kommenden Planauflagen. Raum für selbständiges Denken, für Eigenverantwortung, für Eigeninitiative blieb dabei nicht viel. Kurz: Die Menschen müssen erst lernen, in marktwirtschaftlichen Kategorien zu denken. Dies gilt für Betriebsleiter und Arbeitnehmer ebenso wie für selbständige Landwirte, Handwerker und Freiberufler, aber auch für die im Aufbau befindlichen Verwaltungen. Gerade hier müssen verstärkt Initiativen ergriffen werden, um Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes, Beamte und Angestellte, zu veranlassen, in die neuen Bundesländer zu gehen. Es muß sich für die Mitarbeiter sowohl der Privatwirtschaft als auch des öffentlichen Dienstes karrierefördernd auswirken, am Wiederaufbau in den neuen Ländern mitzuwirken. Es gehört deshalb auch zum Gemeinschaftswerk, den betroffenen Menschen bei der Übernahme marktwirtschaftlicher Denkkategorien zu helfen. An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich die diesbezüglichen Bemühungen der Unternehmen, der Wirtschaftsverbände, der Handwerks- sowie der Industrie- und Handelskammern hervorheben. Ein dauerhafter Aufbruch im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereich wird nur gelingen, wenn es uns gemeinsam gelingt, diese vom doktrinären Menschenbild des Sozialismus herrührenden mentalen Altlasten zu beseitigen. Die jüngsten Zahlen bezüglich der Gewerbeanmeldungen und der Inanspruchnahme der ERP-Programme stimmen zuversichtlich. Auch in den neuen Ländern muß sich der Mittelstand zum Rückgrat der Wirtschaft entwickeln. In der jetzigen Phase erfordert das auch eine gezielte Mittelstandspolitik der neuen Landesregierungen. Ich denke dabei vor allem an eine Bevorzugung der neuen mittelständischen Unternehmen, vor allem der Handwerksbetriebe, bei der Vergabe öffentlicher Aufträge. Eine weitere Starthilfe muß darin bestehen, daß die öffentlichen Auftraggeber dem neuen Mittelstand bei der Bearbeitung von Ausschreibungen behilflich sind; denn es kann niemand von diesen Unternehmen erwarten, sofort und ohne fremde Hilfe mit schwierigen Regelungen wie VOB oder VOL fertig zu werden. Es geht jetzt nicht darum, darüber zu streiten, wer wann welche Kosten richtig oder falsch eingeschätzt hat. Es geht vielmehr darum, mit realistischem Optimismus das große Gemeinschaftswerk zügig umzusetzen, um so dem gemeinsamen Ziel der Angleichung der Lebensverhältnisse ein entscheidendes Stück näher zu kommen. Wolfgang Roth (SPD): Die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung steht im Osten Deutschlands vor dem Abgrund. Illusionen, Fehleinschätzungen, mangelnde Analyse der Wirklichkeit und die eigene Handlungsunfähigkeit haben dazu geführt. Die Bundesregierung hat dies verschuldet, weil sie die Bedeutung der Aufgabe der wirtschaftlichen Vereinigung stets falsch eingeschätzt hat. Sie hat letztes Jahr den Eindruck erweckt, als ob die Marktwirtschaft die Probleme praktisch im Selbstlauf lösen würde. Laßt tausend Mittelstandsblumen blühen; das war die Hoffnung, die bald zur Illusion wurde. Nun zeigt sich: Die wirtschaftliche Situation in den neuen Bundesländern ist dramatisch, es gibt keine Entwarnung. Im Gegenteil: Unsere Befürchtungen wurden leider Wirklichkeit und durch viele Fehler der Bundesregierung noch übertroffen. Wie oft wurde im letzten Jahr der schnelle Erfolg der Marktwirtschaft in der DDR vorhergesagt? Jetzt wird langsam und verschämt eingeräumt, daß alles viel schwieriger wird. Eines kann aber leider nicht durchgehen: Man habe das alles nicht gewußt. Daß Sie es nicht wissen wollten, das ist wahr. Aber hier im Deutschen Bundestag ist die gewaltige Herausforderung oft genug zutreffend beschrieben worden. Sie wollten es nur nicht hören. Ich tue mich übrigens bei der Meinungsbildung schwer, ob der Herr Bundeskanzler gelogen hat oder ob er sich selbst getäuscht Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 859* hat. Seiner Verantwortung gerecht geworden ist er auf keinen Fall. Die Bilanz der Wirtschaftspolitik der Bundesregierung in den neuen Bundesländern ist eine Bilanz der Versäumnisse und Illusionen. Die Idelogie hat den Blick verstellt. Man wollte den großen staatlichen Handlungsbedarf einfach nicht zur Kenntnis nehmen, den eine funktionstüchtige Marktwirtschaft als Grundlage braucht. Das war nichts anderes als unterlassene Hilfeleistung. Notwendige Maßnahmen wurden gar nicht, zu spät, unzureichend oder konzeptionslos ergriffen. Erst jetzt schimmert manchmal Einsicht durch, die Katastrophe zu benennen und zuzugeben, daß sich die Bundesregierung bei der Einschätzung der Entwicklung in der DDR selbst getäuscht hat. Allerdings hat der Lernprozeß viel zu lange gedauert. Der Zeitverlust bedeutet zum Schaden der Bundesrepublik höhere Kosten im Westen und längere Aufbauzeiten im Osten. Die volkswirtschaftlichen Kosten werden unerträglich nach oben getrieben. Übrigens: Uns wäre es wirklich lieber gewesen, wir hätten uns bei der Prognose geirrt. Leider muß ich sagen, wir haben recht behalten. Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit bewegen sich in Richtung der 3-MillionenGrenze. Die Produktion ist kollabiert. Am Außenhandel mit Osteuropa hing jeder fünfte Arbeitsplatz. In diesem Jahr bleiben trotz der bisherigen Stützungsmaßnahmen davon kaum welche übrig. Die Abwanderung nach Westen geht weiter, Apathie und Resignation breiten sich aus. Die Aggressivität steigt. Dies ist das Ergebnis falscher Versprechungen der Bundesregierung. Marktwirtschaft in der früheren DDR, das wollten die Menschen. Aber sie wollten eine Marktwirtschaft, in der die Rahmenbedingungen stimmen. Sie wollten eine soziale Marktwirtschaft, keine ideologischen Predigten. Was ist das aber für eine Marktwirtschaft, in der unklare Eigentumsverhältnisse keinerlei Investitionssicherheit gewährleisten? Was ist das für eine Marktwirtschaft, in der Länder und Gemeinden in den neuen Ländern nun über Monate so gut wie pleite sind? Was ist das für eine Marktwirtschaft, in der die öffentliche Verwaltung praktisch handlungsunfähig ist, in der Investoren verläßliche Entscheidungen nicht bekommen? Wir haben im letzten Jahr permanent vor der Verharmlosung der Übergangsprobleme gewarnt. Natürlich war die Währungsunion notwendig, aber die schlechte Vorbereitung dieser wichtigsten Aufgabe der deutschen Wirtschaftspolitik seit der Währungsreform 1948 ist von Ihnen verschuldet. Aber es hilft nun nichts. Wir müssen das Ruder herumreißen. Jetzt sind Nachbesserungen notwendig. Daher habe ich die Vorstellungen des neuen Wirtschaftsministers Möllemann für seine wirtschaftspolitische „Strategie Ost" als ersten Schritt in die richtige Richtung begrüßt. Möllemann hat durch seinen Kurswechsel alle Reden von Waigel und Lambsdorff Lügen gestraft. Erstmals hat damit die Bundesregierung öffentlich zugegeben, daß die Opposition die Entwicklung in den neuen Ländern frühzeitig richtig eingeschätzt hat und auch die richtigen Therapievorschläge gemacht hat. Ob dieser Realismus anhält, werden wir genau beobachten. Leider beginnt auch bei Möllemann schon wieder der Selbstbetrug. Während Minister Möllemann bei der Vorstellung seines Papiers vor einem Monat noch von 3 Millionen Arbeitslosen in den fünf neuen Ländern im Jahr 1991 sprach, blieben davon im Jahreswirtschaftsbericht nur noch 1,1 bis 1,4 Millionen übrig. Mit Durchschnittsrechnungen und Tricks, was die Kurzarbeit anbetrifft, hat er nun das Problem erneut verharmlost. Kommt sie wieder, die alte Tendenz zur Verharmlosung und Gesundbeterei, Herr Möllemann? Ich hoffe nicht, daß Ihre wirtschaftspolitischen Vorschläge von Ihrer Partei und Ihrer Koalition wieder auf Stromlinienform gebracht werden. Dann nämlich bestünde die Gefahr, daß Sie ein weiterer in der Reihe der Ankündigungsminister im Kabinett Kohl werden. Übrigens sollten Sie wissen: Wer so viel Wind macht wie Sie, kann nicht auf Milde rechnen, wenn er Ausweichmannöver macht. Die Bundesregierung hat nun ihre Finanzpolitik korrigiert. Abgesehen von den skandalösen sozialen Ungerechtigkeiten dieser Operation ist jetzt Spielraum für die wirtschaftliche Vereinigung entstanden. Aber: Nachdem nun Geld da ist, kommt es um so mehr darauf an, wirtschaftspolitisch sinnvolle Maßnahmen auch tatsächlich zu ergreifen, nicht nur darauf, sie anzukündigen. Die Bundesregierung zaudert immer noch, die grundlegenden Voraussetzungen für Investitionen wirklich herzustellen. Die ungeklärten Eigentumsverhältnisse sind eines der wichtigsten Investitionshemmnisse. Die investionsfeindliche Fehlentscheidung im Einigungsvertrag haben wir Bundeskanzler Kohl und vor allem Graf Lambsdorff zu verdanken. Ohne klare Eigentumsverhältnisse geht nun einmal nichts. Das haben der Ihnen nicht gerade fernstehende Kronberger Kreis und Professor Engels von der „Wirtschaftswoche" im Dezember glasklar festgestellt: Man hat nicht den Eindruck, daß es die Weisheit erfahrener Juristen war, die dem Gesetzgeber die Hand geführt hat, als dieser den Restitutionsanspruch auf Grundvermögen — in Konkurrenz zum Entschädigungsanspruch — ausgestaltete, um den geschädigten Grundeigentümern eine Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, die Millionen anderen Geschädigten des Unrechtsstaates vorenthalten bleiben muß, ja, die zur Folge hat, daß diese anderen nun noch länger als eigentlich nötig auf eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen warten müssen. Allmählich hat sich auch bis zur Bundesregierung herumgesprochen, daß Unternehmen nicht auf Grundstücken investieren, deren endgültiger Eigentümer unbekannt ist. Eine eindeutige und unbürokratische Klärung — und nur die beseitigt die ökonomischen Barrieren — liefert aber auch der Gesetzentwurf von Minister Kinkel nicht. Das hat die Anhörung im Rechtsausschuß gezeigt. Jetzt wurde nachgebessert, aber der Grundsatz nicht verändert. 860* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 Wir bleiben dabei: Entschädigung muß vor Rückgabe gehen. Investoren müssen Eigentum an Grund und Boden erwerben können. Alteigentümer müssen angemessen entschädigt werden. Nur dann wird diese fundamentale Investitionssperre entschärft. Das zweite Nadelöhr für Investitionen im Osten Deutschlands sind die öffentlichen Verwaltungen. Hier fehlen grundlegende Kenntnisse des bundesdeutschen Rechts. Gesetze müssen aber angewendet, ihre Anwendung muß ordnungsgemäß überwacht werden. Außerdem fehlen Managementfähigkeiten. Wer soll beispielsweise Grundbücher führen oder kommunale Investitionsvorhaben organisieren? Immer mehr stellt sich heraus, daß die Personalausstattung der öffentlichen Verwaltungen in den neuen Bundesländern nur durch einen massiven Personaltransfer grundlegend verbessert werden kann. Appelle helfen da nicht weiter. Organisieren muß das die Bundesregierung. Voraussetzung ist, daß sie nicht nur Mittel bereitstellt, sondern die vorübergehende Tätigkeit von Beamten und Angestellten in den neuen Bundesländern durchsetzt. Berufsbeamtentum bedeutet Vorteile. Deshalb muß eine Abordnung von qualifizierten Beamten in einer kritischen Phase erforderlichenfalls rechtlich durchgesetzt werden können. Wer Privilegien besitzt, wie Schutz vor Arbeitslosigkeit, muß auch besondere Pflichten übernehmen. Der Zusammenbruch der ostdeutschen Wirtschaft verlangt vor allem eines: eine schnelle Reaktion, schnelle wirtschaftspolitische Maßnahmen. Auch der breite Ausbau vor allem der wirtschaftsnahen Infrastruktur muß schnell gehen. Ob die ohnehin überforderten Verwaltungen in den neuen Ländern und ihren Kommunen dies ermöglichen, ist mehr als fraglich. Ich stelle auch in Frage, ob wir alle inhaltlichen und verfahrensmäßigen Anforderungen unseres westdeutschen Planungsrechts in den ostdeutschen Bundesländern aufrechterhalten können. Ohne unverzichtbare Rechte der Bürger aufzugeben, sind doch sicher differenzierte Lösungen im Osten möglich. Wo bleibt das angekündigte Maßnahmengesetz? Falls die Bundesregierung diese grundlegenden Investitionshindernisse nicht ganz schnell beseitigt, läuft die ganze Investitionsförderung ins Leere. Es wäre genauso, als ob man bei gezogener Bremse immer mehr Gas geben würde. Obwohl die neuen Vorschläge von Minister Möllemann in die richtige Richtung gehen, reichen sie nicht aus. Vor allem muß endlich die industrielle Basis der neuen Länder gestärkt werden. Die Produktivität, die Wettbewerbsfähigkeit muß steigen. Arbeitsplätze im Osten werden nicht durch konsumtive Ausgaben geschaffen. Nachbessern ist notwendig. Dazu wird es die Unterstützung der SPD geben, wenn die folgenden Vorschläge, die wir bereits im Februar 1990 veröffentlicht haben, jetzt nach mehr als einem Jahr verwirklicht werden: Erstens. Wir fordern eine massive und gezielte Förderung von privaten Investitionen. Statt der unglaublichen Zersplitterung der bisherigen Förderung auf zinsbegünstigte Kredite, Investitionszulagen und Investitionszuschüsse brauchen alle Unternehmen in der bisherigen DDR für einen befristeten Zeitraum drastische Investitionsfördermaßnahmen. Wir schlagen deshalb eine einheitliche Investitionszulage und Sonderabschreibungen vor. Zweitens. Wir haben seit einem Jahr immer vor der Überschuldung der Betriebe in der früheren DDR gewarnt. Für viele Betriebe sind die Altschulden zu einer Überlebensfrage geworden. Um den verschuldungsbedingten Zusammenbruch dieser Betriebe und den Verlust dringend benötigter Arbeitsplätze zu verhindern, hätte endlich eine Lösung geboten werden müssen. Nichts ist geschehen, was der Treuhand die Entscheidung ermöglicht. Drittens. Eine Überlebenschance für die alten DDR-Betriebe hat die Bundesregierung schon leichtfertig verspielt. Die traditionellen Handelsbeziehungen zu Osteuropa sind schon zusammengebrochen oder gerade dabei. Auch hier können Sie nicht sagen, niemand habe dies gewußt. Der im Staatsvertrag und im Einigungsvertrag zugesagte Vertrauensschutz war für Sie wohl nur eine Floskel. Umgesetzt wurde er jedenfalls nicht. Unnötige Arbeitsplatzverluste haben Sie billigend in Kauf genommen. Bei aller Anerkennung der Vereinbarungen mit der Sowjetunion: Ihr eigentlicher Fehler liegt darin, daß sie ein umfassendes Konzept für die Stützung der Handelsbeziehungen mit allen ehemaligen RGW-Ländern bräuchten, dies aber noch nicht erkannt worden ist. Ich schlage folgende Elemente vor: — Die Streichung der Negativsalden der RGW-Partner gegenüber der ehemaligen DDR in Transferrubeln, — eine befristete zinslose Devisenkreditlinie für Käufer von Produkten aus Betrieben der neuen Bundesländer für alle ehemaligen RGW-Länder, — einen Devisenaufbaufonds mit verlorenen Zuschüssen für die osteuropäischen Länder. Das alles ist viel billiger als die Finanzierung des Nichtstuns in den neuen Ländern. Viertens. Was ist Ihr sturkturpolitisches Konzept, um das Hauptproblem des schwierigen Umstrukturierungsprozesses in den neuen Ländern zu bewältigen: die Lücke zwischen dem schnellen Zusammenbruch nicht wettbewerbsfähiger Unternehmen und dem langsamen Aufbau neuer Beschäftigungsmöglichkeiten zu einem viel späteren Zeitpunkt? Aufgabe der Strukturpolitik in dieser Situation ist es, eine tragfähige Grundlage für neue Wirtschaftsstrukturen zu schaffen und die Zeitspanne bis zum Entstehen neuer Arbeitsplätze zu überbrücken. Plattmachen kann keine Lösung für die neuen Länder sein. Neben der Schaffung neuer Arbeitsplätze muß die Strukturpolitik deshalb auch die Sanierung und Umstrukturierung bestehender Betriebe unterstützen. Die Verantwortung für die Sanierung liegt sicher auf Dauer bei den privaten Unternehmen. Aber natürlich müssen wir auch akzeptieren, daß die maroden Unternehmen im Osten Übergangszeiten in öffentlicher Verantwortung brauchen. So war es übrigens in der Vergangenheit bei VW oder Salzgitter, bei VEBA oder der VIAG im Westen. Warum sollte diese öffentliche Verantwortung im Osten nicht wahrgenommen werden? Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 861* Warum zahlen Sie Milliarden für den Airbus zum Ausgleich des Wechselkursrisikos? Die ostdeutsche Industrie fliegt auch wegen veränderter Wechselkurse aus dem Markt. Da ist es natürlicher Strukturwandel, während die Risiken bei Daimler-Benz für ein Jahrzehnt subventioniert werden. Herr Möllemann, wie sehen die angeblich neuen Akzente der Treuhandpolitik, wie sieht der neue Sanierungsauftrag der Treuhand praktisch aus? Erhard hat Industriepolitik in weniger kritischen Zeiten betrieben, als sie jetzt die östlichen Länder durchmachen. Ich erinnere nur daran, daß er beispielsweise ein staatliches Investitionshilfegesetz durchsetzte, das eine Sonderabgabe für die Industrie erhob. Das Geld kam zwei nachhinkenden Sektoren zugute. Sie wurden also durch die Lenkung von Investitionsmöglichkeiten auf die Beine gebracht. Natürlich brauchen wir Industriepolitik im neuen gemeinsamen Deutschland. Die Treuhand wäre ein geeignetes Instrument dafür. Auch hier haben Sie viel Zeit verspielt. Warum wurde die Treuhand nicht früher besser ausgestattet? Lange Zeit war die größte Holding der Wirtschaftsgeschichte in einer Verfassung, mit der nicht einmal ein mittleres Unternehmen zu führen wäre. Sie haben meine Unterstützung, wenn Sie die Treuhand industriepolitisch nutzen wollen. Dazu ist sie in der Tat besser beim Wirtschaftsministerium auf gehoben — das füge ich hinzu — dieses Haus nicht mit ideologischen Scheuklappen an diese Aufgabe herangeht. Sanierung und Privatisierung dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Aber: oft wird eine ökonomisch sinnvolle Sanierung erst die Voraussetzungen für eine wirtschaftliche Zukunft schaffen können. Betriebe, die nach Vorlage der Eröffnungsbilanz und dem Urteil externer Gutachter als sanierungsfähig eingestuft werden, müssen von der Treuhandanstalt privatisiert werden, damit mit ihrer Sanierung zügig begonnen werden kann. Bei sanierungsfähigen Betrieben, für die kein privater Käufer gefunden wird, der das Risiko einer vollständigen Übernahme eingeht, muß sich die Treuhand auch an der Sanierung beteiligen. Natürlich unter Einbeziehung von privatem Kapital und privatem Management. Nach erfolgter Sanierung können diese staatlichen Betriebe dann verkauft werden. So war es in der Vergangenheit im Westen in der Aufbauphase. Warum haben die Menschen in der früheren DDR weniger Industriepolitik verdient? Nicht mehr rentable Unternehmen müssen in Qualifizierungs- und Beschäftigungsgesellschaften umgewandelt werden. Die Bundesregierung darf nicht länger die Augen davor verschließen, daß übergangsweise viele Beschäftigte ohne Normalarbeitsplatz sein werden. Ihnen müssen wir helfen, ehe sich dieser Zustand verfestigt und viele Menschen in Sozialhilfe und Armut landen. Ich begrüße daher Ihr Vorhaben, nun endlich auch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen innerhalb von Betrieben zu fördern. Setzen Sie es unverzüglich in die Tat um. Unser Beifall kann Ihnen sicher sein, für eine von uns seit einem Jahr geforderte Maßnahme. Die von Arbeitslosigkeit Betroffenen können durch Umschulung, Weiterbildung und Beschäftigung mit sinnvollen Arbeiten im bisherigen Arbeitsumfeld arbeits- und lernfähig bleiben, bis ein neuer Arbeitsplatz zur Verfügung steht. Ihnen müssen zukunftsorientierte Qualifikationen und berufliche Basiskenntnisse für neue Arbeitsplätze vermittelt werden. Sie könnten Aufgaben im öffentlichen Interesse in Wohnumfeld, Umwelt und Infrastruktur erledigen. Aber das geht nur, wenn die Bundesanstalt für Arbeit die Mittel bereitstellt. Es geht auch nur dann, wenn die Bundesregierung endlich einer aktiven Arbeitsmarktpolitik den Vorrang gibt und auch diese Vereinbarung des Einigungsvertrages verwirklicht. Fünftens. Durch die Investitionsförderung kann Produktion nach Ostdeutschland verlagert werden. Aus Patriotismus wird dies jedoch kein Unternehmen tun. Sie werden sich sehr sorgfältig überlegen, ob Geschäfte zumachen sind, d. h. ob die Produktion aus den neuen Betrieben auch absetzbar sein wird. Deshalb muß Nachfrage in die östlichen Bundesländer gelenkt werden. Deshalb muß der Zugang zu öffentlichen Aufträgen für Betriebe aus der ehemaligen DDR erleichtert werden. Bei staatlichen Aufträgen könnte ein bedeutender Teil aus den neuen Ländern bezogen werden müssen. Nur dann wird der Aufbau der neuen Länder auch diesen selbst zugute kommen und Arbeitsplätze dort schaffen. Heilige Kühe darf es hier nicht geben. Die Bundesregierung sollte prüfen, ob nicht die Möglichkeit für die Auftraggeber geschaffen werden kann, daß bis zu zwei Drittel des Auftragsvolumens aus den neuen Ländern geliefert werden muß. Ich sehe sehr wohl die EG-rechtliche Problematik. Aber es müssen sich doch zeitlich befristete Ausnahmeregelungen mit der EG-Kommission vereinbaren lassen. Die Bundesregierung sollte endlich auf dem Verhandlungswege versuchen, die EG zur Genehmigung dieser Ausnahmeinstrumente in einer Ausnahmesituation zu bewegen. Lassen Sie mich noch ein Wort zur heftigen Diskussion über Rüstungsexporte sagen. Auch bei dieser zweiten großen aktuellen Herausforderung der deutschen Wirtschaftspolitik, der Rüstungsexportkontrolle, hat die Bundesregierung versagt. Der legale, genehmigte Export von Rüstungsgütern in Spannungsgebiete geht munter weiter, es gibt inzwischen skandalöse Geschäftsvereinbarungen. Wahr bleibt: Noch im letzten Jahr hat die Koalition aus CDU/CSU und FDP alles unternommen, um die von meiner Fraktion verlangten Verschärfungen der Rüstungsexportgesetze zu unterlaufen. Es ist bekanntlich nur mit Hilfe der Bundesratsmehrheit der A-Länder im September 1990 gelungen, eine Verschärfung der Rüstungsexportkontrollen durchzusetzen, die wir aber bei dieser Gelegenheit schon als nicht ausreichend qualifiziert hatten. Alle unsere weiterreichenden Vorschläge aus den vergangenen Jahren im Anschluß an die Libyen-Giftgasaffäre sind von den Koalitionsparteien verbissen abgelehnt worden. Jetzt liegt das Kind im Brunnen, und jetzt hat es keiner hineinfallen lassen. Aber Herr Möllemann hatte damals fröhlich angefeuert, als das Kind auf den 862* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 Brunnen zulief. Ich erinnere nur an seine Forderung, Leopardpanzer in den Nahen Osten zuliefern: „Leo buchstabiert sich rückwärts als Oel. " Einige von unseren Forderungen aus den Vorjahren sind jetzt aufgegriffen worden, so z. B. die Erhöhung des Strafrahmens und der Wegfall der qualifizierenden Strafbarkeitsvoraussetzungen in § 34 des Außenwirtschaftsgesetzes. Damit ist etwas gewonnen. Dies genügt aber nicht. Wir fordern weiterhin, daß Rüstungsexporte außerhalb des Bündnisses untersagt werden. Wir fordern, daß eine Endverbleibsregelung bei Kooperationsprojekten im Rüstungsbereich wirksam gemacht wird, damit der Endverbleib im Bündnis sichergestellt ist. Die Praxis der Lieferungen von Kooperationspartnern in Spannungsgebiete hat im konventionellen Waffenbereich die Spannungen ebenfalls erheblich gesteigert. Dies darf so nicht weitergehen. Wir haben eigene Vorschläge dazu vorgelegt. Gerade der neue Bundeswirtschaftsminister muß lernen, daß publizistisch der Aktionismus ohne Taten kurze Beine hat und daß es zuallererst auch um eine politische Wendung im Rüstungsexportbereich geht, nämlich darum, das politische Klima des „augenzwinkernden Einverständnisses" und der „stillschweigenden Ermutigung", die unter dieser Bundesregierung eingerissen sind, endlich zu ändern. Ich warne die Koalition davor, das Gesetzgebungsverfahren zu mißbrauchen, um von Fehlern abzulenken. Der von Ihnen auf einmal hochgespielte Zeitdruck soll über Ihre bisherige Untätigkeit hinwegtäuschen. Sie haben nun plötzlich noch nicht einmal mehr Zeit, um die Beratungen in den befaßten Ausschüssen abzuwarten. Die Konzentration auf die innerdeutsche Vereinigung darf nicht zur Vernachlässigung der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion führen. Der Binnenmarkt ist noch nicht fertig. Ich sehe die Gefahr, daß wir bei unserer Neigung zur Nabelschau vergessen, wie wichtig die europäische Einbindung für die deutsche Einheit war und auch weiterhin ist. Die Bundesregierung muß endlich auch dafür sorgen, daß die EG mehr ihrer Verantwortung in der Weltwirtschaft gerecht wird. Ein Rückfall in den kleinkarierten Protektionismus der vergangenen Jahrzehnte würde die Weltwirtschaft stark belasten. Daher ist ein Erfolg bei den Verhandlungen über ein neues Zoll- und Handelsabkommen im Rahmen des GATT für die Bundesrepublik lebenswichtig. Die sich abschwächende Weltkonjunktur, aber auch die rezessiven Tendenzen in den wichtigsten Partnerländern machen das nicht leichter. Leider wird Protektionismus gerade jetzt zum Ausschalten lästiger Konkurrenten attraktiv. Die Bundesrepublik würde durch eine solche Entwicklung in eine besonders schwierige Lage geraten. Als einer der größten Exporteure der Welt müssen gerade wir ein Interesse daran haben, daß der Welthandel offenbleibt. Selbst die USA, aber auch andere europäische Länder können sich die Rolle eines Zaungastes eher leisten. Ohnehin ist die Situation für die deutsche Exportwirtschaft nicht leichter geworden. Durch das Zinsgefälle gegenüber ausländischen Geld- und Kapitalmärkten ist der Wert der D-Mark an den Devisenmärkten gestiegen; gegenüber dem Dollar hat der Wert der D-Mark im Jahr 1990 rund 14 % zugenommen. Beides, rezessive Tendenzen in den Partnerländern und die starke D-Mark, werden nicht ohne Bremsspuren in der deutschen Exportwirtschaft bleiben. Der Erfolg der GATT-Verhandlungen setzt einen akzeptablen Kompromiß im Agrar-Streit voraus. Den hat die Bundesrepublik bisher verhindert. Die von ihr aufgebauten illusionären Verhandlungspositionen der EG haben im Dezember die GATT-Verhandlungen mit zum Scheitern gebracht. Die Feigheit der Bundesregierung gegenüber einer völlig undiskutablen europäischen Agrarpolitik ist unerträglich. Das hat den objektiven Interessen der Bundesrepublik geschadet, im übrigen auch den Interessen der Entwicklungsländer und der osteuropäischen Reformländer. Die Bundesregierung hat bis heute kein Konzept in der Agrarfrage vorgelegt, das die berechtigten Interessen der Landwirte wie die wichtigen Exportinteressen der übrigen Wirtschaft gleichermaßen berücksichtigt. Ist es nicht ein Totalversagen der deutschen Handelspolitik, haben viele Industrievertreter kürzlich an den Kanzler geschrieben und beklagt, daß die Interessen der Industrie ignoriert werden? Ich meine, die Bundesregierung muß endlich zur Kenntnis nehmen, daß die Bundesrepublik kein Agrarland ist. Sie muß endlich sehen, daß der Agrarhaushalt langsam zu einem Sprengsatz der Europäischen Gemeinschaft wird. Die Bundesregierung muß sich endlich auf eine wirksame Hilfe für kleine und mittlere Landwirte ohne Preissubventionen entscheiden. Ich halte es für einen Fortschritt, daß die EG-Kommission jetzt eine durchgreifende Reform der Agrarpolitik vorschlägt. Wieder ist es der deutsche Landwirtschaftsminister, der sich querlegt. Wo ist hier ein klares Wort von Möllemann? Jetzt ist Bundeswirtschaftsminister Möllemann gefordert, seinen Ankündigungen Taten folgen zu lassen. Aber: Die Wirtschaftspolitik muß sich die Fähigkeit erhalten, die großen Herausforderungen dieses Jahres zu lösen. Mehr als bisher muß sie über liebgewordene Vorurteile und eingefahrene Bedenken hinwegsehen. Im Interesse der wirtschaftlichen Vereinigung biete ich dazu unsere Unterstützung an. Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (FDP): Im Bereich des Wirtschaftsministeriums gibt es mit Beginn der neuen Wahlperiode einschneidende Änderungen, die insbesondere die handelnden Personen betreffen. Der neue Bundesminister Jürgen Möllemann wird nach meiner festen Überzeugung wie schon in der vergangenen Wahlperiode im Bildungsministerium den notwendigen neuen Schwung in sein Haus, vor allem aber in die Wirtschaftspolitik bringen. Dies ist um so mehr erforderlich, weil nach der deutschen Vereinigung enorme Aufgaben auf diese Wirtschaftspolitik warten. Drei Aspekten will ich mich in dieser kurzen EtatRede zuwenden: der von Möllemann initiierten Strategie „Aufschwung Ost", den neuen Aufgaben des Wirtschaftsministeriums im Zusammenhang mit dem Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 863* Abzug der sowjetischen Truppen und energiepolitischen Aspekten. Der Schock der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion für die neuen Bundesländer war einschneidender als erwartet: 40 Jahre sozialistischer Mißwirtschaft hatten eine Wirtschaftsstruktur entstehen lassen, die dem freien Spiel der Marktkräfte in nur ganz wenigen Bereichen tatsächlich gewachsen war. Dazu kommt, daß die fehlende Verwaltung, die für westliche Begriffe total marode Infrastruktur, aber auch die Entscheidung mit den Füßen vieler leistungsbereiter Menschen einen Neuaufbau stark verzögern. Die Doppelarbeit „Sanierung bei gleichzeitiger Produktion" sorgt für schwere Einbrüche im Wirtschaftssystem; die dramatische Entwicklung im Bereich der Arbeitsplätze kann nur durch schnelles Handeln abgemildert werden. Dazu kommt der Quasi-Zusammenbruch des gesamten östlichen Wirtschaftssystems, so daß die seitherigen Abnehmer der früheren DDR-Industrieproduktion kaum zahlungsfähig sind. Das Strategiepapier des Wirtschaftsministers von Mitte Februar hat in einem nüchternen Sachstandsbericht die wesentlichen Punkte notwendigen politischen Handelns aufgezeigt. Private Investitionen, vor allem die Schaffung von Arbeitsplätzen, müssen verstärkt gefördert werden, die Privatisierungspolitik zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit bestehender Unternehmen ist fortzusetzen. Unabhängig von den Problemen mit der augenblicklichen Zahlungsfähigkeit der RGW-Staaten darf der Handel mit diesen Ländern nicht abbrechen. Sonderprogramme regionalpolitischer Natur müssen in den Gebieten greifen, in denen mit besonders hohen Arbeitsplatzverlusten zu rechnen ist. Ich will die arbeitsmarktpolitische Flankierung, vor allem die erforderlichen Qualifizierungsmaßnahmen, nicht im einzelnen schildern; auch der Hinweis auf den erforderlichen Ausbau der Verwaltungen und der Infrastruktur ist immer wieder gemacht worden. Sicher ist, daß die Treuhandanstalt eine wichtige Funktion behält, daß es hier aber zu besserer Effektivität der Arbeit kommen muß. Die Frage, bei welchem Ministerium diese Treuhand arbeitet, ist nicht die entscheidende: Sie muß effektiver und vor allem stärker wirtschaftspolitisch orientiert arbeiten. Daß bei ihren Entscheidungen auch die öffentliche Akzeptanz Berücksichtigung finden muß, erwähne ich mit Blick z. B. auf den mir völlig unverständlichen Ablauf bei der DDR-Fluglinie Interflug. Die Ausweitung des Etats des Wirtschaftsministers auf über das Doppelte des früheren Bundesetats hat eine Reihe von Gründen. Wir werden von der Haushaltsseite her die Dinge allerdings sorgfältig und haushälterisch prüfen. Ich sage das mit Blick auf sogenannte Mitnahme-Effekte; das heißt, wo seither zu Recht gespart wurde, darf nicht jetzt nach dem Motto „Darauf kommt es nun auch nicht an" plötzlich der Damm brechen. Eine neue wichtige Aufgabe, die dem Wirtschaftsministerium zugeordnet ist, ist die Flankierung des Abzugs der sowjetischen Truppen. Die Sowjetunion hat einen vertraglichen, aber auch einen moralischen Anspruch darauf, daß ihre zurückkehrenden Soldaten in der Heimat angemessen leben, d. h. wohnen und arbeiten können. Die Kreditanstalt für Wiederaufbau betreut das Programm, wonach im europäischen Bereich der UdSSR ca. 36 000 Wohnungen gebaut werden sollen, die den Soldaten zur Verfügung stehen werden. Sie kennen die öffentliche Diskussion in der Sowjetunion über die Zeitdauer des geplanten Abzugs. Es gibt zwar keinen Grund, die Vertragstreue der Sowjetunion in Frage zu stellen. Tatsache ist aber, daß es zu technischen Abwicklungsproblemen kommt. Wir gehen trotzdem davon aus — und dies werden wir auch finanziell bestmöglich flankieren —, daß der vereinbarte Abzug bis 1994 abgeschlossen sein wird. Die genannten Kosten sind ja gleichzeitig ein Arbeitsbeschaffungsprogramm für das Beitrittsgebiet. Ganz wesentlich werden Baufirmen aus den neuen Bundesländern an der Erstellung der Wohnungen mitwirken. Erlauben Sie einen kurzen energiepolitischen Aspekt: Auch in den neuen Bundesländern wird ein vernünftiger Mix der Energieverbrauchsstruktur notwendig sein. Nach heutigen Pressemeldungen hat der Bundeswirtschaftsminister dem Bau zweier Kernkraftwerke an den bisherigen Kernkraftwerksstandorten Greifswald und Stendal zugestimmt. Hiergegen wird man sich bei aller Skepsis zur Kernenergie in Kenntnis der vorhandenen Situation nicht aussprechen können. Mein dringender Appell geht aber an das Wirtschaftsministerium, keine einseitig auf Produktion und massiven Energieverbrauch orientierte Energiekonzeption zuzulassen. Die Veräußerung der Energiewirtschaft an die westlichen Großkonzerne kann hier schon eine gewisse Besorgnis begründen. Die Chance des Aufbaus einer vernünftigeren Energielandschaft, als sie in der alten Bundesrepublik besteht, darf nicht vertan werden: Aufbau energiesparender Strukturen, bessere Nutzung der Energieträger und natürlich auch bestmöglicher Einstieg in die Verwendung alternativer Energien sind politisch wünschenswert und notwendig. Und das Wirtschaftsministerium sollte gerade unter seiner neuen Führung die Chance in den neuen Bundesländern als Ausgangspunkt einer insgesamt zukunftsorientierten Energiepolitik verstehen. In der schwierigen wirtschaftspolitischen Situation in einem Teil unseres Landes ist dem Wirtschaftsministerium zum tätigen Handeln eine glückliche Hand zu wünschen. Haushaltspolitisch wird die FDP-Fraktion alle notwendigen Maßnahmen flankieren und unterstützen. Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) (PDS/Linke Liste): Die Menschen in der ehemaligen DDR haben im vergangenen Jahr in 4 Wahlen ein eindeutiges Votum für das Gesellschaftskonzept der Bundesrepublik abgegeben. Mehr als 80 % verbanden damit die Erwartung nach mehr Recht und Demokratie, und drei Viertel wollten auch eine schnelle Angleichung der Lebensverhältnisse. Zugegeben, als ich zum erstenmal nach der Wende im Herbst 1989 die westdeutsche Konsumgesellschaft und die ihr zugrunde liegende hocheffektive Wirt- 864* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 schaft erleben konnte, war ich genauso fasziniert. Das ganze im Wahlkampf auszunutzen und Versprechungen zu machen, die natürlich die meisten Menschen ansprachen, war nicht schwer. Es erweist sich aber eindeutig als Trugschluß, daß es auf dem Weg dorthin einfach ausreicht, etwas Altes zu beseitigen. Wenn Herr Friedrich Bohl am 1. März 1991 ausführt — ich zitiere wörtlich — : „Die Überwindung des Sozialismus in den neuen Ländern wäre ohne Steuererhöhung möglich gewesen" , nachzulesen in „Stichworte der Woche", dann verbirgt sich hinter dieser Aussage doch ein ganzes Konzept. Nur hätte man es den Wählern auch vorher so deutlich sagen sollen. Denn die Liquidation der DDR als Ganzes und ihrer, wenn auch uneffektiven Wirtschaft, ohne an deren Stelle gezielt und mit staatlicher Hilfe und Unterstützung etwas Neues zu setzen, war nicht der Wunsch der Wähler. Vielmehr verbanden sich alte soziale Vorstellungen, insbesondere von der Sicherheit des Arbeitsplatzes, mit den Wünschen nach Verbesserung des Lebensstandards. Das wiederum ist aber eben nur erreichbar, wenn echte Struktur- und Wirtschaftskonzepte vorgearbeitet, durchdacht und dann gemeinsam auch in die Tat umgesetzt werden. Daß das alles nicht zum „Nulltarif" zu haben ist, war klar, und die Wähler in Ost und West werden es nicht verstehen, warum die Kosten der Einheit, die ja die meisten Wähler auch verstanden und akzeptiert hätten, einerseits verschwiegen und andererseits noch dadurch künstlich erhöht werden, indem man einen konzeptionslosen Crash-Kurs in der Wirtschaft fährt. Wenn von rund 81 Milliarden DM, die aus dem Haushalt den neuen Ländern zur Verfügung stehen, allein ein Drittel für soziale Aufgaben, darunter ein erheblicher Anteil zur Finanzierung von Kurzarbeits- und Arbeitslosengeld sowie Vorruhestandsgeld, zur Verfügung gestellt wird, aber nur knapp 15 % für die Ankurbelung der Wirtschaft auf der Grundlage des Gemeinschaftswerkes „Aufschwung-Ost" , dann ist doch offensichtlich, daß hier mehr repariert und „kalt gelötet" wird als echt „geschmiedet" . Kalte Lötstellen haben die Eigenschaft, meistens nicht leitfähig zu sein. Nun hofft der Herr Bundeswirtschaftsminister Möllemann, daß seine Maßnahmen endlich greifen, und dem Zitat von Karl Schiller „Nun können die Pferde saufen" setzt er vorsichtigerweise hinzu: „Und ich hoffe und erwarte, sie tun es auch." Nur sehr langsam, und für den rasanten Verfall der ostdeutschen Wirtschaft viel zu langsam, kommt die Erkenntnis bei den Politikern der Koalitionsparteien, daß es sich bei der Eingliederung der ehemaligen DDR nicht um die Gründerzeiten nach 1945 handelt. In dieser Zeit gab es überall nichts. Heute aber steht eine hocheffektive, weltmarkterfahrene, reiche und auf Expansion ausgelegte Industrie des Westens einer völlig anders strukturierten und orientierten Wirtschaft des Ostens gegenüber, die auch noch veraltet und zum Teil staatlich verschuldet war. Diese Erkenntnis bedurfte sicher keiner fünfmonatigen Regierungszeit. Man kann sich eben des Eindrucks nicht erwehren, daß das Ganze nicht als Schicksal abläuft, und das wäre schon schlimm genug, sondern sogar gewollt ist. Denn es bedurfte ja keinerlei staatlichen Regelungsbedarfs über Eigentum, über die Bereitstellung von Grundstücken usw., als es darum ging, die ehemalige DDR als Absatzgebiet zu erobern. Jeder, der es wollte, und viele wollten es, errichteten Verkaufseinrichtungen, übernahmen Vertriebsnetze und kauften sich in den Markt ein. Es gab ja auch viel zu verdienen — für die, die das Geschäft machten, und auch für die, die davon die steuerlichen Mehreinnahmen kassierten. Immerhin betrug der Zuwachs am Bruttoeinkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen im letzten Jahr 9,7 % und damit mehr als jemals in den Jahren zuvor. Nun müßte man glauben, daß die, die daran verdient haben, nun auch verstärkt zu Kasse gebeten werden, doch weit gefehlt. Es wird daran, wie auch an vielen anderen Beispielen, nur zu deutlich, daß nicht die Bundesregierung regiert, sondern das Kapital seinen eigenen Weg geht. Das trifft auch ganz besonders für die Nahrungs- und Genußmittelindustrie der ehemaligen DDR zu. Es gab Anträge in der frei gewählten Volkskammer, den Weg der staatlichen, wirtschaftlichen und sozialen Einheit mit staatlichen Programmen zu begleiten. Sie wurden voller Hohn verworfen. Heute rächt sich das bitter. Werner Schulz (Berlin) (Bündnis 90/GRÜNE): Die Menschen in Ostdeutschland gehen wieder auf die Straße. Am vergangenen Montag in Leipzig waren es mehr als 25 000, die sich mit den Füßen gegen die Politik der Treuhandanstalt zur Wehr setzten. Zu Recht fordern sie ein Konzept, das statt Arbeitslosigkeit zu verwalten, Beschäftigung finanziert. Die Stimmung wird zunehmend explosiv. Das kann niemanden wundern, denn entgegen der zugesagten Verbesserung der Lebensverhältnisse verlieren immer mehr Menschen ihren Arbeitsplatz. Ich verzichte darauf, Ihnen die neuesten Arbeitslosenzahlen der Bundesanstalt für Arbeit hier zu referieren, die Ihnen ohnehin bekannt sein dürften. Statt dessen erinnere ich Sie an einen Kommentar, den der Präsident der BfA, Heinrich Franke, zur Erläuterung der Kurzarbeiterzahlen gegeben hat. Diese Entwicklung, so Franke, deute verstärkt darauf hin, daß hinter der Kurzarbeit nicht nur vorübergehender Nachfrageausfall stehe. Dem ist zuzustimmen. Und weil dem so ist, besteht das dringende Gebot, daß die Bundesregierung mit einer umfassenden überzeugenden wirtschaftspolitischen Konzeption die Probleme im Osten tatkräftig angeht. Zwar haben sich 1990 über eine viertel Million Bürger in den neuen Bundesländern selbständig gemacht, doch allein 45 % davon entfallen auf Handel und Gaststätten. 25 % auf das Handwerk. Größere Produktionsbetriebe sind unter den Neugründungen nicht zu finden. Tausende von Imbißbuden, Videotheken, Getränkeshops oder Gebrauchtwagenhändler können aber nicht wettmachen, was jetzt an Arbeitsplätzen allein in der Textilindustrie oder der vom alten SED-Regime gehätschelten Mikroelektronik wegfällt. Die Wirtschaftspolitik für die ostdeutschen Länder steht unter einem sehr kurzfristigen Erfolgsdruck. Mit Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 865* jedem Tag, der verschenkt und vertan wird, resignieren mehr Menschen, verlassen ihre Heimat und suchen im Westen ihr Glück oder doch zumindest einen Arbeitsplatz. Man kann das Ziel der deutschen Wirtschaftspolitik auf eine einfache Formel bringen: Die Abwanderung von Ost nach West so schnell wie möglich stoppen. Es ist kaum nachvollziehbar, daß die Bundesregierung sich dennoch nicht in der Lage sieht, zeitnah und zuverlässige Übersiedlerzahlen zu veröffentlichen. Sind Sie wirklich so schlecht informiert über die Lage in Deutschland? Fragen Sie doch mal bei den Landesregierungen nach! Der sächsische Wirtschaftsminister beziffert allein die Abwanderung aus Sachsen in die westdeutschen Länder auf monatlich 10 000 Menschen. Zur Umstrukturierung der Wirtschaft in den ostdeutschen Ländern reicht es nicht aus, sie nach dem Bilde der westdeutschen Wirtschaft neu zu orientieren. Vor dem Hintergrund der Probleme in Ostdeutschland gerät allzu leicht in Vergessenheit, daß auch der westdeutsche Wirtschaftsboom zu Lasten der Umwelt und zu Lasten eines großen Teils der Bevölkerung geht. Zeitgleich mit dem notwendigen Aufholen ihres Produktivitätsrückstandes muß der ökologische und soziale Umbau der ostdeutschen Wirtschaft in Angriff genommen werden. Erster und wichtigster Punkt für die wirtschaftspolitische Strategie in den ostdeutschen Ländern ist: Die produktive Struktur, das heißt Betriebe und das heißt Arbeitsplätze, muß soweit irgend möglich erhalten bleiben. Mit der Sanierung aller sanierungsfähigen Betriebe, unabhängig davon, ob sie kurzfristig privatisierbar sind oder nicht, muß sofort begonnen werden. Die Politik der Privatisierung um jeden Preis konnte nicht funktionieren, denn die Privatwirtschaft ist keine Heilsarmee, keine Einrichtung zur Sanierung von Staatsbetrieben. Es ist wohl eher die Ausnahme, daß kapitalistische Unternehmen unproduktive Firmen mit eher trüben Umsatzerwartungen in ihre Übernahmeüberlegungen einbeziehen. Die Sanierung der ostdeutschen Industrie, und das ist unsere Überzeugung, wird entweder zu wesentlichen Teilen aus öffentlichen Haushalten bestritten oder sie wird nicht stattfinden. Daß die Treuhand aktive Sanierungspolitik betreiben muß, erkennt erfreulicherweise jetzt auch die Bundesregierung an. Es fragt sich jedoch, ob sie die daraus folgenden Konsequenzen ebenfalls anzuerkennen bereit ist. Damit fällt nämlich auch der Glaube, die Sanierung sei im wesentlichen durch die Privatwirtschaft, durch Privatkapital zu finanzieren. Der zusätzliche Finanzbedarf, der hier auf die öffentlichen Haushalte zukommt, wird sich nur befriedigen lassen, wenn andere öffentliche Ansprüche an den Kapitalmarkt wirksam zurückgedrängt werden. Die Treuhand hat lange den Eindruck vermittelt, sie würde gar keine Politik machen. Natürlich macht sie Politik. Sie macht Strukturanpassungspolitik, sie macht Industriepolitik, aber sie nennt das nicht so. Aber indem sie das leugnet, entzieht sie sich gleichzeitig der Auseinandersetzung über die Art und Weise, wie sie es macht. Wenn die größte Staatsholding der Welt, und das ist die Treuhand, nach rein betriebswirtschaftlichen Erwägungen alle Betriebsteile, die nicht kurzfristig schwarze Zahlen schreiben können, stillegt, dann ist das Politik, und zwar Kahlschlagpolitik. Diese Politik hat sie, offenbar in Übereinstimmung mit dem Bundesfinanzministerium, bis vor einigen Wochen konsequent betrieben. Die Treuhandanstalt muß in ihrer Politik zu einer volkswirtschaftlichen Sichtweise kommen. Sie muß die gesellschaftlichen Kosten ihres Handelns berücksichtigen, auch wenn sie sich nicht im eigenen Etat widerspiegeln. Wir dürfen nicht zulassen, daß die Treuhandanstalt 1 Million einspart, um gleichzeitig bei der Bundesanstalt für Arbeit 5 Millionen DM zusätzliche Ausgaben zu verursachen. Wenn das Problembewußtsein im Bundesfinanzministerium nicht vorhanden ist, dann ist dies ein Grund mehr, die sachlich ohnehin gebotene Zuordnung der Treuhandanstalt zum Bundeswirtschaftsministerium zu befürworten. Ein zweites tragendes Element einer wirtschaftspolitischen Strategie für Ostdeutschland muß die Entfaltung öffentlicher Nachfrage in den ostdeutschen Ländern sein. Mit der Initiierung des Gemeinschaftswerks Aufschwung-Ost, ist ein erster Schritt in diese Richtung getan. Doch bevor ich zum Inhalt komme, eine Bemerkung zum Namen. Hier liegt schon wieder eine bewußte Täuschung vor. Wieso Gemeinschaftswerk? Tatsächlich handelt es sich doch um ein reines Bundesprogramm. Ich suche vergeblich einen großzügigen, selbstlosen Beitrag der deutschen Wirtschaft zu dem sogenannten Gemeinschaftswerk. Auch der zweite Namensbestandteil, „Aufschwung-Ost" ist mehr Propaganda. In Wirklichkeit hat der Bund ein in vieler Hinsicht noch unzureichendes Nachfrage- und Arbeitsbeschaffungsprogramm aufgelegt. Warum versuchen Sie uns einzureden, es sei anders? Ihr Programm ist im Hinblick auf Zukunftsinvestitionen für die Umwelt und die Infrastruktur viel zu zögerlich ausgefallen. Für diesen Bereich sind erheblich mehr Mittel erforderlich. Es ist abzuwarten, wie die einzelnen Bestandteile des Programms angenommen werden. Wo tatsächlich Bedarf besteht, müssen auch kurzfristig weitere Mittel bereitgestellt werden. Die Ausgabenprogramme des sogenannten Gemeinschaftswerks müssen nicht nur den ostdeutschen Ländern und Gemeinden zugute kommen, sondern auch den in Ostdeutschland ansässigen Betrieben. Eine Umsatzsteuerpräferenz für die ostdeutsche Wirtschaft oder für ostdeutsche Waren und eine Bevorzugung ostdeutscher Anbieter bei der Vergabe öffentlicher Aufträge können die Wirkung eines solchen Nachfragepakets spürbar verstärken. Der keineswegs überraschende, aber verheerende Zusammenbruch des Exports in die RGW-Länder hat die ostdeutschen Länder besonders hart getroffen. Viele an sich durchaus leistungsfähige Betriebe, etwa des Maschinenbaus, stehen mangels Anschlußaufträgen vor dem Aus. Es ist daher unbedingt notwendig, den ostdeutschen Export in die osteuropäischen Länder mit öffentlichen Mitteln zu fördern. Eine Abkoppelung von Osteuropa wäre nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen auf Dauer bedrohlich. 866* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 Sie müßte von unseren europäischen Nachbarn politisch als ein Zeichen zunehmender Selbstbezogenheit der Deutschen gewertet werden. Die Subventionierung unrentabler Exporte in die ehemaligen RGW-Länder kann allerdings nur eine Übergangslösung sein. Doch auch das Milliarden-Geschäft, das Wirtschaftsminister Möllemann aus Moskau mitbrachte, ist risikobehaftet und sollte bei aller Freude genauso viel Vorsicht hervorrufen. Wenn nur ein einziger sowjetischer Betrieb seinen Zahlungsverpflichtungen nicht nachkommt und der deutsche Lieferant die Hermes-Bürgschaft in Anspruch nimmt, darf die Kreditversicherung nach dem sogenannten Länderprinzip kein einziges Geschäft mehr absichern. Neun Milliarden sind dann abzuschreiben und werden sich indirekt belastend auf den Haushalt auswirken. Gleich welche wirtschaftspolitische Strategie die Bundesregierung in den nächsten Monaten verfolgt, die Arbeitslosigkeit wird noch weiter steigen. Damit kommt dem verstärkten Einsatz aller Instrumente der Arbeitsmarktpolitik und einer Politik der sozialen Absicherung eine besondere Bedeutung zu. Ich nenne hier beispielhaft die Einrichtung von Qualifizierungs- und Beschäftigungsgesellschaften sowie zur Einkommenssicherung für diejenigen, die auf Dauer aus dem Arbeitsprozeß ausscheiden, die Anhebung der Sozialhilfesätze und die Verlängerung und Dynamisierung der Sozialzuschläge. Meine Damen und Herren von der Koalition, das freie Spiel der Kräfte führt die Gesellschaft der ehemaligen DDR in eine Abwärtsspirale. Hier verhalten sich zumeist die Unternehmen rational, die ihre Belegschaften radikal abbauen. Privatinitiative des einzelnen heißt nur zu oft Abwanderung nach Westdeutschland. Die Bundesregierung hat seit dem letzten Sommer auf dieses freie Spiel der Kräfte gesetzt. Die Treuhandanstalt hat mitgespielt. Diese Orientierung war falsch und ist falsch. In der jetzigen Übergangssituation sind die Staatskräfte in weit höherem Maße gefordert, als Sie das wahr haben wollen. Dr. Rudolf Sprung (CDU/CSU): Kein Einzelhaushalt spiegelt, allein schon vom Volumen her, die Deutsche Einheit und die daraus erwachsenen Probleme deutlicher wider als der Haushalt des Bundeswirtschaftsministeriums. Die Zuwachsrate beträgt für den vorliegenden Einzelplan 09 110 %. Rechnet man die Ansätze für das Gemeinschaftswerk Aufschwung-Ost hinzu, so ergibt sich eine Steigerungsrate, die auf 150 % zuläuft. Damit schlägt sich insbesondere im Haushalt des Bundeswirtschaftsministeriums das gewaltigste Investitions- und Infrastrukturprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nieder. Um mit dieser Feststellung von vornherein keine Zweifel aufkommen zu lassen: Dieses Programm und die dafür bereitgestellten zusätzlichen Mittel ebenso wie die sich daraus ergebenden Steigerungsraten und Mehrausgaben in den einzelnen Haushaltspositionen sollten unsere Zustimmung über die gesamte Breite des Hauses hinweg finden. Es handelt sich dabei um die finanz- und ordnungspolitischen „Eckpfeiler" für die Schaffung einheitlicher Lebensverhältnisse in ganz Deutschland. Worauf es jetzt ankommt, ist, daß die zur Verfügung gestellten Mittel abfließen, daß die Programme, daß die Maßnahmen so in Gang kommen, wie dies nötig ist, damit die verfolgten Ziele auch erreicht werden. Die Bereitstellung der Mittel ist eine Sache, ihre Verwendung, ihre tatsächliche Inanspruchnahme eine andere. Was diesen Punkt betrifft, so haben wir bereits einschlägige Erfahrungen, nicht nur aus den Monaten vor dem 3. Oktober letzten Jahres, sondern auch aus der Zeit danach. Lassen Sie mich dazu einige zusätzliche Anmerkungen machen: Erstens. Für einen reibungslosen oder auch nur einigermaßen zügigen Ablauf spielen die Verwaltungen auf allen Ebenen eine ausschlaggebende Rolle. Deshalb wurde es höchste Zeit, daß zu ihrem weiteren Auf- und Ausbau aus den alten Bundesländern nunmehr zusätzliche Hilfe möglich wird. Ohne eine funktionsfähige und funktionierende Verwaltung werden die bereitstehenden Mittel zu einem beträchtlichen Teil hängenbleiben. Wer sich umhört in den Ministerien, in den Landkreis- und Stadtverwaltungen in den neuen Bundesländern, kann davon ein Lied singen. Personalkostenzuschüsse und die Einrichtung von „Personaltauschbörsen" sind daher ein Schritt in die richtige Richtung. Darüber hinaus müssen wir jedoch auch unkonventionelle Wege gehen. Dazu zählen für mich insbesondere die vorübergehende Übernahme bzw. Erledigung von besonders vordringlichen Verwaltungsaufgaben in den neuen Bundesländern durch Kommunen, Städte und Landkreise in der alten Bundesrepublik. Warum soll nicht beispielsweise die Verwaltung der Stadt Köln 5 000 Eigentumsanmeldungen der Stadt Leipzig bearbeiten? Mit etwas Phantasie ließen sich so viele Investitionshemmnisse schnell aus dem Weg räumen. Zweitens. Doch dies ist nur die erste Etappe der Umsetzung. Die nächste sind die Unternehmen. Wie sieht es aus mit den vorhandenen Kapazitäten z. B. im Bausektor? Reichen sie aus? Wir wissen aus unseren eigenen Erfahrungen, wie schnell wir bei früheren Konjunkturprogrammen an Kapazitätsgrenzen stießen und nicht nur einmal erleben mußten, daß zusätzliche Ausgaben nur noch zu zusätzlichen Preissteigerungen führten. Auch hier gibt es daher dringenden Anpassungsbedarf, der nur über die Öffnung der Märkte gedeckt werden kann. Drittens. Ein weiterer Engpaß könnte das Angebot an qualifizierten Mitarbeitern in Unternehmen werden. Die Umstrukturierung der Wirtschaft in den neuen Bundesländern ist ja nicht nur mit tief greif enden Veränderungen der Produktionsstrukturen verbunden, sondern eben auch mit grundlegenden Veränderungen im Management, in der Organisation und im Marketing. Wir wissen, wie spezialisiert diese Tätigkeiten zum Teil in unserer Wirtschaft sind. Markt und Wettbewerb erzwingen diese Spezialisierung. Es ist nur natürlich, wenn auch hier Engpässe auftreten. Deshalb sind Qualifizierung und Weiterbildung von größter Bedeutung. Es ist zu begrüßen, daß jetzt die Anreize für Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 867* die Teilnahme an Qualifizierungs- und Weiterbildungsprogrammen verstärkt werden. Damit soll das bereits Geleistete nicht geringgeschätzt werden. Bis Ende 1990 hat die westdeutsche Wirtschaft bereits über 2 Millionen Beschäftigte auf dem Arbeitsmarkt in den fünf neuen Ländern qualifiziert. Diese Qualifizierungsanstrengungen der westdeutschen Wirtschaft auf dem Arbeitsmarkt der fünf neuen Länder sind nachhaltig zu begrüßen und fortzusetzen. Viertens. Auf ein weiteres Hindernis möchte ich aufmerksam machen: Da öffentliche Mittel eingesetzt werden, sind, soweit damit Sachausgaben verbunden sind, öffentliche