Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren, auf der Tribüne hat der Herr Bundespräsident Platz genommen. Ich begrüße Sie hier im Deutschen Bundestag recht herzlich.
Als Ehrengast begrüße ich den Vizemarschall des Sejm der Republik Polen, Herrn Tadeusz Fiszbach, den Mitbegründer der Sozialdemokratischen Union der Republik Polen, mit seiner Delegation.
Im Namen des Deutschen Bundestages heiße ich Sie herzlich in der Bundesrepublik Deutschland willkommen und wünsche Ihnen gute, nützliche Gespräche in unserem Land.
Bevor ich zu den Amtlichen Mitteilungen komme, gratuliere ich dem Kollegen Deres, der am 13. Februar 1990 seinen 60. Geburtstag feierte, im Namen des Hauses ganz herzlich und wünsche ihm alles Gute.
Als Nachfolger für den verstorbenen Kollegen Weiß hat der Abgeordnete Herr Schneider (Idar-Oberstein) am 8. Februar 1990 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich begrüße den Kollegen, der schon dem 10. Deutschen Bundestag angehörte, recht herzlich.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Mitwirkung von Bundestag und Bundesrat im Zusammenschluß der beiden deutschen Staaten — Drucksache 11/6462 —
2. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Daniels , Dr. Knabe, Frau Beck-Oberdorf, Wetzel, Frau Flinner, Dr. Mechtersheimer, Frau Hillerich, Frau Vennegerts, Such, Frau Schoppe, Hüser, Dr. Lippelt (Hannover), Frau Eid, Kreuzeder, Frau Dr. Vollmer, Frau Kelly, Frau Rock, Hoss, Frau Garbe, Frau Wollny, Frau Rust, Frau Hensel, Frau Saibold, Frau Schmidt (Hamburg), Volmer, Brauer
und der Fraktion DIE GRÜNEN: Förderung des Aufkommens von elektrischem Strom aus Wasserkraft, Wind- und Solarenergie oder anderer, regenerativer unerschöpflicher Energie sowie aus rationellen Energieerzeugungsanlagen — Drucksache 11/6408 —
3. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und der Fraktion DIE GRÜNEN: Änderung des Untersuchungsauftrags des 1. Untersuchungsausschusses der 11. Wahlperiode — Drucksache 11/6463 —
4. Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 06 40 Titel 681 05 — Einmalige Unterstützung far im Bundesgebiet einschließlich Berlin (West) eintreffende Aus- und Übersiedler — Drucksachen 11/6159, 11/6426 —
5. Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Fremdrentenrechts — Drucksache 11/6452 —
Darüber hinaus ist vereinbart worden, Punkt 11 a abzusetzen sowie Tagesordnungspunkt 13 ohne Aussprache zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Es gilt als beschlossen.
Ich rufe Punkt 3 und Zusatzpunkt 1 der Tagesordnung auf:
3. Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung über die Gespräche des Bundeskanzlers mit Generalsekretär Gorbatschow und mit Ministerpräsident Modrow
ZP1 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Mitwirkung von Bundestag und Bundesrat am Zusammenschluß der beiden deutschen Staaten
— Drucksache 11/6462 —
Überweisungsvorschlag:
Ältestenrat
Rechtsausschuß
Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen
Zur Regierungserklärung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/6457 vor.
Präsidentin Dr. Süssmuth
Meine Damen und Herren, nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Beratung vier Stunden vorgesehen, wobei die letzte halbe Stunde Fünfminutenbeiträgen vorbehalten ist. — Auch dazu sehe ich keinen Widerspruch.
Darf ich jetzt die Damen und Herren bitten, Platz zu nehmen, bevor der Bundeskanzler seine Erklärung abgibt. — Das Wort zur Abgabe der Regierungserklärung hat der Herr Bundeskanzler.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit meinem Amtseid auf das Grundgesetz habe ich — wie alle meine Vorgänger — die Pflicht übernommen, mit besten Kräften darauf hinzuwirken, daß das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands vollenden kann. Heute kann ich dem Deutschen Bundestag berichten: Noch nie, seit unser Land geteilt, noch nie, seit unser Grundgesetz geschrieben wurde, sind wir unserem Ziel, der Einheit aller Deutschen in Freiheit, so nahe gekommen wie heute.
Am vergangenen Samstag wurden in Moskau in den Gesprächen mit Generalsekretär Gorbatschow die Weichen gestellt. Das Ergebnis dieser entscheidenden Begegnung lautet: Generalsekretär „Gorbatschow stellte fest — und der Kanzler stimmte ihm zu —, daß es jetzt zwischen der UdSSR, der Bundesrepublik Deutschland und der DDR keine Meinungsverschiedenheiten darüber gibt, daß die Deutschen selbst die Frage der Einheit der deutschen Nation lösen und selbst ihre Wahl treffen müssen, in welchen staatlichen Formen, in welchen Fristen, mit welchem Tempo und unter welchen Bedingungen sie diese Einheit verwirklichen werden".Wer, meine Damen und Herren, fühlt sich durch diese Worte in seinen Gedanken, in seinen Gefühlen nicht unmittelbar angesprochen? Dieses Ergebnis macht deutlich, was wir immer gesagt haben: Wir sind ein Volk.
Wir freuen uns, daß wir diesen Tag erleben dürfen. Wir sind entschlossen, die jetzt greifbar nahe Chance mit Umsicht und mit Entschlossenheit wahrzunehmen.
Wir wissen, daß jetzt nicht Überschwang der Gefühle, sondern Nüchternheit und Augenmaß geboten sind.Wir schulden Dank an alle, die zu dieser geschichtlichen Wende beigetragen haben. Unser Dank gebührt in erster Linie unseren Freunden und Verbündeten im Westen. Sie haben zu uns gehalten in den gefahrvollen Zeiten, als Blockade, Mauer und Stacheldraht die Teilung unseres Landes und seiner Hauptstadt verewigen sollten. Sie haben zu uns gehalten in Zeiten des Kleinmuts, als selbst hierzulande mancher das Grundgesetz ändern wollte, weil es angeblich eine „Lebenslüge dieser Republik" festschrieb.
Sie haben zu uns gehalten in konfliktträchtigen Zeiten, als Raketenrüstung im Osten und die westliche Antwort auch auf die deutschen Dinge zurückzuwirken drohten. Sie haben sich im Deutschlandvertrag zum Ziel der deutschen Einheit in freiheitlich-demokratischer Form bekannt, und sie haben beim Eintreten in die europäische Integration — in jenem Zusatzprotokoll zu den Römischen Verträgen — unseren Beziehungen zur DDR eine Sonderstellung eingeräumt. Heute können wir darauf aufbauen. Dafür sind und bleiben wir dankbar.Wir danken Generalsekretär Michail Gorbatschow, der zusammen mit der tiefgreifenden Umgestaltung seines Landes auch die sowjetische Außenpolitik in eine neue Richtung lenkte und neue Dynamik und neues Denken vorgab.
Jetzt verändert dieses neue Denken auch die sowjetische Deutschlandpolitik und erlaubt eine konstruktive und zukunftsträchtige Lösung der deutschen Frage. Diese Lösung — davon bin ich zutiefst überzeugt — entspricht den wohlverstandenen sowjetischen Interessen, darin eingeschlossen auch die Sicherheitsinteressen. In unserer Chance zur Einheit liegt für die Sowjetunion die Chance zur langfristigen Partnerschaft mit einem politisch stabilen und wirtschaftlich leistungsfähigen Land in der Mitte Europas, ja — und ich sage das mit Bedacht — auch die Chance, daß das deutsche Volk und die Völker der Sowjetunion endgültig die Schatten der Vergangenheit hinter sich lassen und sich die Hand reichen.
Lassen Sie mich in dieser Stunde hier vor dem Hohen Haus — wie ich es auch im Gespräch mit Generalsekretär Gorbatschow getan habe — , den Gefühlen der Menschen in der Sowjetunion Respekt zollen, deren Erinnerungen aus persönlichem Erleben und Erleiden in der Vergangenheit verhaftet sind. Gerade auch ihnen gilt mein Wort: „Von deutschem Boden soll künftig nur Frieden ausgehen!"
Wir danken in dieser Stunde auch den Polen und den Ungarn, den Tschechen und den Slowaken, die mit tiefgreifenden Reformen in Politik, in Wirtschaft und Gesellschaft vorangegangen sind. Ohne ihr Beispiel wären die jüngsten Entwicklungen in der DDR nicht möglich gewesen.
Zum Abschluß meines Besuchs in der Republik Polen im vergangenen Herbst habe ich gesagt:
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990 15103
Bundeskanzler Dr. Kohl1980 — —
— Meine Damen und Herren, ich weiß gar nicht, was für ein Grund hier jetzt für diese Bemerkungen ist. Ich gebe wieder, wie der geschichtliche Ablauf war. Wenn Sie anderer Meinung sind, können Sie das hier ja sagen. Es ist bloß schlimm, daß wir selbst in diesen nationalen Fragen nicht mehr Gemeinsamkeit zusammenbringen.
Zum Abschluß — ich sage es noch einmal — meines Besuches in Polen im vergangenen Herbst habe ich gesagt:1980, auf der Danziger Lenin-Werft, ging es um Ziele, die auch die Deutschen in der DDR betreffen: um Freiheit, um Menschenwürde, um Menschenrechte, um Selbstbestimmung.Bei meinem Besuch, wenige Wochen danach, im Dezember, in Ungarn habe ich dankbar festgestellt: „Ungarn hat den ersten Stein aus der Mauer geschlagen."
Gerade auch deshalb erneuere ich von dieser Stelle aus meine Zusage: Bei aller Freude über die Chance der deutschen Einheit, bei aller akuten Sorge um die Lageentwicklung in der DDR werden wir unsere Nachbarn nicht vergessen. Ihnen gilt heute und morgen unsere unmittelbare Solidarität.
Nicht zuletzt, meine Damen und Herren, schulden wir herzlichen Dank unseren Landsleuten in der DDR: den Menschen in Berlin, in Leipzig, in Dresden, in Halle, in Chemnitz und in Plauen, die mit ihren Parolen „Wir sind das Volk" und „Wir sind ein Volk" mehr als alle anderen getan haben, um diese Chance für Deutschland zu erringen.
Ihnen gelten in dieser Stunde unser herzlicher Gruß und unser Dank!Meine Damen und Herren, gerade das Geschehen der letzten sechs Monate in der DDR hat auch bei der sowjetischen Führung die Einsicht reifen lassen, daß Richtung und Tempo der Entwicklung heute weder in der DDR noch in den anderen Reformstaaten Mittel- und Osteuropas am Grünen Tisch bestimmt werden können. Vielmehr haben die Menschen ihr Schicksal und ihre Zukunft selbst in die Hände genommen.Generalsekretär Gorbatschow und ich waren uns einig, daß den am 18. März anstehenden Volkskammer-Wahlen Schlüsselbedeutung zukommen wird.Angesichts der Wahlprogramme, mit denen die klare Mehrheit aller Parteien und Gruppierungen in der DDR antritt, konnte ich meine feste Überzeugung bekräftigen — und der Generalsekretär hat dem nicht widersprochen —, daß das Ergebnis dieser Wahl nicht nur eine demokratisch legitimierte und, wie wir hoffen, handlungsfähige Regierung sein wird, sondern auch ein Regierungsprogramm mit dem klaren Ziel: Einheit so bald wie möglich!
Mit dem Generalsekretär war ich mir einig, daß nicht nur Wahlkampf und Wahlen in geordneten Bahnen verlaufen müssen,
sondern auch darin, daß der Prozeß der Einigung in einen stabilen europäischen Rahmen eingebettet bleiben muß. Nur auf diesen beiden Gleisen kann das Ziel der deutschen Einheit sicher erreicht werden. Mit den Worten Konrad AdenauersDie deutsche Frage kann nur unter einem europäischen Dach gelöst werden.habe ich verdeutlicht, daß die BundesrepublikDeutschland von Anfang an auf nationalistische Alleingänge oder deutsche Sonderwege verzichtet hat.
Wir haben vielmehr von Anfang an darauf gesetzt, die Trennung des eigenen Landes zusammen mit der Teilung Europas insgesamt zu überwinden.
Ich habe deshalb in meinen zehn Punkten davon gesprochen, daß die Architektur des künftigen Deutschlands in die Architektur des künftigen Europas einzupassen ist. Wir müssen neue, übergreifende Sicherheitsstrukturen aufbauen.Das heißt für uns Deutsche: Wir achten die berechtigten Sicherheitsinteressen aller europäischen Länder, gerade auch der Sowjetunion, und wir respektieren die Sicherheitsbedürfnisse und die Gefühle aller Europäer, selbstverständlich und vor allem auch unserer Nachbarn.Unter diesen Leitmotiven haben Generalsekretär Gorbatschow und ich sowie Bundesaußenminister Genscher und Außenminister Schewardnadse die wohl schwierigste Frage angesprochen: die Zukunft der Bündnisse. Ich habe meine Überzeugung ausgedrückt, daß auch bei vernünftiger Würdigung der Sicherheitsinteressen der Sowjetunion ein künftiges geeintes Deutschland nicht neutralisiert oder demilitarisiert werden darf — dies ist, kurz gesagt, „altes Denken" —, sondern daß wir im westlichen Bündnis eingebunden bleiben sollen und wollen.
15104 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung, Bonn, Donnerstag, den 15 Februar 1990Bundeskanzler Dr. KohlDie Geschichte dieses Jahrhunderts, meine Damen und Herren, zeigt: Nichts ist der Stabilität Europas abträglicher als ein zwischen zwei Welten, zwischen West und Ost, schwankendes Deutschland.
Und umgekehrt gilt: Deutschland im festen Bündnis mit freiheitlichen Demokratien und in zunehmender politischer und wirtschaftlicher Integration in der Europäischen Gemeinschaft ist der unerläßliche Stabilitätsfaktor, den Europa gerade auch in seiner Mitte braucht.
Ich habe zu diesem Thema klargestellt, daß unser Bündnis sich entsprechend seiner Zielsetzung verstärkt auf seine politische Rolle konzentrieren muß und daß keine Einheiten und Einrichtungen des westlichen Bündnisses auf das heutige Gebiet der DDR vorgeschoben werden. Ich weiß mich in dieser Zielrichtung mit dem Präsidenten der Vereinigten Staaten einig.Generalsekretär Gorbatschow und ich waren uns auch einig, daß jeder Anschein vermieden werden muß, daß Deutsche, aber auch die Sowjets, für die anderen Europäer sprechen — und schon gar nicht hinter deren Rücken oder über deren Köpfe hinweg. Es kann deshalb nur darum gehen, im Gespräch mit allen Beteiligten tragfähige Lösungen zu finden.Zu den berechtigten Interessen, die wir Deutschen achten wollen, gehören selbstverständlich auch die besonderen Rechte und Verpflichtungen der Sowjetunion, der USA, Großbritanniens und Frankreichs für Berlin und für Deutschland als Ganzes.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nach den Wahlen am 18. März werden die Bundesregierung und eine demokratisch legitimierte Regierung der DDR über den Weg der Deutschen zu ihrer Einheit sprechen. Wir Deutschen werden uns dann mit den Amerikanern, den Briten, den Franzosen und den Sowjets
über die äußeren Aspekte der Schaffung der deutschen Einheit einschließlich der Sicherheitsfragen der Nachbarstaaten verständigen.Meine Damen und Herren, ich habe mit Generalsekretär Gorbatschow unsere Analyse der Wirtschaftslage und der gesellschaftlichen Entwicklungen in der DDR besprochen. Ich habe mit ihm das Programm, das die Bundesregierung für die Gespräche mit Ministerpräsident Modrow vorbereitet hatte, ausführlich diskutiert. Wir waren uns einig — das gilt natürlich nicht nur auf wirtschaftlichem Gebiet — , daß das mit der Sowjetunion Erreichte nicht nur von einem geeinten Deutschland erhalten, sondern mit ihm weiter ausgebaut werden soll.
Die Wachstumsimpulse, die wir von der deutschen Einheit und von der europäischen Integration erwarten, eröffnen auch für unsere Partner in Mittel-, Ost- und Südosteuropa lohnende Perspektiven.
Dabei, meine Damen und Herren, ist unerläßlich, daß unsere Partner ihre Politik der Öffnung und der Reformen konsequent fortsetzen.Meine Damen und Herren, jeder weiß, daß Reformen auch schwierige Übergangsphasen kennen. Bereits bei unseren Gesprächen in Bonn im vergangenen Juni habe ich Generalsekretär Gorbatschow angeboten, ihn im Rahmen unserer Möglichkeiten zu unterstützen. Ich freue mich, daß das letzte Woche mit einer Nahrungsmittelaktion möglich war. Wir werden auch in Zukunft selbstverständlich unser Wort halten.
Meine Damen und Herren, in konstruktivem Geist haben wir auch über die Lage der Rußland-Deutschen gesprochen. Generalsekretär Gorbatschow versicherte mir erneut, daß dieser Teil der Bevölkerung großes Ansehen genieße. Die sowjetische Führung suche deshalb nach neuen Formen von Autonomie, die den Interessen der betroffenen Menschen gerecht werden. Er strebe eine positive Lösung an, damit die Menschen in der Sowjetunion, in ihrer Heimat bleiben.Wir haben uns dann auch noch darauf geeinigt, daß im nächsten Jahr ein deutscher Astronaut an einer sowjetischen wissenschaftlichen Raumfahrtunternehmung teilnehmen wird. Diese gemeinsame Unternehmung im All hat nicht nur ihre wissenschaftliche Bedeutung; sie kann auch zu einem Symbol werden.
Vertrauen, meine Damen und Herren, war auch in Moskau eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg. Generalsekretär Gorbatschow und ich haben an das gute und vertraute persönliche Verhältnis anknüpfen können, das wir bei unseren Begegnungen im Oktober 1988 und im Juni 1989 aufgebaut haben. Wir haben im Sinn der damals unterzeichneten Gemeinsamen Erklärung unser Ziel bekräftigt, ein Verhältnis guter und verläßlicher Nachbarschaft dauerhaft zu begründen und damit an die guten Traditionen unserer jahrhundertelangen Geschichte anzuknüpfen. Der Generalsekretär schloß unsere Moskauer Unterredungen mit dem Wort:Die Beziehungen zwischen Rußland und Deutschland waren schon immer ein besonderes Phänomen, und jede Generation steht neu vor dieser Herausforderung.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, wir können heute feststellen, daß die aktuelle Situation
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990 15105
Bundeskanzler Dr. Kohldurch drei wichtige neue Elemente gekennzeichnet ist: durch die Ergebnisse des Besuches in Moskau, durch die weiterführenden Verabredungen in Ottawa und durch unser Angebot für eine Währungsunion und Wirtschaftsgemeinschaft im Rahmen der Gespräche mit Ministerpräsident Modrow und seiner Delegation. Es ist ganz offensichtlich: Die Lage in Deutschland hat sich qualitativ verändert.Meine Damen und Herren, die Gespräche mit Ministerpräsident Modrow und seiner Delegation fanden in einer sachlichen und sehr offenen Atmosphäre statt.
Es kam uns darauf an, Hoffnungszeichen für die Menschen in der DDR zu setzen.
— Ihr Beitrag zur deutschen Politik war in diesen Jahren, daß Sie im wesentlichen gegen die Einheit unseres Vaterlandes gesprochen und operiert haben, daß Sie mit dem Zeichen des Friedens hier eingezogen sind und mehr als jede andere Gruppe zum Unfrieden in der Bundesrepublik Deutschland beigetragen haben.
Meine Damen und Herren, die Lage hat sich deutlich zugespitzt. Die politischen Parteien und Gruppierungen in der DDR am sogenannten Runden Tisch haben der Bundesregierung für das Gespräch zwischen dem Ministerpräsidenten und mir ein Positionspapier übermittelt, in dem sie von einer „Lage" sprachen, „die durch rasche Destabilisierung gekennzeichnet ist".Für uns werden die zunehmenden Probleme insbesondere durch den anhaltend großen Zustrom von Übersiedlern deutlich: Ihre Zahl belief sich 1989 auf insgesamt rund 340 000. Seit Jahresbeginn, also in wenigen Wochen, sind rund 85 000 hinzugekommen. Wenn sich dieser Zustrom in diesem Monat fortsetzt, werden wir am Monatsende über 100 000 Übersiedler haben. Ich will das noch einmal im Beispiel verdeutlichen: Das entspricht der Einwohnerzahl der Stadt Dessau.Deswegen habe ich in den Gesprächen mit Ministerpräsident Modrow und seiner Delegation unsere wiederholt erklärte Bereitschaft hervorgehoben, kurzfristig dort zu helfen, wo dies insbesondere aus humanitären Gründen dringlich und notwendig ist.
Entsprechende Unterstützungsmaßnahmen enthält der Nachtragshaushalt 1990. Ich nenne die Stichworte Devisenfonds, ERP-Kreditprogramm, Schulung und Technologietransfer, Umweltschutz, Verbesserung der Verkehrswege und Hilfe im Bereich der medizinischen Ausrüstung. Insgesamt geht es um einen Betrag von über 5 Milliarden DM.Eingeleitet worden ist ferner ein umfangreiches Programm technischer Zusammenarbeit und konkreter Hilfe durch die Post. Die Postpauschale wurde auf300 Millionen DM erhöht. Sie wird voll für den Ausbau des Telefonnetzes der DDR verwendet. Das wird noch in diesem Jahr — ich halte das für ein wichtiges Zeichen — zu einer spürbaren Verbesserung des beiderseitigen Telefonverkehrs führen.All dies läßt klar erkennen: Wir sind bereit, uns für die Menschen in der DDR zu engagieren, damit sie in ihrer Heimat bleiben und dort den dringend notwendigen wirtschaftlichen Wiederaufbau mitgestalten.Aber wir gehen einen entscheidenden Schritt weiter: Ich habe Ministerpräsident Modrow das Angebot unterbreitet, sofortige Verhandlungen zur Schaffung einer Währungsunion und Wirtschaftsgemeinschaft aufzunehmen. Beide Seiten sind übereingekommen, zu diesem Zweck eine gemeinsame Kommission zu bilden, die ihre Arbeit unverzüglich beginnt. Für mich heißt unverzüglich: bereits in der nächsten Woche. Die Bundesregierung hat ihre Mitglieder in dieser Kommission bereits benannt. Ich will darauf drängen, daß diese Arbeit ohne jede Verzögerung und mit größter Intensität vorangeht. Die dann notwendigen Entscheidungen können aus unserer Sicht schon bald nach den Wahlen am 18. März durch eine frei gewählte Volkskammer, und durch eine frei gewählte Regierung der DDR getroffen werden.Was bedeutet unser Angebot konkret? Das Angebot besteht im Kern aus zwei Teilen.Erstens: Zu einem Stichtag wird die Mark der DDR als Währungseinheit und gesetzliches Zahlungsmittel durch die D-Mark ersetzt.Zweitens: Zeitgleich müssen von der DDR die notwendigen rechtlichen Voraussetzungen für die Einführung einer Sozialen Marktwirtschaft geschaffen werden.
Beide Elemente, meine Damen und Herren, stehen für die Bundesregierung in einem unauflösbaren Zusammenhang.
Ich füge hinzu: Politisch und ökonomisch bedeutet dieses Angebot der Bundesregierung, daß wir bereit sind, auf ungewöhnliche Ereignisse und Herausforderungen in der DDR unsererseits mit einer ungewöhnlichen Antwort zu reagieren.
Ich sage dies auch im Blick auf den einen oder anderen, der — das ist aus seiner Sicht verständlich — vor allem die ökonomischen Faktoren sieht und dabei die politische Lage in unserem Land unzureichend berücksichtigt.Über eines kann kein Zweifel bestehen: In einer politisch und wirtschaftlich normalen Situation wäre der Weg ein anderer gewesen, und zwar derjenige schrittweiser Reformen und Anpassungen mit der gemeinsamen Währung erst zu einem späteren Zeitpunkt. Vor diesem Hintergrund — ich sagte es — gibt es kritische Stimmen von Experten. Auch der Rat der Wirtschaftssachverständigen hat sich in dieser Weise
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15106 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990
Bundeskanzler Dr. Kohlgeäußert. Wir nehmen die Argumente ernst. Und dennoch sage ich: Wir entscheiden uns für den eben skizzierten Weg.Die krisenhafte Zuspitzung der Lage in der DDR macht mutige Antworten erforderlich.
Politische und gesellschaftliche Umwälzungen haben zu einer dramatischen Verkürzung des Zeithorizonts geführt, so daß für — wie auch immer definierte und auch ökonomisch begründete — Stufenpläne aus meiner Sicht die Voraussetzungen entfallen sind. In einer solchen Situation geht es um mehr als um Ökonomie, so wichtig Ökonomie ist. Es geht jetzt darum, ein klares Signal der Hoffnung und der Ermutigung für die Menschen in der DDR zu setzen.
Deswegen und nur deswegen haben wir in dieser konkreten Situation die in der Tat historisch zu nennende Entscheidung getroffen, der DDR jetzt das Angebot einer Währungsunion und Wirtschaftsgemeinschaft zu machen, ein Angebot, für das es kein vergleichbares Beispiel gibt. Für die Bundesrepublik Deutschland — das sage ich auch ganz bewußt an die Adresse der Kritiker in der DDR, von denen ja nicht wenige Hauptverantwortung dafür tragen,
daß die DDR in diese katastrophale Lage gekommen ist —
bedeutet das, daß wir damit unseren stärksten, wirtschaftlichen Aktivposten einbringen: die Deutsche Mark. Wir beteiligen so die Landsleute in der DDR ganz unmittelbar und direkt an dem, was die Bürger der Bundesrepublik Deutschland in jahrzehntelanger beharrlicher Arbeit aufgebaut und erreicht haben.Damit werden Startbedingungen geschaffen, die eine rasche Verbesserung des Lebensstandards der Bürger in der DDR ermöglichen;
denn die D-Mark, eine der härtesten, stabilsten und allgemein akzeptierten Währungen der Welt, ist das Fundament unseres Wohlstandes und unserer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Entscheidend ist es, dieses Fundament im beiderseitigen Interesse auch künftig tragfähig zu halten.Die Währungsunion macht deshalb nur dann Sinn, wenn in der DDR unverzüglich umfassende marktwirtschaftliche Reformen durchgeführt werden.
Hier handelt es sich um zwei Seiten ein und derselben Entwicklung, die parallel und eng verzahnt miteinander vorangetrieben werden müssen.Es geht konkret— um eine umfassende Bestandsaufnahme finanzieller Daten und Fakten. Ich füge hinzu: Das, was dieDelegation von Herrn Ministerpräsident Modrow hierzu in Bonn an Zahlen vorgetragen hat, ist dafür in keiner Weise ausreichend.— Es geht um die Sicherung der bewährten Stabilitätspolitik der Deutschen Bundesbank für das dann gemeinsame Währungsgebiet.— Es geht um die überzeugende und zügige Durchführung der angekündigten Wirtschaftsreformen mit den Stichworten Gewerbefreiheit, Eigentumsordnung, Wettbewerbsordnung, marktwirtschaftliches Preis- und Lohnsystem
sowie Freiheit im Außenhandel.— Es geht um die Neuordnung der Staatsfinanzen einschließlich des Steuer- und Abgabensystems.— Es geht mir auch um die Sicherung echter Mitwirkungsrechte der Arbeitnehmer in den Betrieben der DDR.
— Ja, da lachen Sie. Das weiß ich. Für die Arbeitnehmer haben Sie außer Sprüchen nie etwas übrig gehabt.
Entschuldigen Sie, Herr Bundeskanzler. Ich muß diesen Zwischenruf als unparlamentarisch zurückweisen.
Meine Damen und Herren, wenn es um die Sicherung der Arbeitnehmerrechte geht, brauche ich mich als CDU-Vorsitzender vor niemandem zu verstecken.
Ich bin aber sehr gespannt, was die Redner der sozialdemokratischen Fraktion heute zu der Vorlage zu sagen haben,
die der FDGB der DDR jetzt in die Diskussion gebracht hat.
— Meine Damen und Herren von der SPD, Sie waren doch mit diesen Leuten verbrüdert, nicht wir!
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990 15107
Bundeskanzler Dr. Kohl— Aber Herr Abgeordneter Vogel,
wie waren doch zusammen auf dem DGB-Kongreß. Ich habe dort doch erlebt, wie der Kollege Blüm und ich behandelt wurden und wie im Gegensatz dazu Herr Harry Tisch behandelt wurde. Das ist doch die Erfahrung, die wir gemacht haben!
Meine Damen und Herren, was gegenwärtig vom FDGB vorgeschlagen wird, läßt frei gewählte Betriebsräte und damit auch einen wesentlichen Teil der Mitbestimmung der Arbeitnehmer vor der Tür.
— Meine Damen und Herren, ich denke gar nicht daran, hier etwas zurückzunehmen!
In meiner Erinnerung sind die Bilder vom DGB-Kongreß sehr konkret. Ich erinnere mich daran, wie man Norbert Blüm und mich behandelt hat und wie man Herrn Tisch behandelt hat. Das ist eine Erfahrung.
Die Diskussion zur sozialen Dimension der Europäischen Gemeinschaft — —
Darf ich vielleicht um eine Unterbrechung bitten. Ich — —
— Ich möchte Sie bitten — —
Meine Damen und Herren, soll ich Ihnen hier die Gemeinsame Erklärung von SED und SPD vorlesen?
Die Diskussion zur sozialen Dimension der Europäischen Gemeinschaft hat gezeigt: Die Mitwirkungsrechte unserer Arbeitnehmer in allen Bereichen sind wegweisend. Es ist für mich selbstverständlich, daß die Mitwirkungsrechte der Arbeiternehmer in der DDR hinter diesen Errungenschaften nicht zurückbleiben dürfen.
— Es geht um die notwendige soziale Flankierung dieser Reformen z. B. durch den Aufbau einer Arbeitslosenversicherung und durch das Anpassen des Rentensystems.— Es geht um einen geeigneten rechtlichen Ordnungsrahmen für wirksamen Umweltschutz in der DDR.Ich betone: Gerade die soziale und ökologische Absicherung dieser Reformpolitik ist für die Bundesregierung von zentraler Bedeutung. Ohne sie kann der wirtschaftliche Neubeginn in der DDR nicht erfolgreich sein.
Das eklatante Versagen der sozialistischen Planwirtschaft der DDR kann nur mit einer marktwirtschaftlichen und zugleich sozial und ökologisch begleiteten Umgestaltung beseitigt werden.
Nur so kann der Zustrom privaten Kapitals in Gang kommen. Nur so können neue zukunftsträchtige Betriebe und Arbeitsplätze geschaffen werden.
Meine Damen und Herren, es gibt keinen Zweifel: Dieser Weg verlangt große Anpassungen und Anstrengungen. Es gibt Risiken.
— Meine Damen und Herren, was sollen eigentlich diese Äußerungen zu den Blockparteien? Wollen wir uns jetzt hier wirklich darüber unterhalten, wie sich die Sozialdemokratie in der DDR heute darstellt? Wollen wir uns darüber wirklich unterhalten?
Ich kann Ihnen nur sagen: Ich verstehe Ihre Aufregung, weil Sie noch vor wenigen Wochen gegen die Einheit unserer Nation waren. Das ist doch wahr!
Herr Abgeordneter Vogel, Sie schulden dem deutschen Volk Rechenschaft darüber, daß Sie noch vor weniger als einem Jahr in der Frage der Gemeinsamkeit der Deutschen in Ihrem Gemeinsamen Papier mit der SED einen völlig anderen Weg vorgeschlagen haben.
Meine Damen und Herren, wir werden es Ihnen nicht ersparen,
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15108 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990
Bundeskanzler Dr. KohlIhre Entwicklung in den letzten Jahren jetzt offenzulegen.
Wir als Bundesrepublik Deutschland können der DDR dieses Angebot einer Währungsunion und Wirtschaftsgemeinschaft machen, weil die wirtschaftliche Situation der Bundesrepublik in vieler Hinsicht ungewöhnlich günstig ist. 1982, als diese Bundesregierung die Amtsgeschäfte übernommen hat, wäre dies gar nicht möglich gewesen.
Jeder, der von den Dingen etwas versteht, weiß, daß wir nach dem Oktober 1982, nachdem wir die Regierung gerade übernommen hatten — mit all den Lasten, die Sie uns überließen — eine solche Leistung gar nicht hätten vollbringen können.
Wirtschaftswachstum und Arbeitsmarktentwicklung haben in den letzten Jahren eine Dynamik gewonnen, die Anfang oder Mitte der 80er Jahre von vielen nicht für möglich gehalten wurde und die uns inzwischen in die internationale Spitzengruppe geführt hat. Vor allem aber gewinnen unsere hohen außenwirtschaftlichen Überschüsse im Blick auf die DDR eine neue Bedeutung. Um es genauer zu sagen: Wenn es gelingt, nur einen Teil unseres jährlichen Kapitalexports von rund 100 Milliarden DM für die DDR nutzbar zu machen,
wird dies bereits ausreichen, um dort einen starken wirtschaftlichen Anschub zu bewirken. Kurz: An Gütern und an Kapital, die in der DDR für den wirtschaftlichen Neubeginn eingesetzt werden können, fehlt es keineswegs. Ebensowenig fehlt es an der Bereitschaft unserer Wirtschaft, sich für die DDR zu engagieren.
Im Gegenteil, aus vielen Gesprächen wissen wir alle, daß es bereits heute eine Fülle konkreter Investitions- und Kooperationsvorhaben gibt, die kurzfristig verwirklicht werden können. Dabei wollen sich große Unternehmen sowie kleine und mittlere Betriebe gleichermaßen engagieren.Daß in diesem Zusammenhang die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in der DDR, über die allein dort — auch das betone ich wegen der aktuellen Diskussion — und nicht hier bei uns bestimmt wird, eine entscheidende Rolle spielen, ist offensichtlich. Wenn die Regierung Modrow, wie ich nach meinem Gespräch vor Weihnachten in Dresden erwarten konnte, noch im Januar
die notwendige Gesetzgebung zum Schutz von Investitionen herbeigeführt hätte, wie dies Ungarn getanhat, wären wir heute, was Investitionen in der DDR anbelangt, bereits in einer völlig anderen Situation.
Die Verantwortlichen in der DDR — Regierung, Runder Tisch — haben es selbst in der Hand, die Signale so zu setzen, daß der wirtschaftliche Neubeginn in Gang kommt. Unterbleiben diese Entscheidungen, aus welchen Gründen auch immer, dann werden alle öffentlichen Milliardenhilfen ohne die erhoffte Wirkung bleiben.
Deshalb bleibt richtig: Die Einführung der D-Mark in der DDR und das Einleiten marktwirtschaftlicher Reformen in der DDR sind ein und dieselbe Seite der wirtschaftlichen Erfolgsmedaille.
Wichtig erscheint mir aber auch, daß die Größenordnung der wirtschaftlichen Herausforderungen, mit denen wir es jetzt zu tun haben, nüchtern gesehen wird. Bei den Einwohnern erreicht die DDR nicht ganz die Zahl des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen. Legt man die Wirtschaftskraft zugrunde, dann geht die Deutsche Bundesbank davon aus, daß wir es mit dem Gewicht eines mittelgroßen Bundeslandes in der Bundesrepublik — wie etwa des Bundeslandes Hessen — zu tun haben. Präsident Pöhl hat zusätzlich darauf hingewiesen, daß das in einem einzigen Jahr in der Bundesrepublik Deutschland neu gebildete Geldvermögen in etwa dem Gesamtbestand der Spareinlagen in der DDR entspricht.Ich nenne diese Vergleichsgrößen nicht, um die Probleme zu verniedlichen; das liegt mir fern.
Aber sie dürfen auch nicht maßlos übertrieben werden. Die Herausforderungen müssen so gesehen werden, wie sie tatsächlich sind, nämlich alles andere als einfach, aber für ein Land wie die Bundesrepublik Deutschland letztlich doch lösbar und mit der DDR gemeinsam zu bewältigen.
Ich sage dies vor allem an die Adresse derer, die einmal mehr — wie wir es oft genug erlebt haben — ein Geschäft mit der Angst machen wollen.
Wir haben dies im Jahre 1983 bei der Nachrüstung erlebt, bei der Durchsetzung des NATO-Doppelbeschlusses. Wir haben es in den vergangenen Jahren bei den notwendigen Reformen in der Bundesrepublik erlebt, und wir erleben es jetzt hier in einer besonders perfiden Weise,
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990 15109
Bundeskanzler Dr. Kohlindem man den Menschen in der DDR Angst um ihre Sparkonten macht,
indem beispielsweise Behauptungen aufgestellt werden,
die in keiner Weise stimmen, und indem man hier in der Bundesrepublik Propaganda macht und so tut,
als würden etwa die Rentner oder andere in ihrer Existenz gefährdet. Dieses perfide Spiel kennen wir seit Jahren, und wir wissen ihm zu begegnen.
Mit den Aufgaben, die vor uns liegen, werden weder die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit noch die Stabilität noch die soziale Sicherheit in der Bundesrepublik Deutschland in Frage gestellt.
Auch in der DDR bietet der Übergang zu einer Sozialen Marktwirtschaft keinen Anlaß zu Befürchtungen; denn marktwirtschaftliche Ordnung und soziale Absicherung sind nach unserem Verständnis und nach unserer Erfahrung in der 40jährigen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nicht voneinander zu trennen.
Unser Erfolgsweg war der Weg der Sozialen Marktwirtschaft, und wir haben in diesen Jahrzehnten im Vergleich der Systeme erlebt, daß der marxistische Sozialismus gescheitert ist und daß die Soziale Marktwirtschaft überall in der Welt eine Renaissance erlebt.
Die Grundlagen unseres Weges sind Leistung und soziale Gerechtigkeit,
Wettbewerb und Solidarität, Eigenverantwortung und soziale Sicherung. Unser materieller Wohlstand ist einer der höchsten,
unser soziales Sicherungsnetz eines der dichtesten in der Welt.
Für die meisten Bürger in der Bundesrepublik Deutschland ist dies mittlerweile zur Selbstverständlichkeit geworden, nicht so für unsere Landsleute in der DDR. Sie machen sich Gedanken, ob der Weg einer Währungsunion und einer Wirtschaftsgemeinschaft sie nicht ins soziale Abseits drängen könnte. Ich nehme diese Sorgen, die dort gerade ältere und von Arbeitslosigkeit bedrohte Mitbürger haben, sehr ernst. Ich kann den Bürgern der DDR jedoch versichern: Soziale Marktwirtschaft bedeutet immer auch sozialen Ausgleich.
Es ist unser Ziel, daß es bald auch zu einer sozialen Gemeinschaft kommt.
Um dies zu erreichen, ist die Bundesregierung bereit, sofort beim Aufbau einer modernen Arbeits- und Sozialordnung mitzuwirken. Nach unseren Erfahrungen ist als erster Schritt die Weiterentwicklung der sozialen Sicherungssysteme für Alter und Arbeitslosigkeit erforderlich. Beitrags- und Leistungsbezogenheit sowie Umlagefinanzierung aus dem Arbeitseinkommen sind die Garantie dafür, daß mit der Lohnentwicklung und dem Lebensstandard auch die Sozialleistungen wachsen. Es ist unser selbstverständliches Ziel, auch der Rentnergeneration in der DDR, die den Aufbau nach dem Krieg bewältigt und die Hauptlast der sozialistischen Mißwirtschaft zu tragen hatte, den Lebensabend zu sichern.
Ebenso ist es unser Ziel, den Arbeitslosen einen angemessenen Ausgleich sowie berufliche Qualifizierung zu ermöglichen. Hierfür bieten wir personelle und technische Hilfe an. Ich bin mir auch darüber im klaren, daß eine Anschubfinanzierung notwendig werden wird.
In der Bundesrepublik Deutschland haben wir durch Anstrengung und Leistung den durch technischen Fortschritt und internationale Konkurrenz bedingten Strukturwandel erfolgreich bewältigt. Ich bin auch heute davon überzeugt, daß wir gemeinsam die weitere wirtschaftliche und soziale Entwicklung in beiden Teilen Deutschlands positiv gestalten werden. Auf unsere Solidarität — und zwar nicht in Worten, sondern in Taten — können die Mitbürger in der DDR rechnen.
Den Bürgern der Bundesrepublik Deutschland möchte ich zurufen: Unser soziales Netz bleibt dicht geknüpft. Kein Rentner, kein Kranker, kein Arbeitsloser, kein Kriegsopfer, kein Sozialhilfeempfänger braucht Leistungskürzungen zu befürchten.
Im Gegenteil, die Dynamik der wirtschaftlichen Entwicklung wird auch künftig den sozialen Sicherungssystemen zugute kommen.
Meine Damen und Herren, wer also über wirtschaftliche Herausforderungen für Deutschland insgesamt
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15110 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990
Bundeskanzler Dr. Kohlspricht, der sollte dies verantwortungsbewußt und in Kenntnis der Tatsachen tun.
In diesem Zusammenhang begrüße ich es ausdrücklich, daß sich der Präsident der Deutschen Bundesbank, Herr Pöhl,
auf verantwortliche Weise auch zu diesem Thema öffentlich geäußert hat. Ich danke ihm dafür.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, es kommt jetzt darauf an, daß wir politisch und wirtschaftlich Kurs halten. Ein klarer Kurs Sozialer Marktwirtschaft ist für die Bundesrepublik, aber auch für Deutschland insgesamt von zentraler Bedeutung. Wenn wir in diesen Zeiten an den Grundprinzipien festhalten, die die Bundesrepublik Deutschland vom ökonomischen Nullpunkt nach dem Zweiten Weltkrieg in die Spitzengruppe der Industrieländer der Welt gebracht haben, können wir auch die Herausforderungen der 90er Jahre bewältigen. Die Koalition von FDP, CSU und CDU hat bereits in den Aufbaujahren der Bundesrepublik Großes geleistet.
Wir haben nach der Regierungsübernahme 1982 wiederum — in einer schwierigen Lage — gezeigt, daß wir die wirtschaftlichen und sozialen Probleme unseres Landes vernünftig lösen können.
Wir sind entschlossen, auch in der kommenden Zeit aus diesen Erfahrungen und aus diesem Geist zu handeln. Das Leitwort der kommenden Monate lautet nationale Solidarität. Solidarität ist in dieser Stunde unsere selbstverständliche menschliche und nationale Pflicht.
Meine Damen und Herren, bevor ich das Wort weitergebe, möchte ich an alle Seiten des Hauses eine dringende Bitte richten. Es ist nicht möglich, in der Turbulenz der Erregung Ruhe mit der Glocke zu schaffen, wenn die Einstellungen im Saal nicht so sind.
Diese Plenarveranstaltung wird nicht nur unseren Bürgern, sondern auch den Bürgerinnen und Bürgern in der DDR übermittelt.
Wenn wir demokratische Hoffnungsträger sein wollen, dann muß auch unser Debattenstil danach ausgerichtet sein.
Ich bitte alle Seiten des Hauses, Demokratie auch hier ein Stück weit vorzuleben. Versuchen wir es — bei aller Erregung.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Vogel.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In voller Übereinstimmung mit der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in der DDR bejahen wir die deutsche Einigung und als ihr Ergebnis die deutsche Einheit.
Wir freuen uns über jeden Fortschritt, der auf dem Wege dorthin erzielt wird.Deshalb haben wir es begrüßt, daß Generalsekretär Gorbatschow Ende Januar im Zusammenhang mit dem Besuch von Ministerpräsident Modrow erklärt hat, das Selbstbestimmungsrecht gelte auch für die Deutschen; es sei ihre Sache, über die Form ihres Zusammenlebens zu entscheiden. D a s war der entscheidende Fortschritt der sowjetischen Politik in der deutschen Frage.
Wenn schon von einem historischen Ereignis gesprochen wird, dann war diese Entscheidung Michail Gorbatschows von Ende Januar eine historische Entscheidung,
eine Entscheidung, die erneut seinen Realitätssinn und sein Verantwortungsbewußtsein unter Beweis gestellt hat, eine Entscheidung, die unseren Dank und den Dank aller Deutschen verdient.
Ich wiederhole in diesem Zusammenhang den Dank an unsere Verbündeten, Partner und Freunde, den ich an dieser Stelle mehrfach ausgesprochen habe. Ich wiederhole den Dank an die Ungarn, die Polen und die Tschechoslowaken. Ich wiederhole den Dank aber auch an die Männer und Frauen, die Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre durch die Ost- und Deutschlandpolitik sowie den Helsinki-Prozeß die Voraussetzungen für diese Entwicklung geschaffen haben.
Die Äußerungen von Generalsekretär Gorbatschow haben übrigens auch dazu geführt, daß sich wenige Tage später auch die Regierung Modrow zur deutschen Einheit, zur Wiederherstellung der Länder in der DDR und zur raschen Verwirklichung einer Wirtschafts-, Währungs- und Verkehrsunion bekannt hat.Aber Gorbatschow hat nicht nur diese Feststellungen zur deutschen Einheit getroffen. Er hat auch betont, die deutsche Einigung müsse sich in die Architektur Europas einfügen, sie müsse die Prinzipien von Helsinki und die bestehenden vertraglichen Verpflichtungen beachten, und sie müsse den Sicher-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990 15111
Dr. Vogelheitsinteressen aller Beteiligten, insbesondere denen der Sowjetunion, Rechnung tragen. Das sagt nicht er allein. Unsere europäischen Nachbarn, Partner und Verbündete sagen es ebenso, und sie sagen es mit Recht, auch auf dem Hintergrund ihrer geschichtlichen Erfahrungen.Wir haben begrüßt, Herr Bundeskanzler, daß Generalsekretär Gorbatschow die Erklärungen vom Januar Ihnen und dem Bundesaußenminister gegenüber wiederholt und konkretisiert hat. Das war ein nützliches Ergebnis dieses Besuches.Es war aber ein Fehler, in der Euphorie des letzten Wochenendes den wesentlichen Bestandteil des Ja zur deutschen Einigung, den ich gerade erwähnt habe, in den Hintergrund treten zu lassen. Herr Gerassimow, der Sprecher des sowjetischen Außenministeriums, hat Ihnen denn auch schon am Tage nach Ihrer Abreise aus Moskau diesen Teil des Ja nachdrücklich in Erinnerung gebracht. Wer die deutsche Einheit will, muß diese Gesichtspunkte ernst nehmen und mit großer Sorgfalt zu Werke gehen. Sinn der gemeinsamen Anstrengungen beider deutscher Staaten muß es dabei sein, Deutschland in eine europäische Friedensordnung einzubetten, in eine Friedensordnung, in der die Bündnisse aufgehen, die militärischen Potentiale auf ein Minimum reduziert und zum Angriff unfähig sind, jeder die Sicherheit des anderen gewährleistet und dann auch die Vorbehaltsrechte der Alliierten der Vergangenheit angehören.
Dieses Endziel ist nur in Schritten zu erreichen. Es setzt als Zwischenstufen eine rasche und umfassende Abrüstung und einen grundlegenden Wandel der Bündnisse voraus, die entsprechend der völlig veränderten Bedrohungslage von militärischen Allianzen zu politischen Instrumenten werden müssen, zu Instrumenten, mit deren Hilfe die Abrüstung und der Helsinki-Prozeß vorangebracht werden.
Wer hier einen deutschen Sonderweg befürwortet, etwa eine Neutralität Deutschlands, der — da stelle ich ein bemerkenswertes Maß an Übereinstimmung fest — blockiert die Einigung Europas und die Einheit Deutschlands. Wir würden das Mißtrauen all unserer Nachbarn wecken, wenn wir uns auf uns allein zurückziehen wollten.
Ebensowenig — das hätten wir gern ein bißchen deutlicher gehört — ist aber die Ausdehnung des einen Bündnisses auf Kosten des anderen möglich. Wir müssen vielmehr — diese Aufgabe ist erst noch zu lösen — Lösungen finden, die die Sicherheitsrelation der Bündnisse unverändert lassen. Es wäre in hohem Grade unvernünftig, auf die fundamentale Verminderung der Bedrohung mit der Verstärkung des militärischen Gewichts unseres Bündnisses zu antworten.
Das wäre destabilisierend.Die jetzt in Aussicht genommenen Verfahrensschritte, nämlich zunächst die Verständigung der beiden deutschen Staaten auf ein konkretes Konzept, sodann die Behandlung dieses Konzepts auf einer gemeinsamen Konferenz der beiden deutschen Staaten und der Vier Mächte und schließlich das Zusammentreten einer zweiten KSZE-Konferenz
entsprechen unseren Vorstellungen. Deshalb begrüßen wir auch die Verständigung, die gestern in Ottawa erzielt worden ist. Sie, Herr Kollege Genscher, haben hier einen erfreulichen Fortschritt erzielt. Hier zahlen sich Behutsamkeit, Geduld und Erfahrung aus.
Wir anerkennen das, Herr Kollege Genscher.Sie, Herr Bundeskanzler, haben es hingegen an der notwendigen Sorgfalt und Behutsamkeit im Umgang mit unseren Partnern und Nachbarn auch in jüngster Zeit immer wieder fehlen lassen.
Nicht umsonst hat kein geringerer als Václav Havel, der neue tschechoslowakische Staatspräsident, nach Ihrer Rückkehr aus Moskau die Mahnung wiederholt — das sollte Ihnen zu denken geben —, die Vereinigung Deutschlands behutsam und vorsichtig vorzubereiten. Herr Bundeskanzler, es war ein Fehler — ich glaube, das wird selbst in Ihren Reihen heute nicht mehr bestritten —, daß Sie sogar unsere Verbündeten mit Ihren Vorschlägen vom 28. November 1989 überrascht haben.
Es bleibt ein Kardinalfehler, daß Sie in der Frage der Endgültigkeit der polnischen Westgrenze immer wieder aufs neue Zweifel und Ungewißheit hervorrufen.
Zum vorläufig letzten Male haben Sie das am Dienstag bei der Pressekonferenz mit Herrn Modrow getan. Als Herr Modrow dort ausführte, er habe Sie so verstanden, daß Sie in Moskau die Oder-Neiße-Grenze akzeptiert und festgestellt hätten, daß keine Gebietsansprüche erhoben würden, antworteten Sie mit dem Hinweis, das sei eine Frage für das spätere gesamtdeutsche Parlament und die spätere gesamtdeutsche Regierung.
— Dieser Beifall der 26, die schon damals nicht mitmachen wollten, ist kennzeichnend. — Nein, Herr Bundeskanzler, die Frage nach der Endgültigkeit der polnischen Westgrenze ist eben keine spätere Frage; es ist eine Frage, die jetzt klipp und klar — klipp und klar! — beantwortet werden muß.
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15112 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990
Dr. VogelEs ist eine Frage, die der Herr Bundespräsident und der Außenminister klar beantwortet haben. Nur Sie weichen immer wieder aus. Das nährt Mißtrauen und stört den Einigungsprozeß in gefährlicher Weise. Ich sage Ihnen: Wenn die Grenzfrage nicht über jeden Zweifel hinweg beantwortet ist, dann wird es die deutsche Einigung auch unter den gegenwärtigen Voraussetzungen nicht geben. Sie sind gefordert.
Der internationale, der europäische Aspekt der deutschen Einigung ist wichtig, noch wichtiger aber ist, daß wir die Einheit auf den Gebieten, die für das tägliche Leben der Menschen von Bedeutung sind, nämlich auf dem Gebiet der Währung, der Wirtschaft, der sozialen Sicherheit, des Verkehrs und der Umwelt, bereits vorbereiten und organisieren, solange die bündnisrelevanten Fragen noch Gegenstand der Verhandlungen sind.Hinsichtlich der von uns schon lange geforderten Währungsunion ist zu Beginn dieser Woche mit der Einsetzung einer Expertenkommission endlich ein Anfang gemacht worden.Zur Entwicklung eines konkreten Konzeptes auf all diesen Gebieten sollten nach den Wahlen vom 18. März 1990 unverzüglich sowohl eine gemeinsame Parlamentskommission des Bundestages und der Volkskammer als auch eine gemeinsame Kommission der beiden Regierungen gebildet werden. Dabei, meine Damen und Herren, müssen die demokratisch legitimierten Organe der DDR Gelegenheit haben, ihre Vorstellungen und ihre Wünsche in vollem Umfang einzubringen,
etwa die Vorstellung über ein Bodenrecht, das besser ist als das unsere,
oder über Sicherungen für berufstätige Frauen, die über die unseren hinausgehen.
Notwendig ist bei alldem insbesondere die soziale Flankierung, d. h. die Absicherung der Rentner und Arbeitslosen, aber auch die Bildung von Betriebsräten, die die Interessen der Arbeitnehmer auf betrieblicher Ebene wirksam zur Geltung bringen können.Es geht eben nicht um den Anschluß eines herrenlosen Territoriums, es geht um die Vereinigung mit Menschen, die sich selbst die Freiheit erkämpft haben und über Erfahrungen verfügen, die sie uns voraus haben.
Das alles muß im partnerschaftlichen Geiste geschehen.
Wir dürfen uns dabei auch nicht gegenseitig überfordern.Manche, gerade auch aus Ihren Reihen, verlangen, dieser Prozeß solle damit beginnen, daß die Länder der DDR sogleich nach ihrer Wiedererrichtung derBundesrepublik beitreten. Wir sagen: Die Wiederrichtung der Länder ist richtig und notwendig, Dezentralisierung ist richtig, auch kommunale Selbstverwaltung sollte drüben wieder geschaffen werden. Die staatliche Vereinigung aber, ob durch Vertrag oder nach Art. 23 des Grundgesetzes, die muß am Ende dieses Prozesses stehen. Der schrittweisen Herstellung der Einheit auf den verschiedenen konkreten Lebensgebieten steht das nicht entgegen, diese kann schon im Verlauf des Prozesses Bereich für Bereich erreicht werden.Der Einigungsprozeß wird für die Bürgerinnen und Bürger in beiden Teilen Deutschlands erhebliche soziale und materielle Veränderungen und für geraume Zeit auch Belastungen mit sich bringen. Die soziale Absicherung der Menschen in der DDR hat deshalb hohe Bedeutung. Das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit muß aber auch auf unserer Seite, den Menschen in der Bundesrepublik gegenüber, voll gewahrt werden.
Es darf nicht sein — ich hoffe, wir stimmen darin überein — , daß die einen an der deutschen Vereinigung verdienen und die anderen dafür mit der Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen aufzukommen haben.
Die Sorge — das wissen Sie doch aus Ihren eigenen Wahlkreisen — ist nicht erfunden, sondern beschäftigt und bewegt unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger zunehmend.
Gerade weil wir die Einheit wollen, wollen wir, daß dieser Sorge überzeugend begegnet wird.
Wir wollen, daß die Belastungen, wenn sie denn notwendig sind, gerecht verteilt werden, daß die mit den stärkeren Schultern mehr zu tragen haben als die mit den schwächeren Schultern.Sie, Herr Bundeskanzler, haben die Umverteilung von unten nach oben in dieser Bundesrepublik schon weit genug getrieben.
Der Anteil der Arbeitnehmereinkommen am Volkseinkommen hat unter Ihrer Verantwortung einen Tiefstand erreicht. Das darf durch den Einigungsprozeß nicht noch zusätzlich verschärft werden.
Soziale Spannungen sind schon jetzt dadurch entstanden, daß Sonderleistungen für Übersiedler, die vor dem 9. November 1989 gerechtfertigt waren, jetzt aber nicht mehr gerechtfertigt sind, weiterhin gewährt werden. Wer von Stendal nach Braunschweig übersiedelt — das sagen uns doch gerade die Repräsentanten der Oppositionsbewegung in der DDR —, muß künftig genauso behandelt werden wie der, der
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Dr. Vogelvon Bremen oder von Trier oder von sonstwoher nach Braunschweig zieht.
Wir haben unsere Anträge eingebracht. Sie müssen jetzt endlich Farbe bekennen und in dieser Frage Entscheidungen treffen.Ich warne überhaupt uns alle davor, die soziale Problematik der deutschen Einigung zu unterschätzen. Es geht nicht nur um Fragen der staatlichen Organisation, um die Wirtschaft und um Bündnisfragen, es geht vor allem auch um die soziale Stabilität. Wer sie aus den Augen verliert, wer sie nicht als ein zentrales Element des Einigungsprozesses anerkennt, der muß sich nicht wundern, wenn von daher die Einigung selbst an Akzeptanz in unserem Volk verlieren könnte. Dies ist ein Argument für die Einigung, nicht, wie Sie es darzustellen versuchen, ein Argument gegen die Einigung.
Wichtig ist, daß sich die Verhältnisse in der DDR nicht verschlechtern, sondern daß sie sich stabilisieren. Es wäre unverantwortlich, auf den Konkurs der DDR zu spekulieren und zu glauben, sie falle uns dann einfach zu. Das wäre die schlechteste Form der Vereinigung, zumal ihr der Exodus von Hunderttausenden, wenn nicht von Millionen DDR-Bürgerinnen und -Bürgern und ihre Übersiedlung in die Bundesrepublik vorausginge, und zwar ganz gleich, welche Leistungen sie dann hier zu erwarten haben.Die Äußerungen des Herrn Teltschik, Ihres engsten außenpolitischen Beraters, über die angebliche Zahlungsunfähigkeit der DDR und die Möglichkeit einer nochmaligen Vorverlegung des Wahltermins — was zum völligen Chaos geführt hätte — haben da schon genug Schaden angerichtet. Graf Lambsdorff hat bekanntlich gefordert, daß Sie dem Herrn einen Maulkorb anlegen oder ihn feuern. Wo der Graf recht hat, hat er recht. Ich empfehle Ihnen, Sie sollten beides tun, erst das eine und dann das andere.
Auch sonst haben Sie den Menschen in der DDR bisher so gut wie keine konkrete, dort erfahrbare Hilfe zukommen lassen. Sie haben geredet, Sie haben Hoffnungen geweckt, Sie haben Bedingungen gestellt, Parteien gegründet, Parteienbündnisse organisiert und über Ihren Platz in den Geschichtsbüchern meditiert; geholfen haben Sie kaum.
Auch vorgestern haben Sie die DDR-Delegation enttäuscht und mit leeren Händen nach Hause geschickt. Das haben Ihnen gerade die Minister bescheinigt, die der Delegation von Herrn Modrow als Vertreter der Opposition angehören.
Was bisher an konkreter, dort erfahrbarer Hilfe geleistet wird, kommt im wesentlichen von den Ländernund Gemeinden, und ihnen gebührt dafür unser Dank.
Sagen Sie nicht, Herr Bundeskanzler, Sie hätten so gehandelt, um die Regierung Modrow oder die alten Kräfte nicht zu stärken. Darum geht es doch gar nicht. Herr Modrow und die Minister der Blockparteien, etwa die Minister der von Ihnen unterstützten Ost-CDU, machen sich doch selbst über die Wahlchancen der ehemaligen Staatsparteien und der Blockparteien nicht die geringsten Illusionen. Außerdem, bei allem, was man Herrn Modrow vorwerfen mag: daß die Situation in der DDR bisher nicht außer Kontrolle geraten ist, das ist nicht zuletzt sein Verdienst, und das Verdienst des Runden Tisches, mit dem er zu einer vernünftigen und konstruktiven Zusammenarbeit gefunden hat.
Es wäre auch deshalb gut gewesen, wenn die DDR-Delegation am Dienstag ein bißchen weniger überheblich behandelt worden wäre.
Zu dieser in der DDR von den Bürgerinnen und Bürgern wohl wahrgenommenen Überheblichkeit rechne ich auch, daß man der Regierung der DDR den Vorschlag einer Währungsunion durch die Medien zur Kenntnis gebracht und nicht auf dem allgemein üblichen Weg übermittelt hat. Das läßt Gedanken entstehen, welchen Zweck diese Ankündigung eigentlich verfolgt hat. Daß Sie auch den Präsidenten der Deutschen Bundesbank nicht vorweg informiert haben, macht die Sache keineswegs besser. Ich kann nur hoffen, Sie bereiten sich jetzt wenigstens darauf vor, nach dem 18. März 1990 massive Hilfe zu leisten.Die demokratisch gewählte Regierung, die aus diesen Wahlen hervorgeht, wird vor einem unglaublich hohen Erwartungshorizont stehen, und wenn wir nicht alles tun, daß sie wenigstens das Mögliche leisten kann, dann ist die Situation nach dem 18. März mindestens so kritisch wie die Situation vor dem 18. März.
Und die Hilfe kann dann nicht von der parteipolitischen Zusammensetzung der neuen Regierung abhängig gemacht werden.
Was bislang im Nachtragshaushalt veranschlagt ist, ist unzureichend, für die soziale Absicherung der Wirtschafts- und Währungsunion allemal. Wenn das ernst war, was Sie über die flankierenden Maßnahmen — Arbeitslosenversicherung, Rentenversicherungshilfe — gesagt haben, dann ist der Nachtrags-
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15114 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990
Dr. Vogelhaushalt, den Herr Waigel vorgelegt hat, schon völlig überholt;
denn die Zahlen dort stimmen mit diesen Zahlen überhaupt nicht überein. Aber auch für das, was auf dem Gebiet des Verkehrs, der Telekommunikation, der öffentlichen Infrastruktur und des Umweltschutzes dringend erforderlich ist, reichen die Anschläge nicht aus.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn wir auch in vielen Fragen unterschiedlicher Meinung sind, in zwei Dingen stimmen wir — und ich habe den Eindruck, inzwischen auch ein Teil der GRÜNEN-Fraktion — jedenfalls überein: im Willen zur Einheit und in der Einsicht, daß es dabei um Grundfragen unserer staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung und unseres Verhältnisses zu unseren Nachbarn, ja daß es um unsere nationale Zukunft geht. Ich glaube nicht, daß wir in den letzten Jahrzehnten viele Fragen von vergleichbarer nationaler Bedeutung und vergleichbarem Gewicht zu behandeln hatten.Mit aller Ruhe muß ich Ihnen sagen: Die Art und Weise, in der Sie diese Fragen im Spiel der politischen Kräfte der Bundesrepublik behandeln, widerspricht dieser Einsicht diametral.
Sie behandeln nämlich die Deutschlandpolitik so, als sei sie Ihre Privatsache oder bestenfalls ein Feld politischer Profilierung.
Wieder mit Ruhe sage ich: In jeder anderen Demokratie würde der Regierungschef in einer vergleichbaren Lage das Gespräch mit allen politischen Kräften suchen und sich um einen nationalen Konsens in solchen Gesprächen bemühen.
Sie halten, wo immer es geht, sogar Ihren Außenminister auf Distanz.
— Na, gucken Sie ihn mal an!
Sie laden zwar parteiübergreifend und mit allen Zeichen der Dringlichkeit zu einer interfraktionellen Besprechung darüber ein, ob die staatlichen Zuwendungen an die Parteien zum Zwecke der Weiterleitung von Mitteln an die DDR-Parteien erhöht werden sollen
— das ist Ihnen sofort einen Termin wert und eineinhalb Stunden Zeit —, hingegen war Ihnen die deutsche Einigung bislang nicht ein einziges ernsthaftesGespräch über die Grenzen von Koalition und Opposition wert.
Das ist unangemessen, das vergiftet das Klima in einer Zeit, in der das Bemühen um Konsens, zumindest aber das Bemühen um regelmäßigen Kontakt und Informationsaustausch selbstverständlich sein sollte.Ich muß an dieser Stelle hinzufügen: Das politische Klima haben Sie aber auch mit dem schlimmen Ausfall in Ihrer heutigen Rede zusätzlich vergiftet.
Das war eine unverantwortliche Diffamierung Tausender von Sozialdemokraten, die im Zuge der Zwangsvereinigung und danach Freiheit, Gesundheit und — nicht wenige — auch das Leben geopfert haben. Ich weise das mit Entschiedenheit zurück.
Der Hinweis auf Teilnahme an einem FDGB-Kongreß ist deswegen abwegig
— an einem FDGB-Kongreß — , weil der Sprecher des DGB bei dieser Gelegenheit das CSU- oder CDU-Mitglied Gustav Fehrenbach war. Herr Bundeskanzler, hören wir mit diesen Peinlichkeiten und Aufrechnungen auf!
Dieser schlimme Ausfall, den Millionen von Menschen auch in der DDR mit angesehen haben, war eines Bundeskanzlers unwürdig.
Ich richte aber auch noch ein mahnendes Wort an den Parteivorsitzenden Kohl: Herr Parteivorsitzender, ich empfehle folgende Überlegung: Wer mit Geld und allen Möglichkeiten die Blockpartei Ost-CDU, die 40 Jahre alles mitgemacht hat, unterstützt, hat nicht das Recht, auf Sozialdemokraten zu zeigen. Ich weise das zurück.
Sie, Herr Bundeskanzler, haben eine Regierungserklärung dazu mißbraucht, diese Polemik zu beginnen. Ich habe Ihnen geantwortet. Ich rege an und bitte — , vielleicht kann das sogar den Ältestenrat beschäftigen — , daß diese gegenseitige Verteufelung in einer Zeit, in der die Menschen das Alte drüben abwählen wollen, zum Ende gebracht wird.
— Ich biete das für uns an.
Herr Dr. Vogel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Gerster ?
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990 15115
Nein.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Phase der Entwicklung, in der wir uns jetzt befinden, birgt Risiken und Chancen in sich. Die Risiken nach außen sehen wir darin, daß in Europa wieder alte Sorgen und Ängste gegenüber uns Deutschen wachwerden könnten, und nach innen besteht das Risiko, daß die soziale Gerechtigkeit Schaden leidet, daß in der DDR eine Zwei-Drittel-Gesellschaft entsteht und daß bei uns der Trend zu einer Zwei-Drittel-Gesellschaft noch verstärkt wird.
Das Risiko besteht auch darin, daß uns die Mängel und Unzulänglichkeiten unserer eigenen Gesellschaftsordnung, die es ja bei allen Vorzügen gegenüber dem zusammengebrochenen Bevormundungs-
und Kommandosystem der DDR auch gibt, aus dem Blick geraten, daß wir in Selbstzufriedenheit, ja, in triumphierende Selbstgerechtigkeit verfallen und die Arbeitslosen und Hilfsbedürftigen und die Umwelt bei uns aus dem Blick verlieren, weil wir nur noch das eine Thema im Auge haben.
Aber diese Risiken lassen sich mit Vernunft, mit dem Willen zur Zusammenarbeit und mit Besonnenheit meistern.
Die Konzepte der beiden sozialdemokratischen Parteien Deutschlands zeigen dafür einen Weg. Es mag auch andere geben. Aber diese übereinstimmenden Konzepte der sozialdemokratischen Parteien gewährleisten unseren Nachbarn, daß sie sich auch vor einem vereinten Deutschland nicht fürchten müssen. Es kann gelingen, daß die deutsche Einigung die europäische Einigung — dabei denke ich auch an die weitere Integration der Europäischen Gemeinschaft, die sich gleichzeitig für die Zusammenarbeit mit den EFTA-Staaten und den osteuropäischen Staaten noch weiter öffnen muß; und ich danke Jacques Delors für die konstruktive Haltung, die er in diesen Fragen einnimmt —
nicht bremst und behindert, sondern ihr ebenso zusätzliche Impulse gibt wie der Realisierung der europäischen Friedensordnung und der Abrüstung. Die gestrige oder vorgestrige Verständigung der USA und der Sowjetunion über die Reduzierung ihrer zentraleuropäischen Streitkräfte auf unter 200 000 Mann ist ein ermutigendes Signal, für das ich beiden Seiten danke; ein Signal, das übrigens auch anzeigt wie dringend die Verringerung der Präsenzstärke der Bundeswehr jetzt geworden ist. Neues Denken endlich auch auf der Hardthöhe, meine Damen und Herren!
Diese Konzepte gewährleisten auch, daß der wirtschaftliche Aufschwung, den ich schon in absehbarer Zeit in der DDR erwarte, allen zugute kommt. Darum lohnt es auch, zu Hause zu bleiben und bei diesem Aufschwung mitzuhelfen. Sie gewährleisten, daß mit dem ökologischen Umbau in der DDR, in der er besonders notwendig ist, aber auch bei uns ernst gemacht wird. Hier liegen die großen Chancen.
So, kann wahr werden, was eine große Mehrheit in der DDR und eine ganz deutliche Mehrheit auch bei uns wünscht, nämlich Deutschland als freies Vaterland, als soziales und demokratisches Vaterland, als europäisches und friedliebendes Vaterland, aber auch als einig Vaterland.
Das Wort hat der Abgeordnete Herr Dr. Dregger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In dieser Debatte geht es um Deutschland.
Nach der Rede des Oppositionsführers scheint mir diese Feststellung notwendig zu sein.
Der Weg ist frei. Das Ziel, um das wir 40 Jahre gerungen haben, liegt vor uns: die Freiheit und die staatliche Einheit Deutschlands. Die friedliche Revolution in der DDR, unsere, der Bundesrepublik Deutschland, verläßliche Politik in der Europäischen Gemeinschaft und in der westlichen Allianz und das wachsende Vertrauen, das uns mit der neuen Führung der Sowjetunion verbindet, sind die Faktoren, die diesen historischen Prozeß getragen haben. Ich bin überzeugt, daß er im Interesse aller Deutschen und aller Europäer liegt.Herr Bundeskanzler, Sie haben die Entwicklung seit dem 9. November 1989 ganz persönlich geprägt. Der Zehn-Punkte-Plan vom 28. November und der Vorschlag einer Währungsunion mit der DDR verbunden mit durchgreifenden Reformen sind die herausragenden Beispiele.
Eine nicht geringere Rolle als entschlossenes Handeln spielt dabei das persönliche Vertrauen, das Sie sich in den Jahren Ihrer Kanzlerschaft in Ost und West erworben haben,
bei unseren Verbündeten, vor allem bei den USA und Frankreich, aber auch beim sowjetischen Generalsekretär Michail Gorbatschow.
Der Generalsekretär und Präsident der Sowjetunion hat in den offiziellen Text über sein Treffen mit dem Bundeskanzler am 10. Februar einen bemerkenswerten Satz einrücken lassen. Ich zitiere ihn:Die Begegnung verlief in einer Atmosphäre des bereits früher erzielten tiefen gegenseitigen Verständnisses und Vertrauens in politischer als auch persönlicher Hinsicht.
Meine Damen und Herren, der „Stern" hat recht, wenn er kommentiert — ich zitiere — :
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15116 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990
Dr. DreggerDas ist viel für Moskauer Verhältnisse, und es ist hilfreich, wenn das Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten nicht von Mißtrauen zwischen den Regierungschefs in Moskau und Bonn begleitet wird.Das sachliche Ergebnis Ihres Gesprächs vom 10. Februar, Herr Bundeskanzler, steht dieser Vertrauenserklärung von Gorbatschow in nichts nach: Gorbatschow stellte — laut TASS — fest — ich zitiere —,... daß die Frage der Einheit der deutschen Nation von den Deutschen selbst entschieden werden soll
und daß sie selbst wählen müssen, in welchen staatlichen Formen, in welchen Fristen, mit welchem Tempo und unter welchen Bedingungen sie diese Einheit realisieren werden.Meine Damen und Herren, diese Sätze von historischem Gewicht bedeuten die volle Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts des deutschen Volkes von seiten der Sowjetunion —
sowohl hinsichtlich seiner Einheit als auch hinsichtlich der inneren Ordnung eines wiedervereinigten Deutschlands. Dahinter kann auch keiner unserer Verbündeten zurückgehen, die sich im Deutschlandvertrag, den Adenauer 1952 abgeschlossen hat, ohnehin verpflichtet haben, die staatliche Einheit Deutschlands mit uns gemeinsam wiederherzustellen.Herr Vogel reagiert in dieser großen Stunde der deutschen Nation mit der Grämlichkeit eines Buchhalters,
der sich auf rein formale Argumente zurückzieht — und noch dazu auf falsche. Für ihn ist das alles nichts Neues; Gorbatschow habe es bereits mit Modrow besprochen. — Falsch, Herr Vogel! Die TASS-Meldung über den Modrow-Besuch vom 31. Januar 1990 enthält keinen einzigen der von mir zitierten Sätze, weder wörtlich noch sinngemäß.
Ich meine, historische Erfolge für die Zukunft Deutschlands durch Unwahrheiten zudecken zu wollen ist eines verantwortlichen Oppositionsführers nicht würdig.
Sie schaden damit der deutschen Sache, Herr Kollege Vogel.
Auch Michail Gorbatschow hat es nicht verdient, sein Zugeständnis an das deutsche Volk in dieser Weise abgewertet zu sehen. Gorbatschow hat klug und mutig gehandelt. Ich jedenfalls stehe nicht an, auch Michail Gorbatschow meinen Dank zu sagen
für diesen Durchbruch in der deutschen Frage.
Gorbatschow hat sich dem Bundeskanzler und Außenminister Genscher gegenüber nicht nur zur deutschen Einheit, sondern auch zu den Ost-West-Beziehungen insgesamt geäußert. Wichtig ist, was er nicht gesagt hat: Er hat nicht die Neutralisierung des wiedervereinigten Deutschlands gefordert, die wir aus wohlerwogenen Gründen ablehnen. Das läßt Raum für vernünftige, für alle Beteiligten akzeptable Lösungen.Meine Damen und Herren, diejenigen, die heute so tun, als sei der Erfolg von Moskau uns auf Grund einer glücklichen Fügung in den Schoß gefallen, strafen sich selbst Lügen. Noch vor wenigen Monaten hielten Sie, meine Damen und Herren von der SPD, die deutsche Einheit einfach für unmöglich.
Sprach nicht selbst Willy Brandt noch 1989, im Jahr der Maueröffnung, von der Wiedervereinigung als der „Lebenslüge der zweiten deutschen Republik"
und Egon Bahr von „geistiger Umweltverschmutzung" durch jene,
die die Wiedervereinigung fordern?
Die Wahrheit ist doch, meine Damen und Herren der SPD: Sie hatten mit Mauer und Stacheldraht längst Ihren Frieden gemacht.
Sie lagen auf Anerkennungskurs und wollten ein Minimum sogenannter Anerkennung der Realitäten durch Anerkennung der Geraer Forderungen von Herrn Honecker.
Was hätte das bedeutet? — Das hätte den Verzicht auf die gemeinsame deutsche Staatsbürgerschaft bedeutet, durch die es unseren Botschaften in Prag, in Budapest und Warschau möglich war, den Flüchtlingen aus der DDR deutsche Pässe auszustellen. Wenn das nicht möglich gewesen wäre, wäre die Mauer nicht geöffnet worden, sie wäre immer noch geschlossen.
Sie haben die Erfassungsstelle in Salzgitter abgelehnt. Die sozialdemokratisch regierten Länder haben keine Beiträge mehr dazu geleistet.
Diese Erfassungsstelle in Salzgitter hat den Stasi-Terror zwar nicht verhindert, aber doch gebremst und ermöglicht es heute, diejenigen nach strafrechtlichen Gesichtspunkten unter Anklage zu stellen, die von seiten des alten Regimes furchtbare Verbrechen ge-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990 15117
Dr. Dreggergenüber unseren Landsleuten in der DDR begangen haben.
Wo wären wir heute, meine Damen und Herren, wenn sich die SPD mit ihren damaligen Forderungen durchgesetzt hätte?
Es hätten die Instrumente gefehlt, mit denen wir, die Deutschen in Ost und West, die Freiheit und Einheit Deutschlands erkämpft haben.
Das Zusammenwachsen der beiden Staaten in Deutschland birgt enorme wirtschaftliche Chancen. Es stellt uns zugleich vor große Herausforderungen; es sind Herausforderungen, die wir meistern können. Was die Menschen in der DDR wollen, ist inzwischen allen klar: Sie wollen das, was wir, die CDU/CSU Deutschlands, immer gewollt haben, den deutschen Bundesstaat, den deutschen Staat für alle Deutschen. Die Menschen in der DDR wollen, wenn möglich schon vorher, die weitgehende Übernahme unseres Wirtschafts-, Währungs- und Sozialsystems. Sie wissen, nur in der Einheit mit uns und auf der Grundlage unserer demokratischen und wirtschaftlichen Ordnung liegt ihre Chance, die Chance, ihre Heimat bald wieder zu einem blühenden Land werden zu lassen.Ich meine, es ist unsere Christenpflicht, unsere Menschenpflicht und unsere patriotische Pflicht, jetzt ein Zeichen dafür zu setzen,
daß wir bereit sind, Verantwortung für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung in der DDR zu übernehmen. Dieses Zeichen ist das Angebot der Bundesregierung an die DDR, sofort Verhandlungen zur Schaffung einer Währungsunion und einer Wirtschaftsgemeinschaft aufzunehmen, wobei das eine das andere bedingt.Unabdingbare Voraussetzung einer Währungsunion auf der Grundlage der Deutschen Mark ist die Einführung der sozialen Marktwirtschaft mit Gewerbefreiheit, Eigentumsgarantie, Freihandel und einer Sozialpolitik, die diesen Namen verdient. Wir, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, unterstützen dieses ungewöhnliche Angebot der Bundesregierung mit Nachdruck.
Die Regierung Modrow sieht sich nicht in der Lage, dieses Angebot noch vor dem 18. März anzunehmen. Dafür fehlen ihr die Zeit und die Legitimität, die nur aus freien Wahlen erwachsen kann. Ich habe darüber mit Herrn Modrow ein ernstes, sachbezogenes und von der menschlichen Atmosphäre her gesehen gutes Gespräch geführt. Ich begrüße es, daß Herr Modrow bereit ist, die Währungs- und Wirtschaftsgemeinschaft durch gemeinsame Expertenrunden mit uns vorzubereiten.Meine Damen und Herren, es gibt Ängste vor dem Wandel, bei uns und in der DDR. Diese Ängste sind verständlich, aber in der Sache unbegründet. Die DDR — der Bundeskanzler sagte es schon — hat etwa die Größe von Nordrhein-Westfalen, die Wirtschaftskraft von Hessen, und sie hat vor allem 16 Millionen Deutsche, Menschen wie wir, die anpacken werden, wenn ihnen endlich eine Chance geboten wird.
Gefahren liegen nicht in der Sache; sie liegen in der Angstmache verantwortlicher Politiker — sagen wir lieber: verantwortlich sein sollender Politiker, die unverantwortlich handeln.
Ein Beispiel dafür ist der Mann, den die SPD zu ihrem Kanzlerkandidaten bestellen will. Meine Damen und Herren, eine SPD, die den Sozialneid schürt, nicht gegen die Starken, sondern gegen die Schwachen, gegen diejenigen, die 40 Jahre unterdrückt und ausgebeutet wurden und jetzt unsere Hilfe suchen — was ist das für eine SPD?
Unseren Landsleuten in der DDR möchte ich sagen: Die Soziale Marktwirtschaft ist keine kapitalistische Veranstaltung. Wo sie eingeführt wird, weht nicht der eisige Hauch kapitalistischer Ausbeutung, sondern die frische Brise, die anzeigt, daß Menschen Eigeninitiative entwickeln und ihr Leben in die eigene Hand nehmen.
Soziale Marktwirtschaft hat unseren Arbeitern nicht nur Spitzenlöhne, vermögenswirksame Leistungen und Eigentum gebracht, sondern auch das Betriebsverfassungsgesetz und die Mitbestimmung. Nicht Gängelung und Fremdbestimmung durch Funktionäre, sondern persönliche Mitverantwortung in den Betrieben, das ist das Markenzeichen eines Modells, das der Europäische Gewerkschaftsbund jetzt auf ganz Europa übertragen sehen möchte. Es ist unser Modell.
Wir wollen auch in der DDR soziale Partnerschaft, Mitbestimmung durch Betriebs- und Personalräte. Darin liegt auch ein wesentlicher Beitrag zur Produktivität und zur Effizienz der Volkswirtschaft. Aber es ist vor allem Ausdruck unseres Respekts vor der Würde des arbeitenden Menschen.
Meine Damen und Herren, es ist selbstverständlich — ich unterstreiche alles, was der Bundeskanzler dazu gesagt — , daß wir bereit sind, die nötigen Wirtschaftsreformen in der DDR sozial zu flankieren. Insbesondere müssen wir bei der Einführung einer Arbeitslosenversicherung Hilfe leisten, die diejenigen stützt, die bei der Umstellung der DDR-Wirtschaft auf den Weltmarkt vorübergehend ihre Beschäftigung verlieren. Den Rentnern in der DDR sind wir Solidarität schuldig, damit sie bei einem Subventionsabbau nicht in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten.
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15118 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990
Dr. DreggerGerade sie, die zur Aufbaugeneration nach dem Krieg gehören, aber keine Chance hatten, die Früchte ihrer Arbeit auch zu ernten, werden wir nicht im Stich lassen, sondern dafür sorgen, daß sie in unser Sozialsystem einbezogen werden.
An die Adresse der Bundesbürger möchte ich sagen — das ist die zweite Angstschiene, die gepflegt wird — : Wir haben seit 1982 durch unsere Reformen und durch die Konsolidierung unserer Haushalte die finanziellen Spielräume geschaffen, die wir jetzt für unseren Beitrag zur Entwicklung der DDR brauchen. Müßten wir vom Stand des Jahres 1982 ausgehen, dann allerdings wäre es sehr viel schwerer, damit zu Rande zu kommen. Unser Bruttosozialprodukt ist im letzten Jahr real um 4 % gestiegen. Das ist eine Rekordposition in Europa. Jetzt hilft uns ein Handelsüberschuß in Höhe von 130 Milliarden DM. Unser Kapitalexport in Höhe von 100 Milliarden DM kann, wenn er nur zu einem kleinen Teil in die DDR gelenkt wird, dort zu einem erheblichen wirtschaftlichen Schub führen. Uns belastet das nicht. Im Gegenteil: Die DDR liegt geographisch näher als Portugal. Die Menschen in der DDR sprechen unsere Sprache. Sie haben unsere Mentalität. Sie sind gut ausgebildet. Müssen wir hier in Westdeutschland nicht dankbar dafür sein, daß es diese Menschen gibt und daß sie bereit sind, sich mit uns zusammenzutun?
Die Deutsche Mark wird selbstverständlich stabil bleiben. Denn das Angebot der Währungsunion steht unter der Voraussetzung, daß die DDR ihre Geldpolitik der Bundesbank unterstellt.Schließlich sollten wir eines nicht vergessen: Die Teilung Deutschlands war nicht nur schmerzlich, sie hat den Steuerzahler über Jahrzehnte auch erhebliche Summen gekostet. Ich nenne als Beispiele die Bundeshilfe für Berlin und die Kosten, die durch die Übersiedlerströme verursacht werden. Meine Damen und Herren, Investitionen in die Einheit unseres Vaterlandes kosten langfristig weniger als Dauersubventionen zur Milderung der Teilung.
Das ist der wirtschaftliche Aspekt.
Wichtiger ist der moralische Aspekt. Wer nicht bereit ist, seinem Nachbarn zu helfen, ja, in diesem Falle seinem Bruder zu helfen, der wird keine Zukunft haben. Deshalb sage ich: Bringen wir doch über alle Berechnungen und Abwägungen der Vor- und Nachteile hinaus etwas ein, ohne das nichts Großes entsteht! Was uns beflügeln muß, ist die Liebe zu Deutschland und zum deutschen Volk.
Das Wort hat der Abgeordnete Herr Hoss.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! In den letzten Wochen und Tagen nimmt die deutsche Frage beunruhigende, beängstigende Züge an. Die Bevölkerung der DDR hat in einer gewaltfreien, demokratischen Revolution das Machtmonopol der SED und des Stasi gebrochen. Sie hat Freizügigkeit hergestellt und die Durchführung freier Wahlen erreicht.Jetzt verstärkt sich der Wunsch und Wille der Menschen in der DDR für das Zusammengehen beider deutscher Staaten. Dieses Drängen auf Einheit, dessen Antriebskräfte ganz stark in sozialen und ökonomischen Fragen zu suchen sind, führt bei vielen Politikern besonders in diesem Hause zu irrationalem Verhalten.Wir GRÜNEN warnen davor. Wieder einmal wie schon so oft in der deutschen Geschichte verstellt die nationale Frage den Blick auf eine Politik mit Augenmaß und überlegtem Handeln.
Wenn es einen Punkt gibt, der Behutsamkeit verlangt, dann in allen Fragen deutscher Politik mit allem, was mit Nationalem zu tun hat.Ich sage das nicht nur mit Rücksicht auf unsere Nachbarn in Europa, die in diesem Jahrhundert deutscher nationaler Überhebung soviel Leid ertragen mußten, sondern auch im Interesse aller Deutschen sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR. Das ist auch der Grund dafür, warum wir GRÜNEN uns angesichts des historischen Prozesses in Richtung Einheit schwertun. Wir haben doch noch die schon geflügelten Worte vieler unserer Nachbarn — Franzosen, Italiener, aber genauso Polen — im Ohr: Wir mögen euch Deutsche; und deshalb sind uns zwei Deutschland lieber als eines.
Darin liegt für uns alle — wenn Sie das nicht begreifen — eine ungeheure Verpflichtung. Wenn der Gang der Ereignisse nun schon zu einem einheitlichen Deutschland führt, dann müssen aber alle politischen Schritte mit Sorgfalt und Rücksicht gegangen werden und nicht in der Art und Weise oggersheimerscher Machtpolitik.
Wir GRÜNEN stellen uns trotz aller Skepsis diesen nationalen Tatsachen. Wir werden die Machtpolitiker unter Ihnen angreifen. Wir werden eigene Vorschläge machen und auch Verantwortung in der nationalen Frage übernehmen, die wir in erster Linie als internationale Dimension begreifen.Ich möchte zwei Beispiele für das irrationale, Ängste auslösende Verhalten unserer Politiker zeigen, belegen, wo bei Ihnen die nationale Sicherung durchbrennt.
Ein Ökonom, ein Banker, hat gestern in einem Interview auf die Frage „Was halten Sie von der sofortigen Realisierung der Währungsunion?" geantwortet: „Um mit einem Bild zu antworten: Das ist die Eigernordwand im Winter." Viele Bürger, Fachleute wie einfa-
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Hossche Menschen, Laien, stellen die Überlegung an, ob es zur Nordwand die Alternative eines anderen Weges, sicher, ohne gefährliches Risiko und vor allem ohne unnötige Opfer, zum Gipfel gibt.So, wie Sie, Herr Bundeskanzler, vorgestern die Minister des Runden Tisches, die demokratische Opposition, aber auch Herrn Modrow ultimativ behandelt und von ihnen verlangt haben, freßt die Währungsunion, gebt eure eigenen Interessen auf, oder wir warten noch zu, bis die Destabilisierung der DDR weiter fortgeschritten ist, oder wir werden in der Zeit nach dem 18. März 1990 von den Politikern der von uns gegründeten Parteien in der DDR, die die Wahl gewonnen haben, die Währungsunion bekommen: nichts von Partnerschaft und Beachtung berechtigter Interessen der Bürger der DDR. Arbeitnehmer, Rentner, Bauern müssen die sozialen Belastungen Ihrer überstürzten, sofortigen Einführung der D-Mark — sei es zu einem Kurs von 1: 1 oder auch 1 : 3 — tragen.Natürlich hätte die sofortige, von Herrn Kohl heute auch vorgestellte Währungsunion unübersehbare Vorteile für die Kapitalseite. Schnell und ungehindert kann sie in alle Bereiche des DDR-Lebens eindringen, investieren, gewinnbringende Anlagen suchen und Spekulationsobjekten nachjagen. Aber die Bürger der DDR müssen die sozialen Lasten wegen des schnellen Preisanstiegs bisher subventionierter Waren des täglichen Lebens, wegen überhastet eingeführter marktwirtschaftlicher Konkurrenz und zurückbleibenden Löhnen und Renten tragen.Für die Soziallasten werden auch wir, die Bürger der Bundesrepublik, trotz der Töne, die Herr Dregger vorhin von sich gegeben hat, zur Kasse gebeten; nicht zuletzt wegen inflationärer Entwicklungen.Zu reden ist auch über die Absicht des Bundeskanzlers, mit der Währungsunion schnell Fakten zu schaffen und z. B. den Versuch des Runden Tisches und Herrn Modrows zu durchkreuzen, das Bodenrecht, Miet- und Eigentumsrecht so zu ordnen, daß z. B. der Graf von Schwerin oder andere Großgrundbesitzer, aber auch Wohnungsspekulanten nicht Bauern enteignen, Mieter unter Druck setzen können.
Deswegen treten wir auch für eine zumindest zeitweilige Konföderation ein.Der Herr Bundeskanzler erweist sich mit seiner Strategie der hastigen Einführung der Währungsunion, die einer Übernahme der DDR gleichkommt, als Sachwalter von Kapitalinteressen. Und die kleinen Leute gucken in die Röhre.
Die SPD — das muß leider gesagt werden — steht dem nicht nach. Sie hat in ihrem Drang nach nationalen Tönen diese Idee der Währungsunion als erste aufgetischt.
Letztlich reduzieren sich diese wichtigen Fragen deutscher Politik — das muß man eindeutig feststellen — auf brutale, machthungrige Parteiauseinandersetzungen zwischen CDU/CSU und SPD.
Sie interessieren sich als Nahziel nur dafür, wer von ihnen am 18. März 1990 in der DDR oder Anfang Dezember dieses Jahres bei der Bundestagswahl die Nase vorn hat.Das zweite Beispiel: Wir vermissen Augenmaß bei der Frage des Tempos des Zusammengehens der beiden deutschen Staaten und der Gestaltung ihres Verhältnisses zur europäischen Sicherheit, des Ausbaus des gemeinsamen europäischen Hauses. Mich verwundert schon, daß Willy Brandt in der DDR erklärt hat, „Mir geht das alles zu langsam" ,
und am 2. Februar 1990 in der „Zeit" gesagt hat — Zitat — : „Der deutsche Zug darf nicht willkürlich aufgehalten werden von jenen, die sich hinter Europa verstecken, um Deutschland zu verhindern. "Aber bei den Worten eines der deutschland- und sicherheitspolitischen Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, nämlich Ortwin Lowack, bleibt mir die Spucke weg. Er antwortete der „Bild"-Zeitung auf eine Frage — Zitat — : „Ein KSZE-Gipfel" — Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa — „mit 35 Teilnehmerstaaten kann den Prozeß des Zusammenwachsens der beiden Teile Deutschlands nicht fördern, sondern nur verlangsamen, behindern und stören. Wir werden" — so Lowack weiter — „dafür kämpfen, daß der KSZE-Gipfel in diesem Jahr nicht zustande kommt."
Das ist die Politik, die dahintersteht. So etwas ist gemeingefährlich. Hier wird der deutsche Nationalstaat, die Herstellung der deutschen Einheit schon im Ansatz in einen Gegensatz zu den Interessen der deutschen Nachbarn gebracht.
Lowack knüpft an die Positionen deutscher Politik aus den Jahren vor dem Ersten und Zweiten Weltkrieg an.
Es ist äußerst interessant., festzuhalten, daß sogar Außenminister Genscher heute morgen in einem Interview im „Deutschlandfunk" auf die Frage, ob es berechtigte Interessen der polnischen Regierung gebe, an den Verhandlungen, die in der Form „2 + 4 " stattfinden, teilzunehmen, ablehnend geantwortet hat, indem er sagte, das sei eine Konferenz, und das andere liefe auf einer anderen Ebene ab.Das heißt, daß die berechtigten Interessen der polnischen Regierung, des polnischen Volkes, von Anfang an in der deutschen Frage mit dabeisein zu können, bei der Gestaltung ein Wort mit einlegen zu können, blockiert werden. Das verweist genau auf die Richtigkeit unserer Einschätzung, daß hier nationalirrational gedacht wird, daß man da sehr vorsichtig sein muß und daß es gut sein wird, wenn die GRÜNEN
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Hossauf der Hut sind und an der richtigen Stelle ihre Positionen einbringen und darauf verweisen.
In diesem Zusammenhang sehe ich auch Ihre Terminplanung. Sie wollen die Einheit — das betrifft die SPD in ähnlicher Weise — in diesem Jahr vollenden. Sie wollen kurzen Prozeß machen. Sie wollen der DDR die Rechtsordnung und die Verfassung der Bundesrepublik einfach überstülpen.Bis heute vermisse ich auch vom Herrn Bundeskanzler ein eindeutiges klärendes Wort zur Endgültigkeit der Oder-Neiße-Grenze. In Europafragen knüpfen Sie eher an die Tradition deutscher Großmannssucht an als an die demokratisch-liberale Tradition, der wir GRÜNEN uns verpflichtet fühlen.
Da lobe ich mir die Haltung des Schriftstellers Vaclav Havel, der als Präsident für die Tschechen und Slowaken erklärt — Zitat — : „Wir suchen nach einer Formel koordinierter Rückkehr unserer Länder nach Europa, und gleichzeitig wollen wir auch einen Weg finden, der Europa dazu in den Stand versetzt, diesen Körper aufzunehmen, der da so reuevoll heimkehrt."Die Deutschen sollten von vornherein ihre Bereitschaft zum Souveränitätsverzicht zugunsten eines konföderierten Europas erklären. Das ist im Gegensatz zu Herrn Lowacks Träumerei und der deutschnationalen Träumerei von manchen in diesem Hause die Perspektive, die den Frieden in Europa sichert, statt die alten, um Einfluß und Vorherrschaft ringenden Nationalstaaten wieder entstehen zu lassen.
Aus der faktischen Auflösung des Warschauer Pakts sind auf westlicher Seite nur sehr zögernd oder gar keine Konsequenzen gezogen worden. Die westlichen Militärs klammern sich an ihre überholten Offensivkonzepte und ihr militaristisches Denken. Sie können sich eine Welt ohne Militärs einfach nicht vorstellen. Die chemischen Waffen, alle Atomwaffen können sofort aus der Bundesrepublik verschwinden. Sofort kann auf jegliche Modernisierung der Kurzstreckenraketen verzichtet werden. Der Wehrdienst kann — wie in der DDR — sofort auf zwölf Monate heruntergesetzt werden.Es gibt überhaupt keinen Grund, auf die Ergebnisse von Wien zu warten. Die Tiefflüge müssen sofort aufhören, und wir erwarten Konzepte zur zivilen Umnutzung der hoffentlich bald geräumten Truppenübungsplätze. Jeglicher Ausbau dieser Truppenübungsplätze wie die Rodung des Viernheimer-Lampertheimer Waldes an der Bergstraße muß gestoppt werden.
Wir verlangen all das gemeinsam mit der Friedensbewegung schon seit zehn Jahren. Jetzt ist die Verschwendung von Ressourcen nur noch verrückt, durch nichts mehr zu rechtfertigen.
Wir brauchen jede Mark für den Reformprozeß in der DDR und in Osteuropa. Die Rechnung, die sich die Vermögenden aufmachen, an dem Reformprozeß in der DDR und in Osteuropa ihren Reibach zu machen
und die Arbeitnehmer und die einfachen Leute die Rechnung bezahlen zu lassen, darf und wird nicht aufgehen. Daran werden wir arbeiten.
Natürlich sind die ökonomischen, ökologischen, sozialen Probleme zwischen der Bundesrepublik und der DDR von besonderer Bedeutung. —
Daß Sie sich da besonders aufregen, wundert mich überhaupt nicht. — Gegenwärtig verlassen täglich über 2 000 Menschen die DDR, weil sie keine Perspektive bezüglich der Verbesserung der Lebensverhältnisse sehen. Diese Abwanderung kann die Gesellschaft der DDR nicht verkraften.
Wir wollen im Interesse der Bevölkerung der DDR und der Bundesrepublik diesen Prozeß stoppen. Dies ist nur auf der Grundlage der ökonomischen und politischen Stabilisierung der Verhältnisse mit den Kräften möglich, die bis zum 18. März dort regieren, und mit denen, die nach dem 18. März politische Verantwortung tragen.Wer wie Sie, Herr Bundeskanzler — Sie sind leider nicht da
— doch; dann sage ich Ihnen das jetzt — : Wer wie Sie, Herr Bundeskanzler, sofortige Hilfsmaßnahmen verweigert,
destabilisiert die Lebensverhältnisse der Bürgerinnen und Bürger in der DDR.
Wir GRÜNEN unterstützen mit Nachdruck die Forderungen des Runden Tisches in der DDR
nach einer Soforthilfe. Wir haben hier heute eine entsprechende Entschließung eingebracht, die dem Hohen Hause zur Abstimmung vorliegt.
Dieses Sofortprogramm sieht einerseits ein Programm zur wirtschafts- und währungspolitischen Zusammenarbeit in einer Weise, daß die Verhältnisse in der DDR nicht destabilisiert werden, eine ökologische Zusammenarbeit und auch eine soziale Zusammenarbeit vor.
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HossLassen Sie mich zum Schluß noch folgendes sagen. Vor drei Monaten haben die Menschen in der DDR mit ihrer erfolgreichen Revolution eine neue Ausgangslage für beide deutsche Staaten geschaffen. Eine Gründungssituation, die politische und verfassungsrechtliche Konstitution einer deutschen Republik steht auf der Tagesordnung, nicht nur das Sich-Aufblasen der Bundesrepublik bis an die Oder. Alles Gute hier in der Bundesrepublik steht ebenso zur Disposition wie die Erfahrungen, die in der DDR gemacht worden sind.
Selbstvergewisserung ist angesagt und nicht Kohlsche Imperial- und Nationalstaatsgelüste.
Was passiert eigentlich im Augenblick? Werden wir uns darüber doch einmal klar. Zwei völlig verschiedene Risikogesellschaften rasen aufeinander zu, ohne sich über die Konsequenzen für alle Ebenen des in Zukunft gemeinsamen Lebens überhaupt Gedanken zu machen.
Selbst das Übernehmen all dessen in der DDR, was wir in der Bundesrepublik für verteidigungswert halten, würde nicht dazu führen, daß es in der DDR so werden wird wie bei uns, und das gleiche gilt umgekehrt. Armut in der Dritten Welt, ökologische Zerstörungen weltweit, Arbeitslosigkeit und neue Armut hier und dort brauchen neue, gemeinsame Antworten.Wenn schon den Vereinigungsprozeß, dann wollen wir ihn als Verfassungsprozeß. Eine verfassungsgebende Versammlung aus beiden deutschen Staaten ist notwendig. Verfassungsprozeß bedeutet für mich Nachdenken über 40 Jahre deutsche Geschichte in der Bundesrepublik und in der DDR: Faschismus, Stalinismus, Antisemitismus, wie bestimmen diese Erfahrungen den politischen Prozeß? Wie können diese Erfahrungen in die neue Verfassung Eingang finden? Wie können die ökologischen Notwendigkeiten mit verfassungsrechtlichen Mitteln gefördert werden? Und schließlich: Wie kann der aktuelle demokratische Impuls aus der DDR in die neue Verfassung eingebracht werden? Dieser Verfassungsprozeß schafft Zeit. Das ist das Allerwichtigste für den demokratischen Prozeß.
Für mich gilt: Das Zusammengehen der beiden deutschen Staaten soll und darf nicht ein Zusammenwuchern werden.
Ich erteile das Wort dem Herrn Bundesminister des Auswärtigen, Herrn Genscher.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bevor ich meinen Bericht über die Konferenz oder die Konferenzen in Ottawa beginne, erlauben Sie mir ein Wort zu dem Vorgang der Vereinigung zwischen den beiden deutschen Staaten, der im Gange ist. Er wird sich vollziehen auf der Grundlage der völligen Gleichberechtigung.
Er wird sich vollziehen müssen in einer nationalen Solidarität.Unser Angebot lautet: Freiheit, Demokratie, Einheit und soziale Gerechtigkeit.
Wenn ich mich nicht täusche, ist das genau das, was die Menschen in den Straßen der DDR in den letzten Monaten gefordert haben.
Unser Angebot kann nur dann die Erwartungen der Menschen erfüllen, wenn es in der Praxis heißt: Wirtschaftsgemeinschaft, Währungsunion, gemeinsamer Sozialraum und gemeinsamer ökologischer Raum. Für mich gehört es bei allen Schwächen, die unsere Gesellschaft hat, zu den großen Taten der Mütter und Väter unseres Grundgesetzes, daß sie unserer freiheitlichen Rechtsordnung das Attribut, das Postulat hinzugefügt haben, daß wir ein Staat sozialer Gerechtigkeit zu sein haben.
Auf diese soziale Gerechtigkeit warten die Menschen in der DDR genauso, wie sie auf Freiheit und Demokratie haben warten müssen.
Deshalb möchte ich all denen, die heute in der DDR die Frage stellen: Was bedeutet das für mich?, sagen: Durch die Vereinigung sollen aus unserer Sicht gleiche Lebenschancen für die jungen Menschen in der DDR entstehen. Das werden wir nur durch eine freiheitliche Gesellschaft schaffen können.
Es sollen gleiche Lebenschancen für die Menschen sein, die arbeiten. Das bedeutet, daß sie für gute Arbeit auch gutes Geld bekommen.
Dafür muß man eine Währungsunion schaffen.Wir sind der Überzeugung, daß gutes Geld für gute Arbeit nur in der Sozialen Marktwirtschaft erreicht werden kann. Es geht eben nicht darum, den Ausverkauf der DDR zu verhinden, sondern es geht darum, den Ausverkauf der DDR durch eine falsche Wirtschaftspolitik zu beenden. Das ist die Verantwortung, vor der wir stehen.
Wenn wir nach dem 18. März einer aus freien Wahlen hervorgegangenen Regierung gegenübertreten, dann werden sich bei uns die Worte von der natio-
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Bundesminister Genschernalen Einheit durch die Taten der nationalen Solidarität bewähren müssen.
Die Menschen aus der DDR und ihre Regierung werden uns nicht mit leeren Händen gegenübertreten. Sie werden darauf verweisen können, daß die Deutschen in der DDR den schwereren Teil unserer Geschichte zu tragen hatten,
und sie werden darauf verweisen können, daß die Deutschen in der DDR mit selbst und friedlich erkämpfter Freiheit und Demokratie in diese Verhandlungen hineingehen.
Niemand in der DDR muß besorgt sein, daß ihn diese Entwicklung benachteiligen wird. Wir wissen sehr wohl, wie den Menschen in der DDR zumute ist, die ein erfülltes Arbeitsleben hinter sich haben und heute Sorge um einen gesicherten Lebensabend haben. Deshalb ist soziale Gerechtigkeit auch im deutsch-deutschen Verhältnis so dringend geboten. Das muß sich schnell verwirklichen können,
so wie schon heute vieles schnell geschieht.
Es gehört zu den wichtigsten Entscheidungen im Rahmen des Nachtragshaushalts, daß wir nicht nur im Bereich des Umweltschutzes helfen wollen, sondern vor allem auch im Bereich der medizinischen Versorgung. Mich treibt es um, daß in der DDR Menschen, die krank sind, nicht geholfen werden kann, weil sie eben in Magdeburg und nicht in Kassel oder in Hannover leben. Hier müssen wir eine Gleichheit der Lebensverhältnisse auch in der medizinischen Versorgung schaffen. Das muß ganz oben an stehen.
— Herr Kollege, wir werden beginnen, und wir werden im Verlaufe der Verhandlungen sehen, was notwendig ist.
— Wenn ich die Zwischenrufe höre, verehrte Kollegen, möchte ich Ihnen in aller Ruhe auch noch eines sagen. Als die Menschen in der DDR die friedliche Revolution der Freiheit begonnen haben und durchgesetzt haben, haben sich Menschen ganz unterschiedlicher politischer Auffassungen in einem Ziel zusammengefunden, nämlich Freiheit in der DDR durchzusetzen.
Ich denke, daß wir heute, wenn wir hier den Weg zur Einheit beraten, auch einer solchen Verantwortung gerecht werden sollten.
— Meine Damen und Herren, ist es nicht möglich, einen Gedanken, der sich mit sehr tiefen Gefühlen der Deutschen in West und Ost beschäftigt, in Ruhe auszuführen? Die politische Kultur in der DDR darf durchaus auch bei uns ihren Einzug halten.
Meine Damen und Herren, bei aller Freude und Befriedigung über die gelungene Freiheitsrevolution in der DDR — das sage ich in bezug auf die bevorstehenden Wahlkämpfe — wollen wir nicht vergessen, daß auf dem Weg dorthin Menschen aus allen politischen Lagern ihre Freiheit und oft auch ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben. Ich kann diesen Freiheitsprozeß nicht würdigen, wenn ich mich nicht auch in Respekt vor denen verneige — vor den Liberalen, den Christdemokraten, den Sozialdemokraten, den Vertretern anderer politischer Gruppen — , die für ihr Eintreten für die Freiheit in der DDR in den abgelaufenen Jahrzehnten Freiheit und oft auch Leben aufs Spiel setzen mußten.
Das schafft eine gemeinsame Verantwortung zum Handeln.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich nun zu meinem Bericht über die Konferenzen in Ottawa kommen. Symbolisch sind diese Vereinbarungen in ihrem Zusammenhang, und symbolisch ist auch der Ort. Der Ort bringt zum Ausdruck, daß das Schicksal Europas untrennbar mit den Demokratien Nordamerikas verbunden ist. Symbolisch ist, daß zu den wichtigsten Ergebnissen die Einigung über die Abhaltung einer KSZE-Gipfelkonferenz noch im Jahre 1990 gehört. Die Zeit drängt, damit wir gesamteuropäische Strukturen der Zusammenarbeit auch bei der Sicherung unserer Existenz, nämlich bei der Sicherung des Friedens, schaffen können.
Zweitens. Ein bedeutsamer Schritt für die konventionelle Abrüstung wurde erreicht. Der Vorschlag des amerikanischen Präsidenten, die Zahl der außerhalb der UdSSR und der USA in Europa stationierten Streitkräfte auf 195 000 zu beschränken, soweit es um die zentrale Zone geht, wurde akzeptiert. Daraus wird sich die Notwendigkeit ergeben, daß in der zweiten Verhandlungsrunde in Wien auch die Streitkräfte der Stationierungsländer — also auch die Streitkräfte der Bundesrepublik Deutschland — in die Abrüstung signifikant mit einbezogen werden.
Drittens. Es kam zu einer Verständigung darüber, daß die Verhandlungen über die konventionelle Stabilität unmittelbar nach Beendigung der ersten Runde
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Bundesminister Genscherin Wien fortgesetzt werden. Es darf im Abrüstungsprozeß keine Pause geben.
Im Gegenteil, er muß erweitert werden. Das heißt, mit Beginn der zweiten Runde der konventionellen Abrüstungsverhandlungen müssen auch die Verhandlungen über die nuklearen Kurzstreckenraketen aufgenommen werden.
In diese Verhandlungen gehört auch die nukleare Artillerie hinein.Meine Damen und Herren, die Verständigung über die Gespräche der beiden deutschen Staaten mit den Vier Mächten über die äußeren Aspekte der Herstellung der deutschen Einheit macht den Weg frei für Gespräche und Verhandlungen über dieses für die Herstellung der deutschen Einheit so wichtige Thema. Herstellung der deutschen Einheit ist anerkannt als das gemeinsame Ziel der Vier Mächte und der beiden deutschen Staaten, und an diesem Ziel haben sich die Verhandlungen nunmehr zu orientieren.Wichtig ist auch, daß damit zum Ausdruck kommt, daß alle Aspekte der deutschen Einheit, die nicht äußere sind, allein Angelegenheit der beiden deutschen Staaten sind.
Das heißt, wir können nunmehr darangehen, das gemeinsame deutsche Haus als Teil des gemeinsamen europäischen Hauses zu errichten.
— Frau Kollegin: als Teil des gemeinsamen europäischen Hauses zu errichten.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte schön, Frau Kollegin.
Herr Minister, Sie haben gesagt, daß akzeptiert worden sei, daß das Ziel dieser Konferenz der beiden deutschen Staaten und der Vier Mächte die Herstellung der deutschen Einheit sei. Würden Sie zustimmen, daß diese Konferenz dann auch die Funktion hätte, einen Friedensvertrag zu erarbeiten oder zu ersetzen, und daß dann auch die Fragen mit behandelt werden müßten, die im Zusammenhang mit einem Friedensvertrag zu behandeln wären, also die Grenzfrage, die Entschädigung der NS-Opfer und auch ausstehende Reparationen?
Frau Kollegin, diese Konferenz wird die äußeren Aspekte der Herstellung der deutschen Einheit behandeln.Dazu gehört mit großer Selbstverständlichkeit, daß wir Deutschen die Frage beantworten, was vereint werden soll. Vereint werden sollen die beiden deutschen Staaten und das ganze Berlin. Darüber gibt es keinen Zweifel, und das wird selbstverständlich Gegenstand dieser Feststellung sein.Deshalb war es, Herr Kollege, nicht berechtigt, daß Sie Kritik daran geübt haben, daß Polen nicht an diesen Verhandlungen teilnimmt. Dieser Kreis ergibt sich aus den beiden betroffenen deutschen Staaten und den vier Staaten, die Verantwortung für Deutschland als Ganzes tragen. Ich sage „Verantwortung für Deutschland als Ganzes", um damit zum Ausdruck zu bringen: Es gibt nicht nur Rechte, sondern auch Verantwortlichkeiten, und Verantwortung heißt nicht Verantwortung für Deutschland in verschiedenen Teilen, sondern für Deutschland als Ganzes. Auch das muß hier in Erinnerung gerufen werden.
Das wird der Gegenstand dieser Beratungen sein, Frau Kollegin,
und wir werden dabei auch die Sicherheitsinteressen anderer Staaten mit berücksichtigen.Es ist auch notwendig, daß wir das Verhältnis der DDR oder der Deutschen in der DDR zu der Europäischen Gemeinschaft klären. Ich möchte hier noch einmal dem Präsidenten der Kommission der Europäischen Gemeinschaft dafür danken,
daß er frühzeitig die Möglichkeiten aufgezeigt hat, die sich dafür ergeben, nämlich als erste Option ein Kooperations- und Assoziierungsabkommen — darüber wird jetzt verhandelt —, als zweite Option der Beitritt der DDR als 13. Mitgliedsland und als dritte Option der Beitritt der DDR durch Vereinigung mit der Bundesrepublik Deutschland. Mit scheint, daß die erste und die dritte Stufe das richtige Schrittempo angeben und auch der richtige Weg zum Eintritt der DDR in die Europäische Gemeinschaft sind.Meine Damen und Herren, in diesen Wochen erfüllt sich ein Gesamtkonzept deutscher Außenpolitik, das niemals außer acht gelassen hat, daß wir Deutschen in das Schicksal Europas eingebettet sind. Wir haben unsere Sicherheit im westlichen Bündnis gesucht. Ich denke, daß wir die Zeiten expansiver sowjetischer Außenpolitik nicht hätten bestehen können, wenn wir nicht Teil des westlichen Bündnisses gewesen wären.
Zu dem Konzept gehört auch, daß wir Teil der Europäischen Gemeinschaft sind, in der sich die Staaten Europas, die dazu schon die innere und äußere Freiheit hatten, zusammengeschlossen haben zu einem Modell friedlichen Zusammenlebens, nach dem sich die Völker Europas immer wieder gesehnt haben. Zu diesem Konzept gehörten die Ostverträge, die zu ei-
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Bundesminister Genscherner Normalisierung der Beziehungen zu unseren östlichen Nachbarn beitrugen.
Zu diesem Konzept gehört die Schlußakte von Helsinki, die den Rahmen für den Bau des gemeinsamen europäischen Hauses und für die Schaffung einer Stabilitätsordnung in ganz Europa schafft.
Es wird jetzt alles darauf ankommen, daß wir die Möglichkeiten des KSZE-Prozesses nutzen. Deshalb ist die gesamteuropäische Gipfelkonferenz noch in diesem Jahr von einer so entscheidenden Bedeutung.
Deshalb müssen wir Deutschen Beiträge dazu leisten, daß diese gesamteuropäische Gipfelkonferenz ein Erfolg für das Europa von morgen wird. Das kann sie nur werden, wenn vorher geklärt wird, wie die deutsche Zukunft aussieht. Deshalb muß es das Ziel sein, daß die Verhandlungen der beiden deutschen Staaten miteinander und ihre Gespräche mit den Vier Mächten so weit gediehen sind, daß wir mit einem Gesamtkonzept zu dieser europäischen Gipfelkonferenz gehen können. Damit zeigen wir auch, daß wir nichts an unseren europäischen Partnern und Nachbarn vorbei machen wollen, sondern daß wir die deutsche Einheit als Stabilitätsbeitrag für das ganze Europa verstehen.
Den Vier Mächten möchte ich hier das versichern, was der Bundeskanzler und ich in Moskau der Sowjetunion gesagt haben: In den Verhandlungen der beiden deutschen Staaten miteinander wird nichts hinter dem Rücken der Vier Mächte geschehen. — Wir haben nämlich auch gar nichts zu verbergen, weil wir ja ein einiges Deutschland in Freiheit wollen, das ein Faktor des Friedens und der Stabilität in Europa sein soll.
Meine Damen und Herren, ich halte es für einen großen Gewinn für die Stabilität in Europa, daß so nachdrücklich und so schnell und politisch so breit abgesichert der Gedanke der Neutralisierung Deutschlands abgelehnt worden ist. Das Konzept kann nicht heißen „Neutralisierung", sondern das Konzept muß heißen „Abrüstung in Europa", um damit die militärischen Hindernisse für den Annäherungsprozeß schrittweise, aber mit großen Schritten abzubauen. Wenn die Mauer aus Steinen fällt, müssen auch die Mauern aus Raketen und Panzern abgebaut werden. Das ist die Notwendigkeit.
Wir stellen fest, daß die Ablehnung des Konzepts der Neutralisierung nicht nur bei den westlichen Staaten, sondern auch bei Staaten des Warschauer Pakts an Boden gewinnt, daß man es dort — wie bei uns, wie im Westen — nicht als vorteilhaft ansieht, wenn Deutschland durch seinen Status in eine Isolation gerät, in die es gar nicht hinein will. Wir wollen uns ja in das Schicksal Europas einbinden. Ich denke, daß man deshalb bei den Beratungen, die in Moskau über die künftige Struktur Europas geführt werden, auch das mit in Betracht ziehen wird.Ich sage das auch deshalb, weil die Beratungen in Moskau gezeigt haben, wie ernst man auch dort die Argumente nimmt, die die Bundesregierung vorzutragen hat. Das hat den Geist der Gespräche bestimmt, das entspricht auch dem Geist der deutsch-sowjetischen Erklärung.Meine Damen und Herren, wir können einen Beitrag leisten, um die Sowjetunion in dieser Richtung zu überzeugen, indem wir dazu beitragen, daß die Bündnisse mehr und mehr politische Aufgaben übernehmen: bei der Vertrauensbildung, beim Dialog und bei der Zusammenarbeit, indem wir dafür sorgen, daß die Bündnisse zu Elementen kooperativer Sicherheitsstrukturen werden, die diese Bündnisse immer mehr überwölben und in denen diese Bündnisse dann auch aufgehen können.
Eine solche, im Rahmen der KSZE angelegte Politik wird viele Fragen lösbar machen, die heute noch nicht lösbar erscheinen.Ich möchte, daß man in der Sowjetunion erkennt, daß wir bei den Schritten, die wir jetzt tun, die politischen Interessen und die Sicherheitsinteressen der Sowjetunion nicht und niemals außer acht werden lassen. Das deutsch-sowjetische Verhältnis hat eine zentrale Bedeutung für das Schicksal ganz Europas. Meine Damen und Herren, wir haben auch in der deutsch-sowjetischen Erklärung dieser Bedeutung ausreichend Rechnung getragen. Das heißt, wir werden sehr ernst nehmen, was von sowjetischer Seite zu den Fragen der Sicherheit in Europa gesagt wird.Wenn wir Deutschen jetzt den Weg zur Vereinigung beschreiten — darauf haben wir ja Jahrzehnte gewartet — , dann sind wir uns der geschichtlichen Dimension dieses Vorgangs bewußt. Wir sind uns bewußt, welchen Beitrag der Freiheitswille der Völker dazu geleistet hat. Wir sind uns aber auch bewußt — das sage ich auch im Hinblick auf die Interessen, die die Sowjetunion an diesem Vorgang hat — , daß dieser Weg, den wir bis heute schon zurücklegen konnten — das nimmt nichts von unserem Respekt vor der friedlichen Revolution in der DDR und den anderen Staaten Mittel- und Osteuropas —, so und jetzt nicht möglich gewesen wäre ohne die historische Politik und Persönlichkeit des sowjetischen Präsidenten Gorbatschow.
Zu der geschichtlichen Dimension, von der ich sprach, gehört auch die Erinnerung an all das, was in deutschem Namen anderen Nationen an Leid zugefügt wurde.Die deutsche Nachkriegsdemokratie und das entschiedene Eintreten der Deutschen in der DDR für
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Bundesminister GenscherFreiheit und Menschenrechte mögen allen unseren Nachbarn das Vertrauen geben, daß Deutsche, die sich in Freiheit und Demokratie vereinen, zu einem besseren Europa beitragen werden.Meine Damen und Herren, kein anderer als Thomas Mann hat besser ausgedrückt, was wir wollen, und das schon 1952. Er hat gesagt:Wir wollen ein europäisches Deutschland und nicht ein deutsches Europa.Dazu können wir alle ja sagen.
Ich erteile dem Herrn Regierenden Bürgermeister von Berlin, Herrn Momper, das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich nutze die Gelegenheit, dem Herrn Bundeskanzler dafür zu danken, daß er das Angebot aufgegriffen hat, den Regierenden Bürgermeister von Berlin, also mich, an den Gesprächen mit der Regierung der DDR zu beteiligen.Kein anderes Land ist von den Entscheidungen über das Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten so stark betroffen wie Berlin. Jeder Fehler im Handeln wie im Unterlassen würde auf uns in Berlin zurückschlagen. Die Menschen bei uns sind froh darüber, daß die Mauer wieder offen ist. Sie machen sich aber auch Sorgen über die Zukunft. Sie haben Angst davor, daß die Entwicklung ungesteuert verläuft und die soziale Balance verlorengehen könnte.Wir alle freuen uns für Herrn Rühe, wenn er erklären kann, der Kanzler habe Geschichte gemacht. Geschichte haben in diesen Monaten die Menschen in der DDR, in Osteuropa gemacht.
Und Geschichte hat Michail Gorbatschow gemacht. Unser Volk erwartet von der Bundesregierung zu Recht, daß die uns damit gebotene Chance nüchtern und mit praktischem Geist angepackt wird.Die Länder der Bundesrepublik Deutschland müssen rechtzeitig an den Gesprächen mit der DDR beteiligt werden, bei allen Vorbereitungen für wichtige innen- und außenpolitische Entscheidungen in diesem Zusammenhang ebenso. Keine Frage geht die Länder so an wie die deutsche Einheit. Deshalb fordere ich, daß unverzüglich ein gemeinsames Gremium von Bundesrat und Bundestag ins Leben gerufen wird, mit dem die Bundesregierung alle Schritte zur deutschen Einheit engstens berät.
Ich bitte die Koalition — auch in meiner Eigenschaft als Bundesratspräsident — , die unbedachte Ablehnung dieses Vorschlages noch einmal in Ruhe zu überdenken.
Meine Damen und Herren, berücksichtigen Sie dabeibitte, welche Leistungen die Länder im Prozeß derdeutschen Einigung für die DDR bereits erbracht haben und noch werden erbringen müssen.
Das gilt gerade auch für Berlin.
Um die praktische Zusammenarbeit zu bewältigen, arbeitet in Berlin seit Dezember ein provisorischer Regionalausschuß, in dem der Senat, der Magistrat, die Bundesregierung und die DDR-Regierung sowie die beiden an Berlin angrenzenden Bezirke Frankfurt und Potsdam vertreten sind. Für die Region Berlin mit ihren über 5 Millionen Menschen organisiert der Regionalausschuß das gemeinsame Handeln der beteiligten Verwaltungen. Arbeitsgruppen beschäftigen sich mit den zu lösenden Fragen der Wirtschaft, der Umwelt, der Rechtsangleichung, der Finanzen und den besonders drängenden Fragen des Verkehrs. In Gestalt des Regionalausschusses ist ein Modell grenzüberschreitender Kooperation entstanden, das regionale Probleme im Interesse der Menschen lösen wird. Wir freuen uns, daß andere dieses Vorbild nachgemacht haben.Meine Damen und Herren, das Treffen des Bundeskanzlers mit Ministerpräsident Modrow hat gerade die Menschen in der DDR sehr enttäuscht. Sofort wirksame Maßnahmen, die die Menschen zum Bleiben bewegen könnten, sind nicht in Sicht.
Das dringend erforderliche positive Signal an die Menschen im anderen Teil Deutschlands ist erneut ausgeblieben. Die Bundesregierung hätte die Gelegenheit gehabt, praktische Zeichen der Solidarität zu setzen.
Das hätte den Menschen in der DDR Hoffnung gemacht und eine Perspektive gegeben.Der Herr Bundesfinanzminister hat am Dienstag aufgezählt, was man angeblich alles für die DDR getan habe. Fast alles, was dort aufgezählt wird, sind Maßnahmen zur Bewältigung der neuen Reisefreiheit. Die zwei Milliarden Mark für den Reisedevisenfonds sind notwendig; aber sie wirken nicht in der DDR, sondern landen letzten Endes bei uns in den Kassen des Einzelhandels.
Die hundert Millionen Mark für Umweltschutzprojekte, die fünfzehn Millionen Mark für die Sicherheit kerntechnischer Anlagen und die 3,4 Millionen Mark für Sportbegegnung, das alles ist gut und richtig. Aber was sind das für Größenordnungen?!
So wie die in Dresden gewährten hundert MillionenD-Mark für das Telefonnetz hätten Verbesserungenfür die Infrastruktur, Verbesserungen des Personen-
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15126 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990
Regierender Bürgermeister Momper
nahverkehrs für die Eisenbahn gewährt werden können. Das hätte Zeichen für die Zukunft gesetzt, das wäre gesamtdeutsche Solidarität vor der Einheit gewesen.
Tatsächlich hat es seit dem 9. November 1989 kaum Soforthilfe gegeben, mit der die Alltagssituation der Menschen in der DDR spürbar verbessert worden wäre. Dabei wäre das so einfach gewesen. Man hätte z. B. gebrauchte Vermittlungsstellen in das Telefonnetz einbauen können, man hätte umgehend der Reichsbahn Züge leihen können, man hätte medizinisches Material liefern können und hätte Experten in die Betriebe und Verwaltungen schicken können, um dort die gröbsten Mängel abzustellen.
Ich hatte vorgeschlagen, ein Reisewerk für DDR-Bürger zu gründen, um ihnen preiswerte Aufenthalte bei uns zu ermöglichen. Mit einer Vielzahl solcher Maßnahmen hätte man den DDR-Bürgern zeigen können, daß wir uns zur Hilfe verpflichtet fühlen, daß wir ihnen beistehen. Das verstehe ich unter Soforthilfe. Die 20 Millionen DM, die die Bauministerin erst jetzt für die Instandsetzung von Wohnungen in der DDR bereitstellt, sind der richtige Ansatz, aber viel zuwenig. Das reicht gerade für 500 Wohnungen am Prenzlauer Berg.
Herr Regierender Bürgermeister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Lintner?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Meine Redezeit ist beschränkt; deshalb möchte ich keine Frage zulassen.
Wir in Berlin sind tagtäglich im Gespräch mit Bürgern in und aus der DDR.
— Nun hören Sie doch mal zu, was die Bürger aus der DDR sagen!
Die Menschen in der DDR wünschen in ihrer übergroßen Mehrheit die Einheit. Nur darin sehen sie eine Garantie, daß die SED nicht wiederkommt, und nur darin sehen sie die Möglichkeit, wirtschaftlich wieder auf die Beine zu kommen.
Aber sie sorgen sich zugleich um ihre Zukunft. Sie haben Angst um ihre Ersparnisse, Angst vor Geschäftemacherei und Grundstückshaien.
Sie haben Angst um die soziale Sicherheit. Sie wissen nicht, ob sie ihre Miete noch bezahlen können. Sie haben Angst davor, daß sie demnächst arbeitslos werden können. — Ich kann ja verstehen, daß Sie dafür keinen Sinn oder vielleicht auch nicht genügend Informationen haben.
Ich lade Sie einmal dazu ein, wie ich am letzten Sonnabend nach Ost-Berlin und nach Potsdam zu gehen und dort auf der Straße zu diskutieren.
Herr Regierender Bürgermeister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein.Die Hoffnungen und Erwartungen der Menschen richten sich in erster Linie auf uns im Westen. Von uns im Westen erwarten diese Menschen sozialen Schutz und eine sichere Perspektive. Wenn der Runde Tisch in Ost-Berlin fordert, daß nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine soziale Einheit angesteuert werden muß, dann hat er recht. Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten darf nicht zu einer Art neuem Manchester-Kapitalismus führen.
Die Währungsunion muß sorgfältig geplant werden. Es müssen Sicherungen eingebaut werden, soziale Sicherungen für Rentner, für Arbeitslose, Sicherungen gegen Wohnungs- und Grundstücksspekulation,
Sicherungen gegen einen Zusammenbruch der Produktion.
Meine Damen und Herren, wir stimmen doch alle darin überein, daß die Subventionen abgebaut werden müssen. Aber die Modernisierung der Industrie und der Strukturwandel müssen auch sozial abgefedert werden,
und wir dürfen auch bei uns die soziale Balance nicht verlieren.Ich denke, daß Umschichtungen im Bundeshaushalt notwendig werden. Die Ost-West-Konfrontation ist beendet; nach Ottawa stehen große Abrüstungsschritte ins Haus. Drastische Einsparungen im Rü-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990 15127
Regierender Bürgermeister Momper
stungshaushalt wären jetzt möglich, aber sie werden auch nötig.
Durch Abrüstung, durch Truppenreduzierung und die Beendigung eines Finanzabenteuers wie des Projekts Jäger 90
können die Milliardenbeträge freigesetzt werden, die wir für die Modernisierung der DDR brauchen.
— S i e haben dieses Geld wohl schon zehnmal ausgegeben. Sie haben ihn noch nicht einmal finanziert, wollten Sie sagen. So ist es.
Meine Damen und Herren, die Möglichkeiten der Finanzierung müssen geprüft werden, und dabei muß klar sein, daß starke Schultern mehr tragen müssen als schwächere. Die Wenigverdienenden in unserem Lande haben noch genug damit zu tun, die unsoziale Steuerreform zu bezahlen.
Es ist schon gesagt worden, aber man kann es gar nicht oft genug sagen — Sie freuen sich womöglich darüber —,
daß zehn Jahre der Umverteilung von unten nach oben hinter uns liegen. In diesen zehn Jahren ist die Entwicklung des öffentlichen und des kommunalen Sektors weit hinter der Entwicklung der privaten Gewinne zurückgeblieben. Der Unmut in den sozialen Betreuungsberufen und an den Hochschulen ist doch mittlerweile selbst für den Kurzsichtigsten nicht zu übersehen.
— Sie kommen anscheinend überwiegend vom Lande.
Wir haben im ganzen Land, besonders aber in den Städten Wohnungsnot und steigende Mieten. Die Kommunen können die vielfältig wachsenden Auf gaben kaum noch finanzieren. Dieses Land hat in den letzten Jahren eine gefährliche soziale Schlagseite bekommen. Wenn die Finanzierung der nationalen Einheit jetzt auch noch zu Lasten der Schwächeren erfolgt, dann werden wir aus dem Gleichgewicht geraten.Bei dieser Gelegenheit will ich gern etwas zu den Vorschlägen sagen, notwendige Hilfen an die DDR mit einer Kürzung der Berlin-Hilfe zu finanzieren. Für diese Diskussion ist jetzt der falscheste Zeitpunkt;
denn Standortnachteile für die Berliner Wirtschaft sind unverändert. Die Energie ist teuer, die Transportwege von und nach Berlin sind länger, und die Grundstückskosten sind höher als andernorts. Seit dem 9. November sind besondere Belastungen hinzugekommen, für deren Finanzierung aus dem Bundeshaushalt sich der Bundesfinanzminister eingesetzt hat. Wir in Berlin haben auch klar gesagt, daß wir das durchaus anerkennen. Das ist doch überhaupt keine Frage. Aber wer jetzt die Diskussion über die Berlin-Förderung lostritt, der erstickt die für die Stadt gerade erst gewonnenen Chancen für die Zukunft schon im Keim, indem er die Rahmenbedingungen für Investitionen in der Stadt jetzt in Frage stellt. Vergessen Sie nicht, daß die erheblichen Kürzungen der Berlin-Förderung gerade vor sechs Wochen in Kraft getreten sind und daß wir sie in Berlin noch lange nicht verkraftet haben.Meine Damen und Herren, in der jetzigen Situation zeigt sich, ob die Parteien und die Politiker in der Bundesrepublik einer wirklich historischen und sozialen Herausforderung ersten Ranges gerecht werden können.
— Auf diesen Zwischenruf habe ich gewartet. Ich sage ja: Es wird sich erst beweisen. — Es wird sich zeigen, wer verantwortungsbewußt für das ganze deutsche Volk handeln kann. Es wird sich zeigen, wer jetzt das politische Gesellenstück unserer Nachkriegsdemokratie abliefern kann.
— Sie wissen ja schon immer alles vorher. Hören Sie doch erst einmal zu; dann erfahren Sie vielleicht noch etwas für Sie Neues.
Meine Damen und Herren, deswegen fordere ich alle Parteien dazu auf, unseren Wahlkampf nicht auf dem Rücken der Menschen in der DDR zu führen.
Wir Sozialdemokraten wissen ja, daß es die CDU schwerer als die SPD hat, in der DDR einen starken Ansprechpartner zu finden.
— Doch, das ist auch welcher. — Das sollte aber nicht dazu verleiten, den dortigen Wahlkampf mit Schlägen unterhalb der Gürtellinie zu bestreiten.
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15128 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990
Regierender Bürgermeister Momper
Meine Damen und Herren, die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in der DDR sind schwierig. Ich rufe Sie dazu auf, gemeinsam alles zu tun, um eine soziale und stabile Entwicklung hin zur deutschen Einheit auch für die Menschen in der DDR zu gewährleisten.Danke schön.
Ich erteile dem Herrn Bundesminister der Finanzen, Herrn Dr. Waigel, das Wort.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Es war gut, zu hören, daß sich der Herr Regierende Bürgermeister Momper ganz klar dazu bekannt hat und mitgeteilt hat: Die Menschen in der DDR wollen Einheit. Wie lange will sie eigentlich schon Herr Momper? Er hat sich zu diesem Thema in der Vergangenheit nämlich ganz anders ausgedrückt.
Wie heißt es in der „Tageszeitung" vom 6. Oktober 1989? Das ist noch nicht lange her. Es heißt:Es ist auch eine Chance für Europa, wenn es zwei deutsche Staaten gibt.
Wie heißt es im Koalitionspapier der Berliner SPD vom 6. März 1989:Eine europäische Friedensordnung wird es nur mit zwei gleichberechtigten deutschen Staaten geben können, die ihre Existenz nicht gegenseifig in Frage stellen.
Und da stellt sich dieser Mann hierher und tut so, als ob er der Vorreiter der deutschen Einheit gewesen wäre!
Es ist wieder einmal ein Doppelspiel, und es ist wieder einmal politische Doppelstrategie.
Die SPD in der DDR ist verantwortlich für die Ängste in der DDR, und die SPD hier schürt die Ängste vor den Lasten, die wir übernehmen wollen, um die soziale Sicherung für die DDR-Bürger mit zu gewährleisten.
Wenn wir jetzt, meine Damen und Herren, in der Lage sind, insgesamt direkte und indirekte BerlinHilfen in einer Größenordnung von 20 Milliarden DM zu finanzieren
— über 20 Milliarden DM —, wenn wir jetzt im Nachtragshaushalt 400 Millionen DM mehr für die BerlinHilfe geben, um den notwendigen Inanspruchnahmen und Belastungen der Stadt Berlin Rechnung zu tragen, dann können wir das nur, weil wir Steuersenkungen und eine vernünftige Finanzpolitik betrieben haben und nicht das, was Sie eben noch kritisiert haben.
Sie sind Nutznießer dieser Finanzpolitik, schämen sich aber nicht, sich hierherzustellen und diese Politik noch zu kritisieren. Sie sollten wenigstens den Anstand haben, ein schlichtes Dankeschön dafür zu sagen.
Sie sind vielleicht deswegen in der DDR bei den Wahlen noch in einem gewissen Vorteil, weil die Menschen in der DDR noch nicht wissen, was Sie zu Deutschland alles gesagt haben, z. B. in der Regierungserklärung vom 12. Oktober 1989:Wir gehen bei unserer Kritik weiterhin von der Zweistaatlichkeit aus.In der „Neuen Presse Hannover" vom 29. August 1989 wörtlich:... strikt gegen jede Wiedervereinigungsrhetorik.In der Debatte zur Lage der Nation am 8. November 1989:
Das Volk der DDR will Demokratie und Selbstbestimmung und eine soziale Gesellschaftsordnung.Das Volk der DDR!Die Antwort haben die Menschen in Dresden, in Halle und in Leipzig gegeben, indem sie gerufen haben „Wir sind ein Volk", Herr Momper, und nicht „Wir sind das Volk der DDR".
Es ist vom Kollegen Vogel kritisiert worden, daß durch die eine oder andere Äußerung unverantwortliche Stimmungspolemik betrieben worden sei. Vor mir liegt ein Antrag der Fraktion der SPD vom 17. Januar 1990. Dort heißt es — ich zitiere — :Das bisherige, von der SED errichtete stalinistisch-kommunistische System der DDR hat in den vergangenen Monaten einen vollständigen politisch-moralischen sowie wirtschaftlichen Bankrott erlitten.Ich kann nur sagen, daß mit Ihrer Diktion offensichtlich eine unverantwortliche Stimmungsmache auf Bundestagspapier betrieben worden ist, meine Damen und Herren.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990 15129
Bundesminister Dr. WaigelDie Bundesregierung hat Ministerpräsident Modrow die Errichtung einer Währungsunion mit Wirtschaftsreformen als ersten Schritt zur Verwirklichung der deutschen Einheit angeboten. Eine Währungsunion zum jetzigen Zeitpunkt stellt auch die Bundesrepublik vor erhebliche Anforderungen und natürlich auch Risiken. Wir sind uns dessen voll bewußt.Es ist deshalb absurd, anzunehmen, wir verfolgten mit unserem Angebot eine Übernahmestrategie oder wollten uns in Angelegenheiten der DDR einmischen. Wir sind bereit, einen Beitrag zur Stabilisierung der Situation in der DDR zu leisten. Aber die Menschen in der DDR und ihre Vertreter müssen selbst entscheiden, ob sie auf unser Angebot eingehen wollen. Nur, sie müssen auch selber in der Lage sein, sie brauchen ein Verhandlungsmandat. Wie soll man denn mit einer Delegation und einer Regierung verhandeln, die ohne Finanzminister hierher kommt und nicht einmal ein Verhandlungsmandat hat, um über diese Dinge konkludent etwas zu vereinbaren?
Nach der Öffnung von Mauer und Stacheldraht am 9. November letzten Jahres sind wir zunächst alle davon ausgegangen, die Vereinigung der beiden deutschen Staaten werde sich in einem allmählichen Prozeß der Annäherung der Ordnungssysteme und der wirtschaftlichen Leistungskraft vollziehen. Aber die wirtschaftliche Situation in der DDR verschlechtert sich dramatisch; die Aussagen von Herrn Berghofer und anderen sprechen für sich.Auch und gerade die Menschen in der DDR sehen in Stufenplänen keine erfolgversprechende Perspektive mehr. Sie wollen jetzt das klare Versprechen dauerhafter politischer und wirtschaftlicher Freiheit. Sie wollen jedes — auch das kleinste — Risiko eines Rückfalls in kommunistische Herrschaftsstrukturen vermeiden. Und sie wollen so schnell wie möglich — ebenso wie ihre Freunde und Verwandten im Westen — materiellen Wohlstand erreichen können.
Sie wollen ihr Leben politisch und wirtschaftlich selbst in die Hand nehmen — in der DDR oder in der Bundesrepublik. Unser Ziel muß es sein, daß sie es in der DDR, in ihrer Heimat tun. Das ist für sie und für uns der beste Weg.
Die Würfel für die Einheit sind gefallen. Es bleibt keine Zeit mehr für langjährige Anpassungsprozesse. Unsere Landsleute in der DDR brauchen jetzt eine klare Zukunftsperspektive. Sie müssen wissen: Es lohnt sich, in der DDR zu bleiben.Wir müssen uns auch fragen, ob die DDR, auf sich allein gestellt — selbst bei größter Anstrengung —, überhaupt in der Lage ist, die gewaltigen wirtschaftlichen, politischen und rechtlichen Umstrukturierungsprozesse selbst zu bewältigen. Die bisher gedachte Reihenfolge — Anpassung und dann Vereinigung — erweist sich als zu anspruchsvoll.Ich nehme das, was von den Sachverständigen, den Wissenschaftlern, von der Bundesbank hier in den letzten Tagen und Wochen gesagt wurde, sehr ernst. Nur, meine Damen und Herren, all das theoretisch Richtige entspricht nicht mehr dem konkreten Druck, der konkreten Situation,
der mangelnden Autorität, der mangelnden Durchsetzungskraft hinsichtlich politischer Entscheidungen, wie es in der DDR im Augenblick leider gegeben ist. Darum müssen wir eine andere, eine neue Zeitachse sehen. Darum müssen wir bereit sein, Währungsunion und erweitertes Wirtschaftsgebiet in einem Zug durchzusetzen, Währungsunion und ein Basisprogramm für notwendige Wirtschaftsreformen, für die Soziale Marktwirtschaft. Das muß dann in einem Akt, uno actu, passieren. Das ist die Kondition, die ganz klar und eisern daran geknüpft sein muß. Die Währungsunion allein würde scheitern, wenn sie nicht von der notwendigen Wirtschaftsordnung und der notwendigen Wirtschaftspolitik begleitet würde.
Sicherlich wird mit den Wahlen am 18. März auch die Gestaltungskraft der dann demokratisch legitimierten Regierung wieder zunehmen. Aber auch die neue Regierung — aus demokratischen Kräften, so hoffen wir, zusammengesetzt — stünde bei einer Strategie eigenständiger Reformen vor einer schier erdrückenden Last von Problemen und Aufgaben. Und, meine Damen und Herren, wir dürfen auch die Demokraten — von heute und von morgen — in der DDR nicht überfordern und müssen wissen, was vor ihnen steht, wenn sie das alles in kürzester Zeit verwirklichen müßten, und das den Bürgern klarmachen.
Die Bundesrepublik verfügt über eine in mehr als 40 Jahren erprobte Rechts- und Wirtschaftsordnung, die auch in einem gesamtdeutschen Staat Bestand haben kann. Die Währungsunion wäre ein erster Schritt zu einer in einem gemeinsamen Staat ohnehin notwendigen Angleichung der Ordnungssysteme.Ich gebe dem Bundesjustizminister uneingeschränkt recht, wenn er vor einer Woche in einer Debatte hier gesagt hat, daß es eigentlich kein besseres Ordnungssystem gibt als das Grundgesetz und daß die Väter des Grundgesetzes auch für die Wiedervereinigung sehr kluge und gescheite Möglichkeiten eingebaut haben.
Im Mittelpunkt unseres Vorschlags steht die Einführung der D-Mark als gesetzliches Zahlungsmittel in der DDR. Die Geld- und Währungshoheit in der DDR ginge damit — darüber muß man sich im klaren sein — auf die Bundesbank über. Die Bundesbank könnte wie bisher für die innere und äußere Stabilität unserer Währung sorgen. Eine Wiedervereinigung
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15130 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990
Bundesminister Dr. Waigelüber die Notenpresse ist somit ausgeschlossen. Damit, meine Damen und Herren, kann sich auch jedermann im Inland und im Ausland darauf verlassen: Die Mark bleibt stabil,
weil die überzeugte und überzeugende Geldmengenpolitik der Bundesbank auch weiterhin dafür sorgen wird. Das ist unser Modell nicht nur für die Bundesrepublik Deutschland, nicht nur für ein geeintes Deutschland, sondern darüber hinaus.
Bei der Einführung der D-Mark als gesetzliches Zahlungsmittel in der DDR müßten alle monetären Größen, also Preise, Löhne, Mieten, Forderungen und Verbindlichkeiten, an einem bestimmten Stichtag zu einem noch festzulegenden Kurs auf D-Mark umgestellt werden. Die Festlegung eines solchen Umstellungskurses müßte die Produktivität der DDR bei der Herstellung international handelbarer Güter, den bestehenden Geldüberhang und die Kaufkraftsicherung der Löhne und Renten berücksichtigen. Zunächst müßten jedoch alle wirtschaftlichen und finanziellen Daten der DDR auf den Tisch. Aber daran mangelt es noch.
Durch einen Kassensturz muß Klarheit geschaffen werden über die Höhe der Auslandsverschuldung der DDR, über Forderungen und Verbindlichkeiten der staatseigenen Betriebe, über die umlaufende Geldmenge sowie die Höhe der Sparguthaben.
Eine Expertenkommission mit Teilnehmern aus der DDR und der Bundesrepublik wird sich jetzt mit den technischen Fragen der Währungsunion befassen. Dies wird mit Beteiligung und in enger Abstimmung mit der Deutschen Bundesbank erfolgen. Dies wird ein Gremium sein, das von so großer Bedeutung ist wie kaum ein Gremium seit 1949, ein Gremium von Experten, das vertraulich und vertrauensvoll arbeiten muß. Es wäre gut, wenn es wie 1948 gelingen könnte, ein Konklave zu schaffen und alle Experten wochen-oder monatelang irgendwo ohne Kontakt zur Presse zusammenzubringen. Damals hat das geklappt. Ob das in unserer Welt heute noch möglich ist, weiß ich nicht.
Aber ich setze darauf, daß sich jeder Teilnehmer dieses Gremiums dieser ungeheuren Verantwortung bewußt ist. Das habe ich gestern auch mit Herrn Ministerpräsident Modrow nochmals besprochen.
Meine Damen und Herren, eine Währungsunion an sich kann an den real — —
— Sie könnte ich in das Gremium selbstverständlich nicht setzen.
— Nein, da müßten einige Grundkenntnisse vorhanden sein. Und ich räume ein, daß sie bei Ihnen nicht gegeben sind.Eine Währungsunion an sich kann an den realwirtschaftlichen Verhältnissen, vor allem an dem enormen Produktivitätsdefizit der Betriebe in der DDR, nichts ändern. Sie hat nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn zugleich durch umfassende ordnungspolitische Reformen die Grundlagen für eine dynamische Wirtschaftsentwicklung gelegt werden. Es geht um die Freisetzung marktwirtschaftlicher Kräfte im Innern sowie um die Mobilisierung von Kapital und Knowhow aus dem Ausland. Das bedeutet: Die DDR muß sich für die Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb, unverfälschten Preisen, Privateigentum an den Produktionsmitteln, Gewerbefreiheit, Rechtsschutz, freie Tarifvertragsparteien, einen funktionsfähigen Kapitalmarkt und ein leistungsförderndes Steuersystem entscheiden. Das ist das Basis-Reformprogramm, das unabdingbar verbunden sein muß mit einer Währungsunion in ganz Deutschland.
Wir sind davon überzeugt: Schon die Einführung des marktwirtschaftlichen Anreizsystems wird die Effizienz der DDR-Wirtschaft entscheidend stärken und zu einem gewaltigen Wachstumsschub führen. Darüber hinaus ergeben sich durch die Anwendung moderner Fertigungstechniken in kurzer Frist erhebliche Produktivitätssteigerungen, die weit über die Möglichkeiten zum jährlichen Wachstum einer führenden Industrienation wie der Bundesrepublik hinausgehen.Ein zweites deutsches Wirtschaftswunder ist durchaus erreichbar.
Unbestreitbar würde die rasche Einführung der Währungsunion mit Wirtschaftsreformen zu Anpassungsproblemen führen. Die Wirtschaft der DDR wäre unmittelbar dem Wettbewerbsdruck der Bundesrepublik und des gesamten westlichen Auslands ausgesetzt. Die vorübergehende Freistellung von Arbeitskräften und soziale Anpassungsprobleme sind unvermeidbar, müssen aufgefangen und finanziert werden. Dazu wird auch unsere Hilfe erforderlich sein.Nur, Herr Kollege Vogel, ein einziger Blick in das Haushaltsrecht könnte Sie davon überzeugen, daß das nicht zur Etatisierung reif ist und deshalb nicht in einen Nachtragshaushalt aufgenommen werden kann.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990 15131
Bundesminister Dr. WaigelSie haben zwar viele Erfahrungen, aber Sie waren noch nicht im Haushaltsausschuß. Darum können Sie das auch nicht wissen, Herr Kollege Vogel.
Was nicht berechtigt ist, das sind manche Sorgen und manche Befürchtungen, die heute auch in der Bundesrepublik Deutschland zum Teil systematisch geschürt werden. In einer dynamisch wachsenden Wirtschaft werden sich die anfänglichen Probleme schnell lösen lassen, wenn man nur konsequent auf marktwirtschaftliche Ordnungsprinzipien setzt, wenn man also auf alte sozialistische Ladenhüter wie steuerliche Umverteilungspolitik, Investitionslenkung und Investitionsmeldestellen, Rahmenplanung und Strukturräte verzichtet.
Wir haben zugesagt, daß die Bundesrepublik die Bürger in der DDR mit ihren Sorgen und Problemen nicht alleine lassen wird. So werden wir bei der Einrichtung einer Arbeitslosenversicherung und bei der Sicherung der Renten im Rahmen unserer Möglichkeiten helfen.Mit dem Angebot einer Währungsunion haben wir zugleich unsere Bereitschaft erklärt, noch größere Verantwortung für die wirtschaftliche Entwicklung in der DDR zu übernehmen. Es geht um öffentlich finanzierte Unterstützung, vor allem aber um die Bereitstellung privaten Kapitals. Meine Damen und Herren, niemand soll sich der Illusion hingeben, als ob wir über Transferleistungen öffentlicher Haushalte das leisten könnten, was in den nächsten Jahren in der DDR notwendig ist.