Ausschreibungen erforderlich, und zwar vielfach nicht nur bundes-, sondern sogar europaweit. Ich meine, daß europaweite Ausschreibungen zumindest für die nächsten zwei Jahre nicht in die Landschaft passen. Der Bundeswirtschaftsminister wird hoffentlich in Brüssel entsprechend intervenieren. Begründungen für eine solche Aussetzung gibt es wahrlich mehr als genug, wenn — und allerdings auch nur dann — Unternehmen in den fünf neuen Ländern vorhanden und in der Lage sind, sich an solchen Ausschreibungen zu beteiligen. Doch auch die Erarbeitung einer Ausschreibung ist eine hochdiffizile Aufgabe: Der Bundeswirtschaftsminister sollte Überlegungen anstellen, wie hier — zumindest vorübergehend — mit vereinfachten Verfahren abgeholfen werden kann. Daß dabei im Rahmen der öffentlichen Auftragsvergabe den Unternehmen, insbesondere dem Mittelstand, in den neuen Bundesländern eine Vorrangstellung einzuräumen ist, brauche ich wohl nicht besonders zu betonen. Der geplante Wohnungsbau im Zusammenhang mit dem Rückzug der sowjetischen Truppen bietet eine erste gute Gelegenheit, Zeichen zu setzen. Wenn auch die jüngsten Entscheidungen wichtige weitere Verbesserungen der Investitionsbedingungen bringen, bleibt doch unübersehbar, daß sämtliche Maßnahmen und die Beseitigung der genannten möglichen Engpässe Zeit benötigen. Das ist alles nicht in wenigen Wochen zu machen, bei aller Bereitschaft, bei allem Engagement, das zweifellos in den fünf neuen Ländern vorhanden ist. Deshalb sollte niemand erstaunt sein, wenn sich zum Jahresende herausstellt, daß nicht alle bereitgestellten Mittel abgeflossen sind. Und nun einige Sätze zum „westlichen Teil" des Haushaltes des Bundeswirtschaftsministeriums: Schwerpunkte des Einzelplans 09 sind, so wie das bisher auch schon der Fall war, die wirtschaftspolitischen Programme. Rund 94 % des gesamten zur Beratung vorliegenden Einzelplanes entfallen auf sie. Wir haben in der Vergangenheit immer wieder beklagt, daß es sich dabei fast ausschließlich um Subventionen handelt. Das hat zu dem bösartigen Vorwurf geführt, daß der Einzelplan 09 letztlich, von den Verwaltungsausgaben einmal abgesehen, ein einziger großer Subventionshaushalt sei. Für den Haushalt des Wirtschaftsministeriums eines Landes, das sich als Gralshüter einer marktwirtschaftlichen Ordnung empfindet, ein bitterer Vorwurf. Es ist begrüßenswert, wenn der Bundeswirtschaftsminister diese Situation nicht nur beklagt, sondern auch die Absicht hat, mit dem Abbau von Subventionen endlich Ernst zu machen. Es ist aber auch wohl davon auszugehen, daß er dabei nicht in erster Linie an andere Einzelpläne, sondern vor allem an seinen eigenen Haushalt gedacht hat. Mit seiner Forderung nach einem massiven Subventionsabbau — 10 Milliarden DM — trägt er nicht nur Forderungen aus vielen Wirtschaftsbereichen, der EG-Kommission, vom Sachverständigenrat und von seiten der Bundesbank Rechnung. Für einen drastischen Subventionsabbau sprechen nicht nur stabilitäts-, sondern insbesondere auch wirtschaftspolitische Gründe. Wir wollen dem Bundeswirtschaftsminister gern bei seinen Subventionskürzungen folgen. Sieht man sich den Haushalt des BMWi an, so fragt man sich allerdings, wie die Kürzungen bewerkstelligt werden können. Bei der Kohle? Bei der Luftfahrt? Bei der Regionalförderung? Bei der Werftindustrie? Lassen wir einmal die einigungsbedingten Steigerungen in diesen Positionen draußen vor — und sie müssen auch in den nächsten Jahren draußen vor bleiben — , so ergibt sich folgendes. Bereich Kohle: 3,5 Milliarden DM. Der größte Posten ist mit 2,5 Milliarden DM die Kokskohlenbeihilfe. Es ist begrüßenswert, daß eine deutliche Rückführung der Kokskohlenbeihilfe um 1,1 Milliarden DM in den nächsten drei Jahren vorgesehen ist. Allerdings bedarf es auch hier der Umsetzung, d. h. entsprechender Verhandlungen mit dem Kohlebergbau. Dabei muß man wissen: Streichung von Mitteln bedeutet Rückführung von Fördermengen. Wir wünschen Ihnen dabei vollen Erfolg, Herr Minister! Luftfahrtförderung (1,5 Milliarden DM). Die verschiedenen Ansätze, Abwicklung des Airbusprogramms und Entwicklungskostenzuschüsse für neue Flugzeugprojekte resultieren aus bestehenden, zum Teil schon seit vielen Jahren von früheren SPD-Regierungen herkommenden Rechtsverpflichtungen. Auch bei den Subventionen für die Werftindustrie haben wir es mit länger laufenden Rechtsverpflichtungen zu tun. Den einzig schon beschlossenen Subventionsabbau in größerem Umfang gibt es im Bereich der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur " . Hiervon ist insbesondere das ehemalige Zonenrandgebiet betroffen. Ergebnis: Für die wirklich zu Buche schlagenden Subventionszahlungen bestehen Rechtsverpflichtungen mit zum Teil noch erheblicher Laufzeit. Natürlich ist solchen Verpflichtungen zu entsprechen. Wo aber, Herr Minister, wollen Sie dann in Ihrem Haushalt Subventionen kürzen? Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen. Wenn Subventionskürzungen aus den vorgenannten Gründen für das nächste und auch vielleicht für das übernächste Jahr in größerem Umfang noch nicht möglich sind, lassen Sie uns einen Grundsatzbeschluß fassen: Schon heute kündigen Sie an, daß alle Subventionen für das Gebiet der alten Bundesrepublik bzw. für Unternehmen im alten Bundesgebiet über einen mittelfristigen Zeitraum hinweg abgebaut wer- 868* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 den. Soweit rechtliche Verpflichtungen bestehen bzw. Vertrauensschutzaspekte zu berücksichtigen sind, wird bereits jetzt von Ihnen im Sinne einer mittelfristigen Konsolidierungspolitik angekündigt, daß mit dem Ende der derzeit gültigen rechtlichen Verpflichtungen die Subventionsprogramme nicht verlängert werden. Für den Kohlebereich sollten Sie die Ankündigung mit einem klaren Konzept für die Kohle verbinden, in dem sowohl die Energiepolitik angesprochen als auch deutlich wird, wie sich die künftige deutsche Kohle- und Energiepolitik im europäischen Rahmen darstellt. Ein solches Konzept müssen Sie schon deshalb vorlegen, weil ja auch die Braunkohle in den fünf neuen Ländern künftig in der Energiepolitik ihren Platz finden muß. Die Mikat-Kommission hat bereits entsprechende Konsequenzen gezogen, wenn sie, wie gestern angekündigt, keinen offiziellen Abschlußbericht zur Zukunft der deutschen Steinkohle mehr vorlegen will. Die Situation habe sich inzwischen grundlegend verändert. Subventionen für die Steinkohle seien jetzt schwerer zu rechtfertigen, da genügend Braunkohle ohne staatliche Zuschüsse gefördert werde. Für die Luftfahrtindustrie sollte zugleich deutlich werden, daß Entwicklungskostenzuschüsse für neue Flugprojekte nicht mehr gewährt werden. Sicherlich könnten Sie damit auch den europäisch-amerikanischen Dauerstreit um die deutschen Airbussubventionen wenigstens teilweise entschärfen und den GATT-Verhandlungen neuen Schub geben. Für die Werftindustrie würde damit der Weg fortgesetzt werden, den die EG seit Jahren verfolgt, nämlich die Wettbewerbshilfen endgültig in Fortfall zu bringen. Lassen Sie, Herr Minister, Ihren eigenen Worten jetzt auch im eigenen Haushalt eigene Taten folgen. Dr. Uwe Jens (SPD): Noch nie hat die Opposition so stark die Politik der Bundesregierung bestimmt wie in der vergangenen Zeit. Mit zeitlichen Verzögerungen — aber immerhin — wurde weitgehend das getan, was die Sozialdemokraten vorher lautstark gefordert hatten. Und so muß es ja auch sein: die Opposition muß die Regierung jagen. Ich weiß, daß es sicherlich nicht opportun ist, einmal die Presse zu kritisieren. Ich persönlich habe auch wenig Grund dazu. Nur, Tatsache ist, daß eine bestimmte Presse von den vielen Vorschlägen, die die Sozialdemokraten auf den Tisch gelegt haben, keine oder nur geringe Notiz genommen hat. Dabei läßt sich anhand unserer Vorschläge noch immer leicht feststellen: Was die Bundesregierung jetzt mit ihrem „Gemeinschaftswerk" vorgestellt hat, ist wenig durchdacht und noch immer unzureichend. Mit aller Vorsicht zunächst ein Wort zu den aktuellen Tarifverhandlungen. Ich glaube, die IG Metall hat mit ihrem Tarifabschluß in Mecklenburg-Vorpommern ein positives Zeichen gesetzt. Ich bin davon überzeugt, daß die Löhne in den neuen Bundesländern deutlich stärker steigen müssen als in der alten Bundesrepublik. Mit den Tarifverhandlungen der ÖTV bei uns hatte ich deshalb zunächst meine Schwierigkeiten. Nur: die jetzt von der Bundesregierung beschlossenen ungerechten Steuererhöhungen rechtfertigen die ÖTV-Haltung. Gerade den kleineren Einkommensbeziehern bei Post und Bahn wird im kommenden Jahr durch Steuererhöhungen und Preissteigerungen deutlich mehr als 4,1 % aus der Tasche gezogen. Das ist unakzeptabel, und deshalb ist die Bundesregierung für die jetzigen Streiks hauptverantwortlich. Aber die Bundesregierung erweist sich auch mit ihrem „Gemeinschaftswerk" als sehr flexibel und anpassungsfähig. Ich möchte noch einmal vier geistige Pirouetten in Erinnerung bringen: Erstens: die konservative Regierung hat sich gerne über wirtschaftspolitische Programme lustig gemacht. Was sie jetzt mit ihrem „Gemeinschaftswerk" vorlegt, ist nichts anderes als ein Wirtschaftsprogramm. Leider mangelt es jedoch an einer sauberen Ursachen-Analyse. Die Maßnahmen sind wenig koordiniert, und der Kardinalfehler: es wirkt nur kurzfristig und nicht langfristig! Somit macht die konservative Regierung Fehler, die sie der sozialliberalen Koalition angekreidet hat. Etwas weniger Lärm wäre glaubwürdiger. Zweitens: die Regierung wollte immer die Lohnnebenkosten senken. Doch die 2,5prozentige Beitragserhöhung zur Arbeitslosenversicherung ist nicht nur ungerecht, sie ist vor allem ökonomisch schwachsinnig. Die Bundesregierung steigert damit die Lohnnebenkosten, fördert die Schwarzarbeit, und — was besonders wichtig ist — sie verschlechtert eklatant den Investitionsplatz Bundesrepublik Deutschland. Drittens: Wendehälse gab es nicht nur in der ehemaligen DDR, sie gibt es auch in der jetzigen Bundesregierung. Die Bundesregierung fordert seit langem einen Abbau von Subventionen und wird darin auch von der SPD unterstützt. Bundesfinanzminister Waigel rechnet deshalb auch vor, daß von 1990 bis 1994 40 Milliarden DM an Subventionen gekürzt wurden, wahrscheinlich um Herrn Möllemann zu retten. Gegenrechnen muß man jedoch die Subventionserhöhungen der Regierung. Die neu eingeführten Steuervergünstigungen von 600 DM bzw. 1 200 DM für Verheiratete bei der Lohn- und Einkommensteuer sind ebenfalls Subventionen. Sie kosten jährlich 1 Milliarde DM. Was wir aus unserer Sicht brauchen, ist jedoch keine Förderung des Konsums, sondern eine Förderung der Investitionen. Auch diese Hilfen sind deshalb ökonomisch völlig verfehlt. Viertens: die Bundesregierung wollte nach wiederholten Bekundungen auch die Entbürokratisierung voranbringen. Sie hätte jetzt eine Chance, indem sie zumindest in den neuen Bundesländern das Standesrecht im Handwerksbereich abschwächt. Nach unserer Auffassung sollten dortige Industriemeister recht großzügig als Handwerksmeister anerkannt werden, damit sie den Sprung in die Selbständigkeit leichter schaffen. Leider kommt die Bundesregierung auch hier nicht voran; der Einfluß der Interessenvertreter ist erheblich, der politische Mut des Bundeswirtschaftsministers aber gering. Wer so mit Grundsätzen umgeht wie diese Regierung, darf keine politische Zukunft haben. Ich hatte gesagt: unsere Forderungen zur Wiederbelebung der Wirtschaftstätigkeit greifen weiter. Aus Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 869* der Fülle unserer Vorschläge trage ich noch einmal einige Kernpunkte vor: Die bisherigen Regionalhilfen für die neuen Bundesländer sind unzureichend. Das Gefälle an Investitionshilfen muß viel stärker zugunsten der neuen Bundesländer ausgebaut werden. Im allgemeinen benötigen wir in den neuen Bundesländern mindestens eine Investitionszulage von 25 Prozent und Sonderabschreibungen von 75 Prozent. Diese Hilfen sind auch deshalb notwendig, weil die Bundesregierung den Realzins in schwindelnde Höhen getrieben hat. Bei einer Alternativ-Betrachtung für Investoren — das kann man jetzt schon getrost feststellen — wären die bisherigen Hilfen nicht ausreichend. Wenn wir gerne beklagen, daß privates Investitionskapital nicht in die neuen Bundesländer fließt, so liegt das nicht an den Unternehmen, sondern vor allem an der falschen Weichenstellung durch die Bundesregierung. Wir brauchen — zweitens — eine eindeutige Regelung, die der wirtschaftlichen Nutzung von Grund und Boden und vorhandenen Betrieben eindeutig Vorrang einräumt gegenüber der Rückgabe. Der jetzt gefundene Kompromiß ist unzureichend und bleibt ein Investitionshemmnis. Die Bundesregierung muß die Marktchancen für ostdeutsche Produkte und Anbieter erhöhen. Die Sozialdemokraten haben dazu eine Kleine Anfrage in den Bundestag eingebracht. Was sich im Bereich der Absatzmöglichkeiten für ostdeutsche Produkte abspielt, ist zum Teil emotionaler Unsinn des Verbrauchers, zum Teil mangelt es den ostdeutschen Betrieben an Wettbewerbsfähigkeit und Marketing-Kenntnissen. Hier ist möglicherweise das Kartellamt, aber vor allem die Bundesregierung gefordert. Und eine weitere Forderung zur Verbesserung der wirtschaftlichen Lage in Ostdeutschland: Nach der Vereinigung hätte Gesamtdeutschland die Handelsbrücke zu den neuen Ländern des ehemaligen Ostblocks werden können. Herr Möllemann kam stolz aus Moskau zurück mit angeblich 9 Milliarden an zusätzlichen Aufträgen für Betriebe in Ostdeutschland. Daß es sich hier nur um die Gegenzeichnung der russischen Seite gegenüber vereinbarten Hermes-Verträgen handelte, wurde nicht so ganz klar. Eines sollte jedoch klar sein: wenn wir die Zahlungsfähigkeit der UdSSR und anderer RGW-Staaten nicht verbessern, gehen diese Lieferungen voll zu Lasten des Bundeshaushaltes. Zur Zeit bricht der Osthandel der ehemaligen DDR-Betriebe völlig zusammen; einige Betriebe verlieren 70 bis 80 % ihres Umsatzes in ehemaligen RGW-Staaten. Was wir hier aus sozialdemokratischer Sicht dringend brauchen, sind zinslose Kredite für den Kauf von Produkten in den neuen Bundesländern — ich spreche von begrenzten Devisenkreditlinien. Ferner benötigen wir Zuschüsse der öffentlichen Hand für bestimmte Käufe der ehemaligen RGW-Staaten in Ostdeutschland — ich denke an eine Art „Marshallplan" mit konkreten Hilfen für die Umstrukturierung. Dies wären nutzbringende Investitionen in die Zukunft. Mit unserer Verständigungspolitik haben wir einen entscheidenden Beitrag geleistet, den West-Ost-Konflikt zu überwinden. Mit dem Ausbau des Handels mit den Staaten Osteuropas könnten wir den Frieden auf Dauer sichern. Unser wirtschaftspolitisches Hauptproblem ist für die nächsten Jahre die Wiederbelebung der Wirtschaftstätigkeit in den neuen Bundesländern. Aber trotz der großen Bedeutung dieser Aufgabe dürfen wir die weitergehenden Probleme nicht völlig vergessen. Neben vielen wichtigen Dingen gibt es zwei Hauptaufgaben in der Wirtschaftspolitik: Ich meine die krisensichere Einbettung unserer Wirtschaft in die Weltwirtschaft und die ökologische Erneuerung unserer Volkswirtschaft. Bundesbankpräsident Pöhl hat zweifellos nicht immer recht. Aber wenn er davor warnt, daß die Verschuldung der öffentlichen Hände nicht weiter ansteigen kann, so ist dem voll und ganz zuzustimmen. Binnenwirtschaftlich ist die exorbitante Verschuldung der Bundesregierung und der Länder und damit der überdimensionierte Realzins das ökonomische Problem Nummer Eins. Nicht die Privaten, sondern der Staat ist der Zinstreiber in der Bundesrepublik. Dies kann auf Dauer nicht gutgehen. Die privaten Investitionen werden nicht anspringen, solange der Realzins so hoch bleibt, wie er ist. Die weltwirtschaftlichen Probleme, die sich jetzt deutlich abzeichnen, werden auf die Bundesrepublik Deutschland übergreifen. Die Bundesregierung tut zu wenig, um diesem Problem zu begegnen. Die Weltwirtschaft zeigt trotz des Golfkrieges noch immer krisenhafte Erscheinungen. Die Vereinigten Staaten sollen allerdings bei einer Bilanz zwischen Einnahmen und Ausgaben am Golfkrieg 20 Milliarden Dollar verdient haben. Was im Einflußbereich der Bundesregierung liegt, wird von ihr jedoch nur halbherzig angepackt. Ich meine, daß die Währungsunion in der EG ohne Verzögerungen vorangebracht werden soll. Der Streit mit Frankreich über den Terminplan ist kleinkariert und überflüssig. Beim Abschluß der GATT-Verhandlungen hat die Bundesregierung bisher eine Bremser-Rolle eingenommen. Dies ist ein schwerer Fehler. Denn unter dem Strich profitiert die deutsche Volkswirtschaft von einem erfolgreichen Abschluß der GATT-Verhandlungen. Hier ist auch Bundeskanzler Kohl gefordert, der ja bekanntlich Schaden vom deutschen Volke abwenden soll. Unsere Volkswirtschaft wird erst dann in einem gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht sein, wenn die betriebswirtschaftlichen Kosten die gesamtwirtschaftlichen Kosten voll widerspiegeln. Auf diesem Felde der „Internalisierung der externen Kosten" bedarf es weitergehender Anstrengungen als bisher. Wir Sozialdemokraten werden in diesem Jahr noch eine Änderung zum Stabilitäts- und Wachstumsgesetz vorschlagen, um die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung stärker auf die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen zu verpflichten. Es wäre gut, wenn die Bundesregierung diesem Anliegen positiv gegenübersteht. An einer weiteren Umgestaltung unserer Wirtschaftsordnung und -gesetze, um Ökologie und Ökonomie miteinander zu versöhnen, führt kein Weg vorbei. 870* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 Die Zeit der ideologischen Wirtschaftspolitik à la Lambsdorff scheint ein für allemal vorbei. Viel gebracht hatte der Monetarismus für die deutschen Bürgerinnen und Bürger nicht. Vielleicht ein bißchen Wirtschaftswachstum über einen längeren Zeitraum, dafür jedoch eine extrem ungerechte Einkommensverteilung und eine gewaltige Zunahme der öffentlichen Verschuldung. Mit Ideologien lassen sich im übrigen nach sozialdemokratischer Auffassung die Probleme von morgen nicht lösen. Die Tatsachen drängen vielmehr zu ökonomischer Nüchternheit und zum Pragmatismus. Das sozialdemokratische Ziel ist jedoch klar: wir wollen schnellstmöglich eine Angleichung der Lebensverhältnisse in den neuen Bundesländern. Wir wollen für ganz Deutschland eine ökologie-orientierte und soziale Marktwirtschaft! Dafür brauchen wir vor allem eine konzertierte Aktion der Verantwortlichen und zielgerichtetes und entschlossenes Handeln der Bundesregierung. Leider sind die Weichen noch immer nicht in die richtige Richtung gestellt. Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): Die Bundesregierung legt mit dem Haushalt 1991 jetzt erstmals einen gesamtdeutschen Haushalt vor. Dies hätte sich vor 11/2 Jahren in der Debatte über den Haushalt 1990 wohl niemand vorstellen können. Mit der deutschen Einheit ist das wichtigste Ziel der deutschen Nachkriegspolitik verwirklicht worden. Zur wirtschaftspolitischen Lage: Die Herstellung der deutschen Einheit stellt die Bundesrepublik vor enorme Aufgaben, für die es in der Geschichte keinen Vergleich gibt. Dies gilt vor allem für die Wirtschaftspolitik. In den neuen Bundesländern ist der Übergang von der sozialistischen Kommandowirtschaft zur sozialen Marktwirtschaft mit einer tiefgreifenden Strukturkrise verbunden. Die Probleme sind insgesamt schwieriger als ursprünglich angenommen. Besonders gravierend ist die steigende Arbeitslosigkeit. Die im alten DDR-System vorhandene verdeckte Arbeitslosigkeit (personell weit überbesetzte Betriebe und überdimensionierter Behördenapparat) tritt jetzt immer deutlicher zutage. Allerdings gibt es auch schon erste Anzeichen einer Besserung — z. B. rund 300 000 neue Existenzgründungen — , die aber bei weitem nicht ausreichen, um den Beschäftigungsabbau in anderen Bereichen zu kompensieren. Die Menschen in den neuen Bundesländern haben Anspruch auf unsere Hilfe. Deutsche Einheit bedeutet auch finanzielle Solidarität. Ich räume ein, daß es innerhalb der Koalition gewisse Fehleinschätzungen gab, als wir davon ausgingen, dies würde sich auch ohne Steuererhöhungen erreichen lassen. Ich verwahre mich aber gegen den Vorwurf des „Steuerbetrugs". Jeder Mensch — auch ein Politiker — hat ein Recht auf Irrtum. Es war nicht vorauszusehen, daß mit dem Golfkrieg und den Hilfen für Osteuropa weitere einschneidende finanzielle Lasten auf die Bundesrepublik zukommen. Damit wurde eine vorübergehende Steuererhöhung unumgänglich. Angsichts der positiven Wirtschaftsentwicklung in den alten Bundesländern halte ich die Steuererhöhung auch insgesamt für verkraftbar. Im vergangenen Jahr hatte die alte Bundesrepublik neben Japan das stärkste Wirtschaftswachstum unter den großen westlichen Industrieländern. Auch für 1991 wird ein weiteres Wachstum von etwa 3 % prognostiziert. Um so wichtiger ist es, dafür zu sorgen, daß die Schere zwischen alten und neuen Bundesländern so schnell wie möglich geschlossen wird. Vordringlich ist deshalb die Schaffung neuer wettbewerbsfähiger Strukturen im Beitrittsgebiet. Dazu bedarf es gemeinsamer Anstrengungen von Bund, Ländern, Gemeinden, Tarifparteien und Verbänden. Mit dem vom Kabinett am vergangenen Freitag beschlossenen Gemeinschaftswerk Aufschwung-Ost hat der Bund ein wichtiges Zeichen gesetzt. Zusätzlich werden 1991 und 1992 insgesamt 24 Milliarden DM zur Förderung von öffentlichen und privaten Investitionen und zur Sicherung von Beschäftigung in die neuen Bundesländer fließen. Es kommt jetzt darauf an, daß dieses Geld schnell und effektiv in beschäftigungswirksame Maßnahmen umgesetzt wird. Nun zum Haushalt des Bundeswirtschaftsministeriums: Auch im Regierungsentwurf dieses Einzelplans schlägt sich bereits der beitrittsbedingte Mehrbedarf nieder. Der Haushalt steigt danach gegenüber 1990 um mehr als das Doppelte auf 14,5 Milliarden DM an. Die Steigerung von rund 7 Milliarden DM betrifft zum einen Maßnahmen der Wirtschaftsförderung in den neuen Bundesländern. Im Vordergrund steht dabei die regionale Wirtschaftsförderung im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur", für die der Entwurf Mittel in Höhe von 2 Milliarden DM vorsieht. Zusammen mit den Landesmitteln ergibt sich ein Fördervolumen von 4 Milliarden DM allein im Jahr 1991. Nimmt man dazu die 12%ige Investitionszulage und die vorgesehenen Sonderabschreibungen, ergibt sich daraus ein erhebliches Präferenzgefälle zugunsten der neuen Bundesländer. Mit diesen positiven Investitionsbedingungen kann der wirtschaftliche Erneuerungsprozeß tatkräftig unterstützt werden. Ein weiterer Schwerpunkt bei den Wirtschaftsförderungsmaßnahmen ist die rasche Entwicklung des Mittelstandes im Beitrittsgebiet. Hierfür sieht der Entwurf rund 650 Millionen DM vor. Für den notwendigen Strukturwandel ist vor allem die Gründung neuer selbständiger Existenzen unerläßlich. Die Erfahrung aus dem alten Bundesgebiet lehrt, daß durch neue mittelständische Unternehmen auch zukunftsträchtige Arbeitsplätze geschaffen werden. Dazu gehört aber auch, daß die Arbeitnehmer ausreichend qualifiziert sind. Ebenso wie die Gründung neuer Unternehmen muß deshalb die berufliche Qualifizierung nachhaltig gefördert werden. Neben den Maßnahmen der Wirtschaftsförderung gibt es aber auch noch andere Folgekosten der deutschen Einheit, die im Einzelplan 09 ihren Niederschlag finden. Als Beispiel seien hier nur die Kosten für die ökologische Sanierung und Rekultivierung der Gebiete des ehemaligen Uranerzbergbaus durch die Wismut AG in Sachsen und Thüringen genannt, wo ganze Landstriche von der Zerstörung bedroht sind. Ich hoffe, daß die Verhandlungen mit der UdSSR über den vollständigen Übergang des Unternehmens in deutsches Eigentum bald abgeschlossen werden kön- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 871* nen, damit die notwendigen Arbeiten zur Umstrukturierung und Sanierung der Bergbauflächen möglichst zügig — im Interesse der dort lebenden Menschen — fortgesetzt werden können. In den nächsten Jahren muß hierfür mit Kosten von mindestens 5 Milliarden DM gerechnet werden. Zuletzt zur Ausgabendisziplin und zum Einsparungszwang: Die historische Aufgabe der deutschen Einheit erfordert einen beträchtlichen Finanzaufwand; deshalb müssen alle Anstrengungen unternommen werden, durch strikte Ausgabendisziplin in den nächsten Jahren die Haushaltsdefizite eng zu begrenzen, um negative Auswirkungen auf die Geldwertstabilität und das Wirtschaftswachstum zu vermeiden. Die Koalition hat den Abbau von Steuervergünstigungen und Finanzhilfen in der Größenordnung von jährlich 10 Milliarden DM ab 1992 beschlossen. Minister Möllemann hat sogar mehrmals öffentlich mit seinem Rücktritt gedroht, falls dieses Ziel nicht erreicht wird. Aus meiner Arbeit im Haushaltsausschuß weiß ich, wie schwierig es ist, einmal zugestandene Subventionen wieder abzubauen. Dies ist für die Betroffenen, die sich an das oftmals „süße Gift" der Subventionen gewöhnt haben, in jedem Falle schmerzlich. Aber die finanziellen Belastungen im Zusammenhang mit der deutschen Einheit haben eine neue Situation geschaffen, die einen mutigen Schritt in Richtung Subventionsabbau nicht nur rechtfertigt, sondern geradezu erfordert. Ich begrüße es deshalb, daß der Bundesminister für Wirtschaft dieses Anliegen so nachhaltig unterstützt, und gehe davon aus, daß er in seinem Etat mit gutem Beispiel vorangehen wird. Jürgen W. Möllemann, Bundesminister für Wirtschaft: Die Wirtschafts- und Finanzpolitik steht vor der größten Bewährungsprobe in Deutschland nach dem Kriege. Innenpolitisch hat der wirtschaftliche Aufbau in den neuen Bundesländern absolute Priorität. Ich bin als Wirtschaftsminister mit dem Ziel angetreten, dafür zu sorgen, daß das gesamte Deutschland gleichermaßen am wirtschaftlichen Aufschwung teilhaben kann und die Bürger in den neuen Ländern eine neue Zukunft für sich und ihre Familien erkennen können. Von uns allen ist jetzt eine große gemeinsame und solidarische Anstrengung für den Wiederaufbau gefordert. Die Bundesregierung hat mit der Verabschiedung des Gemeinschaftswerks Aufschwung-Ost dieses Zeichen der Solidarität gesetzt. In diesem und im nächsten Jahr stehen 24 Mrd. DM für die neuen Bundesländer bereit. Wir haben damit das Notwendige in die Wege geleitet, um die wirtschaftliche Apathie im Osten zu verbannen und in eine dynamische Aufwärtsbewegung zu überführen. Das, was man mit Geld erreichen kann, haben wir auf den Weg gebracht. Unser Leitgedanke: Wer im Osten investieren will, erhält die beste Förderung, die es in der Bundesrepublik je gab. Keine Investition soll am Geld scheitern; keine