Nur wenn es gelingt, das private Kapital, das in der Bundesrepublik Deutschland, in Europa und in der Welt heute im Gegensatz zu der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zur Verfügung steht, zu mobilisieren und den Rechtsrahmen und den Ordnungsrahmen dafür zu schaffen, werden wir in relativ kurzer Zeit vor allen Dingen mit privaten Investitionen und mit einer florierenden Privatwirtschaft das erreichen, was die Menschen in der DDR zu Recht erwarten und auch verlangen können.
Jetzt zahlen sich unsere umfassenden Reformen in dieser und in der vorhergegangenen Legislaturperiode aus, die Rückbesinnung auf marktwirtschaftliche Grundsätze und die entscheidende Verbesserung der wirtschaftlichen Daten. Meine Damen und Herren, wenn wir 1982/83 und danach der Neidkampagne verfallen wären oder ihr nachgegeben hätten, dann hätte heute die deutsche Volkswirtschaft nicht die Kraft, diese Herausforderung optimistisch anzugehen, wie das im Augenblick der Fall ist.
Weil wir die Finanz- und Wirtschaftspolitik erfolgreich gestaltet haben, besteht jetzt kein Anlaß zu Befürchtungen, die wirtschaftliche Kooperation mit der DDR würde die Bundesrepublik überfordern. Sorgen vor einer zu großen Belastung von Staat und Wirtschaft in der Bundesrepublik sind schon deshalb nicht begründet, weil sich die Herausforderungen des Aufbaus der Volkswirtschaft im anderen Teil Deutschlands und darüber hinaus die Öffnung ganz Mittel- und Osteuropas als großes zusätzliches Wachstumspotential erweisen werden.Das sehen unsere europäischen Partner auch so. Als ich am vergangenen Montag bei der Ecofin-Tagung in Brüssel war, hat es mich gefreut, daß nach anfänglichen Besorgnissen nun eine breite Übereinstimmung besteht, der französische Finanzminister Pierre Bérégovoy diesen Prozeß ausdrücklich begrüßt hat und auch die europäischen Partner Chancen darin sehen, in einem solchen offenen Markt investieren zu können und ihre Chance zu nützen. Präsident Jacques Delors hat bei dieser Gelegenheit auch klar zum Ausdruck gebracht, daß dies nicht nur eine Aufgabe für die Deutschen sei, sondern daß dies eine gesamteuropäische Aufgabe sei, an der auch die EG beteiligt werden solle. Wir halten das für richtig. Wir begrüßen das und sind selbstverständlich für diese Aussage dankbar.
Meine Damen und Herren, Kapital ist vorhanden, und unsere Unternehmen stehen bereit, in der DDR zu investieren. Sie verfügen über die hierfür notwendigen Mittel. Über 80 Milliarden DM beträgt die Geldvermögensbildung der Unternehmen in jedem Jahr. Unser Kapitalexport beläuft sich sogar auf über 120 Milliarden DM. Deshalb müssen Investitionen in die DDR nicht zu Lasten unserer eigenen wirtschaftlichen Entwicklung gehen. Im Gegenteil: Schwierigkeiten wird es eher deshalb geben, weil bei bereits hochausgelasteten Kapazitäten in der Bundesrepublik Deutschland der künftige Bedarf der DDR, vor allem im Bereich von Investitionsgütern, nur unter Mobilisierung aller Kräfte zu decken sein wird.Der Schwerpunkt der Investitionsfinanzierung in der DDR liegt eindeutig im privaten Bereich. Vorstellungen über einen milliardenschweren öffentlichen Lastenausgleich, über ungebundene Konsumkredite für die DDR oder eine komplette Infrastrukturfinanzierung, wie sie zum Teil auch von der amtierenden Regierung Modrow und auch von Teilen der SPD-Opposition gefordert werden, sind völlig illusionär.
Wir werden staatliche Hilfe dort anbieten und geben, wo sie notwendig und sinnvoll ist. Der gestern vom Bundeskabinett beschlossene Nachtragshaushalt sieht neben der Finanzierung des Reisedevisenfonds und der Mittel für die Aufnahme von Übersiedlern und Aussiedlern die Förderung von Existenzgründungen in der DDR, die Erweiterung des Bürgschaftsrahmens und die Finanzierung von Verkehrs-, Kommunikations- und Umweltschutzinvestitionen vor. Darüber hinaus haben wir eine globale Reserve von 2 Milliarden DM für die Finanzierung noch bestehender, noch kommender Verpflichtungen vorgesehen. Wenn sich im Zusammenhang mit der Einführung der Währungsunion zusätzliche, unabweisbare Verpflichtungen ergeben, werden wir unsere Hilfe nicht versagen.Bundesminister Dr. WaigelAber mit einigem Erstaunen höre ich immer wieder die Kritik der SPD — und zwar der SPD hier wie der SPD in der DDR — an der angeblich völlig unzureichenden finanziellen Unterstützung der DDR durch die Bundesregierung. Meine Verwunderung ist deswegen so groß, weil die Vertreter der SPD auf der anderen Seite in der Bevölkerung die Angst vor einer Überforderung durch den Vereinigungsprozeß schüren.
Wer so argumentiert, verliert seine Glaubwürdigkeit in der Deutschlandpolitik genauso und verläßt seine Verantwortung für Staat und Wirtschaft. Es ist eine schäbige Doppelstrategie, die Menschen — —
Es ist eine schäbige Doppelstrategie, die Menschen in Ost und West gegeneinander auszuspielen.
Es war sicher richtig, abzulehnen, was Sie bereits Ende letzten Jahres gefordert haben, nämlich eine Soforthilfe zur Stabilisierung der Regierung Krenz. Das haben Sie gefordert. Wir haben das damals abgelehnt, und das war richtig so.
Der Einsatz öffentlicher Mittel kann nur projektgebunden erfolgen,
und dieser Einsatz ist nur vertretbar, wenn die Regierung der DDR grünes Licht für eine marktwirtschaftliche Ordnung gibt und die Grenzen für den Zustrom von westlichem Kapital abbaut.
Die Kritik, gestern von Herrn Modrow und von Frau Luft geübt, weise ich mit Nachdruck zurück.
Die Bundesregierung hat der demokratisch nicht legitimierten Übergangsregierung der DDR das einzig erfolgversprechende Konzept zur wirtschaftlichen Sanierung der DDR vorgeschlagen, nämlich die unverzügliche Übernahme unserer marktwirtschaftlichen Ordnung. Diese Übergangsregierung, die ohne einen Finanzminister zu Wirtschafts- und Währungsgesprächen nach Bonn fährt, deren Wirtschaftsreformen bisher über Ankündigungen nicht hinauskommen und die sich bis heute nicht einmal zur Aufstellung einer lückenlosen Schlußbilanz in der Lage sieht, trägt doch die Verantwortung für die anhaltende Verunsicherung und den Vertrauensverlust der Menschen in der DDR.
Es ist allerdings schon schlimm, wenn Herr Modrow glaubt — allerdings in zurückhaltender Form — , sich auf das Gutachten eines Bremer Professors berufen zu können,
das ihm Ansprüche auf Reparationsausgleichszahlungen gegenüber der Bundesrepublik Deutschland in der Größenordnung von 727 Milliarden DM zusprechen soll. Und es ist der Gipfel der politischen Schamlosigkeit, wenn der SPD-Senator von Bremen, Herr Dr. Henning Scherf, diesen Aufruf auch noch eigenhändig unterschreibt.
Dieses Gutachten ist unseriös und verantwortungslos. Es beruht auf einer Verkennung der Fakten. Es beruht auf einer Verkennung des Rechts. Hier sind Wiedergutmachung und Lastenausgleich überhaupt nicht berücksichtigt. Wer sich an einer solchen Arbeit beteiligt und sie noch befördert, mehrt nicht den Nutzen seines Vaterlandes, sondern der schädigt sein Land und tut das Gegenteil dessen, wozu er von seinem Amtseid her verpflichtet wäre.
Die Bundesrepublik Deutschland hat in den letzten vier Jahrzehnten in schwierigeren Situationen große Gemeinschaftsaufgaben zustande gebracht. Der Lastenausgleich kostete uns von 1949 bis 1960 fast 40 Milliarden DM. Das war zeitweise bis zu einem Viertel des Bundeshaushalts.Die Bundeshilfe für Berlin — sie war notwendig — erforderte von 1951 bis 1989 192 Milliarden DM, nach heutiger Kaufkraft über 300 Milliarden DM. Für die Zonenrandförderung wurden seit Anfang der 70er Jahre 36 Milliarden DM an Finanzhilfen gewährt. Keine Sorgen: Die Zonenrandförderung ist auch künftig notwendig, bis sich diese Gebiete zu blühenden Wirtschaftsräumen entwickelt haben.
Wir haben mit öffentlichen Mitteln in dreistelliger Milliardenhöhe unseren Steinkohlenbergbau am Leben erhalten. Wir haben seit 1982 insgesamt etwa 20 Milliarden DM für das Saarland ausgegeben. Auch das darf in dem Zusammenhang durchaus einmal erwähnt werden.
Wenn man all das addiert, dann, glaube ich, kann man zu Recht feststellen: Die Investitionen für die Einheit Deutschlands kommen langfristig billiger und sind sinnvoller angelegt als die Subventionen für die Teilung Deutschlands.
Zur Zeit sind es fast 40 Milliarden DM an öffentlichen Mitteln, die alle öffentlichen Haushalte im Zusammenhang mit Deutschland, mit deutsch-deut-
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Bundesminister Dr. Waigelschen Beziehungen, mit Berlin und anderen Dingen erbringen.Wirklich teuer wäre die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der DDR für uns dann geworden, wenn wir früheren Vorschlägen der SPD-Währungsexperten gefolgt wären.
Die Garantie eines festen Wechselkurses zwischen D-Mark und Mark der DDR hätte nicht nur Milliarden an Haushaltsmitteln verschlungen, sondern wäre darüber hinaus unzweifelhaft zu Lasten unserer Preisstabilität gegangen.Meine Damen und Herren, nach wie vor — das muß im Hinblick auf die Solidität unserer Finanzpolitik gesagt werden — liegen die Ausgabenzuwächse im Haushalt unter dem Anstieg des nominalen Sozialprodukts. Genau das eröffnet auch jetzt sogar in schwieriger Zeit noch Spielräume, um handeln zu können, auch Spielräume, um unsere Wirtschaft auf Dauer, auch in der nächsten Legislaturperiode, wettbewerbsfähig zu halten.Aber es darf — darüber müssen wir uns klar sein — zu keiner ausufernden Verschuldung und auch nicht zu einer zinstreibenden Überinanspruchnahme der Kapitalmärkte kommen.
Wir wollen auch nicht — wie die SPD — die Leistungsträger durch Sonderabgaben zur Kasse bitten, um die auf individueller Leistung beruhende Marktwirtschaft in der DDR zu fördern.
— Wer mit seiner Steuer- und Finanzpolitik so gescheitert ist und so von der Wirklichkeit widerlegt wurde wie Sie, sollte eigentlich zur Steuerpolitik weiß Gott nichts mehr sagen.
Es ist heute schon gesagt worden: Stünden wir heute in der Situation von 1982, die Sie uns hinterlassen haben,
dann wären wir in der Tat nicht in der Lage, diese Herausforderung ohne große Lasten für die Bürger der Bundesrepublik Deutschland zu finanzieren.
Es würde mich übrigens noch interessieren, Frau Kollegin Matthäus-Maier, ob Sie der SPD in der DDR auch Ihre Ökosteuer verklickert haben und wie stark dort die Aufnahmebereitschaft für diesen grandiosen Gedankenirrtum heute noch ist.
Der Weg zur deutschen Einheit ist unumkehrbar geworden. Die ganz überwiegende Mehrheit der Menschen in der DDR will die Vereinigung der beiden Teile Deutschlands. Sie wollen die unnatürliche Teilung, das Relikt der Nachkriegsordnung, beseitigen.Sie wollen teilhaben an Freiheit, politischer Selbstbestimmung und wirtschaftlicher Selbstverwirklichung. Sie wollen sich nicht neuen sozialistischen Experimenten ausliefern. Das ist das Datum, von dem die Verantwortlichen in der DDR und von dem wir selbst ausgehen müssen.Gorbatschow hat den Menschen in der DDR nun endlich grünes Licht für die Ausübung ihres Selbstbestimmungsrechts gegeben. Die Vereinigten Staaten und unsere Partner in der EG sehen keinen anderen Weg als die Vereinigung der beiden deutschen Staaten. Jetzt müssen wir Deutschen unser Schicksal selbst in die Hand nehmen. Wir können nicht auf die Geschichte warten, weil wir selbst Teil der Geschichte sind. Wir können Entscheidungen auch nicht auf die lange Bank schieben, weil wir sonst von den Ereignissen überrollt werden.Deshalb haben wir der DDR mit der Währungsunion den ersten Schritt zur Wiedervereinigung angeboten. Die Wiederherstellung der Länder in der DDR könnte dann den nächsten Schritt zu einem gesamtdeutschen Bundesstaat auf der Grundlage unseres bewährten Föderalismus bilden.Die Ursachen der jahrzehntelangen Spannungen zwischen Ost und West sind in der Teilung Europas und in der Teilung Deutschlands begründet. Heute haben wir die berechtigte Hoffnung, diese Teilung zu überwinden. Unsere Unterstützung der demokratischen und marktwirtschaftlichen Reformen ist eine Investition für Frieden und Freiheit, für ein erneuertes Europa, das den jungen Generationen eine neue Zukunft eröffnet.Die Opfer, die wir jetzt bringen, sind eine Investition für Frieden und Freiheit dieser und der nächsten Generationen. Nie war Geld sinnvoller, nutzbringender, vernünftiger und segensreicher angewendet als das, was wir jetzt für Deutschland und für unser Vaterland tun.
Unsere Hilfen für Marktwirtschaft und Demokratie im Osten sind unser Beitrag zu dem, was Günther Christiansen, der Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels an Václav Havel als Erneuerung des europäischen Bewußtseins, als ein demokratisches Europa, als freundschaftliche Gemeinschaft freier und unabhängiger Nationen bezeichnet hat. Stellvertretend für viele haben in den letzten Jahren und Jahrzehnten immer wieder Dichter in Deutschland diese Dinge beschrieben: Martin Walser, Ulrich Schacht, Uwe Johnson und Rainer Kunze. Von Rainer Kunze stammen die Sätze:Ich weiß, und das gehört zu dem wenigen, was ich auch heute noch sicher weiß, daß viele Menschen in der DDR
den Wunsch nach Wiederherstellung eines deutschen Nationalstaates hegen, weil sie in seiner Erfüllung die einzige Chance sehen, für sich oder ihre Kinder oder Kindeskinder die menschlichen Grundfreiheiten zurückzuerlangen, z. B. die
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15134 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990
Bundesminister Dr. WaigelGrundfreiheit, nicht Tag für Tag und ihr Leben lang lügen zu müssen, um überleben zu können.Daß Sie nicht einmal beim Zitat dieses Mannes, der für Deutschland so viel gegeben und gelitten hat, zuhören können, zeigt Ihre ganze schäbige geistige Gesinnung, meine Damen und Herren.
Als Rainer Kunze die DDR verlassen mußte, wurde er gefragt: Ist das nun Ihr neues Vaterland? — Rainer Kunze hat geantwortet: Nein, das ist mein neues Zuhause, mein Vaterland ist Deutschland. — Ja, es ist wieder unser gemeinsames Vaterland.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Matthäus-Maier.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auf der letzten Montagsdemonstration in Leipzig konnte man ein Plakat sehen, auf dem stand: „Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, gehn wir zu ihr. " Das trifft den Kern, warum wir Sozialdemokraten in Ost und West seit Wochen für eine deutsch-deutsche Währungsunion mit der Einführung der D-Mark in der DDR eingetreten sind. Das wäre für die Menschen ein überzeugendes Signal zum Bleiben und beim wirtschaftlichen, ökologischen, politischen und sozialen Aufbau ihrer Heimat mitzuarbeiten.
Wir begrüßen es, daß die Bundesregierung unseren Vorschlag jetzt aufgegriffen und der DDR beim Besuch von Ministerpräsident Modrow eine Währungsunion angeboten hat. Wir hoffen, daß in den nächsten Wochen die notwendigen Vorbereitungen so zügig geleistet werden, daß die D-Mark-Währungsunion möglichst rasch nach der Wahl am 18. März in Kraft treten kann.Dabei ist aber sicherzustellen: Erstens. Die D-MarkGeldmenge für die DDR muß so bemessen werden, daß die Stabilität unserer D-Mark gesichert bleibt. Zweitens. Eine Bestandsgarantie für Sparguthaben ist möglich und erforderlich.
Drittens. Angesichts des niedrigen Rentenniveaus in der DDR müssen die Renten nach der Währungsumstellung deutlich erhöht werden. Viertens. Der Strukturwandel in der DDR muß sozial flankiert werden, durch Anpassungshilfen für Unternehmen, durch eine Umschulungs- und Qualifizierungsoffensive, durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und durch den Aufbau einer Arbeitslosenversicherung. Fünftens. Die notwendigen Wirtschaftsreformen, weg von der Kommandowirtschaft, hin zu mehr Markt, die die Regierung Modrow nur allzu zögerlich betreibt, sind energisch durchzuführen. Sie müssen zu einer sozialen und ökologischen Marktwirtschaft führen, die unsere sozialdemokratischen Freunde in der DDR schon bei ihrer Gründung vor dem Fall der Mauer noch in der Illegalität als erste gefordert haben, Herr Waigel, zueinem Zeitpunkt, als Ihre Schwesterpartei als Blockpartei
noch alles in der SED unterstützt und die Marktwirtschaft verteufelt hat.
Meine Damen und Herren, warum hat sich trotz des begrüßenswerten Angebotes der Währungsunion nach dem Treffen von Herrn Modrow mit Herrn Kohl Enttäuschung breit gemacht? Das liegt daran, daß die Währungsunion wirksame Soforthilfen für die DDR nicht ersetzen kann. Selbstverständlich, Herr Waigel, muß der Hauptstrom des Kapitals von der privaten Wirtschaft kommen. Aber wer den Übersiedlerstrom wirklich stoppen will, der muß jetzt helfen, daß die Häuser in der DDR wieder bewohnbar werden,
daß Maschinen nicht wegen Ersatzteilmangels stillstehen müssen und daß Straßen und Schienenwege repariert und ausgebaut werden. Hier gilt: Zeit ist Geld.
Wer den Menschen in der DDR nicht sofort wirksam hilft, der muß sehr viel mehr zahlen, wenn sie ihre Koffer packen und als Übersiedler zu uns kommen.
Dann steigen bei uns Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot, und dann brauchen wir sehr viel mehr Geld. Ein Beispiel: Mit dem Geld, das der Staat aufwenden muß, um bei uns eine Sozialwohnung zu finanzieren, könnte er in der DDR zehn Wohnungen vor dem Verfall retten. Deswegen nützt es nicht Herrn Modrow und der SED, wenn geholfen wird, sondern den Menschen im Osten und im Westen.
Nach den großen Erwartungen, die der Bundeskanzler bei den Menschen in der DDR bei seinem Dresden-Besuch geweckt hat,
ist das, was die Bundesregierung gestern in ihrem Nachtragshaushalt beschlossen hat, eine einzige Enttäuschung.Herr Waigel, Sie schreiben heute im „Bayernkurier" :Mit dem Nachtragshaushalt ... werden erhebliche Mittel — rund sechs Milliarden DM — als Soforthilfe für die DDR zur Verfügung gestellt.
Schauen wir uns das doch an:Es beginnt mit 13,4 Millionen DM für die Verstärkung der Öffentlichkeitsarbeit des Bundeskanzlers.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990 15135
Frau Matthäus-MaierWas hat das mit der DDR zu tun?850 Millionen DM für das Tarifergebnis im öffentlichen Dienst. Wir begrüßen das, aber was hat das mit den Menschen in der DDR zu tun?
1,1 Milliarden DM für die Bewältigung des Übersiedlerstroms.
Auch dieses Geld ist notwendig, aber es wird doch hier in der Bundesrepublik eingesetzt und nicht etwa in der DDR.
2 Milliarden DM für den Reisedevisenfonds. Auch den unterstützen wir. Aber damit werden doch Reisen von DDR-Bürgern in die Bundesrepublik unterstützt, nicht aber der Aufbau innerhalb der DDR.2 Milliarden DM Globaltitel für Sofortmaßnahmen. Hierbei ist völlig offen, wohin das Geld fließen soll.Wenn der Massenexodus aus der DDR nicht bald gebremst wird, dann werden die Menschen in der DDR davon nichts sehen. Dann wird dieses Geld nicht einmal ausreichen, um hier in der Bundesrepublik mit den Problemen des Übersiedlerstroms fertig zu werden.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich möchte den Gedankengang zu Ende führen.
Tatsache ist: Von den 6,9 Milliarden DM des Nachtragshaushaltes geht nur eine Milliarde DM in konkrete Hilfsmaßnahmen in der DDR. Wie wollen Sie eigentlich, Herr Waigel, dem Vorwurf begegnen, daß Sie hier Etikettenschwindel betreiben? Ihre Aussagen im „Bayernkurier" sind falsch.
Vizepräsident Stücklen: Bitte schön.
Da zu Ihren Pflichten als finanzpolitische Sprecherin Ihrer Fraktion sicher auch Rechnen gehört, darf ich Sie einmal fragen, wie hoch die Summe der von Ihnen aufgeführten Leistungen aus dem Nachtragshaushalt ist. Geben Sie mir Recht, daß das insgesamt 7 und nicht 6 Milliarden DM sind und daß sich die von Ihnen angesprochenen Leistungen außerhalb der DDR wie Öffentlichkeitsarbeit usw. aus dieser von Ihnen unterschlagenen Milliarde finanzieren?
Ich bitte um Entschuldigung, Herr Waigel schreibt heute: Rund 6 Milliarden DM werden als Soforthilfe für die DDR zur Verfügung gestellt. Nach dem, was ich hier vorgerechnet habe, kommen Sie beim besten Drehen und Wenden nicht auf die 6 Milliarden DM. So ist es!
Der Bundeskanzler und auch Sie, Herr Bundesfinanzminister, reden Tag und Nacht von Einheit. Wenn es aber darum geht, auf der Alltagsebene die Lage der Menschen zu verbessern und damit Einhalt zu praktizieren, dann tauchen Sie weg und versagen, leider.
Mit diesem Nachtragshaushalt sind Sie mit dafür verantwortlich, wenn in den nächsten Wochen der Übersiedlerstrom aus der DDR ungebremst anhält oder sogar noch weiter zunimmt. Deswegen fordere ich Sie auf: Ringen Sie sich endlich zu mehr Sofortmaßnahmen, die notwendig sind, durch, damit die Menschen in ihrer Heimat bleiben!
Die Bürger unseres Landes wissen, daß die deutsche Einheit nicht zum Null-Tarif zu haben ist. Ich fordere die Bundesregierung auf: Legen Sie einen Kostenvoranschlag und ein Finanzierungskonzept auf den Tisch. Unsere Bürgerinnen und Bürger haben ein Recht darauf, zu erfahren, was die Bundesregierung vorhat. Machen Sie den wilden Spekulationen schnellstens ein Ende.Bei der Finanzierung machen Sie es sich zu einfach, Herr Waigel, indem Sie Ihren kompletten Nachtragshaushalt von A bis Z über neue Schulden finanzieren — 6,5 Milliarden DM neuer Schulden. Das ist nicht nur phantasielos, das ist auch in hohem Maße unsolide.
Bevor höhere Staatsschulden oder höhere Steuern ins Auge gefaßt werden, sind wir Politiker dazu verpflichtet, alle Möglichkeiten von Einsparungen und Haushaltsumschichtungen auszuschöpfen.
Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf: Ziehen Sie doch endlich die Konsequenzen aus der weltweiten Entspannung, und sparen Sie bei den Verteidigungsausgaben.
Herr Waigel, bei diesem Nachtragshaushalt wollen Sie aus einem Verteidigungshaushalt von 54 Milliarden DM nicht eine einzige D-Mark umschichten. Ich kann das nicht verstehen.
Selbstverständlich ist unsere Hauptforderung: Stellen Sie endlich das Projekt „Jäger 90" ein.
Aber es gibt sehr viel mehr. Wir sehen in diesem Bundeshaushalt — nicht wir, denn wir haben dagegengestimmt —, Sie sehen in diesem Bundeshaushalt
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15136 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990
Frau Matthäus-Maierallein 2,5 Milliarden DM für Munitionsbeschaffung vor. Ich weiß gar nicht, worauf wir uns vorbereiten. — Auf einen Dritten Weltkrieg?
Wer soll denn 2,5 Milliarden DM für neue Munition ausgeben, meine Damen und Herren?
Oder stellen Sie endlich die Tiefflüge ein, die die Menschen ohnehin nicht mehr wollen. Auch das spart Geld beim Sprit, wofür wir in diesem Jahr allein eine halbe Milliarde DM vorsehen.
Nein, unsere Forderung geht an Sie: Sparen Sie beim Verteidigungshaushalt, verkürzen Sie den Wehrdienst auf zwölf Monate und verringern Sie die Truppenstärke.
Es ist klar, daß den von der Abrüstung betroffenen Regionen mit regionaler Strukturpolitik geholfen werden muß. Aber der Rüstungsindustrie sage ich: Bauen Sie statt Jagdflugzeugen, Panzern und Kanonen lieber Lastwagen, Lokomotiven und hochwertige Maschinen für die DDR und für die anderen Reformländer des Ostens.
Das sichert bei uns Arbeitsplätze und ist auch besser für den Frieden in der Welt.
Dies ist das beste Konversionsprogramm, das man sich denken kann, meine Damen und Herren.
Unverantwortlich ist es auch, daß CDU/CSU und FDP
immer noch — gerade in diesen Tagen — für Spitzenverdiener und für Unternehmen die Steuern um 25 Milliarden DM jährlich senken wollen. Herr Waigel, eine Unternehmenssteuersenkung war schon bisher nicht gerechtfertigt. Schon bisher lag der Produktionsstandort Bundesrepublik international ganz vorn.
Heute aber, mit der Perspektive der deutschen Einheit und dem Aufbau, ist der Investitionsstandort Deutschland der beste der Welt.
Deswegen fordere ich Sie auf: Erklären Sie endlichverbindlich — Herr Haussmann, Sie werden ja heutemorgen noch dran sein — , daß Sie auf neue Steuergeschenke für die Reichen und die Unternehmen verzichten.
Dann ist das Geld für Investitionen in der DDR vorhanden. — Herr Glos, da Sie „Unfug" dazwischenrufen:
Wollen Sie bestreiten, daß gerade Sie und daß gerade die Schreiber der CDU/CSU und der FDP in diesen Tagen erneut lange Artikel mit dem Ziel von Steuersenkungen für Spitzenverdiener und für Unternehmen schreiben? Ich halte das für unverantwortlich.
Herr Waigel, wehren Sie sich nicht länger gegen unsere Forderung, finanzielle Anreize für die Übersiedlung abzubauen, wie sie Oskar Lafontaine immer wieder gestellt hat.
Verwenden Sie dieses Geld besser für den Aufbau in der DDR, damit die Menschen nicht übersiedeln, sondern in ihrer Heimat bleiben. Schließlich: Mittelfristig können wir auch die Milliarden, die wir heute für die Teilung ausgeben, Schritt für Schritt umwidmen, um die Einheit zu finanzieren.Wenn Sie im Bundeshaushalt einsparen und umschichten, wenn Sie auf Steuergeschenke für Spitzenverdiener und Unternehmen verzichten und wenn die Wirtschaft weiter so gut läuft, dann sehe ich für Steuererhöhungen keine Notwendigkeit, insbesondere, Herr Waigel und Herr Haussmann, nicht für die von Ihnen nach wie vor ins Auge gefaßte Mehrwertsteueranhebung. Ich habe seit über einem Jahr den Verdacht, daß Sie nach wie vor dieses im Auge haben. Herr Waigel, wenn Sie den Verteidigungshaushalt um null Mark kürzen wollen, gleichzeitig die dicken Steuersenkungen für Spitzenverdiener und Unternehmen nach wie vor im Auge haben, dann nährt das diesen Verdacht, daß sie nach wie vor an die Mehrwertsteueranhebung denken.
Diese Bundesregierung hat bereits in den letzten sieben Jahren jeden Anlaß genutzt, unsoziale Umverteilungspolitik zu betreiben. Es wäre schlimm, wenn Sie die deutsche Einheit durch eine Mehrwertsteueranhebung in diesem Sinne mißbrauchen würden. Ich sage Ihnen: Es darf nicht dazu kommen, daß sich die Unternehmen an der deutschen Einheit eine goldene Nase verdienen und die kleinen Leute die Rechnung bezahlen.
Legen Sie deswegen Ihre Mehrwertsteueranhebung zu den Akten.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990 15137
Frau Matthäus-MaierDie Menschen in unserem Lande können sich darauf verlassen: Die Sozialdemokraten werden nicht zulassen, daß bei der deutschen Einheit die soziale Gerechtigkeit unter die Räder kommt.Ich danke Ihnen.
Ich erteile das Wort dem Bundesminister für Wirtschaft, Herrn Haussmann.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wer in der DDR persönliche Freiheiten friedlich erstritten hat, der will jetzt durch eine andere Wirtschaftsordnung auch von seinen wirtschaftlichen Freiheiten Gebrauch machen. So sehr es mich reizen würde, auf eine ganze Reihe von rhetorisch gut vorgetragener, aber äußerst polemischer Verteilungsdebatten einzugehen, möchte ich hier etwas sehr Grundsätzliches zur zukünftigen Wirtschafts- und Währungsunion der beiden deutschen Staaten sagen.
Die Kritik der Sozialdemokraten und des Runden Tisches zeigt, daß Sie nicht verstanden haben, welche historische Entscheidung die Bundesregierung mit ihrem Angebot an die DDR getroffen hat, eine Währungsunion mit einem gemeinsamen Wirtschaftsgebiet vorzuschlagen. Dieses Angebot zeigt, daß die Bürger in der Bundesrepublik bereit sind, die Ärmel aufzukrempeln, um der DDR einen neuen wirtschaftlichen Start zu ermöglichen. Die Menschen in der Bundesrepublik sind aber nicht bereit, mit ihrer Arbeit einen barmherzigen D-Mark-Vorhang zur Verschleierung von planwirtschaftlicher Unfähigkeit zu finanzieren.
Wer von den Sozialdemokraten glaubt, den Menschen in der DDR Hoffnungen zu geben, indem er schnell einmal zehn oder 15 Milliarden DM gutes deutsches Steuergeld zur freien Verfügung der SED-Regierung überweist,
sitzt einer ganz gefährlichen Illusion auf.
Wofür würde denn die jetzige SED-Regierung diese Milliarden verwenden, meine Damen und Herren von der Opposition? Für potemkinsche Schaufensterauslagen, um den DDR-Bürgern vorzugaukeln, sie seien wirtschaftlich über den Berg, oder für die Unterstützung der maroden Staatsbetriebe, damit die zukünftigen privaten Existenzgründer in der DDR noch schlechtere Startbedingungen vorfinden.
Wir von der Koalition ziehen es vor, in den marktwirtschaftlichen Reformprozeß der DDR zu investieren,statt irgendwelche Träume vom dritten Weg zu subventionieren.
Der gestern beschlossene Nachtragshaushalt über 7 Milliarden DM ist eine ganz konkrete Soforthilfe für die DDR, für Infrastrukturmaßnahmen, für humanitäre Hilfen, für Umweltschutz und — darauf lege ich besonderen Wert — für den Aufbau eines leistungsfähigen mittelständischen privaten Unternehmertums in der DDR,
denn wichtiger als alle ungezielten Geldspritzen à la Sozialdemokraten ist der Startschuß der DDR für die massenhafte Gründung kleiner und mittlerer Privatunternehmen.
Welches Potential trotz der Vergesellschaftung in der DDR nach wie vor vorhanden ist, hat am Dienstag die Unternehmerveranstaltung in West-Berlin gezeigt: Statt der erwarteten 3 000 Menschen kamen 12 000 Menschen, die sich selbständig machen wollen. Wenn jedes dieser Jungunternehmen im Durchschnitt nur drei Beschäftigte einstellt, bedeutet dies einen Schub von 300 000 neuen Arbeitsplätzen in der DDR.
Für die Vertrauensbildung in der DDR ist dieses private Engagement mehr wert, als wenn wir jetzt die Spendierhosen anziehen, um die Strukturen von gestern zu subventionieren.
— Herr Huonker, es gibt 100 000 Unternehmensgründungen in der DDR; mal 3 Arbeitsplätze ergibt das 300 000 neue Arbeitsplätze.
Meine Damen und Herren, wenn die DDR-Bürger aus dem Fenster schauen, sollten sie nicht mehr sehen, daß ihre Nachbarn das Gepäck in einem Trabi verstauen, sondern sollten in Zukunft sehen, wie am Eingang neugegründeter deutsch-deutscher Unternehmen Schilder stehen mit der Aufschrift: „Wir stellen ein."
Deswegen ist jede D-Mark, die wir in den Aufbau mittelständischer Strukturen in der DDR investieren, bestens angelegtes Geld.Ich bin froh darüber, daß die SED nach wochenlangen Verhandlungen endlich nachgegeben hat. Ab sofort nämlich können in der DDR private Unternehmen und freie Berufe Kredite zur Finanzierung von selbständigen Existenzen beantragen.Schon heute sind die Übersiedlerströme ein ganz empfindliches Barometer für den lahmenden Reformfortschritt in der DDR. Die Übersiedler kommen nicht in erster Linie zu uns, weil die Schaufenster in der DDR noch leer sind, sondern weil ein klares marktwirtschaftliches Reformkonzept in der DDR fehlt.
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15138 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990
Bundesminister Dr. HaussmannWir wollen dafür sorgen, daß die Menschen in der DDR endlich für ihre gute Arbeit auch gutes Geld, d. h. D-Mark, bekommen.
Deshalb, werden wir in den nächsten Wochen eine Aufklärungskampagne über Soziale Marktwirtschaft starten.
Unverantwortlich sind bei uns in der Bundesrepublik alle diejenigen, die hier selbst mit Wettbewerb, Leistung und Selbstverantwortung auf dem Kriegsfuß stehen und die Unsicherheit in der DDR über die Folgen einer Sozialen Marktwirtschaft erhöhen. Wer den Menschen in der DDR einredet, der Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft müsse mit Massenarbeitslosigkeit und sozialem Elend erkauft werden, handelt unverantwortlich.
Wer bei uns Soziale Marktwirtschaft als Ellenbogengesellschaft diffamiert — Frau Matthäus, Sie haben dazu eben einen raffinierten Beitrag geleistet:
„Steuersenkungen für kleine und mittlere Unternehmen sind Bereicherung von Reichen und deshalb unsozial" —,
wer diese Diffamierung fortsetzt, bringt die DDR-Bürger um ihre Zukunftsperspektive.Marktwirtschaft ist weltweit die einzige wirtschaftliche Ordnung, die es geschafft hat, das natürliche Streben von einzelnen nach persönlichem Glück und Wohlstand in den Dienst des Ganzen zu stellen, ohne das Individuum zu entmündigen. Marktwirtschaft ist demokratisch, weil sie die Wünsche und Bedürfnisse der Bürger in den Mittelpunkt stellt. Sie zwingt weder Konsumenten noch Produzenten dazu, sich den obrigkeitsstaatlichen Planvorgaben von Bürokraten zu unterwerfen. Marktwirtschaft ist leistungsfähig, weil sie Leistung anerkennt, honoriert und weil der Markt dafür sorgt, daß die Verbraucher letztlich wahrlich bestimmen, was in der Wirtschaft geschieht. Marktwirtschaft bestraft jede Verschwendung, jede Produktion am Bedarf der Menschen vorbei. Sie belohnt diejenigen, die kreativ sind, neue Ideen haben und Wünsche der Verbraucher erfüllen.
Wer diesen unauflöslichen Zusammenhang zwischen Chancen, aber auch Risiken aufheben will, legt die Antriebskräfte der Marktwirtschaft lahm.Nicht zuletzt: Marktwirtschaft ist sozial. Nur sie kann moderne, wettbewerbsfähige Arbeitsplätze schaffen. Sie ist in der Lage, eine gesunde, wirtschaftliche Grundlage für ein leistungsfähiges Sozialsystem zu sichern. Sie ist letztlich die Voraussetzung dafür, um umfangreiche Mittel für staatliche Infrastrukturleistungen von der Straße bis hin zur Universität zu erwirtschaften.Frau Matthäus-Maier, es kann nicht sein, daß wir mit Steuergeldern in der Bundesrepublik Konsum und Sanierung in der DDR finanzieren.
Wir müssen die DDR-Bürger vielmehr durch ein marktwirtschaftliches System in die Lage versetzen, ihre Häuser selbst über einen privaten Kapitalmarkt zu finanzieren; dazu sind wir nicht in der Lage.
Wir bieten der DDR deshalb unsere Hilfe bei der Einführung der Sozialen Marktwirtschaft an. Wer solche Hilfsangebote als Aufforderung zur Kapitulation verunglimpft, nimmt die Probleme der Menschen in der DDR nicht ernst. Solche unsinnigen Sprüche verletzen den Stolz der DDR-Bürger. Angesichts der historischen Chance zur Einheit ist es ein Skandal, wenn bei uns und in der DDR verstärkt Sozialängste geschürt werden, um darauf Parteipolitik zu machen.Bei dem Übergang von der Planwirtschaft zur Sozialen Marktwirtschaft wird es schwierige Anpassungsprobleme geben. Es wäre unredlich, dies nicht zuzugeben. Die Schließung völlig unrentabler, wettbewerbsunfähiger Betriebe in der DDR ist unvermeidbar. Das gilt ebenso für umweltgefährdende Dreckschleudern, die nicht mehr umgerüstet werden können. Dies bedeutet aber nicht, daß in der DDR anhaltende Massenarbeitslosigkeit droht. Massenarbeitslosigkeit würde nur dann drohen, wenn hoffnungslos rückständige Staatsbetriebe dicht gemacht würden, ohne daß gleichzeitig die marktwirtschaftlichen Voraussetzungen für viele neue, kleine und mittlere Betriebe entständen.
Meine Damen und Herren, ich möchte deshalb sagen: Die DDR hat von allen Ländern in Osteuropa die besten Voraussetzungen. Wir haben das marktwirtschaftliche Wissen, die DDR hat hervorragende Menschen, die deutschen Unternehmen haben genügend Kapital. Wenn wir die Prioritäten in unserer künftigen Steuer- und Finanzpolitik richtig setzen, dann steht einem zweiten Wirtschaftswunder in der DDR nichts entgegen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Stratmann.
Liebe Mitbürgerinnen, liebe Mitbürger! Auf dem Gebiet der Wirtschaft und des Sozialen zeigt sich der tiefergründige Wesenszug der regierungsamtlichen Deutschlandpolitik. Nicht etwa deutsch-deutsche Zusammengehörigkeit und Solidarität, eingebettet in eine umspannende Solidarität zwischen Ost und West und Nord und Süd, nicht etwa deutsch-deutsche Solidarität sind der Antriebsmotor für die Auswahl und die Ausgestaltung der Hilfsmaßnahmen. Antriebsmotor ist vielmehr bundesdeutscher Chauvinismus.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990 15139
StratmannIn nichts kommt dies so sehr zum Ausdruck wie in dem Plan, mit einer schnellen Währungsunion den Geltungsbereich der D-Mark nach Osten auszudehnen. Bis in diese Tage hinein hat fast der gesamte Sachverstand diese Schnellschußunion als wirtschaftlich und sozial kontraproduktiv zurückgewiesen.
Die realen Einkommensunterschiede in beiden deutschen Staaten — Frau Matthäus-Maier, das geht auch an Ihre Adresse — , würden damit schlagartig offenkundig, und der Anreiz zum Übersiedeln würde verstärkt. Die DDR-Betriebe würden sofort einem ruinösen Wettbewerb ausgesetzt mit der Folge schneller Massenerwerbslosigkeit und Armut, was wiederum den Strom von Übersiedlern anschwellen ließe. Die Kosten für diesen ökonomischen Unsinn müßte dann natürlich die BRD zahlen.
— Eine Sekunde.Herr Lambsdorff und Herr Haussmann werden auch schon genauer: Arbeitszeitverkürzungen und Lohnzuwächse seien jetzt nicht mehr drin. Das haben sie zwar schon immer gesagt, aber sie scheuen kein billiges Argument.In der DDR erzeugt diese D-Mark-Vision statt Hoffnung Angst. Schon räumen DDR-Bürger und -Bürgerinnen ihre Sparguthaben und tauschen sie gegen hohe Verluste um.Bitte sehr, Frau Matthäus-Maier. Vizepräsident Stücklen: Frau Matthäus-Maier!
Herr Stratmann, ich möchte Ihnen eine Frage nach einem Argument stellen, weil ich dieses Argument noch nie verstanden habe. Sie sagten gerade: Wenn ein Arbeiter in der DDR nach einer Währungsunion statt z. B. 1 200 OstMark 1 200 West-Mark bekommt, wäre das für ihn schrecklich, müßte er von der DDR weggehen, weil er dann den Unterschied zu dem westdeutschen Lohnniveau sähe. Ist es nicht vielmehr so, daß die 1 200 West-Mark, die er mit dem Produktivitätsfortschritt steigern könnte, doch sehr viel besser sind als die 1 200 Ost-Mark vorher?
Ihr Modell einmal vorausgesetzt und würden auch die Löhne im Verhältnis von 1: 1 umgetauscht, würde das bei der Hälfte der Produktivität in der DDR gegenüber den BRD-Betrieben die DDR-Betriebe einem ruinösen Mitbewerb aussetzen und damit zu Massenerwerbslosigkeit, und zwar schneller Massenerwerbslosigkeit, führen. Das wäre das Problem Nr. 1. Und was ich Ihrem Vorschlag vorwerfe — genauso wie dem Vorschlag der Bundesregierung zu einer schnellen Währungsunion — , das ist, daß Sie die Gesamtkosten einer schnellen Einführung der Währungsunion in 1990 — das sagen ja auch Sie — inklusive schneller Massenerwerbslosigkeit und Armut nicht kalkulieren. Sie scheuen die Angabe dieser Kosten genauso wie die Bundesregierung. Ich finde Sie insofern unsolide, als Sie der Bundesregierung und gerade noch Herrn Waigel — mit Recht — vorwerfen, die Gesamtkosten bis zu den Bundestagswahlen — aus gutem Grunde — zu verschleiern. Sie betreiben das gleiche Spiel, Frau Matthäus-Maier.
Hauptsache für die Bundesregierung: Die D-Mark, das Machtsymbol des bundesdeutschen Kapitals, erweitert ihre Einflußsphäre.
Wie die Fahne der Sieger soll sie im besiegten Land eingerammt werden. Dies ist der tiefere Sinn der schnellen Währungsunion. Frau Matthäus-Maier, es bleibt Ihr zweifelhaftes Verdienst, dieser Politik der Bundesregierung das Stichwort „schnelle Währungsunion" gegeben zu haben.Die Soforthilfemaßnahmen der Bundesregierung betragen nach dem Entwurf des Nachtragshaushalts ca. 5 Milliarden DM, angesichts des dringenden und absehbaren Handlungsbedarfs ein Almosen, aber keine solidarische Hilfe. Wir GRÜNEN unterstützen die Erwartungen des Runden Tisches in der DDR nach einem Solidarbeitrag der Bundesrepublik in der Größenordnung von zehn bis fünfzehn Milliarden DM.
Selbst dieser Betrag ist bescheiden angesetzt und reicht bei weitem nicht aus, die Lebensverhältnisse der Menschen in der DDR schnell zu verbessern und die Menschen zu bewegen, in der DDR wohnen zu bleiben.Ein Abgeordneter der CDU hat es gestern im Wirtschaftsausschuß auf den Punkt gebracht. Soforthilfe, so sagte er, würde das stalinistisch-kommunistische System in der DDR stärken. Also wird sie in wirksamem Umfang verweigert. Die Bundesregierung betreibt damit faktisch eine Destabilisierung der Lebensverhältnisse in der DDR. Das Land wird bis zur politischen Wehrlosigkeit ökonomisch ausgetrocknet und für den Anschluß reif gemacht.
Wir GRÜNEN verlangen und fordern demgegenüber ein Soforthilfeprogramm 1990 für die DDR, um die Lebensverhältnisse der Menschen dort sofort nachhaltig zu verbessern. Dieses Programm, das wir vorschlagen, zielt auf konkrete Maßnahmen, Projektmaßnahmen, nicht pauschale Finanzüberweisungen, konkrete Projekte zur wirtschaftlichen und währungspolitischen Stabilisierung, zur ökologischen Stabilisierung und zur sozialen Sicherheit in der DDR. Unser Soforthilfeprogramm für 1990 hat einen Gesamtmittelumfang von 30 Milliarden Mark.
Frau Matthäus-Maier, wir scheuen uns nicht, die Gesamtkosten des deutsch-deutschen Zusammenwachsens anzugeben. 30 Milliarden Mark, das ist der sechsfache Betrag dessen, was die Bundesregierung im Nachtragshaushalt angibt; aber die Dimension unseres Soforthilfeprogramms ist den realen Kosten an-
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15140 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990
Stratmanngemessen, die noch in diesem Jahr auf den deutschdeutschen Einigungsprozeß zukommen.
Wir GRÜNEN fordern statt einer überstürzten Währungsunion eine schrittweise Konvertierbarkeit der DDR-Mark. Dafür wollen wir einen Devisenfonds in Höhe von 17 Milliarden Mark einrichten, um einen Kurs der DDR-Mark im Verhältnis 1 : 3 zu stützen. Dieser Devisenfonds soll in erster Linie DDR-Betrieben helfen — Herr Haussmann, da geb' ich Ihnen recht — und erst in zweiter Linie finanziell in geringerem Umfange auch privaten Haushalten, um die Waren einkaufen zu können, die sie dringend brauchen, auch im Gesundheitsbereich, die sie aber nur gegen Devisen bekommen. Ich kann aus Zeitgründen unser Konzept, was die Maßnahmen betrifft, nicht weiter vortragen. Wir GRÜNEN haben — —
— Lesen Sie unseren Antrag, den wir zur Verfassunggebenden Versammlung und Volksabstimmung heute eingebracht haben. Da können Sie eine klare Antwort auf die Frage finden.Letzter Gesichtspunkt: Wie finanzieren wir im Jahre 1990 ein Soforthilfeprogramm von 30 Milliarden DM? Unser Vorschlag — Frau Matthäus-Maier, Konsens im Ansatz — : 10 Milliarden DM Kürzung im Rüstungshaushalt in diesem Jahr, weiter 9 Milliarden DM Solidarbeitrag für Bezieher von höheren Einkommen und Vermögensbesitzer. Allein die Vermögenswerte in der BRD haben im Jahre 1989 um 180 Milliarden DM zugenommen.
Gegenüber diesen 180 Milliarden DM Vermögenszuwachs nimmt sich unser Soforthilfeprogramm in einer Größenordnung von 30 Milliarden DM recht bescheiden aus.Darüber hinaus schlagen wir die volle steuerliche Erfassung der Kapitaleinkünfte mittels Kontrollmitteilungen vor und die Verwendung des Bundesbankgewinns in der Größenordnung von 4 Milliarden DM. Dadurch können wir die Dimension eines Soforthilfeprogrammes von 30 Milliarden DM solide und sofort finanzieren und statt überstürzter Währungsunion sofort einen Beitrag zur Verbesserung der Lebensverhältnisse in der DDR leisten und damit auch eine Motivation schaffen, in der DDR wohnen zu bleiben.Letzter Satz: Wer heute nicht bereit ist, enorme Anstrengungen, auch finanzieller Art, für die Menschen in der DDR aufzubringen, wird morgen in doppelter Höhe und mehr diese finanziellen Aufwendungen tragen müssen.Danke schön.
Meine Damen und Herren, wir sind in einer schwierigen Situation. Es wurden vier Stunden Redezeit angekündigt, und gleichzeitig wurde bekanntgegeben, daß die letzte halbe Stunde für die freie Aussprache zur Verfügung stehen sollte,
d. h. für die nicht von den Fraktionen gemeldeten Abgeordneten. Nun haben die Fraktionen aber die vier Stunden voll verteilt, so daß wir die Redezeit ausgeschöpft haben.
Wenn wir jetzt nach 13 Uhr noch eine halbe Stunde Aussprache für die durchführen wollen, die sich außerhalb des Fraktionskontingents gemeldet haben, dann müßte das jetzt vom Plenum beschlossen werden.
— Sie kommen schon noch dran. Jetzt bin ich in der Abstimmung.
Wer also dafür ist, daß diese Aussprache eine halbe Stunde länger, als ursprünglich vereinbart, durchgeführt werden soll, den bitte ich um ein Handzeichen.
— Gegenprobe! — Enthaltungen? — Eine Enthaltung. Das erste war die Mehrheit.
Die Aussprache ist also um 30 Minuten für die freie Aussprache außerhalb des Fraktionskontingents verlängert.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dreßler, und zwar noch im Rahmen der regulären Aussprache.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer die Auslassungen des Bundeskanzlers innerhalb, vor allem aber außerhalb des Bundestages zu Fragen der aktuellen Deutschlandpolitik verfolgt, dem fällt auf, daß er dabei auffallend häufig auf die Bewertung „historisch" zurückgreift. Diese Bewertung verdient, denke ich, zunächst einmal die so überzeugend friedfertige, aber kraftvoll durchgeführte Art der Revolution, mit der sich die Menschen in der DDR die Freiheit erkämpft haben. Dies war, denke ich, historisch. Ob allerdings die Deutschlandpolitik der Bundesregierung dieses Prädikat verdient, ob sie der historischen Chance gerecht wird, daran gibt es ernsthafte und berechtigte Zweifel.Die Einheit der Deutschen ist doch nichts Abstraktes. Sie soll den Menschen in Deutschland dienen, im wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, finanziellen und vor allem im sozialen Bereich. Und deshalb wollen wir die Wirtschafts-, die Währungs- und die Sozialunion.Der Bundeskanzler und seine Minister verbreiten seit Monaten hehre Worte über die deutsche Einheit, aber sie verweigern auch heute wieder die Auskunft darüber, was sie konkret dafür tun wollen.
Wer fragt, welche konkreten Maßnahmen die Bundesregierung ergreifen will, um diese unterschiedliche Wirtschafts- und Sozialsystematik der beiden deutschen Staaten und damit die dort lebenden Menschen zueinanderzubringen, der erntet entweder ungnädige oder nichtssagende Antworten.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990 15141
DreßlerMeine Damen und Herren, der ob seiner erbarmungslosen Formulierungskunst bekannte Bundeskanzler
pflegt Fragesteller mit der Stereotype abzukanzeln: Dies ist nicht die Stunde. Ich denke, das ist ein kapitaler Irrtum: Dies ist die Stunde!
Dies ist die Stunde, den Menschen in beiden deutschen Staaten zu sagen, wie sich die Bundesregierung den Weg zur Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion konkret vorstellt. Dies ist die Stunde, den Menschen in der DDR durch konkrete Vorschläge Hoffnung und Perspektive zu vermitteln. Dies ist auch die Stunde, in der DDR und in der Bundesrepublik die Angst davor zu nehmen, die sozialen Belange könnten bei der Vereinigung unter die Räder kommen. Dies ist die Stunde, den Menschen in der Bundesrepublik, die doch die Einheit wollen, reinen Wein einzuschenken und zu sagen, welchen Preis diese Einheit für uns hat.Aber dazu brauchen wir Klarheit. Dazu müssen die Zahlen auf den Tisch, mit denen die Bundesregierung rechnet und von denen sie ausgeht.Ich habe die Atmosphäre und die Begleitumstände, unter denen die Gespräche und Verhandlungen mit Ministerpräsident Modrow und seiner Delegation stattfanden, als bedrückend empfunden.
Der historischen Herausforderung, vor der wir stehen, sind sie wirklich nicht gerecht geworden.
Meine Damen und Herren, Herr Modrow hat zwar keine demokratische Legitimation, aber hat er deswegen unrecht, wenn er sagt, die Menschen in der DDR hätten etwas in das gemeinsame Deutschland einzubringen?
Die Menschen in der DDR mußten 40 Jahre hart arbeiten. Man hat sie um die Früchte ihrer Arbeit betrogen, Aber gleichwohl haben sie doch Achtung vor ihrer Lebensleistung verdient.
Entspricht es etwa dem Respekt vor diesen Menschen, wenn die Bundesregierung mit ihrem Verhalten den Eindruck vermittelt, sie sollten vereinnahmt, ihnen sollte jede Chance auf einen eigenen Beitrag für das gemeinsame Deutschland genommen werden?
Glaubt der Bundeskanzler wirklich, er werde seine] historischen Aufgabe gerecht, wenn seine Regierung und seine Berater die DDR sturmreif, anschlußreif reden?
Ich sage Ihnen: Politische Borniertheit ist keine tragfähige Grundlage für den deutschen Einigungsprozeß.
Daß SED-Politiker das nicht begreifen, kann ich ja noch nachvollziehen, aber daß die Bundesregierung das nicht kapiert, empfinde ich in der Tat als bestürzend.Verlautbarungen zufolge soll ja auch der Bundesarbeitsminister an den Verhandlungen mit der DDR-Regierung teilgenommen haben. Die Fernsehbilder scheinen das zu bestätigen. Aber seine Teilnahme scheint sich auf rein physische Anwesenheit beschränkt zu haben. Substantielle Äußerungen oder Vorschläge über den Aufbau der deutsch-deutschen Sozialunion fehlen. Schweigen im Walde, wo der Arbeitsminister konkret werden müßte.Es ist Ihnen doch wohl klar, daß die soziale Einbettung des deutschen Einigungsprozesses entscheidende Voraussetzung für sein Gelingen und für seine Akzeptanz bei den Menschen hüben und drüben ist.
Ihre politische Drückebergerei in dieser Frage ist letztlich unverantwortlich.
Die Arbeitnehmer in der Bundesrepublik befürchten, daß ihnen die Last aufgebürdet wird, die Renten in der DDR zu sanieren. Sie müssen nun einmal langsam erklären, ob diese Befürchtung berechtigt ist.
Gleichwohl redet die Bundesregierung ungerührt davon, daß sie Steuersenkungen für Unternehmer in Milliardenhöhe weiterhin für notwendig hält.
Kann das ein Bundesarbeitsminister in dieser Situation eigentlich verantworten?
Reaktion: keine.
Man fragt sich, ob der Arbeitsminister begriffen hat, daß eine umfangreiche, langfristig angelegte und schrittweise zu vollziehende gesamtdeutsche Rentenreform notwendig ist. Alle Fragen bleiben unbeantwortet. Hat die Regierung eine Vorstellung davon, wie ein gesamtdeutsches Rentensystem einmal aussehen könnte? Will die Regierung unser Rentensystem der DDR einfach überstülpen, oder will sie eine Kombination aus Elementen beider Systeme? Welche Elemente will die Regierung aus der Rentenversicherung der Bundesrepublik übernehmen und welche aus der der DDR? Ist der Bundesregierung klar, daß die Renten in der DDR mit finanzieller Hilfe der Bundesrepublik, d. h. mit Steuermitteln, gestützt werden müssen?
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15142 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990
DreßlerWill die Bundesregierung der Bevölkerung der Bundesrepublik nicht endlich klarmachen, was das kostet und wer das bezahlen soll? Hat die Bundesregierung eine Vorstellung, wie man in der DDR eine beitragsbezogene Lebensstandardsicherung für das Alter einführen könnte? Wie stellt sich die Bundesregierung die Zukunft der Mindestrenten in der DDR vor? Will die Bundesregierung mit der Übertragung unseres Rentensystems dort erstmals massenhafte Altersarmut einführen?
Oder wird die Bundesregierung so viel soziale Rücksichtnahme walten lassen, daß das dortige Mindestrentensystem erhalten bleibt?Hält es die Bundesregierung noch für vertretbar, daß die Bundesrepublik weiterhin Renten nach Feuerland oder Singapur überweist, aber nicht in die DDR? Was soll aus dem Fremdrentengesetz werden? Will die Bundesregierung es beibehalten, oder sollen die Übersiedler ihre Rentenansprüche, die sie in der DDR erworben haben, in die Bundesrepublik gezahlt bekommen? Wie steht es mit dem rentenrechtlichen Regelungsaspekt für die Aussiedler aus den anderen osteuropäischen Ländern?Fragen über Fragen, die vom Arbeitsminister beantwortet werden müssen. Sie müssen durch ihn beantwortet werden; er ist nämlich der Arbeitsminister; er trägt die politische Verantwortung. Deshalb sage ich Ihnen, ob Ihnen das schmeckt oder nicht: Herr Blüm sollte weniger Karnevalsplakate kleben, sondern seine verfassungsmäßige Pflicht erfüllen, meine Damen und Herren.
Die Leistungsfähigkeit des DDR-Gesundheitswesens ist ernsthaft bedroht. Selbst der Außenminister hat das hier in eindrucksvollen Worten vor dem Deutschen Bundestag dargelegt. Zusätzlich zur dringend notwendigen stabilisierenden Soforthilfe muß doch die Frage beantwortet werden, wie das Gesundheitswesen in beiden deutschen Staaten aneinander angeglichen und zusammengeführt werden kann.Wie stehen Sie zum Prinzip der integrierten Sozialversicherung in der DDR, das auf die Trennung der Sparten in Renten-, Kranken- und Unfallversicherung verzichtet?
Wollen Sie statt dessen unser System exportieren?Wie sieht das gemeinsame Krankenversicherungssystem der Zukunft aus? Will die Bundesregierung etwa zu den 1 163 Krankenkassen in unserem Lande jetzt noch weitere 600 oder 700 in der DDR ergänzen? Will sie also den bundesdeutschen Unsinn auch noch exportieren? Kann nach Auffassung der Bundesregierung die ambulante Versorgung in der DDR durch Polykliniken und Ambulatorien bestehenbleiben, oder will die Bundesregierung dieses System beseitigen?Das ist nur eine Auswahl von Fragen. Aber auch hier erfolgt von der Bundesregierung noch nicht einmal die Andeutung einer Antwort.Wir haben nun im Laufe der Jahre viele Sprüche von der politischen Leitung des Arbeitsministeriums gehört. Daß sie originell waren, ist schon lange her. Nur ein jüngstes Beispiel: In einem Gespräch mit dem „Handelsblatt" hat der Bundesarbeitsminister Anfang dieser Woche wörtlich erklärt — ich zitiere — : „Wir machen jetzt sofort den Sozialstaat Deutschland." Jetzt? Sofort? Sozialstaat? Wie soll er denn aussehen?Das einzig Konkrete, was Herrn Blüm bisher eingefallen ist, heißt Finanzierung der Arbeitslosigkeit in der DDR mit einer Stützung von 2 bis 3 Milliarden DM. Ich frage: Wo ist denn eigentlich die entsprechende Summe im Nachtragshaushalt des Herrn Waigel? Da gehörte sie doch hin. Wie wollen Sie diese Aufwendungen eigentlich finanzieren? Wollen Sie diese Summen den Beitragszahlern aufbrummen? Bei der Lastenverschiebung von Bonn nach Nürnberg haben Sie ja reichhaltige Erfahrungen.Herrn Blüm fällt gerade noch ein, daß es sich ja auch noch um die Komplexe Umschulung, Weiterbildung und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen handeln könnte. Aber das war es dann schon. Keine einzige Angabe über die notwendige Größenordnung oder wie diese Aufgabe zu finanzieren wäre. Herr Blüm und seine Kabinettskollegen sind im alten Denken verhaftet. Konservative Politik kalkuliert Massenarbeitslosigkeit einfach ein. So einfach ist das.Das Konzept der SPD sieht anders aus. Für uns heißt Arbeits- und Beschäftigungsförderung Schaffung von Arbeitsplätzen gerade auch mit dem Instrument der Umschulung und Fortbildung. Wir fordern eine aktive Arbeitsmarktpolitik statt Verwaltung von Arbeitslosigkeit, für die DDR wie für die Bundesrepublik.Herr Blüm hat es noch nicht einmal fertiggebracht, das Angebot der Arbeitgeber, bei Qualifizierungsmaßnahmen in der DDR zu helfen, anzunehmen. Um 100 000 vernünftige Umschulungs- und Weiterbildungsplätze in der DDR einzurichten — das wäre ein erster sinnvoller Schritt — , sind Sach- und Personalmittel im Umfang von 2,8 Milliarden DM erforderlich. Mit Qualifizierungsmaßnahmen könnten den Arbeitnehmern in der DDR die dringend notwendigen beruflichen Perspektiven eröffnet werden.Ich sage Ihnen: Alle, die die deutsch-deutschen Probleme zum Anlaß nehmen — wie am letzten Wochenende der engste Zirkel des Bundeskanzlers — , um ihr eigenes egoistisches Süppchen zu kochen, müssen endlich damit aufhören. Wer den Krisengewinner spielen will, der wird von seiner eigenen Politik eingeholt werden. Dessen bin ich mir absolut sicher.Die Deutschen hüben wie drüben haben eine bessere Politik verdient, als diese Bundesregierung sie heute anbietet. Die Bevölkerung ist enttäuscht, hier wie dort. Bei aller unterschiedlichen Auffassung hatte ich gehofft, wenn Bundeskanzler Kohl den Ministerpräsidenten der DDR und die Oppositionsvertreter nach Bonn einladen würde, sei diese Einladung eine Ermutigung für die Menschen in der DDR, sei diese Einladung das Signal für konkrete sofortige Hilfe. Um
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990 15143
Dreßlerso mehr teile ich die Enttäuschung mit den Menschen hier und in der DDR: Über die Behandlung eingeladener Gäste einerseits und über die Weigerung der Bundesregierung, ihren Verpflichtungen endlich nachzukommen, andererseits.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Beer.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich komme auf die leider abgebrochene Diskussion über den Geschäftsbereich des Äußeren zurück. Denn ich glaube, daß man die Reden von Bundeskanzler Kohl und Herrn Außenminister Genscher so nicht stehenlassen kann.
Die Bundesregierung hat heute wieder bewiesen, daß sie den Anschluß der DDR vorantreibt, ja, daß sie ihn um jeden Preis zu erzwingen bereit ist. Der Kanzler und seine Regierung demonstrieren fast täglich, daß die gute alte deutsche Großmannssucht auch vor dem zweiten deutschen Staat nicht haltmachen will und nicht haltmachen wird.
Politisch und ökonomisch erwartet die Bundesregierung von der DDR inzwischen die bedingungslose Kapitulation. Selbst der Schein von Gesprächen zwischen gleichberechtigten Staaten ist hier inzwischen aufgegeben worden.
Das weitverbreitete internationale Mißtrauen gegen die Vereinigung von BRD und DDR wird durch dieses offene Vorherrschaftsstreben in Bonn natürlich nicht geringer. Die Tatsache, daß die meisten Nachbarn inzwischen die Hoffnung aufgegeben haben, den Vereinigungs- und Vereinnahmungsprozeß durch ihre Bedenken noch verhindern oder wesentlich verlangsamen zu können, ändert nichts an der traurigen Erkenntnis, daß ein solcher Prozeß ganz Europa wesentlich beeinflussen, ja, erschüttern wird.
Um so mehr ist die Forderung Polens, an den Gesprächen mit den Siegermächten „zur Herstellung der Einheit beider deutscher Staaten" , wie es so schön heißt, teilzunehmen, mehr als berechtigt. Wir begrüßen das, und wir begrüßen auch die Forderung der Polen, daß die so vielgepriesene KSZE-Konferenz in Polen stattfindet.
Denn, Herr Genscher — er ist leider nicht mehr da — : Ich denke, man muß hier deutlich sagen: Zwei und vier, das Ergebnis von Ottawa, ist nicht fünf, sondern das ist sechs! Und die Regierung der Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch Herrn Kohl, hat am 13. Februar, vor wenigen Tagen, einen neuen Brandherd entfacht. Wer in einem Satz den 45. Jahrestag des Angriffs auf Dresden nennt und zugleich sagt, daß die Westgrenze Polens eine offene Frage ist, der stellt sehr bewußt die Sicherheit dieses Staates in Frage; das ist kein Ausrutscher.
Vor allem wirtschaftlich und friedenspolitisch sind die Auswirkungen des angestrebten Vereinnahmungsprozesses heute noch gar nicht abschätzbar.
Ich kann hier nur kurz den friedenspolitischen Bereich ansprechen.
Ein neues Großmacht-Deutschland würde sich gerade in einem historischen Moment bilden, in dem der Warschauer Vertrag faktisch bereits zerfallen ist. Eine glaubwürdige Bedrohung des Westens geht heute weder von der Sowjetunion noch von deren Verbündeten aus, womit die Frage noch nicht beantwortet ist, ob diese angebliche Bedrohung von dort in der Form jemals ausgegangen ist. Der Warschauer Vertrag ist militärisch also wirkungslos, während die NATO versucht, das neue Gesamtdeutschland schon einmal an sich zu binden und unter dem Mantel der Modernisierung zugleich eine qualitative Aufrüstungsrunde durchzusetzen. Gegen wen eigentlich?
Ein Verbleiben in der NATO unter diesen Bedingungen, nämlich der blinden Weiterrüstung, wäre friedenspolitisch äußerst bedenklich. „Die NATO", so Herr Wörner neulich wörtlich, sei „in einem durch den Wandel in Osteuropa destabilisierten Kontinent ein die Sicherheit garantierender Stabilitätsfaktor". Das kann doch nur heißen: ohne NATO keine Stabilität und keine Sicherheit. Das aber heißt: Ohne das westliche Bündnis zerfiele nicht nur der östliche Block, sondern auch die sogenannte westliche Wertegemeinschaft — ganz einfach wegen der ihr innewohnenden kapitalistischen Interessengegensätze. Oder sollte es gar heißen: Im Notfall, wenn die Destabilisierung im Osten zu weit gehen sollte, haben wir einen einsatzbereiten, starken militärischen Arm für den Fall des Falles als Rückversicherung? Das wäre noch schlimmer. Aber auch die Alternative, ein freies und unkontrolliertes Gesamtdeutschland, wäre nicht weniger friedensgefährdend.
Die wirtschaftliche Dominanz der Bundesrepublik über eine Reihe anderer Nachbarn ist ja bereits heute Bedrohung und Gefahr genug. In dieser Situation stehen aus friedenspolitischer Sicht nur zwei gangbare Wege offen: Entweder findet eine parallele Auflösung beider Paktsysteme, wobei die NATO bereits einen Nachholbedarf hat, und die Schaffung einer tatsächlich gesamteuropäischen Organisation gegenseitiger und kollektiver Sicherheit in Europa statt. Davon wird zwar viel gesprochen, aber es käme darauf an, dies umzusetzen. Oder aber: Nach dem faktischen Zerfall des Gegners Warschauer Pakt wäre die NATO auf eine Art umzugestalten, die sie von einem gegen den Osten gerichteten Militärblock zu einer die östlichen Länder umfassenden politischen Gemeinschaft machen würde, die dann alle Aspekte eines gegenseitigen kollektiven Sicherheitssytems umfassen würde.
Eine solche Entwicklung aber ist nur unter zwei Bedingungen denkbar, einmal der möglichst vollständigen Entmilitarisierung dieses europäischen Sicherheitssystems und zweitens dem Ausschluß der drohenden Gefahr, daß sich ein solches gemeinsames Sicherheitssystem, nachdem sich Ost und West nicht mehr gegenüberstehen, nun verstärkt aggressiv gegen die Länder der Dritten Welt richtet.
Frau Abgeordnete Beer, Sie haben die Redezeit überschritten.
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15144 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990
Ich komme gleich zum Ende.
Die Wendung der Aggressivität nach außen ist in der deutschen Geschichte eine Gefahr gewesen. Deutschland ist ein Sonderproblem. Das darf nicht noch einmal passieren.
Die Ansätze von WEU und EG sind genau das, was jetzt im Gegensatz zu unseren friedenspolitischen Vorstellungen verwirklicht wird. Diese Ansätze werden wir weiterhin bekämpfen.
Frau Abgeordnete Beer, bitte!
In der Opposition in der Bundesrepublik werden wir weiter für Entmilitarisierung eintreten, weiter für die Abschaffung der Blöcke, weil diese nicht mehr zu legitimieren sind. Wir werden in dieser Kampagne mit einer Demonstration am 5. Mai in Bonn oder woanders auch weiter gegen eine Großmachtpolitik eintreten, gegen die Instrumentalisierung — —
Frau Abgeordnete Beer, ich mahne Sie jetzt zum drittenmal. Ich bitte Sie, zum Ende zu kommen.
Ich schließe mit dem Zitat:
Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann.
Das soll sich die Bundesregierung hinter die Ohren schreiben.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wüppesahl.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es wird seitens der Bundesregierung so getan, als wenn mit dem Angebot einer Währungsunion ein großer Opfergang verbunden wäre. Es wird ein Opfergang auch für die Bürger der Bundesrepublik damit verbunden sein! Es wird aber der Geruch der Selbstlosigkeit damit verbunden. Und genau das ist unseriös.
Es gibt massive Bedenken, und zwar auf allen relevanten Feldern, die gesellschaftspolitisch für einen solch weitgehenden Schritt zu beachten sind. Ob rechtlich, ob finanz-, ob währungs- oder ob sozialpolitisch werden diese Bedenken plattgewalzt. Ich sage Ihnen: In sehr kurzer Zeit, vielleicht in einem Jahr, in zwei Jahren oder drei Jahren, wird sich ein entsprechender Katzenjammer als Zwischenergebnis einstellen.Es gibt also für jedes Feld massive Bedenken. So wird beispielsweise im Hause Blüm die Überlegung angestellt, daß für 50 DM Rentenerhöhung pro DDR-Bürger rund 3 Milliarden DM notwendig sind. Bei einer realistischen Anhebung von vielleicht 500 DM sind das schon 30 Milliarden DM. So können wir jedesFeld weiter durchgehen. Sie kommen auf phantastische Summen, die bei diesem Hauruck-Verfahren, mit dem Sie die Währungsunion herbeiführen werden, von uns allen aufgebracht werden müssen.Die Einverleibung der DDR in die Bundesrepublik — und ein anderes Szenario kann ich mir nach dem augenblicklichen Stand nicht mehr vorstellen — nach Art. 23 ist eine wirkliche Wildwest-Manier. Sie wissen, ich habe mich auch von dieser Stelle erklärt, daß ich dafür bin, eine Vereinigung zwischen der DDR und der Bundesrepublik herbeizuführen — aber nicht mit dieser Methodik, mit der völligen Beseitigung jeglicher Einflußmöglichkeiten der Menschen in der DDR auf den Ablauf dieses Vorganges.Es kann nicht angehen, daß die wichtigste Entscheidung der Bundesrepublik Deutschland in den letzten 40 Jahren in den Hinterzimmern irgendwelcher Ministerialbürokratien getroffen wird. Das ist der augenblickliche Sachstand. So wird vorgegangen.Natürlich sind sehr viele froh, daß die Mumie des Art. 23 Grundgesetz wiederbelebt worden ist. Nur, es gibt viel elegantere und auch demokratisch akzeptablere Vorgehensweisen, wie z. B. die einer verfassunggebenden Versammlung, wo wir auch Befruchtung durch die 40 Jahre DDR-Kultur erfahren könnten.Ich habe während der Bundespressekonferenz, die übertragen worden ist, eine wirtschaftspolitische Frage mit der dazugehörigen Antwort des Bundeskanzlers als sehr bezeichnend empfunden. Auch Herr Dreßler hat diese Konkretisierung im wirtschafts- und sozialpolitischen Bereich gefordert, die bis heute nicht auf dem Tisch liegt, sich nicht einmal in Konturen abzuzeichnen beginnt. Ein Journalist fragte: Wird das durch Steuererhöhungen und/oder Lastenausgleich finanziert werden? Nach längerem Ablenken kam zum Schluß der einzige Bezug zur Frage vom Bundeskanzler. Er sagte: „Im übrigen denke ich nicht an Steuererhöhungen." — Er denkt nicht daran. Was tatsächlich gemacht werden wird, ist klar: Es wird in der Bundesrepublik Steuererhöhungen geben.Auf den Lastenausgleich ist er gar nicht eingegangen. Den wird es in der Bundesrepublik ebenfalls geben. Er wird größtenteils bei den Kleinverdienern und den schlechtergestellten Gruppen in unserem Lande eingeworben werden.Es gibt — so war auch eine Einlassung des Bundeskanzlers — kein Papier zur Währungsunion. Es ist ohnehin im zwischenmenschlichen Umgang frech, aber auch völkerrechtlich zwischen zwei Staaten eine Brüskierung sondergleichen, daß man über die Presse mitteilt, daß man eine Währungsunion mit dem anderen Staat in der Planung hat. Es gibt deshalb kein Papier zur Währungsunion, weil es keine Daten dazu gibt. Es ist ein permanentes Sich-Herumdrücken um konkrete Ausführungen zu dem, was auch auf unsere Bürger und Bürgerinnen zukommen wird.Den bisherigen Situationsanalysen der Bundesregierung lag und liegt ein Denkfehler zugrunde: Diese Modelle waren stets nur Varianten ein und desselben Musters, einer Übernahme der DDR. Auf diesen Kernsatz läßt sich das bisher Geschehene und das, was nach der heutigen Ausführung zu erwarten ist, reduzieren.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990 15145
WüppesahlEs gibt viele Gesichtspunkte, die uns in der Bundesrepublik darüber nachdenken lassen sollten, wie wir die Chancen, die in einer Vereinigung der DDR und der Bundesrepublik stecken, für uns alle sinnvoller nutzen können. Wir haben einen Agrar- und Energiedirigismus mit Machtkonzentrationen in bestimmten Bereichen, die schon wieder in Konvergenz zu dem stehen, was wir so vehement verneinen, nämlich der Planungswirtschaft im Osten Europas. Wir haben ungerechte Einkommens- und Vermögensverhältnisse. Wir haben Dauerarbeitslosigkeit. Nun aber scheint dem anderen Teil Deutschlands ein bloßer Abklatsch der westlichen Zustände zu drohen. Das mag vielen genügen, wie wir heute gehört haben, mir jedenfalls nicht.Niemand kann dabei vorhersagen, wie lange es die Bevölkerung der DDR im Land noch aushält. Alles kommt jetzt darauf an, den Wahltermin zu erreichen. In der Zwischenzeit werden sich beide Seiten darauf einzustellen haben, daß die starke Wanderungsbewegung anhält. Ich wage die Prognose — ich führe auch Gespräche mit DDR-Bürgerinnen und -bürgern — : Nach dem Ablauf des Besuchs der Verhandlungskommission Modrow in der Bundesrepublik wird es einen Zuwachs an Übersiedlung aus der DDR geben.Bonn, die Bundesregierung hat es in der Hand — und sie läßt niemanden hineingucken oder gar mitwirken, aus den Oppositionsreihen schon gar nicht —, eine Situation zu vermeiden, in der die Bürger der DDR lieber gleich ins Wirtschaftswunderland flüchten, statt sich ihren Wohlstand selbst zu erarbeiten.Sie sind auch eine Antwort darauf schuldig geblieben, wie Sie nach Einführung der Währungsunion die dann in der DDR zu erwartenden 2 bis 3 Millionen Arbeitslosen davon abhalten wollen, in die Bundesrepublik überzusiedeln. Es gibt viele massive und ganz handfeste Gründe, eine solche Annahme zu prognostizieren.
Der von der Bundesregierung und auch von der SPD-Opposition geforderte kurze Währungsprozeß — ich habe gesagt: im Hauruck-Verfahren —, der im Klartext auf einen Anschluß hinausläuft — dazu habe ich formuliert, daß es sich um Wildwest-Methoden handelt — , mutet der Ostberliner Regierung die Selbstaufgabe auf einem der elementarsten Gebiete staatlicher Souveränität zu.
Denn wenn die Frankfurter Währungshüter erst das Geldwesen in der DDR beherrschen, muß die dortige Administration umgehend auf ihre Kompetenzen in der Wirtschafts- — ja, Sie nicken auch —,
Finanz-, Sozial-, Steuer- und Rechtspolitik,
wahrscheinlich sogar auf eine eigenständige Innenpolitik insgesamt verzichten.
Die Frage nach ihrer Existenzberechtigung drängt sich dann natürlich von selber auf. Sie sind es schuldig, in diesem Zusammenhang die Frage nach einer Alternative zur baldigen Währungsunion zu benennen, weil auch die Währungsunion nicht die Übersiedlerströme stoppen wird,
jedenfalls nicht in kurzer Zeit. — Sie wissen doch, daß Sie gegen eine ganz breite Front von Sachverständigen in all diesen gesellschaftspolitischen Feldern stehen,
gegen den Rat der fünf Sachverständigen.
Das können wir heute nachlesen. Warum tun Sie das? Weil Sie tatsächlich die DDR in diesem Sinne sturmreif schießen.Genau so haben Sie auch die DDR-Delegation in Bonn behandelt. Ich meine ausdrücklich die Bundesregierung. Ich weiß, daß viele in den Fraktionen von FDP, CDU und CSU das etwas differenzierter sehen, als die Zwischenrufe es mutmaßen lassen.Bezeichnend fand ich noch folgenden Satz des Bundeskanzlers in seiner Regierungserklärung. Es war eine der wenigen Abweichungen von seinem Manuskript. Wir haben ja eigentlich die Regel der freien Rede. Bei dieser Vorlesung des Bundeskanzlers sagte er, daß er sich bei der Sicherung der Arbeitnehmerrechte vor niemandem als CDU-Vorsitzender verstekken müsse.
— Sie sagen auch noch: „Richtig! " Ein Bundeskanzler gibt in seiner Eigenschaft als Kanzler eine Regierungserklärung ab und erklärt sich als Parteivorsitzender. Auch das zeigt doch, in welche Richtung wir in der deutsch-deutschen Diskussion gelaufen sind. Es findet massive Parteipolitik vor dem Hintergrund der anstehenden Wahlen sowohl drüben wie auch hier statt.Bislang — das ist noch eine der wenigen deutschdeutschen Auffälligkeiten — wird von der Bundesregierung die Frage nicht beantwortet, wie sie den Preis der Vereinigung zu zahlen gedenkt. Es wäre an der Zeit, die Menschen mit den finanziellen Größenordnungen des Vereinigungsprojekts vertraut zu machen und zu sagen, woher denn die Milliarden kommen sollen. Es wäre mehr als ein Akt der Höflichkeit, würde man dem geneigten Bürger solche Informationen noch vor der Bundestagswahl geben.Was wir bei dem Besuch der DDR-Delegation erlebt haben, war keine brüderliche und schwesterliche Stimmung, die an diesen zwei Tagen Bonn beherrschte, sondern eine der Unterwerfung. Die Forderungen der Gäste wurden nur milde belächelt. Der Kanzler
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15146 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990
Wüppesahlhielt es nicht einmal für nötig, Modrow ein Papier über die Währungsunion zu überreichen. Mündliche Unterrichtung, und damit basta.Die Gelassenheit ist zu bewundern, mit der Modrow und die anderen die bräsige Arroganz der reichen Vettern ertragen haben. Ich denke, daß bei der Fortsetzung des eingeschrittenen Weges sowohl vom Stil wie auch vom Inhalt in der DDR die Stimmen und Kräfte zunehmen werden, die sich den baldigen Anschluß an die Bundesrepublik verkneifen werden, um noch gewisse Interessen der DDR-Bevölkerung retten zu können.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, wir treten jetzt in die freie halbe Stunde ein.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Glos.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vorhin ist ein Plakat zitiert worden, das im anderen Teil unseres Vaterlandes auf Demonstrationen getragen wird. Wenn bei uns im Lande das Geld demonstrieren könnte, wenn die D-Mark, die Dollars und die Yen eine Demonstration machen könnten, würde sicher auf den Plakaten stehen: Bei den Marktwirtschaftlern bleiben wir, kommen Sozialisten, gehen wir.
Anlagemöglichkeiten für gutes Geld gibt es in der Welt genug, und es gibt andere Gebiete mit großen Wachstumsmöglichkeiten. Wir sind uns doch insofern einig, daß wir wollen, daß privates Geld investiert wird.
Wenn wir das wollen, dann dürfen wir keinen Klassenkampf machen, sondern müssen den Investoren die Sicherheit geben, daß es künftig in einem vereinten Deutschland mit Marktwirtschaft weitergeht.
Wir wollen die Menschen bewegen, in der DDR zu bleiben. Da finde ich es angesichts des Ernstes der Lage unangebracht, daß bei uns wieder die klassenkämpferische Klamottenkiste geöffnet wird.
Hier fällt mir als erstes Herr Momper ein, der die Ergänzungsabgabe gefordert hat. Er hat heute hier behauptet, unsere Steuerpolitik sei unsozial, und sie würde falsche Akzente setzen. Ich würde Herrn Mom-per empfehlen, er soll doch einmal darüber nachdenken, ob jetzt die Lohn-, Einkommen- und Körperschaftsteuerpräferenz in Höhe von immerhin einem Drittel für Berlin auch noch für die Zukunft nötig ist. Dann wären nämlich Mittel da, die man umschichten könnte. Diese Präferenz zieht sich ja quer durch alle Einkommensschichten.Die Ergänzungsabgabe könnte die Probleme nicht lösen. Sie könnte nur Investoren abschrecken. Wen wollen Sie denn belasten? Wollen Sie die Leute belasten, von denen man gleichzeitig die Investitionen fordert, von denen man sie erwartet?
— Die Ergänzungsabgabe, Frau Kollegin, ist aus Ihren Reihen gefordert worden. Herr Momper hat heute hier geredet. Er hat sich nicht davon distanziert. Er hätte Gelegenheit gehabt, sich davon zu distanzieren. Das hat er nicht getan!
Sie haben heute für sich reklamiert, die Währungsunion erfunden zu haben. Richtig ist: Sie haben gefordert, zuerst einen festen Wechselkurs zwischen der D-Mark und der Mark in der DDR herzustellen. Das hätte nicht zum Erfolg führen können,
weil dann die Notenpresse der DDR hätte weiterlaufen können. Insofern besteht ein großer Unterschied zwischen Ihrem ersten Angebot und dem, was die Bundesregierung jetzt vorgeschlagen hat.
Wir brauchen private Investitionen in der DDR. Dazu brauchen wir auch steuerliche Rahmenbedingungen, die dieses private Investieren ermöglichen. Deswegen müssen wir auch mit unserer Steuerpolitik fortfahren.Herr Roth hat unlängst auf einer öffentlichen Veranstaltung gesagt — ich zitiere — : „Die Unternehmer bei uns im Land, die jetzt noch eine Unternehmensteuerreform fordern, sind vaterlandslose Gesellen."
Das hat er wörtlich gesagt. Ich habe ihn gebeten, das noch einmal zu wiederholen. Er hat das getan.
Hier geht es nicht darum, irgendwelchen Reichen Steuergeschenke hinzuschieben, sondern darum, daß wir bei uns im Land und im vereinten Deutschland ein Wirtschaftsklima erhalten und bei einer Steuerpolitik bleiben, die der Privatinitiative breiten Raum geben.
Auch wenn Deutschland wiedervereinigt wird — das wollen wir alle selbstverständlich — , kommt der europäische Binnenmarkt. Darauf müssen wir unsere Steuerpolitik einrichten. Wie groß die Spielräume bei einer Unternehmensteuerreform dann, 1992/93, sein werden, weiß niemand genau.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990 15147
Vielmehr bietet diese freie Runde die Chance, etwas an Fairneß und an Nachdenklichkeit nachzutragen, was heute morgen gefehlt hat.Ich möchte deshalb zuerst etwas zu einer Bemerkung des Bundeskanzlers in Richtung GRÜNE sagen. Was den parteipolemischen Teil der Regierungserklärung betrifft, so hat die SPD-Fraktion mehr Zeit als die Fraktion der GRÜNEN, sich dagegen zu verwahren. Deshalb möchte ich für die GRÜNEN sagen
— vielleicht ist das ja auch glaubwürdiger, als wenn man nur immer für sich spricht — : Es bestand heute morgen kein Anlaß, die GRÜNEN in der deutschlandpolitischen Debatte zu attackieren;
denn in Fragen der Menschenrechte und in Fragen des Umweltschutzes haben die GRÜNEN in den 80er Jahren für die Opposition in der DDR Tapferes geleistet. Das muß man anerkennen.
Ich möchte zwei Gedanken nachtragen. Der eine hat mit dem Begriff Nation, der andere mit dem Begriff Vaterland zu tun. Für mich als Sozialdemokrat rangiert vor der Einheit die Freiheit.
Jetzt ist die Freiheit gewonnen, und die Einheit ist möglich geworden. Vor der Einheit rangiert die Einigung, und vor der Einigung kommt das Einig-Sein. Das hat etwas mit unserer Aufgabe zu tun, den Geist des Plebiszits des Alltags weiterzutragen, der dieTage nach dem 9. November 1989, das Fest des Wiedersehens zwischen den Deutschen, bestimmt hat. Das tägliche Plebiszit — das ist die Nation.Carlo Schmid hat in seiner letzten großen Rede 1972 zu den Ostverträgen hier gesagt:Was die Deutschen veranlaßt, mehr als eine Bevölkerung, als ein Volk zu sein, nämlich Nation, ist der gemeinsame Wille aller, die Freiheit zum Grundgesetz der Existenz des Ganzen und des einzelnen zu machen,
die Mitmenschlichkeit, Brüderlichkeit genannt, als die Grundlage der Moral zu betrachten, nach der wir uns in unserem Volke verhalten und anderen gegenüber verhalten wollen.Zu dieser Nation müssen auch diejenigen gehören, die als Kinder derer bei uns geboren sind, die als Arbeitskräfte gerufen wurden: aus der Türkei in die Bundesrepublik und aus Vietnam in die DDR.
Zu dieser Nation müssen auch diejenigen gehören, die bei uns Zuflucht vor politischer Verfolgung gefunden haben und noch nicht wieder in ihre Heimat zurückkehren können.
Wenn wir „Nation" in diesem Sinne begreifen können, schaffen wir eine Nation ohne Nationalismus.Beim Stichwort Vaterland bekomme ich manchmal wirklich einen kleinen Stich; denn mein Vater ist in Pommern geboren, und Pommern ist verloren. Pommern ist jetzt polnisch und bleibt polnisch.
Übrigens: Zu meinem Vaterland gehört natürlich auch der Philosoph, der preußische, der deutsche, der europäische Philosoph Immanuel Kant, der in Königsberg gelehrt hat, das zum Land meines Vaters gehörte. Aber Königsberg ist territorial verloren und ist russisch.
Es ist gut, wenn wir unserem Volk vermitteln: Es ist nicht verloren, was einst einmal Vaterland war, weil wir den Krieg verloren haben, sondern es ist verloren, weil wir den Krieg begonnen haben.
Wenn wir jetzt die deutsche Einigung voranbringen, dürfen wir das nie vergessen. Wir müssen ein Deutschland schaffen, vor dem niemand Angst zu haben braucht, außen nicht und auch innen nicht. Wir müssen ein Deutschland schaffen, das sozial ist, das ökologisch ist, das friedlich ist. Es wäre gut, wenn unsere Debatten ein bißchen mehr von der Vision des
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15148 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990
Ganselneu entstehenden, sich einigenden Deutschland bestimmt würden.
Wir müssen uns klarmachen, daß es dabei eigentlich nicht so sehr um den Begriff Vaterland geht. Er weist ja in die Vergangenheit. Ich bin in der Bundesrepublik aufgewachsen. Dies ist mein Land. Jetzt entsteht ein neuer Staat.
Wir werden ihn noch mit prägen können, aber es wird vor allen Dingen das Land unserer Kinder werden. Nun ist der Begriff Kinderland vielleicht ein bißchen naiv oder kindlich.
Es täte aber gut, wenn wir bei dem, was jetzt entsteht, was groß, stark und mächtig sein wird, dafür sorgten, zu vermitteln, daß es auch freundlich, friedlich und sozial sein muß, daß es das Deutschland in einer Welt für unsere Kinder sein muß.Vielen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Hamm-Brücher.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Ich habe der Debatte vier Stunden lang aufmerksam zugehört und möchte auch noch einen kleinen Nachgedanken hinterherschikken, weil all das, was wir — zum Teil sehr strittig — debattiert haben, zwar hochaktuell ist; aber ich fand es deshalb doch nicht so fruchtbar, weil mir die Fronten viel zu verhärtet waren. Wir sind das hier gewöhnt, und wir sind auch sehr abgehärtet, aber diese Art, wie wir heute über den Weg zur Einheit verhandelt haben, geht, glaube ich, über die Köpfe und vor allem über die Herzen sehr, sehr vieler Landsleute in der DDR schlicht hinweg.
Ich möchte — das ist der eigentliche Anlaß meiner Rede — etwas über die Befindlichkeit der Landsleute in der DDR, die ich seit vielen, vielen Jahren aus der Kirchentagsarbeit kenne, sagen. Diese Kirchentagsarbeit habe ich kontinuierlich zusammen mit Richard von Weizsäcker und Erhard Eppler geleistet, seit wir überhaupt zu Kirchentagen herübergehen durften. Es war für mich das größte menschliche Erlebnis und eine große Ermutigung, daß die Deutschen dort drüben in ihrer Not und gelegentlichen Hoffnungslosigkeit so zusammengehalten und ihre Identität bewahrt haben. An diese Menschen denke ich jetzt sehr, wenn wir, unsere politischen Parteien, ausschwärmen und dort wie gewohnt um Marktanteile für die nächsten Wahlen ringen. Ich persönlich scheue mich, unseren Wahlkampf dort drüben vor Menschen zu veranstalten, die über all dem, was da über sie hereinbricht, so unsicher, so ratlos sind und sich so verloren vorkommen. Darum würde ich mir wünschen, daß wir trotz aller drängenden wirtschaftlichen und finanzpolitisch notwendigen Entscheidungen Menschen nicht unentwegt so jagen, vorandrängen, sondern ihnen mehr Zeit lassen, zu sich zu finden.
Die Identität in der wirklichen Opposition dort drüben erinnert mich sehr an die Identität des Widerstands im Dritten Reich. Wir haben auch das jahrelang völlig ignoriert und beiseite geschoben. Heute ist es wieder schick, bei solchen Gedenktagen ein paar tränenerstickte Worte dazu zu sagen. Ich sage Ihnen: Die beste Identität, die die DDR zu bewahren und einzubringen hat und von der wir lernen können, sind die Menschen, die diese 40 Jahre mit unglaublich viel Tapferkeit, Mut und aufrechtem Gang durchgehalten haben.
Auch diese Befindlichkeit wollte ich in unserem Parlament einmal zur Sprache bringen.
Noch etwas, liebe Kolleginnen und Kollegen, da ich gerade aus dem Kommunalwahlkampf in Bayern komme: Nicht nur unsere Landsleute in der DDR brauchen etwas mehr Zeit, zur Besinnung zu kommen, sich überhaupt erst einmal zu orientieren und herauszufinden, was sie politisch künftig eigentlich wollen. Auch unsere Bürger brauchen es. Ich habe in politischen Veranstaltungen auch bei unseren Bürgerinnen und Bürgern selten soviel Unruhe und Unsicherheit gespürt. Auch da braucht es noch eine Menge Überzeugungsarbeit, um unsere Bürger darauf vorzubereiten, daß es nicht immer nur Freudenfeiern am Brandenburger Tor sein werden, die vor uns stehen.
Deshalb meine ich, wir sollten die notwendige wirtschaftliche und währungspolitische Veränderung vorantreiben, sollten aber den politischen Einigungsprozeß keinesfalls überstürzen, wie das jetzt pausenlos verlangt wird. Meine Damen und Herren, auch wir müssen uns überlegen, was sich an unserem Grundgesetz bewährt hat und was wir vielleicht an unserer politischen Kultur einmal ändern müssen, wenn wir die Chance des Neubeginns haben. Wir haben diese Chance. Das ist nicht einfach Fortschreiben von 40 Jahren unserer Demokratie, sondern auch für uns Besinnung, Nachdenken und eine Herausforderung, was wir vielleicht doch noch ein bißchen besser machen, damit wir die junge Generation für unsere Demokratie gewinnen. Daß sie unserem Treiben hier sehr skeptisch gegenübersteht, weiß jeder von uns, der mit jungen Menschen diskutiert. Also jagen und drängen auch wir nicht, sondern nutzen wir diese Chance zusammen mit den Menschen drüben, die für mich in vieler Hinsicht auch zum Vorbild für das künftige demokratische Deutschland geworden sind.
Vielen Dank.
Herr Kollege Briefs, ich habe Ihnen eben eine Zwischenfrage verwehrt. Ich möchte hinzufügen, wir sind noch in der Prüfungs-und Erprobungsphase unserer jetzigen Zusatzdebatten. Ich habe mich entschlossen, die Fünfminutenreden nicht auch noch durch Zulassung von Zwischenfragen zu unterbrechen, und zwar nicht nur aus Zeit-
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Vizepräsident Westphalgründen, die auch geltend gemacht werden können, sondern weil die Fünfminutenbeiträge schon ein Belebungsfaktor sind. Aber, wie gesagt, am Ende der Erprobungsphase steht dann noch einmal zur Debatte, ob wir eine andere Regel finden.Der nächste Redner ist der Abgeordnete Häfner.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist in dieser großen Debatte, nicht jetzt am Ende in dieser offenen Runde, sondern vorher, viel parteipolitisch aufeinander eingehackt worden, was mich angesichts der Situation und des Themas eher traurig gestimmt hat. Man merkt, daß Wahlkampf ist. Aber ich frage mich, ob es nicht auch in diesem Hause manchmal Wichtigeres gibt, als Wahlkampf zu treiben.Wir konnten die erste friedliche, gewaltfreie, demokratische und erfolgreiche Revolution auf deutschem Boden feiern. Jetzt stehen wir vor der Frage: Wie geht es weiter? Ich möchte nicht, daß sich die Transparente „Im Westen nichts Neues", die in Berlin bei Kundgebungen und Demonstrationen hochgehalten und gezeigt wurden, bewahrheiten. Ich möchte, daß auch hier etwas Nachdenklichkeit über den Prozeß und über unsere Verantwortung in diesem Prozeß einkehrt. Diese Verantwortung ist ganz immens.
Die Frage ist: Wie soll der Prozeß gestaltet werden, der nun offenkundig von immer mehr Menschen dringend gewünscht wird? Wie soll das Zusammengehen der beiden Staaten, wenn es denn sein soll, gestaltet werden? Hier möchte ich — übrigens auch aus meiner Sicht als Rechtspolitiker — sehr deutlich sagen: Das, was jetzt immer wieder diskutiert wird, nämlich der Weg über den Art. 23, ist kein gangbarer Weg für diesen schwerwiegenden Prozeß. Der Art. 23 des Grundgesetzes würde einen Anschluß, ein Überrollen der DDR durch die Bundesrepublik, ein Überstülpen der Rechtsordnung der Bundesrepublik auf die DDR bedeuten. Er ist für Fälle wie etwa den seinerzeitigen Anschluß des Saarlandes, für den Anschluß von Teilen von Ländern vorgesehen, aber nicht für die Vereinigung der beiden deutschen Staaten, wie sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt haben.
Sie wissen übrigens genau, jedenfalls wenn Sie die Lage nüchtern prüfen, daß ein solcher Weg rechtlich gegenwärtig gar nicht möglich ist, weil es nach der neuen Verfassung von 1974 Länder in der DDR nicht gibt. Auch diejenigen, die sagen, die Verfassung von 1974 sei ungültig, weil sie nicht demokratisch zustande gekommen sei, und man müsse daher auf die von 1949 zurückgreifen, werden zu keinem anderen Ergebnis kommen; denn die Verfassung von 1949 sagt deutlich, daß Entscheidungen, die den Bestand der DDR als Ganzes betreffen, auch nur auf der gesamtstaatlichen Ebene, getroffen werden können, nicht aber in den Ländern.Ein solcher Anschluß wäre auch gar keine Vereinigung. Man könnte diesen Begriff, mit dem hier jahrzehntelang gearbeitet worden ist — ich selbst spreche bewußt nicht von Wiedervereinigung, sondern von Vereinigung —, dann getrost streichen. Es wäre, wie gesagt, ein Anschluß, eine Art Annexion, nicht ein Zusammengehen von zwei Staaten.Das würde auch nicht dem demokratischen Anspruch und Aufbruch in der DDR entsprechen, wo die Menschen mit dem Ruf „Wir sind das Volk" auf die Straße gegangen sind. Sie haben damit eigentlich den Kerngedanken der Demokratie ausgesprochen und den Anspruch erhoben, die Dinge in Zukunft selbst zu gestalten.Eine solch weitreichende Entscheidung darf auf keinen Fall über die Köpfe der Menschen hinweg allein von den Regierungen getroffen werden. Hier ist das Einschalten der Parlamente wichtig und notwendig, aber bei weitem noch nicht ausreichend. Vielmehr müssen auch die Menschen in Ost und West eingeschaltet werden. Denn die Menschen in Ost und West, in der Bundesrepublik und in der DDR, müssen über diese wichtige Frage selber entscheiden können.Deshalb wollen wir eine Volksabstimmung über die Frage einer Vereinigung der beiden deutschen Staaten, aber auch über die möglichen Alternativen, zum gleichen Termin in der Bundesrepublik und in der DDR. Ich möchte, daß für die Abstimmung, für die Diskussion des Pro und Kontra und auch für die Gestaltungsfragen, die sich im Zusammenhang damit stellen, ein ausreichender Zeitraum zur Verfügung steht.Konsequenz einer solchen Volksabstimmung könnte, nein, müßte die Einsetzung einer verfassunggebenden Versammlung sein, die den Auftrag hat, eine neue deutsche Verfassung auszuarbeiten. Das Grundgesetz wäre hierfür eine gute Grundlage, aber es kann nicht einfach unverändert übernommen werden.Das würde auch uns die Möglichkeit bieten, nicht nur die besten Ideen aus Ost und West zusammenzutragen, sondern auch eine historische Chance zur Neugestaltung unserer Verfassung und auch zu dem, was mir im Zusammenhang mit einer solchen Vereinigung notwendig erscheint, zur Entmilitarisierung, zum Ausbau einer direkten Demokratie und zu anderen Dingen, wahrzunehmen.Auch unser Grundgesetz ist schließlich nur ein Provisorium. Es wurde im Gegensatz zu allen anderen demokratischen Verfassungen nicht vom Volk beschlossen. Das liegt daran, daß man damals gesagt hat: Ein Teil des Volkes kann an dieser Entscheidung nicht mitwirken. Wenn dies aber bald möglich ist, so muß eine Volksabstimmung über die Vereinigung und über eine neue Verfassung erfolgen. Alles andere wäre nur die Verlängerung des Gegenwärtigen bzw. wie gesagt, ein Überstülpen unserer Rechtsordnung auf die DDR.Ich möchte, daß diese wichtigste und weitreichendste Entscheidung in der Geschichte unserer beiden Staaten und in der Geschichte der Menschen in der Bundesrepublik und in der DDR nicht sozusagen unbewußt vollzogen wird. Ich möche, daß dies als eine demokratische Entscheidung der Menschen selber aufgefaßt und mit dem Prozeß einer verfassunggeben-
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Häfnerden Versammlung demokratisch legitimiert und gestaltet wird.
Ich möchte Sie darum herzlich bitten, Reden, in denen so getan wird, als ob dies nicht möglich oder nicht gewollt wäre,
zu vermeiden.
Herr Abgeordneter, — —
Und ich bitte Sie, Ihren Einfluß bei der demokratischen Gestaltung dieses Prozesses mit geltend zu machen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Lintner.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diese Debatte — auch Ihr Beitrag, Herr Häfner — ist von einer ganz merkwürdigen Widersprüchlichkeit gekennzeichnet. Sie wollen dauernd von uns, daß wir den Prozeß gestalten, und rufen zugleich dazu auf, die anderen nicht zu bevormunden. Sie geben dauernd Ratschläge, die Sie eigentlich nach drüben schicken müßten; denn diese Bundesregierung ist noch nicht in der Lage, die Dinge in der DDR so zu gestalten, wie Sie es ständig verlangen. Da drüben gibt es ein souveränes Volk. Im übrigen ist der Art. 23, den Sie uns hier so ans Herz gelegt haben und den Sie so ungern sehen, natürlich in erster Linie ein Instrument der Bevölkerung in der DDR.
Sie müssen doch respektieren: Wenn die drüben es so haben wollen und die entsprechenden Beschlüsse fassen, dann ist das etwas, was wir zur Kenntnis nehmen müssen, aber nicht etwas, was wir ihnen jetzt schon an Entscheidungen abnehmen sollten.
Sie tun so — obwohl Sie dauernd das Gegenteil versichern — , als dürften Sie schon für die anderen an deren Stelle sprechen.Überhaupt, meine Damen und Herren, verstehe ich manche Klagen nicht; das heißt, ich verstehe sie natürlich vor dem parteipolitischen Hintergrund. Ich meine beispielsweise die beredte Klage, hier fehle es der Bundesregierung an der Vision. Ich habe der Erklärung des Bundeskanzlers aufmerksam zugehört. Beide Elemente einer sehr konkreten, einer sehr attraktiven Vision waren darin enthalten.
Er hat die großen Ziele genannt, beispielsweise soziale Gerechtigkeit, Arbeitslosenversicherung oder auch Sicherung der Renten. Er hat auch sehr viel Konkretes dazu genannt, was wir hier zu garantieren bereit sind, damit sich die Menschen drüben auch sicher fühlen können.Das heißt also, das Problem dieser Debatte ist es weniger, daß keine Vision vorhanden wäre; das Problem ist, daß Sie von der Opposition diese Dinge schlicht und einfach nicht zur Kenntnis nehmen.
Sie tun so, als hätten diese ganzen Dinge gar nicht stattgefunden, als hätte der Bundeskanzler hier keine Rede gehalten.
— Aber dazu muß ich sagen, Herr Ehmke, wahrscheinlich müssen Sie so tun, denn Sie selbst haben keine Gedanken,
keine Konzeption. Herr Ehmke, Sie haben keine Konzeption, und Sie sind in Ihren Reihen zu diesem Thema auch noch zerstritten. Da bleibt Ihnen eigentlich nur sozusagen die Flucht in das Wolkenkuckucksheim einer Kritik an der Regierung, die nicht berechtigt ist.
Im übrigen könnte man hier natürlich stundenlang die Widersprüche der SPD in Sachen Deutschlandpolitik aufzählen. Besonders makaber finde ich übrigens das, was in der jüngsten Ausgabe der Zeitschrift „Wiener" steht; sie nennt sich „Zeitschrift für den Zeitgeist". Darin haben eine ganze Reihe von
SPD-MdBs — darunter der Herr Koschnick, hier ja kein Unbekannter —
ausdrücklich der Forderung zugestimmt, die DDR müsse ein eigener souveräner Staat bleiben,
und das, meine Damen und Herren, nicht etwa im vergangenen August.
— Ja, gut, aber Sie hätten ja beispielsweise Ihre Antwort korrigieren können; Sie hätten ja der Zeitung
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Lintnermitteilen können, daß Sie mittlerweile anders denken. Aber nicht einmal das haben Sie getan.
— Herr Ehmke, bereinigen Sie die Dinge, räumen Sie die Widersprüche in den eigenen Reihen aus,
und dann — so glaube ich — sind Sie deutschlandpolitisch wieder ein echter Partner der Bundesregierung.
Im Moment sind Sie es nicht.
Genauso ist es - das ist auch noch ein Punkt, bei dem ich eigentlich ein bißchen vom Zorn gerührt worden bin — , wenn sich der Herr Momper hier hinstellt und beklagt, daß die Bundesregierung gerade im medizinischen Bereich noch nichts getan habe. Dabei weiß sicherlich auch der Herr Momper, daß die Bundesregierung sage und schreibe schon 400 Millionen DM ausgegeben hat, um Geräte und Material in die Krankenhäuser der DDR zu schicken. Was soll also dieses Verschweigen von Wahrheit — so will ich es einmal nennen — , oder was soll diese Einseitigkeit? Wenn wir — Sie fordern ja immer, daß wir das tun sollten — den Leuten drüben Mut zum Bleiben machen sollen, dann müssen doch erst recht diese Dinge von uns allen herausgestellt werden,
weil das doch wirklich symbolische und konkrete Zeichen für die Bereitschaft von uns sind, eine Perspektive für drüben mitzutragen. Ich stelle fest: Sie betreiben in der Deutschlandpolitik leider das Geschäft des Wahlkampfes und spielen keine konstruktive Rolle; das bedauere ich außerordentlich.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Wieczorek-Zeul.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben an vielen Stellen betont, daß der Prozeß der staatlichen Einigung, der Herstellung der staatlichen Einheit der Deutschen, und der Prozeß der europäischen Einigung parallel laufen müssen und miteinander verbunden sein müssen.Ich will an dieser Stelle in ähnlicher Nachdenklichkeit, wie Norbert Gansel und auch Frau Hamm-Brücher es getan haben, für mich sagen, daß ich hier heute morgen — aber auch an anderen Stellen — ein wenig erschrecke angesichts von hohlem nationalen Pathos, das zum Teil verbreitet wird.
Ich fühle mich — das werde ich auch nicht vergessen, und ich glaube, ich stehe da für viele in unserer Generation und auch in jüngeren Generationen — mindestens genauso als Europäerin wie als Deutsche. Ichsage hier ganz deutlich: Wir — ich meine diese Generation — haben noch das Erschrecken davon in den Gliedern, was unter Nationalismus in diesem Europa zweimal angerichtet worden ist.
Weil wir dieses Erschrecken haben, sagen wir auch, daß wir uns allem entgegenstellen werden, was neuem Nationalismus Vorschub leistet. Daß es dies in Europa gibt, ist, glaube ich, sehr deutlich.Wir fühlen uns der Idee eines föderierten Europa verpflichtet — Sie alle haben doch davon gesprochen; das kann doch nicht angesichts der praktischen Ereignisse auf einmal irgendwo verlorengegangen sein —, wobei dieses föderierte Europa letztlich die nationalen Souveränitäten ablösen wird. Das ermöglicht eine friedliche Politik in einer gesamteuropäischen Zusammenarbeit.
Wir vergessen auch nicht, daß der Nationalstaat weder ökonomisch noch ökologisch noch kulturell heute noch souverän ist.
Das wissen wir doch; das kann man doch nicht einfach vergessen; das kann man in seiner Politik doch nicht ausblenden.Deshalb sagen wir: Es ist gefährlich, wenn wir diese Prozesse der staatlichen Einigung und der europäischen Einigung entkoppeln. Wer das tut,
der schürt Ängste bei uns im Lande, aber auch bei den euroäischen und vor allen Dingen bei unseren westeuropäischen Nachbarn.Notwendig ist statt dessen — das ist der Testfall, ob man es mit dieser Parallelität ernst meint — , zur europäischen Einigung und Integration genauso schnelle Schritte zu ergreifen, wie man schnelle Schritte zur staatlichen Einheit der Deutschen ergreift.
Wer das will, der muß heute dafür vorsorgen, daß die DDR im Rahmen staatlicher Einheit Mitglied der Europäischen Gemeinschaft werden kann, der muß die Vorbereitungen dafür treffen.
Er muß auch die Widersprüche, die da auftreten, ausräumen, z. B. die Widersprüche in Sachen „europäisches Währungssystem und Währungssystem der beiden deutschen Staaten".Das ist auch deshalb besonders wichtig, liebe Kolleginen und Kollegen, weil wir es nur dann, wenn wir diese westeuropäische Integration fortsetzen, wenn wir daran festhalten und wenn wir sie weiterentwik-
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Frau Wieczorek-Zeulkein, schaffen werden, den gesamteuropäischen Prozeß hinzubekommen und dann, vielleicht schon am Ende dieses Jahrhunderts, eine gesamteuropäische Zusammenarbeit von Ungarn, Polen und Tschechen, von Franzosen, Engländern und Deutschen zu erreichen. Nur dadurch kann die Voraussetzung geschaffen werden. Deshalb dürfen wir den Prozeß westeuropäischer Integration in der Praxis nicht vernachlässigen.
— Ich habe das eben als Zwischenfrage verstanden. Wer fragt denn zum Beispiel? Sie müssen einmal mit den Nachbarn reden. Sie fragen doch die ganze Zeit: Wie kommt es denn, daß offensichtlich die Währungsunion zwischen den beiden deutschen Staaten schnell möglich ist — das ist ja gut so — , obwohl die angeblich unabhängige Bundesbank sich lange widersetzt hat und es jetzt auf einmal akzeptiert, während man bisher unter Verweis auf die Deutsche Bundesbank genau diesen Fortschritt zur Währungsunion in Europa verwehrt hat?
Das fragen sich doch die Nachbarn. Man muß doch auch klarmachen, daß es da Widersprüche gibt.
— Ja, das ist unangenehm. Das ist unangenehm für Sie, und deshalb reagieren Sie jetzt so.
Ich sage: Ich hätte es gut gefunden, wenn sich diese Bundesregierung statt das Jacques Delors zu überlassen, dafür ausgesprochen hätte, daß es nach dem 18. März ein Treffen der EG-Regierungschefs gibt, bei dem gemeinsam darüber gesprochen wird, wie der Prozeß der europäischen Integration und der deutschen staatlichen Einheit miteinander verbunden werden können. Wir sprechen uns dafür aus, daß es ein solches Gipfeltreffen der EG-Staatschefs gibt, bald nach dem 18. März, um diese beiden Prozesse zu verkoppeln. Wir sprechen uns auch dafür aus, die für Dezember geplante Regierungskonferenz in diesem Jahr vorzuziehen, damit alle die Schritte, die dort geplant sind, rechtzeitig mit der staatlichen Einheit der Deutschen in Verbindung gebracht werden.Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, die beschlossene Redezeit ist ausgeschöpft.
Von dem Präsidenten, der vor mir amtiert hat, Herrn Stücklen, habe ich noch zwei unangenehme Pflichten übertragen bekommen. Ich habe einen Ordnungsruf zu erteilen an Herrn Pfeffermann wegen seines Zwischenrufs „Hemmungsloser Demagoge sind Sie", und ich habe einen Ordnungsruf zu erteilen dem Abgeordneten Kraus wegen seines Zwischenrufs „Hetzer".
Bevor wir zur Abstimmung kommen, ist noch eine Wortmeldung abzuhandeln. Der Abgeordnete Ehmke hat gebeten, für seine Fraktion eine Erklärung zur Abstimmung nach § 31 abgeben zu dürfen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die SPD-Bundestagsfraktion hatte eigentlich vor, sich bei der Abstimmung über den Antrag der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 11/6476 der Stimme zu enthalten, weil wir manches von dem, was vor allem in Ottawa herausgekommen ist, durchaus begrüßen. Aber nach der peinlichen bis schäbigen Entgleisung, die sich der Bundeskanzler heute in seiner Regierungserklärung geleistet hat,
werden wir gegen eine Entschließung stimmen, die diese Regierungserklärung begrüßt, wofür Sie sicherlich volles Verständnis haben werden.
Meine Damen und Herren, wir kommen jetzt zu den Abstimmungen, und zwar zunächst über die Entschließungsanträge, die ich in der Reihenfolge der Drucksachennummern aufrufen werde.Wer für den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/6457 stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der Fraktion der GRÜNEN ist dieser Entschließungsantrag mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen abgelehnt worden.Wir kommen dann zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der GRÜNEN auf Drucksache 11/6473. Es ist beantragt worden, diesen Entschließungsantrag zu überweisen, und zwar zur federführenden Beratung an den Ältestenrat sowie zur Mitberatung an den Rechtsausschuß und den Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen. Sind Sie damit einverstanden? — Dann ist die Überweisung so beschlossen.
— Die Frage nach dem Warum wird an anderer Stelle und nicht von mir beantwortet.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/6474. Wer für diesen Entschließungsantrag stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist dieser Entschließungsantrag mit großer Mehrheit abgelehnt worden.Nun stimmen wir ab über den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 11/6476. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? Dann ist dieser Entschließungsantrag mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen angenommen worden.Wir haben noch den Zusatztagesordnungspunkt 1 zu erledigen. Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/6462 zur federführenden Beratung an den Ältestenrat und
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Vizepräsident Westphalzur Mitberatung an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Dann ist die Überweisung so beschlossen.Nun steht hier so schön, ich solle die Sitzung für die Mittagspause unterbrechen. Das findet aber leider nicht statt, auch zu meinem Bedauern, insbesondere im Hinblick auf unsere Mitarbeiter. Wir haben die ganze Zeit aufgebraucht.Wir fahren fort mit derFragestunde— Drucksachen 11/6412, 11/6451 —Meine Damen und Herren, wir beginnen mit dem Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen, weil es dazu eine Dringlichkeitsfrage des Abgeordneten Dr. Holtz gibt:Was gedenkt die Bundesregierung zu unternehmen um sicherzustellen, daß — angesichts der vorzeitigen Einstellung der ursprünglich bis zum 28. Februar 1990 vorgesehenen kostenlosen Beförderung von Hilfspaketen nach Rumänien mit dem 14. Februar 1990 — angelaufene humanitäre Gütersammelaktionen für Rumänien hier in der Bundesrepublik Deutschland zu Ende geführt werden können und die vielerorts zum Abtransport bereitliegenden Hilfspakete innerhalb eines bestimmten zeitlichen Rahmens doch noch kostenlos von der Deutschen Bundesbahn befördert werden?Zur Beantwortung steht Staatsminister Schäfer zur Verfügung. Bitte schön, Herr Staatsminister.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, zunächst einmal muß gesagt werden, daß die humanitäre Hilfe der Bundesregierung für Rumänien eine einmalige Demonstration unserer Solidarität ist. Unsere Hilfe für die Notleidenden, mit der wir zum frühestmöglichen Zeitpunkt begonnen haben, läßt im internationalen Vergleich alle anderen Geber weit hinter sich. Sie beläuft sich nunmehr auf gut 70 Millionen DM. Überplanmäßige Mittel in Höhe von 60 Millionen DM wurden bewilligt. Sie sind in den Nachtragshaushalt 1990 eingestellt worden.
Auf Bitten der rumänischen Regierung verstärken wir seit dem 22. Januar dieses Jahres für etwa 21/2 Monate durch Stromlieferungen aus der Bundesrepublik die Elektrizitätsversorgung der Bevölkerung in Rumänien. Gerade in den Wintermonaten ist dies besonders dringlich. Hierfür werden wir ca. 50 Millionen DM aufwenden. Für die Notversorgung mit Lebensmitteln — Fleischkonserven, Butter, Trockenmilch — setzen wir 7,5 Millionen DM ein. Weiter ermöglicht das Auswärtige Amt gebührenfreie Paketsendungen durch die Bundespost durch Kostenübernahme bis zur Höhe von 2,5 Millionen DM.
Was die frachtkostenfreie Beförderung humanitärer Hilfsgüter durch die Bundesbahn betrifft, möchte ich feststellen, daß die Hilfsbereitschaft auch bei zahllosen Menschen in der Bundesrepublik von Anfang an beispielhaft wie wohl nie zuvor war. Um dies zu unterstützen, hat das Auswärtige Amt für die Beförderung der Hilfsgüter privater Spender daher schon Anfang Januar 1990 1 Million DM zur Verfügung gestellt. Diese Mittel wurden jedoch wegen des unerwartet hohen Spendenaufkommens schneller als erwartet ausgeschöpft.
Unter dem Eindruck der noch umfangreichen, auf Beförderung wartenden Hilfsgüter hat daher das Auswärtige Amt am 14. Februar, also gestern, in Absprache mit den beteiligten Ressorts, dem Bundesfinanzministerium und dem Verkehrsministerium zugesagt, der Bundesbahn weitere Frachtkosten bis zu 5 Millionen DM zu erstatten. Danach müssen Hilfsgüter privater Spender, die noch frachtkostenfrei transportiert werden sollen, bis Dienstag, den 20. Februar, bei den Annahmestellen der Deutschen Bundesbahn angeliefert werden. Übrigens wurde hierzu gestern auch eine Presseverlautbarung gegeben. Die Hilfsorganisationen wurden entsprechend unterrichtet.
Noch eine Bemerkung zum Schluß, Herr Kollege Holtz. Ich sollte Ihnen nicht verhehlen, daß jeder zusätzliche Aufwand für Rumänien die Mittel beschränkt, die wir für Nothilfen an anderen Orten der Welt, vor allem auch in der Dritten Welt, dringend benötigen.
Zusatzfrage, Herr Dr. Holtz.
Herr Staatsminister, angesichts der Tatsache, daß in weiten Teilen unserer Bevölkerung die Solidarität gegenüber Rumänien, auch gegenüber der Dritten Welt, sehr groß ist, daß viele Schulklassen in Hilden, Hochdahl und in anderen Städten Hilfsorganisationen durchführen, schon vieles gesammelt haben, Dutzende von Paketen bereitstehen, jetzt noch Aktionen laufen, frage ich Sie, ob Sie das wirklich nur bis zum 20. Februar begrenzen wollen. Ich frage dies auch angesichts der Tatsache, daß die Bundesregierung zunächst den 28. Februar ins Auge gefaßt hatte.
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, es ist aus technischen Gründen bis zum 20. Februar begrenzt. Ich habe Ihnen ja gesagt: Es sind sehr schnell weitere 5 Millionen DM zur Verfügung gestellt worden, damit die noch lagernden Güter — es sind nämlich sehr, sehr viele Güter, die noch auf den Transport warten — bis dahin verschickt werden können. Die Mittel wären dann aber ausgeschöpft.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, es geht ja nicht um Milliardenbeträge. Es geht darum, daß die Bundesregierung selbst bei ihrer Solidarität noch sparen kann, wenn die Bevölkerung selbst Mittel bereitstellt. Meinen Sie nicht, Sie müßten Ihre Haltung noch einmal überdenken?Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, es geht nicht um das Überdenken von Haltungen, es geht um die Tatsache — ich habe Ihnen die Summen genannt —, daß bereits Millionenbeträge zur Verfügung gestellt worden sind und daß kein Land in Europa eine ähnlich hohe Hilfsleistung erbracht hat und weiter erbringen wird. Unsere Möglichkeiten werden dann auch erschöpft sein, es sei denn, Sie ziehen das Geld an einer
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15154 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990
Staatsminister Schäferanderen Stelle ab. Das wollen Sie wahrscheinlich genausowenig wie wir.
Zusatzfrage von Frau Eid.
Ich hätte gerne gewußt, welche Grundlage Sie für Ihre Planung hatten, die dazu führte, ursprünglich zu sagen, daß bis zum 28. Februar die Hilfspakete kostenlos befördert werden können?
Schäfer, Staatsminister: Frau Kollegin, ich habe darauf hingewiesen, daß wir angesichts der weit über das erwartete Maß hinausgehenden Sendungen, die mit Hilfe der Mittel, die zur Verfügung gestellt werden, als Frachtgut versandt werden müssen, erst einmal zusätzliche Mittel zur Verfügung stellen mußten. Wir haben diese zur Verfügung gestellt. Das aber, was sich jetzt angesammelt hat und was bis zur nächsten Woche noch hinzukommt, muß einfach transportiert werden. Die Mittel wären erschöpft, wenn wir diesen Termin noch verlängerten. Ich kann Ihnen aber Einzelheiten z. B. zur Verkehrsplanung hier nicht sagen, weil das auch nicht in die Zuständigkeit des Auswärtigen Amtes fällt.
Zusatzfrage des Abgeordneten Werner.
Herr Staatsminister, wäre es angesichts der Vorverlegung des Letzttermins und auch angesichts der eklatanten Not gerade der Kinder in Rumänien, die der individuellen Zuwendung über Organisationen bedürfen, nicht doch gerechtfertigt, das zu tun, was wir ja auch schon früher, wenn ich mich recht entsinne, im Falle der Aktionen zugunsten Polens getan haben, daß wir die Termine verlängern? Dies wäre doch durchaus vertretbar und aufs Ganze gesehen unserem Ansehen nützlich.
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich habe Ihnen gesagt, daß die Termine verlängert sind, daß zusätzliche Mittel zur Verfügung gestellt worden sind. Aber die Mittel drohen auszugehen, obwohl wir im letzten Augenblick noch einmal zusätzliche 5 Millionen DM zur Verfügung gestellt haben, um den Transport zu garantieren.
Zusatzfrage des Abgeordneten Reschke.
Herr Staatsminister, können Sie sich vorstellen, welches Chaos die Bundesregierung mit dieser Entscheidung vor Ort hervorruft, weil die karitativen Organisationen mit ihren Helfern größtenteils die fertigen Pakete angenommen haben und die ehrenamtlichen Helfer der Organisationen die Wege zur Bahn und zur Post für den Bürger erledigen? In der Praxis heißt das: Entweder drücken Sie jetzt den karitativen Organisationen die vollen Porto- und Versandkosten auf — das ist die eine Seite —, oder aber das Chaos vergrößert sich in der Form, daß die ganzen Pakete zu den spendenden Familien oder zu den spendenden Bürgern zurückgebracht werden müssen. Vor diesem Hintergrund bitte ich, wirklich noch einmal die Entscheidung zu überlegen und die Frist zu ändern.
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich kann das, was mir heute im Bundestag gesagt wird, nur noch einmal überprüfen lassen. Ich habe Ihnen alle Antworten gegeben, die im Augenblick zu geben sind. Ich habe darauf hingewiesen, daß die Mittel verfünffacht worden sind, daß wir damit das, was jetzt anlagert, transportieren können, daß die Pakete, die dort schon liegen und nicht transportiert werden konnten, Schwierigkeiten hervorgerufen haben. Die sind jetzt beseitigt. Zu dem Termin kann ich aber nur sagen: Ich bin gerne bereit, das zu überprüfen; es ist nebenbei auch Sache des Verkehrsministeriums, nicht nur des Auswärtigen Amtes. Wir sind für die Mittel zuständig, die aus unserem Haushalt für diese humanitäre Hilfe zur Verfügung stehen, nicht für die Termine.
Wir können also zur Kenntnis nehmen: Sie überprüfen das noch einmal?
Schäfer, Staatsminister: Ja.
Frau Dr. Hamm-Brücher zu einer Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, ich bin Ihnen dankbar, daß Sie Überprüfung zugesagt haben. Ich möchte Ihnen aber in Frageform noch einmal übermitteln, daß Ihnen hoffentlich bewußt ist, daß es ein interfraktioneller Wille des Deutschen Bundestages ist, daß so verfahren wird, und für den Fall, daß das nicht geschieht, der Bundestag hierauf auch noch einmal zurückkommen wird. Ich kenne die Mittel im Auswärtigen Amt für humanitäre Hilfe gut genug. Da gibt es immer noch einen Rest, den man in diesem Fall wirklich zusammenkratzen kann. Das Postministerium soll sich dann auch ein bißchen bewegen. Also, es ist der Wille hier, und ich frage Sie: Sind Sie bereit, es so nachdrücklich zu vertreten, wie ich jetzt versucht habe, es Ihnen ans Herz zu legen?Schäfer, Staatsminister: Frau Kollegin, ich bin natürlich bereit, das nachdrücklich zu vertreten; aber ich habe eben sehr ausführlich dargestellt — —
— Ich hatte nicht den Eindruck, daß alle zugehört haben, als ich die Frage beantwortet habe; das ist mir aufgefallen.
Das kann ich doch feststellen. Nein, nein! Also, wenn man das bitte noch einmal überprüft, dann werden Sie zu der Erkenntnis kommen, daß eine Position nicht richtig ist. Eine Erhöhung der Mittel, die wir für Rumänien zur Verfügung stellen, hätte zur Folge, daß für andere Zwecke da bald nichts mehr übrig bleiben wird. Ich bitte den Deutschen Bundestag, das auch zur Kenntnis zu nehmen. Es bestehen nicht die großen Reserven, aus denen man noch etwas zusammenkratzen kann.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990 15155
Staatsminister SchäferIn der Terminfrage bin ich natürlich gerne bereit, zu sehen, was sich noch machen läßt.
Zu demselben Thema noch weitere Zusatzfragen? — Aber vielleicht darf der Präsident noch ein bißchen helfen. Wenn wir immer dieselben Antworten kriegen, dann gibt es noch den Weg des Antrags, und ich sehe fast, daß der interfraktionell gegangen werden kann.
Wollen Sie dann noch die Frage stellen, Herr Jungmann? — Bitte schön.
Selbstverständlich, Herr Präsident. Schönen Dank.
Herr Staatsminister, halten Sie es angesichts der Not in Rumänien eigentlich für gerechtfertigt, sich immer nur auf die enge Ressortzuständigkeit und auf den Titel des Auswärtigen Amtes zurückzuziehen? Wäre hier nicht der Finanzminister und nicht die ganze Bundesregierung gefragt, Mittel aus allen Ressorts zusammenzusuchen? Es wird sich in einem Haushalt von fast 300 Milliarden sicher die eine oder andere Million finden lassen, um den Termin vom 20. Februar auf einen späteren Zeitpunkt hinauszuschieben.
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, wenn Sie — gestatten Sie, Herr Präsident, daß ich das hier auch mal vermerken darf — meiner Antwort zugehört hätten, dann hätten Sie zur Kenntnis nehmen müssen, daß bereits jetzt 70 Millionen DM für die humanitäre Hilfe zur Verfügung gestellt worden sind, überplanmäßige Mittel in Höhe von 60 Millionen DM in den Nachtragshaushalt aufgenommen werden. Da kann man nicht davon sprechen, daß wir für die Notleidenden in Rumänien keinerlei Verständnis hätten.
Was hier strittig war, war der Termin und die Terminverlängerung. Aber wenn Sie die Höhe der Hilfe hier in Frage stellen, dann müssen Sie bitte mal Vergleiche mit allen anderen Staaten der Welt und insbesondere mit europäischen Staaten ziehen und damit mal das vergleichen, was die Bundesrepublik Deutschland tut. Ich glaube, solche Kritik ist hier nicht angebracht. Entschuldigen Sie, aber das ist wirklich unsinnig.
Herr Kollege, das ist keine Diskussion, sondern eine Fragestunde.
Ich danke dem Staatsminister für die Beantwortung der Frage.
Ich rufe nun den Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes auf. Herr Staatsminister Dr. Stavenhagen steht für die Beantwortung der Fragen zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 31 des Abgeordneten Dr. Hirsch auf:
In welchem Umfang wurde im Jahr 1989 die sogenannte strategische Kontrolle durch den Bundesnachrichtendienst ausgeübt, nachdem ihr Umfang vor fünf Jahren mit der Kontrolle von 1,8 Millionen Briefsendungen angegeben worden ist?
Bitte schön, Herr Staatsminister.
Herr Kollege Dr. Hirsch, über den Umfang der im Jahre 1989 durchgeführten Postkontrollmaßnahmen unterrichtet der zuständige Bundesminister der Verteidigung in regelmäßigen Abständen, nämlich mindestens alle sechs Monate, das aus fünf Abgeordneten des Deutschen Bundestages bestehende G-10-Gremium. Darüber hinaus unterrichtet er monatlich eine in dem Gesetz vorgesehene und aus unabhängigen Persönlichkeiten bestehende Kommission über die angeordneten Beschränkungsmaßnahmen vor deren Vollzug. Im übrigen hat die Bundesregierung Maßnahmen der Postkontrolle nach § 3 des Gesetzes zu Art. 10 gegenüber der DDR am 2. dieses Monats eingestellt.
Eine Zusatzfrage, Herr Hirsch.
Herr Staatsminister, es kann Ihnen wohl unmöglich entgangen sein, daß ich überhaupt nicht wissen möchte, wen Sie sonst noch informieren, und es ist sicherlich unstreitig, daß der Deutsche Bundestag seine Rechte unabhängig von den Gremien des G-10-Gesetzes wahrnehmen kann.
Darum frage ich Sie nun noch einmal, ob die öffentliche Angabe, die in einem Interview gemacht worden ist, zutrifft, daß vor fünf Jahren 1,8 Millionen Briefsendungen im Rahmen der strategischen Kontrolle geöffnet worden sind, und ich frage Sie, welche Zahl im vergangenen Jahr geöffnet worden ist.
Dr. Stavenhagen, Staatsminister: Herr Kollege, Ihre Frage richtete sich auf 1989. Die im Jahre 1989 insgesamt geöffnete Zahl ist weit unter der von Ihnen genannten Zahl. Im übrigen ist sie geheim.
Sie haben eine weitere Zusatzfrage, Herr Dr. Hirsch.
Herr Staatsminister, ich weiß nicht, wo Sie die Geheimhaltung hernehmen, wer die angeordnet hat. Aber können Sie uns denn dann wenigstens mal verraten, welche Geheimhaltungsinteressen berührt werden, wenn Sie nicht sagen, im Verhältnis zu welchen Ländern die strategische Briefkontrolle stattfindet, sondern wenn Sie der deutschen Bevölkerung lediglich mitteilen, wie viele Briefsendungen insgesamt — natürlich legal, das wird gar nicht bestritten — tatsächlich im vergangenen Jahr geöffnet wurden? Welche strategischen oder sonstigen Interessen berühren Sie denn, wenn Sie der deutschen Bevölkerung und diesem Parlament das mitteilen?Dr. Stavenhagen, Staatsminister: Herr Kollege, ich glaube, es liegt auf der Hand, daß dann, wenn man Maßnahmen, die, was ich Ihnen nicht zu sagen brauche, im Gesetz geregelt und parlamentarisch kontrolliert sind, in ihrem Umfang darlegt, natürlich Rückschlüsse gezogen werden können, die nicht gezogen werden sollten. Weil die Zahl geheim ist, bitte ich Sie,
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15156 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990
Staatsminister Dr. Stavenhagensich mit der Aussage zu begnügen, daß sie weit unter dem liegt, was Sie in Ihrer Frage genannt haben.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Such.
Der Postverkehr mit welchen Ländern außerhalb des RGW wurde 1989 im Rahmen der strategischen Kontrolle überwacht?
Dr. Stavenhagen, Staatsminister: Herr Kollege, die Maßnahmen, ihr Umfang und die Zielrichtung werden ebenfalls mit dem parlamentarischen G-10-Gremium erörtert und von diesem Gremium genehmigt. Auch diese Maßnahmen, der Umfang und die Zielrichtung sind geheim. Ich kann hierüber in der Offentlichkeit, in der Fragestunde keine Auskunft geben.
Herr Abgeordneter Jungmann, eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, kann ich Ihrer Antwort, die Sie gerade gegeben haben, entnehmen, daß das G-10-Gremium genehmigt, wie viele Briefe durch bestimmte Organe der Bundesrepublik Deutschland kontrolliert werden, d. h. jede einzelne Maßnahme?
Dr. Stavenhagen, Staatsminister: Nein, dies können Sie meiner Antwort nicht entnehmen. Das G-10-Gremium ist darüber informiert, nach welchen Kriterien Stichproben erhoben werden. Ich habe gesagt: Die Gesamtzahl liegt weit unter der in der Frage von Herrn Kollegen Dr. Hirsch implizierten Zahl.
Der Abgeordnete Lüder möchte eine Zusatzfrage stellen.
Herr Staatsminister, unter Bezugnahme auf die Debatte heute vormittag über die bevorstehende Herstellung der Einheit Deutschlands frage ich: Beabsichtigt die Bundesregierung, nach der freien Wahl der Volkskammer dem zuständigen Gremium der Volkskammer die Informationen zu geben, in welcher Zahl hier im innerdeutschen Verkehr bisher kontrolliert wurde?
Dr. Stavenhagen, Staatsminister: Herr Kollege, darauf vermag ich in der Tat keine Auskunft zu geben. Ich kann nur noch einmal darauf hinweisen, daß wir die Maßnahme eingestellt haben. Deswegen wäre es allenfalls noch eine historische Betrachtung.
Zusatzfrage des Abgeordneten Gansel.
Warum, Herr Minister, wird die Zahl geheimgehalten, da nach der Verschlußsachenordnung der Bundesregierung nur die Tatsachen geheimgehalten werden sollen, deren Bekanntwerden die Interessen der Bundesrepublik auf das schwerste schädigen würde? Wenn die Zahl niedrig wäre, dann wäre das Bekanntwerden doch kein Schaden, weil das für den sorgfältigen Umgang mit Grundrechten sprechen würde; wenn die Zahl dagegen hoch wäre, dann wäre es doch auch kein so großer Schaden, weil es für den Fleiß der Beamten sprechen würde. Warum also nennen Sie die Zahl nicht, warum wird sie geheimgehalten?
Dr. Stavenhagen, Staatsminister: Herr Kollege, Sie haben in Ihrer Frage die Antwort gleich impliziert. Aus dem Umfang der Maßnahmen sind natürlich Schlüsse über die Aussagekraft zu ziehen. Man muß sorgfältig abwägen. Deswegen ist es in der Tat erforderlich, daß diese Zahl geheimgehalten wird.
— Ich sagte ja, sie ist deutlich niedriger als in der Frage impliziert.
Jetzt kommt die Abgeordnete Frau Dr. Hamm-Brücher.
Genau darauf richtet sich meine Neugier. Herr Staatsminister, Sie sagen jetzt, die Zahl sei wesentlich niedriger. Heißt das: Liegt sie unter 1 Million oder noch über 1 Million?
Dr. Stavenhagen, Staatsminister: Gnädige Frau, „erheblich niedriger" : Das impliziert, glaube ich, daß wir hier nicht um einige wenige Zehner oder Hunderter diskutieren. Ich sagte: Es ist erheblich niedriger.
— Gnädige Frau, ich bitte um Nachsicht. Ich habe gesagt: Die Zahl ist geheim. Deswegen ist auch die Zurechnung, ob sie über oder unter 1 Million liegt, geheim und hier nicht zu nennen. Aber ich kann Sie insoweit beruhigen: Diese Auskünfte haben wir im G-
10-Gremium und in der Parlamentarischen Kontrollkommission im Detail gegeben, wie auch der Fragesteller weiß.
Jetzt kommt der Abgeordnete Jäger noch zu einer Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, gibt es die von Ihnen geschilderten Überwachungen und die damit in Zusammenhang stehende Geheimhaltungspraxis erst seit dem Jahre 1983, oder ist sie auch schon von der vorherigen Bundesregierung praktiziert und durchgeführt worden? Das würde mich doch interessieren.
Dr. Stavenhagen, Staatsminister: Herr Kollege, die Geräusche implizieren schon meine Antwort: Es ist in der Tat so, daß bislang keine Bundesregierung diese Zahlen bekanntgegeben hat.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990 15157
Staatsminister Dr. Stavenhagen— Herr Kollege, ich habe ja gesagt: Mit der DDR haben wir das eingestellt; wenn ich das noch einmal in Ihre Erinnerung rufen darf.
Ich rufe jetzt die Frage 32 des Abgeordneten Dr. Hirsch auf:
Hält die Bundesregierung die Voraussetzungen nach § 3 G 10-Gesetz für zur Zeit noch gegeben, wonach die sogenannte strategische Kontrolle nur zulässig ist zur Sammlung von Nachrichten über „Sachverhalte, deren Kenntnis notwendig ist, um die Gefahr eines bewaffneten Angriffs auf die Bundesrepublik Deutschland rechtzeitig zu erkennen und einer solchen Gefahr zu begegnen"?
Bitte schön, Herr Staatsminister.
Dr. Stavenhagen, Staatsminister: Herr Kollege Dr. Hirsch, den Rahmen der strategischen Kontrolle nach § 3 des Gesetzes zu Art. 10 Grundgesetz bestimmt der Bundesminister der Verteidigung mit Zustimmung des aus fünf Abgeordneten des Deutschen Bundestages bestehenden G-10-Gremiums. Darüber hinaus werden Beschränkungsmaßnahmen nur nach Einschaltung der aus unabhängigen Persönlichkeiten bestehenden G-10-Kommission angeordnet. Diese Kommission, die nicht an Weisungen gebunden ist, prüft die Zulässigkeit und Notwendigkeit der Anordnungen grundsätzlich vor ihrem Vollzug. Auf diese Weise ist sichergestellt, daß Beschränkungsmaßnahmen nur angeordnet werden, wenn die Voraussetzungen dafür gegeben sind.
In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal auf die Ihnen bekannte Entscheidung der Bundesregierung vom 2. Februar hinweisen, die dazu geführt hat, daß gegenüber der DDR Maßnahmen der Postkontrolle nach § 3 dieses Gesetzes ab sofort eingestellt worden sind. Es entspricht im übrigen der ständigen Praxis aller Bundesregierungen, in der Öffentlichkeit keine Stellungnahmen zu Einzelheiten der strategischen Kontrolle abzugeben.
Herr Dr. Hirsch, bitte schön.
Herr Staatsminister, indem ich auch gar keine Einzelheiten wissen will, sondern nur ganz generelle Sachverhalte erfragen möchte, frage ich noch einmal, nicht, wer etwas feststellt — das haben Sie ausführlich vorgelesen aus dem Gesetz —, sondern ob die Bundesregierung die Voraussetzungen irgendeinem Land gegenüber für gegeben erachtet, daß durch die heimliche Öffnung von Briefen Sachverhalte festgestellt werden können, „deren Kenntnis", wie es im Gesetz heißt, „notwendig ist, um die Gefahr eines bewaffneten Angriffs auf die Bundesrepublik Deutschland rechtzeitig zu erkennen und einer solchen Gefahr zu begegnen". Geht — frage ich Sie — nach Meinung der Bundesregierung von irgendeinem Land eine derartig beschriebene Gefahr aus, so daß sie dazu übergehen muß, millionenfach heimlich Briefe zu öffnen?
Dr. Stavenhagen, Staatsminister: Herr Kollege, § 3 des angesprochenen Gesetzes und das Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1984 können übereinstimmend nur so interpretiert werden, daß auch in Phasen der Ruhe die Beobachtung und die Sammlung von Sachverhalten erforderlich ist und nicht erst in einer akuten Bedrohungslage. Deswegen geht die Bundesregierung davon aus, daß die Gesetzesgrundlage nach wie vor gegeben ist.
— Von „muß", Herr Kollege, steht da nichts drin, sondern die Möglichkeit ist gegeben. Es ist im Urteil des Verfassungsgerichts ausführlich dargelegt, wie die Voraussetzungen sind.
Herr Dr. Hirsch, letzte Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, nachdem Sie mehrfach, ich muß sagen, ungefragt hier mitgeteilt haben und darauf hingewiesen haben, daß die Bundesregierung die strategische Briefkontrolle gegenüber der Deutschen Demokratischen Republik eingestellt hat, darf ich aus Ihrem Hinweis folgern, daß die Bundesregierung die strategische Briefkontrolle gegenüber anderen Staaten des Ostblocks nicht eingestellt hat?
Dr. Stavenhagen, Staatsminister: Herr Kollege, über Art, Umfang und Zielrichtung — das habe ich hier schon gesagt — können wir hier keine Auskunft geben. Ich habe nur gesagt, daß wir es gegenüber der DDR eingestellt haben. Weitere Schlüsse sind Ihnen unbenommen; aber ich kann sie hier nicht ziehen.
Herr Such möchte eine Zusatzfrage stellen, bitte schön.
Gehe ich richtig in der Annahme, daß das, was Sie hier zu den Brief- und Postsendungen gesagt haben, auch für Telefonanschlüsse und Telefonate gilt, was bedeutet, daß Sie darüber ebenfalls keine konkreten Angaben machen können und daß es ähnlich wie bei den Postsendungen der Fall ist, daß auch zu anderen Ländern die Telefonanschlüsse und natürlich die Telefonate weiter abgehört und überwacht werden?
Dr. Stavenhagen: Herr Kollege, Ihre Vermutung, daß ich dazu keine Angaben machen könnte, ist zutreffend.
Herr Kollege Such, Sie können gleich stehenbleiben. Wir kommen jetzt zu Ihrer Frage 33:
In wie vielen Fällen hat die Bundesregierung während der letzten zehn Jahre veranlaßt, daß über Abgeordnete des Deutschen Bundestages, Fraktionsvorsitzende bzw. -vorstände, Vorsitzende und Mitglieder von Ausschüssen, insbesondere von Untersuchungsausschüssen, des Verteidigungs- und Innenausschusses sowie der Parlamentarischen Kontrollkommission und des G 10-Gremiums, Mitarbeiter/innen der Fraktionen und von Abgeordneten beim Bundesamt für Verfassungsschutz, beim Militärischen Abschirmdienst oder beim Bundesnachrichtendienst Informationen gesammelt wurden?
Bitte schön, Herr Staatsminister.
Dr. Stavenhagen, Staatsminister: Herr Präsident, wenn der Kollege gestattet, würde ich die Fragen 33 und 34 gerne zusammen beantworten.
Sind Sie einverstanden?
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15158 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990
Ich bin einverstanden, ja.
Dann rufe ich auch die Frage 34 des Abgeordneten Such auf:
In wie vielen Fällen wurden dabei nachrichtendienstliche Mittel angewendet, insbesondere durch Öffnen von Briefsendungen oder Überwachung von Telefongesprächen?
Bitte schön.
Dr. Stavenhagen, Staatsminister: Die Bundesregierung ist, wie auch frühere Bundesregierungen, der Auffassung, daß sich Einzelheiten der diesen Fragen zugrunde liegenden Materie für eine öffentliche Beantwortung nicht eignen, sondern in den hierfür eingerichteten parlamentarischen Gremien, auf die ich mehrfach hingewiesen habe, behandelt werden können und auch behandelt werden.
Erste Zusatzfrage.
Ich hätte eine Menge Zusatzfragen, aber sie werden dann sowieso nicht beantwortet.
Ich habe aber dann die Frage: Wie kommentiert die Bundesregierung die Meldung in der neuesten Ausgabe des „Spiegel", der BND habe ehemalige Auslandsagenten des Stasi als feste freie Mitarbeiter eingestellt?
Also, der Zusammenhang ist schwer feststellbar, muß ich sagen.
Alles andere wird hier ja doch nicht beantwortet. Insofern kann man sich auf die Öffentlichkeit beziehen.
Auch Sie als Frager müssen sich im Rahmen Ihrer eigenen Fragen halten. Insofern würde ich es dem Staatsminister überlassen, ob er darauf antwortet. — Nein.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Die Fragen 35 und 36 der Abgeordneten Frau Dr. Vollmer sollen schriftlich beantwortet werden. Das gleiche gilt für die Fragen 37 und 38 der Abgeordneten Frau Hensel. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Der Abgeordnete Gansel ist mit Frage 39 der nächste:
Welche Gewähr hat die Bundesregierung, daß an der beginnenden Giftgasproduktion in Rabta/Libyen keine Staatsangehörigen aus der Bundesrepublik Deutschland beteiligt sind und daß die von Unternehmen aus der Bundesrepublik Deutschland bereits angelieferten Komponenten für die noch nicht in Betrieb genommenen Wasseraufbereitungs- und elektronischen Steuerungsanlagen nicht in Betrieb genommen werden können?
Bitte schön, Herr Staatsminister.
Dr. Stavenhagen, Staatsminister: Herr Kollege Gansel, die Bundesregierung hat keine Informationen, daß Staatsangehörige aus der Bundesrepublik Deutschland beteiligt sind. Sie hat auch keine Informationen, daß die von Ihnen genannten Komponenten in Betrieb genommen werden können.
Den Stand ihrer Erkenntnisse über mögliche und nicht mögliche Produktionsvorgänge in Rabta hat die Bundesregierung im einzelnen in der geheimen Sitzung des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages am 7. Februar 1990, an der Sie ja teilgenommen haben, ausführlich vorgetragen.
Um die Beteiligung von Staatsangehörigen der Bundesrepublik Deutschland nach Möglichkeit zu verhindern, hat die Bundesregierung den Ihnen allen bekannten Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Überwachung des Außenwirtschaftsverkehrs und zum Verbot von Atomwaffen, biologischen und chemischen Waffen vorgelegt. Um auch die Inbetriebnahme der Anlage in Rabta nach Möglichkeit zu verhindern, hat die Bundesregierung die hier ebenfalls bekannten Maßnahmen zur Einschränkung und Kontrolle des Außenwirtschaftsverkehrs ergriffen. Eine Gewähr dafür, daß die in Ihrer Frage angesprochenen Vorgänge nicht stattfinden können, kann die Bundesregierung allerdings nicht geben.
Herr Gansel, Zusatzfrage? — Bitte.
Herr Staatsminister, welche Maßnahmen hat die Bundesregierung ergriffen, in informellen Kreisen, z. B. in Koalitionsgesprächen, darauf zu drängen, daß endlich die Gesetze in Kraft treten, die es deutschen Staatsangehörigen verbieten, sich an der Produktion atomarer, biologischer und chemischer Waffen im Ausland zu beteiligen?
Dr. Stavenhagen, Staatsminister: Herr Kollege, in diesen informellen Kreisen haben wir auf die Notwendigkeit einer raschen Verabschiedung der von der Bundesregierung eingebrachten Gesetze wiederholt hingewiesen. Ich gehe zuversichtlich davon aus, daß dies in aller Kürze der Fall sein wird.
Weitere Zusatzfrage, Herr Gansel.
Herr Staatsminister, sind Sie in Anbetracht des Umstandes, daß mir, wie Sie wissen, Informationen über die Entwicklung in Rabta zur Verfügung standen, bevor die geheime Sitzung des Auswärtigen Ausschusses stattfand, bereit, Ihre Worte, daß von einer Inbetriebnahme der Giftgasproduktion in Rabta nicht die Rede sein könne, etwas zu differenzieren, weil dies allzu harmlos klingt?
Dr. Stavenhagen, Staatsminister: Herr Kollege, wenn Sie das Protokoll nachlesen, werden Sie feststellen, daß ich so nicht formuliert habe. Ich habe vielmehr gesagt: Die Bundesregierung hat keine Informationen, daß Staatsangehörige aus der Bundesrepublik Deutschland beteiligt sind, und sie hat auch keine Informationen, daß die von Ihnen genannten Komponenten in Betrieb gehen.
Herr Jäger, Sie möchten dazu eine Zusatzfrage stellen? — Bitte schön.