private, aber auch keine öffentliche. Hier liegt der Schlüssel für neue Dauerarbeitsplätze. Deshalb haben wir die 12-%-Investitionszulage um ein halbes Jahr bis Ende 1991 verlängert. Mit der 50%igen Sonderabschreibung für Bauten und Ausrüstungsgüter haben wir Fördermöglichkeiten geschaffen, mit denen wir jetzt eine Förderintensität von 100 % einer Investition je nach Unternehmensgröße erreichen. Bei mittelständischen Unternehmen bringt die Kumulation staatlicher Hilfen sogar noch höhere Vorteile. Es lohnt sich jetzt auch finanziell, in den neuen Bundesländern zu investieren. Wir haben alles getan, damit — um mit Karl Schiller zu sprechen — die Pferde saufen können. Wir unterstützen die private Initiative mit einem riesigen Infrastrukturprogramm. Allein für Telekommunikation, Straßen und Schienenwege investiert der Bund in diesem Jahr 17 Milliarden DM. Hieraus ergibt sich eine unmittelbare Beschäftigungswirkung vor Ort, vor allem für die Bauwirtschaft und das Handwerk. Insgesamt stehen in den neuen Ländern und ihren Gemeinden 1991 50,1 Milliarden DM für öffentliche Investitionen zur Verfügung; allein 37,5 Milliarden tragen der Bund und die Bundesunternehmen. Das ist pro Kopf der Bevölkerung das größte Investitionsvolumen, das wir jemals auf den Weg gebracht haben. Die ersten Zeichen einer beginnenden wirtschaftlichen Gesundung sind schon zu sehen. Seit Beginn des letzten Jahres hat in den neuen Bundesländern rund i Million Menschen neue Arbeitsplätze gefunden. Ich erwarte, daß der notwendige Abbau unproduktiver Arbeitsplätze mehr und mehr vom Aufbau wettbewerbsfähiger Beschäftigung aufgefangen wird, zumal da wir die Vorfahrtregelung bei Investitionen, Eigentum und Altlasten verstärkt haben. Wir wollen den Vorrang für Investitionen. Wir verlangen aber auch viel von den Menschen, die sich mit ihren Kenntnissen und Fähigkeiten auf die neue Zeit einstellen müssen. Deshalb geben wir Hilfe zur Qualifizierung. Deshalb unterstützen wir im öffentlichen Bereich die extensive Nutzung von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in der Übergangszeit. Wir lassen die Menschen mit ihren Sorgen nicht allein. Jeder muß aber seinen individuell möglichen Beitrag leisten, um die Schwierigkeiten im Übergang zu meistern. Ich bin sicher, wir haben mit dem Gemeinschaftswerk Aufschwung-Ost die richtige Mischung zwischen dem investiven Mitteleinsatz und der arbeitsmarktpolitischen Absicherung gefunden. Alle verfügbaren Instrumente werden genutzt, um den Unternehmen den Weg in die neuen Bundesländer zu ebnen, Verwaltungshürden aus dem Weg zu 872* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 räumen und möglichst vielen Menschen Perspektiven für Selbständigkeit zu eröffnen. Die Eigeninitiative der Bürger ist eine wichtige Hilfe bei allem, was wir tun. Wir setzen auf die freie und verantwortliche Mitwirkung unserer Bürger in ganz Deutschland. Ein Staat, der da verzichtet, bleibt unvermeidlich hinter seinen Möglichkeiten zurück. Je mehr sich Selbständigkeit und Kreativität der Bürger jetzt für den Aufschwung entfalten können, desto eher werden wir unser Ziel erreichen. Einige Punkte möchte ich besonders hervorheben. Erstens. Die Finanzausstattung der neuen Länder und Gemeinden war — gemessen an den jetzt erkennbaren Aufgaben — unzureichend. Wir haben die Möglichkeiten des Einigungsvertrages ausgeschöpft oder — um es mit Herrn Biedenkopf zu sagen — fortgeschrieben und neben dem Gemeinschaftswerk weitere Hilfen in den Finanzrahmen des Einigungsvertrages aufgenommen. Das war richtig und wichtig. Die neuen Länder und ihre Kommunen verfügen jetzt über genügend Mittel, um ihre Aufgabe wahrzunehmen. Zweitens. Mein Vorschlag zur Soforthilfe ist mit der Investitionspauschale von 5 Milliarden für Modernisierung und Instandsetzung in den Gemeinden in vollem Umfang aufgenommen worden. Wichtig ist, daß die Kommunen jetzt schnell handeln und sich auf Instandsetzungs- und Modernisierungsmaßnahmen konzentrieren. Hier hemmen weder große Planungsvorläufe noch Eigentumsprobleme. Die Bürgermeister und Landräte müssen jetzt die vom Bund ausgereichten Schecks in die Hand nehmen und die Renovierung von Schulen, Krankenhäusern und Wohnungen vorantreiben. Dann wird der Aufschwung für die Bürger in jeder Straße ein sichtbares Zeichen setzen. Drittens. Der Übergang vom Unrechtsstaat zum Rechtsstaat, vom Plansystem zur freiheitlichen Marktwirtschaft erfordert in der Eigentumsfrage, daß wir die Hemmnisse überwinden auf dem Weg zu mehr Freiheit und zur Restitution des Rechts — zur Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse und zur Wiederherstellung des Eigentums. Für Arbeitsplätze, Wohnbedarf und notwendige Infrastruktur müssen frühere Eigentümer auf Rückgabe verzichten. Sie bekommen stattdessen den Kaufpreis, den der Investor zahlt — unter Umständen sogar mehr. Das ganze muß schnell und einfach laufen. Wir wollen deshalb zugunsten von Investoren im Beitrittsgebiet die Verfügungssperre vorübergehend aussetzen. Ohne schnelle Klarheit über die Verfügungsrechte öffentlicher Investoren — der Treuhand wie der neuen Bundesländer, der Kreise wie der Kommunen — gibt es keinen Aufschwung, keine Freisetzung der Dynamik, die von öffentlichen Investitionen wie vor allem von Privateigentum ausgeht. Was nicht für Investitionen gebraucht wird, wird natürlich zurückgegeben, sobald klar ist, an wen es zurückzugeben ist. Aber diese Unklarheit darf nicht länger den Aufschwung hemmen. Die Verwaltungsinsuffizienz im Beitrittsgebiet müssen wir überwinden. Aber weil das nicht von heute auf morgen zu schaffen ist, müssen wir überall vereinfachen, nicht nur zur Lösung der Eigentumsfrage, sondern auch bei den Umweltaltlasten. Umweltaltlasten dürfen nicht neue Investitionen verhindern. Es hilft nichts: Die ökologischen Altlasten sind Kosten der Einheit. Der Versuch, sie auf Erwerber abzuwälzen, hemmt den Aufschwung. Kein Unternehmer unternimmt unkalkulierbare Risiken. Kein Vorstand darf das machen. Wenn nach langen Versuchen zur Bewertung der Risiken doch eine kalkulierbare Altlast ermittelt wird, wird jeder Erwerber den Kaufpreis entsprechend verringern. So landet die Altlast wirtschaftlich wieder bei der öffentlichen Hand, nur leider samt den enormen Kosten der Verzögerung des Aufschwungs. Die jetzige Freistellungspraxis ist unzulänglich. Wir müssen die komplexen Anstrengungen um die interne Lastenverteilung zwischen Bund und Ländern, Kreisen und Kommunen vom Privatisierungsgeschäft abkoppeln. Das gilt genauso für die unverzichtbaren Bemühungen, auch die Industrie an der Lösung des Altlastenkomplexes angemessen zu beteiligen. Insgesamt liegen hier Herausforderung und Chance zugleich: Die aktive Beseitigung der Umweltaltlasten fördert gleichzeitig den Ausbau des Umweltsektors in den neuen wie den alten Bundesländern. Sie schafft Arbeitsplätze und bedeutet letztlich das, was man Versöhnung zwischen Ökologie und Ökonomie nennt. Die Mehraufwendungen für den Aufschwung-Ost sind nicht nur unabweisbar. Sie sind mit den steuerpolitischen Beschlüssen der Bundesregierung solide finanziert. Auch wenn manche die Diskussion um die Neidsteuer für Besserverdienende wiederbeleben wollten, den Solidarbeitrag für Gesamtdeutschland müssen wir alle mit den beschlossenen Steuererhöhungen leisten. Die Erhöhung der Einkommensteuer wird klar auf ein Jahr begrenzt bleiben. Die Erhöhung der Mineralölsteuer ist angesichts der Entwicklung der Ölpreise gesamtwirtschaftlich und vom Preisniveau her zu verkraften; darüber hinaus kann der einzelne durch sparsames und umweltfreundliches Verhalten seine Belastung verringern. Mit den Steuerbeschlüssen wird die bisher konsequent durchgehaltene haushaltspolitische Grundlinie der vergangenen Jahre keineswegs verlassen: Die Rückführung der Staatsquote und die Förderung der Marktkräfte bleiben Ziele der mittelfristigen Finanzpolitik. Strikte Ausgabendisziplin, Abbau von Subventionen und Privatisierung staatlicher Unternehmen und Infrastrukturaufgaben sind weiterhin die Leitlinien der Haushaltspolitik. Mit der jüngsten Unterstützung, die die Bundesregierung für die jüngsten Koalitionsbeschlüsse vom DIW erhalten hat, hat die Opposition ein sonst oftmals geschätzter „Kronzeuge" im steuerpolitischen Abseits stehenlassen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 873* Noch wichtiger ist, daß der Deutsche Gewerkschaftsbund den wirtschafts- und finanzpolitischen Kurs der Bundesregierung unterstützt. Das ist ein ermutigendes Zeichen. Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften müssen im Interesse eines schnellen Aufbaus in Ostdeutschland gemeinsam handeln. Der Europäische Binnenmarkt und der Wettbewerb der Produktionsstandorte verlangen von uns auch mittelfristige Weichenstellungen. Die Verbesserung der steuerlichen Rahmenbedingungen und die Neuordnung der Unternehmensbesteuerung bleiben auf der Tagesordnung. Die Unternehmenssteuerreform wird in dieser Legislaturperiode fortgeführt. Das Gesetzgebungsverfahren wird vor Beginn des Europäischen Binnenmarkts abgeschlossen sein. Wenn wir steuerpolitisch glaubwürdig bleiben wollen, müssen wir die Kürzung von Subventionen auf allen Gebieten vorantreiben. Mittelfristig werden Steuervergünstigungen und steuerliche Sonderregelungen — Höhe : 5 Milliarden DM — und Finanzhilfen bis 1994 in Höhe von 1,5 Milliarden DM abgebaut. Auf meine Initiative hin ist die Einsparung von weiteren 4 Milliarden DM beschlossen worden. 1992 wird es zu einem Subventionsabbau von rund 10 Milliarden DM kommen. Schon Mitte des Jahres werden die Kollegen Schäuble, Waigel und ich gemeinsam konkrete Kürzungsvorschläge vorlegen. Der eine oder andere Lobbyist wird dann erstaunt feststellen, daß auch manche heiligen Kühe, die schon Fett angesetzt haben, nicht von der Abmagerungskur verschont bleiben. Wir werden dem Steuerzahler deutlich machen, daß wir mit seinem Geld verantwortungsbewußt umgehen. Die Rückführung der Ausgaben hilft uns, die Neuverschuldung des Bundes zu begrenzen. Wir dürfen die Verantwortung für die Stabilität nicht allein der Bundesbank in Frankfurt überlassen. Die wirtschaftliche Solidität des vereinten Deutschlands ist ein Motor für die Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft und die Weiterentwicklung der Europäischen Integration. Wir treten mit Nachdruck ein für die Vollendung des Europäischen Binnenmarktes, die parallele Verwirklichung der Politischen Union und der Wirtschafts- und Währungsunion, die Herstellung des europäischen Wirtschaftsraumes mit den Staaten der Europäischen Freihandelszone (EFTA). Die Bundesregierung setzt sich intensiv auch für die Erhaltung und Stärkung der freiheitlichen Welthandels- und Wirtschaftsordnung im Rahmen des GATT ein. Ich begrüße die Wiederaufnahme der Verhandlungen im Rahmen der Uruguay-Runde. Wir müssen jetzt den mutigen Schritt wagen, in Sektoren, in denen Marktwirtschaft noch nicht verwirklicht ist Strukturwandel zuzulassen. Wir müssen die Weltwirtschaft unter Wettbewerbsbedingungen weiterentwickeln, wenn wir den Rückfall in den Protektionismus vermeiden wollen. Freihandel und offene Märkte müssen als Grundlage unserer exportorientierten Wirtschaft erhalten bleiben. Ihr verdanken wir unseren Wohlstand. Unsere Unterstützung für die Landwirtschaft wäre ohne sie nicht finanzierbar. Die Kurskorrektur Richtung Markt muß im Agrarbereich jetzt gelingen. Der Handel mit Agrarprodukten darf nicht zu einer ständigen Gefährdung des Welthandels führen. Antiquierte Schutzmechanismen gilt es zugunsten marktkonformer Lösungen umzugestalten. Direkte Ausgleichszahlungen für Landschaftspflege und Umweltschutz stören die Marktkräfte weit weniger als im jetzigen System der Agrarordnung. Ich werbe deshalb für die Erkenntnis, daß es keinen Gegensatz zwischen Industrieinteressen und Landwirtschaftsinteressen gibt, sondern nur ein gemeinsames Interesse an einer wettbewerbsfähigen Wirtschaft. Die anstehenden Vereinbarungen zum geistigen Eigentum, zum Marktzugang und im Dienstleistungsbereich müssen umfassend sein. Mit Teilergebnissen können wir uns nicht zufriedengeben. Hier können wir die Kraft zur politischen Führung im Interesse unseres Gemeinwohls unter Beweis stellen. Kein geringeres Gut als die Grundlagen unseres Wohlstandes steht auf dem Spiel. Unsere Deutschlandpolitik war erfolgreich, weil unsere Außenpolitik immer schon die Bürger in Mecklenburg-Vorpommern wie in Brandenburg, in Sachsen und Sachsen-Anhalt, in Thüringen und dem früheren Ost-Berlin zum Ziel hatte, ihre Freiheit und ihre Selbstbestimmung. Jetzt sind sie frei. Jetzt haben sie frei bestimmt und sich für die Einheit entschieden. Jetzt haben unsere Wirtschaftspolitik insgesamt, unser Eintreten für offene Märkte wie unsere Strategie Aufschwung-Ost wiederum die Einheit zum Ziel: die innere Einheit, den Ausgleich der Lebenschancen und Lebensverhältnisse im vereinten Deutschland. Unsere Deutschland- und Außenpolitik hat die Einheit ermöglicht. Unsere Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik wird die Einheit vollenden. Bernd Wilz (CDU/CSU): Die Bundeswehr ist in die Schlagzeilen geraten! Dies ist in einer pluralistischen Gesellschaft weder ungewöhnlich noch schädlich. Ungewöhnlich und schädlich sind lediglich die äußeren Umstände, unter denen die Bundeswehr ins Gerede gekommen ist. Äußerungen und Verhaltensweisen im Zusammenhang mit der Verlegung von Bundeswehreinheiten in die Türkei bzw. ins Mittelmeer — wenngleich von den Medien teilweise überzeichnet — haben die Frage nach Defiziten bei der Bundeswehr aufgeworfen. Wir müssen uns die Frage stellen, ob unsere Bundeswehr, die eher zur territorialen 874* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 Selbstverteidigung erzogen und ausgebildet wurde, auch dann einsatzfähig, d. h. kriegstüchtig ist, wenn als Bündnisverpflichtung Recht und Freiheit anderswo als auf unserem Boden verteidigt werden sollen. Ich will nichts über einen Kamm scheren. Die überwiegende Mehrheit der Bundeswehrangehörigen hat weder Schwierigkeiten mit ihrem soldatischen Grundverständnis noch mit der Frage der Solidarität gegenüber unseren Alliierten. Einzelstimmen und Minderheiten sorgen allzu rasch für ein falsches Bild. Die nach Erhac, Diyarbakir und ins Mittelmeer entsandten Soldaten haben treu und vorbildlich ihre Pflicht erfüllt. Die Diskussion hier im Lande hat dies nicht genügend widergespiegelt. Um so mehr schuldet das Hohe Haus diesen Soldaten Dank und Anerkennung. Gleichermaßen gilt unser Respekt den Soldaten und zivilen Mitarbeitern der Bundeswehr, die über Jahrzehnte einen wichtigen Beitrag zur Friedenssicherung geleistet haben. Die CDU/CSU bekennt sich nachdrücklich zu unseren Streitkräften. Die Bundeswehr wird auch künftig — wenngleich mit neuem Gesicht und neuen Aufgaben — unsere zuverlässige Risikoversicherung darstellen. Notwendig ist allerdings ein Umdenkungsprozeß. An dessen Ende müssen die Bereitschaft zur Übernahme einer erweiterten Sicherheitsverantwortung und ein umfassenderes Verständnis des Sicherheitsbegriffes stehen. Es ist Aufgabe der Politik, in dieser Frage klare Positionen einzunehmen und den Soldaten eindeutige Vorgaben an die Hand zu geben. Nach Auffassung der CDU/CSU ist Sicherheitsvorsorge auch in Zukunft nur innerhalb kollektiver Sicherheitssysteme möglich. Deutschland muß sich zu seiner Verantwortung innerhalb dieser Solidargemeinschaften bekennen. Für das Ausland, die deutsche Öffentlichkeit und unsere Bundeswehr muß Klarheit bestehen, was die Deutschen künftig tun wollen und können. Wer — wie Teile der Opposition — die Übernahme internationaler Verantwortung auf Blauhelme begrenzen oder gar ganz ablehnen will, muß wissen, daß er sich damit an den Katzentisch der Völkergemeinschaft setzt. Es gibt keine halbe Solidarität — es sei denn um den Preis einer Sonderrolle Deutschlands, die wir jedenfalls nicht wollen. Die jüngsten Ereignisse haben auch die Frage nach dem Für und Wider der Wehrpflicht in den Mittelpunkt gerückt. Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion will ich an dieser Stelle nochmals eindeutig unser Ja zur Wehrpflicht bekräftigen. Wir halten an der bewährten Verankerung der Streitkräfte in unserer Gesellschaft fest. Sie hat sich als vorteilhaft erwiesen und in der Bevölkerung den Gedanken des Dienstes am Gemeinwesen wachgehalten. Wehrdienst ist eine klassische Form des Dienstes an der Gemeinschaft. Wer Kriegsdienstverweigerung und Zivildienst von vornherein als die höheren moralischen Werte einstuft, leugnet das legitime Recht eines Staates zu seiner Verteidigung. Mehr noch: Er hat den objektiven Faktor militärischer Macht als Garant zur Sicherung oder Wiederherstellung von Frieden in Freiheit nicht verstanden oder will ihn nicht verstehen. Mit dem Ja zur Wehrpflicht verbindet sich für uns die klare Forderung, dem Prinzip von Wehr- und Wehrübungsgerechtigkeit noch mehr als bisher Anerkennung zu verschaffen. Wir können die Akzeptanz der Wehrpflichtarmee auf Dauer nur erhalten und weiter erhöhen, wenn wir die Gleichbehandlung aller wehrfähigen jungen Männer sicherstellen. Dies ist der Staat seinen Wehrdienstleistenden schuldig. Die Bundeswehr steht vor den größten Herausforderungen seit ihrem Bestehen. Wir wollen nicht nur die politische Verpflichtung zum Abbau auf 370 000 Mann bis Ende 1994 erfüllen. Gleichzeitig müssen die Integration ehemaliger NVA-Angehöriger vollzogen und eine umfassende Neustruktur der Bundeswehr bewältigt werden. Dabei sind zahlreiche Standortentscheidungen — auch in Abstimmung mit den Alliierten — zu treffen. Das Ergebnis all dieser Maßnahmen muß sich in eine neue NATO-Strategie einfügen lassen, die derzeit entwickelt wird und stärker als bisher das Element der Multinationalität enthalten soll. Diese gewaltigen Aufgaben werden Geld kosten. Umstrukturierungen und auch Reduzierungen sind nicht kostenlos zu haben, wenn sie für die betroffenen Menschen sozial verträglich sein sollen. Was wir heute in der Fürsorge gegenüber den Bundeswehrangehörigen versäumen, kann morgen schmerzhafte Auswirkungen auf das innere Gefüge und den sozialen Frieden in den Streitkräften haben. Dies gilt vor allem für die Soldaten in den neuen Bundesländern. Der Verteidigungshaushalt von 52,6 Milliarden DM bildet für diese Aufgaben einen engen, vielleicht zu engen Finanzrahmen. Ich darf daran erinnern, daß es Ziel der CDU/CSU war, für die Bundeswehr/West einen Verteidigungshaushalt von unter 50 Milliarden DM zu erreichen. Der jetzige Haushaltsumfang, der bezogen auf die zusätzlichen Bedürfnisse der Bundeswehr/Ost schon eine Einsparung um 7 bis 8 Milliarden DM bedeutet, muß nun für die gesamte Bundeswehr ausreichen. Aus verteidigungspolitischer Sicht sind daher mittelfristig weitere Beschneidungen des Verteidigungshaushalts kaum zu verantworten. Der Einzelplan 14 darf nicht zum Selbstbedienungsladen für andere Staatsaufgaben werden! Der Umfang des Verteidigungshaushalts ist nach außen Gradmesser des Solidarbeitrags Deutschlands zur kollektiven Verteidigung. Nach innen ist er Ausdruck der Fürsorgepflicht des Staates gegenüber seinen Streitkräften. Die von Teilen der Opposition geforderte Halbierung des Verteidigungshaushaltes bis 1994 wird weder den sicherheitspolitischen Erfordernissen unseres Landes gerecht noch läßt sie Raum für zusätzlich notwendige Leistungen wie Verifikation, Umweltschutz oder Verbesserung des sozialen Umfeldes. Im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten hat sich die CDU/CSU eine Reihe von Zielen zur Verbesserung der personellen und materiellen Struktur der Bundeswehr gesetzt. Dazu gehören vor allem: erstens die möglichst rasche Gleichstellung der Soldaten und Zivilbediensteten in den alten und neuen Bundesländern; zweitens sozial verträgliche Maßnahmen im Rahmen der Struktur- und Standortentscheidungen; drittens besondere infrastrukturelle Anstrengungen für die neuen Bundesländer. Dazu sollten mehr als Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 875* geplant Infrastrukturmittel West und aus dem Programm „Kaserne 2000" in die neuen Länder fließen. Viertens fordern wir die Fortführung des Attraktivitätsprogramms besonders zur Nachwuchssicherung. Wir wollen auch mehr Führerdichte und den schnellen Abbau des Staus bei unseren Feldwebeln. Darüber hinaus müssen mit Blick auf die Zukunft auch weiterhin ausreichende Mittel für Forschung, Entwicklung und Beschaffung bereitgestellt werden. Technologieentwicklung und Modernisierung bleiben unabdingbare Voraussetzungen für die Funktionstüchtigkeit einer motivierten Armee. Wer heute daran spart, muß morgen doppelt dafür bezahlen! Meine Damen und Herren, die NATO bleibt auch künftig der sichere Anker für unsere Sicherheitsvorsorge. Zusätzlich ist der Blick zu weiten für eine verstärkte Mitwirkung der Bundeswehr im Rahmen unserer Mitgliedschaft in anderen kollektiven Bündnissen. Die Reduzierung der Bundeswehr auf 370 000 Soldaten bedeutet einen Vorgriff auf weitere Rüstungskontrollverhandlungen. Sie stellt aus unserer Sicht für eine längere Zeit die untere Marge des Bundeswehrumfangs dar. Eine 100 000-Mann-Armee, wie von Teilen der Opposition gefordert, läßt die Risiken und Unwägbarkeiten künftiger sicherheitspolitischer Entwicklungen völlig außer acht. Unsere Bundeswehr und mit ihr die verantwortlichen Politiker stehen vor großen Aufgaben. Die CDU/ CSU nimmt diese Herausforderung an. Wir werden mit klaren politischen Vorgaben den Weg in kollektive Sicherheitsstrukturen vorzeichnen und dabei den Platz für unsere Streitkräfte bestimmen. Walter Kolbow (SPD): Die späte Stunde, zu der die Aussprache über den Verteidigungshaushalt 1991 stattfindet, ist symptomatisch für die Öffentlichkeits- und Informationspolitik des Bundesministers der Verteidigung seit seinem Amtsantritt. Ihnen, Herr Bundesminister, kommt es sicher gelegen, daß wir nicht unter den Augen der Öffentlichkeit gewissermaßen live jetzt debattieren, da Ihr Anliegen, ja möglicherweise Ihr Auftrag das Verhindern jeglicher Öffentlichkeit über die Lage der Streitkräfte ist. Gern möchte ich die Aussprache über den Einzelplan 14 beginnen mit einer der wenigen guten Nachrichten der letzten Wochen auf Ihrem Feld, Herr Minister Dr. Stoltenberg, nämlich mit der Meldung über den Abzug von NATO-Einheiten aus der Türkei und damit auch der Rückkehr unserer Soldaten aus diesem Land. Trotz aller politischen Vorbehalte gegen diesen Einsatz deutscher Einheiten möchte ich auch an dieser Stelle unseren Soldaten Dank sagen für die Art und Weise der Erfüllung dieses Auftrages. Wir konnten uns vor Kreta und in Erhac mit einer Delegation des Verteidigungsausschusses überzeugen von der positiven Haltung der Bundeswehrsoldaten und ihrer Einstellung. Trotz einer beinahe schon dramatischen Konzeptionslosigkeit der politischen Leitung des Verteidigungsministeriums, trotz mangelhafter Unterstützung durch die Türkei als „host nation" haben unsere Soldaten ihre Aufgabe beispielhaft erfüllt. Ich nehme dieses aber auch zum Anlaß, für den Einsatz von Bundeswehrsoldaten außerhalb Deutschlands möglichst bald Rechtssicherheit anzumahnen. Wir dürfen unsere Soldaten in der Frage der Rechtsstaatlichkeit ihres Einsatzes und in der möglichen Gewissensnot bei der Anwendung von militärischer Gewalt nicht alleine lassen. Unserem Marinesuchverband, der dieser Tage zur Erfüllung einer humanitären Aufgabe in den Golf unterwegs ist, wünschen wir alles Gute und eine glückliche Heimkehr. Der Golfkrieg hat uns dramatisch mit der Tatsache konfrontiert, daß nach den tiefgreifenden Veränderungen der sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen in Europa vieles in unserer Verteidigungspolitik nicht mehr stimmt. Deutschland gewinnt mit dem Zusammenwachsen Europas seine zentralstrategische Lage in der Region zurück. Erstmals in der neueren Geschichte ist unser Land dabei von Verbündeten und solchen Staaten umgeben, die sich uns politisch und wirtschaftlich rasch annähern und militärischen Ausgleich in einem europäischen Sicherheitssystem suchen. Wir wissen: Unser Land wird militärisch nicht mehr unmittelbar bedroht. Spätestens seit dem Golfkrieg ist uns sehr bewußt geworden, daß wir uns deutsche Nabelschau künftig ebensowenig werden leisten können wie selbstgenügsamen Eurozentrismus. Jetzt rücken die Probleme und Konflikte in den Vordergrund, die allzu lange unbeachtet und vor allem ungelöst blieben. Auch die militärische Führung war fixiert auf das immer wieder Geübte: Rot greift Blau über Finnland oder Österreich an und muß gestoppt werden — wenn notwendig mit dem Ersteinsatz von Nuklearwaffen auf ostdeutsche und osteuropäische Städte. Es war die Stunde von Wintex/Cimex. Keine Rede von einer möglichen horizontalen Eskalation außerhalb Europas oder gar im Nahen Osten; keine Rede von Krisenmanagement in solchen Fällen. Unsere Fragen hierzu blieben auch im Gemeinsamen Ausschuß stets unbeantwortet. Angesichts neuartiger Gefährdungen der Menschheit brauchen wir ein erweitertes, eben internationales Verständnis von Sicherheit. Das Elend in Ländern der Dritten Welt, die gewaltige Verschuldung vieler Entwicklungsländer, Umweltkatastrophen, Flüchtlingsströme und der immer noch weitgehend unkontrollierte Waffenhandel zeigen uns, daß Sicherheit nicht mehr länger in erster Linie ein militärischer, sondern vielmehr ein politischer Begriff ist — Sicherheit ist eben nurmehr gemeinsam möglich, so wie wir Sozialdemokraten dies vor der Entspannung in Europa bereits festgestellt und damit auch Abrüstung zumindestens mitbewirkt haben. Unter dieser Prämisse erscheint uns ein Verteidigungshaushalt von über 50 Milliarden DM mehr denn je als überhöht. Dabei ist uns sehr bewußt, daß vor allem Abrüstungs- und Konversionskosten zusätzlich zu Buche schlagen werden. Unser Nahziel ist daher, den Verteidigungshaushalt auf unter 50 Milliarden DM zu senken und damit weitere 3 Milliarden DM einzusparen. Wir haben hierzu konkrete Vorschläge erarbeitet. Die großen Herausforderungen und Aufgaben für die nächsten Jahre haben sich auch in der Verteidigungspolitik von Grund auf verändert. Es sind dies: Drastische Verringerung der Umfangszahlen, Neu- 876* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 strukturierung der nun gesamtdeutschen Streitkräfte für aktuelle und künftige Aufgaben, Bewältigung der Abrüstungsfolgen, Standorte- und Rüstungskonversion. Der Generalinspekteur sagte bei der 32. Kommandeurtagung: „Nach der Wiedervereinigung steht die Bundeswehr vor der größten Reform seit ihrer Gründung. Sie kommt fast einem Neubeginn gleich." Dieses ist fürwahr eine treffliche Lagebeurteilung. Doch was macht der Bundesminister der Verteidigung