Herr Staatsminister, ist der Bundesregierung bekannt, daß im Parlament, das die Sache jetzt in der Hand hat — aus ganz anderen Gründen, z. B. aus Gründen der freien Betätigung der Wis-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990 15159
Jägersenschaft — , gegen einige der derzeit beratenen Bestimmungen noch erhebliche Bedenken, und zwar fraktionsübergreifend, auch bei Abgeordneten der Opposition, bestehen
und daß die Eilbedürftigkeit deswegen keineswegs Vorrang vor der Gründlichkeit der vorzunehmenden Prüfungen und der schließlich zu treffenden Entscheidungen haben darf?Dr. Stavenhagen, Staatsminister: Herr Kollege, die Bedenken, die vorgetragen werden, sind der Bundesregierung natürlich bekannt. Dennoch ist die Bundesregierung der Auffassung, daß eine rasche Verabschiedung zwingend geboten ist, um außenpolitischen Schaden von der Bundesrepublik Deutschland abzuwenden.
Herr Erler, Sie möchten auch eine Zusatzfrage stellen.
Herr Staatsminister, Sie haben ausgeführt, daß die Bundesregierung keine Erkenntnisse über die Beteiligung deutscher Staatsangehöriger an dem Bau dieser Giftgasfabrik und über die Inbetriebnahme der Komponenten hat. Kann ich davon ausgehen, daß die Bundesregierung wegen der besonderen außenpolitischen Bedeutung dieser Frage, die auch mit dem Ansehen der Bundesrepublik Deutschland verknüpft ist, besondere Anstrengungen zur Überprüfung dieser Frage unternommen hat, oder ist sie den normalen Weg gegangen, nur das zu bewerten, was ihr auf dem Dienstweg bekanntgeworden ist?
Dr. Stavenhagen, Staatsminister: Nein, Herr Kollege, wir haben natürlich besondere Anstrengungen unternommen und unternehmen sie nach wie vor. Hier ist ja auch unser Dienst im Rahmen seiner Möglichkeiten tätig. Allerdings ist die gesicherte Informationsbeschaffung vor Ort, wie Sie sich denken können, nicht ganz einfach.
Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs. Ich danke dem Staatsminister für die Beantwortung der Fragen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen auf. Herr Staatsminister Schäfer steht uns zur Beantwortung der Fragen zur Verfügung.
Wir kommen zur Frage 40 des Abgeordneten Jäger:
Trifft es zu, daß die „Allunionsgesellschaft der Sowjetdeutschen — Wiedergeburt" der sowjetischen Partei- und Staatsführung ultimativ die Einstellung der Zusammenarbeit für den Fall angekündigt hat, daß die Pläne zur Wiedererrichtung der Wolgarepublik für die Deutschen in der UdSSR aufgegeben würden, und wie beurteilt die Bundesregierung den Stand der Beratungen über diese Wolgarepublik?
Bitte schön, Herr Staatsminister.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Jäger, der Bundesregierung sind solche Meldungen bekannt; eine offizielle Bestätigung liegt ihr nicht vor.
Auf Vorschlag einer Kommission des Nationalitätensowjets, die sich u. a. mit der Frage einer territorialen Autonomie der Deutschen in der Sowjetunion beschäftigte, richtete der Oberste Sowjet der Sowjetunion im Herbst 1989 eine Regierungskommission ein, die praktische Maßnahmen zur Wiedererrichtung der Wolgarepublik erörtern soll. Die Ergebnisse dieser Kommission liegen noch nicht vor. Ein abschließendes Urteil ist daher nicht möglich. Wir sollten aber nicht an der Bereitschaft und Ernsthaftigkeit der sowjetischen Führung zweifeln, eine Lösung dieser Frage im Interesse der Sowjetdeutschen herbeizuführen.
Herr Jäger, Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatsminister, auch wenn ich gerne in Ihre Aufforderung, von Zweifeln Abstand zu nehmen, einstimmen würde: Ist es nicht so, daß die Deutschen in der Sowjetunion und ihre offizielle Vertretung, die bisher ja eng mit der sowjetischen Regierung zusammengearbeitet hat, inzwischen selber Zweifel bekommen haben und gerade deswegen die Öffentlichkeit suchen?
Schäfer, Staatsminister: Ich glaube, die Zweifel sind insofern nicht berechtigt, als es der deutschen „Wiedergeburt" — so heißt die Organisation — bekannt ist, daß die sowjetische Führung Wert darauf legt, daß es zu einer solchen Lösung kommt, aber daß sie auch nicht verkennen darf, daß es innerhalb der Sowjetunion ganz erhebliche Probleme gibt, die sich nicht nur auf die Frage der autonomen Republik der Deutschen, sondern auf andere, sehr komplizierte Prozesse beziehen. Und Sie wissen vor allem, daß es Proteste in der Region gegeben hat, in der die Deutschen möglicherweise wieder eine solche Republik bekommen sollen. Das sind also interne Probleme der Sowjetunion, die man nicht geringschätzen darf und für die wir auch durchaus Verständnis haben sollten.
Sie haben eine weitere Zusatzfrage, Herr Jäger.
Herr Staatsminister, darf ich davon ausgehen, daß die Bundesregierung in ihren Gesprächen mit der Sowjetunion die Bestrebungen der „Allunionsgesellschaft der Sowjetdeutschen — Wiedergeburt" unterstützt, die von ihr erstrebte Autonomie, die auch territorial umgrenzt ist, zu verwirklichen?Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, die Bundesregierung hat wiederholt bei den bilateralen Gesprächen die Anliegen der Deutschen in der Sowjetunion auf hochrangiger Ebene zum Ausdruck gebracht. Das ist auch jetzt beim Besuch des Bundeskanzlers in der Sowjetunion, bei den Gesprächen mit Generalsekretär Gorbatschow geschehen. Wir haben also unsere Bereitschaft auch gegenüber der Sowjetunion deutlich gemacht, im Benehmen mit der sowjetischen Führung die Belange der Sowjetdeutschen auch materiell und immateriell zu unterstützen.Wir möchten natürlich auch schon in der Zwischenphase zu einer Unterstützung der jetzt noch vor allem in Kasachstan Lebenden beitragen. Dazu sind inzwischen eine ganze Reihe von Dingen geschehen, etwa
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15160 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990
Staatsminister Schäferdie Übergabe umfangreicher Buchspenden an das Deutsche Kulturzentrum, einer Bibliothek, in Kasachstan.
Herr Werner, bitte schön.
Herr Staatsminister, ich möchte noch einmal auf den Ausgangspunkt der Frage zurückkommen: Hat die Bundesregierung bzw. die Moskauer Vertretung Ihres Hauses in Moskau konkret Informationen an der entsprechenden Stelle, etwa im Allunionssowjet, eingeholt, ob derartige Informationen zutreffen oder nicht, auf die sich der Kollege Jäger bezog; denn Sie haben lediglich über die Intentionen der sowjetischen Stellen in der Vergangenheit und nicht im Hinblick auf den konkreten Anlaß hier berichtet?
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich habe deutlich gemacht, daß es ganz falsch wäre, wenn jetzt die Deutschen in der Sowjetunion die Flinte ins Korn werfen würden, weil das, was gefordert wird und was wir mit vertreten, so schnell nicht verwirklicht werden kann, wie es ihnen vorschwebt. Von daher ist es, glaube ich, besser, wenn auch wir darauf hinwirken, daß die Verhandlungsführer auf deutscher Seite in der Sowjetunion, also die Vertreter der „Wiedergeburt", weiter zäh am Ball bleiben. Es gibt ja bei der jetzigen Zusammenkunft des Obersten Sowjet eine Diskussion über die Fragen der Autonomie. Dabei wird sicher auch das eine Rolle spielen.
Ich rufe die Frage 41 des Abgeordneten Jäger auf:
Wird die Bundesregierung den Appell der „Allunionsgesellschaft der Sowjetdeutschen — Wiedergeburt" an den Generalsekretär der Vereinten Nationen zum Schutz der Rechte der Sowjetdeutschen in den UN-Gremien unterstützen, und wenn ja, mit welchen konkreten Schritten?
Bitte schön, Herr Staatsminister.
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, die Bundesregierung hat offiziell keine Kenntnis eines Appells der „Allunionsgesellschaft der Sowjetdeutschen —Wiedergeburt" an die Vereinten Nationen.
Die Bundesregierung — das wissen Sie — bekennt sich zum Minderheitenschutz, wie er unter maßgeblicher Mitwirkung der Bundesrepublik Deutschland auch in der KSZE-Schlußakte festgeschrieben ist. Wie die berechtigten Anliegen von Minderheiten allgemein wird die Bundesregierung die Anliegen der Deutschen in der Sowjetunion wie bereits in der Vergangenheit im KSZE-Rahmen unterstützen. Vorrangig wird die Bundesregierung jedoch die bilaterale Zusammenarbeit mit der sowjetischen Führung nutzen, zu einer Verbesserung der Lage der Deutschen beizutragen.
Zusatzfrage, Herr Jäger.
Herr Staatsminister, da ich ja wohl davon ausgehen darf, daß die Bundesregierung, auch wenn sie keine offizielle Kenntnis hat, immerhin den Wortlaut dieses Appells an die UN aus der Presse zur Kenntnis genommen hat, der z. B. in der „FAZ" vom 8. Februar wiedergegeben worden ist: Teilt denn die Bundesregierung die Auffassung dieser Organisation der Deutschen in der Sowjetunion, die sich, wie es in dem Appell wörtlich heißt, „infolge eines Verlustes ihrer nationalen Kultur sowie ihrer Sprache Diskriminierungen in verschiedenen Sphären des Lebens ausgesetzt und ihre Zukunft als Volk insgesamt bedroht" sehen? Hält die Bundesregierung diese doch recht dramatische Darstellung für berechtigt, oder sind das unbegründete Angste?
Schäfer, Staatsminister: Zunächst, Herr Kollege, wären wir nicht davon ausgegangen, daß wir, wenn wir uns offiziell mit einer solchen Sache befassen, die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" lesen müssen, um dort einen solchen Brief zu entdecken, sondern wir hätten erwartet, daß wir als Bundesregierung über diesen Brief offiziell in Kenntnis gesetzt worden wären. Das ist bis heute nicht der Fall. Insofern möchte ich auch nicht offiziell auf einen solchen Brief eingehen, der irgendwo abgedruckt ist.
Ich halte die Formulierungen, die Sie vorgelesen haben, so für nicht zutreffend. Ich würde sogar darüber hinausgehend sagen: Es gibt ein ganz großes Verständnis der sowjetischen Führung für die Belange der Deutschen. Es gibt auch die Bereitschaft, abzuhelfen. Aber ich glaube, wir müssen auch die innere Lage der Sowjetunion so sehen, wie sie ist. Von daher können wir nicht erwarten, daß dieses Problem unabhängig von anderen sich derzeit stellenden Problemen von der sowjetischen Führung leicht gelöst werden kann.
Sie haben eine weitere Zusatzfrage, Herr Jäger.
Herr Staatsminister, unabhängig davon, daß Sie offiziell nichts von dieser Gesellschaft der Deutschen in der Sowjetunion bekommen haben: Wird die Bundesregierung in den zuständigen Gremien der Vereinten Nationen diesen Appell schon deswegen unterstützen, um bei diesem deutschen Bevölkerungsteil gerade das von Ihnen erwähnte Vertrauen herzustellen, daß sie von der Bundesregierung unterstützt werden und daß sie von daher gesehen nicht zum äußersten Mittel, der Abwanderung, der Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland, greifen müssen?
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich glaube, daß aus meinen vorausgegangenen Antworten klar geworden sein müßte, daß wir eine andere Verfahrensweise für glücklicher halten, nämlich die bilateralen Verhandlungen mit der Sowjetunion und nicht Proteste bei den Vereinten Nationen, die die Lage eher verschlechtern könnten. Ich bitte Sie herzlich, da Sie enge Verbindungen zu dieser Organisation haben, darauf hinzuwirken, daß diese Organisation ihre Möglichkeiten in der Sowjetunion gemeinsam mit uns ausnutzt, statt in die Öffentlichkeit zu gehen, was ihre Situation eher verschlechtert.
Ich rufe die Frage 42 der Abgeordneten Frau Eid auf:Trifft es zu, daß die Außenminister der EG auf ihrer Konferenz am 20. Februar 1990 in Dublin die Aufhebung der EG-Sanktionen vom September 1986 gegen das Apartheid-Regime in Süd-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990 15161
Vizepräsident Westphalafrika erwägen werden, wie dies der Außenminister Großbritanniens verlangt, der als erste Maßnahme die Aufhebung des Verbots von Neuinvestitionen vorschlägt?Bitte schön, Herr Staatsminister.Schäfer, Staatsminister: Frau Kollegin Eid, die Außenminister der EG werden am 20. Februar in Dublin u. a. die aktuelle Lage in Südafrika erörtern. Insbesondere werden die von Staatspräsident de Klerk in seiner Rede zur Eröffnung des Parlaments am 2. Februar angekündigten Maßnahmen und die am 11. Februar erfolgte Freilassung von Nelson Mandela, die von der Bundesregierung als wichtige Vorbedingungen für die Aufnahme eines nationalen Dialogs zwischen der Regierung und den Führern der Bevölkerungsmehrheit positiv bewertet werden, einer umfassenden Analyse unterzogen. Die Außenminister werden u. a. die Frage prüfen, ob und gegebenenfalls wie sie auf diese Entwicklung in Südafrika reagieren sollen.
Frau Eid, bitte schön, eine Zusatzfrage.
Spielt bei der Überlegung, wie man auf die sich verändernde Situation in Südafrika reagieren soll, die Frage eine Rolle, ob man von den Sanktionen der EG abrücken wird?
Schäfer, Staatsminister: Frau Kollegin, ich glaube, die Sanktionen der EG müssen im Zusammenhang mit den Forderungen gesehen werden, die die EG bekanntlich an die südafrikanische Regierung gerichtet hatte. Wenn ich recht sehe, sind drei Forderungen an die südafrikanische Regierung immer noch nicht erfüllt, nämlich einmal die völlige Aufhebung des Ausnahmezustandes, zweitens die Freilassung aller politischen Gefangenen und drittens die Amnestie für rückkehrwillige Vertreter des ANC in die Republik Südafrika. Das sind drei ganz wichtige Forderungen, die derzeit noch nicht erfüllt sind. Ich glaube, das wird sicher die Diskussion in Dublin über die Frage einer vorzeitigen Aufhebung der Sanktionen mitbestimmen, wie sie bekanntlich von der britischen Seite ins Gespräch gebracht worden ist.
Eine weitere Zusatzfrage, bitte schön, Frau Eid.
Darf ich aus dem, was Sie jetzt gesagt haben, schließen, daß in Dublin keine Mehrheit für die Beendigung dieser Sanktionen herbeizuführen ist?
Schäfer, Staatsminister: Frau Kollegin, ich glaube, aus meiner Antwort geht in etwa unsere Verhandlungsposition hervor.
Herr Verheugen, eine Zusatzfrage, bitte schön.
Herr Staatsminister, teilen Sie die Auffassung, daß die in der Frage der Kollegin Frau Eid erwähnten EG-Sanktionen, insbesondere das Verbot der Neuinvestitionen in Südafrika, wesentlich dazu beigetragen haben, daß die südafrikanische Regierung einen Teil der Bedingungen erfüllt hat, die zur
Aufnahme von Verhandlungen über eine friedliche Konfliktregelung nötig sind?
Schäfer, Staatsminister: Ich glaube, das ist richtig, Herr Kollege. Ich sehe das ähnlich wie Sie. Es ist sicher nicht der einzige Grund gewesen. Es haben noch andere Gründe eine Rolle gespielt: ein Wechsel der Regierung; eine neue Generation, welche die Situation anders beurteilt; vielleicht auch die Entwicklung in Europa, die ja wiederholt angeführt worden ist. Aber sicher, zum ersten Teil Ihrer Frage sehe ich es ähnlich.
Dann kommt die Frage 43 der Abgeordneten Frau Eid:
Welche Haltung wird der Außenminister der Bundesrepublik Deutschland zu diesem Ansinnen seines britischen Amtskollegen bei der Konferenz am 20. Februar 1990 einnehmen?
Bitte schön, Herr Staatsminister.
Schäfer, Staatsminister: Frau Kollegin, die Position der Bundesregierung wird von ihrem Bestreben gekennzeichnet, mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln auf eine friedliche Veränderung in Südafrika, d. h. auf eine Abschaffung der Apartheid hinzuwirken. Dabei werden alle Vorschläge der Außenminister der Zwölf zu prüfen sein, die zum Ziele haben, eine solche Entwicklung zu fördern.
Zusatzfrage.
Wird der Außenminister der Bundesregierung oder werden andere Vertreter der Bundesregierung, bevor die Bundesregierung oder der Außenminister in Dublin eine Position einnimmt, mit der Opposition in Südafrika darüber sprechen, um die Meinung der Opposition dort einzuholen, bevor in Dublin eine Entscheidung gefällt wird?
Schäfer, Staatsminister: Ich kann Ihnen jetzt für den Außenminister schlecht vorher sagen, daß er bis zum 20. Februar die Chance hat, mit der Opposition zu sprechen. Aber Sie können sicher sein, daß wir natürlich auch auf die Meinung der Opposition, wie sie uns aus Südafrika berichtet wird und wahrscheinlich auch im Kreise der EG-Außenminister diskutiert werden muß, Rücksicht nehmen. Ich darf darauf hinweisen, daß es Vorschläge des Politischen Komitees gibt, das sich vor den Außenministertagungen trifft. Diese Vorschläge enthalten unter anderem auch eine TroikaMission nach Südafrika im Zusammenhang mit den letzten Ereignissen im Sinne der Diskussion dessen, was wir noch von der Regierung Südafrikas erwarten, aber auch Gespräche mit der Opposition. Das muß aber noch beschlossen werden. Wir würden es begrüßen, wenn es dazu käme.
Eine weitere Zusatzfrage.
Wird bei der Meinungsfindung der Bundesregierung eine Rolle spielen, daß sich der Vizepräsident der EG Manuel Marin gegen eine Lokkerung der Sanktionen gegen Südafrika auch nach der Freilassung von Nelson Mandela ausgesprochen hat?
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15162 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990
Schäfer, Staatsminister: Es gibt, wie Sie wissen, Frau Kollegin, Meinungen, die der Meinung des EG-Kommissars entsprechen, auch im Rahmen der EG-Außenminister. Es gibt die Meinung, die ich aus Großbritannien gehört habe. Es wird sicher all dieses in Dublin ausführlich diskutiert.
Dann haben wir jetzt die Frage 44 des Abgeordneten Verheugen:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Tatsache, daß die südafrikanische Regierung gegenüber dem auch aus Mitteln der Bundesrepublik Deutschland geförderten Wilgespruit Fellowship Centre das „Gesetz zur Offenlegung finanzieller Zuwendungen aus dem Ausland" erstmals angewendet hat?
Bitte schön, Herr Staatsminister.
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege Verheugen, die Bundesregierung bedauert die erstmalige Anwendung des Gesetzes zur Offenlegung finanzieller Zuwendungen aus dem Ausland auf das Wilgespruit Fellowship Centre, das am 10. Januar 1990 zu einer Reporting Organization erklärt wurde.
Herr Verheugen, bitte schön, Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, können Sie vielleicht doch ein bißchen mehr über das Bedauern hinaus sagen: Wie können Sie diese Maßnahme zu einem so ungewöhnlichen Zeitpunkt in die an sich ja auf Entspannung angelegte südafrikanische Politik einordnen?
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, aus der Beantwortung Ihrer zweiten Frage ergibt sich das über die erste Antwort Hinausgehende. Ich bin gern bereit, auch zur Einschätzung etwas zu sagen.
Herr Präsident, darf ich die zweite Frage gleich mitbeantworten?
Dann rufe ich die Frage 45 gleich auf:
Was hat die Bundesregierung unternommen, um die südafrikanische Regierung zu veranlassen, die Maßnahme gegen das Wilgespruit Fellowship Centre zurückzunehmen?
Sie haben dann noch drei Zusatzfragen.
Schäfer, Staatsminister: Die Bundesregierung hat am 30. Januar 1990 durch ihre Botschaft in Pretoria bei der südafrikanischen Regierung demarchiert und dabei unter Bezugnahme auf frühere Demarchen darauf hingewiesen, daß sie in der Folge dieser Maßnahme eine erhebliche Behinderung der positiven Maßnahmen befürchte; diese Behinderung könne nicht hingenommen werden.
Parallel dazu hat die Bundesregierung dem südafrikanischen Botschafter in Bonn ihre Besorgnis mitgeteilt und von der südafrikanischen Regierung die Aufhebung dieser Maßnahme gefordert. Die Bundesregierung hat darüber hinaus in dieser Angelegenheit erfolgreich auf eine gemeinsame Demarche der Zwölf bei der südafrikanischen Regierung gedrängt.
Sie haben mich gefragt, wie das einzuschätzen ist. Wir rätseln selbst, vermuten aber, daß in Südafrika ähnlich wie sonstwo in der Welt unter Umständen die eine Hand nicht so recht weiß, was die andere tut. Das ist die wahrscheinlichste Erklärung. Das heißt, daß im Prozeß dessen, was zur Zeit läuft, Verwaltungsstellen unter Umständen Entscheidungen treffen, die nicht in diesen Rahmen passen. Sie passen mit Sicherheit nicht hinein.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Verheugen.
Dann darf ich Sie nur noch fragen, ob Sie zur Kenntnis nehmen möchten, daß ich der Bundesregierung für das, was sie veranlaßt hat, sehr dankbar bin?
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, es ist ungewöhnlich, daß die Opposition uns dankt. Aber wir nehmen das natürlich sehr gerne zur Kenntnis.
Bei der Gelegenheit haben wir auch bewiesen — wenige Stunden nach Vorwürfen, die heute vormittag im deutschen Fernsehen über Abläufe von Debatten im Deutschen Bundestag zu sehen waren — , daß zumindest in der Fragestunde der Ton hervorragend ist.
Das kann man auch einmal feststellen. Sehr richtig.
Eine Zusatzfrage, Frau Eid.
Ich entnehme dem, was Sie gesagt haben, daß die Bundesregierung nicht die Meinung der betroffenen Organisation, des Wilgespruit Fellowship Centre, teilt. Nach Meinung dieser Organisation ist nämlich die Tatsache, daß sie als kleine Organisation jetzt zur Reporting Organization erklärt wurde, sozusagen als ein Testballon zu werten, d. h. die südafrikanische Regierung wartet, wie die internationale Reaktion darauf sein wird.
Schäfer, Staatsminister: Frau Kollegin, es ist jetzt natürlich müßig zu spekulieren, was diese Maßnahme hervorgerufen hat. Ich habe Ihnen eine Möglichkeit genannt. Sie nennen eine andere. Ich kann das nicht ausschließen, halte sie aber insgesamt gesehen für einigermaßen fraglich, weil es wirklich nicht in die Gesamtpolitik der neuen Regierung paßt. Wir werden ja jetzt sehen, wie die südafrikanische Regierung auf unseren Protest reagieren wird. Dann wird sich sicher herausfinden lassen, was hinter diesem Vorgehen steckt.
Da zwei Fragen zusammen aufgerufen worden sind, haben Sie eine zweite Zusatzfrage, Frau Eid.
Bundeskanzler Kohl hat bereits im Mai 1988 in einem Gespräch mit südafrikanischen Kirchenvertretern deutlich gemacht, daß es zu einer schwerwiegenden Belastung der Beziehungen zur südafrikanischen Regierung käme, falls diese Leistungen zur Unterstützung der schwarzen Bevölkerungsmehrheit Südafrikas — die Unterstützung aus dem EG-Sondertopf — behindert würden. Stimmen Sie mir zu, daß diese Behinderung nun Wirklichkeit geworden ist?
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990 15163
Schäfer, Staatsminister: Wir können auf Grund dieses Einzelfalls, der uns gemeinsam Schwierigkeiten macht, weil er nicht in die neue politische Situation paßt, nicht sagen, daß das jetzt bereits die Anwendung dieses Gesetzes ist. Ich glaube, an diesem Einzelfall wird sich sehr bald zeigen, inwieweit es die südafrikanische Regierung mit tiefgreifenden Reformen ernst meint. Das ist ein weiterer Testfall. Wir sehen mit Interesse der Antwort der südafrikanischen Regierung auf unseren Protest entgegen.
Wir sind am Ende dieses Geschäftsbereichs angelangt. Ich danke dem Staatsminister.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft auf. Herr Parlamentarischer Staatssekretär Beckmann steht uns zur Beantwortung der Fragen zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 57 des Abgeordneten Dr. Jens auf. Er ist nicht im Saal. Daher werden sowohl die Frage 57 als auch die Frage 58 des Abgeordneten Dr. Jens entsprechend der Geschäftsordnung behandelt.
Ich rufe die Frage 59 des Abgeordneten Reschke auf :
Wie beurteilt die Bundesregierung die Behauptung der Automatenwirtschaft, daß es keine Geldspielgeräte mit Zählwerken gebe, der Bundesrechnungshof aber das Gegenteil ermitteln konnte und auch die Physikalisch-Technische Bundesanstalt das Vorhandensein der Zählwerke dem Bundesministerium für Wirtschaft bestätigte?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Reschke, die Bundesregierung ist lediglich darüber informiert, daß ein Teil der Geldspielgeräte für betriebsinterne Zwecke mit Zählwerken ausgestattet ist, die allerdings z. B. jederzeit vom Aufsteller außer Betrieb gesetzt werden können. Die Hersteller haben sich übrigens im Rahmen der freiwilligen selbstbeschränkenden Vereinbarungen, die Ihnen seit dem 15. Januar 1990 vorliegen — es handelt sich um die Bundestagsdrucksache 11/6224 — , zum Einbau manipulationssicherer Zählwerke verpflichtet.
Herr Reschke, eine Zusatzfrage, bitte schön.
Habe ich Sie richtig verstanden, daß der Bundesregierung bekannt ist — entgegen der Behauptung der Automatenindustrie und so, wie es auch der Bundesrechnungshof der Bundesregierung berichtet und das Materialprüfungsamt Braunschweig dem Bundeswirtschaftsminister nachgewiesen hat —, daß ein Großteil der Geldspielgeräte heute schon mit Zählgeräten ausgestattet ist und die Bundesregierung das trotzdem nicht zur Bemessungsgrundlage für die Besteuerung macht? Warum macht sie das nicht?
Beckmann, Parl. Staatssekretär: Ich habe, Herr Kollege Reschke, Sie darauf aufmerksam gemacht, daß der Bundesregierung schon bekannt ist, daß ein Teil dieser Geräte mit Zählwerken ausgestattet ist. Allerdings ist das auf rein freiwilliger Basis geschehen, und die Aufsteller können sie — das habe ich eben erwähnt — jederzeit außer Betrieb setzen, so daß das keine Bemessungsgrundlage für Steuer- oder Abgabenerhebungen sein kann. Diese Situation wird — das will ich wiederholen — durch die neue Spielverordnung und die Selbstbeschränkungsvereinbarungen verbessert.
Weitere Zusatzfrage, Herr Reschke.
Herr Kollege Beckmann, dürfte dann beispielsweise auch eine Registrierkasse oder ein Zählgerät im Taxi ebenfalls nicht zur Bemessungsgrundlage für die Umsatzsteuer herangezogen werden, da diese Geräte ja auch auf freiwilliger Basis eingebaut wurden?
Beckmann, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Reschke, ich kann mich nur auf Ihre Ausgangsfrage beziehen und Ihnen sagen, daß dies in der Vergangenheit bei den Geldspielautomaten nicht der Fall war, in Zukunft allerdings der Fall sein wird.
Die Fragen 60 und 61 der Abgeordneten Frau Blunck sowie meine Fragen 62 und 63 werden auf Wunsch der Fragesteller — bei meinen beiden Fragen sind die Gründe ersichtlich — schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 64 der Abgeordneten Frau Bekker-Inglau auf:
Teilen die Bundesregierung und die Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit die Auffassung, daß ein wirksamer Schutz vor exzessivem und ruinösem Vielspielen nur durch ein Verbot der Sonder- und Risikospiele erreicht werden kann?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Beckmann, Parl. Staatssekretär: Verehrte Frau Kollegin, die Bundesregierung teilt die Ihrer Frage zugrunde liegende Auffassung nicht. Die Spielanreize der Geräte sollen nach dem Beschluß des Deutschen Bundestages vom 20. April 1989 durch Selbstbeschränkungsvereinbarungen der Automatenwirtschaft verringert werden. Diese Selbstschränkungsvereinbarungen nebst Bericht der Bundesregierung liegen Ihnen ja mit Datum vom 15. Januar dieses Jahres vor. Hiernach ist beabsichtigt, die Sonderspielgewinne zu senken, die Höchstbeträge in Münz- und Gewinnspeichern zu senken, eine Zwangspause von drei Minuten nach einstündigem Dauerspiel einzurichten und die Aufstellung von Geldspielgeräten nur noch in Zweiergruppen zu gestatten. Diese Maßnahmen reichen nach Auffassung der Bundesregierung aus.
Frau Becker-Inglau, Zusatzfrage, bitte.
Ich gehe davon aus, daß Sie die beiden Fragen 64 und 65 zusammen beantwortet haben.Beckmann, Parl. Staatssekretär: Nein. Ich bin gern bereit, später auch die zweite Frage zu beantworten.
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15164 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990
Wenn Sie die Auffassung nicht teilen, daß ein wirksamer Schutz durch diese Selbstbeschränkung bei den Risikospielen gewährleistet, möchte ich fragen, inwieweit inzwischen Forschungsaufträge, die ja unter dem 20. April 1989 gefordert wurden, in Auftrag gegeben worden sind und ob Sie Ihre Meinung auf der Basis der Ergebnisse dieser Forschungsaufträge gebildet haben.
Beckmann, Parl. Staatssekretär: Die entsprechenden Untersuchungen werden, wenn ich richtig informiert bin — ich will mich da jetzt nicht ganz genau festlegen —, im April dieses Jahres vorgelegt werden. Ich kann Ihnen also jetzt noch keine definitiven Folgerungen daraus vortragen. Ich kann Ihnen aber sagen, daß uns auf Grund der bisher vorliegenden Erkenntnisse die Selbstbeschränkungsvereinbarungen der Automatenwirtschaft insgesamt genügend erscheinen, zumal hier Maßnahmen getroffen werden, die in erheblichem Maße auch zu Restriktionen führen.
Sie haben eine weitere Zusatzfrage, bitte schön, Frau Becker-Inglau.
Ich möchte gern wissen, warum die Zahl der gefährdeten Jugendlichen in diesem Bereich immer noch steigt und warum die Anzahl der Briefe, die wir als Abgeordnete von den Eltern erhalten, deren Kinder in dieses Spielrisiko und Suchtverhalten hineingekommen sind, zunimmt.
Beckmann, Parl. Staatssekretär: Zu dem ersten Teil Ihrer Frage kann ich Ihnen nur sagen, daß der Bundesregierung hierzu gesicherte wissenschaftliche Untersuchungen nicht vorliegen, jedenfalls keine neueren Datums.
Den zweiten Teil Ihrer Frage kann ich nicht beantworten, weil mir nicht bekannt ist, in welchem Umfang den Abgeordneten Briefe aus der Bevölkerung zugehen.
Herr Reschke möchte noch eine Zusatzfrage stellen. Bitte schön.
Herr Staatssekretär Beckmann, ist die Bundesregierung bereit, einen Aufkleber zu unterstützen und zu finanzieren, mit dem — ähnlich wie bei dem Aufdruck „Rauchen ist gesundheitsgefährdend" auf den Zigarettenpackungen — darauf aufmerksam gemacht wird, wie hoch der Verlust beim Spielen ist, der auch einen Hinweis darauf enthält, daß Spielen süchtig macht und daß viele kriminelle Taten vom Vielspielen ausgehen?
Beckmann, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Reschke, die Bundesregierung und auch die beteiligte Wirtschaft kommen Ihrer Intention — wie ich meine, in fast vollem Umfang — nach. Sie können dem Ihnen vorliegenden Bericht der Bundesregierung über Selbstbeschränkungsvereinbarungen der Automatenwirtschaft, vorgelegt am 15. Januar dieses Jahres, entnehmen, daß ein solcher Aufkleber bereits entworfen und gedruckt ist. Er ist der Rückseite der Drucksache im Dreifarbendruck zu entnehmen. Auf ihm ist ganz klar zum Ausdruck gebracht, daß Jugendlichen unter 18 Jahren gemäß § 8 des Jugendschutzgesetzes das Spielen verboten ist und daß übermäßiges Spielen — hier wird die Suchtfrage angesprochen — bei persönlichen Problemen keine Lösung darstellt. Für denjenigen, dem das immer noch nicht reicht, wird zusätzlich unter einer bestimmten Telefonnummer zum Ortstarif Rat und Hilfe angeboten. Ich denke, daß das schon eine erhebliche und helfende Maßnahme in diesem problematischen Bereich ist.
Ich rufe Frage 65 der Abgeordneten Frau Becker-Inglau auf:
Wie beurteilen die Bundesregierung und die Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit in diesem Zusammenhang die Selbstbeschränkungsvereinbarung der Automatenwirtschaft bezogen auf Jugendschutz und Spielsucht?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Beckmann, Parl. Staatssekretär: Verehrte Frau Kollegin, die Selbstbeschränkungsvereinbarung der Automatenwirtschaft enthält verschiedene Maßnahmen, die den Jugendschutz verbessern und — um Ihren in der Anfrage verwandten Ausdruck noch einmal zu benutzen — die „Spielsucht" eindämmen. Neben den von mir eben in der Antwort zu Frage 57 erwähnten Maßnahmen soll durch sichtbare Aufdrucke auf der Frontscheibe der Geldspielgeräte auf die Gefahren des Vielspielens und auch auf die Therapiemöglichkeiten hingewiesen werden. Es handelt sich um den eben von mir gezeigten Aufkleber. Im Service 130 der Deutschen Bundespost, also zum Ortstarif, wird eine bundesweit einheitliche Telefonnummer eingerichtet, unter der — ich sagte es bereits — entsprechende Aufklärungshinweise zu bekommen sind.
Im übrigen sollen in Zusammenarbeit mit der Deutschen Hauptstelle gegen die Suchtgefahren Vorschläge für eine verbesserte Prävention des problematischen Spielverhaltens erarbeitet werden. Spielhallenbetreiber und auch das Personal sollen bezüglich des Umgangs mit problematischen Spielern sensibilisiert und vor allen Dingen auch geschult werden. Außerdem soll die Werbung für Geldspielautomaten in Medien innerhalb und auch außerhalb der Branche eingeschränkt werden. Wegen der Einzelheiten hierzu darf ich Sie auf die Ihnen vorliegende Selbstbeschränkungsvereinbarung hinweisen.
Keine weiteren Zusatzfragen von Frau Becker-Inglau. Aber Herr Reschke möchte noch eine Frage stellen.
Herr Kollege Beckmann, auch Sie selbst sind vom Essener Aktionskreis Jugendschutz angeschrieben worden, der darauf hinweist, daß es viele kritische Bereiche gibt, wo junge Leute Zugang zu Spielautomaten haben. Sind Sie der Auffassung, daß die Erhöhung des Mindesteinsatzes und die Verkürzung der Spieldauer dazu beitragen, solchen Zielen, wie sie der Essener Aktionskreis Jugendschutz hat, entgegenzukommen, oder sind Sie der Auffassung, daß dadurch Vielspiel, Schnellspiel, Einsatzhöhe und Verlustrisiko eher erhöht werden?Beckmann, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Reschke, was die Spieldauer betrifft, so ist es in der jetzt vorliegenden Fassung der Spielverordnung bei 15 Sekunden geblieben.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990 15165
Parl. Staatssekretär BeckmannZurückkommend auf die Frage nach der Erhöhung des Einsatzes und des Höchstgewinns auf 0,40 DM bzw. 4 DM, darf ich Ihnen sagen, daß die Gewinnausschüttung steuerneutral gestaltet werden soll. Das entspricht auch dem Petitum im vom Deutschen Bundestag beschlossenen Antrag der Koalitionsfraktionen vom 20. April 1989.
Wir sind damit am Ende dieses Geschäftsbereichs, weil Frage 66 des Abgeordneten Müller schriftlich beantwortet werden soll. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Ich danke dem Staatssekretär für die Beantwortung der Fragen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung auf. Frage 67 der Abgeordneten Frau Schmidt soll schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Wir kommen zu den Fragen 68 und 69 des Herrn Abgeordneten Andres.
Herr Präsident, in weiser Voraussicht haben wir die Antworten gerade schriftlich überreicht, weil wir nicht mehr an eine Behandlung im Plenum glaubten. Der Abgeordnete war mit der schriftlichen Beantwortung einverstanden.
Das gilt für die Fragen 68 und 69? — Ich sehe dieses Verfahren als ein mögliches an, um die Sache zu beschleunigen.Die Fragen 70 und 71 des Abgeordneten Hinsken sollen ebenfalls schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Wir sind am Ende dieses Geschäftsbereichs.Die nicht aufgerufenen Fragen werden schriftlich behandelt. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.Wir sind damit am Ende der Fragestunde.Ich rufe zunächst alle die Tagesordnungspunkte auf, die ohne Aussprache zu behandeln sind.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 sowie 13 und den Zusatztagesordnungspunkt 2 auf:4. Überweisungen im vereinfachten Verfahrena) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Ernährungssicherstellungsgesetzes— Drucksache 11/6156 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
InnenausschußRechtsausschußb) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ernährungsvorsorgegesetzes
— Drucksache 11/6157 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
InnenausschußRechtsausschußAusschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheitc) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Pick, Dr. Däubler-Gmelin, Bachmaier, Schmidt , Schütz, Singer, Stiegler, Wiefelspütz, Dr. de With, Dr. Vogel und der Fraktion der SPDErhöhung der Pfändungsfreigrenzen nach § 850c ZPO— Drucksache 11/6347 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Rechtsausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnungd) Beratung des Antrags des Abgeordneten Volmer und der Fraktion DIE GRÜNENEinstellung des integrierten Entwicklungsvorhabens Bondoc/Philippinen— Drucksache 11/6199 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeite) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Knabe, Volmer und der Fraktion DIE GRÜNENBedingungen für die Zustimmung zum neuen Weltbankkredit für das brasilianische Regionalentwicklungsvorhaben Polonoroeste— Drucksache 11/6298 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
Auswärtiger AusschußAusschuß für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitVizepräsident Westphalf) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Wertpapier-Verkaufsprospekte und zur Änderung von Vorschriften über Wertpapiere— Drucksache 11/6340 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Finanzausschuß
RechtsausschußAusschuß für Wirtschaft13. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung versicherungsrechtlicher Richtlinien des Rates der Europäischen Gemeinschaften
— Drucksache 11/6341 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Finanzausschuß
RechtsausschußAusschuß für WirtschaftZP2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Daniels , Dr. Knabe, Frau Beck-Oberdorf, Wetzel, Frau Flinner, Dr. Mechtersheimer, Frau Hillerich, Frau Vennegerts, Such, Frau Schoppe, Hüser, Dr. Lippelt (Hannover), Frau Eid, Kreuzeder, Frau Dr. Vollmer, Frau Kelly, Frau Rock, Hoss, Frau Garbe, Frau Wollny, Frau Rust, Frau Hensel, Frau Saibold, Frau Schmidt (Hamburg), Volmer, Brauer und der Fraktion DIE GRÜNENFörderung des Aufkommens von elektrischem Strom aus Wasserkraft, Wind- und Solarenergie oder anderer, regenerativer unerschöpflicher Energie sowie aus rationellen Energieerzeugungsanlagen— Drucksache 11/6408 —Überweisungsvorschlag :Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Forschung, Technologie und TechnikfolgenabschätzungAusschuß für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 und den Zusatztagesordnungspunkt 4 auf:7. Beratungen ohne Aussprachea) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 31. Mai 1988 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der RepublikÖsterreich über Amts- und Rechtshilfe in Verwaltungssachen— Drucksache 11/4308 —Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses
— Drucksache 11/6386 —Berichterstatter:Abgeordnete Zeitlmann LüderDr. NöbelSuch
b) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der Verwaltungsvereinbarung vom 26. November 1987 zur Durchführung des Übereinkommens vom 30. November 1979 über die Soziale Sicherheit der Rheinschiff er— Drucksache 11/3815 —Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
— Drucksache 11/6393 —Berichterstatter: Abgeordneter Heinrich
c) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 10. Juli 1989 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien über den gegenseitigen Schutz und die Förderung von Kapitalanlagen— Drucksache 11/5726 —Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft
— Drucksache 11/6404 —Berichterstatter: Abgeordnete Frau Saibold
d) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrach-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990 15167
Vizepräsident Westphalten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 13. Juni 1989 der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen— Drucksache 11/5727 —Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft
— Drucksache 11/6403 —Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Gautier
e) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der Verordnung der BundesregierungAufhebbare Sechsundsechzigste Verordnung zur Änderung der Ausfuhrliste — Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung —— Drucksachen 11/5455, 11/6115 —Berichterstatter:Abgeordneter Müller
f) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministers der FinanzenEinwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung zur Veräußerung der bundeseigenen Liegenschaft in Ludwigsburg, Hindenburgstraße 37-45— Drucksachen 11/5714, 11/6271 —Berichterstatter:Abgeordnete Dr. Struck Roth
ZywietzFrau Vennegertsg) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungÜberplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 25 02 Titel 642 01 — Wohngeld nach dem Wohngeldgesetz — Haushaltsjahr 1989— Drucksachen 11/6107, 11/6394 — Berichterstatter:Abgeordnete Dr. Schroeder NehmFrau Rusth) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungÜberplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 33 04 Titel 433 03 und 433 04 — Übergangsgebührnisse und Ausgleichsbezüge sowie Übergangsbeihilfen — Haushaltsjahr 1989— Drucksachen 11/6202, 11/6395 —Berichterstatter:Abgeordnete Roth KühbacherFrau Vennegertsi) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierunga) Außerplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 60 04 Titel apl. 688 51 Haushaltsjahr 1990 — Zahlungen in einen gemeinsamen Reisedevisenfonds mit der DDR —b) Außerplanmäßige Verpflichtungsermächtigung bei Kapitel 60 04 Titel apl. 671 51 Haushaltsjahr 1989 — Erstattung von Verwaltungskosten der Kreditinstitute bei der Durchführung des gemeinsamen Reisedevisenfonds mit der DDR —c) Außerplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 60 04 Titel apl. 671 51 Haushaltsjahr 1990 — Erstattung von Verwaltungskosten der Kreditinstitute bei der Durchführung des gemeinsamen Reisedevisenfonds mit der DDR —— Drucksachen 11/6196, 11/6396 —Berichterstatter:Abgeordnete Roth Dr. Weng (Gerlingen)Dr. StruckFrau Vennegertsj) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungÜberplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 27 02Titel 642 21 — Kosten aufgrund des Ge-
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15168 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990
Vizepräsident Westphalsundheitsabkommens mit der DDR und Förderung des Besuchsreiseverkehrs — Haushaltsjahr 1989— Drucksachen 11/6204, 11/6397 —Berichterstatter:Abgeordnete Nehm Dr. NeulingHoppeFrau Vennegertsk) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungÜberplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 15 02 Titel 681 15 — Erziehungsgeld — Haushaltsjahr 1989— Drucksachen 11/6131, 11/6398 —Berichterstatter: Abgeordnete Kalb Frau Dr. Wegner ZywietzFrau Rust1) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungÜberplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 10 02 Titel 656 54 — Zuschüsse zur Sicherung der späteren Altersversorgung als Arbeitnehmer bei Abgabe landwirtschaftlicher Unternehmen
— Haushaltsjahr 1989— Drucksachen 11/6103, 11/6399 —Berichterstatter:Abgeordnete Schmitz DillerFrau Vennegertsm) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungÜberplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 10 02 Titel 656 55 — Krankenversicherung der Landwirte — Haushaltsjahr 1989— Drucksachen 11/6080, 11/6401 —Berichterstatter:Abgeordnete Schmitz DillerFrau Vennegerts n) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungÜberplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 10 04 Titel 682 04 — Von den EG nicht übernommene Marktordnungsausgaben — Haushaltsjahr 1989— Drucksachen 11/6102, 11/6402 —Berichterstatter:Abgeordnete Schmitz DillerFrau VennegertsZP4 Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungÜberplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 06 40 Titel 681 05 — Einmalige Unterstützung für im Bundesgebiet einschließlich Berlin eintreffende Aus- und Übersiedler —— Drucksachen 11/6159, 11/6426 —Berichterstatter:Abgeordnete Deres KühbacherFrau Seiler-Albring Kleinert
Wir kommen zur Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 7 a. Ich rufe das Gesetz mit seinen Art. 1 bis 4, Einleitung und Überschrift auf. Wer dem Gesetz zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben.— Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Das Gesetz ist mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion angenommen worden.Wir kommen nunmehr zu der Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 7 b. Ich rufe das Gesetz mit seinen Art. 1 bis 4, Einleitung und Überschrift auf. Wer dem Gesetz zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Dieses Gesetz ist einstimmig angenommen worden.Wir kommen zur Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 7 c. Ich rufe das Gesetz mit seinen Art. 1 bis 3, Einleitung und Überschrift auf. Wer dem Gesetz zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben.— Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN ist dieses Gesetz angenommen worden.Wir kommen zur Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 7 d. Ich rufe das Gesetz mit seinen Art. 1 bis 3, Einleitung und Überschrift auf. Wer dem Gesetz zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben.— Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN ist das Gesetz angenommen worden.Wir kommen zur Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 7 e. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist diese Beschlußempfehlung einstimmig angenommen worden.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990 15169
Vizepräsident WestphalWir kommen zur Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 7 f. Wer für diese Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN ist die Beschlußempfehlung angenommen worden.Jetzt kommen wir zu der Abstimmung über die Tagesordnungspunkte 7 g bis 7 n. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlungen? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann sind diese Beschlußempfehlungen einstimmig angenommen.Wir stimmen jetzt über den Zusatztagesordnungspunkt 4 ab. Wer stimmt dafür? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN ist auch diese Beschlußempfehlung angenommen.Nun rufe ich den Zusatztagesordnungspunkt 3 auf:Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU, SPD, FDP und der Fraktion DIE GRÜNENÄnderung des Untersuchungauftrags des 1. Untersuchungsausschusses der 11. Wahlperiode
— Drucksache 11/6463 —Durch diesen interfraktionellen Antrag sind der Tagesordnungspunkt 6 sowie der Antrag der Fraktion der CDU/CSU und der FDP, Drucksache 11/6450, gegenstandslos geworden.Meine Damen und Herren, nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Beratung 30 Minuten vorgesehen. — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Eylmann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Arbeit des 1. Untersuchungsausschusses war bisher dadurch gekennzeichnet, daß die SPD einen nicht mehr vorhandenen Aufklärungsbedarf mit juristisch unzulänglichen und zum Teil auch verfassungsrechtlich bedenklichen Mitteln verfolgte. An einem Aufklärungsbedarf fehlte es schon mit Rücksicht auf die Arbeit des 4. Untersuchungsausschusses der letzten Wahlperiode.Das rechtlich fehlerhafte Vorgehen der SPD hatte seinen Ursprung in einer von ihr als der Antragstellerin zu verantwortenden Fassung des Unteruchungsauftrages, der zumindest wegen des Eingriffs in Länderkompetenzen verfassungswidrig war. Dies hat die SPD-Fraktion jahrelang nicht wahrhaben wollen. Das ist letztlich auch die entscheidende Ursache dafür, daß dieser Ausschuß zur Überraschung vieler politischer Beobachter immer noch existiert. Die SPD hat im Verlaufe der Ausschußarbeit an die Koalitionsfraktionen mehrfach das unbillige Ansinnen gerichtet, ihr dabei zu helfen, den Karren aus dem Graben zu ziehen, in den sie ihn selbst gefahren hatte. Das haben wir einige Male getan.Ich erinnere daran, daß dem Ausschuß bis heute keine Unternehmensakten vorlägen, wenn ich es nicht unter erheblichem Protestgeschrei der SPD übernommen hätte, die Unternehmen in mühseligen Gesprächen zu veranlassen, wenigstens einen Teil der von uns benötigten Unterlagen herauszugeben.
Wir haben auch einen an das Amtsgericht in Bonn gerichteten Beschlagnahmeantrag mitgetragen, obwohl wir erhebliche rechtliche, insbesondere verfassungsrechtliche Bedenken hatten, die dann auch vom Amtsgericht für gerechtfertigt erklärt worden sind.Das alles, meine Damen und Herren, hat uns nicht vor dem Vorwurf der Opposition geschützt, wir versuchten, die Arbeit des Ausschusses zu behindern,
obwohl doch schließlich wir die verfassungswidrige Fassung des Untersuchungsauftrages nicht zu verantworten hatten. So kann es wohl auch nicht wundernehmen, daß wir schließlich die Geduld verloren und die von der SPD zweimal begehrte Korrektur des Untersuchungsauftrages
nicht mittragen wollten, denn wir sahen keinen rechtlichen Anlaß und auch keine Verpflichtung, die Fehler der SPD laufend mit auszubügeln.
Außerdem lag uns daran, das totgeborene Kind dieses Ausschusses nun auch endlich beerdigen zu können.Gegen den letzten Plenarbeschluß hat die SPD das Bundesverfassungsgericht angerufen. Der Zweite Senat hat vor kurzem den streitenden Parteien die Erwägung übermittelt, daß der Bundestag insgesamt bei seiner Beschlußfassung über die Einsetzung des Untersuchungsausschusses den Untersuchungsauftrag zu seiner Sache gemacht habe und deshalb auch für verpflichtet gehalten werden könne, verfassungsrechtliche Bedenken auszuräumen.Wir respektieren diese Erwägung und würdigen auch ausdrücklich, daß das Bundesverfassungsgericht vor seiner Entscheidung den streitenden Parteien nahegelegt hat, eine parlamentarische Lösung zu suchen.Ich habe in meiner Eigenschaft als Verfahrensbevollmächtigter des Deutschen Bundestages unverzüglich die Geschäftsführer der materiell am Verfahren beteiligten Fraktionen zu einem Gespräch mit dem Ziel eingeladen, eine solche gemeinsame parlamentarische Lösung zu erreichen. Es sah zunächst nicht so aus, als sei dies möglich. Die SPD-Fraktion brachte noch vor diesem Gespräch ihren ursprünglichen Korrekturantrag im Wortlaut völlig unverändert wieder ein und versuchte, Absprachen über die weitere Ausschußarbeit zur Voraussetzung für eine gemeinsam getragene Neufassung des Untersuchungsauftrages zu machen.Fast muß man es eine Überraschung nennen, daß es erfreulicherweise dann gestern doch noch gelungen
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15170 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990
Eylmannist, zu einer von allen Fraktionen getragenen Vernunftlösung zu kommen.
Daß der im Untersuchungsauftrag enthaltene Eingriff in die Länderkompetenzen beseitigt werden mußte, war unter den Fraktionen unstreitig. Der entscheidende Durchbruch in den Verhandlungen war das Nachgeben der SPD in einer anderen Frage, die die Ausschußarbeit bisher außerordentlich erschwert hatte. Während wir den Ausschuß für eine auf die Untersuchung des Verhaltens der Bundesregierung gerichtete Kontroll-Enquete halten, versuchte die SPD immer wieder, die an dem Südafrika-Geschäft beteiligten Unternehmen HDW und IKL unabhängig von dem Handeln der Bundesregierung zum Objekt der Untersuchungen zu machen.Nunmehr wird durch Ziffer 4 des gemeinsam eingebrachten Korrekturantrages unmißverständlich klargestellt, daß Untersuchungen im nichtstaatlichen Bereich insoweit zulässig sind, als sie zur Aufklärung des Handelns der Bundesregierung notwendig werden. Daraus ist im Umkehrschluß zu folgern, daß Untersuchungen unzulässig sind, soweit sie zur Aufklärung des Regierungshandelns nicht notwendig sind.Hätte die SPD-Fraktion dieses Zugeständnis früher gemacht, wären uns viele Stunden unfruchtbarer Diskussionen im Ausschuß und auch viele Monate unnötiger Verzögerungen erspart geblieben.
Der heutige einvernehmliche Beschluß bietet — so hoffe ich jedenfalls — eine gute Grundlage dafür, die Konfrontation im Untersuchungsausschuß abzubauen und einen baldigen Abschluß der Beweisaufnahme zu erreichen.Meine Hoffnung wird sich allerdings nur dann bewahrheiten, wenn die SPD-Fraktion von einer Bewertung Abstand nimmt, die sie in einer Presseerklärung vom 9. dieses Monats zum besten gegeben hat. Es heißt dort:Parlamentarische Untersuchungsausschüsse sind heute — das zeigt die Praxis — in erster Linie Instrumente der politisch-propagandistischen Konfrontation von Regierungs- und Oppositionslager. Sie sind Foren des politischen Kampfes und garantieren einen außerordentlich billigen Wahlkampf.Nach dem Grundgesetz und auch dem Namen nach sind Untersuchungsausschüsse allerdings dazu da, durch Beweiserhebungen einen politisch relevanten Sachverhalt zu untersuchen und möglichst aufzuklären; sonst müßten sie ja „Wahlkampfausschüsse" heißen. Vielleicht ist es an der Zeit, Verfassungswortlaut und Verfassungswirklichkeit wieder etwas näher aneinanderzurücken.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Gansel.
Herr Präsident! Der Bundestag wird heute einem Antrag zustimmen, mit dem die Beweisaufnahme im sogenannten U-Boot-Ausschuß fortgesetzt werden kann. Seitdem die SPD-Fraktion im Dezember 1986 die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses beantragt hat, der die Verwicklung von Mitgliedern der Bundesregierung in ein Rüstungsgeschäft mit Südafrika untersuchen soll, haben die Regierungfraktionen alles versucht, den Untersuchungsauftrag zu erschweren.
Das begann mit der Erklärung des CDU-Obmanns Bohl im Dezember 1986, er wolle unter dem Weihnachtsbaum keine U-Boot-Akten lesen. Objektiv gab es nie die Gefahr, daß die Bohlsche Weihnachtsidylle hätte gestört werden können, indem übereifrige Parlamentsdiener Dossiers über illegale Rüstungsgeschäfte mit dem Apartheidregime auf den festlich geschmückten Gabentisch hätten legen können. Für den subjektiven Teil des ungeschriebenen Tatbestandes „Behinderung eines parlamentarischen Untersuchungsauftrages" beweisen die Bohlschen Einlassungen aber, daß man auf seiten der Regierungsfraktionen es von Anfang an darauf abgesehen hatte, mit dem Untersuchungsausschuß nur über die Runden zu kommen. Das gelang Ihnen auch im 10. Bundestag.Die SPD-Fraktion beantragte deshalb im 11. Bundestag, den Ausschuß mit demselben Untersuchungsauftrag wieder einzusetzen. Die Strategie der Regierungsfraktionen bestand nun darin, durch flagrante Verletzungen von Minderheitenrechten und Parlamentsregeln die SPD-Fraktion zu zeitraubenden gerichtlichen Auseinandersetzungen zu provozieren.
In holder Eintracht setzten CDU/CSU- und FDP-Fraktion auf Zeitgewinn und Ermüdung der Ausschußminderheit.
Ich gebe zu: Diese Strategie hat zum Teil Erfolg gehabt. Müde werden wir nicht, aber es war ein Fehler, daß wir uns darauf eingelassen haben, die Beschlagnahme der dem neuen Untersuchungsausschuß vorenthaltenen Firmenakten gerichtlich durchzusetzen. Es war ein Sieg für die Regierungsfraktionen, daß ein Bonner Amtsrichter mit einem simplen Beschluß einen Untersuchungsausschuß des Bundestages schlichtweg für verfassungswidrig erklären konnte. Es war ein Sieg im Regierungsinteresse und eine Niederlage des Parlamentarismus.Im Ergebnis wurde die Fortsetzung der Beweisaufnahme seit Oktober 1988 verhindert. Dieses Ergebnis war möglich, weil die Regierungsmehrheit im Untersuchungsausschuß der Minderheit die Einlegung der Beschwerde zum Landgericht verweigerte. Rechtsmittelverweigerung durch die Mehrheit, wenn es um Minderheitenrechte geht, darf es im Rechtsstaat eigentlich nicht geben.
Einem Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages zufolge, das die Ausschußmehrheit in Auftrag gegeben hatte, wäre bei einer verfassungskonformen Auslegung des Untersuchungsauftrages
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990 15171
Ganseleine verfassungsrechtlich unbedenkliche Arbeit des Untersuchungsausschusses gewährleistet gewesen. Die SPD-Fraktion hat immer wieder erklärt, daß sie das Verhalten von Ministerpräsidenten von Bundesländern nur insoweit untersuchen wollte, wie sich diese in die verfassungsrechtliche Kompetenz des Bundes eingemischt und Entscheidungen der Bundesregierung beeinflußt hatten.Tatsache ist es jedenfalls, daß das Telefonat von Staatssekretär Schreckenberger, mit dem nach den Aufzeichnungen der Firmenmanager für das Rüstungsgeschäft grünes Licht gegeben worden sein soll, im engen zeitlichen Zusammenhang mit einem Brief des damaligen bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß steht, in dem dieser unter Hinweis auf eine Zusage Helmut Kohls an den südafrikanischen Premierminister Botha einen völkerrechtswidrigen Beschluß des Bundessicherheitsrates zu dem geplanten Export verlangt hatte.Die Aufklärung solcher Sachverhalte darf nicht daran scheitern, daß in Landtagen behauptet wird, dies sei eine Bundesangelegenheit, und im Bundestag behauptet wird, es handele sich um den Kompetenzbereich einer Landesregierung. Das würde nämlich dazu führen, daß es ausgerechnet im Filz dubioser Rüstungsgeschäfte zwischen Bundes- und Landesregierung einen Raum gäbe, der sich parlamentarischer Kontrolle entzöge.Um die Fortsetzung der Beweisaufnahme zu ermöglichen, hat die SPD-Fraktion im Bundestag zweimal Anträge zur Änderung des Untersuchungsauftrags gestellt, um dem Beschluß jenes Bonner Amtsrichters und der Rechtsmittelverweigerung Rechnung zu tragen. Die Regierungsmehrheit hat beide Male unsere Anträge abgelehnt und jede Mitwirkung verweigert, wenn es darum ging, den Untersuchungsausschuß wieder arbeitsfähig zu machen.Die SPD-Fraktion hat daraufhin Klage vor dem Bundesverfassungsgericht erhoben.
Das Bundesverfassungsgericht hat nunmehr — das ist ungewöhnlich — in brieflicher Form seine Erwägungen mitgeteilt. Es hat in konjunktivischer Form deutlich gemacht, daß es in allen strittigen Punkten der Auffassung der klagenden SPD-Fraktion zuneigt.
Die Regierungsfraktionen haben sich dadurch genötigt gefühlt, ihrerseits einen Antrag vorzulegen. Sie haben damit gleichzeitig versucht, den inhaltlichen und zeitlichen Umfang des Untersuchungsauftrags zu reduzieren. Das hätte zu einer neuen Klage der SPD-Fraktion vor dem Bundesverfassungsgericht geführt.
Mit dem nunmehr gefundenen Kompromiß, der auf einem Vorschlag der SPD-Fraktion beruht und der auch von den GRÜNEN unterstützt worden ist, können weitere Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht vermieden werden. Die Beweisaufnahme kann fortgesetzt werden, vorausgesetzt, die Regierungsfraktionen spielen nicht wieder auf Zeit. Ich habe den Regierungsfraktionen vorgeschlagen, mit uns einen Zeitplan zu verabreden, mit dem die Beweisaufnahme vor der Sommerpause abgeschlossen werden könnte. Ich habe angeboten, auf 30 der 50 im Ausschuß auf unseren Antrag hin schon beschlossenen Zeugen zu verzichten.
Daß die Regierungsmehrheit diese Vorschläge ablehnt, ist ein schlechtes Omen für die weitere Arbeit.Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Brief klargemacht, daß der nichtstaatliche Bereich, d. h. das Verhalten der in das U-Boot-Geschäft verwickelten Firmen, jedenfalls insoweit untersucht werden kann, wie es notwendig ist, um die Verantwortlichkeit von Regierungsmitgliedern in dem Rüstungsgeschäft zu klären. Darum geht es uns vornehmlich, und darum ist es uns immer gegangen.
Wir haben nämlich von Anfang an vermutet, daß die Mitglieder der Bundesregierung, denen die Firmen schriftlich mitgeteilt hatten, U-Boot-Pläne der für Indien gebauten U-Boote sollten auf Mikrofilm im Diplomatengepäck nach Südafrika geliefert werden, den Firmen gegenüber grünes Licht für ihr dubioses Geschäft gegeben haben und ihnen zugleich zugesichert haben, sie würden sie vor einer strafrechtlichen Verfolgung zu schützen wissen.
Gestützt auf interne Aktenvermerke des Bundesfinanzministeriums, die dem Untersuchungsausschuß bisher vorenthalten worden sind, hat die Wochenzeitung „Die Zeit" in ihrer heutigen Ausgabe auf einen besonders brisanten Aspekt der Affäre hingewiesen: Strafvereitelung im Amt.
In diese Affäre sind möglicherweise Mitglieder der Bundesregierung, Minister und Staatssekretäre, verwickelt.
Die weitere Beweisaufnahme wird vielleicht zeigen, was daran ist. Sie wird auch zeigen, ob die ungenehmigte Lieferung von Konstruktionsunterlagen für den U-Boot-Bau, wie es jetzt heißt, nur deshalb zustande gekommen ist, weil sie mit Provisionszahlungen in zweistelliger Millionenhöhe verbunden werden sollte.
— „Wer sollte die kriegen?", fragen Sie. Das wird Ihnen Herr Zoglmann beantworten,
der im Bundeskanzleramt und in der bayerischenStaatskanzlei ein und aus gegangen ist und der als
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Ganselehemaliger FDP- und CSU-Bundestagsabgeordneter reiche Erfahrung im Sammeln von Parteispenden hat.
— Nein.
Ich sage noch einmal: Die weitere Beweisaufnahme wird vielleicht zeigen, was an diesen Vermutungen wahr ist. Sie wird auch zeigen, ob die ungenehmigte Lieferung von Konstruktionsunterlagen nur deshalb zustande gekommen ist, weil sie etwas mit diesen Provisionen zu tun hatte, oder ob es sich vielleicht möglicherweise deshalb um genehmigte Lieferungen gehandelt hat.
Tatsache ist jedenfalls, daß solche Rüstungsgeschäfte mit Südafrika nach internationalem Recht verboten sind und nach deutschem Recht nicht genehmigt werden durften.Im übrigen, Herr Eylmann, Herr Prozeßbevollmächtigter, entscheidet im Untersuchungsausschuß die antragstellende Minderheit, inwieweit noch ein Aufklärungsbedarf vorhanden ist. Das ist die ständige verfassungsgerichtliche Rechtsprechung.Ich freue mich, daß es bei den Regierungsfraktionen einem Anfall von Einsicht zu verdanken ist, daß eine Verurteilung des Bundestages durch das Bundesverfassungsgericht nun vermieden wird.
Unserem Prozeßbevollmächtigten, dem Frankfurter Staatsrechtler Professor Meyer, danke ich, daß er dem Recht der Minderheit, also des zahlenmäßig Schwächeren, zum Sieg verholfen hat. Ich bin zufrieden, daß wir in dieser Verfahrensrunde sozusagen nur durch technischen K. gewonnen haben. Dem Bundesverfassungsgericht zolle ich pflichtschuldigst Respekt für seine weise schiedsrichterliche Entscheidung.
Auch wenn es nicht zu der von Herrn Bohl am 25. Januar verspotteten Rechtsfortbildung durch Urteil gekommen ist,
so hat doch der ungewöhnliche Brief mit den zitierten Erwägungen dafür gesorgt, daß die Beweisaufnahme fortgesetzt werden kann. Da aber schon die halbe Bundesregierung auf ihre Vernehmung wartet und da zu befürchten ist, daß die Regierungsfraktionen wieder auf Zeit spielen werden, grüße ich nach Karlsruhe ahnungsvoll und bedeutungsvoll mit dem Werbeslogan der Deutschen Bundespost: „Schreib mal wieder! "
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Seiler-Albring.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die SPD erklärt sich hier zum Sieger. Wir sehen das naturgemäß etwas anders und möchten es ausdrücklich begrüßen, daß die SPD-Fraktion nach vier langen Jahren auf unsere Bedenken eingegangen ist und daß es uns heute möglich sein wird, den Untersuchungsauftrag so zu formulieren, wie wir es schon immer für richtig gehalten haben.
Herr Gansel, ich finde es einfach nicht fair, was Sie vorhin in Ihrem Zwischenruf gesagt haben, daß wir uns geeinigt haben, weil der Vorsitzende nicht da war. Besonders Sie müßten doch eigentlich wissen, mit welcher Engelsgeduld — um nicht fast zu sagen: Eselsgeduld —
sich der Vorsitzende in diesem Ausschuß immer um einen Ausgleich bemüht hat, besonders um Sie zu unterstützen.
Also behandeln Sie ihn bitte so, wie er es verdient hat.
— Nein, nein.Meine Damen und Herren, Klarheit des Untersuchungsauftrages und Bereinigung von allen verfassungsrechtlichen Zweifeln ist allein schon zum Schutz der betroffenen Zeugen und anderen Auskunftspersonen, auch bei der Vorlage von Beweismitteln wie Urkunden und Akten, für eine rechtsstaatlich einwandfreie Arbeit des Untersuchungsausschusses unabdingbar.Wir sind dem Bundesverfassungsgericht ausdrücklich dafür dankbar — da treffen wir uns —, in dem Streit zwischen den Fraktionen den entscheidenden Hinweis gegeben zu haben, damit SPD und GRÜNE auf die Linie der Koalitionsfraktionen einschwenken konnten.
Die Neufassung des Untersuchungsauftrages enthält folgende wesentliche Punkte: Erstens. Die verfassungsrechtlich bedenkliche Überschreitung der Bundeszuständigkeit durch die Einbeziehung von Vorgängen aus den Ländern wird beseitigt. Ich möchte ausdrücklich betonen, daß diese Frage nichts damit zu tun hat, ob nicht auch Amtsträger und Beamte aus den Ländern Zeugen vor einem Untersuchungsausschuß des Bundes sein können. Die Frage in diesem Zusammenhang war, ob ein Untersuchungsausschuß des Deutschen Bundestages Vorgänge untersuchen darf, die in die verfassungsrechtliche Zuständigkeit der Länder und in die politische Verantwortlichkeit der Landesregierungen gegenüber den Landesparlamenten fallen.Zweitens. Die Vorverurteilungen über die angebliche Rechtswidrigkeit von Lieferungen und über die angebliche Verletzung internationalen oder deutschen Rechtes sind beseitigt. Wir haben uns immer
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Frau Seiler-Albringdagegen verwahrt, im Untersuchungsauftrag schon das Ergebnis der Untersuchung vorwegzunehmen.Drittens. Klargestellt ist, daß sich die Untersuchungen auf den staatlichen Bereich zu beschränken haben. Gerade insoweit hoffe ich für die zukünftige Arbeit des Untersuchungsausschusses, daß ein immer wieder aufgetauchter Dissens, der uns wirklich über Stunden, Wochen, Monate und letztlich Jahre aufgehalten hat, nunmehr beseitigt ist.Viertens. Die SPD verzichtet darauf, den Untersuchungsauftrag mit neuen Themen zu befrachten, nachdem die Untersuchungen in der alten Richtung für sie nicht mehr erfolgversprechend waren. Ein Untersuchungsauftrag muß erledigungsfähig bleiben; er kann nicht durch dauernde Änderungen verlängert werden, so daß letztlich das Untersuchungsergebnis verhindert werden kann.
Herr Penner, Ihre segensreiche Arbeit als Vorsitzender des Untersuchungsausschusses in der letzten Legislaturperiode ist unvergessen, und dabei wollen wir es denn auch belassen.Ich hoffe, daß die Einigung, die wir am gestrigen Nachmittag gefunden haben, auch Auswirkungen auf das zukünftige Klima im Untersuchungsausschuß haben wird. Nach den Einlassungen von Herrn Gansel habe ich allerdings nicht allzu große Hoffnungen. Auch für die politische Kultur hier im Deutschen Bundestag erscheint es mir wichtig, den Untersuchungsgegenstand doch nicht im juristischen Kleinkrieg untergehen zu lassen.
Wir haben ein Interesse daran, daß bestätigt wird, daß die Bundesregierung nichts genehmigt hat, sondern im Gegenteil die erforderlichen Ermittlungen zur Aufklärung des Sachverhaltes veranlaßt hat.Das bisherige Verfahren, insbesondere auch die zeitliche Verzögerung, wirft natürlich die Frage nach einer Verbesserung des Verfahrens zur Einsetzung von Untersuchungsausschüssen auf. Auch da sind wir uns, glaube ich, alle einig. Wir werden diese Frage bei den anstehenden Beratungen über eine gesetzliche Regelung des Verfahrens für Untersuchungsausschüsse sorgfältig zu prüfen haben.Eine persönliche Bemerkung. Ich weiß nicht, ob die Überlegung des Bundesverfassungsgerichts wirklich trägt, daß letztlich die Mehrheit zur Beseitigung verfassungsrechtlicher Hindernisse bei der Durchführung von Untersuchungsverfahren, die im Untersuchungsauftrag der Minderheit angelegt sind, verpflichtet ist. Damit würde der Mehrheit eine rechtliche Verantwortlichkeit für etwas zugemutet, für das sie die politische Verantwortung im Prinzip nicht übernehmen kann.
Jede Änderung eines Untersuchungsauftrags derMinderheit durch die Mehrheit setzt die Mehrheit natürlich doch dem beinahe automatischen Vorwurf undder Unterstellung aus, irgend etwas vertuschen zu wollen.Für meine Fraktion kann ich erklären, daß wir uns in diesem Fall aus Gründen des öffentlichen Ansehens des Parlaments und aus Respekt vor dem Bundesverfassungsgericht zu der parlamentarischen Lösung des Konflikts bereit gefunden haben, nachdem dies von dem Bundesverfassungsgericht angeregt worden ist. Ein Berufungsfall für künftige Fälle kann und soll dies nicht sein. Nach unserer liberalen Auffassung hat jeder Antragsteller eines Untersuchungsausschusses, der das Minderheitenrecht des Art. 44 des Grundgesetzes für sich in Anspruch nimmt, auch die Konsequenzen dieses Minderheitenrechts zu tragen. Wer allein und ohne die Mehrheit den Untersuchungsgegenstand bestimmen will, muß auch für die verfassungsrechtliche Richtigkeit des Antrages sorgen und dafür haften. Insofern kann es nach unserer Ansicht eigentlich keine Abwälzung der Verantwortlichkeit auf die Mehrheit geben.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Eid.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen! Nach dem eineinhalbjährigen Verfahrensstreit um den U-Boot-Ausschuß ist es jetzt endlich zu einer interfraktionellen Einigung gekommen. Daß erst der Wink mit dem Zaunpfahl durch das Bundesverfassungsgericht die Regierungsfraktionen zur Vernunft brachte, ist bedauerlich. Durch die lange Zwangspause haben wir viel Zeit verloren, die wir für die Aufklärung des größten Rüstungsexportskandals der Bundesregierung hätten verwenden können. Doch, es ist nicht zu spät. Innerhalb dieser Legislaturperiode können wir die Arbeit schaffen.Wenn der U-Boot-Ausschuß am 8. März seine Arbeit neu beginnt, werden wir die Vernehmung des jetzigen Bundesverteidigungsministers und ehemaligen Bundesfinanzministers Gerhard Stoltenberg als ersten Zeugen beantragen. Wenn Sie die Meldungen von heute gelesen haben, werden Sie verstehen, warum. In den beiden Veröffentlichungen von heute werden schwere Anschuldigungen gegen ihn und Beamte des Bundesministeriums der Finanzen erhoben. Es geht um den Vorwurf der Rechtsbeugung und der Strafvereitelung im Amt. „Die Zeit" und die „taz" zitieren aus Vermerken des BMF vom Juli 1987, die sich mit der geplanten Vertuschung des U-Boot-Skandals durch die Oberfinanzdirektion Kiel beschäftigen. Wenn sich der Inhalt dieser Vermerke als zutreffend herausstellen sollte, dann haben wir es in der Tat mit einem schweren Fall von Strafvereitelung im Amt durch das von Stoltenberg geleitete Ministerium und die ihm untergebene OFD Kiel zu tun.
Wenn sich die Vorwürfe bestätigen sollten, wird Minister Stoltenberg für die skandalösen Vorgänge in seinem damaligen Ministerium und bei der OFD Kiel die volle Verantwortung übernehmen müssen.
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Frau EidAls im Januar 1988 die OFD-Entscheidung zum Freispruch für HDW und IKL bekannt wurde, sprach die Presse fast durchgängig von dem Verdacht einer Rechtsbeugung. Seit heute wissen wir es genauer: Das BMF hat der OFD Kiel Vorgaben für das Ermittlungsverfahren gemacht, und diese hat sich daran gehalten.Unsere langgehegte Vermutung wird bestätigt: Die gesamte Ermittlung war wertlos, weil sich die OFD lediglich auf die freiwilligen Angaben der Firmen verlassen und auf die Beiziehung der Vorstandsunterlagen der Firmen verzichtet hatte.
Alarmierend ist besonders die Tatsache, daß Herr Stoltenberg entgegen den dringenden Empfehlungen des Gutachters aus dem eigenen Hause nicht die Staatsanwaltschaft eingeschaltet hat. Warum hat er den dringenden Rat eines seiner Beamten in den Wind geschlagen und sich so tatsächlich dem Verdacht der Strafvereitelung im Amt ausgesetzt? Die einzig mögliche Antwort ist: Der U-Boot-Skandal mußte vertuscht werden, koste es, was es wolle.
Das ist auch der Grund, Herr Bohl, warum Bundeskanzler Kohl bei seiner Vernehmung vor dem U-BootAusschuß 1987 mehrfach die Unwahrheit gesagt und sich so dem bis heute nicht ausgeräumten Verdacht der vorsätzlichen Falschaussage ausgesetzt hat. Das ist der Grund, warum Ministerialdirektor Teltschik wichtige U-Boot-Akten vernichtet und sich so dem Verdacht eines Verwahrungsbruchs ausgesetzt hat.Minister Genscher mußte fünfmal Gutachten schreiben, in denen er wider besseres Wissen die durch den U-Boot-Skandal ausgelösten erheblichen Störungen der auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik verneinte. Minister Haussmann mußte der Staatsanwaltschaft Kiel im letzten Jahr die Aufnahme von Ermittlungen wegen des Verdachts der Verletzung des deutsch-indischen Geheimschutzabkommens verbieten, obwohl Beamte der Bonner Ministerien notiert hatten, daß dies ein klarer Bruch des Legalitätsprinzips sein würde.Die heutige Debatte zeigt jedoch, daß die Vertuschung nicht gelingen wird. Das Bundesverfassungsgericht war nicht bereit, hieran mitzuwirken, und auch die Staatsanwaltschaft Kiel war nach der Verurteilung der Bundesrepublik durch die UNO im November nicht mehr in der Lage stillzuhalten. Die neue indische Regierung schließlich ermittelt jetzt ebenfalls wegen des Verdachts von Schmiergeldzahlungen durch HDW und wegen des Bruchs des Geheimschutzabkommens.Wenn es ebenfalls stimmt, was „Die Zeit" und „taz" heute schreiben, daß die Staatsanwaltschaft bei ihrer jüngsten Durchsuchungsaktion Beweise dafür gefunden hat, daß der Export der U-Boot-Pläne illegal war und daß ihr somit der entscheidende Durchbruch gelungen ist, dann wird an einer Anklageerhebung kein Weg mehr vorbeiführen, und dann werden wir sehr schnell die volle Wahrheit über den U-Boot-Skandal und die Beteiligung der Bundesregierung daran erfahren.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Bohl.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte versuchen, den Nebel noch ein wenig zu lichten,
der nach diesen Beiträgen von Herrn Gansel und Ihnen, Frau Eid, hier unverändert besteht.Sachverhalt ist: Die bisherige Tätigkeit des Untersuchungsausschusses beruhte auf einem verfassungswidrigen Untersuchungsauftrag.
Darüber besteht offensichtlich jetzt auch Einvernehmen, denn sonst wären wir nicht zu einer Korrektur gekommen. Dieser verfassungswidrige Auftrag ist von der SPD zu verantworten, die dem Deutschen Bundestag einen solchen Auftrag unter Berufung auf das Minderheitenrecht vorgelegt hat.Nun wollte die SPD im letzten Jahr eine Änderung des Untersuchungsauftrages mit einer Erweiterung verbinden, um ein abschließendes Ergebnis der Untersuchungen offensichtlich möglichst lange hinauszuzögern. Deshalb haben wir vor gut einem Jahr diese Änderung und Erweiterung abgelehnt.Nach fast sechsmonatigem Zögern hat die SPD im Sommer 1989 kurz vor Ablauf der sechsmonatigen Frist wegen dieser Ablehnungsentscheidung des Deutschen Bundestages Verfassungsklage erhoben. Die in diesem Verfahren ergangene Anregung des Bundesverfassungsgerichts, den Konflikt nun auf parlamentarischer Ebene zu lösen, wird von uns ausdrücklich begrüßt. Wir tun dies heute übrigens ohne Anerkennung angeblicher Minderheitenrechte auf Änderung oder sonstiger Änderungsverpflichtungen.Es liegt ein gemeinsamer Antrag aller Fraktionen vor. Ich gehe nach Ihren Erklärungen, Herr Gansel, davon aus, daß die SPD ihre Klage zurückzieht.Ich möchte namens der Fraktion der CDU/CSU dem Prozeßbevollmächtigten des Deutschen Bundestages, Herrn Kollegen Eylmann, ausdrücklich für seine Bemühungen danken, zu einem solchen Kompromiß zu gelangen.Mit diesem gemeinsamen Änderungsantrag, Herr Kollege Gansel, hat sich die Koalition in allen Punkten, auch wenn es Ihnen unangenehm ist, durchgesetzt:
Erstens. Die Verfassungswidrigkeit des Untersuchungsauftrags wird beseitigt.Zweitens. Alle Vorverurteilungen fallen weg.
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BohlDrittens. Die Untersuchung wird auf den staatlichen Bereich beschränkt.Viertens. Eine Ausweitung des Untersuchungsauftrages findet nicht statt.Ich gehe fünftens davon aus, Herr Kollege Gansel, daß wir Einvernehmen mit Ihnen bezüglich des Untersuchungszeitraums erzielt haben, weil Sie die Geltung der allgemeinen Regeln dafür zugesagt haben.Das alles sind Punkte, Herr Kollege Gansel, um die es uns schon vor einem Jahr ging und auf die ich vor einem Jahr vor diesem Hohen Hause hinzuweisen die Ehre hatte.Ich frage mich nur, warum Sie nicht im Januar letzten Jahres — 1989 — schon zu einer Reparatur in dem Sinne, wie sie heute geschieht, bereit waren. All diese Punkte habe ich vor einem Jahr vorgetragen. Sie waren dazu nicht bereit.
Ich darf Sie in aller Freundlichkeit darauf hinweisen, daß unser Antrag, der hierzu vorliegt, fast deckungsgleich mit dem gemeinsamen Antrag ist und daß Ihr Antrag, den Sie heute zunächst vorgelegt haben, sehr stark von diesem Kompromißpapier abweicht. Ihr ursprünglicher Antrag findet sich in dem Kompromißpapier nicht wieder.Meine Damen und Herren, ich möchte noch einmal mit Deutlichkeit folgendes sagen: Die Fragen, um die es geht — nämlich: sind U-Boot-Konstruktionsunterlagen geliefert worden?; hat die Bundesregierung Genehmigungen erteilt, ja oder nein?; welche Maßnahmen hat die Bundesregierung ergriffen, nachdem sie von dem Blaupausenexport erfahren hat? — , sind in dem knapp 500 Druckseiten umfassenden Zwischenbericht des Untersuchungsausschusses beantwortet worden. Antworten sind im übrigen nicht nur seitens der Mehrheit gegeben worden; auch die SPD sah sich auf Grund des bisherigen Ergebnisses der Beweisaufnahme durchaus in der Lage, einen rund 80seitigen Zwischenbericht zu formulieren.Ich weiß also nicht, wo Sie das Interesse der Öffentlichkeit an der Fortsetzung der Untersuchung sehen, wenn alle drei relevanten Fragen beantwortet sind. Aber ich nehme zur Kenntnis, daß Sie offensichtlich die Absicht haben, im Wahljahr 1990 in diesem Bereich politische Probebohrungen vorzunehmen. Ich darf Ihnen aber schon jetzt in Aussicht stellen: Diese Probebohrungen werden für Sie nicht erfolgreich sein.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung. Wir stimmen über den interfraktionellen Antrag auf Drucksache 11/6463 ab. Wer dafür ist, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen! — Damit ist dieser Antrag einstimmig angenommen worden.
Interfraktionell ist vereinbart worden, den Tagesordnungspunkt 9 — Gesetzentwurf über die Errichtung von Rundfunkanstalten des Bundesrechts — von der Tagesordnung abzusetzen. Wie ich höre, ist zwischen den Fraktionen vereinbart worden, daß dieser Gesetzentwurf am 7. März 1990 gelesen wird. Sind Sie mit der Absetzung dieses Punktes von der heutigen Tagesordnung einverstanden? — Ich stelle fest: Das ist so beschlossen.
Ich rufe nun Punkt 5 der Tagesordnung auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Struktur der Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz
— Drucksache 11/5831 —
a) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
— Drucksache 11/6414 —
Berichterstatter: Abgeordneter Kirschner
b) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 11/6415 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Sieler von Schmude
Zywietz
Frau Vennegerts
Dazu liegen Änderungsanträge der Fraktion der SPD auf den Drucksachen 11/6446 und 11/6447 vor.
Meine Damen und Herren, der Ältestenrat hat sich auf eine Beratung von 45 Minuten verständigt. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Seehofer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beschließen heute sehr weitreichende strukturelle Verbesserungen im Bundesversorgungsgesetz, einem Gesetz, dessen 40jähriges Jubiläum wir Ende dieses Jahres begehen können, einem Gesetz, das ein umfangreiches Entschädigungssystem für die Kriegsopfer darstellt, einem Gesetz, auf das wir, wie ich meine, alle stolz sein können.Nach dem Bundesversorgungsgesetz erhalten zur Zeit rund 1,4 Millionen Versorgungsberechtigte Leistungen, davon 650 000 Beschädigte und 750 000 Hinterbliebene. Noch heute, nahezu 45 Jahre nach Kriegsende, sind 98 % davon Opfer des Zweiten Weltkriegs.Die Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz stellen im allgemeinen einen gerechten und angemessenen Ausgleich für die Folgen der gesundheitlichen Schädigung oder für den Verlust des Ernährers dar. Doch dürfen wir nicht übersehen, daß auch heute noch einzelne Gruppen von Versorgungsberechtigten
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Parl. Staatssekretär Seehofereine Versorgung erhalten, die durchaus noch verbesserungsbedürftig ist.
Mit zunehmendem Alter — auch darauf möchte ich eingangs dieser Debatte hinweisen — vergrößern sich in vielen Fällen die Probleme. Ich weise nur auf das Problem der Pflegebedürftigkeit hin.Unser Gesetzentwurf macht deutlich, daß wir uns eine möglichst ausgewogene Versorgung aller Berechtigten zum Ziel gesetzt haben. Deswegen schlagen wir insbesondere spürbare Verbesserungen für diejenigen vor, die gegenwärtig noch benachteiligt sind. Deswegen haben wir Schwerpunkte bei der Pflegezulage, bei der Ausgleichsrente der Witwen und beim Berufsschadens- und Schadensausgleich gesetzt.Meine Damen und Herren, besonders am Herzen liegen uns die pflegebedürftigen Schwerkriegsbeschädigten und ihre Ehefrauen. Diese Menschen, die über viele Jahre hinweg Hilfsbedürftige pflegen, leisten einen echten Samariterdienst. Wir dürfen uns hier nicht mit warmen Worten begnügen, sondern müssen eine sichtbare Anerkennung schaffen.
Diese Frauen sind mehr und mehr gezwungen, zusätzlich bezahlte Pflegekräfte in Anspruch zu nehmen, die sie finanziell belasten. In unserem Gesetzentwurf ist daher vorgesehen, daß auch in solchen Fällen den Beschädigten für ihre Ehefrauen ein angemessener Teil der pauschalen Pflegezulage verbleibt, solange diese sich selbst noch an der Pflege des Ehegatten beteiligen.Ein zweiter Schwerpunkt der strukturellen Verbesserungen ist mit einem jährlichen Mehraufwand von rund 50 Millionen DM die Erhöhung der Ausgleichsrente für Witwen, die diese Rente wegen der geringen Höhe ihrer sonstigen Einkünfte beziehen. Für rund 300 000 Witwen bedeutet dies je nach sonstigem Einkommen eine Erhöhung von 12 DM bis zu 58 DM monatlich. Diese Maßnahme wird besonders für die einkommensschwächsten Witwen eine spürbare Verbesserung ihrer Einkommenssituation bringen.Eine Untersuchung zum Berufsschadensausgleich, die wir dem Arbeits- und Sozialausschuß des Deutschen Bundestages vorgelegt haben, hat gezeigt, daß nach geltendem Recht bei einer kritischen Betrachtung noch nicht alle Beschädigten und Witwen eine volle Abgeltung ihres beruflichen und wirtschaftlichen Schadens erhalten.
Um diesen Personenkreis gezielt zu begünstigen, wird jetzt eine nettoorientierte Mindestklausel eingeführt. Mit rund 40 Millionen DM, die wir dafür bereitstellen, schaffen wir auch in diesem Bereich mehr soziale Gerechtigkeit.
Weitere Verbesserungen betreffen die gestaffelte Erhöhung der Alterszulage zur Grundrente für Schwerbeschädigte mit einer Minderung ihrer Erwerbsfähigkeit um mindestens 70 %, die Erhöhung der Elternrente nach dem gleichen Modell wie bei der Ausgleichsrente für Witwen sowie die Erweiterung des Unfallschutzes für Pflegepersonen und Begleitpersonen.Meine Damen und Herren, der Ihnen heute vorliegende Gesetzentwurf bildet das Kernstück der strukturellen Verbesserungen, die der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung vom März 1987 für den Bereich der Kriegsopferversorgung angekündigt hat.
— Herr Schreiner — hören Sie gut zu —, zusammen mit den übrigen Leistungsverbesserungen im Rahmen von Verordnungen und Richtlinien, die zu Beginn dieses Jahres in Kraft getreten sind oder noch in Kraft treten werden, gehen wir damit für das Bundesversorgungsgesetz einen entscheidenden Schritt zur Weiterentwicklung des sozialen Entschädigungsrechts, einen Schritt, der für den Bundeshaushalt eine jährliche Mehrbelastung von mehr als 170 Millionen DM bedeutet. Ich meine, wir sollten nicht nur dankbar an diese zusätzlichen Leistungen denken, die der Finanzminister uns ermöglicht hat,
sondern auch daran denken, lieber Julius Cronenberg, daß dies eine sehr wirksame, solidarische Hilfe für diejenigen ist, die sich für unser Vaterland aufgeopfert haben.Die Beratungen dieses Konzepts der Bundesregierung im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung haben — in leichter Abweichung von manchen Zwischenrufen hier — ein hohes Maß an Übereinstimmung gezeigt. Auch die Anhörung der Kriegsopferverbände hat an der Ausgewogenheit der vorgesehenen Maßnahmen letzten Endes keine Zweifel aufkommen lassen.Die Bundesregierung begrüßt es sehr, daß der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung — ohne die Ausgewogenheit des Konzepts anzutasten — im Zuge der Beratungen weitere Verbesserungen gegenüber dem Regierungsentwurf einmütig beschlossen hat: Verbesserungen insbesondere für Pflegezulageempfänger und Pflegepersonen sowie die Ausdehnung der neuen nettoorientierten Mindestklausel auch auf erwerbstätige Beschädigte und Beschädigte, die ohne Schädigung noch erwerbstätig wären.Mit der Einführung des vom Ausschuß beschlossenen neuen Pflegeausgleichs für Witwen von Pflegezulageempfängern mindestens ab der Stufe II, die den Beschädigten während der Ehe mindestens 20 Jahre unentgeltlich gepflegt haben, erhalten diese Witwen neben ihrer sonstigen Hinterbliebenenversorgung eine zusätzliche einkommensunabhängige Anerkennung für die von ihnen erbrachte Lebensleistung.
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Parl. Staatssekretär SeehoferIch meine, das ist eine Anerkennung für jahrzehntelange aufopferungsvolle Pflegetätigkeit der Ehefrauen.Meine Damen und Herren, dies ist ein guter Tag für das soziale Entschädigungsrecht und für die davon Betroffenen. Ich bedanke mich insbesondere bei denjenigen, die am Zustandekommen dieses Gesetzes besonders mitgewirkt haben: beim Kollegen Ulrich Heinrich, beim Kollegen Julius Louven und, was den Pflegeausgleich betrifft, auch beim Kollegen Stefan Höpfinger,
dem es gelungen ist — was selten genug ist —, am Bundesarbeitsministerium vorbei die notwendigen Mittel beim Bundesfinanzminister locker zu machen, um die Verbesserungen im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens durchzusetzen.
Ich bedanke mich noch einmal und füge hinzu: Ich hätte mich auch beim Kollegen Ottmar Schreiner bedankt. Aber da er ständig versucht hat, mich aus der Ruhe zu bringen,
möchte ich diesen Dank nur sehr zurückhaltend zum Ausdruck bringen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Kirschner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege und Staatssekretär Seehofer, ich werde nachher im Laufe meiner Rede noch auf einzelne Dinge eingehen. Nur eine Bemerkung vorab: Daß wir dieses Gesetz begrüßen, ist klar. Nur hätten wir uns gewünscht, daß das, was Sie heute machen, schon früher gekommen wäre, und zwar analog dem, was der Bundeskanzler — Sie sagten es ja — bereits 1987 angekündigt hat. Ich glaube, es wäre auch möglich gewesen.
Nun, meine Damen und Herren, heute liegt uns der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Kriegsopferversorgung in zweiter und dritter Beratung vor, ein Gesetzentwurf, der nicht die jährliche Anpassung der Entschädigungsleistungen für die Kriegsopfer — entsprechend der Erhöhung der Renten aus der Rentenversicherung — zum Inhalt hat, sondern deren strukturelle Verbesserungen.In dieser Zielsetzung — ich sagte es schon — wird der Gesetzentwurf von uns unterstützt. Dies möchte ich hier insbesondere deshalb ausdrücklich festhalten, weil mit ihm zu einem Großteil Forderungen aufgegriffen werden, die wir Sozialdemokraten im Zusammenhang mit Gesetzen zur Anpassung derKriegsopferversorgung auch hier im Deutschen Bundestag in den letzten Jahren bereits mehrfach erhoben haben.
— Ja, richtig, Herr Kollege Andres.Rund 1,4 Millionen Kriegsopfer erhalten heute, knapp 45 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, noch Entschädigungsleistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz. Die Beschädigten, Witwen, Witwer, Waisen und Kriegereltern haben ein bleibendes Opfer für die Allgemeinheit erbracht, das wir zwar keinem abnehmen können, das wir in einer solidarischen Gesellschaft aber alle mittragen müssen.Diesem erbrachten Opfer muß die Kriegsopferversorgung auch in Zukunft gerecht werden. Dabei ist besonders zu berücksichtigen, daß sich infolge des Älterwerdens der Kriegsopfer deren Lebensbedingungen in besonderer Weise verschlechtert haben. Zu den schädigungsbedingten Gesundheitsbeeinträchtigungen traten altersbedingte Erkrankungen und Beschwernisse hinzu, so daß heute vielfach auch dort gesellschaftliche Hilfeleistungen erforderlich werden, wo früher noch Eigenhilfe möglich war. Dieser Situation wird der Gesetzentwurf in seiner jetzigen Fassung zu einem großen Teil — aber ich sage: nicht in allen Teilen — gerecht.Die generelle Notwendigkeit zur strukturellen Weiterentwicklung der Kriegsopferversorgung besteht ja nicht erst seit heute oder ab dem vorgesehenen Inkrafttreten des Gesetzentwurfs zum 1. April bzw. 1. Juli 1990. Diese Notwendigkeit besteht vielmehr schon seit einigen Jahren. Von seiten der SPD-Bundestagsfraktion hat es deshalb dazu in den letzten Jahren auch wiederholt klare Forderungen und Verbesserungsvorschläge gegeben, die aber mit der Stimmenmehrheit der Koalitionsfraktionen von CDU/ CSU und FDP schon in den entsprechenden Ausschußberatungen oder auch hier im Hause niedergestimmt worden sind. Lediglich zu Minimalverbesserungen konnten sich die Koalitionsfraktionen in dem einen oder anderen Fall durchringen.Dieses Verfahren läßt sich an einem Großteil der wesentlichen Leistungsverbesserungen, die der vorliegende Gesetzentwurf enthält, zurückverfolgen. Ich möchte nur erinnern an die Verbesserung des Berufsschadensausgleichs für Beschädigte und des Schadensausgleichs für Witwen. Dies ist eine alte Forderung von uns Sozialdemokraten, zu der wir bereits wiederholt Regelungsvorschläge gemacht haben. Dabei waren wir uns immer bewußt, daß dies ein sehr schwierig zu regelnder Bereich ist und daß durchaus auch andere Lösungsmodelle denkbar sind. Es war aber keine Alternative für uns, wegen dieser Schwierigkeiten gegen eindeutige Unterversorgungstatbestände so lange nichts zu unternehmen, bis man die optimale Lösung gefunden hat. Der Lösungsvorschlag, der mit dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf in der Ausschußfassung unterbreitet wird, findet auch unsere Zustimmung, weil er sachgerecht ist und insbesondere auch die Beschädigten einbezieht, die noch erwerbstätig sind bzw. ohne die Schädigung noch erwerbstätig wären.15178 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990KirschnerAls weitere Beispiele kann ich auf die Erhöhung der Alterszulage zur Grundrente für Schwerbeschädigte, die Verdoppelung des Zeitraums von fünf auf zehn Jahre, innerhalb dessen Pflegepersonen nach dem Tode des Pflegezulagenempfängers Kuren in Anspruch nehmen können, die Schonung der Pflegezulage des Beschädigten, wenn neben der Pflegetätigkeit der Ehefrau eine fremde Pflegeperson gegen Entgelt beschäftigt werden muß, die Verbesserung der Hilfe zur Weiterführung des Haushalts oder etwa die längst überfällige Erhöhung der Elternrente verweisen.Das alles sind Leistungsverbesserungen, auf deren Notwendigkeit die SPD-Bundestagsfraktion schon vor Jahren hingewiesen hat und deren gesetzgeberische Umsetzung von den Koalitionsfraktionen bisher immer verhindert wurde. Jetzt endlich hat sich auch bei der Bundesregierung — Herr Kollege Seehofer, nicht dank des Bundesfinanzministers; ich nehme an, daß das nicht dem Bundesfinanzminister zu verdanken, sondern eben dringend notwendig ist — und bei den Koalitionsfraktionen diese Erkenntnis durchgesetzt, und es werden unseren Forderungen entsprechende Maßnahmen ergriffen.
Meine Damen und Herren, wenn ich diese Zusammenhänge hier darstelle, dann ist dies nicht als Rechthaberei mißzuverstehen. Tatsache ist aber, daß der Bundesregierung ebenso wie den Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und FDP schon im Zuge der öffentlichen Anhörung von Kriegsopferverbänden, die der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung im Mai 1987 zur Kriegsopferversorgung durchgeführt hat, auf eindringliche Weise vor Augen geführt worden ist, daß die altersbedingt besondere Situation der Kriegsopfer sofortiges Handeln notwendig mache.
Kein einziger Vertreter der Kriegsopferverbände hielt schon damals ein weiteres Hinausschieben struktureller Leistungsverbesserungen für vertretbar. Der Nachbesserungsbedarf in der Kriegsopferversorgung war also allen Beteiligten klar. Nur wollten sich die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen in der Vergangenheit nicht zu einer gesetzgeberischen Umsetzung des für notwendig Erkannten durchringen. Geblieben sind den Kriegsopfern für lange Zeit im wesentlichen nur Versprechungen und Vertröstungen.
Wenn mit dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf zu einem Großteil sozialdemokratische Verbesserungsvorschläge aufgegriffen werden, so macht das auch deutlich, daß jetzt für richtig gehalten wird, was früher von den Koalitionsfraktionen und der Bundesregierung als unbezahlbare Versprechungen — so wurde es immer abgetan, Herr Kollege Heinrich — abgetan wurde.
— Sie haben es doch abgetan, weil es von unserer Seite kam und weil es Ihnen noch nicht in den Kram paßte.
Es war auch nicht so, Herr Kollege Louven, daß keine Finanzierungsmöglichkeiten vorhanden gewesen wären. Das ist doch wohl unbestritten. Ich will darauf hinweisen — obwohl ich das eigentlich nicht ansprechen wollte — , daß durch das altersbedingte Wegsterben weniger Ausgaben für Kriegsopfer anfallen. Wir hätten also auch in der Vergangenheit genügend Spielräume gehabt, wenn das gewollt worden wäre.
Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, hab en anderen Bereichen gegenüber der Kriegsopferversorgung den Vorrang eingeräumt. Sie haben es z. B. für richtiger gefunden, Finanzmittel für eine ungerechte und unsoziale Steuerreform mit einer Begünstigung insbesondere von Besserverdienenden einzusetzen als für die notwendige strukturelle Verbesserung der Kriegsopferversorgung, obwohl dafür schon ein Bruchteil dessen, was die Steuerreform insgesamt ausgemacht, ausgereicht hätte.
Das meine ich, wenn ich sage: andere Prioritäten setzen. Ich darf Sie auch an die Frühpensionierung von Offizieren erinnern. Dafür hat man 600 Millionen DM übrig gehabt,
für die strukturelle Verbesserung der Kriegsopferversorgung aber nicht. Das Ergebnis ist heute, daß eine Großzahl von Beschädigten und Hinterbliebenen von den Leistungsverbesserungen nichts mehr hat, weil sie diese nicht mehr erleben. Das allerdings ist ein bedrückendes Ergebnis, das wir sehr bedauern.Trotzdem begrüßen wir Sozialdemokraten es, daß es wenigstens jetzt zu den überfälligen Strukturverbesserungen kommt. Wir haben schon in den Beratungen des federführenden Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung versucht, den Gesetzentwurf durch einige weitergehende Leistungsverbesserungen zu ergänzen, weil wir meinen, daß es insbesondere im Hinblick auf das zwischenzeitlich sehr hohe Durchschnittsalter der Beschädigten und der Hinterbliebenen zwingend ist, nicht mehr schrittweise voranzugehen, sondern jetzt zu einem umfassenden, insgesamt zufriedenstellenden und gerechten Leistungssystem in der Kriegsopferversorgung zu kommen. Auch wenn die Koalitionsfraktionen unseren Änderungsanträgen in den Ausschußberatungen aus finanziellen Gesichtspunkten nicht gefolgt sind, so erkennen wir doch an, daß der Regierungsentwurf nicht unerheblich nachgebessert wurde, indem einige Verbesserungsvorschläge des Bundesrates, die sich in ihrer Zielsetzung wiederum mit Forderungen von uns dekken, aufgegriffen wurden. Diese entschädigungsrechtlich gebotenen Nachbesserungen haben auch unsere Zustimmung gefunden. Dennoch möchte ich hier von unseren Verbesserungsvorschlägen zwei nochmals aufgreifen. Weil wir diese für vordringlich
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Kirschnerhalten, stellen wir sie hier nochmals zur Abstimmung.Zum einen ist dies die Verbesserung des Pflegeausgleichs für Witwen, die ihren Ehemann über Jahre hinweg gepflegt haben. Mit der Regelung, wie sie nun der in der Ausschußfassung vorliegende Gesetzentwurf vorsieht, ist eine angemessene Entschädigung für jahrelang unentgeltlich und aufopferungsvoll erbrachte Pflegetätigkeit nicht zu erreichen. Hinzu kommt, daß es den pflegenden Ehefrauen nicht möglich war, einer beruflichen Tätigkeit nachzugehen, um sich eine eigene Altersversorgung aufzubauen. Wir halten es deshalb für dringend geboten, für den zu gewährenden Pflegeausgleich die Pflegetätigkeit bereits ab dem 11. Pflegejahr zu berücksichtigen und darüber hinaus den Steigerungssatz je zu berücksichtigendes Pflegejahr auf 1 vom Hundert zu erhöhen. Ich appelliere wirklich an Sie, das mit zu berücksichtigen.Unser zweiter Antrag zielt auf die Verbesserung der Witwen- und Waisenbeihilfe ab. Wir halten es für sozialpolitisch gerechtfertigt und entschädigungsrechtlich vertretbar, nicht nur bei der Versorgung Hinterbliebener von Beschädigten mit einem Anspruch auf die Beschädigtenrente eines Erwerbsunfähigen, sondern auch von Beziehern einer Beschädigtenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um wenigstens 90 v. H. auf den konkreten Nachweis einer Mindestausfallquote zu verzichten. Bei verstorbenen Beschädigten mit einer so hohen Minderung der Erwerbsfähigkeit kann eine relevante schädigungsbedingte wirtschaftliche Beeinträchtigung mit hoher Wahrscheinlichkeit angenommen werden, weil eine so gravierende gesundheitliche Beeinträchtigung im allgemeinen mit Auswirkungen auf den gesamten Organismus und mit Einschränkungen der Arbeitsfähigkeit verbunden ist.Die durch unsere Änderungsanträge bedingten Mehrkosten gegenüber dem vorliegenden Gesetzentwurf, wie er nun in der Ausschußfassung vorliegt, belaufen sich jährlich gerade auf 14 Millionen DM. Sie wissen alle, das ist kein großer Betrag.
— Nein, für beides. Dies sind übrigens Zahlen, die auch im Bundesrat verwendet worden sind, Herr Kollege Louven. Sagen wir einmal, dies ist wahrlich kein Betrag. Er ist vertretbar und schon allein im Hinblick auf die durch den Rückgang der Zahl der Versorgungsberechtigten bedingten jährlichen Minderausgaben auch leicht finanzierbar.Ich möchte deshalb an die Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen appellieren und sie bitten, diesen berechtigten strukturellen Verbesserungen nicht weiter die Zustimmung zu verweigern.In der Schlußabstimmung werden wir Sozialdemokraten dem Gesetzentwurf zustimmen.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Heinrich.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Verehrter Herr Kirschner, ich bedanke mich, daß Sie die Arbeit anerkennen, die wir geleistet haben, auch das, was wir noch zusätzlich zusammen bewirkt haben.Ich stimme natürlich nicht mit Ihrer Beurteilung überein, daß wesentliche Teile der Steuerreform falsch seien. Die Steuerreform ist notwendig, um überhaupt erst wirtschaftliche Kompetenz zu bekommen, um überhaupt erst wirtschaftlich etwas vorweisen zu können. Deshalb ist das, was wir hier fertiggebracht haben, insbesondere in den letzten Wochen nochmals 9 Millionen DM vom Finanzminister zu bekommen, ein Ergebnis der richtigen Steuergesetzgebung und der richtigen Wirtschaftspolitik in diesem Lande.
Mit dem KOV-Strukturgesetz 1990 beschließen wir weitere wichtige strukturelle Verbesserungen in der Versorgung der Kriegsbeschädigten, Hinterbliebenen und Witwen. Dies geschieht in einem Umfang, den ich zu Anfang der Beratungen nicht vermutet hatte, den ich aber als Sozialpolitiker zum Wohle der Betroffenen erhofft habe.Ich unterstreiche hier nochmals: Die Erhöhung um 9 Millionen DM, die das Ergebnis von intensiven Verhandlungen ist, ist eine besondere Leistung unserer Wirtschaftskraft.Das jetzige Volumen für strukturelle Verbesserungen beläuft sich auf 134 Millionen DM. Das entspricht einer Verfünffachung des Geldbetrages von 1989. Damals konnten wir strukturelle Verbesserungen in Höhe von 26 Millionen DM zur Verfügung stellen. Heute zeigt sich, wie wichtig die einzelnen Schritte von der ersten Gesetzesfassung bis zur abschließenden Lesung im Bundestag sind
und welche Bedeutung der Anhörung zukommt, bei der die Interessenverbände entscheidend mitgewirkt haben. Wenn Sie das als lächerlich betrachten, dann spricht das für Sie. Den Verbänden gilt ebenfalls mein Dank.
Mit Gefühl und Wissen für das finanziell Machbare und für die, denen vorrangig geholfen werden muß, haben sich die Sozialpolitiker der FDP-Fraktion in den Beratungen der letzten Wochen eingesetzt. Kriegsopfer und deren Angehörige, besonders die Witwen, erhalten materielle Verbesserungen, die wir ihnen schuldig sind. Denn sie haben die Last der Geschichte am eigenen Leib erfahren müssen. Wir haben längst eingesehen, daß Sonntagsreden nicht genügen, um ihre Leistungen für die Gemeinschaft anzuerkennen.
Materielle Verbesserungen sind notwendig. Diese haben wir durchgesetzt, damit ihnen zukünftig ein angenehmeres Leben ermöglicht werden kann.
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HeinrichIm einzelnen: Erstens. 2 Millionen DM konnten für die Pflegezulage zur Verfügung gestellt werden. Mit diesem Betrag wird die Erhöhung der Pauschale von 25 % auf 50 % durchgesetzt werden. Die Pflegezulage erfolgt nicht länger mit einer Selbstbeteiligung von einem Drittel. Wir haben erreicht, daß der Eigenanteil auf ein Viertel gesenkt werden konnte.Zweitens. 2,8 Millionen DM stehen für den Berufsschadens- und Schadensausgleich zur Verfügung. Davon profitieren 13 000 Beschädigte und 8 000 Witwen. Das geht auf den mit Nachdruck vorgetragenen Wunsch der Kriegsopferverbände zurück. Dem stillen Heldentum der Frauen, die ihre Ehemänner jahrelang gepflegt haben, wird nun Rechnung getragen. Wichtig ist aber auch, daß der Schadensausgleich auf 1 400 erwerbstätige Beschädigte ausgedehnt werden konnte. In Zukunft kommt der Schadensausgleich auch männlichen haushaltsführenden Beschädigten zugute.Drittens. Zukünftig können Personen, die ihre Angehörigen mindestens zehn Jahre gepflegt haben — das ist die überwiegende Zahl der Betroffenen —, eine Kur über den Tod des Angehörigen hinaus erhalten. Damit haben wir die Anspruchszeiten verdoppeln können, eine wesentliche Verbesserung, wenn man bedenkt, welche seelischen und körperlichen Anstrengungen den Pflegenden durch die Heimpflege abverlangt worden sind. Notwendige, berechtigte Rehabilitationsmaßnahmen können jetzt von den Hinterbliebenen ergriffen werden. Sie ermöglichen ihnen eine Gesundheitsvorsorge im Alter und die Heilung eventueller Krankheiten und Leiden, die nicht zuletzt auf ihre Pflegeleistungen zurückgeführt werden müssen.Viertens. 4 Millionen DM stehen zukünftig für einen einkommensunabhängigen Pflegeausgleich zur Verfügung. Das ist ein Einstieg. Herr Kollege Kirschner, Sie haben weit mehr gefordert. Aber wir meinen, daß dieser Einstieg jetzt wichtig und richtig ist. Die mit diesem Einstieg verbundenen 4 Millionen DM gebühren den Witwen, die länger als 20 Jahre hingebungsvoll, unter Verzicht auf ihre persönlichen Wünsche ihr Leben den zu pflegenden Angehörigen gewidmet haben.Ich möchte nicht verhehlen, daß ich in gewissem Maße auch stolz auf das Geschaffene bin, auf diese strukturellen Verbesserungen, die wir durchgesetzt haben. Damit haben wir das erfüllt, was der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung angekündigt hat: Eine nachhaltige Verbesserung der materiellen Situation der Kriegsopfer und ihrer Angehörigen wird durch dieses Gesetz erreicht.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Louven.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Andres, Sie sind ja ein recht liebenswerter Mann,
aber Sie machen immer schon Zwischenrufe, wenn der Redner noch gar nicht gesprochen hat.
— Ach, es war diesmal Herr Schreiner. Aber in der Regel trifft das auf Sie zu.Der heutige Tag — Staatssekretär Seehofer hat das schon gesagt — ist für die Versorgungsberechtigten nach dem Kriegsopferversorgungsgesetz ein guter. Der schon jetzt international anerkannte hohe Stand unserer Kriegsopferversorgung wird im strukturellen Bereich nochmals spürbar verbessert. Auch in dieser Frage halten wir Wort, Herr Kirschner. Die vom Bundeskanzler für die zweite Hälfte der Legislaturperiode angekündigten strukturellen Verbesserungen werden Wirklichkeit.Der Gesetzentwurf hat drei Schwerpunkte: Berufsschadensausgleich für Beschädigte und Schadensausgleich für Witwen, Pflegezulage für Beschädigte und eine Ausgleichsrente für Witwen. Staatssekretär Seehofer und Kollege Heinrich haben die einzelnen Leistungen schon ausführlich dargestellt. Ich muß sie nicht wiederholen.Was wir heute beschließen, geht jedoch über den ursprünglichen Gesetzentwurf hinaus. Von diesem aber auch von den Leistungen des Gesetzentwurfes profitieren in einem größeren Umfange — wie ich meine, zu Recht — insbesondere die Frauen, die über viele Jahre in aufopferungsvoller Weise ihre versehrten Männer gepflegt haben. Wir wissen, daß wir menschliche Hingabe und Fürsorge vieler Frauen von Kriegsversehrten nicht in Geld aufwiegen können. Daher lag uns am Herzen, durch die Verbesserungen deutlich zu machen und anzuerkennen, daß die Ehefrauen der Kriegsopfer einen hervorragenden gesellschaftspolitischen Beitrag leisten.Die Verbesserungen, die über den ursprünglichen Entwurf hinausgehen, begünstigen erstens die Empfänger einer Pflegezulage, bringen zweitens eine gerechtere Regelung beim Berufsschadensausgleich bei Beschädigten im Rentenalter, führen drittens zu günstigeren Fristen für Pflegepersonen bei Kuren und sehen schließlich viertens die Einführung eines Pflegeausgleichs für Witwen von Versehrten, die mehr als 20 Jahre unentgeltlich gepflegt haben, vor. Die hier gefundene Stufenregelung nach Versorgungsstufen halte ich für richtig und gerecht.In der Anhörung, aber auch in vielen anderen Stellungnahmen ist deutlich geworden, daß die Kriegsopferverbände die Neuregelungen begrüßen und als Schritt in eine richtige Richtung ansehen. Wie gut dieser Gesetzentwurf ist, können Sie u. a. daran erkennen, daß die GRÜNEN, die ja sonst alles an dieser Bundesregierung kritisieren, zu diesem Gesetzentwurf gar nicht erst das Wort nehmen wollen.
Im Ausschuß hatten Sie, meine Damen und Herren von der SPD, weitergehende Anträge vorgelegt. Wir
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Louvenmußten diese ablehnen, weil sie den gesetzten Finanzrahmen überzogen hätten. Aus demselben Grund werden wir auch die heute hier gestellten Anträge ablehnen müssen. Ihre beiden Anträge, meine Damen und Herren von der SPD und Herr Kirschner, würden Mehrkosten nicht von 14 Millionen DM, wie Sie gesagt haben, sondern von 23 Millionen DM erfordern, die uns derzeit nicht zur Verfügung stehen.
Zu Ihrem Antrag zum Pflegeausgleich auf Drucksache 11/6447 sei mir der Hinweis erlaubt, daß es sich bei der Einführung eines Pflegeausgleichs bei Witwen von Pflegezulageempfängern um eine Anerkennung für lange Pflegezeiten, nicht aber um eine zusätzliche Versorgung handeln soll.Die im Ausschuß erreichten Verbesserungen machen 9 Millionen DM aus, so daß wir nunmehr auf einen Betrag von 134 Millionen DM kommen. Hinzu kommen die 40 Millionen DM auf Grund der Verordnungen und Richtlinien sowie der Teilversorgung Ost. Rechnen wir die Verbesserungen hinzu, die am 1. Januar 1989 in Kraft getreten sind, erreichen die strukturellen Verbesserungen in dieser Legislaturperiode nunmehr jährlich 200 Millionen DM — fürwahr ein stattlicher Betrag.
— Auf solche albernen Fragen, Herr Schreiner, gehe ich wirklich nicht ein.Man muß berücksichtigen — jetzt hören Sie einmal gut zu, Herr Schreiner — , wie das zu Zeiten von SPD-Regierungen aussah. Ich hätte das heute gar nicht gesagt, wenn Sie, Herr Kirschner, hier nicht wieder von Defiziten gesprochen hätten. Während Ihrer Regierungszeit gab es so gut wie keine strukturellen Verbesserungen.
Über Jahre hinweg lag die jährliche Anpassung unter der Inflationsrate. 1979 und 1980 haben Sie nicht einmal eine Anpassung vorgenommen. Herr Kirschner, Sie haben eben davon gesprochen, daß es große Probleme mit den älteren Kriegsopfern gibt. Dazu muß ich Ihnen sagen: Diese Probleme gab es auch schon während Ihrer Regierungszeit. Das ist Ihre Leistungsbilanz; dem steht unsere entgegen. Ich meine, wir können hierauf stolz sein.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte schön.
Herr Kollege Louven, man soll ja immer vorsichtig sein, wenn man sagt: keine strukturellen Leistungsverbesserungen. Ist Ihnen denn total aus dem Gedächtnis, oder wollen Sie es nur nicht wahrhaben, daß 1970 die Anpassung der Kriegsopferrenten an die Anpassung der sonstigen Sozialrenten eine der ersten Maßnahmen der damaligen Sozialliberalen Koalition war, d. h. die Dynamisierung der Kriegsopferrenten? War dies keine entscheidende strukturelle Verbesserung?
Herr Kollege Kirschner, ich habe gesagt: während Ihrer Regierungszeit so gut wie keine Verbesserungen.
Sie haben zwar den Anpassungsverbund herbeigeführt — dem haben wir damals mit zugestimmt —, aber der Anpassungsverbund ist ja keine strukturelle Maßnahme im Rahmen der Kriegsopferversorgung gewesen.
Meine Damen und Herren, ich habe aber dennoch ein Lob für Sie bereit; zum einen, Herr Kollege Kirschner, dafür, daß wir dieses Gesetz zügig und kooperativ beraten konnten. Ich meine, es verdient auch eine Erwähnung, daß Sie sich bei diesem Gesetz mit Zusatzanträgen weitaus verantwortlicher dargestellt haben als in den vergangenen Jahren.
Bedanken möchte ich mich auch bei den Kriegsopferverbänden für die gute Zusammenarbeit und auch dafür, daß sie dieses Gesetz alles in allem positiv beurteilen. Die deutschen Kriegsopfer — das ist jetzt wieder einmal deutlich geworden — können sich jetzt und in Zukunft auf uns verlassen.
Was uns aber am Herzen lag, war, durch diese Verbesserungen deutlich zu machen und anzuerkennen, daß die Ehefrauen der Pflegezulagenempfänger in aufopferungsvoller Weise ihre Arbeitskraft und ihre Gesundheit für eine wichtige soziale Aufgabe einsetzen.
In diesem Jahr besteht die Kriegsopferversorgung seit 40 Jahren. Die Kriegsopferversorgung trat am 1. Oktober 1950 als eines der ersten großen Sozialversicherungsgesetze in Kraft. Damals warteten 4,5 Millionen Opfer auf staatliche Hilfe. Mit ständigen Verbesserungen haben wir die Kriegsopferversorgung den Bedürfnissen angepaßt und weiterentwickelt. Das Kriegsopferstrukturgesetz bringt uns konzeptionell wieder um ein Stück nach vorn.
Heute leben noch 1,4 Millionen Versorgungsempfänger unter uns. Ihnen schulden wir Dank und Respekt, und ihnen wollen wir das Gefühl vermitteln, daß die Kriegsopferversorgung für uns einen sehr hohen Stellenwert hat.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Verbesserung der Struktur der Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz in der Ausschußfassung, Drucksachen 11/5831 und 11/6414.
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Vizepräsident StücklenIch rufe Art. 1 auf. Hierzu liegen Änderungsanträge der Fraktion der SPD vor. Wer für den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/6446 stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Das zweite war die Mehrheit. Der Änderungsantrag ist abgelehnt.Wer stimmt für den Änderungsantrag der SPD auf Drucksache 11/6447? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Damit ist auch dieser Änderungsantrag abgelehnt.Ich gehe davon aus, daß damit Art. 1 in der Ausschußfassung angenommen ist.Ich rufe Art. 1 a bis 3, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Keine Gegenstimmen. Enthaltungen? — Die Fraktion DIE GRÜNEN. Damit sind die Art. 1 a bis 3 angenommen.Wir treten in diedritte Beratungein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Keine Gegenstimmen. Enthaltungen? — Eine Enthaltung wiederum aus der gleichen Fraktion. Damit ist dieser Gesetzentwurf in dritter Lesung angenommen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes— Drucksache 11/6174 —aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses
— Drucksache 11/6420 —Berichterstatter:Abgeordnete Börnsen
GlosRindbb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung— Drucksache 11/6421 —Berichterstatter:Abgeordnete Dr. Struck Roth
ZywietzFrau Vennegerts
b) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes— Drucksache 11/5977 —aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses
— Drucksache 11/6420 —Berichterstatter:Abgeordnete Börnsen
GlosRindbb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung— Drucksache 11/6422 —Berichterstatter:Abgeordnete Dr. Struck Frau VennegertsRoth
Dr. Weng
c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungVorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Ergänzung des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems und zur Änderung der Artikel 32 und 28 der Richtlinie 77/388/EWG — Sonderregelung für Gebrauchtgegenstände, Kunstgegenstände, Antiquitäten und Sammlungsstücke— Drucksachen 11/4451 Nr. 2.2, 11/4534 , 11/6420 —Berichterstatter:Abgeordnete Börnsen
GlosRindDer Ältestenrat schlägt für die Aussprache 30 Minuten vor. — Das Haus ist damit einverstanden. Es wird so verfahren.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Jung .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Gesetzentwurf, den wir nun in zweiter und dritter Lesung zu beraten haben, enthält drei Schwerpunkte. Erstens wird die Deutsche Bundespost TELEKOM stufenweise in die Umsatzbesteuerung einbezogen. Das soll wie folgt geschehen: die Überlassung und Instandhaltung von Endstelleneinrichtungen zum 1. Juli 1990, alle weiteren Wettbewerbsdienste zum 1. Januar 1993 und schließlich die restlichen Tätigkeiten der Deutschen Bundespost, vor allem die Fernsprechumsätze, zum 1. Januar 1996.Damit zieht der Gesetzgeber die Konsequenzen aus der Neustrukturierung unseres Post- und Fernmelde-
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Jung
wesens und der Deutschen Bundespost, die im Reformgesetz vom 8. Juni 1989 beredet wurde. Dazu gehört auch die Abschaffung der umsatzabhängigen Ablieferungsregelung, die bislang den Haushalt der Bundespost nicht unerheblich belastet hat. Für dieses Jahr allerdings rechnen wir noch mit einer Postablieferung an den Bund in Höhe von 6 Milliarden DM. Insgesamt aber ist die Einbeziehung der Deutschen Bundespost TELEKOM in die Umsatzbesteuerung bei Wegfall der Postablieferung für die Post letztendlich sehr vorteilhaft.Zweitens wird die Umsatzsteuerbefreiung für die Verwahrung und Verwaltung von Wertpapieren, also für die sogenannten Depotgeschäfte, mit Wirkung vom 1. Januar 1991 aufgehoben. Damit wird dem europäischen Gemeinschaftsrecht Rechnung getragen und werden die Bestimmungen der 6. und 18. Richtlinie der EG zur Harmonisierung der Umsatzsteuer in den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft in Kraft gesetzt.Drittens — dies ist, meine Damen und Herren, wohl der wichtigste Punkt — wird für die Umsätze mit gebrauchten Kraftfahrzeugen zum 1. Juli 1990 die sogenannte — längst erwartete und längst fällige — Differenzbesteuerung eingeführt.
Damit wird endlich ein Zustand beseitigt, der den gewerblichen Gebrauchtwagenhandel gegenüber Verkäufen von Privat an Privat seit vielen Jahren benachteiligt. Diese sogenannte Differenzbesteuerung sorgt künftig dafür, daß nur noch der Unterschied zwischen dem Einkaufspreis und dem Verkaufspreis versteuert wird.
Dieses wirklich jahrealte Anliegen des Kfz-Handels wurde vor allem deshalb nicht verwirklicht, weil die bisherigen Vorschläge der EG-Kommission für eine verbesserte Besteuerung der Gebrauchtwagenumsätze eben nicht konsensfähig waren. Anfang vergangenen Jahres hat die EG-Kommission in Brüssel einen neuen Vorschlag für eine Richtlinie zur Einführung der Differenzbesteuerung für Gebrauchtwaren vorgelegt, also eine etwas erweiterte Regelung für alle Gebrauchtwaren. Trotz nachhaltiger Bemühungen des Bundesministers der Finanzen in Brüssel ist aber auch in diesem Jahr mit der Verabschiedung einer solchen EG-Richtlinie bedauerlicherweise nicht zu rechnen. Dies ist eigentlich um so erstaunlicher, als die meisten EG-Mitgliedstaaten schon lange eine solche Differenzbesteuerung praktizieren.Die Koalitionsfraktionen im Deutschen Bundestag sind nicht mehr bereit, den derzeitigen Zustand bei der Besteuerung des Gebrauchtwagenhandels weiter hinzunehmen.
Deshalb, meine Damen und Herren, hat die Koalition im vergangenen Herbst eine Gesetzesinitiative zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes ergriffen. Ich freue mich, daß auch die Mitglieder der SPD-Fraktion im Finanzausschuß, die leider nicht anwesend sind,
dieser Gesetzesänderung zugestimmt haben.Damit spricht sich die ganz überwiegende Mehrheit im Deutschen Bundestag dafür aus, im Vorgriff auf den revidierten Richtlinienvorschlag der EG-Kommission wenigstens für den wichtigen Bereich des Gebrauchtwagenhandels eine nationale Vorablösung einzuführen.
— Ja, das kommt noch; allerdings an anderer Stelle.Unsere Entschlossenheit zur endlichen Verwirklichung dieses alten Anliegens ließ sich auch nicht von der sogenannten Stillhalteverpflichtung aus der 6. EG-Richtlinie zurückhalten.Der Deutsche Bundestag will allerdings keine unnötige Auseinandersetzung mit der EG. Deshalb soll die nationale Vorabregelung eigentlich nur den Gebrauchtwagenhandel betreffen, um die Wettbewerbsnachteile wenigstens in diesem Markt, der von besonderer Bedeutung ist, abzubauen. Vor allem für den gewerblichen Kraftfahrzeughandel ist es von ganz entscheidender Bedeutung, daß diese Regelung nun auch wirklich kurzfristig wirksam wird.Dies gilt um so mehr, als der Bundesfinanzhof in jüngster Vergangenheit in mehreren Urteilen Agenturgeschäfte abgelehnt und Eigenhandel angenommen hat. Dies hat nunmehr zur Folge, daß Lieferungen gebrauchter Kraftfahrzeuge durch Kraftfahrzeughändler noch häufiger als früher mit 14 % des beim Verkauf erzielten Gesamtentgelts besteuert werden.Dagegen haben bekanntlich Privatpersonen für einen Gebrauchtwagenverkauf keine Umsatzsteuer zu entrichten. Erwirbt ein Händler einen Gebrauchtwagen von Privat, so steht ihm im Falle des Eigengeschäfts auch kein Vorsteuerabzug zu, so daß die beim Weiterverkauf eintretende volle Steuerbelastung nicht gemindert werden kann. Mit dieser Gesetzesänderung wir dieses steuerpolitische Ärgernis bald der Vergangenheit angehören.Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zugleich mit den Gesetzesänderungen empfiehlt der Finanzausschuß des Deutschen Bundestages der Bundesregierung — das diesmal einstimmig, also auch mit den Stimmen der Fraktion DIE GRÜNEN —, der sogenannten EG-Gebrauchtwaren-Richtlinie in der Fassung vom 3. Februar 1989 im Grundsatz zuzustimmen. Die Bundesregierung wird aufgefordert, sich für eine baldige Verabschiedung durch den Rat einzusetzen.Die Formulierung „Zustimmung im Grundsatz" hat nicht ohne Grund einen gewissen einschränkenden Charakter; denn der vorliegende Kommissionsvorschlag betrifft ja nicht nur die Differenzbesteuerung für gebrauchte Kraftfahrzeuge, sondern auch für andere Gebrauchtwaren wie z. B. Kunstgegenstände, Antiquitäten, Sammlungsstücke und ähnliches. Auch in diesen Fällen geht es darum, mit einer Rechtsänderung eine kumulative Umsatzsteuerbelastung zu vermeiden. Auch bei der Lieferung solcher Gebrauchtwaren von einem nicht gewerbetreibenden Privatmann an einen Unternehmer soll die Differenzbesteuerung künftig greifen, und auch bei solchen Ge-15184 Deutscher Bundestag — 11 Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag den 15. Februar 1990Jung
schäften soll lediglich der Unterschied zwischen dem Verkaufspreis und dem Einkaufspreis als Bemessungsgrundlage angesetzt werden.Meine Damen und Herren, dieses Anliegen ist leicht formuliert, aber ungleich schwieriger umgesetzt. Bei den weiteren Beratungen dieses Vorschlags in Brüssel sind noch einige schwierige Fragen zu klären. Zum Beispiel ist es nicht unproblematisch, auch auf solche Gegenstände, Gebrauchtgegenstände — so muß ich sagen — , die ohne Umsatzsteuerbelastung erworben wurden — z. B. auf Antiquitäten — , die Differenzbesteuerung anzuwenden. Deshalb ist allein schon die Auswahl der Gebrauchtgegenstände, die der Differenzbesteuerung unterworfen werden, schwierig.Die Bestimmung der Kunstgegenstände, der Sammlungsstücke und der Antiquitäten, die unter die Differenzbesteuerung fallen sollen, ist allein schon eine Kunst. Nach alledem ist es nur schlüssig, wenn sich der Deutsche Bundestag darauf beschränkt, der Bundesregierung zu empfehlen, dem Richtlinienvorschlag bei dessen weiterer Beratung in Brüssel — ich zitiere — „im Grundsatz" zuzustimmen.Ich fasse zusammen: Die nationale Vorabregelung der Differenzbesteuerung für den gewerblichen Gebrauchtwagenhandel ist und war in der Tat überfällig. Sie beseitigt spürbare Wettbewerbsnachteile in diesem Markt im Vergleich zum Gebrauchtwagenverkauf von Privat an Privat. Komplizierte Abgrenzungsfragen zwischen Eigengeschäft — volle Bemessungsgrundlage — und Vermittlungsleistung — Umsatzbesteuerung nur der Händlerprovision — werden künftig vermieden. Unsicherheiten bei der Anwendung des Umsatzsteuerrechts entfallen ebenso. Deshalb bitte ich Sie um Zustimmung zu diesem Gesetz.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Oesinghaus.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist lange her, daß ein Gesetzentwurf der Bundesregierung bzw. der Koalitionsfraktionen zur Steuerpolitik so einvernehmlich beschlossen werden konnte wie die hier heute abschließend zu beratenden Änderungen des Umsatzsteuergesetzes zur Einbeziehung der Deutschen Bundespost TELEKOM in die Umsatzsteuer und die Einführung einer Differenzbesteuerung für Umsätze im Gebrauchtwagenhandel.Die stufenweise Einbeziehung der TELEKOM in die Umsatzsteuer halten wir ebenso wie die Bundesregierung aus verschiedenen Gründen für erforderlich. Zum einen wird damit der Neuordnung der Finanzbeziehungen zwischen der Deutschen Bundespost und dem Bund Rechnung getragen. Es wird berücksichtigt, daß die Deutsche Bundespost noch bis Ende 1995 umsatzbezogene Ablieferungen an den Bund zu zahlen hat. Die Wettbewerbsfähigkeit der Bundespost bleibt damit gewährleistet. Per saldo ist damit keine Erhöhung der Einzelpreise für die Kunden zu befürchten. Im Interesse der TELEKOM wäre sogar eine frühere Inkraftsetzung der Maßnahmen wünschenswert gewesen, um der Deutschen Bundespost die Vorsteuern aus den erheblichen Investitionen in die Telekommunikation in möglichst großem Umfange zu sichern.Mit der stufenweisen Einbeziehung der Deutschen Bundespost TELEKOM in die Umsatzsteuer wird zum anderen auch europäischem Gemeinschaftsrecht Rechnung getragen. Danach ist die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet, die Fernmeldedienste nach einer von den Mitgliedstaaten zu beendenden Übergangszeit in die Umsatzsteuer einzubeziehen.Ich möchte jedoch darauf hinweisen, daß an einer Stelle des Gesetzentwurfs in den Formulierungen leider Interpretationsmöglichkeiten vorhanden sind, die sich zum finanziellen Nachteil der Deutschen Bundespost TELEKOM auswirken können. Es wird nicht zweifelsfrei deutlich, ob die Breitbandkommunikationsdienste der Deutschen Bundespost TELEKOM den Wettbewerbsdiensten, die nach dem Gesetzentwurf ab 1. Januar 1993 der Umsatzsteuer unterliegen sollen, oder den übrigen Tätigkeiten, die nach dem Gesetzentwurf erst ab 1. Januar 1996 mit Umsatzsteuer belegt werden sollen, zuzurechnen sind.Da der gesetzgeberische Wille darauf gerichtet ist, die Breitbandkommunikationsdienste erst ab 1. Januar 1996 der Umsatzsteuer zu unterwerfen, halten wir es für problematisch, diesen Willen im Gesetzestext nicht eindeutig zum Ausdruck zu bringen. Durch diese im Gesetzentwurf enthaltene Unklarheit kann es für die Deutsche Bundespost bereits ab 1. Januar 1993, also drei Jahre früher als beabsichtigt, zu zusätzlichen Umsatzsteuerbelastungen kommen. Die Bundesregierung hat auf unsere Frage im Finanzausschuß anerkannt, daß es in der Tat rechtlich unsicher sei, ob die Breitbandkommunikationsdienste dem Wettbewerbsbereich zuzurechnen sind oder nicht. Sie hat zugesagt, ein Gutachten zu dieser Frage einzuholen.Nachhaltig begrüßt wird von der SPD der Gesetzentwurf zur Einführung der sogenannten Differenzbesteuerung für Umsätze im Gebrauchtwagenhandel. Die SPD setzt sich seit Jahren dafür ein, die umsatzsteuerliche Benachteiligung des gewerblichen Gebrauchtwagenhandels zu beseitigen. Während beim Gebrauchtwagenkauf von Privat an Privat keine Umsatzsteuer anfällt, unterliegt der Verkauf von Gebrauchtwagen durch einen Händler der Umsatzsteuer mit dem allgemeinen Steuersatz von 14 %.Diese Ungleichbehandlung hat zur Folge, daß die Inzahlungnahme von Gebrauchtwagen im Kraftfahrzeughandel heute weitgehend über rechtlich problematische Agenturgeschäfte abgewickelt wird, die lediglich dem Ziel dienen, die Umsatzsteuerbelastung zu vermeiden.Auf EG-Ebene hat sich der Rat bereits vor mehr als zwölf Jahren, nämlich im Jahre 1977, verpflichtet, auf Vorschlag der EG-Kommission eine Gemeinschaftsregelung für die Besteuerung von Gebrauchtgegenständen, Kunstgegenständen, Sammlungsstücken und Antiquitäten zu erlassen. Nachdem die Kommission ihren ursprünglichen Richtlinienvorschlag zurückgezogen hatte, hat sie im Januar 1989 einen neuen Richt-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990 15185
Oesinghauslinienvorschlag vorgelegt, der für den Gebrauchtwagenhandel die sogenannte Differenzbesteuerung vorsieht. Danach wird nur der positive Unterschied zwischen dem Verkaufspreis und dem Einkaufspreis des Gebrauchtwagens der Umsatzsteuer unterworfen.Für die SPD stellt dieser vor gut einem Jahr vorgelegte Richtlinienvorschlag der EG-Kommission eine akzeptable Lösung zur Beseitigung der umsatzsteuerlichen Benachteiligung der Gebrauchtwagenhändler dar. Wir haben deshalb im Mai vergangenen Jahres im Finanzausschuß gemeinsam einen Beschluß gefaßt, in dem die Bundesregierung aufgefordert wurde, sich nachdrücklich inhaltlich und verfahrensmäßig für die Umsetzung des Richtlinienvorschlags einzusetzen. Für den Fall, daß diese Bemühungen bis zum 31. Dezember 1989 ohne Erfolg bleiben sollten, wurde die Bundesregierung aufgefordert, dem Finanzausschuß zu diesem Termin eine Formulierungshilfe für eine nationale Regelung auf der Grundlage des Richtlinienvorschlags zumindest für den Bereich der Gebrauchtwagen vorzulegen.Nachdem der Rat der EG seine Beratungen über den Richtlinienvorschlag zwar aufgenommen hat, mit einer kurzfristigen Verabschiedung jedoch nach wie vor nicht zu rechnen ist, hat die SPD zusammen mit den anderen Fraktionen des Bundestags entschieden, nicht länger auf die Verabschiedung einer EG-einheitlichen Regelung zur umsatzsteuerlichen Behandlung des Gebrauchtwarenhandels zu warten. Da sich umsatzsteuerlich bedingte Marktstörungen vorrangig im Gebrauchtwagenhandel zeigen, ist eine Sonderregelung für diesen Bereich im Vorgriff auf die Verwirklichung des Richtlinienvorschlags besonders dringlich.
Die SPD befürwortet daher nachdrücklich die vorgeschlagene Einführung der Differenzbesteuerung im Gebrauchtwagenhandel zum 1. Juni 1990.
Damit ist nicht nur die Kraftfahrzeughändler benachteiligende Umsatzbesteuerung der Gebrauchtwagenverkäufe endlich vom Tisch; auch für den Kunden, dessen Gebrauchtwagen von einem Händler in Zahlung genommen wird, ergibt sich mehr Klarheit. Er muß sich nicht länger auf rechtlich dubiose Geschäfte einlassen.Der vom Finanzausschuß empfohlenen Ergänzung, die vorgesehene Differenzbesteuerung auch auf Gebrauchtwagengeschäfte unter Händlern auszudehnen, stimmen wir ebenfalls zu. Damit wird gewährleistet, daß die Vorteile der Differenzbesteuerung dem Endverbraucher auch dann zugute kommen können, wenn der gewerbliche Verkäufer den verkauften Gebrauchtwagen von einem Händler erworben hat.Die Bundesregierung hat die Auffassung vertreten, die Einführung der Differenzbesteuerung beim Gebrauchtwagenhandel zum 1. Juni 1990 verstoße gegen die 6. EG-Richtlinie zur Harmonisierung der Umsatzsteuern,
nach der EG-Mitgliedstaaten bis zur Anwendung einer Gemeinschaftsregelung zwar bestehende Sonderregelungen beibehalten, nicht jedoch neue Sonderregelungen einführen dürfen. Der Finanzausschuß hat zu Recht diese Auffassung der Bundesregierung nicht geteilt.
Er vertritt vielmehr die Ansicht, daß es einem Mitgliedstaat unbenommen bleiben muß, im Vorgriff auf eine Gemeinschaftsregelung eine nationale Regelung zu treffen, die in wesentlichen Punkten mit den Harmonisierungsvorstellungen der EG-Kommission in Einklang steht.Im Hinblick auf den Richtlinienvorschlag des Rates der EG, nach dem bei der Lieferung von Gebrauchtgegenständen, Kunstgegenständen, Antiquitäten und Sammlungsstücken die Differenzbesteuerung eingeführt werden soll, fordern wir die Bundesregierung auf, dem Richtlinienvorschlag bei dessen weiterer Beratung in Brüssel im Grundsatz zuzustimmen und sich für seine baldige Verabschiedung durch den Rat einzusetzen.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Rind.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Es war einmal am 11. Januar im Jahre des Herrn 1978, da schlug die Kommission der Europäischen Gemeinschaft dem Rat die 7. EG-Richtlinie vor. Die weisen Herrn der Kommission wollten dabei den Handel mit Gebrauchtwagen regeln, die von nichtvorsteuerabzugsberechtigten Personen an Unternehmer verkauft werden. Sie brachten dabei zum Ausdruck, daß der dringlichste Regelungsbedarf zur Verhinderung von Mehrfachbesteuerungen für den Handel mit gebrauchten Kraftfahrzeugen bestehe.Seit dem Erkennen dieses dringlichsten Regelungsbedarfs sind nun 12 Jahre in die europäischen Lande gegangen, ohne daß die 7. EG-Richtlinie verabschiedet wurde und damit diesem dringlichsten Regelungsbedarf abgeholfen wurde.
Ich weiß nicht, wie viele Damen und Herren, die sich mit dieser 7. EG-Richtlinie in all den europäischen Landen befaßt haben, heute noch leben; aber wenn sie nicht gestorben sind, so beraten sie noch heute, wenn auch über eine neue, geänderte Richtlinie, über dasselbe Thema.Dies, meine Kolleginnen und Kollegen, ist eine bitterböse wahre Geschichte, leider kein Märchen. Der Einführung der Differenzbesteuerung im Gebrauchtwagenhandel hier heute zuzustimmen, ist deshalb ein Vergnügen, das man in dieser schönen Form als Parlamentarier nicht alle Tage hat. Wir ergreifen die gesetzgeberische Maßnahme im Vorgriff auf eine EG-einheitliche Regelung. Vorredner haben dies sehr richtig ausgeführt. Ein weiteres Vertrösten der Wirt-
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Rindschaft mit dem Hinweis auf eine irgendwann einmal zu verabschiedende Richtlinie wäre unzumutbar und nicht mehr glaubhaft.Ich glaube auch, daß wir dies im Hinblick auf die Stand-still-Vereinbarungen der 6. Richtlinie vertreten können; denn nach 12 Jahren kann es doch nicht wahr sein, daß es uns als nationalem Parlament verwehrt sein soll, eine Regelung, die EG-konform ist, hier zu verabschieden.Der 12jährige Stillstand hat dem Fachhandel mit Gebrauchtwagen schweren Schaden zugefügt.
Vor 1968 betrug der Anteil des Fachhandels am Gebrauchtwagenmarkt ca. 80 %. Heute liegt er bei etwa 43 % . 57 % der den Besitzer wechselnden Gebrauchtwagen werden von Privat an Privat veräußert, ohne daß der Fiskus daran mit einer Mark beteiligt ist.In den Ländern, in denen die Differenzbesteuerung schon praktiziert wird, beträgt der Anteil des Fachhandels am Gebrauchtwagenmarkt um die 70 % —bei uns 43 %. Bei 6,5 Millionen Gebrauchtwagen, die jährlich den Besitzer wechseln, kann man das Umsatzvolumen ermessen, das dem Handel Jahr für Jahr verloren gegangen ist.Vor diesem Hintergrund bin ich nicht überzeugt, daß die finanziellen Auswirkungen, die mit 320 Millionen DM angegeben werden, auch wirklich eintreffen.
Für die Verschiebung von Anteilen vom Privatmarkt zum Händlermarkt und damit für mehr Steuereinnahmen spricht sehr viel, insbesondere der Vergleich mit unseren Nachbarländern, die bereits ähnliches wie die Differenzbesteuerung oder die Differenzbesteuerung selbst praktizieren.Der Noch-Marktanteil des Fachhandels von ca. 43 % war nur zu halten, weil etwa jeder achte Wagen, der über den Fachhandel lief, im sogenannten Agenturgeschäft von Privat an Privat veräußert wurde und der Händler hierbei nur den vermittelnden Agenten gespielt hat. Der Respekt vor dem Hohen Haus verbietet es, näher darauf einzugehen, wie im Kundengespräch in vielen Fällen sogenannte Agenturverkäufe durchgeführt wurden. Ich möchte mir weitere Ausführungen dazu ersparen. Vorredner haben schon darauf hingewiesen, wie rechtlich bedenklich die Konstruktion des Agenturgeschäfts ist.Wie könnte aber auch ein KFZ-Händler einem normal, vernünftig denkenden Mitbürger folgende Rechnung klar machen: Wenn ich dein Auto für 9 000 DM in Zahlung nehme und es für 10 000 DM weiterverkaufe, muß ich, der Händler, 1 228 DM Umsatzsteuer, 14 % aus 10 000 DM Erlös, abführen, so daß ich an dieser Stelle schon einen Verlust von 228 DM mache, und du denkst, ich würde 1 000 DM verdienen. — Wie soll man so etwas einem normal denkenden Bürger klarmachen? Er nimmt an, einem Verkäufertrick aufzuliegen, und wird folglich das Geschäft am Handel vorbei betreiben, seinen Wagen also selbst verkaufen. Dadurch büßt der Fiskus nicht nur die 1 228 DM Umsatzsteuer ein, sondern auch Einkommen- und Gewerbesteuer aus den Gewinnen, die der Händler erzielt hätte, wenn er das Geschäft abgeschlossen hätte.Damit ist ab 1. Juli 1990 endlich Schluß. Ich verbinde damit für meine Fraktion die Hoffnung, daß im Laufe der nächsten Jahre wieder eine Normalisierung im Gebrauchtwagenhandel eintritt und der Fachhandel verlorengegangene Marktanteile zurückerobern kann.
Zur Deutschen Bundespost hat Herr Kollege Jung sehr ausführlich, ausreichend und sehr gut
— auch sehr präzise — dargestellt, worum es geht. Ich erspare mir weitere Ausführungen dazu.Lassen Sie mich nur anmerken, daß diese Änderungen, die Einbeziehung des Bereichs TELEKOM, in die Umsatzbesteuerung voll in der Linie der FDP-Politik der Privatisierung staatlicher Aufgaben liegt. Dies ist eine Konsequenz daraus. Sie liegt auch voll im Trend der bevorstehenden Neuregelungen im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft.Es bleibt mir am Ende nur der Dank an das Bundesministerium der Finanzen. Mitte November haben wir die Änderung seitens der Koalitionsfraktionen ins Auge gefaßt. Drei Monate später finden die abschließenden Beratungen im Deutschen Bundestag statt. Wenn das keine kurze Verabschiedung eines wichtigen Gesetzesvorhabens ist, wenn auch nur wichtig für einen beschränkten Kreis von Bürgern unseres Landes, aber nichts destoweniger letztlich für einen sehr wichtigen Teil unseres Handels in der Bundesrepublik! Wir freuen uns deswegen, dem Gesetz zustimmen zu können.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hüser.
Danke schön, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein bißchen Kritik möchte ich bei so viel Gleichklang doch schon noch in die Debatte hineinbringen.Wir erleben hier heute den seltenen Fall in der Gesetzgebung, daß die Bundesregierung eine Steuerbestimmung harmonisiert, bevor der entsprechende EG-Richtlinienvorschlag überhaupt ansteht. Das ist vielfach erwähnt worden. Ich kann nur hoffen, daß es sich die EG, wie es bei so manchen anderen Harmonisierungsbestrebungen geschehen ist, nicht noch einmal anders überlegt.Typisch ist das Thema, bei dem wir hier die Vorreiterrolle übernehmen: der Gebrauchtwagenhandel. Ich glaube, dies ist kennzeichnend für unsere automobilvernarrte und -abhängige Gesellschaft. Oder sollte dieses Gesetz vielleicht den amerikanischen Gepflogenheiten folgen, daß man einem Politiker nur so viel Vertrauen beimißt, wie man auch bereit ist, einen Gebrauchtwagen von ihm zu kaufen? Sollte hier viel-
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Hüserleicht Imagepflege für das Hohe Haus betrieben werden?