daraus? Wer nun glaubte, der von der Bundesregierung vorgelegte Einzelplan 14 dieses Bundeshaushaltes würde diese Erkenntnisse aufnehmen und umsetzen, der sieht sich in der Tat getäuscht. Die Philosophie dieses Haushaltentwurfes heißt vielmehr: Fortführen des Begonnenen, globale Minderausgaben statt Schwerpunktbildung. Das Fazit ist: Hier wird nicht neugestaltet, hier wird wider bessere Erkenntnis nur verwaltet. Dies ist keine Politik, sondern Ausdruck der Hilflosigkeit gegenüber den Problemen und Folge einer gedankenlosen Unbekümmertheit, mit der die Bundesregierung insgesamt an die großen Gegenwartsaufgaben herangegangen ist. Wir treten für Umschichtungen ein, die klare Schwerpunkte setzen; wir treten für Kürzungen ein, die dafür die erforderlichen Finanzmittel freimachen können. Die aktuellen Herausforderungen können nicht mit halbherzigem Krisenmanagement unter Ausschluß der Öffentlichkeit bewältigt werden. Eine auf 370 000 Soldaten schrumpfende Bundeswehr muß entschlossen umstrukturiert und neu gegliedert werden, sie muß anders ausgerüstet werden, sie muß einen neuen Auftrag bekommen auf der Grundlage der unveränderten Wertebestimmung unserer Verfassung! Der vorliegende Einzelplan 14 wird dieser Forderung nicht gerecht, da die bisherigen Ausrüstungs- und Rüstungsprogramme nur fortgeschrieben werden. Sie, Herr Bundesminister, haben es zu verantworten, daß wie in den vergangenen Jahren auch in diesem Haushalt wieder der Jäger 90 mit 800 Millionen DM zu Buche schlägt. Und dies, obwohl das europäische Jagdflugzeug 90 wahrscheinlich nie in die Produktion gehen wird. Wären Sie unseren Vorschlägen der vergangenen Jahre gefolgt, hätten durch Streichung des Jäger 90 schon weit mehr als 5 Milliarden DM eingespart werden können. Gerade die Freien Demokraten spitzen hier wie in anderen Fällen ständig den Mund, pfeifen aber nicht. Das Heer reduziert seine Brigadezahl von 42 auf 28. Dieses ist eine gute Entscheidung, ist sie doch der sicherheitspolitischen Entwicklung angemessen. Warum aber, so frage ich, brauchen wir noch etwa 20 mechanisierte Brigaden mit insgesamt über 4 000 Kampfpanzern, wenn rings um uns künftig nur noch befreundete demokratische Staaten sein werden? Obwohl dieses so ist, sind in diesem Haushaltsentwurf noch über 1 Milliarde DM für die Beschaffung von Kampffahrzeugen angesetzt. Die Beschaffung von Munition verschlingt die Riesensumme von über 2 Milliarden DM. Hier liegt unseres Erachtens noch beachtliches Sparpotential. Die Bewilligung von Mitteln für das Entwicklungsprojekt Panzerabwehr-Hubschrauber 2 erscheint uns nicht plausibel. Dieses mag daran liegen, daß es der Bundesregierung bisher nicht gelungen ist, einen vernünftigen Auftrag für die künftigen deutschen Streitkräfte zu formulieren. Wir werden jedoch die vielpropagierte Luftbeweglichkeit so nicht mitmachen. Schon gar nicht sind uns die voraussichtlich enormen Kosten einer künftigen Luftmechanisierung einsichtig. Für diese Rüstungsprojekte gibt es derzeit kein vernünftiges militärisches Konzept und keine sicherheitspolitische Rechtfertigung. Hier wird aus politischen und wirtschaftlichen Erwägungen Geld verteilt, das wir für andere Aufgaben dringend benötigen. Wir fordern die Streichung bzw. drastische Kürzung dieser abrüstungspolitisch schädlichen, sicherheitspolitisch unnötigen und für eine seriöse Streitkräfteplanung nicht erforderlichen Mittel. Wir fordern die Umschichtung von Mitteln zugunsten der dringend erforderlichen Baumaßnahmen und Sanierungsaufgaben in den neuen Bundesländern, z. B. aus den Ausgaben für die NATO-Infrastruktur und aus dem Attraktivitätsprogramm. Baumaßnahmen in den alten Ländern müssen gestoppt oder zumindest gestreckt werden, um für die Soldaten im Osten zumutbare Verhältnisse zu schaffen. Gleiche Lebensbedingungen in Deutschland heißt auch gleiche Bedingungen für die Soldaten in Ost und West. Durch globale Minderausgaben, insbesondere durch Kürzung der extrem hohen Betriebsausgaben müssen umfangreiche Mittel für die Verbesserung der Infrastruktur und zur Unterstützung der Kommunen geleistet werden. Mein Kollege Neumann aus Gotha wird hierzu im einzelnen sprechen. Es ist zu prüfen, ob weitere Mittel zugunsten der Standortkonversion und zur Beseitigung von Altlasten umgeschichtet werden können. Beide wichtigen Themen werden von der Bundesregierung und hier vom Bundesminister der Verteidigung absolut unzureichend behandelt. Von der Verringerung der Streitkräfte, sowohl der Bundeswehr als auch der Stationierungsarmeen, werden viele Soldaten, zivile Beschäftigte, Städte, Gemeinden und Regionen betroffen. Sie, Herr Bundesminister der Verteidigung, vermeiden hartnäckig den gesellschaftlichen Dialog zur Beantwortung wichtigster Fragen, wie: — Was kommt nach dem Militär in den bisherigen Standorten, wenn Divisionsstäbe, Brigadestäbe, Bataillone, Geschwader und andere Einheiten abziehen? — Wie bewältigen wir die Folgen der Truppenreduzierung? — Wie gelingt uns die Umstellung der bislang militärisch genutzten Ressourcen und Dienstleistungen in zivile Verwendung, damit zum einen die Chancen, die in der Abrüstung liegen, genutzt werden können und damit zum anderen die wirtschaftlichen Folgen der Abrüstung gedämpft werden? Mit einem Satz: Wie planen wir sozialverträglich für die betroffenen Menschen, Kommunen und Regionen die Standortekonversion? Was verstehen Sie unter Sozialverträglichkeit, Herr Bundesminister? Erklären Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 877* Sie, daß Sie gewillt sind, für Besitzstandwahrung der betroffenen Soldaten und Zivilbeschäftigten einzutreten. Erklären Sie, daß es keinem Soldaten oder Zivilbeschäftigten schlechter gehen soll als bisher. Erklären Sie, daß Sie Sozialpläne für jede einzelne Dienststelle entwickeln werden. Und erklären Sie schließlich, daß Sie einen nationalen Sozialplan für die Standortekonversion im Bundeskabinett nicht nur vorschlagen, sondern auch verwirklichen wollen. Um hier richtige Positionen beziehen zu können, bedarf es einer vollständigen Transparenz in den militärischen Angelegenheiten, die insbesondere wirtschaftliche Komponenten haben, und umfassender, frühzeitiger Information der politisch Verantwortlichen, auch des Verteidigungsausschusses, der Betroffenen und Beteiligten durch die Bundesregierung und durch Sie, Herr Bundesminister! Leider weigern Sie sich, Herr Dr. Stoltenberg, die Auswirkungen der Abrüstung und der damit verbundenen Verkleinerung oder Auflösung von Garnisonen öffentlich und mit den Betroffenen zu diskutieren. Sie nennen keine Zahlen für Soldaten und Zivilbedienstete, die betroffen sein werden, Sie nennen keine Standorte und haben kein Konzept für den Verminderungs- und Konversionsprozeß. Ein weiteres Mal hoffen Sie, über einen wichtigen Wahltermin, nämlich den 21. April 1991, im stark betroffenen Bundesland Rheinland-Pfalz zu kommen. Dabei gilt hier der Grundsatz: Je früher Tatsachen offengelegt werden, desto leichter können sich alle Beteiligten darauf einstellen und planen! Die SPD fordert seit Beginn dieser Entwicklung ein Konversionsprogramm, das den wirtschaftlichen Folgen von Abrüstung, Truppenreduzierungen und Standortauflösungen Rechnung trägt und einen Ausgleich vorsieht. Wir verlangten dies bereits Anfang des Jahres 1990 im Zusammenhang mit der frühzeitigen Einbindung aller Betroffenen in diesen Prozeß. In unserem Regierungsprogramm, das uns auch in der Opposition verpflichtet, werden regionale Strukturprogramme für betroffene Gebiete — unter anderem dotiert mit freiwerdenden Mitteln aus dem Verteidigungsetat — vorgesehen. In vielen Fachkonferenzen über die Standortkonversion in den Bundesländern haben wir die Unsicherheit verspürt. Mühevoll haben wir uns Zahlen über die Soldaten und Zivilbeschäftigten in den militärischen Standorten, Aussagen über das Profil der Beschäftigten und ihrer Arbeitsplätze, über die Altersstruktur, über die Wirtschaftskraft der Streitkräfte und die Abhängigkeiten von Dienstleistungen aller Art besorgt. Dies hilft uns, die Fördergebiete, ihre Förderkulisse und die daraus resultierenden Förderungsmittel besser beurteilen zu können. Gegen Ihre Verschleierungstaktik, Herr Dr. Stoltenberg, mußten wir angehen, damit die Bekanntgabe der Pläne über den Abbau und die Umorganisation von Bundeswehrstandorten forciert und schließlich wieder Sicherheit für Arbeits-, Lebens- und Wirtschaftsplanungen der betroffenen Menschen und Regionen geschaffen wird. Die Soldaten und Zivilbeschäftigten sind nämlich nicht so unmündig und passiv, wie Sie offensichtlich vermuten. Vielleicht empfinden sie die Konversion und Reduzierung auch als Chance, ihre bisherige Lebensplanung zu verändern. Sie wollen ihr Schicksal in die Hand nehmen und nicht der Bürokratie im BMVg überlassen. So kann ich nur meinen Appell wiederholen: Informieren Sie lieber schnell als später vollständig! In der Armee ist es inzwischen ein geflügeltes Wort: Der Mensch steht im Mittelpunkt und damit allen im Wege. Jeder weiß, daß bis 1994 militärisches und ziviles Personal in großem Umfang abgebaut werden muß. Vielleicht sage ich Ihnen etwas Neues: Aussteuern und Umsetzen von Personal kostet Geld. In diesem Haushaltsentwurf ist noch nirgendwo ein Hinweis auf die Kosten des im Entwurf schon existierenden Personalstrukturgesetzes. Die Anhebung der Gehälter in den neuen Bundesländern auf Westniveau wird sich nicht dadurch vermeiden lassen, daß man sie nicht in den Haushaltsentwurf aufnimmt. Allen ist bekannt, daß die Bezüge noch in diesem Jahr auf 60 % der vergleichbaren Westgehälter angehoben werden müssen. Auch dieses ist im Haushalt nicht vorgesehen. Auch hier finden wir einen deutlichen Beweis für die Konzeptionslosigkeit der Bundesregierung: Während im Westen in Kürze Stellen in erheblichen Umfängen abgebaut werden müssen, werden derzeit im Osten im großen Stil Stellen angehoben. Der Verdacht drängt sich auf, daß hier an dem Erfordernis vorbei in einer unübersichtlichen Lage noch schnell Karrieren gezimmert werden, die nicht gerechtfertigt sind. Obwohl im Verteidigungshaushalt das Geld an allen Ecken und Enden fehlt, scheut sich diese Bundesregierung nicht, über 640 neue Planstellen für Soldaten und Beamte aus dem Westen zu fordern, die als Führungspersonal für den Aufbau der Bundeswehr im Osten vorgesehen sind, davon allein 14 Generale, 292 Obristen und Oberstleutnante und 77 Stellen für Zivilpersonal im höheren Dienst. Und dies erfolgt alles vor dem Hintergrund der umfangreichsten Personalreduzierung der Bundeswehr, die man sich nur vorstellen kann; dies erfolgt, so grotesk es auch anmutet, parallel zu einem in Arbeit befindlichen Personalverminderungsgesetz. Sollen hier Leute nochmals befördert werden, um sie kurz darauf in den vorzeitigen Ruhestand zu schicken? Warum gehen Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, so großzügig mit den Steuermitteln unserer Bürger um, so müssen Sie sich fragen lassen. Wir Sozialdemokraten fordern, daß stattdessen im Haushalt 1991 sichergestellt wird, daß alle Portepeeunteroffiziere vor ihrem Ausscheiden zum Stabsfeldwebel befördert werden können. Der Haushalt für 1991 sieht auch wieder keine einzige Planstelle A 13g für Offiziere des militärfachlichen Dienstes vor, obwohl bereits im letzten Haushalt der Verteidigungsausschuß dies beschlossen hatte. In den übrigen Verwaltungen gibt es bei vergleichbaren Tätigkeiten bereits die Möglichkeit, die Besoldungsstufe A 14 g zu erreichen. Den Soldaten verweigert man nach wie vor mit fadenscheinigen und absolut nicht stichhaltigen Gründen das Erreichen der Besoldungsstufe A 13 g. Wir Sozialdemokraten fordern die erforderlichen Planstellen im Haushalt 1991. Auch bei den zivilen Mitarbeitern der Bundeswehr vermissen wir im Haushalt die notwendigen Verbesserungen im Bereich des mittleren und gehobenen Dienstes. Auch das hat mit einer sozialen Politik nichts zu tun. Wir jedenfalls werden in der Kontinuität unserer so- 878* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 zialen Forderungen für die Streitkräfte bleiben. Daher werden wir das Thema Dienstzeitbelastung wieder auf die Tagesordnung dieser Legislaturperiode setzen und darauf drängen, daß eine gesetzliche Regelung der Dienstzeit auch für Soldaten endlich eingeführt wird. Auch die Frage der Beteiligungsrechte werden wir wieder aufnehmen und unseren leider zum Ende der letzten Legislaturperiode abgelehnten Gesetzentwurf wieder einbringen. In Europa sind wir auf dem Wege internationaler Zusammenarbeit und Übertragung souveräner Rechte auf multinationale Institutionen schon ein gutes Stück vorangekommen. Die SPD ist für eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Gemeinschaft. Dies kann am Ende auch gemeinsame europäische Streitkräfte bedeuten. In allen Parteien, in den Medien und in der Bevölkerung wird eine heftige Debatte geführt über die künftige Rolle Deutschlands im Rahmen von Aktionen der Vereinten Nationen. Wir stehen unter erheblichem internationalen Druck zugunsten einer Entscheidung für mehr internationales militärisches Engagement. Im Rahmen einer Fortschreibung des Grundgesetzes muß diese Frage geklärt werden. Vor einer Entscheidung wollen wir jedoch darüber eine breite gesellschaftliche Diskussion führen. Dabei wird eine Rolle spielen, daß der Gewaltverzicht Deutschlands bei den Bürgerinnen und Bürgern tief verwurzelt ist. Andererseits wissen wir, daß die Weltorganisation nicht völlig auf Zwangsmittel verzichten kann. Wir wollen diese Debatte in großer Ernsthaftigkeit und dem Friedensgebot unserer Partei verpflichtet mit der Öffentlichkeit führen. Ich möchte an dieser Stelle die Kolleginnen und Kollegen der Regierungskoalition nachdrücklich auffordern: Brechen Sie eine solche Entscheidung nicht über's Knie. Was wir brauchen ist eine neue Legitimationsbasis für unsere Streitkräfte. Eine Verfassungsänderung muß von einer überzeugenden Mehrheit der Bevölkerung getragen werden. Hierfür werden wir die politischen Bedingungen definieren müssen, unter denen die Bundesrepublik als Mitglied der Vereinten Nationen nötigenfalls auch einen militärischen Beitrag zur Friedensbewahrung oder Friedenswiederherstellung im Rahmen der UNO leisten sollte. Es wird weiterhin zu prüfen sein, wie das Grundgesetz bzw. die zukünftige deutsche Verfassung diese politisch gewollte Entscheidung hinreichend präzise begrenzen kann, um Mißbrauch auszuschließen. Auf dieser Basis lassen sich auch Einzelfragen aus dem Spannungsfeld Wehrpflicht, allgemeine Dienstpflicht, Wehrgerechtigkeit sowie Auftrag und Umfang künftiger deutscher Streitkräfte sehr viel leichter lösen. Meine Damen und Herren, der vorliegende Etatentwurf wird den tiefgreifenden Änderungen der Außen- und Sicherheitspolitik nicht gerecht. Er bietet keine Grundlage für einen Umbau unserer Streitkräfte, der sich an den drastisch veränderten strategischen und operativen Gegebenheiten orientiert. Unsere Bundeswehr muß nicht nur umstrukturiert und neu gegliedert werden. Was das eigentliche Defizit ist: Nach dem Wegfall der Ost-West-Konfrontation hat unsere Bundeswehr keinen konkreten und plausiblen Auftrag. Und hier liegt das Grunddilemma dieses Etatsentwurfs: Wenn der politische und strategische Überbau fehlt, kann eigentlich nicht neu strukturiert werden und sind Rüstungsprogramme reine Makulatur. Was aber tut die Bundesregierung? Was tun Sie, meine Damen und Herren, von der Koalition? Man hält sich bedeckt! Man sitzt aus! Man wartet, bis in den internationalen Gremien vorgedacht wird. Man tastet im nationalen Bereich mit der Stange im Nebel, wo Führung und Gestaltungskraft gefordert sind. So schickt z. B. die CDU ihren Generalsekretär Volker Rühe als Minenhund mit der Bemerkung vor, die Bundeswehr solle im Rahmen der Westeuropäischen Union künftig zur Wahrung europäischer Interessen auch außerhalb Europas eingesetzt werden können, „wenn es" , so Rühe wörtlich, „beispielsweise um die Herstellung internationalen Rechts" gehe. Was sind denn europäische Interessen? Wo ist die Grenze zu Interessen eines europäischen Partnerlandes? Hier ist die Bundesregierung aufgefordert, endlich Klarheit in die Diskussion zu bringen. Zunächst müssen unsere Sicherheitsinteressen klar und eindeutig definiert werden. Was dann den militärischen Anteil unserer Sicherheitspolitik anbelangt, wollen wir, meine Damen und Herren, der Bundeswehr die Mittel und die Möglichkeiten, die sie zur Erfüllung des von uns, vom Deutschen Bundestag gestellten Auftrages braucht, nicht verweigern. Lassen Sie uns dieses gemeinsam in die richtige Reihen- und Prioritätenfolge bringen und uns der Verantwortung bewußt sein, daß Haushaltsgelder, die anderenorts viel dringender gebraucht werden, nicht für unsinnige Programme und überholte Projekte ausgegeben werden dürfen. Erst dann können wir auch die innere Krise, die Desorientierung und Motivationsdefizite in der Truppe überwinden. Unser gemeinsames Ziel muß sein, eine friedens- und abrüstungsorientierte Sicherheitspolitik zu definieren und eine entsprechend den verteidigungspolitischen Erfordernissen richtig strukturierte und gerüstete Bundeswehr als zuverlässiges Instrument dieser Politik zu ermöglichen. Wenn wir dann noch einen hohen Akzeptanzgrad für den Auftrag unserer Streitkräfte in der Bevölkerung erreichen, kann man auch in Etatforderungen umsetzen, was unsere Sicherheit und damit dem Frieden dienlich ist. Carl-Ludwig Thiele (FDP): Als ich im letzten Jahr für den Deutschen Bundestag kandidierte, hatte nicht nur ich, sondern hatten auch große Teile der Bevölkerung das Gefühl, daß das Zeitalter der Bedrohungen beendet sei und das Zeitalter des Friedens Einzug halten werde. Auf grausame Weise sind wir dann ja alle von dem Golfkrieg zunächst eines anderen belehrt worden. Ich hatte damals gewünscht, daß die Sanktionen und die politischen Bemühungen zum Erfolg, nämlich einem Abrücken der irakischen Armee aus Kuwait führen. Rückblickend muß ich feststellen, daß diese Sanktionen wohl nicht zum Erfolg führen konnten, da Saddam Hussein sein Volk so unterdrückte und heute noch unterdrückt, daß auch eine Not im Volk den Sturz des Diktators nicht hätte herbeiführen können Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 879* und offensichtlich auch jetzt noch nicht herbeiführen kann. Dieser Krieg hat aber auch gezeigt, daß für die Bewahrung von internationalem Recht, Frieden und Freiheit notfalls gekämpft werden muß. Ich möchte an dieser Stelle den Streitkräften der Alliierten danken. Dank möchte ich auch unseren Soldaten aussprechen, die in der Türkei und im Mittelmeer gezeigt haben, daß wir Teil der NATO sind und zu unseren Bündnisverpflichtungen stehen. Ich möchte an dieser Stelle aber nicht unerwähnt lassen, daß unser Grundgesetz uns mit gutem Grund enge Schranken für den Einsatz der Bundeswehr auferlegt hat. Nach unserer Auffassung besteht der Auftrag unserer Streitkräfte darin, Kriege zu verhindern und Frieden zu bewahren. Friedenspolitik ist deshalb die beste Verteidigungspolitik. Friedenspolitik ist deshalb auch die liberale Gestaltung der Außenpolitik, denn der Frieden ist die unabdingbare Voraussetzung für ein Leben in Freiheit und Menschenwürde. Liberale tragen seit 1969 die Verantwortung für die deutsche Außenpolitik. Walter Scheel und Hans-Dietrich Genscher haben hierfür in der sozial-liberalen wie auch in der christlich-liberalen Regierung gekämpft und gearbeitet. Diese Friedenspolitik auf der Grundlage von Solidarität und Vertrauen in einem Bündnis demokratischer Staaten führte zu den internationalen Menschenrechts- sowie Abrüstungskonferenzen. Auf Grund des Erfolgs dieser Konferenzen und auf Grund der durch Generalsekretär Gorbatschow ermöglichten tiefgreifenden Veränderungen im Osten, im Ost-West-Verhältnis sowie in dem nunmehr wiedervereinten Deutschland müssen bei uns in der Bundeswehr bisherige Konzepte und Strukturen überdacht und neu definiert werden. Dieser Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 1991 trägt dem schon Rechnung. Die nächsten Haushalte werden es ebenfalls tun. Wenn man sich ansieht, daß der gesamte Haushalt der Bundesrepublik 300 Milliarden DM in 1990 auf gut 400 Milliarden DM in 1991 gestiegen ist, so findet man in diesen Zahlen die deutsche Einheit und die um ein Drittel größer gewordene Bundesrepublik augenfällig wieder. Der Verteidigungshaushalt ist demgegenüber nicht gestiegen, sondern sogar gesunken. Gegenüber dem Haushaltsansatz für die Bundeswehr Ost und West von gut 60 Milliarden DM wurden rund 7,5 Milliarden DM eingespart. Unsere Bundeswehr hatte 495 000 Mann; die NVA hatte 170 000 Mann. Hinzu kamen auf dem Gebiet der alten DDR mehr als 400 000 Mann Betriebskampfgruppen bzw. paramilitärische Verbände. Ohne diese Verbände ergibt sich, daß es vor der deutschen Einheit 665 000 deutsche Soldaten gab. Die Gesamtstärke soll stufenweise auf 370 000 Mann, mithin etwas mehr als die Hälfte, innerhalb von nur vier Jahren bis Ende 1994 gesenkt werden. Da diese Senkung nicht sofort durchgeführt werden kann, haben wir einen Verteidigungshaushalt vorliegen, der so personalintensiv ist, wie noch nie einer war. 48 % werden für Personal ausgegeben. Dies ist ein Anteil, der nur als Übergang in dieser Höhe bestehen kann. An diesen Zahlen wird deutlich, daß der Verteidigungshaushalt 1991 einen Einschnitt in die europäische und die deutsche Politik markiert. Vor allem ist dies ein Einschnitt in Umfang und Struktur der Bundeswehr. Die von der FDP in diesem Hohen Hause unter Berücksichtigung der gesamtpolitischen Entwicklung schon in der 11. Legislaturperiode als verantwortbar geforderte Trendumkehr bei Verteidigungsausgaben unseres Landes nimmt nun konkrete Formen an. Die Verschiebung der Schwerpunkte im Einzelplan 14 kennzeichnet den Umbruch, der sowohl die angestrebte Verkleinerung der Bundeswehr insgesamt wie vor allem die Integration des östlichen Teils — der ehemaligen NVA — personell und materiell verkraften muß. Ein wesentliches Problem besteht in diesem Haushalt auf dem Gebiet der Bundeswehr Ost. Ich hatte noch Dienstag letzter Woche die Möglichkeit, dort Besichtigungen vorzunehmen und Gespräche zu führen. Unser Ziel muß es sein, aus dem Bereich der Bundeswehr Ost und dem Bereich der Alt-Bundeswehr — die in den neuen Bundesländern „Original-Bundeswehr" bezeichnet wird — eine einzige Bundeswehr zu werden. Dies setzt voraus, daß Vertrauen geschaffen wird. Das ist besonders deshalb erforderlich, weil das kommunistische System der SED das Land und die Menschen ausgeplündert hat, um sich hochzurüsten. Lassen Sie mich hierzu einige Zahlen nennen, die einen Teil der Problemlage verdeutlichen: Ca. 250 000 t Munition müssen entsorgt werden. Nach Ratifizierung der Wiener Verträge sind ca. 11 000 Panzer und gepanzerte Fahrzeuge zu vernichten. Von ca. 100 000 vorgefundenen Fahrzeugen sind 70 000 Fahrzeuge auszusondern. Bei der Summe der übernommenen Liegenschaften müssen im erheblichen Umfang Wachdienste geschoben werden. Ein kurzfristig erreichbarer Schwerpunkt muß darin liegen, von der Bewachung auf den Dienst und die Ausbildung übergehen zu können. Dies ist auch wichtig für die Motivation der Bundeswehr im Osten. Vergleicht man ferner die räumliche Unterbringung der Soldaten in den neuen Bundesländern, so wird offensichtlich, daß hier direkter und konkreter Handlungsbedarf besteht. Küchen und Sanitätseinrichtungen sowie die Unterkünfte sind vorrangig herzurichten. Auf Grund der altertümlichen und enorm personalintensiven Heizanlagen sind auch in diesem Bereich schleunigst Verbesserungen herbeizuführen. Es sollte alles getan werden, damit die hierfür vorgesehenen Mittel in der Größenordnung von mehreren hundert Millionen DM sofort eingesetzt werden, damit gröbste Mißstände beseitigt werden. Man muß sich vor Augen führen, daß man hier mit relativ geringen Mitteln ein Maximum an Erfolg und Verbesserung erreichen kann. Diese Aufträge sollten insbesondere an ortsansässige kleinere Unternehmen und Handwerker vergeben werden. Dieses kann dann gleichzeitig zu gewünschter Beschäftigung in den neuen Bundesländern führen. 880* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 Ein ganz wesentliches Ziel von uns allen muß es sein, in den neuen Bundesländern Vertrauen in und für die Bundeswehr zu schaffen. Dieses setzt voraus, daß die innere Führung in der Bundeswehr gerade in den neuen Bundesländern gilt. Es muß deutlich werden, daß es in der Bundeswehr zu den besonderen Pflichten des Vorgesetzten gehört, Würde und Rechte des Soldaten zu respektieren, durch eigene Haltung und Pflichterfüllung innerhalb und außerhalb des Dienstes ein Beispiel zu geben und von seiner Befehlsgewalt im Bewußtsein seiner Verantwortung Gebrauch zu machen. Diese Tradition der inneren Führung in unserer Bundeswehr muß fortgesetzt werden. Es muß deutlich werden, daß in unserem Staat Soldaten Rechte auch gegenüber Vorgesetzten haben. Ich begrüße es, daß von den Generälen der NVA niemand und von den gut 2 200 Obersten lediglich 80, teilweise unter erheblicher Herabstufung, befristet von der Bundeswehr übernommen wurden. Man muß sich immer wieder vor Augen führen, wie kopflastig und funktionärsartig die NVA aufgebaut war: Bei der Bundeswehr gab es für 100 Mannschaftsdienstgrade ca. 12 Offiziere, bei der NVA 32. Lassen Sie mich an dieser Stelle einen Punkt nennen, der noch diskutiert werden muß: Wehrpflichtige in den neuen Bundesländern erhalten 250 DM Weihnachtsgeld und 500 DM Entlassungsgeld. Wehrpflichtige in der alten Bundesrepublik erhalten 380 DM Weihnachtsgeld und 2 500 DM Entlassungsgeld. Da Wehrpflichtige nach meiner Auffassung nicht mit normalen Bediensteten gleichgestellt werden dürfen und auch nicht so einzustufen sind, sondern etwas anderes darstellen, sollte diese unterschiedliche Behandlung im Westen und im Osten Deutschlands aufgegeben und eine einheitliche Regelung gesucht werden. Für mögliche Zusatzausgaben ist eine kostenneutrale Deckung im Einzelplan zu suchen. Lassen Sie mich abschließend für die FDP feststellen, daß nach unserer Auffassung die Bundeswehr im Rahmen der künftigen europäischen Sicherheitspolitik einen wichtigen Beitrag leisten muß und leisten wird. Für mich als neuen Abgeordneten ist es eine besondere Herausforderung, in dieser Zeit als Berichterstatter der FDP für den Verteidigungsetat im Haushaltsausschuß tätig zu sein. Wenn politische Tätigkeit Gestalten und nicht nur Verwalten bedeutet, dann liegen sehr politische Jahre vor uns. Andrea Lederer (PDS/Linke Liste): Wer heute abend die Nachrichten verfolgen konnte, durfte feststellen: Noch bevor hier die Debatte um den Verteidigungshaushalt begonnen hat, fordert Verteidigungsminister Stoltenberg weitere 16,5 Milliarden DM für Neuinvestitionen! Die Kosten für den Minensuchbooteinsatz sind im jetzt vorgesehenen Haushalt auch noch nicht enthalten. Das sind aktuelle Beispiele für die Uferlosigkeit dieses Rüstungshaushaltes. Nicht ohne Grund hatten wir die Verschiebung der Haushaltsdebatte beantragt und als Debattenort Berlin vorgeschlagen. Gerade der Entwurf des Verteidigungshaushaltes rechtfertigt und begründet unseren Antrag. Es zeugt von Demokratieverständnis dieser Regierung, daß den Volksvertreterinnen am Freitag der Vorwoche der mehrere hundert Seiten dicke Haushalt zugeleitet wird, der vier Tage später im Plenum verhandelt werden soll. Die ernsthafte und gründliche Auseinandersetzung mit diesem Haushaltsteil hätte Zeit und umfassende Erläuterungen seitens der Bundesregierung benötigt. Kaum ein anderer Teil des Haushaltsentwurfs vermag so drastisch den Menschen in den sogenannten fünf neuen Ländern vorzuführen, welcher Stellenwert ihrer sozialen und wirtschaftlichen Katastrophe beigemessen wird. An die Adresse des Kollegen Schulz vom Bündnis 90. Gerade auf Grund Ihrer Sympathien für den Inhalt des Antrages halte ich es für wenig nachvollziehbar, diesen mit formaler Argumentation abzulehnen, zumal da der Inhalt offensichtlich nicht schwer zu erfassen war. Ich hätte mir gewünscht, im Jahre 5 nach Einleitung der außen- und sicherheitspolitischen Perestroika in der Sowjetunion und im Jahre 2 nach der Wende in der DDR, kurz: nach dem Ende des Kalten Krieges, zu etwas Erfreulicherem als einem gigantischen Rüstungshaushalt reden zu können. Allein die Existenz des Einzelplans 14 und weiterer offener und versteckter Militärausgaben in anderen Einzeltiteln des Haushalts ist nicht nur ein Ärgernis, sondern beredtes Zeugnis alten Denkens dieser Bundesregierung. Dieses alte Denken setzt sich bei der veranschlagten Höhe der militärischen Ausgaben fort. Während der Öffentlichkeit Verteidigungsminister Stoltenberg quasi am Bettelstab hinkend vorgeführt wird, während von angeblich drastischer Kürzung des Rüstungshaushalts die Rede ist, ergibt sich für 1991 ein Betrag an Finanzmitteln für militärische Zwecke in einer Höhe von über 66 Milliarden DM. Die Gruppe der PDS/Linke Liste macht nämlich die regierungsamtliche Trennung bei den Militärausgaben zwischen den direkten Mitteln für das Verteidigungsministerium und den Mitteln zur Unterstützung des Golfkriegs nicht mit. Dabei sind in dem von mir genannten Betrag weitere militärische Ausgaben noch nicht enthalten: die Rüstungssonderhilfen und NATO-Verteidigungshilfen, die Versorgungsbezüge der Soldaten der Bundeswehr, die Wehrstrafgerichtsbarkeit und anderes. Die realen Ausgaben der BRD im Jahr 1991 für militärische Zwecke dürften weit über dem offiziell eingeräumten Milliardenbetrag liegen. Das ist ein neuer bundesdeutscher Rekord, traurig und zynisch zugleich. Denn mit diesem militärischen Gesamtetat wurde und wird nicht mehr nur der Kalte Krieg, sondern zum ersten Mal in dieser Größenordnung zugleich ein heißer Krieg mitfinanziert. Unter dem Titel „Allgemeine Finanzverwaltung" findet sich der Posten „Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Golfkrieg", der mit einem Betrag von angekündigt insgesamt rund 17 Milliarden DM die Mitverantwortung der Bundesregierung an dem verheerenden Krieg der USA im Nahen Osten symbolisiert. „Allgemeine Finanzverwaltung" — soll das eindeutige Kriegsfinanzierung zur allgemeinen unspektakulären Normalität deklarieren? Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 881* In diesem Kontext ist noch einmal auf das Thema Kriegssteuer einzugehen, denn Finanzminister Waigel hat hier gestern dankenswert offen den Charakter der Steuer dargelegt. Er sagte: Wären nicht die Kriegsausgaben anläßlich des Golfkrieges entstanden, so gäbe es im Frühjahr 91 keine Steuererhöhung: Die Wahrheit liegt vermutlich in der Mitte zwischen Steuerlüge und Kriegsfinanzierung. Aber aus Herrn Waigels Erklärung ist der logische Schluß folgender: Die Bevölkerung darf für diesen Krieg zahlen; die Lage in den neuen Bundesländern war derartige finanzielle Maßnahmen nicht wert; Maßnahmen, die in ihrer von der Bundesregierung beschlossenen Art obendrein zutiefst unsozial sind. In dieser Verteilung der Gelder für heiße und kalte Kriege spiegelt sich das Verständnis wider, das die Bundesregierung von der sogenannten neuen deutschen Verantwortung hat, das — wie alle laufenden Diskussionen von der Eingreiftruppe bis zu Out-ofarea-Einsätze — von Militarisierung, von Großmachtpolitik geprägt ist. Die Menschen in den neuen Bundesländern können Militärausgaben in dieser Größenordnung nur als Zynismus empfinden angesichts der dortigen katastrophalen Lage, die der Crash-Kurs der Bundesregierung nach sich zieht. Wir werden ihnen raten, sich das Geld zum Leben von der Hardthöhe zu holen. Ein weiterer Roßtäuschertrick läuft im Zusammenhang mit der geplanten Reduzierung der Bundeswehr. Laut Unterrichtung der Bundesregierung über den Finanzplan 1990-1994 soll die Reduzierung auf 370 000 Mann bis 1994 „mit dem Inkrafttreten des ersten KSE-Vertrages beginnen" . Die in Paris vereinbarte Reduzierung hat aber unabhängig von den KSE- Verhandlungen zu erfolgen. Diese Verknüpfung ist unzulässig. Abgesehen davon, daß in unseren Augen 70 Milliarden DM Militärausgaben genau 70 Milliarden zuviel sind, zeigt sich unter dem Stichwort Reduzierung eine weitere Entwicklung, die ins Bild paßt: Natürlich sind 370 000 weniger als 495 000 Soldaten. Aber gleichzeitig vollziehen sich im Rahmen dieser Reduzierung eine Modernisierung und Umstrukturierung der Bundeswehr, die — schon lange geplant — jetzt ihren Anfang in den neuen Ländern nehmen und die eine offenkundige Vorbereitung auf das sind, was heute bereits ausführlich diskutiert wurde: Einsatzfähigkeit deutscher Truppenteile, innerhalb und außerhalb des NATO-Gebietes, unter UNO oder NATO oder bundesdeutschem Kommando. Das als Abrüstung in Form der bloßen Reduzierung zu verkaufen, ist Täuschung wie so vieles andere in der Regierungspolitik. Diese Entwicklung muß verstärkt Gegenstand öffentlicher Aufmerksamkeit werden. Selten war der Widerspruch zwischen regierungsamtlicher Friedens- und Abrüstungsrhetorik und der unproduktiven und unsozialen Auswirkungen von Militär so augenfällig wie in der aktuellen Situation. Die PDS/Linke Liste lehnt daher den Rüstungshaushalt ab, weil er für eine Politik steht, die nichts mit Friedenspolitik zu tun hat. Wir unterstützen die Forderungen der Friedensbewegung gegen eine Ausweitung des militärischen Handlungsspielraums der Bundesrepublik, wie er derzeit mit der geplanten Grundgesetzänderung und den Diskussionen um Eingreiftruppen vorbereitet wird, an denen sich zu unserem Bedauern mittlerweile immer mehr SPD-Politiker durch die Befürwortung von Blauhelmtruppen und mehr beteiligen. Wir hoffen, der SPD-Parteitag bringt ein Votum, das der heutigen Anzeige in der Frankfurter Rundschau entspricht: gegen eine Grundgesetzänderung, gegen Schnellschüsse, wo es bitterernst ums Schießen geht! Vera Wollenberger (Bündnis 90/GRÜNE): Dieser Militärhaushalt ist ein Haushalt wie aus den Zeiten des Kalten Krieges; man spürt noch immer den abschreckenden Geist der Ost-West-Konfrontation. Die Bundesregierung hat damit eine große Chance vertan, denn eigentlich hätten vom ersten gesamtdeutschen Haushalt wesentliche Impulse für eine friedliche Zukunft Europas ausgehen müssen. Statt dessen ist der Trend zur Hochrüstung ungebrochen. Um der neuen Situation nach dem Zusammenbruch der Ost-West-Konfrontation dennoch Rechnung zu tragen, versucht die Bundesregierung mit haushaltstechnischen Tricks, kosmetischen Eingriffen und einem finanztechnischen Bäumchen-Wechsel-DichVersteckspiel, der Öffentlichkeit den Eindruck vermitteln, als werde im Militärhaushalt konsequent und hart gespart. Außenpolitisch möchte sie wohl dokumentieren, daß sie sich nach der Ratififzierung der Zwei-plus- Vier-Verhandlungen im Militärhaushalt Einschränkungen auferlege. Leider ist dem nicht so. Die militärische Kunst der Tarnung im Haushaltsressort der Hardthöhe ist lediglich zu einer gewissen Perfektion entwickelt worden. Man könnte es auch bewußte Irreführung der Öffentlichkeit nennen. Die Militärausgaben reduzieren sich keineswegs auf den Einzelplan 14, sondern sind als verteidigungsrelevante Kosten in anderen Einzelplänen versteckt. Zählt man diese getarnten Kosten mit, ergibt sich die unglaubliche Summe von über 73 Milliarden Mark. Damit steht dieser neue Entwurf in der Tradition des Kalten Krieges und des Wettrüstens. Dieser Militärhaushalt ist durch keine sicherheits- oder außenpolitische Entwicklung begründet. Er steht in einem eklatanten Widerspruch zu den außen- und sicherheitspolitischen Veränderungen in Europa, die sich doch eigentlich bis auf die Hardthöhe herumgesprochen haben müßten. Der Warschauer Pakt wird am 1. April 1991 endgültig sein Leben aushauchen; die Sowjetunion hat ihr westliches Vorfeld geräumt und auch ihre Fähigkeit zu „raumgreifenden offensiven Operationen" verloren, und nicht zuletzt sprechen die demokratischen Entwicklungen in Osteuropa gegen eine weitere Aufrechterhaltung des militärischen Apparates in diesem gigantischen Umfang. Was sich dieser Tage in Albanien und in Italien abgespielt hat, ist ein Vorgeschmack dessen, was Westeuropa und Deutschland in unmittelbarer Zukunft erwartet. Gegen ein Millionenheer von ökologischen und wirtschaftlichen Flüchtlingen helfen weder Panzer noch Patriots. Helfen könnten nur radikales Um- 882* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 denken in Richtung eines ökologischen Umbaus der Weltwirtschaft, eines Konzeptes der ökologischen Sicherheit und einer gerechten Weltwirtschaftsordnung. Der notwendige erste Schritt dazu wäre konsequente Abrüstung und Konversion. Aber im Zahlenwald des Militärhaushalts ist von Umdenken nichts zu spüren. Im Gegenteil, während sich der Warschauer Pakt auflöst, wird keineswegs am Abbau der NATO gearbeitet, sondern an einem neuen Feindbild, das die Fortexistenz des Bündnisses legitimieren soll. Im Golfkonflikt wurde ein mittelmäßiger Wüstendiktator zu einem neuen Hitler hochstilisiert, ihm die viertgrößte Militärmacht der Welt angedient, und dann wurde ohne Rücksicht auf die Folgen für die Bevölkerung und die Umwelt der Krisenregion das „zwangsabgerüstet" , was ihm vorher eilfertig und gewinnbringend geliefert worden war. Mit dem Krieg am Golf sollte nicht nur der Irrglauben an die Führ- und Gewinnbarkeit von Kriegen genährt, sondern auch die Forderung nach der HighTech-Waffentechnologie und damit nach weiterer Aufrüstung legitimiert werden. Darüber hinaus soll er für die Befürworter weltweiter Einsätze der Bundeswehr in Zukunft wohl als Paradebeispiel für eine „effektive Konfliktlösung" dienen. Um das zu erreichen, wurde dieser Krieg unter künstlichen Bedingungen geführt, unter einer bewußten Ausklammerung der gravierenden ökologischen Folgen für die Golfregion und darüber hinaus. Aber gerade diese Inkaufnahme scheinbar unscheinbarer „Nebenfolgen" beweist die Unhaltbarkeit der Clausewitzschen Denkweise. Denn für Clausewitz, jenen Kriegstheoretiker der napoleonischen Zeit und Lieblingszitatlieferanten für die amerikanische Militärführung, waren die globalen Folgen moderner Kriegsführung nicht existent und die globalen Folgen hemmungslosen Wettrüstens unbekannt. Kommen wir nun zum Militärhaushalt. Ein Trend durchzieht den gesamten Entwurf: Wenn man schon zur Abrüstung genötigt wird, dann, bitte schön, sollen erst mal die schrottreifen Waffen ausgemustert werden. Wenn man die Zahl der Waffen schon reduzieren muß, dann soll dies wenigstens durch qualitative Verbesserungen ausgeglichen werden. Was diese Regierung vorbereitet, ist keine wirkliche Abrüstung, sondern die propagandistische Vermarktung einer völkerrechtlich verbindlichen Zusage als Anpassung an militärische Notwendigkeiten. High-Tech soll die Lücke schließen, die die Reduzierung hinterläßt. Außerdem ist in diesem Militärhaushalt nicht der geringste Ansatz für den vielprophezeiten Umbau und die Strukturreform der gesamtdeutschen Streitkräfte erkennbar. Dabei ist doch der Zeitraum für diese dringend erforderlichen Veränderungen durch bereits getroffene nationale und internationale Entscheidungen klar vorgegeben. Wo sieht man in diesem Entwurf die Umsetzung der Ergebnisse der Rüstungskontrollverhandlungen in Wien oder die Implementierung der in den Zwei-plus- Vier-Verhandlungen vereinbarten Obergrenze der Personalstärke von 370 000 Mann? Natürlich sind wir als Vertreter des Bündnisses 90/ GRÜNE sehr erfreut, daß im Einzelplan 14 in diesem Jahr erstmals ein Posten „Rüstungskontrolle und Abrüstung" auftaucht — ein Ereignis, auf das die ehemalige Fraktion DIE GRÜNEN IM BUNDESTAG Jahr um Jahr leider vergeblich warten mußte. Leider wurde uns bis jetzt keine Einsichtnahme in die sogenannten geheimen Erläuterungsblätter ermöglicht. Deshalb ergeben sich für uns folgende Fragen: Was verbirgt sich hinter den Ausgaben für wehrtechnische Forschung, Technologie, Entwicklung und Erprobung? Sollen sie der Konversion dienen, oder werden sie für die Entwicklung von Spionagesatelliten genutzt? Worauf bezieht sich der Aufwendungsersatz für die Stornierung der Verträge der ehemaligen NVA? Übernimmt die Bundeswehr möglicherweise ehemalige Rüstungsexportverpflichtungen der NVA? Diese Fragestellung ist uns um so wichtiger, als die für den Aufwendungsersatz veranschlagte Summe von 120 Millionen die Hälfte der Gesamtausgaben des Kapitels ausmachen. Die Bundesregierung setzt voll auf den weiteren Ausbau der modernen Kriegstechnologie, auf die „smarten" Killerwaffen, die präzise durch Bunkertüren Hunderte von Zivilisten töten. Dies zeigt sich an der deutlichen Prioritätensetzung der Ausgaben für Forschung, Entwicklung und Erprobung. Dieser Militärhaushalt wird, nachdem er kaum noch durch die klassische Bedrohung durch die Sowjetunion begründet werden kann, nun mit neuen Bedrohungen und neuen Feinden legitimiert. Nicht umsonst spricht die Bundesregierung in ihrer Unterrichtung (BT-Drs. 12!/201, S. 9) von der Notwendigkeit einer „vernünftigen Sicherheitsvorsorge", weil man neuen Sicherheitsrisiken — gleich woher sie kommen — erfolgreich begegnen möchte. Nicht umsonst verwies der Bundesminister der Verteidigung weit vor der Golfkrise auf die Notwendigkeit einer gemeinsamen Politik der NATO gegenüber diesen neuen Bedrohungen. So führte Minister Stoltenberg im Frühjahr 1990 mehrmals aus: Regionale Konflikte in Verbund mit religiösem Fundamentalismus, Terrorismus und Waffenproliferation, aber auch Drogenhandel, die ökologischen Gefährdungen unserer Zeit und die zunehmenden Probleme der Entwicklungsländer erfordern immer mehr ein gemeinsames Handeln der westlichen Industrienationen. Neben dieser Orientierung an neuen Bedrohungen und neuen Feinden, die den Militärhaushalt legitimieren sollen, fühlt sich die Bundesregierung auch noch der Rüstungsindustrie und dem militärisch-industriellen Komplex verpflichtet. Denn wie sonst ist es erklärbar, daß auch in diesem Jahr für die Entwicklung des Jagdflugzeuges Jäger 90 800 Millionen Mark ausgegeben werden, wo doch jeder Pfennig für die Lösung der wirtschaftlichen und sozialen Probleme in den neuen Ländern benötigt wird? Um die katastrophale Lage in den neuen Bundesländern etwas aufzufangen, schlagen wir vor, auf solche Projekte zu verzichten und mindestens 1 % des Gesamtetats zur Unterstützung von Rüstungskonversion und Konversionsforschung einzusetzen und eine Bundesanstalt für Abrüstungsplanung zu schaffen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 883* Wenn man diese Regierung nicht an ihren Worten, sondern an ihrer Ausgabenpolitik mißt, dann hat sie in der Sicherheitspolitik überhaupt nichts dazugelernt. Die Entwicklungskosten für den Jäger 90 verschlingen zehnmal mehr Steuergelder, als der Umweltminister für das Bundesumweltamt erhält. Wenn die Bundesregierung jetzt keine durch Zahlen beweisbare Abrüstung vornimmt, dann setzt sie sich dem Verdacht aus, in Europa und künftig wohl auch weltweit auf militärische Mittel gegründete klassische Machtpolitik betreiben zu wollen. Verstärkt wird der Eindruck eines Schreis nach militärischem Machtzuwachs durch die gegenüber 1990 sogar noch gestiegenen Beiträge zu den NATO-Militärhaushalten. Die Bundesregierung liegt in den Ketten eines völlig antiquierten Sicherheitsbegriffs. Sie ist immer noch auf eine nahezu ausschließlich militärisch definierte Sicherheit fixiert. Wir sind aber schon heute und erst recht künftig vor allem ökologisch bedroht. Um dieser Bedrohung zu begegnen, müssen Staatsgelder endlich nicht länger für weitere Aufrüstung, sondern für den ökologischen Umbau der Industriegesellschaft eingesetzt werden. Die alte Fraktion der GRÜNEN hatte in ihrem Vorschlag für einen Abrüstungshaushalt 1990 bereits gezeigt, welche finanziellen Ressorucen durch Einsparungen im Rüstungshaushalt gewonnen werden könnten, wenn die Bereitschaft bestünde, eine radikale Defensivierung der Bundeswehr vorzunehmen. Allein der wirtschaftliche Zusammenbruch in den neuen Bundesländern, ganz zu schweigen von den wirtschaftlichen und ökologischen Problemen der Zweidrittelwelt, die in allernächster Zeit auf uns zurückschlagen werden, gebietet es, solche Vorschläge endlich ernsthaft zu durchdenken, statt sie wie bisher nur abzuschmettern. Hans-Werner Müller (Wadern) (CDU/CSU): In der politischen Diskussion der letzten Monate ist der Einzelplan des Bundesministers der Verteidigung zum Steinbruch der Nation erklärt worden. Es gibt so gut wie keine öffentliche Erklärung, von Berufenen oder Unberufenen, die nicht Umschichtungen im Haushalt zu Lasten des Verteidigers vorsieht. Zunächst ist das eine rein fiskalische Aussage. Hinter dieser Erklärung steht sehr oft ein Infragestellen der Verteidigungsbereitschaft schlechthin. Eine gefühlspazifistische Stimmung, von der SPD kräftig geschürt, führt zu einer regelrechten Aufwiegelung gegen die Wehrbereitschaft. Über eine eventuelle Beteiligung unserer Soldaten im Bündnisfall tobte eine heftig SPD-interne Diskussion: Ich zitiere aus der Presse: „Genossen im Zwielicht", „SPD bleibt gespalten", „Björn Engholm schweigt, die SPD spielt Weltmacht", „Doppelfehler der SPD", „Offener Bruch verhindert", „Das Leid der SPD", „Schwungvoller Eiertanz der SPD", „Realos im Streit mit Moralos". Die Liste ist beliebig fortsetzbar. Da braucht man sich ja nicht zu wundern, daß angesichts solcher Stimmung und Stimmen die Anzahl der Wehrdienstverweigerer steigt. Wenn z. B. ein evangelischer Pfarrer in Gladbeck in einem über 3 000mal als Brief versandten Text die männlichen Gemeindemitglieder zwischen 17 und 35 auffordert, den Kriegsdienst zu verweigern, dann erzeugt so etwas Stimmung. Oder wenn immerhin ein früherer SPD-Staatssekretär im Verteidigungsministerium — von Bülow — für seinen Sohn, der demnächst zum Bund muß, einen Musterbrief entwirft, mit dem dieser einen Einsatz im Golf als verfassungswidrig verweigern kann, dann braucht man sich nicht über die Stimmung zu wundern. Es wird die Mentalität geschürt: „Frieden um jeden Preis". Dies führt dazu, daß das Ansehen Deutschlands im Ausland Schaden nimmt. Ich sagte es bereits: Dies wird uns noch teuer zu stehen kommen. Vergessen sind die klugen Sätze, etwa von Madame de Staël: „Freiheit ist eine Bürgschaft; vor Bürgschaften kann man nicht ausreißen, man muß sie leisten. " Oder von Blaise Pascal: „Gerechtigkeit ohne Macht ist hilflos, Macht ohne Gerechtigkeit Tyrannei. " Wir müssen Gerechtigkeit und Macht miteinander in Einklang bringen. Wir sind keine Weltmacht — das ist gut —; aber wir haben keine politische Zwergenrolle. Unsere Friedenspolitik muß die Komponente der militärischen Absicherung einschließen. Genau dieser Komponente unserer Friedenspolitik dient dieser Verteidigungshaushalt. Dabei steht gerade im Jahr 1991 dieser Haushalt unter den 4 folgenden Prämissen: Erstens. Die Bundeswehr wird reformiert. Sie ändert ihren Auftrag, ihre Truppenstärke, ihre Strategie im Bündnis, ihre innere Struktur und ihre Ausbildung. Zweitens. Die Bundeswehr schrumpft. Bei der Vereinigung von Ost und West hatten wir einschließlich der zivilen Bediensteten rund 700 000 Menschen; an Soldaten werden wir Ende 1994 nur noch 370 000 haben. Drittens. Die Bundeswehr ist eine Armee ohne erkennbaren Gegner. Eine neue NATO-Struktur ist überfällig. Viertens. Die Bundeswehr ist eine Armee vor neuen Aufgaben. Lassen Sie mich deswegen unter Einbeziehung dieser Prämissen einiges zu den Zahlen sagen. Erstens. Der Verteidigungshaushalt 1990 Teil West und Ost schließt mit einem Ist von 62,2 Milliarden. Der Entwurf 1991 hat einen Plafond von 52,6 Milliarden, wobei die Kosten der Eingliederung der ehemaligen NVA in die Bundeswehr mit 4,3 Milliarden sowie eine globale Minderausgabe von 1 Milliarde berücksichtigt sind. Der Haushalt wird also von der Regierung — dies ist meine erste Einschätzung — auf ein vernünftiges Maß zurückgeschnitten. 884* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 Zweitens. Es geschieht ein erster Einstieg in die personelle Reduzierung in einer beachtlichen Größenordnung im militärischen wie im zivilen Teil. Drittens. Der Anteil an den Verteidigungsausgaben an den gesamten Bundesausgaben beträgt noch 13,5 %. Das ist der niedrigste Anteil seit 1956. Auch ein Blick auf die vorgesehene Finanzplanung bis 1994 ist nach meiner ersten Einschätzung interessant. Beim Gesamthaushalt haben wir 1992 eine Steigerung von 0,8 %, 1993 eine Steigerung von 2,2 To und 1994 eine Steigerung ebenfalls von 2,2 % zu erwarten. Für den Verteidigungshaushalt ist allerdings ein Senken vorgesehen, und zwar 1992 von 2,9 %, 1993 von ebenfalls 2,9 % und 1994 von 3,0 %. Dies sollte man schon registrieren. Viertens. Wir erleben auch eine deutliche Änderung der Ausgabenstruktur. Der Anteil der Betriebsausgaben an den gesamten Verteidigungsausgaben steigt auf 71,9 % gegenüber 66,4 % im Vorjahr. Gleichzeitig vermindert sich der investive Anteil entsprechend um 5 To auf 28,1 % gegenüber 33,6 % im Vorjahr. Dieses Sinken des inventiven Anteils könnte — dies muß man sehen — negative Folgen für die Bundeswehr und ihre Vertrags- und Bündnispartner haben. Diese Folgen müssen gemindert werden. Lassen Sie mich einige Schwerpunkte im Ausgabenbereich kommentieren. Den ersten Abbauschritt beim Personal habe ich erwähnt. Zum dritten Nachtrag 1990 haben wir im Haushaltsausschuß Beschlüsse gefaßt, die im Bereich Ost eine schnelle Abschmelzung insbesondere beim Zivilpersonal vorsehen. Die Regierung bittet nun mit diesem Entwurf diese Entscheidungen noch einmal zu überdenken. Wir werden uns dieser Frage vorurteilslos stellen, nicht zuletzt unter dem Eindruck einer Berichterstatterreise in der vergangenen Woche in die Standorte südlich von Potsdam. Ich nenne nur einige der Stichworte: veraltete Braunkohlenanlage, veraltete Wirtschaftsgebäude, Aufrechterhaltung von Fernmeldeversorgungen. Mit den Maßstäben in den Altländern kann leider nicht gemessen werden. Diese Korrektur würde, wenn ich richtig rechne, ca. 2 Milliarden kosten. Wir werden auch etwas für die Verbesserung der Laufbahnerwartung für Portepee-Unteroffiziere tun können. Das gilt auch für die Hebung zur Umsetzung des 5. Personaländerungsgesetzes. Das haben wir schon im vergangenen Jahr in Aussicht gestellt. Die Aufgeregtheit der Berufsverbände ist nicht nötig. Ich kündige bereits hier in der ersten Lesung an, daß wir uns im Haushaltsausschuß sorgfältig anschauen werden, wie es mit der unterschiedlichen Bezahlung insbesondere der Grundwehrdienstleistenden in Ost und West bestellt ist, und zwar mit der Tendenz, die bestehenden Unterschiede abzubauen. Erwähnt werden muß auch, daß das Attraktivitätsprogramm fortgesetzt wird, das immerhin 370 Millionen kosten könnte. Ein Wort zu einigen Problemen, die sich aus der Übernahme der NVA ergeben. Da müssen z. B. Bewirtschaftungen fortgesetzt werden, weil zivile Wohnsiedlungen von militärischen Anlagen beheizt werden. Immerhin kostet dies nahezu 1,5 Milliarden DM. Die Bauerhaltung und Modernisierung von Truppenunterkünften muß vorangetrieben werden, wobei der Schwerpunkt bei der Instandsetzung der zum Teil in äußerst schlechtem Zustand befindlichen Unterkünfte, Küchen und Speiseräumen liegen wird. Erwähnt werden muß auch, daß für die Bewachung der Liegenschaften im Beitrittsgebiet etwa 1/2 Milliarde DM aufzubringen ist. Ein Wort zu Materialerhaltung und Betrieb. Hier sind weniger Mittel als im vergangenen Jahr veranschlagt. Auch hier kommen neue Aufgaben auf uns zu für die Delaborierung und Entsorgung von Munition der ehemaligen NVA. Ich befasse mich nun mit Forschung, Entwicklung, Erprobung und den militärischen Beschaffungen. Will man moderne Ausrüstungsgüter beschaffen, so bedarf dies eines Entwicklungsvorlaufs von etwa 10 Jahren. Das, was wir Ende der 90er Jahre brauchen, muß also jetzt entwickelt werden. Wir brauchen intensive Forschung und Entwicklung, damit unsere Armee in ihrer Ausrüstung innovationsfähig bleibt und Alternativen zur Verfügung stehen. Dabei wird die internationale Rüstungsoperation immer wichtiger. Ausgaben für neue Vorhaben stehen im Haushalt 1991 nicht zur Verfügung. Es werden nur die bereits laufenden Entwicklungen fortgeführt. Seit 1987 bereits erleben wir einen deutlichen Abwärtstrend bei den Beschaffungen. Im Entwurf sind diesmal deutlich unter 10 Milliarden vorgesehen. Dabei müssen 160 Millionen aufgewendet werden, die nicht einmal der Beschaffung dienen, sondern Aufwendungsersatz für die Stornierung von Verträgen der ehemaligen NVA sind; rund 140 Millionen sind für Rüstungssonderhilfe an die Türkei und Griechenland bestimmt. Ich will es mit diesem kleinen Streifzug durch das Zahlenwerk sein bewenden lassen. Dieser Haushalt wird, so hoffe ich, dann, wenn wir unsere sorgfältigen Beratungen beendet haben, dazu beitragen, daß das Gerede von einer Armee in der Krise aufhört. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 885* Die Bundeswehr ist nicht irgendein Arbeitgeber, sondern eine Institution mit einem fest umrissenen Verteidigungsauftrag. Dazu, daß dieser Auftrag erfüllt werden kann, gibt der Haushalt die Voraussetzungen. Ich appeliere gerade an die SPD: Überwinden Sie die Phase der Orientierungslosigkeit, in der Sie im Hinblick auf die politische Grundfrage der Wehrbereitschaft stecken, und treten Sie mit uns in einen konstruktiven Dialog über eine leistungsfähige Armee von mündigen Bürgern ein!
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Alfred Dregger