— Na, da bin ich aber zufrieden.Ob dieses Gesetz eilig oder überfällig ist, sei dahingestellt. Immerhin gibt es einen ganz gut florierenden Gebrauchtwagenhandel. Steuersystematisch ist dieses Gesetz allerdings richtig. Es ist auch angebracht, um Autobesitzern und -händlern umständliche Umgehungstricks zu ersparen. Deshalb haben wir GRÜNEN nicht nur dem Entschließungsantrag, Herr Jung, sondern auch diesem Gesetzentwurf im Ausschuß zugestimmt. Wir würden dies gerne auch jetzt tun; jedoch ist uns dies verwehrt, weil diese Gesetzesinitiative mit einer anderen Gesetzesinitiative gekoppelt worden ist, nämlich mit einer heimlichen Steuererhöhung, die uns die Postreform beschert. Ob und wie diese Steuern dann auf die Postkunden werden überwälzt werden können, wird, so heißt es auch in der Gesetzesbegründung, von der Ertragslage der TELEKOM abhängen.Doch zurück zu den Gebrauchtwagen und zu einer kurzen Wertung des Gesetzes — wie es für uns GRÜNE ansteht — auch aus ökologischer Sicht. Einerseits erfolgt hier — das habe ich schon angedeutet — ein weiterer Beitrag zur Förderung unserer Automobilgesellschaft. Andererseits aber könnte die Steuerermäßigung auch ein Anreiz sein, einen Altwagen abzustoßen und sich einen schadstoffarmen Neuwagen zuzulegen, vorausgesetzt natürlich, daß die Gebrauchtwagenhändler zumindest einen Teil dieser Steuerersparnis an ihre Kunden weitergeben.Die Kosten der Steueränderung belaufen sich auf 320 Millionen DM je nach Umsatz Jahr für Jahr wieder. Es überrascht uns doch schon erheblich, wie problemlos dieses Gesetz über die Bühne geht und befürwortet wird, wo wir z. B. bei der Steuerreform 1990 ganz erbittert über die Einschränkung der Steuerfreiheit von Lohnzuschlägen für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit gestritten haben. Da ging es nur um 250 Millionen DM. Das ist doch, denke ich, aus unserer Sicht ein krasses Mißverhältnis.Ganz unvermutet hat auch dieser Gesetzentwurf wie fast alle Themen, über die wir hier debattieren, einen DDR-Bezug erhalten. An Stelle der von der DDR erhofften Soforthilfe, die die Bundesregierung offenkundig in Erwartung des wirtschaftlichen Kollaps der DDR verweigert, wird hier immerhin jenen DDR-Bürgern eine kleine Erleichterung angekündigt, die sich einen gebrauchten BRD-Wagen kaufen wollen, obwohl es, denke ich, gewiß nicht unser Ziel sein darf, die DDR jetzt auch noch als Absatzmarkt für ausgemusterte bundesdeutsche Waren und Wagen zu erschließen und im Falle einer Wirtschafts- und Währungseinheit die DDR-Produzenten auszuschalten. Dieses Thema haben wir heute morgen allerdings ausführlich diskutiert. Ich möchte das jetzt hier nicht noch ausweiten.Wir werden uns bei dem zusammengefaßten Gesetzentwurf der Stimme enthalten und dem Entschließungsantrag zustimmen.Danke schön.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b. Der Finanzausschuß empfiehlt auf Drucksache 11/6420 unter Nr. 1, die Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 11/6174 und 11/5977 zu einem Gesetzentwurf zu verbinden und diesen mit der Bezeichnung „Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes" in der Ausschußfassung anzunehmen.Ich rufe die Art. 1 bis 3, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Keine Gegenstimmen. Enthaltungen? — Zwei Enthaltungen. Damit sind die Art. 1 bis 3 in zweiter Beratung angenommen.Wir treten in diedritte Beratungein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Keine Gegenstimme. Enthaltungen? — Zwei Enthaltungen. Der Gesetzentwurf ist damit mit großer Mehrheit angenommen.Der Finanzausschuß empfiehlt weiter auf Drucksache 11/6420 unter Nr. 2, die Bundesregierung aufzufordern, dem in der Anlage 2 der Drucksache 11/6420 aufgeführten Richtlinienvorschlag bei dessen weiterer Beratung in Brüssel im Grundsatz zuzustimmen und sich für eine baldige Verabschiedung durch den Rat einzusetzen. Wer für diese Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Keine Gegenstimme. Enthaltungen? — Keine Enthaltung. Die Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen.Der Ausschuß empfiehlt weiter auf Drucksache 11/6420 unter Nr. 3 die Annahme einer Entschließung. Wer dafür stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Keine Gegenstimmen. Enthaltungen? — Keine. Die Beschlußempfehlung ist damit einstimmig angenommen.Ich rufe den Zusatztagesordnungspunkt 5 auf:Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Fremdrentenrechts— Drucksache 11/6452 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung InnenausschußRechtsausschußAusschuß für innerdeutsche Beziehungen HaushaltsausschußMeine Damen und Herren, nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist dafür eine Aussprachezeit von 30 Minuten vorgesehen. Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
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Vizepräsident StücklenIch eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Müller .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das 1976 vom Deutschen Bundestag in der Zeit des Kalten Krieges verabschiedete Fremdrentengesetz ist ein klassisches Recht von vertriebenen und verfolgten Menschen, ein Solidaritätsrecht für Menschen, die aus politischen oder religiösen oder anderen Gründen Schweres durchgemacht und ihre Heimat oft unter Gefahr für Leib und Leben verlassen haben. Diese Menschen sollen bei uns so behandelt werden, als hätten sie in der Bundesrepublik gelebt und hier Beiträge gezahlt. An diesem Grundsatz wollen wir auch weiter festhalten, wobei es für uns klar ist, daß niemand besser als diejenigen gestellt werden darf, die hier ein Leben lang gearbeitet und Beiträge gezahlt haben.
Aber wir würden die Dinge auf den Kopf stellen, würden wir nun auch denen Leistungen nach dem Fremdrentenrecht zahlen, die gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit handelten, die die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik bekämpften und einem herrschenden System politischer Unterdrückung erheblichen Vorschub geleistet haben. Es geht also nicht darum, jedem kleinen Mitläufer in einem Unrechtssystem die Leistungen vorzuenthalten, es geht uns um die wirklichen Schreibtischtäter und vor allem um die Schinder, um diejenigen, die anderen Menschen Unrecht und Leid angetan haben. Es wäre ja noch schöner, wenn wir diese Unterdrücker und die Büttel eines Unrechtsregimes jetzt auch noch mit einer Rente hier bei uns in der Bundesrepublik belohnen würden. Das Fremdrentenrecht war für die Verfolgten und nicht für die Verfolger gedacht. Die im Entwurf gefundenen Formulierungen entsprechen zudem den gesetzlichen Bestimmungen und Regelungen im Bundesvertriebenengesetz, im Häftlingshilfegesetz sowie im Lastenausgleichsgesetz. Von einem Verstoß gegen die Verfassung kann also keine Rede sein. Deswegen sind mir die Erklärungen des SPD-Kollegen Heyenn eigentlich unverständlich. Auch geht sein Vorwurf ins Leere, in diesem Entwurf werde Sozialrecht mit Strafrecht vermengt. Hier werden keine strafrechtlichen Sanktionen, sondern Leistungsausschlüsse vorgesehen, und das ist wohl Rechtens.
Ich sehe auch keine Probleme bei der Abwicklung der Prüfverfahren. Nach § 21 des Sozialgesetzbuches haben die Rentenversicherungsträger im Rahmen des pflichtgemäßen Ermessens die Anträge auf Leistung zu prüfen. Das heißt nicht, daß alle Übersiedler jetzt einem komplizierten Prüfungsverfahren ausgesetzt sind. Wenn sich jedoch an Hand der Lebensläufe begründete Zweifel einstellen, dann muß nachgefragt werden. Jetzt erweist es sich als nützlich, daß wir die Erfassungsstelle Salzgitter nicht aufgegeben haben. Die dort vorhandenen Unterlagen werden hilfreich einzusetzen sein.
Nun gibt es auch Leute, die sich zu einem bestimmten Stichtag von ihrer früher ausgeübten verwerflichen Tätigkeit abgewandt haben. Wir haben hierfür in unserem Entwurf den 30. Juni 1989 gewählt; ein Datum, das deutlich macht, daß opportunistische
Wendehälse keine Chance haben sollen, Leistungen nach dem Fremdrentenrecht zu beziehen. Wer aber zu einer Zeit, in der das Regime noch fest im Sattel saß, eine Abkehr vorgenommen hat, soll die Leistungen bekommen können. Wer sich früh genug vom Unrecht abgesetzt und distanziert hat, sollte auf unsere Solidarität nicht verzichten müssen.
Meine Damen und Herren, 40 Jahre Trennung — auch sozialstaatlich — sind nicht so leicht zu überwinden. Wir werden in harter Arbeit Schritt für Schritt die Sozialversicherungs- und Sozialleistungssysteme entsprechend den Bedürfnissen der Menschen angleichen müssen. Dazu gehört auch das Fremdrentenrecht. Die Notwendigkeit der jetzt eingeleiteten Änderungen haben wir bereits beim Rentenreformgesetz gesehen. Leider konnten wir das damals nicht einbringen, weil es am fehlenden Konsens mit der SPD gescheitert ist.
Lassen Sie mich abschließend an die Adresse der SPD folgendes sagen: Meine Damen und Herren, wer systematisch eine Angst- und Neiddiskussion gegen die Aus- und Übersiedler in Gang setzt und mobilisiert, den Stasi-Leuten aber den Zugang zu unserer Fremdrente nicht versperren hilft, handelt widersprüchlich und verstößt gegen das Gerechtigkeitsempfinden unserer Bevölkerung.
Das Gesetz zur Änderung des Fremdrentenrechts ist weniger ein Spargesetz als vielmehr ein Gesetz hin zu mehr Gerechtigkeit. Wir werden diesem Entwurf auch in der dritten Lesung unsere Zustimmung geben.
Vielen Dank.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dreßler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dieses Gesetz ist nichts als eine klägliche und sinnlose Ersatzhandlung.
Die Regierung will Handeln symbolisieren, aber in Wirklichkeit herrscht Ratlosigkeit. In der DDR steigt der soziale Druck, wachsen die Ängste vor der gesamtdeutschen Zukunft, gerade bei den Rentnern. Die Bundesregierung verweigert die konkrete Perspektive. Statt dessen beschäftigt sie sich mit einem Phantom, einem Produkt der Stammtischphantastereien.Dieses Änderungsgesetz, das uns vorgelegt wurde, betrifft Fälle, die es nicht gibt oder die, wenn es sie gäbe, unerkannt blieben und deshalb vom Gesetz nicht betroffen würden. Diese Änderungsabsicht betrifft außerdem ein Fremdrentengesetz, das es auf absehbare Zeit gar nicht mehr geben kann, weil ihm der 9. November 1989 schlagartig die Grundlage entzogen hat. Stasi-Rentner, die sich in der Bundesrepublik dank ihrer Fremdrente einen gemütlichen Lebensabend gönnen, gibt es nicht. Es gibt diese Stasi-Rentner nicht, weil der Staatssicherheitsdienst in der DDR nicht aus Rentnern, sondern aus Personen im erwerbs-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990 15189
Dreßlerfähigen Alter bestand. Wenn wirklich eine nennenswerte Zahl dieser Leute ins Rentenalter gekommen sein wird, dann gibt es angesichts des bevorstehenden Zusammenschlusses der beiden deutschen Staaten überhaupt kein Fremdrentengesetz mehr.
Deshalb ist der Gesetzentwurf der Bundesregierung schlicht überflüssig.
Meine Damen und Herren, es gibt diese Stasi-Rentner auch nicht, weil sie, wenn man sie ausfindig machen kann, hinter Schloß und Riegel wandern werden. Wenn sie strafbare Handlungen begangen haben, dann werden sie entweder nach unserem Strafrecht verurteilt oder an die DDR ausgeliefert.Ein Stasi-Rentengesetz ist nicht nur überflüssig; Regierung und Koalition begeben sich damit auch auf rechtsstaatlich äußerst abschüssiges Gelände.
Ich bitte die Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen und hier besonders die Kollegen der Freien Demokratischen Partei,
sich des sogenannten Tietge-Gesetzes zu erinnern. Auch damals wollten Sie mit einer hastig zusammengeschusterten Rentenrechtsänderung unter äußerster Strapazierung aller verfassungsrechtlichen Toleranzschwellen das sogenannte gesunde Volksempfinden befriedigen.In einer von uns erzwungenen Anhörung im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung wurde dieser Gesetzentwurf vernichtend kritisiert. Kein einziger Sachverständiger, auch keiner, den die Koalition bestellt hatte, ließ ein gutes Haar daran. Das Resultat war so niederschmetternd, daß die Koalition das Vorhaben aufgab und in den Schubladen verschwinden ließ. Bitte bedenken Sie, daß nahezu alle Argumente, die damals gegen den Tietge-Gesetzentwurf gerichtet waren, auch gegen die jetzt geplante Gesetzesänderung gerichtet werden könnten.Sie werden uns die Frage beantworten müssen, wie Sie es mit der Vermischung von Strafrecht und Sozialrecht halten. Wollen Sie wirklich Straftäter, die ihre Strafe längst verbüßt haben, bis ins hohe Alter verfolgen? Ist das Ihre Vorstellung vom Rechtsstaat? Wie können Sie es eigentlich rechtfertigen, daß jemand durch Rentenentzug bestraft wird, ohne daß es ein strafrechtliches Verfahren gibt, das den Strafprozeßnormen genügt? Wollen Sie die Sachbearbeiter der Rentenversicherungsträger zu Strafrichtern machen? Wie halten Sie es mit der Gewaltenteilung zwischen Verwaltung und Justiz?
Wie kommen Sie dazu, Herr Scharrenbroich, den Umkreis der Tatbestände, der zur Verweigerung des Anspruchs nach dem Fremdrentengesetz führen soll, sogar weiter zu ziehen als das Strafgesetzbuch? Meinen Sie wirklich, Sie kämen nicht mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz in Konflikt, wenn Sie dem Pförtner in der Ost-Berliner Normannenstraße die Rente verweigern, aber dem rechtskräftig verurteilten Steuerhinterzieher oder gar dem Mörder seinen Rentenanspruch weiter lassen?
Herr Scharrenbroich, haben Sie nicht Angst vor einem Präjudiz, wenn Sie jetzt den Kampf gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik als Verweigerungsgrund in das Rentenrecht einführen?Vor dem, was Sie bei den Fremdrentenzeiten anfangen, werden Sie ja wohl auch bei den Ausbildungszeiten dann nicht mehr zurückschrecken. Wollen Sie dann einem 65jährigen die Anerkennung von Hochschulzeiten verweigern, weil er als 20jähriger im Marxistischen Studentenbund war? Wollen Sie, daß die Regelanfrage beim Verfassungsschutz zur Praxis der Landesversicherungsanstalten wird?Meine Damen und Herren von der Koalition, dieser Gesetzentwurf ist nicht nur überflüssig und problematisch; er offenbart auch völlige Realitätsblindheit. Es ist schon komisch, wie wenig Sie begriffen haben, daß es keine Mauer mehr gibt und daß es in kurzer Zeit keine zwei deutschen Staaten mehr geben wird.Überlegen Sie einmal, was der Arbeitsminister machen wird bzw. machen würde, was aus Ihrem StasiRentengesetzentwurf wird, wenn es die deutsche Einheit gibt. Da die Stasi-Leute unzweifelhaft in der DDR Beiträge gezahlt haben, wird ein künftiger gesamtdeutscher Gesetzgeber ihnen unmöglich die daraus resultierende Rente verweigern können, wie auch immer man sie strafrechtlich verfolgen wird und wie auch immer das künftige gesamtdeutsche Rentenrecht dann aussehen mag.Blüm selbst, meine Damen und Herren, kommt in einem „Stern"-Interview vor vierzehn Tagen auf eine entsprechende Frage zu dem Schluß — ich zitiere — : „Dann stehen wir in der Tat vor einer neuen Situation."Nun möchte ich nicht den Teufel an die Wand malen, und ich rechne auch nicht damit, daß uns der gesamtdeutsche Arbeitsminister Blüm erspart werden wird.
— Habe ich mich versprochen? Haben Sie etwa geglaubt, ich rechne damit, daß er gesamtdeutscher Arbeitsminister wird?
Sollten Sie diese Hoffnung haben, dann darf ich Ihnen das alte slawische Sprichwort in Erinnerung rufen, das sagt: Auf der Wiese der Hoffnung weiden viele Ochsen.
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DreßlerMeine Damen und Herren, können Sie sich nicht wenigstens einen Augenblick — rein hypothetisch — vorstellen, daß Herr Blüm, wie ich denke, ziemlich jämmerlich aussehen würde, wenn er dann einem gesamtdeutschen Gesetzgeber einen Gesetzentwurf zur Wiederherstellung von Rentenanwartschaften ehemaliger Stasi-Angehöriger vorlegen müßte? Nehmen Sie doch bitte zur Kenntnis: Das Fremdrentenrecht, an dem Sie herumflicken wollen, ist schon längst ein auslaufendes Gesetz.
Jede Änderung ist nichts anderes als Leichenfledderei.Überlegen Sie lieber, welches deutsch-deutsche Rentensystem Sie an seine Stelle setzen wollen. Sagen Sie den Bürgern vor den nächsten Wahlen, was das kostet, was es für Rentner und Beitragszahler in Ost und West bedeutet und wem Sie die Rolle des Zahlmeisters in dem Spiel zugedacht haben.
Das wäre sinnvoller als die Selbstbefriedigung auf Stammtischniveau, die Sie mit diesem Gesetzentwurf betreiben.
Herr Kollege Müller, Sie haben eine bemerkenswerte Passage dieses Gesetzentwurfs hier noch ausdrücklich unterstrichen. Wenden wir uns dieser bemerkenswerten Passage noch wenige Augenblicke zu. Ich lese in Ihrem Gesetzentwurf: Der Leistungsausschluß soll nicht Personen treffen, die sich vor dem 30. Juni 1989 von Systemen politischer Unterdrükkung abgewendet haben, sofern dies in einem entsprechenden Verhalten zum Ausdruck gekommen ist. — Ich nehme an, daß ein weiterer Redner der Koalition uns z. B. das Geheimnis offenbaren wird, wieso der Vorsitzende der Ost-CDU sein Verhalten just zum 30. Juni öffentlich dargelegt hat.Schönen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Cronenberg.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Heyenn hat in einer Presseerklärung den Eindruck hinterlassen, als wenn es die Hauptaufgabe der deutschen Sozialpolitik sei, dafür zu sorgen, daß ehemalige Stasi-Mitglieder, auch soweit sie schuldig geworden sind, in der Bundesrepublik Rente beziehen können.Der Kollege Dreßler hat uns hier einen Vortrag gehalten, in dem er sehr viele Fragen gestellt hat — und zwar in einer Mischung von Unterstellungen, richtigen Fragen und auch einigen richtigen Thesen —,
um zu begründen, warum das Gesetz überflüssig sei.Die SPD ist für Überraschungen immer gut: Der Ehrenvorsitzende fordert, daß das, was zusammengehört, zusammenwachsen soll. — Eine richtige Aussage. — Der stellvertretende Vorsitzende der SPD verlangt,
daß die Übersiedlerrenten alle gestrichen werden. Und der Obmann der SPD im A-und-S-Ausschuß erweckt, wie schon gesagt, den Eindruck, als wenn die Rentenansprüche von Markus Wolf und Honecker ihm besonders am Herzen liegen.Kommen wir zur Sache zurück. Einige Feststellungen: Die beiden Staaten werden sich vereinigen. Die These von Rudolf Dreßler, daß das Gesetz dann überflüssig ist, ist richtig, dies ist überhaupt nicht zu bestreiten. Es geht ausschließlich darum, für die Übergangszeit zu vermeiden, daß sich diejenigen, die im Begriff sind, in die Rente zu gehen, eine Fremdrente hier bei uns besorgen, die eindeutig besser sein wird— wie immer wir die Dinge regeln werden — als die Rente, die sie in der DDR zu beanspruchen haben.Weitere Feststellung: Die Renten nach dem Fremdrentenrecht — das weiß der Kollege Dreßler, aber er verschweigt es — sind keine bei uns beitragsfinanzierten Renten. Wie beim Bundesvertriebenengesetz, beim Häftlingsentschädigungsgesetz und beim Lastenausgleichsgesetz entstehen keine Eigentumsrechte wie bei einer beitragsfinanzierten Rente hier.
Der jetzige Gesetzgeber hat deshalb eine sehr große Gestaltungsfreiheit, die wir nutzen. Was ich nicht will, ist, daß diejenigen, die beim Stasi oder woanders tätig gewesen sind, hier nach dem Fremdrentengesetz bevorzugt werden,
vorausgesetzt, daß sie schuldig geworden sind.
— Ich lege Wert auf die Feststellung, daß die Vorlage für mich nur akzeptabel war, nachdem klargestellt worden war, daß der Nachweis der individuellen Schuld erforderlich ist.
— Jawohl, das steht im Gesetz. Der Gesetzentwurf beinhaltet genau dies.Ich lege Wert auf die Feststellung, daß mich das Problem, das Rudolf Dreßler mit Recht angesprochen hat, der Fall Günter Guillaume, für den wir in der Tat keine Lösung gefunden haben, nach wie vor aufs äußerste bedrückt. Für mein Gerechtigkeitsverständnis ist es unerträglich, daß unsere Steuerzahler ca. 300 000 DM für Guillaume an die Rentenversicherung überweisen mußten, damit er bei uns eine Höchstrente bekommt. Ich gebe zu, daß wir das rechtliche Problem nicht haben lösen können. Aber die Aufgabe, die Dinge in Ordnung zu bringen, bleibt uns gestellt. Und wenn wir dieses Gesetz nicht verabschieden, lieber Rudolf Dreßler, dann kriegte der gute Günter
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990 15191
Cronenberg
Guillaume die Zeiten, als Spion für den Stasi arbeitend, hier auch noch angerechnet, was sich rentensteigernd auswirken würde. Dafür habe ich nun beim besten Willen kein Verständnis. Wenn der Junge Spaß am rheinischen Karneval kriegte und wieder zurückkäme, würden ihm die Zeiten, die er bei Bundeskanzler Brandt spioniert hat, noch als zusätzliche Rentenzeiten angerechnet. Ich meine, wenn wir uns bemühen, dies zu verhindern, sollten Sie uns helfen anstatt rumzuschimpfen.
— Bitte.
Herr Abgeordneter Cronenberg gestattet eine Zwischenfrage.
Herr Kollege Cronenberg, Sie haben soeben gesagt, daß Ihre Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf an ganz bestimmte Voraussetzungen geknüpft gewesen sei, die die rechtsstaatlichen Grundsätze umfassen. Wären Sie so freundlich, dem Hohen Hause die Stelle in diesem Gesetzentwurf vorzulesen, wo diesen rechtsstaatlichen Grundsätzen entsprochen worden ist?
Aber, Herr Kollege Dreßler, ein Blick in das Gesetz informiert: Es geht nicht um die Zugehörigkeit zu einer Organisation, sondern derjenige, der gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen hat — der einzelne! —
oder derjenige, der die freiheitlich-demokratische Grundordnung bekämpft oder einem herrschenden System politischer Unterdrückung erheblich Vorschub geleistet hat, soll keinen Rentenanspruch haben. Es geht also um individuelle Schuld des einzelnen, nicht um die Zugehörigkeit zu einer Organisation, wie uns immer unterstellt wird. Genau diesem Anspruch wird richtigerweise Rechnung getragen.
Es hat eine kleine Differenz gegeben. Sie waren nämlich gar nicht gemeint, sondern der Herr Schreiner war gemeint.
Herr Abgeordneter Cronenberg hat die Antwort ja gegeben.
Zu einer weiteren Zusatzfrage zunächst noch Herr Dreßler. Bitte schön.
Herr Kollege Cronenberg, ich hatte gebeten, mir die Stelle vorzulesen, aus der die Rechtsstaatlichkeit im Sinne der strafprozessualen Ordnung eindeutig in dem von Ihnen hier als zustimmungsfähig skizzierten Sinne hervorgeht. Gehe ich recht in der Annahme, Herr Kollege Cronenberg, daß Sie meiner
Bitte, uns diese Stelle aus dem Gesetzentwurf vorzulesen, bisher nicht entsprochen haben?
Aber sicher doch: Jemand, der das und das getan hat ... Das ist wie auch in anderen Gesetzen. Da steht nicht drin,
daß derjenige, der beim Stasi war, oder derjenige, der bei der SED war, oder ein ehemaliger SPD-Mann, der dann bei der SED war und jetzt wieder bei der SPD ist, keinen Rentenanspruch habe, sondern da steht ganz schlicht und ergreifend: Jemand, der ... Das ist eine eindeutige Definition. Also mehr, Herr Präsident, es sei denn, ich wiederhole mich, mehr kann ich dazu nicht sagen.
Herr Schreiner hat noch eine Zwischenfrage.
Ja. Vizepräsident Stücklen: Bitte schön.
Ich wollte nicht — wegen der Blockflöten — das eben angedeutete Konzert erweitern, sondern Sie fragen, nachdem Sie dem Gesichtspunkt der individuellen Schuld eine ganz wesentliche Bedeutung,
eine entscheidende Bedeutung für die Beurteilung beigemessen haben, ob jemand in den Genuß einer solchen Rente kommen soll oder nicht, ob es zutrifft, daß zahlreiche nationalsozialistische Schwerverbrecher nach Abbüßung ihrer Strafe in den Genuß einer Rente gekommen sind, und ich wollte Sie zusätzlich fragen, ob es zutrifft, daß der Chefkommentator der Nürnberger Reichsrassegesetzgebung, ein Herr Globke, nicht nur nicht bestraft worden ist, sondern Staatssekretär einer bundesdeutschen Regierung war und danach selbstverständlich in den Genuß einer Rente kommen konnte
— einer Pension — , und vor dem Hintergrund dieses Vergleichs der Gesetzentwurf der Koalition ein reiner Stammtischgesetzentwurf ist und ob es zutrifft, daß man die Regierungskoalition angesichts dessen eine Stammtischkoalition nennen könnte.
Zunächst einmal, Herr Kollege Schreiner, bestreite ich nicht, daß es bei der Entnazifizierung erhebliche Fehler gegeben hat. Ich bestreite auch nicht, daß der eine oder andere Anspruch nach meinem Gerechtigkeitsempfinden nicht gerechtfertigt gewesen ist. Aber ich mache darauf aufmerksam, daß es ein ganz entscheidender Unterschied ist und ich die Frage der Zugehörigkeit zum Staatssicherheitsdienst und der individuellen Schuld, wie Rudolf Dreßler sie an einem Beispiel demonstriert hat, völlig anders beurteilen würde, wenn diese Menschen hier bei uns im System Beiträge in unsere Rentenversicherung gezahlt hätten. Das war bei einem
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15192 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990
Cronenberg
Teil der von Ihnen angesprochenen Nationalsozialisten der Fall.Nun bin ich kein Freund von Stammtischpolitik. Ich verhehle aber auch nicht, daß ich gelegentlich ganz gern an einem Stammtisch ein Glas Bier trinke. Man sollte die Stammtische nicht immer so diffamieren.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich noch einige Fragen beantworten, soweit es mir die Zeit erlaubt, Rudolf Dreßler, die mit der Gesamtproblematik zusammenhängen, die in der Debatte heute morgen eine Rolle gespielt haben. Ich bin überzeugt — und das ist die Meinung der Freien Demokraten —, daß in dem dann vereinigten Vaterland selbstverständlich ein Beitrags- und leistungsbezogenes Rentenversicherungssystem aufgebaut werden muß. Das bedeutet erstens die Trennung der Einheitsversicherung vom FDGB. Der hat nichts damit zu tun. Das bedeutet zweitens, daß nach meiner Vorstellung eine Trennung zwischen Krankenversicherung und Rentenversicherung vorzunehmen ist. Das bedeutet drittens — hier bitte ich besonders aufzupassen — , daß, wenn ich eine Wirtschaftsunion und eine Währungsunion, wie sie Ingrid Matthäus nach meinem Dafürhalten zu Recht verlangt, schaffe, selbstverständlich von den Löhnen Beiträge abzuführen sind. Das heißt mit anderen Worten: Es ist nicht sonderlich fair, wenn man hier den Eindruck erweckt, als wenn in einem so finanzierten Rentenversicherungssystem — etwa die Landesversicherungsanstalt Thüringen, finanziert durch Beiträge mit gleichem Bundeszuschuß aus Steuermitteln versehen wie bei uns — Finanzierungsprobleme auftreten würden. Das mag für einige Übergangsmonate der Fall sein, bis sich das Verfahren eingespielt hat. Auf die Dauer wird das nicht der Fall sein, denn der demographische Aufbau innerhalb der DDR ist eher etwas günstiger als bei uns. Mit anderen Worten: Wer ein solches System einführt,
wird, da die Ansprüche der Menschen drüben durch die Arbeitsbücher in der DDR sauber nachweisbar sind, bei entsprechender Bezugsgröße — Durchschnittslohn — innerhalb LVA z. B. in Thüringen relativ schnell zu einem sehr ordentlichen Verfahren kommen. Auch die Probleme der Krankenversicherung, nach denen immer wieder gefragt wird, stellen sich im Verhältnis zu anderen relativ einfach dar. Es ist allerdings darauf hinzuweisen, mein lieber Rudolf Dreßler — das ist richtig — , daß über ein neu zu schaffendes System der Arbeitslosenversicherung — denn für die Arbeitslosen müssen Beiträge in die Renten- und Krankenversicherung eingezahlt werden — sichergestellt wird, daß für die Arbeitslosen Beiträge entrichtet werden.Ich bitte wirklich und allen Ernstes darum und wiederhole sozusagen meinen Geburtstagswunsch, in diesem Zusammenhang, lieber Rudolf Dreßler, dem Arbeitsminister nicht zu unterstellen, er wolle Böses, er kümmere sich grob fahrlässig nicht um die Dinge. Es mag unterschiedliche Lösungsansätze geben. Aber laßt uns, wie ich das eben in den paar Minuten versucht habe, die mir der Präsident gewährt hat, in allerSachlichkeit und Ruhe die Dinge diskutieren. Auch der Blick in die Programme der sich drüben bildenden Parteien gibt allerlei Hinweise. So verlangen z. B. die Liberaldemokraten und die Freien Demokraten dort Positionen, wie ich sie eben geschildert habe:
beitragsfinanzierte Systeme, freie und niedergelassene Ärzte im Gesundheitssystem, Wiederherstellung der Landesversicherungsanstalten in den Ländern. Es ist nicht so, als ob die Regierung, als ob die Parteien drüben wie hier konzeptionslos vor den Dingen stehen, ganz im Gegenteil. Darum meine herzliche Bitte: Unterstellen Sie bitte nicht, die Konkurrenz wäre faul, dumm und böswillig. Das Gegenteil ist der Fall. Wir mögen in einzelnen Positionen unterschiedlicher Auffassung sein. Aber bitte verzichtet auf diese Unterstellung.Herzlichen Dank.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Beck-Oberdorf.
Herr Kollege Cronenberg, Sie haben in den letzten Minuten mehr über perspektivische Überlegungen zum Sozialversicherungssystem in der DDR gesagt, als wir in unserem Ausschuß je zu hören bekommen haben.
Wir hatten in unserem Ausschuß vor drei Wochen einen Vertreter des Ministeriums, der uns nur gesagt hat, daß es eine Kommission gebe. Mehr konnte oder wollte er nicht sagen.Wir haben am vergangenen Mittwoch darum gebeten, daß wir erneut Informationen darüber bekommen, welche Überlegungen die Regierung anstellt. Diese Sitzung ist wiederum mit dem Verweis darauf abgesagt worden, daß es noch keine neuen Überlegungen gebe und erst der Besuch des Ministerpräsidenten Modrow und der Delegation abgewartet werden sollte.Vor diesem Hintergrund müssen wir den Entwurf zur Änderung des Fremdrentenrechts diskutieren, daß wir nämlich Zeugen eines entwürdigenden Schauspiels gewesen sind, wie diese Regierung die Vertreter der DDR mit leeren Händen hat ziehen lassen,
wie sie knallhart dokumentiert hat: Bevor ihr euch nicht beugt, euch nicht quasi ergebt und die soziale Marktwirtschaft einführt, werdet ihr von uns nichts bekommen.
Anstatt sich an die Arbeit zu machen und wirklich zu zeigen, daß an einem groß angelegten sozialpolitischen Solidarmodell für die DDR gearbeitet wird, bieten Sie uns jetzt diesen Nebenkriegsschauplatz StasiRentengesetz. Dieses Gesetz wurde von Minister Blüm in die Debatte eingeführt, als bei uns in der
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Frau Beck-OberdorfBevölkerung Unmut über die Regelungen des Fremdrentengesetzes aufzukeimen begann.Wir befassen uns heute mit einem Gesetzentwurf — da kann ich Kollege Dreßler nur zustimmen — , der schon deswegen überhaupt keine Bedeutung hat, weil die Betroffenen, nämlich die Stasi-Menschen, im erwerbsfähigen Alter sind und insofern von vornherein keinen Rentenanspruch bei uns haben.
Aber schauen wir uns einmal die politische und rechtsstaatliche Substanz dieses Gesetzentwurfes an. Dabei können wir über diese Regierung viel lernen.Künftig sollen die Personen keine Fremdrenten mehr beziehen, die gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen haben, welche die freiheitlich-demokratische Grundordnung der BRD bekämpft haben oder in ihren Herkunftsgebieten einem herrschenden System politischer Unterdrückung unter anderem durch Wahrnehmung geheimdienstlicher oder sicherheitspolizeilicher Aufgaben für einen Staatssicherheitsdienst erheblich Vorschub geleistet haben.Wie soll die Rentenversicherung, die einen gestellten Rentenantrag bearbeiten und bescheiden muß, feststellen, ob der Antragsteller oder die Antragstellerin dem Stasi nicht bloß angehört — auch Sie haben ja betont, die Mitgliedschaft allein ist es nicht — , sondern in seiner oder ihrer Tätigkeit der politischen Unterdrückung erheblichen Vorschub geleistet hat.
Soll sich der Versicherungsträger vielleicht an die Zentrale Erfassungsstelle in Salzgitter wenden? Die aber darf nur Straftatbestände erfassen. Aber darauf hat der Gesetzentwurf den Bezug von Fremdrenten ausdrücklich nicht eingegrenzt, sondern eine Fülle von unbestimmten Rechtsbegriffen gewählt.Soll die Sachbearbeiterin des Rentenantrages vielleicht die Hilfe bundesdeutscher Dienste in Anspruch nehmen, daß heißt westdeutsche Spitzel in der DDR befragen lassen? Rechtlich erlaubte Möglichkeiten für diese Zusammenarbeit der Rentenversicherungsträger mit informationellen Diensten gibt es nicht. Diese Informationen wären also nur rechtswidrig auf dem sogenannten kleinen Dienstweg zu erhalten.Das, meine Damen und Herren, zeigt, daß dieses Gesetz nur um den Preis des Verstoßes gegen rechtsstaatliche Grundsätze angewendet werden kann.
Aber daß Sie da nicht so kleinlich sind, haben wir schon öfter hier erleben können.
Ich möchte genau wie der Kollege Schreiner einen kurzen historischen Exkurs machen. Auf Grund von Artikel 131 des Grundgesetzes wurde den alten Nazis aus dem öffentlichen Dienst die Pension weiter gezahlt, selbst wenn sie führende Positionen im Naziregime innegehabt hatten, zur Wahrung des innerenFriedens, wie es damals hieß. Heißt das, daß Sie das System in der DDR schlimmer finden als die Naziherrschaft?Das Problem der Stasirenten bestätigt erneut die grundsätzliche Richtigkeit der Vorschläge der GRÜNEN. Die DDR-Sozialversicherung muß nach wie vor für ihre Mitglieder zuständig bzw. verantwortlich bleiben, auch für diejenigen, die hierher übersiedeln. Das Problem der strafrechtlichen Verfolgung allerdings soll die DDR unter sich ausmachen.
Ich erteile Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Seehofer das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Schreiner, wir haben heute das Vergnügen, uns mehrmals zu begegnen. Ich möchte mit Ihnen beginnen, weil Sie wie auch verschiedene Veröffentlichungen der SPD in der jüngsten Zeit mit den Eindruck erweckt haben, diese Gesetzesänderung sei mit Unrechtsgesetzen der Nationalsozialisten gleichzusetzen.
Deshalb möchte ich zu Beginn meiner Ausführungen noch einmal ganz deutlich den Unterschied herausstellen:
Die Nationalsozialisten haben denen die Rente weggenommen, die ihr Unrechtssystem bekämpft haben. Wir sperren denen die Rente, die einem Unrechtssystem aktiv gedient haben. Das ist der ganz wesentliche Unterschied.
Wer den Eindruck erweckt, hier könnten in dieser Weise zwei Sachverhalte miteinander verglichen werden, beleidigt im Grunde die Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus, Herr Schreiner.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schreiner?
Ja.
Herr Staatssekretär, ich habe Sie eben so verstanden, daß es der Regierung darauf ankommt, denen die Rente zu entziehen, die einem Unrechtssystem gedient haben. Nun frage ich Sie, warum denn die Regierung nicht im gleichen Atemzuge bereit ist, auch denen die Rente zu entziehen, die dem nationalsozialistischen Verbrecherregime gedient
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Schreinerhaben. Ich habe darauf hingewiesen, daß die Rentenbezüge der davon Betroffenen in der Nachkriegszeit von Ihnen niemals bestritten worden sind, daß ganz im Gegenteil eine Reihe von führenden Ideologen des nationalsozialistischen Verbrecherregimes später in den Diensten von CDU-Regierungen gewesen sind und daß das ein absoluter Widerspruch zu dem Gesetzentwurf ist, den Sie jetzt im Deutschen Bundestag einbringen. Können Sie mir zustimmen, daß Sie mit diesem Gesetzentwurf ausschließlich den deutschen Stammtisch, und zwar in seiner unangenehmsten Art, im Auge haben?
Herr Kollege Schreiner, das unterscheidet uns beide: Wir sind nicht auf einem Auge blind.
Dieser Gesetzentwurf unterscheidet überhaupt nicht zwischen rechts und links, zwischen Nationalsozialisten oder Kommunisten. Dieser Gesetzentwurf schließt alle vom Bezug der Rente aus, die die Bedingungen dieses Gesetzentwurfes erfüllen. Wer z. B. die freiheitlich- demokratische Grundordnung unseres Staates bekämpft hat, wird ausgeschlossen, ob er Nationalsozialist oder Kommunist ist. Das unterscheidet uns in der Betrachtungsweise, Herr Schreiner.
Jetzt komme ich zum Kollegen Dreßler, der hier wie immer sehr lautstark und sehr verbissen seine Argumente vorgetragen hat. Ein Argument, Herr Kollege Dreßler, war: Es gebe überhaupt noch keinen Handlungsbedarf, weil noch kein Fall vorgekommen sei.
Ja, muß es denn so sein, daß der Gesetzgeber immer erst dann handelt, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist?
Wir als Politiker sind doch aufgerufen, vorausschauend Politik zu betreiben, Gesetze zu einem Zeitpunkt zu machen, wo man erkennen kann: Hier könnte ein Fall auftreten. Herr Dreßler, ein Stasi-General, der hier Rente aus der Solidargemeinschaft der Bundesrepublik Deutschland bekäme, wäre ein Fall zuviel. Da muß man rechtzeitig handeln.
Lieber Kollege Dreßler, Sie und auch Herr Schreiner sagen wieder: Stammtischniveau. Das ist keine Entscheidung aus dem Augenblick heraus. Ich darf Sie einmal erinnern:
Am 7. März 1989 haben wir auf Drucksache 11/4124 einen Gesetzentwurf vorgelegt, in dem im Kern genau die gleiche Regelung — § 32; Sie erinnern sich, Herr Dreßler — enthalten ist; zu einer Zeit — das war vor einem Jahr — , als diese Diskussion überhaupt nicht vergleichbar war mit der emotionalen Diskussion, die insbesondere Oskar Lafontaine im Lande entfacht hat. Sie haben uns postwendend mit der Veröffentlichung dieses Gesetzentwurfs schriftlich mitgeteilt, daß § 32, der einen Ausschluß von Rentenleistungen für diesen Personenkreis vorgesehen hätte, mit der SPD nicht zu machen sei.
Die SPD hat vor einem Jahr eine rechtzeitige Lösung in ruhiger Diskussion verhindert. Dafür tragen Sie auch die Verantwortung.
Daher können Sie uns heute, wo Sie uns gezwungen haben, das erst jetzt zu machen, auch nicht vorwerfen, daß wir Stammtischparolen nachgäben.
Im übrigen sage ich Ihnen, Herr Dreßler: Der Stammtisch ist in Bayern eine grundlegende kulturelle Einrichtung. Ich freue mich immer, wenn Sie das Stammtischniveau kritisieren, weil Sie dann alle meine Stammtischfreunde in Bayern — und das sind Hunderte und Tausende — sehr beleidigen.
Ich frage Sie einmal, Herr Dreßler: Warum stellen Sie keinen Antrag, daß absolut identische, vergleichbare Regelungen im Bundesvertriebenengesetz
und im Häftlingshilfegesetz gestrichen werden, Regelungen, die seit vielen Jahren, ja seit Jahrzehnten gelten?
Ist es nicht eine schäbige Heuchelei, Gesetze mit zu verabschieden, über viele Jahre mitzutragen, in denen exakt das gleiche steht, und jetzt, wo wir einen Gesetzentwurf vorlegen, plötzlich zu sagen, das sei verfassungswidrig? Das ist schäbige Heuchelei, meine Damen und Herren!
Sie haben hier die Frage gestellt: Wollt ihr einem Hausmeister die Rente entziehen? Da kann ich Sie nur fragen, ob Sie den Gesetzentwurf nicht gelesen haben. Es ist darauf abzustellen, ob er einem System erheblichen Vorschub geleistet hat. Das entspricht übrigens der Rechtsprechung, d. h. wir knüpfen den Ausschluß ausdrücklich an das Kriterium „erhebli-
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Parl. Staatssekretär Seehoferchen Vorschub geleistet haben", also nicht an die bloße Wahrnehmung eines Amtes oder einer Funktion.
Dann möchte ich Sie, Herr Dreßler, noch einmal darauf hinweisen: Fremdrenten werden nicht auf Grund von Beitragsleistungen gewährt. Die Fremdrente ist ein Solidaritätsrecht für Verfolgte und Unterdrückte,
und es wäre ein Widersinn, der deutsch-deutschen Entwicklung, wenn dieses Solidaritätsrecht ausgerechnet jenen zugute käme, die die Menschen in der DDR gequält und schikaniert haben.
Wir zahlen Renten an Verfolgte, nicht an Verfolger.Ich erinnere mich jetzt an die Diskussion vor dem saarländischen Wahlkampf zurück, wo auch Sie gesagt haben: Abschaffung des Fremdrentenrechts, keine Leistungen mehr an Übersiedler.
Sie wollten einen Ausschluß für alle. Jetzt machen wir in einem ersten Schritt einen Ausschluß für einen kleinen Kreis, und Sie stimmen, wenn es auf die Nagelprobe ankommt, hier im Deutschen Bundestag dagegen.
Es muß einmal der Öffentlichkeit gesagt werden, daß Sie einen völlig widersprüchlichen Wahlkampf geführt haben und durch diese Wahlkampfführung sicher auch einige Leute in der Bevölkerung beeindruckt haben, daß aber Ihr Handeln hier, im Deutschen Bundestag, genau dem Gegenteil entspricht. Damit leisten wir der Demokratie und dem Ansehen der Politik einen Bärendienst, meine Damen und Herren!
Im übrigen darf ich Ihnen einmal vorlesen, was Sie zu der Zeit, als die Zahl der Über- und Aussiedler noch nicht so hoch war wie heute, zum Eingliederungsgeld gesagt haben: Die Absenkungen der Leistungen für Aus- und Übersiedler — so die SPD im Deutschen Bundestag — sind für die Betroffenen nicht zu verkraften. Lastenverschiebung zu Lasten der Sozialhilfe — das war Ihre Position vor einem halben Jahr.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie können mich überhaupt nicht aus der Ruhe bringen. Wir machen mit diesem Gesetz einen ersten wichtigenSchritt und werden im übrigen ganz konsequent, ohne uns von Ihnen irritieren zu lassen, an der Wirtschafts- und Währungsunion und auch an der Sozialunion weiterarbeiten. Dieser erste Schritt dient dazu, und ich bin ganz sicher, daß er ein wesentlicher Beitrag ist, mehr Akzeptanz in der Bevölkerung für die Philosophie des Fremdrentenrechts herzustellen. Diese Philosophie war von der ersten Stunde an: Rente an die Verfolgten, nicht Rente an die Verfolger.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Gesetzentwurf auf Drucksache 11/6452 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Werden andere Vorschläge gemacht? — Das ist nicht der Fall. Damit ist es so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Beendigung des Neuerwerbs des Vertriebenenstatus und bundeseinheitliche Anwendung des Staatsangehörigkeitsrechts
— Drucksache 11/6311 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Innenausschuß
Auswärtiger Ausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Haushaltsausschuß
b) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Neuregelungen für Übersiedlerinnen und Übersiedler
— Drucksache 11/6381 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Innenausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
Meine Damen und Herren, im Ältestenrat ist für diese Aussprache eine Redezeit von 90 Minuten vereinbart worden. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Abgeordnete Hämmerle.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In zahlreichen Debatten innerhalb und außerhalb dieses Hauses habe ich für die SPD-Fraktion dargestellt, daß die Problematik der Aus- und Übersiedler in den 90er Jahren nicht mehr mit Gesetzen zu bewältigen ist, die aus den frühen 50er Jahren stammen. Ich meine damit das Bundesvertriebenengesetz, das Lastenausgleichsgesetz und das Notaufnahmegesetz. Tagtäglich werden wir in dieser Feststellung bestätigt. Der Zuzug steigert sich. Bis Anfang dieser Woche sind 49 454 Aussiedler und 81 521 Übersiedler gekommen, eine Gesamtzahl von 130 975 Menschen in den ersten sechs Wochen des
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Frau HämmerleJahres 1990. Die Infrastruktur ist längst erschöpft. Es gibt keine Wohnungen mehr, nicht für Aus- und Übersiedler, zunehmend auch nicht für die eigene Bevölkerung. Übergangsunterkünfte können nur noch mit großen Mühen in Turnhallen, Zelten, Wohnwagen u. ä. geschaffen werden.
Die Arbeitslosigkeit steigt in diesem Bereich, denn längst ist die Euphorie vorbei, daß jeder Aus- und Übersiedler einen Arbeitsplatz bekommt. In den Schulen fällt der normale Unterricht aus, weil vermehrt Förderunterricht angeboten wird; Kinderbetreuungsplätze werden immer knapper; Sportvereine können ihren Sport nicht mehr betreiben, weil die Turnhallen mit Menschen belegt sind. Das Klima in der Bevölkerung wird schlechter.
Aggressionen wachsen, radikale Kraftmeiereien und die vermutlich einfachen Antworten auf komplizierte Sachverhalte finden zunehmend Anklang. Die Regierung aber handelt nicht.
Es gibt keine wirklich wirksamen Schritte gegen die Wohnungsnot, und die Gemeinden funken umsonst SOS. Die Kapazitäten sind längst ausgeschöpft.Wir Sozialdemokraten haben immer wieder Vorschläge gemacht,
die die Regierung nicht beachtet hat.
Dies war ein verhängnisvoller Fehler. Wir machen auch heute wieder zwei Vorschläge. Wir bitten erneut um Zustimmung, wir bitten erneut um Zusammenarbeit, und wir hoffen — Herr Kollege Gerster, ich persönlich hoffe das — auf eine ernsthafte und verantwortungsbewußte Beratung durch alle in diesem Haus Verantwortlichen.
Wer glaubt, daß er die Lage dadurch verbessert, daß er der Bevölkerung Sozialneid vorwirft
und denen, die den Mut haben, die Wahrheit zu sagen, eine Angst- und Neidkampagne unterstellt,
der irrt, Herr Kollege Gerster.
Es ist ja nicht so, meine Damen und Herren von der Koalition, daß die CDU/CSU-Fraktion dies nicht einsehen würde;
denn auch Sie sollen ja Volkes Stimme nach Bonntransportieren. Am 8. Februar 1990 war in der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung" in einem ganzseitigen Artikel Aufschlußreiches über eine Fraktionssitzung der CDU/CSU zu lesen. Es stand dort geschrieben: „Große Teile der CDU und eine geschlossene CSU sind nämlich der Meinung, daß sich die Chancen der Union ständig verschlechtern", wenn nichts geschieht.
„Die Bundesregierung habe schon mehrfach die politisch-psychologischen Veränderungen in der Wählerschaft mißachtet und Themen vom grünen Bonner Tisch aus behandelt . " Es steht noch weiteres Lesenswertes darin. Ich möchte das wegen der Kürze der Zeit nicht mehr zitieren.
Nun zu den Anträgen: Erstens. Wir beantragen ein Abschlußgesetz zum Bundesvertriebenengesetz. Meine Damen und Herren, Aussiedler erhalten bis heute den Vertriebenenstatus, aus dem sich Leistungen ergeben, die eine Bevorzugung darstellen. Dies hat auch das Eingliederungs-Anpassungsgesetz nicht grundlegend geändert. Aussiedler sind bis heute Vertriebene, weil davon ausgegangen wird, daß sie — ich zitiere — einem „fortdauernden Vertreibungsdruck" weichen. Bei aller unbestrittenen Anerkennung des schweren Schicksals der Deutschen insbesondere auch in der Sowjetunion halten wir Sozialdemokraten es für ein falsches Signal, wenn wir durch unsere Gesetzeslage immer noch so tun, als würden die Sowjetunion, Polen und andere Länder Osteuropas die deutsche Bevölkerung vertreiben. Vielmehr ist durch den politischen Wandel in den Staaten Ost- und Südosteuropas eine Situation entstanden, die nicht mehr die Annahme rechtfertigt, daß Spätfolgen der Vertreibung vorliegen oder ein gegen deutsche Minderheiten gerichteter Vertreibungsdruck vorhanden ist. Damit, meine Damen und Herren, entfällt die grundlegende Voraussetzung für den Erwerb des Vertriebenenstatus in der Zukunft.
Allerdings sagen wir, daß Vertrauensschutz denjenigen gewährt werden muß, die bisher keine zumutbare Möglichkeit besaßen auszusiedeln. Dies gilt insbesondere für Rußlanddeutsche und für die Deutschen in Rumänien.In der Begründung haben wir ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes — man höre — aus dem Jahre 1976 angeführt, das ich Ihrer besonderen Aufmerksamkeit empfehle.
Es heißt dort:
Das Bundesvertriebenengesetz ist kein Aussiedler-, sondern ein Vertriebenengesetz, das auch die Aussiedler nur als Nachzügler der allgemeinen Vertreibung in einer bestimmten geschichtlichen Situation ansieht.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Czaja?
Bitte schön.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990 15197
Bitte sehr.
Frau Kollegin Hämmerle, würden Sie nicht Ihre Aufmerksamkeit der Tatsache zuwenden, daß dieses Urteil in vielen Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts seither geändert worden ist, nachdem das Bundesverfassungsgericht 1981 mehrere Urteile des Bundesverwaltungsgerichts und ebenso Urteile höherer Verwaltungsgerichte zu diesen Fragen aufgehoben und an die vorigen Instanzen zurückverwiesen hat?
Ich möchte meine Aufmerksamkeit gerne allem zuwenden, Herr Kollege Dr. Czaja,
was Sie mir raten. Wir haben in einer Arbeitsgruppe unsere Aufmerksamkeit all diesen Themen gewidmet,
und wir sind zu dem Ergebnis gekommen, diesen Antrag hier vorzulegen. In diesem Urteil, das ich hier anspreche, wird nämlich der Gesetzgeber aufgefordert, ein der Zeit gemäßes Verfahren bzw. ein der Zeit gemäßes Gesetz zu schaffen. Wir glauben, diese Zeit ist gekommen.
Der zweite Antrag, den wir vorlegen, beschäftigt sich mit der Neuregelung für Übersiedlerinnen und Übersiedler. Der wichtigste Punkt darin ist die Abschaffung des Notaufnahmeverfahrens. Auch das Notaufnahmegesetz stammt aus dem Jahre 1950. Es geht davon aus — Zitat — , „daß Menschen aus den genannten Gebieten" — also der DDR — „geflüchtet sind, um sich einer von ihnen nicht zu vertretenden und durch die politischen Verhältnisse bedingten besonderen Zwangslage zu entziehen". Die Voraussetzung für das Notaufnahmegesetz ist also der Flüchtling. Den Flüchtling aus der DDR gibt es aber seit dem 9. November 1989 nicht mehr.
Unser Grundsatz lautet — wir haben das oft gesagt; ich möchte es hier wiederholen — : Von Halle nach Bonn umzuziehen muß so normal sein wie von Karlsruhe nach Bonn umzuziehen. Wenn dies so ist — wir glauben, es ist richtig — , dann entspricht es nicht nur einem normalen Zusammenleben der Deutschen, sondern auch dem Grundsatz der vollen Freizügigkeit. Deswegen beantragen wir, das Notaufnahmeverfahren abzuschaffen.
Es gibt interessante Zitate von zwei Unionsspitzenpolitikern. Das eine ist vom bayerischen Sozialminister. Er sagt: Übersiedlern, die aus der DDR in die Bundesrepublik umziehen, sollten weder besondere Vergünstigungen noch ein Anspruch auf vorläufige Unterbringung in einer staatlichen Einrichtung eingeräumt werden. Der Oberbürgermeister von Stuttgart, Rommel, sagt, man müsse Übersiedlern sogar die Rückkehr empfehlen, wenn sie ihr Lebensumfeld nicht geregelt haben, und man müsse ihnen auch keine Wohnung geben, wenn man gar keine habe. Diesem schließen wir uns an.
Meine Damen und Herren, wir wissen, daß in diesem Antrag, das Notaufnahmeverfahren abzuschaffen, ein Punkt ist, der die Gemeinden sehr beunruhigt. Wir glauben, daß man, wenn weiterhin ein großer Zuzug stattfindet, über das Melderecht eine Regelung treffen kann. Wir werden uns darüber im Ausschuß unterhalten.
Am 9. November 1989 war die Nachkriegszeit zu Ende. Neue Situationen erfordern neue Regelungen.
Aus diesem Grunde bitten wir Sie um Ihre Zustimmung. Ich möchte Sie herzlich darum bitten, daß wir in vollem Bewußtsein der Verantwortung für die Problematik diese Papiere miteinander erörtern.
Das Wort hat der Abgeordnete Gerster .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst muß ich darauf hinweisen, wie abenteuerlich eigentlich die beiden Tagesordnungspunkte sind. Bei Tagesordnungspunkt 9 haben Sie sich noch mit Vehemenz
dafür eingesetzt, daß ehemaligen Mitarbeitern des Staatssicherheitsdienstes die Renten erhalten bleiben,
und hier kommt Frau Hämmerle, um mit quantitativen Argumenten über die Frage zu entscheiden, was wir deutschen Übersiedlern und Aussiedlern geben. Das ist schon eine schlimme Sache!
Frau Hämmerle, wenn Sie sagen, da sei seit dem 9. November eine neue Welt, dann lenken Sie von der Tatsache ab, daß namhafte Sozialdemokraten lange vor dem 9. November 1989 bereits in primitivster Form Stimmung gegen Aussiedler und Übersiedler gemacht haben.
So hat Ihr Ministerpräsident Lafontaine aus dem Saarland am 25. November — das war allerdings nach dem 9. November; ich bringe aber auch gleich Zitate aus der Zeit vor dem 9. November — in der „Süddeutschen Zeitung" gefragt:
Ist es richtig, daß wir allen Bürgern der DDR, allen
Bürgern Polens, die deutscher Abstammung sind,
15198 Deutscher Bundestag — 11 .Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990
Gerster
oder den anderen, die in der Sowjetunion, in Rumänien und in anderen Staaten Osteuropas leben, den Zugriff auf die sozialen Sicherungssysteme der Bundesrepublik einräumen? Ich meine, die Antwort ist historisch gewachsen, und die, die wir bisher gegeben haben, ist nicht mehr aufrechtzuerhalten.
Meine Damen, meine Herren, was Sie damit machen, ist ja nichts anderes, als allen Übersiedlern reinen, blanken Materialismus zu unterstellen.
Ich finde, das ist eine Gemeinheit gegenüber diesen Aussiedlern, und es ist auch unsinnig.
Herr Abgeordneter Gerster, gestatten Sie zwei Zwischenfragen?
Nein, ich möchte im Moment keine Zwischenfrage zulassen.
Sie lassen keine Zwischenfrage zu.
Das ist vielleicht nachher möglich. — Jetzt komme ich zu den Zitaten aus der Zeit vor dem 9. November.
Egon Bahr in der „Welt" am 22. August 1989: Die massenhafte Ausreise von DDR-Bürgern sei eine Gefährdung des Entspannungsprozesses. — Oder Oskar Lafontaine am 27. Oktober 1988: Er habe gewisse Probleme damit, Deutschstämmige in der vierten und fünften Generation hier vorrangig aufzunehmen — vor einem Farbigen, dessen Leben existentiell bedroht sei.
Oder Peter Conradi am 25. Oktober 1989: Er spricht von der deutschtümelnden Heim-ins-Reich-Haltung. — Der nordrhein-westfälische Arbeitsminister Heinemann spricht am 20. Oktober 1989 von der Verhätschelung der Flüchtlinge aus der DDR. — Ich will jetzt weitere Zitate beiseite lassen und zu meinem Konzept kommen.
Meine Damen, meine Herren, was sich dahinter verbirgt, ist doch nichts anderes als eine kleinkarierte Art, mit Menschen abzurechnen, die 40 Jahre in Unfreiheit leben mußten und derzeit, verzweifelt über ihre Situation, ein Stückchen mehr Freiheit bei uns suchen.
Wir lehnen diese Kleinkariertheit der Sozialdemokraten ab.
Lassen Sie mich nun einmal sagen, was die SPD heute beantragt. Zunächst einmal: Sie nehmen ja Ihren eigenen Antrag gar nicht ernst.
Sonst hätten Sie den Antrag Drucksache 11/6381 in Gesetzesform gefaßt, in die Form eines kleinen Gesetzentwurfs. Sie wollen das Notaufnahmeverfahren abschaffen, und — Frau Hämmerle, das haben Sie verschwiegen — Sie wollen auch die Eingliederungshilfe, die wir mit Ihrer Stimme erst vor kurzem —
— Ja, gut, aber mit Ihrer persönlichen Zustimmung! Sie haben im Innenausschuß des Bundestages gesagt, daß Sie persönlich diesem Gesetz zustimmen könnten.
— Ich gebe Ihnen Gelegenheit zu einer Zwischenfrage, um das dann noch einmal zu verstärken.
Frau Abgeordnete Hämmerle, bitte sehr, Sie haben die Möglichkeit, eine Zwischenfrage zu stellen.
Ich möchte den Herrn Kollegen Gerster erstens fragen, wo er das in unseren Papieren gelesen hat. Zweitens möchte ich ihn fragen, ob er nicht zur Kenntnis genommen hat, daß ich immer erklärt habe — zuletzt auf der Pressekonferenz — , daß das Eingliederungsanpassungsgesetz für uns nicht zur Disposition steht, und wie er zu der anderen Behauptung kommt.
Der Antrag, Drucksache 11/6381, lautet wörtlich folgendermaßen:Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung deshalb auf,— das ist also kein Gesetzentwurf, sondern Sie fordern nur auf; entweder können Sie kein Gesetz machen, oder Sie nehmen Ihre Sache nicht ernst; ich glaube, es ist die zweite Alternative —
1. a) das Notaufnahmeverfahren abzuschaffen und die Übersiedlerinnen und Übersiedler genauso zu behandeln wie Bürgerinnen und Bürger, die in der Bundesrepublik Deutschland einen anderen Wohnsitz begründen.Damit spielen Sie auf einen normalen Wohnortwechsel innerhalb der Bundesrepublik Deutschland an und indizieren, daß natürlich derjenige, der von Hamburg nach München zieht, kein Eingliederungsgeld be-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990 15199
Gerster
kommt, und Sie wollen die Übersiedler aus der DDR diesen gleichschalten.
Meine Damen und Herren, das ist nichts anderes, als wenn Sie — wenn auch in nebulöser Form — das Eingliederungsgeld schleifen wollen.
Herr Abgeordneter — —
Moment! — Das wird auch dadurch deutlich, daß es dann weiter heißt: „Materielle Sonderleistungen, insbesondere die einmalige Überbrückungshilfe ...", also „insbesondere". Das heißt, Sie zielen mit dieser Formulierung in dem Antrag exakt auf die Leistung des Eingliederungsgeldes.
Meine Damen und Herren, diese Forderung ist falsch. — Es tut mir leid, Herr Kollege Penner, ich muß das jetzt schon vortragen; aber etwas später gestatte ich Ihnen gerne eine Zwischenfrage.
Lohnt es sich denn für den Abgeordneten Penner, sich gleich noch einmal zu melden?
Ich finde, es tut ihm genauso gut wie mir, ein bißchen stehenzubleiben. Wenn er das will, kann er das gerne tun.
Bitte sehr, Herr Abgeordneter.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, was passiert denn, wenn das Notaufnahmeverfahren abgeschafft wird? Ohne das Notaufnahmeverfahren ist jeder Bürgermeister verpflichtet, jedem ankommenden obdachlosen Übersiedler eine Notunterkunft zu besorgen.
— Das ist kein Quatsch. — Die Übersiedler landen dann ebenfalls in Turnhallen, wobei allerdings die Möglichkeit der Behörden, die Übersiedler halbwegs gerecht zu verteilen, entfällt. Das heißt, ohne ein Verteilungsverfahren werden die Unterbringungsprobleme in den Ballungsgebieten garantiert noch größer.
Sie wissen das auch und sagen trotzdem etwas anderes.
Zweiter Punkt — ich möchte hier mit einem Irrtum aufräumen, der leider Gottes von einzelnen von Ihnen immer wieder, offenbar bewußt, in der Bevölkerung gestreut wird — : Das Eingliederungsgeld, das es erst ab 1. Januar 1990 gibt, das ein Jahr gezahlt wird, falls nicht vorher ein Arbeitsplatz gefunden wird, ist netto in etwa so hoch wie die Sozialhilfe, die aus einem Grundbetrag für jeden und weiteren Leistungen besteht.
Dieses Eingliederungsgeld ist in jedem Falle niedriger als die Arbeitslosenunterstützung.
Würde das Eingliederungsgeld abgeschafft, hätten die Übersiedler in jedem Fall Anspruch auf Sozialhilfe — in jedem Fall! Sie bekämen also präterpropter netto das gleiche, nur mit einem einzigen Unterschied: Die Lasten müßten die Gemeinden übernehmen, Lasten, die jetzt der Bund finanziert. Die SPD-Bürgermeister wären die allerersten, die über die Plätze ihrer Gemeinden zögen und sagten: Der Bund hat sich aus der Last für die Übersiedler und Aussiedler herausgezogen und uns armen Gemeinden die ganzen Probleme überlassen.
Genau das würden Sie veranstalten.
Dies veranlaßt nun den Abgeordneten Schreiner, um eine Zwischenfrage zu bitten.
Er kann sofort die Zwischenfrage stellen; vorher nur noch dies: Deswegen ist die Vorstellung, durch Streichung der derzeitigen Hilfen kämen weniger Menschen, eine ganz grobe Irreführung. Man kann natürlich darüber reden, ob man auf Dauer die Darlehen braucht. Dabei verschweigen Sie immer, wie hoch das Darlehen ist: Es beträgt für eine siebenköpfige Familie 10 000 DM, rückzahlbar, Zinssatz: 4 %. Es ist eine Starthilfe. Natürlich wird man eines Tages über das Überbrükkungsgeld von 200 DM reden können. Aber ich werfe Ihnen vor, daß Sie den Eindruck erwecken, man könne mit dem Umsetzen Ihrer Anträge die eigentliche finanzielle Last beseitigen, und daß Sie den Eindruck erwecken, als würden die Menschen von drüben nur deswegen hierherkommen, um sich hier in ein soziales Netz, in eine soziale Hängematte hineinzulegen.
Das ist eine Beleidigung für die Übersiedler aus der DDR, die dort in großer Verzweiflung Jahrzehnte gelebt haben.
Bitte schön, Herr Abgeordneter Schreiner.
Erstens. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß die Anträge der SPD-Fraktion mit dem Eingliederungsanpassungsgesetz überhaupt
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Schreiner
nichts zu tun haben? Zweitens. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß die Argumentation der SPD-Fraktion bislang nicht davon ausgeht, daß die Menschen aus materiellen Gründen kommen, sondern davon, daß es hier in der Tat in einzelnen Fragen zu Schwierigkeiten kommt — Sozialneid, Aggression — , weil die Bundesregierung seit Jahren nichts getan hat im Bereich des sozialen Wohnungsbaus und weil die Bundesregierung seit Jahren nichts Ausreichendes getan hat zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit, daß wir inzwischen auf Grund des Zusammentreffens beider Faktoren
— Übersiedler und die sich am Rande liegengelassen Fühlenden, Langzeitarbeitslose, Wohnungssuchende
— eine unerträgliche soziale Situation bekommen haben, daß das also an die Adresse der Bundesregierung geht und daß Sie sich, statt sich über die Anträge der SPD Gedanken zu machen, einmal Gedanken darüber machen sollten, was eigentlich die Bundesregierung in diesen zentralen — —
Herr Abgeordneter Schreiner, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie Frage und Debattenbeitrag nicht völlig durcheinanderbrächten.
Ich bin jetzt am Ende mit der Frage. — Ich frage also, ob Sie bereit sind, darüber nachzudenken, daß die schwerwiegenden Versäumnisse der Bundesregierung in diesen beiden sozialpolitischen Zentralfeldern Hauptursache für Sozialneid sind.
Erstens. Was diese Behauptung mit dem sozialen Wohnungsbau angeht
— danke, daß Sie mir die Gelegenheit geben, das hier auch noch einmal zu sagen — , so ist das ja darauf zurückzuführen, daß sich die Länder, übrigens auch die SPD-Länder, seinerzeit gegen die Mischfinanzierung, die überhandnahm, gewehrt haben und wollten, daß sich der Bund aus dem sozialen Wohnungsbau zurückzieht. Sie behaupten draußen immer etwas anders als diesen Tatbestand, der der Wahrheit entspricht.
Zweiter Punkt. Die Vorstellung, die Menschen von drüben kämen nur wegen Zuständen hier in der Bundesrepublik Deutschland, ist grundlegend falsch.
— Das wird gesagt, wenn Sie behaupten, wegen Tatenlosigkeit der Bundesregierung kämen nach wie vor so viele Übersiedler und Aussiedler. Genau das sagen Sie, und das ist genau falsch.
Dritter Punkt. Wenn Sie in Ihrem Antrag den Bundestag auffordern, daß Menschen, Bürgerinnen und Bürger, die in der Bundesrepublik Deutschland einen Wohnsitz begründen wollen, genauso behandelt werden sollen wie andere, die hier umziehen, dann sagen Sie, daß Sie an das Eingliederungsgeld wollen, oder Sie verstehen die deutsche Sprache nicht.
Meine Damen und Herren, das Problem ist doch, daß Sozialdemokraten hier mit einer doppelten Strategie vorgehen. Sie schüren hier den Sozialneid. Der erste Teil der Rede der Frau Hämmerle hat klar Neid schüren sollen, Angst erwecken sollen,
Angst bei den hier lebenden Bürgern. Sie erwecken den Eindruck, durch eine Kürzung von Leistungen könnten wir das Problem lösen.
Sind Sie bereit, eine Frage der Frau Hämmerle zuzulassen?
Ja, gleich. — Der zweite Punkt ist, daß Sie natürlich auch gegenüber den Menschen, die drüben eine Demokratie aufbauen wollen, die natürlich daran interessiert sind, daß die Übersiedlerzahlen zurückgehen — wie wir übrigens auch —,
den Eindruck erwecken, es würden nur deshalb täglich Menschen weglaufen, weil hier die CDU/CSU-FDP-Koalition nichts macht. Hier wird letzten Endes mit einer Klappe versucht zwei Fliegen zu schlagen, obwohl die Probleme viel differenzierter sind. Sie spielen hier — übrigens in sich völlig zerstritten —
ein unsauberes Spiel. — Wenn Sie das nicht glauben, dann kann ich Ihnen dazu einmal etwas sagen. Schröder, Niedersachsen, Lafontaine erwecken den Eindruck — ich habe einige Zitate gebracht — , die Übersiedler würden sich hier faul in ein soziales Netz legen, und wollen Leistungen abschaffen,
übrigens Leistungen, die es schon längst nicht mehr gibt. Dagegen sagt z. B. Henning Voscherau, ein ganz vernünftiger Mann: Das ist ja nicht so, daß die Menschen zu uns kommen, weil die Paragraphen, die hier bei uns gelten, eine magnetische Anziehungskraft hätten. — Das sagte er am 19. Januar 1990 in der „Welt". Er argumentiert also ganz genauso wie ich und nicht wie Sie.
Oder nehmen Sie Ihren Sprecher Büchler, der in der „Bild"-Zeitung am 7. Februar 1990 sagte: Die DDR-Bürger kommen nicht, um hier Sozialleistungen abzukassieren; sie bleiben deshalb auch dann nicht in der DDR, wenn wir drei Monate das Eingliederungsgeld kürzen. — Er wiederholt genau unsere Argumentation, während Sie den Eindruck erwecken, durch Leistungskürzungen wäre dieses Problem zu lösen.Bitte schön, Frau Kollegin Hämmerle.
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Bitte schön, Frau Abgeordnete Hämmerle.
Herr Kollege Gerster, sind Sie bereit, mir zuzustimmen, wenn ich Sie daran erinnere, daß der Herr Minister Schäuble im Innenausschuß gesagt hat, es sei in der Tat so oder er nehme es an — vorsichtig ausgedrückt — oder es sei nicht auszuschließen, daß das Notaufnahmeverfahren möglicherweise — ich zitiere Sie jetzt ganz vorsichtig, Herr Minister, weil ich Ihnen nicht Unrecht tun will —einen gewissen Anreiz zur Übersiedlung darstellen kann? Sind Sie des weiteren bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß sich ein Mensch leichter zur Übersiedlung entschließt, wenn er weiß, daß er auf Biegen und Brechen, sei es auch nur in einer Turnhalle, untergebracht werden muß, als wenn er weiß, daß er in eigener Verantwortung sein Lebensumfeld regeln muß?
Das dritte — ich gebe zu, es ist eine rhetorische Frage — : Sind Sie bereit anzuerkennen, daß der Debattenstil durch steigende Arroganz Ihrerseits nicht besser wird?
Frau Kollegin Hämmerle, Sie sollten wie Gustav Heinemann bei dem Finger immer an die drei Finger denken, die auf einen selbst zeigen. Die Art und Weise, auf die Sie am Anfang versucht haben, meine Rede zu stören, sollten Sie einmal kritisch überprüfen.
Punkt zwei. Es ist völlig unrealistisch, wenn Sie den Eindruck erwecken wollen, daß keine Leute mehr kämen, wenn wir das Notaufnahmeverfahren abschafften.
Sie wissen genau: Wer seine Zelte in der DDR abbricht und hier zu einem Bürgermeister kommt, hat einen Anspruch gegenüber dem Bürgermeister, und der Bürgermeister hat die Pflicht, erstens, eine Notunterkunft bereitzustellen und
zweitens, die Sozialhilfe möglich zu machen, und zwar umgehend und möglichst schnell.
Das heißt, Ihre Behauptung, daß Leute, die kein Notaufnahmeverfahren mehr haben, gewissermaßen nachts im Wald schlafen, ist völlig unrealistisch. Die Leute werden von der Gemeinde untergebracht, bei der sie sich melden. Insofern führen Sie hier eine Scheindebatte, von der Sie wissen, daß sie eine Scheindebatte ist.
Deswegen ist es unser Vorwurf, daß Sie mit dieser Debatte Stimmungen wecken wollen und unterschwellig das tun, was Ihr Ministerpräsident Lafontaine, zugegebenermaßen mit großem Geschick, aber auch mit großer Verantwortungslosigkeit, im saarländischen Wahlkampf vorgeführt hat.
Das war eine Kür im Aufhetzen von Bürgern. Sie dürfen heute, während sich der Herr Lafontaine im Süden sonnt, die Pflicht nachholen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Beck-Oberdorf.
Herr Kollege Gerster, wer hier das bessere Meisterstück in Sachen doppelter Strategie vorgelegt hat, das bliebe noch zu überprüfen. Doppelte Strategie haben wir vor allen Dingen von Ihrem Minister Blüm gehört, der sich hier in diesem Hause vor geraumer Zeit künstlich oder wirklich, ich weiß es nicht, unglaublich echauffiert hat
in gespielte Empörung über die Hartherzigkeit der Sozialdemokraten, die unseren „Brüdern und Schwestern" in der DDR nicht helfen wollten, während wir gestern — das habe ich eben schon betont — eine Bundesregierung gesehen haben, die die Regierung nach den Verhandlungen ohne einen Pfennig hat ziehen lassen.Damals hatte Oskar Lafontaine in seiner ihm eigenen Art die Debatte über Leistungen für Aus- und Übersiedler losgetreten. Ich möchte gleich klarstellen, daß der Zungenschlag des Herrn Lafontaine auch mir außerordentlich mißfallen hat. Ich glaube, das geht Ihnen auf den Bänken der Sozialdemokratie zum Teil auch so.
Zu offensichtlich war der Wille, das dumpfe Stammtischpotential kurz vor der Saarlandwahl noch anzusprechen, welches sich lange von der Wiedervereinigungseuphorie verabschiedet hat und jetzt auf die Kosten schielt.Herr Gerster, es ist aber nicht so, daß die Stimmungen geschürt werden müßten. Die Stimmungen sind da.
Damit müssen wir uns auseinandersetzen.Es geht nicht nur um dumpfe Gefühle. In der Tat sind ja die Bürger und Bürgerinnen dieser Republik von der großen Zahl der Aus- und Übersiedler und -siedlerinnen unterschiedlich betroffen, die seit der Öffnung der Grenzen zu uns kommt.
Bei den vorliegenden Anträgen geht es sowohl um die Aussiedler und Aussiedlerinnen aus Osteuropa als auch um die Übersiedler und Übersiedlerinnen aus der DDR.Bleiben wir zunächst bei der Übersiedlerproblematik. Es gibt keine Politikerrede mehr zum Problem der Übersiedlung, welche nicht einflicht, daß man sich
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Frau Beck-Oberdorfvon Herzen wünsche, daß die Menschen nun in der DDR bleiben, daß man alles tun müsse, damit in der DDR wieder Hoffnung aufkäme. Das sind aber schöne Worte, meine Damen und Herren, und von schönen Worten kann man sich nichts kaufen.Diese Regierung — das habe ich eben schon einmal betont — hat die Abordnung aus der DDR mit leeren Händen wieder ziehen lassen.