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es hat in den letzten Wochen viel Kritik gegeben. Sie war allerdings nur selten konstruktiv,

    (Zustimmung bei der CDU/CSU — Lachen und Widerspruch bei der SPD)




    Dr. Alfred Dregger
    häufig oberflächlich, manchmal heuchlerisch

    (Beifall bei der CDU/CSU — Gansel [SPD]: Schon wieder ein Irrtum! — Weitere Zurufe von der SPD)

    und vor allem in keiner Weise den großen Aufgaben angemessen, vor denen wir jetzt alle stehen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Zunächst: Der soeben wiedervereinigte deutsche Staat hat nicht nur normale staatliche Aufgaben zu erfüllen. Hinzu kommen Sonderaufgaben in einer Dichte und Dramatik, wie sie zur Zeit keinem anderen Staat der Erde gestellt sind.
    Ich möchte diese Sonderaufgaben aufzählen.
    Erstens. Aus der vor weniger als einem halben Jahr wiederhergestellten staatlichen Einheit muß nun wirtschaftliche und soziale Wirklichkeit werden. Das ist nach 45 Jahren kommunistischer Unterdrückung und Mißwirtschaft eine gigantische Aufgabe, meine Damen und Herren,

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    eine Aufgabe, für die es in der Geschichte kein Beispiel gibt.

    (Zuruf von der PDS/Linke Liste: Für Sie auch nicht!)

    Wer diese Wirklichkeit übersieht, verliert die Fähigkeit, diese Wirklichkeit zu verändern und grundlegend zu verbessern.
    Zweite Sonderaufgabe: Wir haben den Staaten Ostmitteleuropas beizustehen. Nach der Auflösung des RGW-Systems und des Warschauer Paktes wenden sich Ungarn, die Tschechoslowakei und Polen vor allem uns zu. Der polnische Ministerpräsident hat vor seiner Reise nach Bonn gesagt: „Der Weg Polens nach Europa führt über Deutschland. " — Es liegt auch in unserem deutschen Interesse, daß diese Länder mit uns und durch uns Halt für ihre wirtschaftliche Entwicklung und ihre Sicherheit in Europa finden. Würden sie das nicht, würden sie Notstandsgebiet bleiben. Dann wäre die Massenauswanderung von dorther zu uns die unvermeidliche Folge.

    (Zuruf vom Bündnis 90/GRÜNE: Das ist Realität!)

    Dritte Sonderaufgabe: Wir müssen die politischen Anstrengungen in der Sowjetunion unterstützen, zu einer besseren gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ordnung zu finden. Uns Deutschen geht es dabei vor allem um eine tragfähige Grundlage für gute Beziehungen zwischen dem deutschen Volk und den Völkern der Sowjetunion. Wir Deutsche sind heute Verbündeter des Westens und zugleich wichtiger Partner des Ostens; beides wollen wir bleiben. Diese Konstellation, ein Ergebnis der Außenpolitik von Konrad Adenauer bis Helmut Kohl, ist für unser Land in der Mitte Europas eine Traumkonstellation, die dem Bismarck-Reich, das bald allein stand, nie vergönnt war.
    Wir sind daran interessiert, meine Damen und Herren, daß die Sowjetunion ihre Truppen — zur Zeit noch über 350 000 Mann — wie vereinbart, spätestens bis 1994, von deutschem Boden abzieht. Dieser Abzug
    trägt wesentlich zur Entmilitarisierung der Ost-West-Beziehungen bei, die nicht nur uns, sondern allen Europäern zugute kommt. Wir Deutsche zahlen dafür 13 Milliarden DM und vermindern — im Vorgriff auf diesen Abzug — die deutschen Truppen auf 370 000 Mann. Das ist wenig mehr als die Hälfte des vorherigen Bestandes von Bundeswehr und NVA.
    Wir begrüßen es, daß der Oberste Sowjet den Zweiplus-Vier-Vertrag, den großen Partnerschaftsvertrag und den Vertrag über die wirtschaftliche und technische Zusammenarbeit ratifiziert hat. Den Vertrag über den Truppenabzug hat der Oberste Sowjet grundsätzlich gebilligt.
    Weil dies zu Spekulationen geführt hat, sage ich: Wir werden diesen Vertrag erfüllen wie die anderen Verträge auch. Zu irgendwelchen Nachbesserungen sehen wir keinerlei Anlaß.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Wir erwarten ferner, daß die Republik Polen die Erfüllung dieses Vertrages erleichtert. Auch in Polen wird man einsehen müssen, daß es Solidarität auf Dauer nur auf der Grundlage der Gegenseitigkeit geben kann.
    Vierte Sonderaufgabe: Wir hatten und haben die Aufgabe, im Golfkonflikt zur Solidarität mit der UNO, unseren atlantischen Verbündeten sowie Israel beizutragen. Wir haben das nicht mit Soldaten getan — die Gründe dafür kennen Sie — , wir haben es aber durch Sachleistungen und finanzielle Beiträge getan. Dafür haben wir 17 Milliarden DM aufwenden müssen. Nun, nach dem Sieg der Alliierten, im Auftrag der Vereinten Nationen, geht es dort um eine stabile Ordnung des Friedens und um den Wiederaufbau. Der Wiederaufbau Kuwaits und des Irak wird vor allem eine Sache der reichen Golfländer sein, aber auch wir werden unseren Beitrag leisten. In einer Region, für die wir zur Abwehr des Aggressors und Diktators viel Geld aufgewandt haben, mit der wir aber auch seit langem wertvolle kulturelle Beziehungen unterhalten, werden wir in der Lage sein, für die Entwicklung einen positiven Beitrag zu leisten.
    Zur Diskussion über den möglichen Einsatz der Bundeswehr in ähnlich gelagerten Fällen sage ich: Wir, die CDU/CSU, wollen durch eine klarstellende Grundgesetzänderung die Konsequenz aus den gemachten Erfahrungen ziehen. Deutschland, dessen Lage sich grundlegend verändert hat, muß nach Überwindung der Teilung und nach Rückgewinnung der Souveränität im Rahmen der kollektiven Sicherheitssysteme, denen dieses Deutschland angehört — das sind die UNO, die NATO und die WEU — bereit sein, seinen militärischen Beitrag zur Friedensicherung zu leisten.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Wären wir dazu nicht bereit, dann wären wir nicht bündnisfähig, zum Schaden für unser Land, zum Schaden für unsere Bundesgenossen und zum Schaden auch für die Völkergemeinschaft. Wir hoffen, daß sich die SPD, die sich seit 1959 zum Bündnis bekennt, dieser Einsicht, Herr Kollege Vogel, nicht verschließen wird.



    Dr. Alfred Dregger
    In meiner Rede auf der Sondersitzung des Deutschen Bundestages vom 17. Januar 1991 habe ich die solidarische Haltung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zur UNO, zu den USA und zu den anderen Betroffenen so klar zum Ausdruck gebracht, daß zu Zweifeln an unserer Haltung kein Anlaß bestand. Da solche Zweifel dennoch geäußert wurden, nicht was unsere Unionsposition, aber was die gesamtdeutsche Position angeht, erlaube ich mir, auf diese Rede noch einmal hinzuweisen.
    Fünfte Sonderaufgabe: Wie müssen die europäische Wirtschafts- und Währungsunion in einer Weise zustande bringen, die sich an der Geldwertstabilität der D-Mark und an der unabhängigen Stellung der Deutschen Bundesbank orientiert.
    Das alles, meine Damen und Herren, wird nicht leicht sein; denn die Ausgangslage der europäischen Partner ist sehr unterschiedlich. Die Divergenzen nehmen in letzter Zeit sogar zu. Wie groß die Unterschiede sind, zeigt das Beispiel eines europäischen Partnerlandes, dessen Nettoneuverschuldung nicht 0,8 % beträgt wie bei uns vor Wiederherstellung der Einheit, sondern 10,8 % — nicht 0,8 %, sondern sage und schreibe 10,8 % Nettoneuverschuldung!
    Ebenso besorgniserregend ist die Divergenz der Inflationsraten. In einem anderen europäischen Partnerland beträgt die Geldentwertungsrate nicht 2,7 % wie zur Zeit bei uns, sondern 23%.
    Meine Damen und Herren, ich will das nicht dramatisieren. Wir müssen aber und können unsere europäischen Partner bitten, bereits vor der Vergemeinschaftung von Wirtschaft und Währung, also jetzt, und das heißt im nationalen Rahmen, zu stabilen Verhältnissen zu kommen. Das alles der künftigen Europäischen Union überlassen zu wollen, könnte deren Scheitern bedeuten. Ich teile die Auffassung des britischen Premierministers, daß gesundes Geld wichtiger ist als dasselbe Geld.

    (Zuruf von der SPD: Viel Geld ist wichtiger als wenig!)

    Ich meine: wenn wir alle dasselbe Geld in Europa haben werden, dann muß es eben gesundes Geld sein.

    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

    Das ist eine dringend notwendige Voraussetzung. Jeder sollte vorher sein Haus in Ordnung bringen.
    Eine Wirtschafts- und Währungsunion wird es nicht geben, wenn nicht auch eine Europäische Sicherheitsunion zustande kommt. Beide Felder betreffen die Kernstücke der staatlichen Souveränität. Man kann nicht das eine an Europa übertragen und das andere für sich behalten wollen. Ich freue mich, daß die Bundesregierung diesen Standpunkt mit Nachdruck vertritt. Ich möchte das ausdrücklich unterstützen, zumal wir immer dafür eingetreten sind.

    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

    Die Europäische Sicherheitsunion wird zwei Aufgaben haben. Sie wird Pfeiler der Atlantischen Allianz sein, die unentbehrlich bleibt, und zugleich sicherheitspolitische Grundlage der Politischen Union Europas. Ich hoffe, daß alle Partnerländer bereit sind, ihre Sicherheitspolitik zu europäisieren, auch Frankreich, das in dieser Frage eine Schlüsselrolle hat.
    Meine Damen und Herren, die genannten fünf Sonderaufgaben — zusätzlich zu den normalen Staatsaufgaben — sind ein ungewöhnliches Arbeitsprogramm. Ich sage das nicht, um über unsere Arbeitsbelastung zu klagen, im Gegenteil: daß sich diese Aufgaben stellen, ist ein ungeheurer Erfolg unserer Politik und daher insgesamt erfreulich und beflügelnd. Mir geht es nur darum, ins öffentliche Bewußtsein zu rufen, daß man politische Entwicklungen und finanzielle Belastungen in diesen Sonderbereichen nicht so voraus-schätzen konnte und zum Teil auch heute noch nicht kann, wie das bei normalen Staatsausgaben möglich ist, bei denen man nach der Regel „simile, simile" —„es war alles schon einmal da" — einigermaßen sicher vorausschätzen kann, was zu erwarten ist.
    Meine Damen und Herren, das finanzielle Fundament für die Wiedervereinigung Deutschlands haben wir in den Jahren 1983 bis 1989 gelegt. Wir haben in nur sieben Jahren die öffentlichen Haushalte konsolidiert und die Steuerzahler drastisch entlastet. Die Bundesausgaben stiegen in dieser Zeit im Jahresdurchschnitt um 2,5 %. Dies war nur halb so viel wie der Anstieg des Bruttosozialprodukts, das im selben Zeitraum im Jahresdurchschnitt um 5,1 % zunahm. Dies ist auch im internationalen Vergleich eine ganz ungewöhnliche Leistung, die es verdient, vor dem deutschen Bundestag und vor dem deutschen Volk hervorgehoben zu werden.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Die Nettoneuverschuldung des Bundes haben wir in derselben Zeit von 2,3 % des Bruttosozialprodukts auf 19 Milliarden DM — das sind 0,8 % des Bruttosozialprodukts — zurückgeführt. Das angemessen zu würdigen, ist ebenfalls nur im internationalen Vergleich möglich. Ich verweise auf das vorher von mir dazu in die Debatte eingeführte Beispiel.
    Unsere große Steuerreform hat die Steuerzahler um 50 Milliarden DM netto entlastet. Die Steuerquote betrug 1990 22,5 %. So niedrig war sie seit 30 Jahren nicht mehr. Auch das ist im internationalen Vergleich Spitze. Unser besonderer Dank dafür gilt dem Bundeskanzler Helmut Kohl und seinen beiden Finanzministern Gerhard Stoltenberg und Theo Waigel.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Meine Damen und Herren, für 1991 lautet angesichts der zusätzlichen Belastung in einigen der fünf Sonderbereiche die Alternative aber nicht mehr: Steuererhöhung ja oder nein? sondern: Steuererhöhung oder Nettoneuverschuldung über die Grenze von 70 Milliarden DM hinaus?
    Das zweite wäre im Hinblick auf die Geldpolitik der Bundesbank, auf die Geldwertstabilität der D-Mark und die Auswirkungen auf die internationalen Finanzmärkte nicht verantwortbar gewesen. Deshalb haben wir uns zu einer begrenzten Steuererhöhung entschlossen. Neben Verbrauchsteuererhöhungen, insbesondere der Mineralölsteuer, geht es um einen auf ein Jahr befristeten, nämlich von Mitte 1991 bis



    Dr. Alfred Dregger
    Mitte 1992 geltenden Solidarzuschlag zur Einkommen-, Lohn- und Körperschaftsteuer.

    (Becker-Inglau [SPD]: Wer es glaubt!)

    Dieser Zuschlag wird auf zwei Haushaltsjahre verteilt, so daß die Belastung je Jahr in 1991 und 1992 nur 3,75 % beträgt.

    (Wettig-Danielmeier [SPD]: Ihnen glaubt doch keiner mehr!)

    — Ja, Sie glauben nicht.
    Einige zweifeln an der Einhaltung der Befristung, dazu sage ich: Daß diese Befristung eingehalten wird, liegt nicht nur im Interesse der Steuerzahler, sondern auch im Interesse des Fiskus, denn die Fortsetzung des wirtschaftlichen Aufschwungs in Westdeutschland und ein sich anbahnender Aufschwung in den neuen Bundesländern lassen mehr Steuereinnahmen erwarten, als sie aus Steuererhöhungen hervorgehen können.
    1991 leistet der Bund an Hilfen für die neuen Bundesländer insgesamt 93 Milliarden DM. Davon sollen 57 Milliarden DM für Investitionen verwendet werden. Meine Damen und Herren, das haben wir zustande gebracht, nachdem, die politische Einheit noch keine sechs Monate hergestellt ist,

    (Bundeskanzler Dr. Kohl: So ist es!) eine erstaunliche Leistung, finde ich.


    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

    Das ist ein gewaltiger Betrag. Wir könnten ihn heute nicht aufbringen, wenn wir nicht durch die Haushaltskonsolidierung der Jahre 1983 bis 1989 und die massive Steuersenkung um 50 Milliarden DM in den Jahren 1986, 1988 und 1989 dafür die Voraussetzungen geschaffen hätten.
    Wir, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion — das möchte ich unterstreichen — , sind weiterhin auf den wirtschaftlichen Aufschwung und nicht auf Steuererhöhungen eingestellt.

    (Lachen bei der SPD)

    Darin unterscheiden wir uns grundsätzlich von der SPD.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Wir haben nicht vergessen, meine Damen und Herren, daß die SPD in ihrer Regierungszeit die Verbrauchssteuern sage und schreibe 17mal erhöht und in den letzten Jahren 48 Steuer- und Abgabenerhöhungspläne präsentiert hat.

    (Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Hört! Hört!)

    Dazu gehört auch der Vorschlag einer Mineralölsteuererhöhung um 50 Pfennig, also doppelt so viel, wie wir es beschlossen haben.
    Meine Damen und Herren, gestern hat Ihr Debattenredner Lafontaine — daß er Ministerpräsident ist, war gar nicht zu merken —

    (Dr. Struck [SPD]: Na, na!)

    darauf hingewiesen — —

    (Poß [SPD]: Als Fraktionsvorsitzenden habe ich Sie auch nicht gemerkt!)

    — Ich habe es nicht gemerkt, das kann ich wohl als freier Parlamentarier hier sagen, denke ich! —

    (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der CDU/CSU: Weiß Gott!)

    Herr Lafontaine hat darauf hingewiesen, daß entgegen der üblichen Rollenverteilung zwischen Regierung und Opposition die SPD lange vor der CDU/CSU Steuererhöhungen vorgeschlagen habe. Das ist zutreffend,

    (Poß [SPD]: Das war unvermeidbar!) aber in meiner Sicht kein Pluspunkt.


    (Zuruf von der SPD: Aber die Wahrheit!)

    Ich sehe darin mangelnden Respekt vor dem Portemonnaie des Bürgers

    (Beifall bei der CDU/CSU — Lachen bei der SPD)

    und außerdem eine Fehleinschätzung

    (Matthäus-Maier [SPD]: Sie lügen!)

    im Hinblick auf die Vorteile von Steuererhöhungen für das Gemeinwohl. Wir glauben mehr an die Kraft der Bürger, die den Wohlstand schafft, und nicht an Steuererhöhungen, die Sie nachher verteilen können.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Lebhafte Zurufe von der SPD)

    Sie, meine Damen und Herren, sind die klassische Steuererhöhungspartei.

    (Widerspruch bei der SPD)

    Jeder weiß es: Es gibt keine Partei in Deutschland, die dem kleinen Mann so unverfroren in die Tasche greift, wie Sie es getan haben und wieder tun wollen.

    (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

    Auch wir können in besonderen Situationen Steuererhöhungen nicht ausschließen.

    (Kuhlwein [SPD]: Der hat die falsche Rede mit! Das ist die Rede aus dem Wahlkampf!)

    Unsere Grundtendenz zielt jedoch, wie unsere Steuerpolitik seit Anbeginn und auch jetzt beweist, in die entgegengesetzte Richtung.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der SPD: Tauschen Sie doch mal das Manuskript aus, Herr Dregger!)

    Meine Damen und Herren, wir werden Ihnen das nicht ersparen. Zum Zeitpunkt der von uns vorgeschlagenen begrenzten Steuererhöhung läßt sich rückblickend sagen: Natürlich hätte man schon 1990 eine Steuererhöhung sozusagen auf Vorrat ankündigen oder gar beschließen können.

    (Zuruf von der SPD: Das ist ja ganz neu!)

    Ich halte diesen Gedanken allerdings für absurd. Wir
    jedenfalls erhöhen Steuern nur, wenn zweifelsfrei



    Dr. Alfred Dregger
    nachgewiesen ist, daß es dazu keine Alternative gibt, meine Damen und Herren.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Im übrigen: Wie hätten wir damals das Volumen für eine Steuererhöhung bemessen sollen? Weder die Aufwendungen für den späteren Golf-Krieg noch die Lasten, die durch den Zusammenbruch des RGW-Systems für die Exportwirtschaft in den neuen Bundesländern entstehen, waren 1990 abschätzbar.

    (Zuruf von der SPD: Von Ihnen nicht abschätzbar!)

    Für die Wirtschaftsentwicklung und die Wahrung der Haushaltsdisziplin wäre ein solcher steuerlicher Vorgriff ausgesprochen schädlich gewesen. Auch die Auseinandersetzungen mit Herrn Lafontaine und der SPD wären durch eine vorweggenommene Steuererhöhung oder ihre Ankündigung nicht versachlicht worden. Lafontaine ging es ja gar nicht um einen Steuerkonsens. Ihm ging es darum, mit Kostenargumenten gegen die Vereinigung Deutschlands Stimmung zu machen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Bohl [CDU/CSU]: Bravo!)

    Er wollte die Deutschen von der Wiedervereinigung abschrecken, die ihm ganz und gar zuwider war.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Abschließend: Es besteht kein Anlaß, die Inkompetenz Lafontaines und der SPD in der Deutschlandpolitik jetzt in eine Sachkompetenz für die Steuerpolitik umzufälschen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, wer Steuererhöhungen auf Verdacht will — nur darum konnte es 1990 gehen —, der ist in der Steuerpolitik nicht kompetent, sondern inkompetent. Es wäre schädlich für die wirtschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere der neuen Bundesländer, solchen Leuten das finanzpolitische Steuerrad zu überlassen. Das werden wir verhindern.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Wir, die CDU/CSU, wollten die deutsche Einheit. Wir wollten sie immer. Wir sind glücklich, sie durchgesetzt zu haben, auch wenn das zu Finanzschwierigkeiten führt. Wir hätten die deutsche Einheit auch dann gewollt, wenn sich diese Schwierigkeiten als größer herausgestellt hätten, als sie es sind. Denn die Wiedervereinigung Deutschlands als entscheidender Schritt zur Vereinigung Europas und die Veränderungen in der Sowjetunion, die mit diesen beiden Einheitsprozessen zusammenhängen, sind der größte Beitrag, den wir Deutschen Europa und den Europa dem Frieden der Welt leisten konnte.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Eine gesamteuropäische Friedensordnung, um die es letztlich geht, kann nicht ohne die beiden Weltmächte geschaffen werden. Im KSZE-Prozeß, an dem die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten von Amerika beteiligt sind, haben wir schon wesentliche Bausteine für eine gesamteuropäische Friedensordnung zusammengefügt. Ich will den letzten Baustein nennen. Der
    tschechoslowakische Staatspräsident Vaclav Havel hat vor kurzem das Sekretariat der KSZE in Prag eröffnet.
    Wesentlich für eine dauerhafte europäische Friedensordnung sind zwei in sämtlichen KSZE-Dokumenten verbriefte Grundsätze: unveräußerliche Menschenrechte und das Selbstbestimmungsrecht der Völker und Staaten. Erst die Verwirklichung dieser beiden Prinzipien macht freie Gesellschaften in freien Staaten möglich, die innerlich befriedet sind. Entscheidend ist die Verwirklichung dieser Grundsätze, nicht das Papier, auf dem sie stehen. Sie müssen immer neu durchgesetzt werden. In den letzten beiden Jahren haben diese Grundsätze den friedlichen Wandel in Ost- und Ostmitteleuropa ermöglicht. Dafür danken wir unseren Verbündeten, insbesondere den Vereinigten Staaten von Amerika. Dafür danken wir auch der Sowjetunion und den Reformkräften in Osteuropa.
    Nun steht diese Politik im Baltikum zur Bewährung — und nicht nur dort. In dieser außergewöhnlichen Lage, in der über die Zukunft des europäischen Reformprozesses entschieden wird, wende ich mich an die sowjetische Führung und an die Führungen der baltischen Republiken mit der Bitte, gemeinsam dafür Sorge zu tragen, daß die Früchte der im letzten Jahr feierlich verkündeten Charta von Paris nicht im Baltikum durch Relikte des unseligen Hitler-Stalin-Paktes verdorben werden.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Das heißt — ich bitte genau auf die Wortwahl zu achten — : Das Selbstbestimmungsrecht der baltischen Völker muß gewahrt, und das Interesse der Sowjetunion an einer kooperativen Lösung muß berücksichtigt werden.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Welche Seite auch immer einen vernünftigen Kompromiß ablehnt: Sie läuft Gefahr, dadurch das Ganze, das für beide Seiten notwendig und nützlich ist, zum Scheitern zu bringen.
    Lassen Sie mich noch einen weiteren Gedanken hinzufügen. Auf der Grundlage der Menschenrechte und des Selbstbestimmungsrechts der Völker und Staaten wird, so hoffen wir, eine Friedensordnung für Europa entstehen, an der beide Weltmächte beteiligt sind, die Sowjetunion im Osten und die Vereinigten Staaten im Westen und die politische Union Europas von Polen bis Portugal in der Mitte. Ein so vereinigtes Europa, das alle Völker und Staaten umfaßt, die nach ihrem kulturellen und historischen Selbstverständnis zum Abendland gehören, könnte und sollte zur friedenserhaltenden Mitte zwischen den Weltmächten werden.
    Herr Bundeskanzler, wir fordern Sie und Ihre Regierung auf, Ihre so außerordentlich erfolgreiche Einheits- und Freiheitspolitik für Deutschland und Europa fortzusetzen.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Struck [SPD]: Ach du lieber Himmel! Das ist ja ganz überraschend!)




    Dr. Alfred Dregger
    Wir, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, werden Sie dabei auch in Zukunft unterstützen, verläßlich und wirksam.

    (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und Beifall bei der FDP)



Rede von Dr. Rita Süssmuth
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Gysi.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Gregor Gysi


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (None)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (DIE LINKE.)

    Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn man sich mit den Grundzügen der Regierungspolitik auseinandersetzt, müssen die neuen Möglichkeiten, die sich durch die Veränderungen im internationalen Kräfteverhältnis, durch die Reformen im Osten Europas ergaben, als Maßstab dienen. Es gibt keinen Warschauer Vertrag mehr, und auch der RGW ist aufgelöst. Damit sind insbesondere in Europa Veränderungen eingetreten, die zweifellos die gravierendsten seit 1945 sind. Aus dieser neuen Gesamtlage ergab sich auch die Chance der Vereinigung der beiden deutschen Staaten.
    Nun ist einfach zu fragen, ob in der Politik der Bundesregierung dieser neuen Gesamtlage ausreichend Rechnung getragen worden ist bzw. getragen wird oder ob sich hier altes Denken fortsetzt. In diesem Zusammenhang ist es nicht nur gerechtfertigt, sondern auch legitim, sich über die gewachsene Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland Gedanken zu machen.
    Für gefährlich halte ich es aber, über eine Großmachtrolle nachzudenken, weil ich glaube, daß es die notwendige Demokratisierung der internationalen Beziehungen erfordert, sich von der Vorstellung zu trennen, daß eine Macht oder einige Mächte letztlich darüber entscheiden, wie sich die anderen Völker und Staaten der Erde zu verhalten haben.
    Wir sind für eine Demokratisierung der internationalen Beziehungen und damit auch für eine Demokratisierung der UNO. Wir sind daher gegen ein weiteres Vetorecht — z. B. der Bundesrepublik Deutschland oder auch Europas — , sondern eher für die Abschaffung vorhandener Vetorechte, um die Beziehungen zwischen den Staaten gleichberechtigter zu gestalten.
    Wir sehen auch nicht ein, daß die gewachsene Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland damit beantwortet werden soll, daß Grundgesetzänderungen angestrebt werden, die militärische Einsätze außerhalb des NATO-Bereiches und damit in die Welt hinaus möglich machen.

    (Beifall bei der PDS/Linke Liste)

    Das veränderte Kräfteverhältnis in der Welt hat zunächst nicht zu mehr Frieden, sondern zu mehr Krieg geführt, wie der Golfkrieg deutlich zeigte. Diejenigen, die vor diesem Krieg wegen seiner ungeheuren Opfer in der Zivilbevölkerung, wegen der Gefährdung Israels und wegen der ökonomischen und ökologischen Folgen warnten, behielten diesbezüglich leider recht. Fest steht auch, daß kein einziges bisheriges Problem im Raum des Nahen Ostens durch diesen Krieg gelöst wurde.
    Die Bundesregierung hat sich an diesem Krieg mit 17 Milliarden DM beteiligt. Das ist eine ungeheure Summe, und niemand hat auch nur geahnt, daß dies innerhalb weniger Wochen von der Bundesregierung einfach so zur Verfügung gestellt werden kann. Ich frage mich, weshalb so viele Bürgerinnen und Bürger diesen Krieg, den sie nicht wollten, mitfinanzieren müssen. Sollen doch jene ihn bezahlen, die für ihn eingetreten sind, vor allem aber die Unternehmen, die an Rüstung und insbesondere an Rüstungsexporten, auch in den Irak, enormes Geld verdient haben.

    (Beifall bei der PDS/Linke Liste)

    Die veränderte Situation in der Welt, insbesondere in Europa, hätte meines Erachtens auch ein neues Denken in bezug auf NATO und Rüstung verlangt. Über Jahre und Jahrzehnte wurde die Existenz der NATO und die Notwendigkeit einer steigenden Rüstung in der Bundesrepublik Deutschland mit der Bedrohung aus dem Osten, insbesondere aus den Staaten des Warschauer Vertrages, begründet. Dieser Staatenverbund existiert aber als Verbund nicht mehr. Die Nationale Volksarmee ist aufgelöst. Soweit sie noch besteht, ist sie Bestandteil der Bundeswehr geworden. Niemand kann mehr behaupten, daß von den Militärpotentialen Polens, der CSFR, Rumäniens, Ungarns oder Bulgariens irgendeine Bedrohung der NATO-Staaten oder gar der Bundesrepublik ausgeht.
    Mit der Sowjetunion wurden Verträge ausgehandelt, die ein friedliches Zusammenleben garantieren. Dennoch gibt es auch in dieser Hinsicht keinen einzigen neuen Gedanken der Bundesregierung. Im Gegenteil: Immer wieder wird betont, wie notwendig die NATO ist und bleibt. Der Rüstungshaushalt, der mit den vorliegenden Haushaltsgesetzen beschlossen werden soll, unterscheidet sich nicht vom Rüstungshaushalt der vergangenen Jahre.
    Die tatsächlich eingetretenen Veränderungen verlangen aber, daß auch durch die Bundesregierung an diese Fragen völlig neu herangegangen wird. Kriege dürfen künftig nicht mehr mitfinanziert werden. Die NATO ist aufzulösen und durch die Schaffung gesamteuropäischer Sicherheitsstrukturen unter Einbeziehung der Sowjetunion abzulösen.

    (Beifall bei der PDS/Linke Liste)

    Der Rüstungshaushalt kann drastisch reduziert, und als Schritt der Abrüstung kann die Wehrpflicht abgeschafft werden.

    (Zustimmung bei der PDS/Linke Liste)

    Mit den freiwerdenden Mitteln könnte viel zur Lösung sozialer und ökologischer Probleme getan werden. Abrüstung selbst ist schon eine ökologische Maßnahme.
    Neues Denken wäre meines Erachtens auch in bezug auf Europa erforderlich. Wer zu Europa ja sagt, muß das ganze Europa und nicht nur das halbe meinen. Er darf die Mitgliedschaft europäischer Länder in der EG nicht ablehnen und muß sich gleichzeitig gegen jeden Eurozentrismus wenden, weil sich ansonsten die Probleme mit der sogenannten Dritten Welt immer weiter verschärfen werden.



    Dr. Gregor Gysi
    Auch in dieser Beziehung gibt es in der Politik der Bundesregierung keine neuen Denkansätze. Nach wie vor wird der Tatsache nicht Rechnung getragen, daß der Abstand zwischen den führenden Industriestaaten und den sogenannten Entwicklungsländern permanent wächst und eine Katastrophe für die gesamte Zivilisation heraufbeschworen wird. Es gibt keine nennenswerten Initiativen der Bundesregierung, wenigstens für eine Entschuldung der Länder der sogenannten Dritten Welt aktiv einzutreten. Es geht dabei um Schulden, die durch diese Völker bereits mehrfach zurückgezahlt worden sind.
    Das Ausbeutungsverhältnis spitzt sich immer weiter zu. Ob es uns nun recht ist oder nicht: Wir alle leben auch auf Kosten dieser sogenannten Dritten Welt. Wenn hier nicht bald eine grundsätzliche Korrektur im Denken und im Handeln der führenden Industriestaaten einsetzt, so bedeutet das nicht nur, die Verelendung der Menschen dieser Region einfach hinzunehmen, sondern es wird auch zur Folge haben, daß spätestens unsere Kinder und Enkelkinder vor unlösbaren ökologischen, ökonomischen und sozialen Problemen stehen werden.
    Die Unfähigkeit oder der mangelnde Wille, den veränderten Bedingungen in der Welt und in Europa Rechnung zu tragen, wurde im vergangenen Jahr auch bei der Politik der Vereinigung der beiden deutschen Staaten deutlich. Dabei geht es mir nicht um das Ob, sondern um das Wie.
    Erstens bestand meines Erachtens die Aufgabe, in den neuen Bundesländern ein Höchstmaß an politischer Freiheit und Rechtsstaatlichkeit zu garantieren. Niemand wird leugnen, daß es seit dem Herbst 1989 bis zum heutigen Tag auf diesem Gebiet erhebliche Fortschritte im Vergleich zu früherer Zeit gibt. Das gilt insbesondere für solche Rechtsinstitute wie die Meinungsfreiheit, die Redefreiheit, die Versammlungsfreiheit oder z. B. das Demonstrationsrecht. Ich bin durchaus in der Lage, es zu schätzen, daß mir hier im Bundestag Oppositionsreden möglich sind, an die in der Volkskammer vor dem Herbst 1989 nicht einmal zu denken gewesen wäre.

    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

    Auch durch die Abschaffung großer Teile des politischen Strafrechts hat sich die Rechtsstaatlichkeit beachtlich erhöht. Das gilt auch für die fast vollständige Öffnung des Gerichtsweges im Verwaltungsrecht und auf anderen Gebieten.

    (Dr. Mahlo [CDU/CSU]: Was heißt „fast"?)

    — Weil es natürlich Ausnahmen gibt — wie in jedem Recht.

    (Dr. Mahlo [CDU/CSU]: Es gibt keine Ausnahmen!)

    — Doch, das kann ich Ihnen beweisen.

    (Gansel [SPD]: Was heißt „Rechtsstaatlichkeit erhöht" ! )

    Das gilt auch für andere Bereiche, die ich jetzt hier im einzelnen nicht zu benennen brauche.
    Aber dem steht die Tatsache gegenüber, daß eine Vielzahl von Menschen jetzt politisch ausgegrenzt
    wird, und zwar auch solche Menschen, die keine Verbrechen begingen und große Bereitschaft zeigen, sich demokratisch einzuordnen. Diese Ausgrenzung führt zu völlig unnötigen politischen Spannungen. Gerade von der Bundesregierung wäre hier eine völlig andere Politik zu erwarten gewesen, nachdem in diesem Teil Deutschlands nach 1945 eine vielleicht in jeder Hinsicht übertriebene Integrationspolitik betrieben wurde. Die Praxis der Berufsverbote, der Ruf der Bayerischen Staatsregierung nach dem Verfassungsschutz in bezug auf die PDS, die Abwicklung fast aller marxistischen Wissenschaftler zeugt nicht nur von einem hohen Maß an Intoleranz, sondern ist auch politisch unklug und letztlich ideologisch bestimmt. Ebenso, wie es absolut falsch war, außerhalb der theologischen Fakultäten der Universitäten in der DDR nur die marxistische Philosophie zuzulassen, ist es jetzt falsch und intolerant, die marxistische Philosophie an allen Universtäten und Hochschulen abzuwickeln. Das Gegenteil von einem Fehler ist eben zumeist auch ein Fehler.
    Noch schlimmer ist aber, daß die Praxis der demokratischen Struktur nach dem Herbst 1989 in der DDR nicht studiert und genutzt, sondern bewußt abgelehnt wird. Es lohnt sich aber, über bürgernahe Einrichtungen wie Runde Tische und ähnliches nachzudenken.
    Was die Rechtsstaatlichkeit angeht, will ich mich nur mit einer Einschränkung befassen. Das gesamte Rechtssystem in der Bundesrepublik Deutschland ist so unüberschaubar und so unverständlich, daß eine Heerschar von Spezialisten erforderlich ist, um die Anwendung dieses Rechts zu ermöglichen.

    (Voigt [Frankfurt] [SPD]: Arbeitsbeschaffungsprogramm!)

    Obwohl ich selber Rechtsanwalt bin, kann ich nicht einsehen, daß es die Aufgabe des Gesetzgebers in erster Linie wäre, das Recht so undurchschaubar wie nur möglich zu gestalten, damit Steuerberater und Rechtsanwälte ausreichend beschäftigt sind. Die Kompliziertheit eines Rechtssystems verhindert im übrigen auch die Inanspruchnahme von Rechten, weil die Rechte nur ungenügend Bekanntwerden. Deshalb, meine ich, wäre es ein großes Werk, hier im Sinne der Vereinfachung tätig zu werden.
    Noch kritischer sind die Zustände in Wirtschaft, Ökologie und im Sozialbereich zu beurteilen. Tatsache ist selbstverständlich, daß es durch den Braunkohletagebau, durch die Chemieindustrie in Bitterfeld und in anderen Bereichen zu erheblichen ökologischen Schäden in der früheren DDR gekommen ist. Aber es ist eben auch undifferenziert, wenn nicht gleichzeitig darauf hingewiesen wird, daß es in der DDR ein für Europa vorbildliches System der Sekundärrohstofferfassung gab, ein System, das auch große Vorteile gegenüber vergleichbaren Versuchen in der Bundesrepublik hatte. Nun frage ich Sie: Warum konnte dieses System nicht erhalten und für Gesamtdeutschland eingeführt werden? Warum mußte es zerstört werden? — Nur weil man nicht zugeben wollte, daß es auch auf diesem Gebiet zumindest einen Posten gab, der fortschrittlicher geregelt und organisiert war als in den alten Bundesländern!



    Dr. Gregor Gysi
    Nicht gerechtfertigt ist es, in diesem Zusammenhang zu verschweigen, daß es natürlich auch beachtliche ökologische Probleme in den alten Bundesländern gibt.
    Was nun die Wirtschaft betrifft, folgendes: Tatsache ist, daß die marktwirtschaftlichen Strukturen in allen führenden westlichen Industriestaaten zu einer höheren Effektivität und Produktivität im Vergleich zu allen Staatswirtschaften der früheren sogenannten sozialistischen Länder geführt haben. Es bringt aber überhaupt nichts ein, permanent von 40jähriger sozialistischer Mißwirtschaft zu sprechen und damit wieder die Pauschalierung an die Stelle einer differenzierten Wahrheit zu setzen. Sie wissen, daß es durchaus ökonomische Bereiche gab, in denen Produkte hergestellt wurden, die auf dem Weltmarkt Bestand hatten. Als Beispiel sei nur der Werkzeugmaschinenbau genannt.
    Aber anstatt hier zunächst eine differenzierende Analyse vorzunehmen, um darauf mit gezielten, differenzierten Maßnahmen zu reagieren, wird angestrebt oder doch zumindest in Kauf genommen, den gesamten Industriestandort in der früheren DDR zu vernichten. Diese Vernichtung schließt aber auf Jahre und Jahrzehnte einen wirklichen wirtschaftlichen Aufschwung aus. Ohne einen Industriestandort kann sich auch der Mittelstand nicht entwickeln und bleiben oder werden die Kommunen lebensunfähig, weil sie eben nicht über die entsprechenden Steuereinnahmen verfügen.
    Das alles ist bekannt. Dennoch fehlten bei der Einführung der Währungsunion fast alle notwendigen wirtschaftspolitischen Begleitmaßnahmen. Wer Ungleiches gleich behandelt, sorgt nicht nur dafür, daß es ungleich bleibt, sondern er vertieft die Ungleichheit. — Das ist übrigens eine Erkenntnis von Marx, die nach wie vor Gültigkeit hat.
    Nun erklärt die Bundesregierung, daß sie sich geirrt habe, daß sie von falschen Voraussetzungen in bezug auf die Wirtschaft der ehemaligen DDR ausgegangen ist und auch bestimmte internationale Entwicklungen nicht voraussehen konnte. Kurzum: Der Irrtum wird sogleich entschuldigt.
    Aber der Irrtum — wenn es denn einer war — ist voll verschuldet. Zunächst einmal kann die Bundesregierung nicht ernsthaft behaupten, daß sie keine Kenntnis von der Struktur der Wirtschaft in der DDR hatte. Seit Jahren gab es immer enger werdende wirtschaftliche Verflechtungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR. Es gab nicht nur den Warenaustausch, sondern auch Swing-Vereinbarungen und Kredite, zum Teil in Milliardenhöhe. Betriebsdirektoren und Wirtschaftspolitiker — insbesondere Herr Dr. Günther Mittag — aus der DDR waren ständige Gäste in Betrieben, auch bei der Bundesregierung und bei Landesregierungen. Umgekehrt erfolgten auch zahlreiche Besuche in der DDR.
    Sie diskreditieren Ihre gesamte diesbezügliche bisherige Wirtschaftspolitik, wenn Sie heute so tun, als ob sie jeweils auf vollständiger Unkenntnis der wirtschaftlichen Verhältnisse der DDR beruhte.
    Insbesondere aber, seitdem Lothar de Maizière Ministerpräsident der DDR wurde, standen Ihnen sämtliche Ministerien und Einrichtungen der DDR offen. Überallhin entsandten Sie Ihre Beamten. Spätestens seit dieser Zeit hatten Sie deshalb auch exakte Kenntnisse.
    Ferner begründen Sie den angeblichen Irrtum damit, daß niemand damit rechnen konnte, daß die Außenhandelsbeziehungen im Rahmen des RGW zusammenbrechen. Das ist nun eine glatte Lüge; denn mit der Abschaffung des transferablen Rubels haben Sie selber die Voraussetzung dafür geschaffen, daß dieser Außenhandel zusammenbrechen mußte. Sie wußten aber, daß über 70 % des Außenhandels der DDR mit den Staaten des RGW betrieben wurde. Wäre es nicht sinnvoll gewesen, diesen Außenhandel zu stützen, z. B. an eine Swing-Vereinbarung oder ähnliches zu denken?

    (Dr. Graf Lambsdorff [FDP]: Wer zahlt das denn?)

    Damit hätten Sie den Staaten Osteuropas und den Betrieben in der DDR geholfen. Viele Beschäftigte in der früheren DDR hätten noch ihre Arbeit oder würden sie nicht in den nächsten Monaten verlieren. Damit wiederum hätte der Bundeshaushalt große Ausgaben für Kurzarbeitergeld und Arbeitslosenunterstützung eingespart. Vorbeugen ist eben besser als heilen und wesentlich billiger.

    (Dr. Graf Lambsdorff [FDP]: Darüber kannst du lange streiten!)

    — Ja, dazu bin ich gerne bereit.
    Letztlich führt die Bundesregierung noch an, daß sie mit dem Ausbruch des Golfkrieges nicht rechnen konnte. Auch das ist eine glatte Lüge; denn seit dem Herbst 1990 ist das Ultimatum an den Irak bekannt, das so formuliert worden war, daß von Anfang an auch an einen militärischen Eingriff gedacht wurde — es sei denn, Sie wollen uns heute plötzlich erklären, daß Sie an das Gute in Saddam Hussein geglaubt haben. Das allerdings wäre wohl schwer nachzuvollziehen.
    Wenn also von einem Irrtum nicht die Rede sein kann, dann muß die Bundesregierung von Anfang an gewußt haben, daß es zu Steuererhöhungen kommen wird. Wenn sie das aber gewußt hat, dann waren die Wahlversprechungen der Regierungsparteien eine Täuschung.
    Hinsichtlich der Menschen aus den neuen Bundesländern ist dies besonders übel, weil ein Motiv der Herbstrevolution von 1989 für eine Vielzahl der Aktivisten darin bestand, endlich Ehrlichkeit in die Politik einziehen zu lassen. Niemand hat deshalb das Recht, gerade diesen Bürgern etwas vorzumachen.
    Herr Waigel, Sie waren es, der am 23. Mai 1990 im Bundestag sagte, daß mit der Errichtung der Wirtschafts- und Währungsunion außerordentlich günstige Startchancen für Investoren aus der DDR, aus der Bundesrepublik und aus der ganzen Welt geschaffen werden.
    Sie, Herr Bundeskanzler, waren es, der laut „Wirtschaftswoche" vom 1. März 1991 im Mai 1990 erklärte, daß die Wirtschafts- und Währungsunion von niemandem hierzulande Sonderopfer verlangt. Sie waren es auch, der am 21. Juni im Bundestag sagte:



    Dr. Gregor Gysi
    Niemandem wird es schlechtergehen als zuvor, dafür vielen besser.
    Herr Waigel, geradezu kabarettistisch klingt Ihr Satz im Bundestag vom 21. Mai 1990, daß der Vertrag über die Schaffung der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion in der DDR die Freiheit der Arbeitsplatzwahl bringe. Die Menschen in den neuen Bundesländern wären schon glücklich, wenn sie ihren Arbeitsplatz behalten könnten.
    Ist es nicht zutreffend, daß Sie vor der Einführung der Währungsunion erklärt haben, daß diese unbedingt so überstürzt erforderlich sei, weil ansonsten die Abwanderung von qualifizierten Arbeitskräften in den Westen nicht zu verhindern sei? Ist es nicht andererseits zutreffend, daß diese Abwanderungszahlen heute schon weit höher liegen?
    Zu Recht wurde an der Wirtschaftspolitik der DDR der überdimensionale Zentralismus kritisiert. Er machte die Wirtschaft zu einem großen Teil unflexibel. Die Treuhandanstalt ist aber wohl das zentralistischste Instrument, das es je gab. In der Hand einer Behörde wird praktisch alles entschieden, was für die Wirtschaft in den neuen Bundesländern maßgeblich ist. Nach wie vor verschließt sich aber die Bundesregierung der Forderung, die Treuhandanstalt wesentlich zu dezentralisieren. Wenn das ein Fehler war
    — ich habe in der Volkskammer übrigens gegen das Gesetz gestimmt — , dann bedürfte es eben dringend der Korrektur.
    Von vielen Betrieben wurden Konzepte für die Sanierung bei der Treuhandanstalt eingereicht. Die meisten Konzepte wurden jedoch abgelehnt. Sozialpläne werden unter der Bedingung genehmigt, daß sie aus
    — nicht vorhandenen — Gewinnen der Betriebe bestritten werden. Seit der Existenz dieser Treuhandanstalt gibt es lediglich einen einzigen Betrieb, der entschuldet wurde.
    Der Präsident der Treuhandanstalt hat darauf hingewiesen, daß sein Auftrag betriebswirtschaftlicher und nicht volkswirtschaftlicher Natur ist. Schon darin liegt ein klarer Konstruktionsfehler. Es ist nicht möglich, an Hand des einzelnen Betriebes zu überprüfen, ob er saniert werden soll, und alle anderen Faktoren außer Betracht zu lassen. Das bedeutet nämlich, jegliche Überlegung auszuschließen, welche Bedeutung die Schließung eines Betriebes für die Infrastruktur einer Region und vieles andere mehr haben kann.
    Wenn es schon ein großer Fehler ist, mit der Treuhandanstalt den Zentralismus zu festigen, so besteht ein weiterer Fehler darin, daß sie so undemokratisch strukturiert ist. Im Verwaltungsrat der Treuhandanstalt sind die Kommunen und Länder und die Gewerkschaften völlig unzureichend vertreten. Wir haben einen Änderungsantrag eingebracht — er wird Ihnen zugestellt — , der die Vertretung dieser Einrichtungen und übrigens auch der Unternehmerverbände sichert. Wir sind also auf diesem Auge nicht blind. Ich hoffe, daß der Antrag Ihre Zustimmung finden wird. Es ist erforderlich, hier so schnell wie möglich Änderungen zu beschließen.
    Zu Recht wird im übrigen darauf hingewiesen, daß die Verwaltungen in den neuen Bundesländern nicht funktionieren. Ich frage Sie aber, wie diese funktionieren sollen, wenn Sie die 650 000 Beschäftigten des öffentlichen Dienstes in eine Warteschleife versetzen und niemand von den Beschäftigten weiß, ob er nach dem 30. Juni 1991 noch im Beschäftigungsverhältnis steht. Es ist doch völlig klar, daß dies die eigene Qualifizierung, das Schöpfertum und den Fleiß in der Arbeit nicht befördert, sondern die Betroffenen völlig entmotiviert.
    Wer glaubt, Verwaltungsprobleme in den neuen Bundesländern durch Zwangsversetzung von Beamten aus den alten Bundesländern lösen zu können, bereitet den nächsten großen Irrtum vor. Auch diese sind nämlich nicht motiviert. Sie kennen die Probleme in den neuen Bundesländern nicht. Selbstverständlich sollen Spezialisten aus dem Westen im Osten helfen. Aber die grundlegenden Probleme können auf diese Art und Weise nicht gelöst werden.
    Im sozialen Bereich ist festzustellen — ob Sie das nun wahrhaben wollen oder nicht —, daß es vielen Menschen in den neuen Bundesländern heute schlechtergeht als früher. Niemand versteht, weshalb er gewonnene Freiheiten mit einer sozialen Schlechterstellung bezahlen soll. Menschenrechte sind universell. Sie haben nicht nur eine politische, sondern eben auch eine soziale Seite.
    Die Renten in der DDR waren für einen Großteil der Rentner immer extrem niedrig. Aber durch die Stützung der Mieten, der Energiepreise, der Preise für Grundnahrungsmittel, der Preise im öffentlichen Verkehr und in anderen Bereichen gab es keine Existenzangst. Inzwischen sind die Renten in der DDR nicht viel höher; aber die Abzüge und die gestiegenen Preise verschlechtern die Situation vieler Rentner erheblich.
    Dann gibt es immer wieder irgendwelche Versprechungen über Erhöhungen. Aber die Bundesregierung klärt nicht gleichzeitig darüber auf, welche Anrechnungen und Abzüge damit verbunden sind, was dabei also real mehr für die Betroffenen herauskommt — zumeist nichts oder nur sehr wenig. Stimmen Sie wenigstens unserem Entschließungsantrag auf Mietpreisstopp für die neuen Bundesländer — vorerst bis zum 31. Dezember 1991 — zu, um hier einen weiteren Sozialabbau zu verhindern.
    Erschütternd ist, mit welcher Selbstverständlichkeit über die Notwendigkeit von Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit gesprochen wird. Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit führen aber nicht nur zu einer Verschlechterung der materiellen Lebenslage, sondern zusätzlich zu einer enormen psychischen Belastung der Betroffenen. Niemand in der DDR hatte gelernt, mit Arbeitslosigkeit zu leben.
    Hinzu kommt die Unsicherheit. Niemand sagt den Besitzern von Grundstücken und Eigenheimen, wie es um ihr Eigentums- oder Nutzungsrecht in Zukunft bestellt sein wird. Die ganze Sorge der Bundesregierung gilt diesbezüglich irgendwelchen Großgrundbesitzern, die ihre Ländereien in der früheren DDR zurückfordern. Wenn man früheres Unrecht beseitigen will, dann frage ich, weshalb man diesbezüglich erst im Jahre 1945 oder 1949 beginnen will. Man könnte sich ja einmal darüber unterhalten, wieviel Eigentum in der Bundesrepublik besteht, das z. B. über die soge-



    Dr. Gregor Gysi
    nannte Arisierung von Unternehmen und Geschäften erworben wurde.
    Kurzum: Wenn wir in die Geschichte hinsichtlich des Erwerbs von Eigentum zurückgehen wollten und hier Gerechtigkeit herstellen wollten, dann gäbe es auch in den alten Bundesländern eine Menge zu tun. Sie finden es eben normal, und ich halte es für den Gipfel, daß die IG Farben in Liquidation ihre Ansprüche in der früheren DDR geltend macht.
    Um auch hier Mißverständnissen vorzubeugen: Es gibt natürlich Fälle, in denen solche Ansprüche berechtigt sind. Aber es ist eine Differenzierung erforderlich. Man muß den Tatsachen und den Verhältnissen Rechnung tragen, die in der früheren DDR entstanden sind, oder wir müssen wirklich zurück bis zum Mittelalter, d. h. bis zu der Zeit, als Thurn und Taxis noch Posträuber waren.
    All die Probleme, die in den neuen Bundesländern entstanden sind und weiterhin entstehen, sind zu einem nicht unbeachtlichen Teil der verfehlten Politik der Bundesregierung zuzuschreiben. Ich sehe einen Mißbrauch dieser Probleme auch darin, damit von allen Problemen, die in den alten Bundesländern bestehen, abzulenken. Deshalb verstehe ich auch, daß die Menschen hier unzufrieden werden, weil niemand mehr darüber spricht, daß es auch hier Wohnungsnot, Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger gibt.

    (Vorsitz: Vizepräsident Hans Klein)

    Zu den Steuererhöhungen wurde gestern ausführlich gesprochen und wird auch heute noch gesprochen werden. Gestatten Sie mir nur den Hinweis, daß wir Steuererhöhungen nicht zustimmen können, die einerseits die Sozialschwachen erheblich belasten und die andererseits Reiche befördern.
    Wir schlagen vor, eine Ergänzungsabgabe, die im Grundgesetz vorgesehen ist, für Alleinstehende, die mehr als 60 000 DM im Jahr verdienen und für Ehepaare, die mehr als 120 000 DM im Jahr verdienen, einzuführen. Wir schlagen statt der Abschaffung der Vermögensteuer eine zusätzliche Belastung für solche Bürgerinnen und Bürger vor, die steuerpflichtiges Vermögen von 500 000 DM und mehr besitzen.
    Lassen Sie mich zum Schluß darum bitten, Wirtschaftspolitik und nicht nur Finanzpolitik zu machen; aktive Wirtschaftspolitik, d. h. Struktur- und Beschäftigungsprogramme.
    Lassen Sie mich ein Beispiel nennen: in Greifswald muß das Kernkraftwerk geschlossen werden. Es muß ein neues Kraftwerk, kein Kernkraftwerk — das ist viel zu unsicher — , errichtet werden. Aber das soll nun in einer anderen Region gebaut werden, was diese Region zerstört. Das zweite ist: Der Auftrag soll an eine Westfirma und nicht an Bergmann/Borsig gehen, die einzige Firma in der früheren DDR, die Kraftwerke erbauen kann.
    Würde der Auftrag an Bergmann/Borsig gehen, dann wäre wirklich vieles gerettet. Die Menschen in den neuen Bundesländern sind eben nicht nur eine rechnerische Größe. Sie sind nicht nur Wählerinnen und Wähler, denen man etwas versprechen kann, das man dann nicht zu halten braucht. Es sind in erster Linie Menschen mit Verstand, Herz und Seele, deren
    psychologische Befindlichkeit man auch beachten muß. Hören Sie auf, sie so zu behandeln, als kämen sie gerade aus dem Urwald. Anerkennen Sie, daß auch sie nicht wenig in den vergangenen mehr als 40 Jahren geleistet haben.

    (Beifall bei der PDS/Linke Liste)