Der Runde Tisch hatte der Regierung der DDR den Auftrag gegeben, hier einen Solidarbeitrag von zunächst einmal 15 Milliarden DM zu erbitten. Ein solcher Geldbetrag wäre das mindeste gewesen, um in der desolaten Situation, in der sich die DDR befindet, wenigstens einen kleinen Hoffnungsschimmer aufkommen zu lassen — genau den Hoffnungsschimmer, der die Menschen, die jetzt noch auf ihren gepackten Koffern sitzen, vielleicht zum Bleiben veranlassen könnte. Aber auch da haben Sie lieber Ihr abenteuerliches Erpressungsspiel weitergespielt: entweder die Wirtschafts- und Währungsunion, also die Einführung unseres marktwirtschaftlichen Systems, oder es gibt nichts. Die Stimme des Herrn Minister Blüm habe ich da nicht vernommen, der ja gegen dieses Manöver lauthals hätte protestieren müssen wegen Hartherzigkeit der Regierungskoalition; das ist die Doppelstrategie.
Wir sagen es noch einmal ganz deutlich — und da teile ich Ihre Meinung, Herr Gerster — : Der Aus- und Übersiedlerstrom wird mit Sicherheit so lange nicht abnehmen, solange nicht — und da unterscheiden wir uns — mit rasanten Größenordnungen in ein Solidarprogramm mit der DDR eingestiegen wird, und zwar heute und nicht als Poker für den 18. März.
Auch wir GRÜNEN haben vorgeschlagen, die Übersiedler mit den Bürgerinnen der Bundesrepublik gleichzustellen, und das heißt in der Tat, ihre finanzielle Situation hier zu verschlechtern. Aber das soll nicht aus einem Spargedanken heraus geschehen; denn gerade jetzt darf nicht gespart werden. Wir wollen alle Mittel vor Ort einsetzen, also in der DDR, weil auch wir der Ansicht sind, daß ein weiteres Ausbluten der DDR nur zu ihrem Kollaps führen kann, und das wollen wir auf keinen Fall.Eine Gleichstellung mit den Bürgern der BRD bedeutet z. B., daß nach dem Wegfall der Notaufnahmelager eine übersiedlungswillige Familie zunächst einmal nach einem Wohnraum Ausschau halten müßte, bevor es mit der Siedelei losgeht. Das könnte vielleicht hier und dort einen heilsamen Verzögerungseffekt mit sich bringen. Manch einer würde erst noch ein zweites Mal nachdenken, bevor Kind und Kegel eingepackt würden für eine zweifelhafte Zukunft im „Goldenen Westen".Aber ich möchte es noch einmal laut und deutlich sagen. Ich halte diese Maßnahme letztlich für ein wenig wirksames Mittel zur Eindämmung des Zustroms.Vor allem sollten diese Einschnitte nicht dazu benützt werden, in der Bevölkerung weiterhin die Illusion zu nähren, den Übersiedlern werde mit vollen Händen gegeben. Wir haben die Verantwortung, gegen diese Gerüchte gegenzuhalten.Nun zu dem Problem der Aussiedlerinnen und dem Antrag der SPD, das Vertriebenengesetz auslaufen zu lassen. In der Tat ist das Vertriebenengesetz historisch mehr als überholt. Es spricht immer noch von Vertreibung, von Flüchtlingen und von sowjetisch besetzter Zone und gibt die Vertriebeneneigenschaften noch den Kindern und Kindeskindern der Zugewanderten. Wir GRÜNEN sind hier für einen klaren Schnitt. Das Vertriebenengesetz sollte aufgehoben werden. Es ist nicht geeignet, die sozialen Fragen, die mit der neuen Durchlässigkeit der Grenzen auftreten, zu lösen. Neue Fragen erfordern neue Antworten. Das hat die Kollegin Hämmerle eben betont.Noch im Sommer vor zwei Jahren wurde in der bayerischen Giftküche
eine Debatte gegen Flüchtlinge nach dem Motto losgetreten: Das Boot ist voll. Damit sollte der ideologische Boden bereitet werden, die Beschneidung des Asylrechts durchzusetzen. In den vergangenen Wochen und Monaten nun hörten wir von Ihnen ganz entgegengesetzte Töne, alle könnten kommen, das hätten wir in der Nachkriegszeit auch verkraftet. Recht so! Dieser Meinung sind auch wir. Aber hinter Ihrer Kampagne entdecken wir den blanken Nationalismus, denn hier versteckt sich eine Heim-ins-ReichIdeologie.
Sie sind bereit zu einer Zwischenfrage? — Ja. Bitte schön, Herr Abgeordneter Weng.
Frau Kollegin, erinnere ich mich falsch, daß es Ihre Partei war, die im Zusammenhang mit Menschen aus anderen Ländern, und zwar egal, aus welchen Ländern, in der Vergangenheit eine offene Bundesrepublik gefordert hat, und ist das, was Sie jetzt hier gerade bezüglich der Menschen aus dem anderen Teil Deutschlands vortragen, ein völlig anderes Verhalten als das, was Sie sonst in der Diskussion gesagt haben?
Nein. Wir wollen nicht — das ist vollkommen klar — die Freizügigkeit zwischen der DDR und der BRD einschränken. Dafür gibt es auch überhaupt keine rechtliche Möglichkeit. Das haben wir nicht vor. Gleichstellung — darauf bin ich eben eingegangen — würde auch eine Gleichstellung — in negativer Hinsicht — der Möglichkeiten bedeuten, mobil und flexibel zu sein. — Dies zu den Übersiedlern.Jetzt zu der Aussiedler- und Einwanderungsproblematik. Ich weiß, daß es diesen Parteitagsbeschluß für die vollkommen offenen Grenzen gibt. Ich halte diesen Parteitagsbeschluß für illusorisch. Ich meine aber andererseits, daß wir, wenn wir Menschen in dieses Land hier reinkommen lassen — wir sollten sie reinkommen lassen —, das nicht nach nationalen Ge-
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Frau Beck-Oberdorfsichtspunkten machen sollten, sondern daß eine Einwanderungspolitik auch für Zuzug von Ausländern da sein muß, also z. B. von Menschen, die hier schon arbeiten und deren Familien nachziehen müssen, und für Menschen anderer Nationalitäten und anderer Hautfarbe aus Krisengebieten, die auch guten Grund haben, aus ihren Ländern weggehen zu wollen, und daß wir dafür eine Einwanderungspolitik mit entsprechenden Quoten brauchen. Das ist das, was ich dem entgegenzusetzen habe.
Gerade wegen der Zuspitzung der sozialen Probleme hier müßte alles darangesetzt werden, um gegen Nationalismus anzugehen, und wir müssen betonen, daß selbstverständlich — ich habe es eben gesagt — auch Menschen anderer Nationen und Hautfarben uns willkommen sind, die in Not sind. Ich meine, daß die Menschen, die aus den Kriegsgebieten des Libanon zu uns flüchten, genau denselben Anspruch auf Hilfen an uns haben wie die deutschstämmigen Menschen aus der UdSSR oder aus Polen und Rumänien. Da unterscheiden wir uns von den Kollegen der SPD. Wenn Sie jetzt das Vertriebenengesetz auslaufen lassen wollen — es reduziert sich eigentlich auf den Ausschluß der polnischen Menschen — , bekomme ich ein ungutes Gefühl, weil hier das Problem mit der Vertriebenenliste 3 auftaucht
— Volksliste 3 — und dort so etwas anklingt wie: Man hat jetzt eine Gruppe gefunden, die doch nicht so richtig deutsch ist. Die wollen wir jetzt mal draußenlassen, aber die Deutschstämmigen aus der UdSSR und Rumänien sollen weiter kommen. — Ich halte das für eine sehr abschüssige Ebene.
Seit der Öffnung der Grenzen hat sich die Situation der Ausländer in diesem Land dramatisch zugespitzt. An dieser Politik wollen wir nicht mitwirken.Um die Zuwanderung sowohl von deutschen Aussiedlerinnen als auch von Flüchtlingen und Asylantinnen vernünftig zu regeln, bedarf es einer sozialpolitisch flankierten Einwanderungspolitik. In deren Rahmen muß es möglich sein, verfolgungsbedingte Zwangslagen auch für deutsche Aussiedler aus Osteuropa und der Sowjetunion besonders zu berücksichtigen. Handlungsleitend darf dabei jedoch nicht eine Politik der Deutschstämmigkeit sein, sondern der Gedanke einer multikulturellen Gesellschaft. Diesen Gedanken vermissen wir vollständig in den Anträgen der SPD, die mit ihrer Unterscheidung zwischen rumänischen und sowjetischen Aussiedlern einerseits, polnischen Aussiedlern andererseits sogar neue Stufen der Deutschtümlichkeit einführen will.Wir GRÜNEN halten die Debatte darüber, ob wir es uns noch leisten können, hier mehr Menschen aufzunehmen, für sehr heikel. Es ist und bleibt klar, daß wir insgesamt eines der reichsten Länder der Erde sind und deswegen immer noch viel abzugeben haben. Aber die Bedeutung liegt bei dem Wörtchen „insgesamt". „Insgesamt" reich zu sein bedeutet eben nicht, daß alle reich sind, und daß es auch in diesem reichen Land sehr weit verbreitete Armut gibt, hat der DPWV mit seinem Armuts-Bericht vor kurzem hinlänglich belegt.Die Kosten werden eben nicht von allen gleich bezahlt. Deswegen ist die Blümsche Empörung unredlich, wenn er über die Hartherzigkeit derjenigen lamentiert, die die weitere Zuwanderung eindämmen möchten, gleichzeitig aber nichts zu hören ist, wenn es um eine Umverteilung der Eingliederungsbelastungen von den Ärmeren zu den Reicheren geht.
Das Wort hat der Abgeordnete Lüder.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenige Türen weiter fand gestern eine Anhörung statt zur Ausländerpolitik, zum Asylrecht, und eines der Themen, das ich hier in Erinnerung bringen will, war, daß mal wieder unter den Sachverständigen der Streit kam: Was sind eigentlich Asylmißbraucher? Da wurde daran erinnert, daß es um Armutsflüchtlinge geht, die fälschlich Wirtschaftsasylanten genannt werden.
Aber wenn es um Armutsdeutsche geht, dann machen wir uns die großen Gedanken, was wir hier noch erschwerend einbringen können. Dieses ist mit meinem Verständnis nicht zu vereinbaren.
Frau Beck-Oberdorf, Sie werden sich nicht wundern, daß ich Ihrer Einstellung zu der Frage, wie wir mit unseren deutschen Landsleuten umgehen, nicht folgen kann.
Frau Kollegin Hämmerle hat ihre Rede vorhin damit beendet, daß sie sagte: Am 9. November 1989 war die Nachkriegszeit zu Ende. Da gibt es einen kleinen, aber wesentlichen Unterschied: Am 9. November 1989 begann die Schlußphase der Nachkriegszeit, und die kurze Strecke, die wir jetzt noch vor uns haben, wird noch verdammt viele Anstrengungen und Leistungen erfordern.
Es gibt ein chinesisches Sprichwort: Auf einem 100-Meilen-Marsch benötigt man für die letzten zehn Meilen noch die Hälfte der gesamten Kraft. Ich glaube, dessen sollten wir uns bewußt sein, wenn wir an die Probleme herangehen, die vor uns stehen.Die Bürger in beiden Teilen Deutschlands sind sich darüber im klaren, daß die Herstellung der Einheit, daß die Vereinigung beider deutschen Staaten zu einem einheitlichen Deutschland nur noch eine Frage der — kurzen — Zeit ist. Die wirtschaftlich verant-
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Lüderwortlich Denkenden in beiden deutschen Staaten zerbrechen sich den Kopf darüber und tauschen Argumente darüber aus, welcher Schritt, welche Maßnahme wann realisiert werden soll, damit möglichst schnell eine Wirtschafts- und Währungsunion kommt. Wir haben heute morgen und in der gestrigen Regierungsbefragung doch gehört, was geleistet worden ist. Wenn Sie sich hier hinstellen und sagen, es sei eine abenteuerliche Erpressungspolitik,
was die Bundesregierung mit der DDR gemacht hat, als sie ihr ein Angebot zu einer Wirtschafts- und Währungsunion machte, dann kann ich nur sagen: Vorsicht vor Abenteuerspielplätzen für Politiker! Das, was die Bundesregierung hier gemacht hat, war ein verantwortliches Angebot, wie es in den Debatten heute morgen hier auch deutlich geworden ist.
Meine Damen und Herren, die SPD bringt jetzt Anträge ein, die die Bundesregierung verpflichten sollen, darüber nachzudenken, was mit den noch heute gültigen Vorschriften der Vergangenheit geschehen soll, als ob — um im Klartext zu interpretieren — die Vereinigung nicht käme. Sie müssen doch nur einmal auf den Kalender gucken. Wenn Sie unter Ausnutzung der kürzesten Fristen handeln würden, dann würden wir bei dem von Ihnen gewählten Weg allenfalls im September zu einer Bundestagsberatung über die Gesetze kommen, die hier von Ihnen gefordert werden, mitten in einer Zeit, in der wir, wie wir heute morgen noch einmal bestätigt bekommen haben, Dringenderes zu tun haben, in der „4 + 2" zusammensitzen werden, in der eine KSZE-Konferenz vorbereitet werden soll und in der neue Regelungen bedacht werden sollen.
— Meine Damen und Herren, Sie wollen die Probleme dieses Jahrzehnts in den Kategorien des letzten Jahrzehnts gelöst wissen, und das ist Ihr Fehler.
— Frau Hämmerle, wir werden in den Ausschüssen in Ruhe über Ihre Anträge beraten. Aber ich will Ihnen schon jetzt klar sagen, daß aus Ihren Wünschen betreffend die Übersiedler nichts wird.
weil es in wenigen Monaten, wenn die EinheitDeutschlands wenigstens im Rechts-, Wirtschafts- undSozialbereich geschaffen sein kann, keine Übersiedler mehr geben wird.
Herr Abgeordneter Lüder, sind Sie überhaupt gewillt, eine Zwischenfrage zu beantworten?
Sofern es sich um eine Frage handelt und auch wirklich eine Frage ist, ja.
Herr Kollege Lüder, ich habe Ihnen noch nie eine Frage gestellt; also können Sie das gar nicht wissen. — Herr Kollege Lüder, sind Sie bereit, anzuerkennen, daß die Gesetze und die Einrichtungen — über die wir reden — , die aus den 50er Jahren stammen und zu Recht gemacht worden sind, unter den veränderten Gegebenheiten nun wirklich neu überdacht werden müssen, und zwar jenseits von Polemik, einfach weil die Probleme sich geändert haben, weil die geschichtliche Situation eine andere geworden ist? Dabei räume ich immerhin ein — dafür bin ich Ihnen dankbar —, daß Sie das wenigstens ruhig vortragen, damit man wirklich argumentieren und auch zuhören kann.
Dazu, daß Regelungen, was das Vertriebenengesetz betrifft, überdacht werden müssen, werde ich gleich noch etwas sagen. Ich bin erst bei der Rubrik „Übersiedler".
Der Antrag zum Vertriebenengesetz geht meines Erachtens deswegen an den Zeichen der Zeit vorbei, weil es in einem Osteuropa, das diesen Prozeß der deutschen Einheit mitgetragen hat, in absehbarer Zeit keine Vertreibungsgebiete mehr und dann auch keine Vertriebenen mehr geben kann und wird.
— Wir haben die Rechtsdefinition aus dem Vertriebenengesetz, und diese spreche ich an. Ich spreche die Aussiedler an. Ich bin der Meinung, daß sich das Thema mit zunehmender Demokratisierung und Liberalisierung in den Aussiedlungsländern und Aussiedlungsstaaten — ich spreche nicht allein von den Aussiedlungsgebieten — ändern wird und daß sich dieses Thema dann auch spätestens im nächsten oder übernächsten Jahr erledigt haben wird. Aber heute, solange die Aussiedler noch kommen, habe ich keine Veranlassung, an dieser Rechtsgrundlage hier Änderungen vorzunehmen.
Die Frau Abgeordnete Hämmerle möchte ebenfalls eine Frage stellen. — Bitte sehr.
Herr Kollege Lüder, Sie sagen, in absehbarer Zeit wird es keine Vertreibung mehr geben. Ich nehme an, Sie sprechen von der Vertreibung deutscher Minderheiten aus den Ländern Osteuropas.
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Frau HämmerleWenn Sie von „in absehbarer Zeit" reden, sind Sie dann bereit, mir aufzuzählen, wo es nach Ihrer Auffassung heute noch Vertreibungsgebiete gibt?
Ich hatte eben schon versucht, auf den Zwischenruf Ihres Kollegen klarzumachen, daß ich in der Terminologie des Vertriebenengesetzes spreche. Sie können auch sagen, daß es Aussiedlungsnotwendigkeiten und Aussiedlungsdruck bei zunehmender Demokratisierung und Umwandlung der Staaten drüben nicht mehr geben wird.
Auch der Abgeordnete Sielaff möchte eine Frage beantwortet haben, Herr Abgeordneter Lüder.
Wenn ich danach dann erst einmal wieder ein bißchen weiterreden darf, ja.
Herr Lüder, heißt das, daß Sie dann womöglich in einem Vierteljahr oder in einem halben Jahr sagen, jetzt seien Sie bereit, das Gesetz zu verändern? Geben Sie nicht zu, daß es sinnvoll wäre, jetzt das Gesetz zu verändern und eine Übergangszeit zu schaffen, wie wir es wollen, um dann wirklich vorbereitet zu sein?
Der Satz, der im Manuskript dem folgt, bei dem ich jetzt mit den Fragen unterbrochen wurde, heißt: Dann werden wir eine Schlußgesetzgebung zum Vertriebenengesetz brauchen.
— Ich habe manche Ideen auch aus Ihren Reihen ab und an gerne aufgenommen, weil ich finde, daß gute Ideen aufgenommen werden sollen. Aber in einem einheitlichen Deutschland muß darüber nachgedacht werden, was an einheitlicher Vertriebenenschlußgesetzgebung notwendig ist und was wir mit dem Schluß der Vergangenheit machen, der dann — denken Sie doch nur in der Terminologie des Art. 146 des Grundgesetzes — auch zu einer neuen Qualität unseres Zusammenlebens führt. Wir müssen dann zu anderen Regelungen kommen und auch Schluß machen mit der weiteren Anwendung auf Neufälle für diejenigen, die auf alte Gesetze aus der Spaltungszeit Bezug nehmen.
Von daher — dieser Meinung bin ich — werden wir nach der Vereinigung eine Schlußgesetzgebung brauchen.
— Nein, denn Ihre Logik kommt daher, daß Sie Angsthaben vor dem Aussiedlungsdruck, vor dem Druckderer, die hier bei uns sind. Wir sagen, diese werdenwir verkraften; diese werden wir aufnehmen, und wir stehen zu den Mitbürgern, die ausgesiedelt und hierher übergesiedelt sind, und werden ihnen mit den Instrumenten helfen, die wir haben.
Lassen Sie mich ganz deutlich auch noch eines sagen — da komme ich Ihnen noch einmal entgegen, wenn Sie so wollen — : Wir werden uns auch mit der Frage zu beschäftigen haben, wieweit wir vielleicht sogar schon vor Aufhebung bzw. vor Beschlußfassung über ein Vertriebenengesetz die Volksliste 3 so behandeln können und so behandeln müssen wie bisher.
Dies ist nicht im Gesetz; dies kann man ja schon so anwenden. Das ist eine Frage der Interpretation der Anwendung.
Deswegen nenne ich diesen Punkt hier.
Ich darf Ihnen noch eines sagen, damit Sie nicht wieder behaupten, ich hätte hier Anregungen von Ihnen aufgenommen, so gerne ich dieses tun würde. Wir haben das bei uns im Arbeitskreis angesprochen gehabt, längst bevor Ihr Antrag veröffentlicht worden war.
Ich will das ja nur um der Klarheit willen sagen.Lassen Sie mich bitte noch eines sagen: Das Eingliederungsgeld — ich sage das bewußt; bei den sogenannten Anreizen sprechen Sie nur von 200 DM konkret — hat doch, seit wir das Eingliederungsanpassungsgesetz verabschiedet haben, eine Höhe erreicht, bei der wir Sorge haben müssen, daß in zu vielen Fällen Übersiedler auf Sozialhilfe angewiesen sind. Das ist doch unsere Sorge und nicht, daß die Anreize zu groß sind. Daß jemand, der hier etwa in der Höhe der Sozialhilfe Hilfestellung bekommt, deswegen hierherkommt, entspricht nicht meinem Menschenbild der Bürger aus der DDR. Sie kommen leider aus anderen Motiven hierher. Deswegen war es richtig, daß wir versuchen wollen, der DDR zu helfen und den Einigungsprozeß und die Währungsunion voranzutreiben.
Solange dieses nicht kommt, so lange müssen wir auch in dem bescheidenen Rahmen helfen, wie wir es bisher getan haben.Was Ihre Forderung, das Notaufnahmeverfahren abzuschaffen, angeht: Anspruch auf — da komme ich auf die Debatte von vorhin zurück — Notaufnahme-
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15206 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990
Lüderverfahren hat nicht, wer früher beim SS, beim Stasi war
— SSD, wollte ich sagen —
und individuelle Schuld auf sich geladen hat. Auch hier, beim Notaufnahmeverfahren, haben wir die gleiche Regelung. Diese Regelung wollen wir beibehalten, weil die Alternative nur hieße, daß die Leute bei den Gemeinden anklopfen und dann Sozialhilfe und Hilfe gegen Obdachlosigkeit begehren.Dies wollen wir nicht. Dies würde nur dazu führen, daß Mehrkosten für die Verwaltung entstehen, daß weniger Leistungen an die Menschen kommen, daß an der Zahl der Übersiedler insgesamt nichts geändert wird, nichts geändert wird an der Zahl der Aussiedler. Nur den Menschen selbst geht es schlechter. Das ist mit meinem Sozialverständnis nicht vereinbar.
Das Wort hat der Herr Bundesminister des Innern, Dr. Schäuble.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir führen diese Debatte in einer ganz ungewöhnlich erregenden Zeit. Und ich bin nicht ganz sicher, ob wir dieser Zeit, ihren Veränderungen und den Chancen mit dieser Debatte wirklich gerecht werden. Der Kollege Lüder hat soeben davon gesprochen, daß wir — wir haben heute vormittag auf der Grundlage der Regierungserklärung des Bundeskanzlers lange darüber debattiert — dem Ziel nahe sind, die Einheit Deutschlands in Freiheit zu vollenden.
Es ist ja gar keine Frage, daß über die Themen, die in Ihren Anträgen angesprochen sind, im Zusammenhang mit der Vollendung der Einheit in Freiheit nicht nur nachgedacht und gesprochen, sondern auch gehandelt werden muß, gehandelt werden wird und gehandelt werden kann.
Aber ich sage auch: Wir sollten in dieser Debatte den Beitrag der Vertriebenen und Flüchtlinge in der Nachkriegszeit und beim Wiederaufbau der Bundesrepublik Deutschland nicht vergessen, sondern dankbar erwähnen.
Wir sollten uns überhaupt nicht darüber hinwegtäuschen — nur, die Frage ist, wie wir darauf reagieren —, daß ein wachsender Teil unserer Bevölkerung zunehmend Sorgen und Ängste damit verbindet, ob wir mit den großen Wanderungsbewegungen an Aus- und Übersiedlern noch fertig werden. Auch dies ist wahr.
Und ich sage seit Jahr und Tag von dieser Stelle, daß solche Wanderungsbewegungen der Stabilität in Deutschland und in Europa auf Dauer nicht dienen.
Aber mit Ihren Anträgen, meine Damen und Herren von der SPD, erwecken Sie den Eindruck, als würden die Ursachen dieser Wanderungsbewegung hier in der Bundesrepublik Deutschland liegen, und das ist falsch!
— Herr Kollege, Sie müssen bei Anträgen und Diskussionsbeiträgen und bei Diskussionen, die Sie beginnen, auch die Wirkungen dieser Diskussionen bedenken.
Mit Ihren Anträgen suggerieren Sie unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern, als würde sich irgend etwas an der Wanderungsbewegung von Aus- und Übersiedlern ändern, wenn wir diesen Anträgen nachkommen würden.
— Warum stellen Sie denn solche Anträge? Dann sagen Sie, daß Ihre Anträge nichts wert sind! Wenn Sie fragen „Wo steht das?", dann sagen Sie damit selber: Es kommt darauf gar nicht an; es ist just for show. Und diese Schau würde ich da nicht veranstalten.
Herr Bundesminister, der Abgeordnete Penner möchte gern eine Frage stellen.
Bitte sehr.
Ich will's versuchen. — Herr Minister, sind Sie bereit, anzuerkennen, daß sich die Bevölkerung in der DDR nach den Ergebnissen der Beratungen in Bonn eher aufgefordert sieht, die gepackten Koffer in die Bundesrepublik zu bewegen und hierher zu kommen, als sich zum Bleiben veranlaßt zu sehen?Und zweitens: Sind Sie bereit, zu aktzeptieren, daß gerade von den Verantwortlichen in der DDR der Wunsch an uns herangetragen worden ist, das zu be-
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Dr. Pennerseitigen, was in der Bundesrepublik nach Anreiz zum Kommen aussieht?
Herr Kollege Penner, das führt uns zwar in die Debatte von heute vormittag zurück, in der Sie vielleicht gerne gesprochen hätten, oder auch nicht
— ich vielleicht auch, aber natürlich — , aber ich will Ihnen meine Auffassung zu Ihrer Frage doch sagen:
Erstens. Wenn ich zusammenrechne, was wir in den Umtauschfonds, in die Stadtsanierung, in Kredite für Klein- und Mittelbetriebe — Gründung und Modernisierung — an Leistungen einbringen, kommen wir in die Größenordnung eines zweistelligen Milliardenbetrages in diesem Jahr 1990.
Zweitens. Wir haben in den vergangenen Jahren jährlich dreieinhalb Milliarden DM in die DDR transferiert. Und was ist davon geblieben? Der Sozialismus ist ein Faß ohne Boden.
— Der real existierende Sozialismus in der DDR ist ein Faß ohne Boden.
Deswegen können Sie sofort 30 Milliarden in die DDR überweisen, es wird überhaupt nichts ändern, wenn nicht die notwendigen Reformen in der DDR vorgenommen werden. Deswegen haben wir gesagt: Wir sind zu allem bereit, aber die DDR muß selbst die Voraussetzung mit schaffen, damit das Faß einen Boden bekommt, damit die Milliarden drin bleiben und nicht mit dem Quecksilber die Elbe hinunterschwimmen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Brück?
Nein, Herr Präsident, jetzt würde ich gerne auch einmal ein paar Sätze zum Thema der Anträge sagen.
Das ist Ihr gutes Recht, Herr Minister.
Vielen Dank, Herr Präsident.Ich möchte Ihnen doch sagen — dabei haben Sie mich ja unterbrochen — : Sie erwecken mit Ihren Anträgen den Eindruck, als könnten wir hier in der Bundesrepublik, wenn wir Ihren Anträgen nachkämen, etwas an dem Strom von Aus- und Übersiedlern ändern. Sie sagen zwar, nein, den Eindruck wollten Sie gar nicht erwecken — —
— Wenn Sie mir zugeben, daß Sie das auch mit diesen Anträgen nicht tun können, sagen Sie es bitte. Kommen Sie nachher hierher, sagen Sie ausdrücklich: Unsere Anträge ändern nichts.Ferner will ich Ihnen sagen: Ihr Antrag bezüglich der Übersiedler erweckt immer noch den Eindruck, als würden es große materielle Leistungen sein, die die Menschen, die aus der DDR hierherkommen, im Vergleich zu Bundesbürgern, die schon lange hier leben, bekommen. Das ist nicht wahr. Die meisten der Leistungen, die Sie unter Ziffer 1 a Ihres Antrages aufführen, gibt es seit dem 1. Januar nicht mehr.
— Es heißt übrigens auch, Frau Hämmerle, wenn Sie so gründlich gearbeitet haben, nicht mehr „Notaufnahmeverfahren", schon seit vier Jahren nicht mehr. Es ist einfach ein Aufnahmeverfahren. Man muß es nur wissen.
— Nein, es heißt seit vier Jahren nicht mehr so.Es gibt nicht mehr Entschädigungen und Leistungen aus dem Lastenausgleichsgesetz, es gibt die Aufbaudarlehen für die gewerbliche Wirtschaft, die Landwirtschaft und den Wohnungsbau nicht mehr, um das nur noch einmal zu sagen. Sie erwecken einen falschen Eindruck.Sie müssen sich doch selbst die Frage stellen— wenn nicht, dann lassen Sie sie sich stellen —, ob Sie ausreichend bedacht haben, daß Sie mit solchen Anträgen vielleicht Neid und Mißgunst gegen Übersiedler schüren.Ich muß Ihnen auch die Frage stellen, was denn eine Pressemeldung von vorgestern soll, daß das Saarland Übersiedler unter Polizeibewachung stelle. Ich habe zweimal hingeschaut, als ich diese Meldung gelesen habe, und mir dann überlegt, welch ein Sturm der Entrüstung durch dieses Haus und die Bundesrepublik Deutschland gehen würde, wenn eine Meldung käme, daß ein Innenminister eines von der Union regierten Landes ein Asylantenlager unter Polizeibewachung stellen würde.
Wenn Sie diese Art von schäbigster Demagogie, mit der die niedrigsten Instinkte gegenüber unseren Landsleuten angerührt werden sollen, noch für richtig halten — das kann nicht mehr nur Versehen sein, das muß schon Absicht sein — —
— Nein, Herr Kollege Brück, ich will Sie für diese Meldung wirklich nicht in Anspruch nehmen.
— Die Wahrheit ist hier.
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15208 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990
— Herr Kollege Brück, ich zitiere aus der Agenturmeldung, die ich hier habe. Jetzt sind es wieder die Medien, die falsch sind.
— Wir haben den Wahlkampf von Herrn Lafontaine an der Saar erlebt. Er setzt sich nahtlos fort. Wer eine Meldung in die Welt setzt,
daß Übersiedler unter Polizeibewachung gestellt werden,
und wer in dieser Meldung dann schreibt, Herr Kollege Brück, daß nach Erkenntnissen der Behörden unter den neu ankommenden Übersiedlern immer häufiger ehemalige Kriminelle und Alkoholiker seien, dem will ich sagen: Ich habe gestern abend in der DDR vor 1 500 Menschen gesprochen. Ich habe diese Meldung verlesen, und ich habe um Entschuldigung dafür gebeten, weil ich mich als Mitglied der Regierung der Bundesrepublik Deutschland dafür schäme.
Ich will auf die Diskussion im Innenausschuß zum Aufnahmeverfahren zurückkommen, die Sie angesprochen haben, Frau Kollegin Hämmerle. Ich beziehe mich auf das, was ich einleitend auch in Anknüpfung an den Kollegen Lüder und andere gesagt habe. Es ist die Frage des Zeitpunktes. Wir sind in einer ungewöhnlich schwierigen, chancen- und risikoreichen Zeit. Am 18. März sollen die ersten freien Wahlen in der DDR sein. Sie werden hoffentlich auch sein.
Sollen wir wirklich vier Wochen zuvor darüber reden, wo wir wissen, daß sich überhaupt nichts ändert?Es wird immer gesagt: Der aus Dresden soll genauso wie der aus München, wenn er nach Hamburg umziehen will, nur dann umziehen, wenn er eine Wohnung hat. Ich will Ihnen folgendes sagen. Mich beschwert schon, daß ich mir von vielen aus Ihren Reihen vorhalten lassen muß,
daß wir den Nachzug von Familienangehörigen bei Ausländern von der Voraussetzung ausreichenden Wohnraums abhängig machen und daß Sie dasselbe Kriterium bei Übersiedlern aus der DDR nicht anlegen wollen. Das ist schon eine merkwürdige Sache.
— Natürlich ist es wahr.
— Bei Übersiedlern, aber nicht bei Ausländern.
— Sie machen die Verfestigung der Aufenthaltsberechtigung nach zwei Jahren — im Gegensatz zu Ihnen habe ich Ihren Gesetzentwurf gelesen — vom Vorhandensein von Wohnraum abhängig, während Sie Übersiedler gar nicht hereinlassen wollen, wenn kein Wohnraum vorhanden ist.
Ich will zweitens darauf aufmerksam machen — Sie wissen es, aber vielleicht wissen es ein paar, die zuhören, noch nicht — : Wenn jemand von München nach Hamburg zieht, seine Wohnung in München aufgibt, in Hamburg ankommt und dort keine Wohnung hat, dann ist er in Hamburg unterzubringen, notfalls im Obdachlosenheim.
Nur wird das normalerweise jemand aus München nicht tun. Er wird nicht seine Wohnung aufgeben, um nach Hamburg ins Obdachlosenasyl zu gehen.
Aber aus Dresden und Leipzig gehen die Menschen nach 40 Jahren Sozialismus fort und lassen ihre Wohnung da, auch wenn sie wissen, daß sie in eine Turnhalle kommen. Und das ist nichts anderes als ein Obdachlosenasyl.
Das Aufnahmeverfahren ermöglicht lediglich, daß wir verteilen. — Es trifft Sie ganz offensichtlich. Die Reaktion zeigt immer, wo Sie ertappt sind.
In Wahrheit ist es doch so — —
— Herr Präsident — —
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Herr Minister, Sie haben nicht ganz unrecht. — Ich wäre schon dankbar, wenn die Zwischenrufe auf das Notwendige beschränkt würden. Mehrere Zwischenrufe zur gleichen Zeit können auch nicht mehr im Protokoll festgehalten werden,
weil sie sich einfach gegenseitig ausschließen. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie etwas mehr Ruhe wahren könnten. — Danke schön.
Herr Kollege Nöbel, lassen Sie mal! Ich habe nur darum gebeten, daß ich zwischendurch auch mal etwas sagen darf.Ich wollte an Sie appellieren, Frau Hämmerle, zu bedenken, ob jetzt der richtige Zeitpunkt ist, mit Anträgen zu kommen, von denen Sie selber wissen, daß sie an der tatsächlichen Lage nichts verändern
— das haben Sie gerade zugegeben —,
die aber ganz andere Wirkungen erzielen, die Sie vielleicht nicht wollen, die Sie beschweren, wenn ich Sie darauf aufmerksam mache, daß diese Wirkungen bei vielen Menschen entstehen. Das können Sie gar nicht bestreiten. In Wahrheit ist es doch auch so, daß Sie sich gezwungen sehen, solche Anträge zu stellen, obwohl Sie wissen, daß sie in der Sache falsch sind, weil Sie glauben, Sie müßten diesen Stimmungen ein Stück weit Rechnung tragen. Ich weiß auch, daß es diese Stimmungen gibt.
— Herr Späth hat sich ausdrücklich gegen eine Beseitigung des Aufnahmeverfahrens zum jetzigen Zeitpunkt ausgesprochen.Es muß Ihnen doch zu denken geben, daß unter meinem Vorsitz am 26. Januar zehn Länder und drei kommunale Spitzenverbände
beschlossen haben, das Aufnahmeverfahren so bald wie möglich überflüssig zu machen. Darüber sind wir völlig einig. Wir wollen ja so rasch wie möglich eine Lage in Deutschland, wo wir kein Aufnahmeverfahren mehr brauchen. Das ist überhaupt keine Frage. Deswegen arbeiten wir ja daran, die Einheit in Freiheit so schnell wie möglich zu vollenden.
Dann brauchen wir kein Aufnahmeverfahren mehr.Aber zehn Länder waren sich mit den kommunalen Spitzenverbänden einig, daß wir jetzt nicht auf das Aufnahmeverfahren verzichten können.
Wir haben auch — ich will auch das sagen; Sie wissen es; aber es muß doch immer wieder gesagt werden — am 26. Januar verabredet, daß wir in einer Arbeitsgruppe zwischen Bund und Ländern über die Fragen des Staatsangehörigkeits- und des Vertriebenenrechts sprechen,
und zwar mit dem Ziel, Lösungen behutsam und sachlich richtig zu erarbeiten.
— Ich komme gleich darauf.Wissen Sie, Frau Hämmerle, ich denke noch an unsere Debatte über das Eingliederungsanpassungsgesetz zurück. Das ist noch gar nicht lange her. Bedenken Sie doch, welchen Standpunkt Sie dort eingenommen haben und welchen Sie heute vertreten haben! Das ist eine zu rasche Weiterentwicklung der eigenen Argumentation.
Ich will Ihnen zum Thema Volksliste 3 etwas sagen. Vielleicht ist das doch einmal wichtig. Man kann darüber ja leidenschaftslos sprechen. Der Gesetzgeber hat mit dem Staatsangehörigkeitsregelungsgesetz von 1955 entschieden. Der Ausschußbericht weist nach — ich habe dem Bundestag damals nicht angehört — , daß die Eintragung in eine der Volkslisten für den Erwerb der Staatsangehörigkeit und die Vererbung auf die Nachkommen konstitutiv sei. Dem Gesetzgeber war damals wohlbewußt, — —
— Ich will das jetzt im Zusammenhang erklären; Sie brauchen gar nicht aufzustehen. Dem Gesetzgeber war damals bewußt, daß in der Formulierung des Gesetzes bei deutschen Volkszugehörigen, die in die Volksliste 3 eingetragen worden sind, eigentlich ein Widerspruch vorliegt, weil ja in die Volksliste 3 diejenigen eingetragen wurden, die wegen eines mangelnden Bekenntnisses zum Deutschtum in den Jahren dazwischen nicht in die Listen 1 und 2 eingetragen wurden.Im Ausschußbericht von damals ist nachzulesen, daß sich in Kenntnis dieses Widerspruchs der Gesetzgeber dafür entschieden hat zu sagen, die Eintragung sei konstitutiv.
— Bitte unterbrechen Sie mich nicht! Sie dürfen ja nachher reden, wenn Ihre Fraktion Ihnen das Wort erteilen läßt.Nun haben wir in der Staatspraxis seit 1955 geltendes Recht so angewandt. Die Ausführung des Staatsangehörigkeitsrechts, meine Damen und Herren, ist Sache der Bundesländer. Soweit der Bund dabei tätig wird, wird er im Länderauftrag tätig. Deswegen reden wir doch darüber. Wenn die Länder gemeinsam der Meinung sind, daß das Recht anders angewandt wer-15210 Deutscher Bundestag — 11, Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990Bundesminister Dr. Schäubleden müsse, dann wird man darüber zu reden haben, ob dies rechtlich so sein kann. Darüber reden wir in der erwähnten Arbeitsgruppe.
Ich habe den Ländern vorgeschlagen, daß wir, was den Vertreibungsdruck anbetrifft, diesen bei Ungarn generell nicht mehr annehmen, weil wir mit Ungarn einen Vertrag haben, der die Rechte der deutschen Minderheit anerkennt.
Ich denke, daß wir im Zusammenhang mit der Vollendung der Einheit in Freiheit — Helmut Kohl hat mit Generalsekretär Gorbatschow auch am vergangenen Samstag in Moskau darüber gesprochen — auch für die Deutschen und die Deutschstämmigen in der Sowjetunion, in Polen, in Rumänien — wollen Sie im Ernst sagen, in Rumänien sei heute kein Vertreibungsdruck? —
Regelungen finden müssen, die es ermöglichen, daß nicht Hunderttausende von Deutschen und Deutschstämmigen weiterhin ihre Heimat aufgeben wollen.
Aber daran müssen wir erst arbeiten. Wir dürfen jetzt bei den Menschen nicht den Eindruck erwecken, wir könnten mit solchen Anträgen das Problem lösen.
— Das haben wir zwischen allen elf Ländern und dem Bund verabredet. Daran wird intensiv und rasch gearbeitet, aber nicht mit der Wirkung nach außen, von der ich glaube, daß sie Ihnen auch nicht erwünscht sein kann.
Aber Sie nehmen es in Kauf.
Ich will zu Ihrem Antrag noch sagen, was das Aufnahmeverfahren für Übersiedler angeht: Sie wissen, verteilen müssen wir sie ja doch. Das geben Sie zu; das ist der Sinn des Aufnahmeverfahrens. Jetzt sagen Sie: Dann machen wir das über das Meldewesen. Nach unserem Melderecht ist es eben so, daß meldepflichtig erst ist, wer in eine Wohnung eingezogen ist. Deswegen können Sie die Verteilung von Aus- und Übersiedlern auf die Länder der Bundesrepublik Deutschland über das Melderecht nicht regeln, Herr Kollege Penner.
— Über das Aufnahmeverfahren wie bisher und darüber hinaus durch das Gesetz, mit dem wir die Länder ermächtigt haben, Aus- und Übersiedler auf Städte und Gemeinden zu verteilen. Über das Melderecht— das sage ich zu Ihrem Antrag — können Sie sie nicht verteilen.
— Nein.Deswegen sage ich Ihnen: Ihre Anträge sind nicht zielführend. Ihre Anträge — Sie haben es mit zahlreichen, für mich zu vielen Zwischenrufen ja bestätigt — bewirken nicht das, was die Menschen bewegt; denn die Menschen bei uns in der Bundesrepublik wie in der DDR bewegt, daß sich noch immer zu viele veranlaßt sehen, ihre Heimat aufzugeben und zu verlassen.
Aber daran können Sie mit diesen Anträgen nichts ändern.
Deswegen sollten wir nicht den Eindruck erwecken, wir könnten es damit.Wir sollten mit aller Kraft dafür arbeiten, daß in Deutschland und in Europa so rasch wie möglich Zustände geschaffen werden — dazu werden wir große Leistungen erbringen müssen —,
die dazu beitragen, daß nicht Hunderttausende von Menschen ihre Heimat verlassen, sondern daß möglichst viele in ihrer Heimat Lebensverhältnisse finden, die ihnen lebenswert erscheinen und die ihnen Zukunftsperspektiven geben. Darum geht es. Daran müssen wir arbeiten.Meine Damen und Herren, in allem Ernst und mit aller Eindringlichkeit auch die Bitte an Sie, zu bedenken: Um diesen Weg — Herr Kollege Lüder, ich glaube, Sie haben von dem Marathonläufer und den letzten Metern oder Kilometern gesprochen — zu Ende zu gehen, werden in Deutschland große Veränderungen unausweichlich sein. Diese großen Veränderungen verursachen Beunruhigung. Die Menschen— übrigens in der DDR wie bei uns in der Bundesrepublik — sehen sie mit Sorgen und Ängsten.
Dennoch wollen wir die Einheit in Freiheit vollenden. Wenn wir aber diesen Weg erfolgreich, in Stabilität und in Frieden miteinander gehen wollen, sollten wir nicht Neid und Ängste schüren. Vielmehr brauchen wir Kraft und Solidarität.
Dabei dürfen wir nicht den Stimmungen, die Sie zu verspüren glauben, nachgeben und so tun, als hätten Sie recht.
— Ja, von Ihnen weiß ich, daß Sie ganz anders denken.
Wir sollten unseren Mitbürgern sagen: Wenn wir uns vor einem halben oder einem dreiviertel Jahr ausgemalt hätten, daß wir uns mit den Sorgen, die wir heute haben, beschäftigen dürfen, dann hätten wir gesagt: Es ist zu schön, um wahr zu sein! Es ist eine große Chance, die Einheit der Deutschen in Freiheit zu vollenden. Wir sollten unsere Kraft und unsere Soli-
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Bundesminister Dr. Schäubledarität darauf konzentrieren, das zu schaffen. Ihre Anträge helfen uns dabei nicht.
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Brück das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mich als saarländischer Abgeordneter zu Wort gemeldet, weil ich die Diffamierungen des Saarlandes durch den Bundesminister des Innern zurückweisen muß.
Er hat behauptet, daß Übersiedler im Saarland unter Polizeiüberwachung gestellt worden seien. Das ist falsch. Richtig ist, daß Übersiedlerlager im Saarland unter Polizeischutz gestellt worden sind. Warum? Es hat in der Vergangenheit im Saarland — und ich nehme an, in anderen Bundesländern auch — immer wieder Schlägereien, Auseinandersetzungen in den Übersiedlerlagern gegeben. Ich sage das, ohne mit erhobenem Zeigefinger herumzulaufen, weil die Situation in den Lagern ja Aggressionen hervorruft.
Die Polizei ist gekommen und hat geschlichtet.
Was aber ist in den vergangenen Tagen passiert? Eine Gruppe krimineller unter den Übersiedlern hat andere Übersiedler im Lager überfallen, mehrere Tage hintereinander. Sie hat sie bedroht, hat manche schwer verletzt, hat sie ausgeraubt und hat gedroht, sie würde ihnen Schlimmeres antun, wenn man Anzeige bei der Polizei erstatte. Erst vier Tage nach dem ersten Überfall hat dann einer aus dem Krankenhaus heraus die Polizei verständigt. Und dann ist die Polizei eingeschritten. Daraufhin hat der Minister des Innern im Saarland angeordnet, daß zum Schutze der Übersiedler Polizeikräfte stationiert werden. Ich denke, es war seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit.
Herr Bundesinnenminister, es wäre gut, wenn Sie hierherkämen und die Sache aus der Welt nähmen, indem Sie sich entschuldigen.
Das Wort hat der Abgeordnete Sielaff.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist wirklich schade, Herr Schäuble, daß Sie Ihrem eigenen Grundsatz nicht treu geblieben sind, nämlich sachlich zu bleiben, und daß Sie sich nicht in der Lage sehen, diese diffamierende Aussage gegen den Ministerpräsidenten des Saarlandes hier zurückzunehmen. Ich bedaure das.
Meine Damen und Herren, noch vor wenigen Monaten tönte der innenpolitische Sprecher der Unionsparteien vielerorts, das „Geschwätz", daß der Aus- und Übersiedlerstrom in der Bundesrepublik zum Problem werde, könne er nicht mehr hören. Wir seien so reich, so der Christdemokrat Gerster, daß wir die mit den Aus- und Übersiedlern verbundenen Probleme leicht lösen könnten. Wie wirklichkeitsfremd ist diese Aussage, meine Damen und Herren! Hier wird ein Bild gemalt, das es in der Realität der Bundesrepublik eben nicht gibt. Fragen Sie Ihre Bürgermeister, fragen Sie Ihre Kommunalparlamente!
Herr Abgeordneter Sielaff, der Abgeordnete Lüder und der Abgeordnete Fellner möchten gerne eine Frage beantwortet haben. Zunächst der Abgeordnete Lüder.
Herr Kollege Sielaff, da wir uns ja immer bemühen, nur das zu zitieren, was uns von dpa vorgelegt wird — wenn es um dpa-Meldungen geht — , frage ich, . . .
Nun hat der Abgeordnete Lüder das Wort. Bitte sehr.
... ob Ihnen bekannt ist, daß es ein Dementi der saarländischen Landesregierung zu dieser Formulierung der dpa-Meldung gibt?
Ich glaube, Herr Lüder, daß Sie durch den Beitrag unseres Kollegen Brück erkannt haben, wie das zu verstehen ist. Sie selbst wissen, glaube ich, genauso wie wir, wie verkehrt und eigenartig Berichterstattungen manchmal herauskommen können. Ich glaube, die Richtigstellung durch Herrn Brück macht Ihre Frage überflüssig.
Herr Abgeordneter Fellner, bitte.
Herr Kollege, wären Sie bereit, zu bestätigen, daß der Kollege Johannes Gerster auch jetzt nicht das Problem der Aus- und Übersiedler beklagt, sondern daß der lediglich bedauert, daß politische Schwierigkeiten entstanden sind, weil Sie nicht bereit sind, unseren Landsleuten aus der DDR das als selbstverständlich zuzugestehen und zu gewähren, was Sie für Asylbewerber und Ausländer ständig fordern?
Herr Gerster hat in meiner Heimatstadt Frankenthal in flapsiger Art und Weise Sorgen des Bürgermeisters abgetan, indem er gesagt hat, das wären alles keine Probleme, das wäre Stimmungsmache; er verstünde das gar nicht, weil wir im Grunde überhaupt keine Probleme hätten, die wir nicht lösen können. Dies hat er in einem Rundfunkgespräch aus-
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Sielaffdrücklich gesagt, auch wenn Sie es nicht wahrhaben wollen, Herr Fellner. Vielleicht fragen Sie ihn selbst.Meine Damen und Herren, der Abbau diktatorischer Strukturen und der Beginn der Demokratisierung in Ost- und Südosteuropa haben die Grundlage für das Bundesvertriebenen- und Flüchtlingsgesetz entzogen.
Meine Kollegin Frau Hämmerle hat darauf ausdrücklich hingewiesen.
Auch die DDR wird, meine ich, nach den Wahlen eine Demokratie mit einem frei gewählten Parlament sein. Es gibt dann in der Tat keinen Grund mehr, Übersiedler und Übersiedlerinnen für das Verlassen ihrer Heimat durch besondere Hilfen noch zu belohnen. Ich kann dem CDU-Kollegen und Präsidenten des Städte- und Gemeindetages, Theo Magin, nur zustimmen, wenn er sagt, eine Ansiedlung im Bundesgebiet darf keine erstrangige Lebensperspektive mehr darstellen. Ich gehe einen Schritt weiter und sage: Die DDR braucht dringend Fachkräfte und arbeitswillige und -fähige Menschen für den Ausbau der Wirtschaft und ihrer demokratischen Gesellschaft. Aussiedler, die ihr Land verlassen, weil dort die Deutschen immer weniger werden, oder sie fürchten, daß ihre Kinder und Enkel nicht mehr als Deutsche aufwachsen können, müssen deshalb nicht mehr nur die Bundesrepublik als neue Heimat wählen.Sollten, meine Damen und Herren, die Prognosen mancher Fachleute und Verbände eintreten, daß mit ca. 2 Millionen weiteren Aussiedlern zu rechnen ist, dann muß neben der Aufgabe des Bundesvertriebenengesetzes und der wesentlich stärkeren Förderung deutscher Kultur und Sprache in den heutigen Heimatländern eventueller Aussiedler auch der Rat stehen, die DDR als deutsche Heimat endlich anzuerkennen. Selbst die CSU teilt plötzlich diese Auffassung, wie ich heute der Presse entnehmen konnte.Zur Zeit wird mehr über die notwendige Unterstützung der Deutschen, Herr Schäuble, in Ost- und Südosteuropa gesprochen, als daß wirkliche Hilfe gewährt wird. Dabei läuft uns, wie wir alle spüren, die Zeit davon. Die Bundesregierung argumentiert, ihre Haushaltsmittel seien sehr knapp; deshalb müsse sie strenge Maßstäbe bei der Verteilung und Unterstützung einzelner Projekte anlegen. Gegen ein verantwortliches Verwalten der Haushaltsgelder ist überhaupt nichts einzuwenden. Aber die Bundesregierung, die kleine, aber förderungswürdige Projekte für die Deutschen in Ost- und Südosteuropa wegen angeblicher Geldknappheit ablehnt, protzt andererseits, so auch heute vormittag hier, mit dem angeblichen Reichtum der Bundesrepublik Deutschland.Warum greift die Bundesregierung nicht z. B. den Vorschlag des Evangelischen Freundeskreises Siebenbürgen auf oder prüft ihn zumindest, der da lautet: Transsylvanien mit seiner rumänischen Mehrheit und einer zahlenmäßig erheblichen ungarischen Minderheit, mit einer etwa 200 000 Menschen zählenden deutschen Bevölkerung, mit 50 000 Serben, ein Teil davon Roma, sollte mit erheblichen Mitteln der EG, aber auch von seiten der Bundesrepublik und anderen interessierten Ländern zu einer besonderen Entwicklungsregion gemacht werden. Damit könnte dieses Gebiet, so meine ich, zu einem Modell für eine multinationale Gesellschaft werden.
Die Nationalitätenfrage wird auch in Zukunft in vielen Staaten eines der großen Probleme bleiben. Alle müßten ein besonderes Interesse daran haben, das Bleiben unterschiedlicher Nationalitäten in ihren jeweiligen Heimatländern zu fördern und die Wanderungsbewegung zum Stoppen zu bringen. Die Bundesregierung könnte durch die Unterstützung einer solchen Initiative, wie ich sie eben nannte, zum Vorreiter einer zukunftsorientierten Nationalitätenpolitik werden. Dieses Vorhaben könnte Modellcharakter für das friedliche Zusammenleben von Angehörigen mehrerer Nationalitäten haben. Arbeiten wir, so meine ich, gemeinsam an diesem Zukunftsbild und kleben nicht am Bild einer überholten, der Vergangenheit angehörenden, in sich hermetisch abgekapselten Nation!In Polen, meine Damen und Herren, gibt es jetzt den ersten deutschen Kulturverein. Aber auch in anderen Bereichen könnten wir wirksam helfen, damit Menschen in Polen die deutsche Sprache lernen und deutsche Kultur kennen- und vielleicht auch schätzen lernen.
Da wird in den Landwirtschaftsschulen der Woiwodschaften das Wahlfach Deutsch angeboten und vielfach auch wahrgenommen. Die Schulen äußerten den Wunsch, daß den Schülern mit Deutschunterricht ein Praktikum in der Bundesrepublik angeboten wird. Seit geraumer Zeit gibt es in Polen auch eine sogenannte Olympiade für Schülerinnen und Schüler im Fach Deutsch. Wir könnten doch wirklich ohne großen Aufwand die Besten der Jahrgänge zu einem Besuch bei uns einladen. Das wären vorzügliche Möglichkeiten, auch bei Menschen ohne deutsche Abstammung Aufgeschlossenheit und Interesse an unserer Kultur in ihrem Lande mit dem Ziel des besseren Verstehens und des friedlichen Zusammenlebens beider Völker zu wecken und zu fördern.In Ungarn war die deutsche Sprache vor dem Zweiten Weltkrieg die erste Fremdsprache. Warum fördern wir ähnliche Trends nicht auch heute? Sorgen wir dafür, daß in Ungarn, in Rumänien nicht nur formal deutsche Schulen existieren, sondern Deutsch als Muttersprache gelehrt und dann auch durchgängig Unterricht in deutscher Sprache in allen Klassen abgehalten werden kann. Wir wissen, wie wichtig die Unterstützung mit deutschen Lehrkräften und deutschem Unterrichtsmaterial ist. Wichtig wäre, Herr Fellner, die Einrichtung deutscher Internate an deutschen Schulen, damit auch diejenigen, die verstreut in weit auseinanderliegenden Dörfern leben, die Möglichkeit haben, deutsche Schulen zu besuchen. Nach meiner Einschätzung bestünde in Rumänien, Herr Minister, durchaus die Chance, daß Deutsche Anträge auf eine Ausreise zurückziehen, wenn schnell, konkret und sichtbar geholfen wird.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990 15213
SielaffDie vielen deutschen Klubs in der UdSSR wollen im Miteinander der anderen Nationalitäten und vielfach auch mit Fürsprache von Regierungsstellen den Austausch zwischen deutschen und sowjetischen Künstlern und Folkloregruppen fördern. Ein großes Interesse besteht am Schüleraustausch und an regelmäßigen Begegnungen. Deutsche Kultur und deutsche Sprache wollen die Klubs verstärkt anbieten. Sprachlabors, Sprachkassetten usw. werden noch immer in großem Maße dafür benötigt. Unsere Hilfe sollte massiver sein und in der Tat verstärkt werden.Wo sind die Ansätze, mit denen die Bundesrepublik Deutschland durch Ankauf deutscher Literatur aus Ost- und Südosteuropa die Nachfrage und damit die Produktion der Veröffentlichungen in diesen Ländern fördert und sichert? Wenn wir den Exodus der Menschen aus Ost- und Südosteuropa wirklich beenden wollen, dann ist schnellere, wirkungsvolle und praktikable Hilfe dringend notwendig.
Ich befürchte, daß die Bundesregierung, Herr Schäuble, noch immer kein Konzept hat, wie die konkrete Arbeit aussehen soll. Es gibt keine Koordinierungsstelle für diese wichtige Arbeit. Die einzelnen Ministerien können nur Teilzuständigkeiten wahrnehmen. Das Auswärtige Amt ist beispielsweise für Sprachförderung und Kultur zuständig, das Innenministerium für andere Bereiche, für einzelne Hilfsmaßnahmen usw. Ebenso fehlt die Absprache zwischen Bund und Ländern bei Hilfsmaßnahmen und kultureller Unterstützung des Auslandes. Auch diese Art von Koordination ist dringend notwendig, wenn nicht vieles an angestrebten Zielen verpuffen soll.Die Planungen dauern zu lange. Immer wieder werden Informationsreisen unternommen, die stereotyp mit dem Ergebnis enden, daß unbedingt ein Sofortprogramm gestaltet werden müsse. Nur, meine Damen und Herren, Programme sind viel nützlicher, wenn sie miteinander in Verbindung stehen, wenn nicht jede Stelle ohne Kenntnis von der anderen vor sich hinwurstelt. Aktionen müssen ineinandergreifen, aufeinander aufbauen, und es muß der berühmte rote Faden durchgehend sichtbar sein. Der rote Faden heißt, daß jede Hilfe für alle Nationalitäten offen sein muß, damit eventuell berechtigte Vorbehalte wegen einer Bevorzugung deutscher Minderheiten nicht aufs neue entstehen.
Das Wort hat der Abgeordnete Czaja.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Vorredner hat soeben über etwas gesprochen, was in den beiden Anträgen mit keinem Wort angesprochen ist. Das ist das Schlimme. Es wäre nämlich sehr gut, wenn die Anträge darauf hinausliefen; aber das tun sie nicht. Da ich meine, daß man mit Argumenten arbeiten kann, bin ich der Auffassung, daß man an die Spitze der Ausführungen — das will ich jetzt tun — das stellen sollte, was man, Frau Hämmerle — das meine ich jetzt nicht verbal —, als das Gemeinsame ansieht. Wir sollten nämlich gemeinsam bemüht sein, daß sich die Menschen auch in ihrer nationalen Identität — ich meine, auch unter fremder Herrschaft — frei entfalten können, und wir sollten dies auch gemeinsam tragen.
Sehr verehrter Herr Vorredner, ich muß Ihnen sagen, daß es nicht nur Appelle der Bundesregierung gibt, sondern daß der Nachtragshaushalt für die Zwecke, die Sie nennen, 27,5 Millionen DM enthält und 10 Millionen DM bereits im bestehenden Haushalt vorhanden sind. Aber jetzt kommt das Problem, und bei dessen Lösung, Frau Hämmerle, sollten Sie mithelfen. Sie haben auch von den Heimen, Internaten usw. gesprochen. In Ungarn ist das noch nicht einmal bei dem Budapester deutschen Gymnasium der Fall. In den anderen Vertreibungsländern haben die Ankündigungen und gemeinsamen Erklärungen noch nicht zu einer tatsächlich freien Entfaltung der Deutschen geführt. Selbst Sie sprechen vom Vertrauensschutz für diese Menschen.
Deshalb bitte ich Sie — oder sonst jemanden von uns — , für zwei, drei Monate dorthin zu fahren, dort Unterricht zu geben und sich einmal anzusehen, wie katastrophal die Lage der Deutschen noch ist.
— Sie haben vorher genug gesprochen.
Herr Abgeordneter, — —
Nein, jetzt zur Einleitung nicht; zu anderen Punkten, ja.
Herr Abgeordneter Czaja, das ist Ihr gutes Recht.
Schicken Sie auch Fachleute, aber schicken Sie vor allem Leute, die die Frage der Liberalisierung und des Abbaus des Drucks prüfen. Es gibt nämlich bewußte Zeitungsmeldungen von einer extremen Linken, die mit der Wirklichkeit überhaupt nichts zu tun haben.
Ich will Sie dahin bringen, daß Sie die Wirklichkeit sehen.
Ich will jetzt aber auf die Anträge zurückkommen. Ich möchte Herrn Penner doch sagen — ich weiß nicht, ob Herr Kollege Penner noch hier ist — , daß diese Anträge eine Mischung von Populismus und sozialer und rechtlicher Verantwortung sind.Scheuner hat das einmal einen „unverdaulichen Brei" genannt. Ich will das an zwei Beispielen nüchtern erläutern; seien Sie mir nicht böse, wenn ich das so klar sagen werde.
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15214 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990
Dr. CzajaMit dem ersten Antrag gehen Sie praktisch frontal gegen das Staatsangehörigkeitsrecht vor. Aber Sie wenden dabei einen sonderbaren Trick an. Sie stellen nicht einen Änderungsantrag zum Staatsangehörigkeitsgesetz von 1955. Das würde zu deutsch bedeuten, daß Sie eine ganze Reihe von Nachkommen ausbürgern wollten — das zu sagen, trauen Sie sich ja nicht — , darunter auch Nachkommen von in der deutschen Wehrmacht Gefallenen, also von Kriegsopfern. Das sagen Sie ja nicht. Deshalb wenden Sie einen komischen Trick an. Sie verlangen von der Bundesregierung noch nicht einmal, daß sie einen Gesetzentwurf einbringen möge, der das ändert, sondern Sie verlangen von der Bundesregierung bundeseinheitliche Richtlinien. Wenn der Herr Penner noch hier wäre — ich sehe ihn nicht; aber ich glaube, es ist noch ein zweiter Jurist hier — , würde ich ihn doch ganz ernsthaft fragen: Meinen Sie, daß die diffizilen Probleme der Staatsangehörigkeit mit bundeseinheitlichen Richtlinien und ohne Gesetz und Verfassung zu regeln sind? Der Bürger verläßt sich auf Gesetz und Verfassung, meine Damen und Herren. In der parlamentarischen Demokratie entscheiden nicht Verwaltungsrichtlinien, die Bestimmungen einschränken oder ausweiten, sondern in der parlamentarischen Demokratie, die keine Verwaltungsrichtlinien-Demokratie ist, entscheiden Gesetz und Verfassung — insbesondere beim Staatsangehörigkeitsrecht.
Herrn Bundesminister Schäuble möchte ich ein Kompliment machen. Ich empfehle, daß sich andere das durchlesen, was ich jetzt ansprechen werde. Sein Haus hat eine sehr interessante Ausarbeitung zur Begrenzung sowie zur Einschränkung von Verwaltungsrichtlinien vorgelegt. Es gibt ja in der Verwaltung viele, die sich die Gesetze und die Verfassung nicht durchlesen, sondern nur in Selbstherrlichkeit die selbstgemachten Richtlinien. Das geht nicht. Das haben Sie in einer großen Ausarbeitung gesagt.Selbst der Präsident des Bundesverwaltungsgerichts, Sendler, hat in einer feierlichen öffentlichen Rede im Bundesverwaltungsgericht sehr vor den Ausuferungen des Richterrechts gewarnt. Frau Hämmerle, lesen Sie das nach. Sie haben sich in diesen Fragen nur auf Richterrecht berufen.Ich sage noch einmal: § 28 des Staatsangehörigkeitsgesetzes erklärt auch in einer freiheitlich-demokratischen Ordnung die Sammeleinbürgerung als rechtens. Das hat das Bundesverfassungsgericht im übrigen schon 1952 in einem Urteil festgehalten und auch eingehend begründet.Ich kann Ihnen nur raten, lesen Sie sich den Kommentar des großen demokratischen und freiheitlichen Rechtslehrers Schätzel aus Bonn zu diesen Fragen durch. Dann werden Sie sehen, wie fehl Ihre Meinung geht.In der Praxis müßten Sie ja untersuchen, ob 1944 der Vater oder Großvater, der bei der Wehrmacht diente, in der Volksliste 1, 2 oder 3 war. Bei seinen Nachkommen z. B. ist das überhaupt nicht feststellbar; auch durch Anfragen bei der Wehrmachtsauskunftsstelle ist das nicht feststellbar. Die meisten Volkslistenausweise liegen nicht vor. Sie liegen leider auch im Document Center nicht vor.Deswegen ist das ein Versuch — meine Damen und Herren, ich muß es schon so sagen, wie das ist — , dem Bundesinnenminister den Schwarzen Peter zuzuschieben, daß er durch Richtlinien Wege für Ausbürgerungen öffnet, für Ausbürgerungen von Nachkommen derer, die auf Widerruf da sind.Man muß auch wissen, wie das Ganze entstanden ist und wer in die Volksliste 3 kam. Das war in den einzelnen Gebieten sehr unterschiedlich. Sehen Sie sich einmal die Situation in dem NS-Mustergau Wartheland an. Da wurden die Christen, die nicht in die Partei gehen wollten, auch Deutsche, die nicht in die Partei gehen wollten, Katholiken und evangelische Christen, in die Volksliste 3 gesteckt. In Oberschlesien ist das wieder anders gewesen.Aber wie ist das schwebende Volkstum entstanden? — Dadurch, daß, 1926 bzw. 1930 beginnend, eine wilde Polonisierungsaktion einsetzte. Wenn Herr Kaletsch, der große Mann von Flick, noch da wäre, würde er Ihnen erzählen, wie das mit den Arbeitern dort gegangen ist, wenn sie ihre Kinder nicht in die polnischen Schulen geschickt haben. Beim Zurückdrehen schwebenden Volkstums durch die NS-Perfektion Himmlers entstanden Volkslisten, und zwar durch den Versuch der furchtbaren Kategorisierungen.Ich nenne ein Zweites, wo ich meine, daß Sie sehr widersprüchlich agieren: Sie sprechen dauernd gebetsmühlenartig davon, die Vertriebenengesetze seien nicht mehr zeitgemäß. Bitte, überlegen Sie einmal, daß die Vertriebenengesetzgebung auf die nicht durch friedensvertragliche Regelungen aufgearbeitete Tatsache der völkerrechtswidrigen Massenvertreibung zurückgeht. Solange die Massenvertreibung nicht aufgearbeitet ist, z. B. in Vermögensfragen, in Staatsrechtsfragen, in Gebietsfragen, in Statusfragen, so lange brauchen wir eine vernünftige Vertriebenengesetzgebung. Das ist sogar ein völkerrechtliches Bedürfnis.
Deshalb bitte ich Sie, zu sagen: Wir brauchen friedensvertragliche Regelungen. Wir brauchen das, Frau Hämmerle, was auch das neue Deutschland-Programm der SPD sagt: Wir brauchen unabdingbar — wie es dort heißt — wirksame Volksgruppenrechte und Schutz der Volksgruppenminderheit. Aber das gibt es noch nicht, und jetzt wollen Sie das innerstaatlich überlaufen, indem Sie völkerrechtliche Tatbestände nicht zur Kenntnis nehmen. Das können wir nicht. Sie können auch nicht nur denen Vertrauensschutz geben, die deutsche Volkszugehörige sind, aber den 65 % Aussiedlern aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße, die deutsche Staatsangehörige sind, den Vertrauensschutz verweigern; das verstehe ich schon gar nicht.Ein Letztes — zu den Übersiedlern wurde vieles gesagt — : Sie haben in der Begründung „Signale" verlangt, Signale, die den Leuten Vertrauen geben. In der Regierungserklärung und in der Debatte am Vormittag wurden nicht Signale, sondern Voraussetzungen und Taten genannt: Erstreckung der D-Mark, Abbau der Folgen der zentralistischen sozialistischen Planwirtschaft mit Überleitungsgesetzen.
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Dr. CzajaIch bitte Sie, wirken sie doch mit einem Mindestmaß an Zusammenarbeit und Solidarität an der baldigen und vernünftigen Zusammenführung der Teile Deutschlands mit, an der Vorbereitung von friedensvertraglichen Regelungen.
— Das, was ich sage, meine ich.
Ich habe doch eben die Überleitungsmaßnahme genannt. Sagen Sie doch klar ja zum einheitlichen, freien, föderalen deutschen Bundesstaat in einer freien europäischen föderalen Staatenordnung. Sagen Sie doch dazu ein eindeutiges Ja, und entfernen Sie sich von der Zweistaatlichkeit. Sagen Sie ja zu Regelungen, die im Friedensvertrag auch bezüglich der Deutschen, die nicht in deutschen Staaten leben, erfolgen müssen.
Herr Abgeordneter Czaja, machen Sie mir das Geschäft nicht zu schwer. Sie überschreiten gewaltig die Zeit.
Ja, Herr Präsident, aber es gab sehr viele Zwischenfragen.
Die Zeit dafür habe ich Ihnen nicht angerechnet.
Ich will mich mit Ihnen nicht streiten, Herr Präsident. — Ich danke Ihnen dafür, daß Sie mir die Zeit gegeben haben, auch zu diesem letzten Appell: Stehen wir zusammen in Einheit und Freiheit für Deutschland und in Solidarität für unser Volk und für die in den letzten 40 Jahren besonders Betroffenen.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Wiefelspütz.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst, Herr Minister, herzlichen Dank dafür, daß Sie sich an dieser Debatte beteiligt haben, wenngleich ich einräume: Phasenweise war ich doch ein wenig enttäuscht, weil Sie, wie mir schien, nicht auf der Höhe des Problems waren. Aber ich räume ein: Das ist mein subjektiver Eindruck. Ich bedauere überhaupt, daß Phasen in dieser Debatte dem Problem nun wirklich nicht gerecht geworden sind. Wir haben es doch mit wichtigen Problemen zu tun.
Herr Minister, was Ihren Hauptvorwurf an unsere Adresse angeht, wir kämen mit unseren Anträgen zum falschen Zeitpunkt, so bitte ich Sie zu bedenken: Vieles von dem, was Sie auf seiten der Regierung, die Koalition als Parlamentsmehrheit, wir in der Opposition Tag für Tag tun, wird möglicherweise oder mit Sicherheit modifiziert,
vielleicht sogar überflüssig, gegenstandslos durch das Projekt der deutschen Einheit, mit dem wir ja unmittelbar alle miteinander zu tun haben.
Wir als Opposition haben die Pflicht, auf die Probleme hinzuweisen, und das tun wir zu jedem Zeitpunkt. — Aber das nur als Vorspann.
Der Herr Abgeordnete Dr. Schäuble möchte gern eine Frage stellen.
Ich fühle mich sehr geehrt.
Herr Kollege Wiefelspütz, da Sie einräumen, daß es möglicherweise der falsche Zeitpunkt ist, diese Anträge einzubringen, und da ich bei der Art, wie Sie sprechen, vermute, daß Ihnen die Problematik möglicherweise nicht gewollter mißverständlicher Wirkungen durchaus bewußt ist, frage ich Sie, ob Sie unter diesem Gesichtspunkt nicht noch einmal darüber nachdenken sollten, ob man diese Debatte bei diesen gefährlichen Wirkungen zu diesem Zeitpunkt jetzt hätte führen müssen.
Herr Minister, ich bin immer für das Nachdenken. Ich habe vorhin davon gesprochen, daß sich vieles von dem, was wir praktisch tun, unter dem Gesichtspunkt des Projekts der deutschen Einheit in den kommenden Monaten anders darstellt. Ein Beispiel ist das Thema „Fremdrentengesetz". Ich bin der festen Überzeugung, daß die Novellierung dieses Gesetzes im Hinblick auf das Stasi-Problem niemals Wirklichkeit werden wird. Ich gehe auf einzelne Probleme ein, darauf, inwieweit sie modifiziert werden durch das Projekt der deutschen Einheit. Dann werden Sie vielleicht sehen, wie ich das gemeint habe.Seit Kriegsende, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben weit mehr als 10 Millionen deutsche oder deutschstämmige Flüchtlinge im Bundesgebiet Aufnahme gefunden. Sie waren Opfer der Vertreibung. Sie waren auch Opfer des Krieges, der von Deutschen begonnen wurde. Sie kamen aus Asien, aus Südosteuropa, aus Osteuropa, vor allem aber aus dem anderen Teil Deutschlands und den ehemaligen Ostgebieten. Es gehört zu den besonderen Leistungen bundesdeutscher Politik, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß alle diese Menschen hier ein Zuhause fanden und am Aufbau, an der Ausgestaltung und an der Weiterentwicklung unserer Republik mitgewirkt haben.Es gehört auch zu den besonderen Leistungen bundesdeutscher Politik, daß die Instrumente für die Aufnahme und die Eingliederung der Flüchtlinge geschaffen wurden. Ich nenne beispielhaft das Bundesvertriebenen- und Flüchtlingsgesetz, das Lastenausgleichsrecht,
das Fremdrentengesetz, zahlreiche besondere Leistungen für Übersiedler und Aussiedler, das Notaufnahmeverfahren, Grenzdurchgangslager, Sprachkurse.All dies hatte den Zweck, den Neubeginn, die Eingliederung zu erleichtern, wenn nicht gar erst zu ermöglichen. All dies läßt sich nur erklären vor dem
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15216 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990
WiefelspützHintergrund eines geteilten Europas, eines geteilten Deutschlands, eines fortbestehenden Vertreibungsdrucks. Vor allem aber läßt sich das nur vor dem Hintergrund geschlossener Grenzen verstehen.Die Lage in Europa und in Deutschland hat sich dramatisch geändert. Die Einheit Deutschlands steht unmittelbar vor der Tür. Deutsche und Deutschstämmige, die in Polen, in der Sowjetunion und in Rumänien leben, werden nicht mehr vertrieben.
Sie leben vielfach in schwierigen Verhältnissen; sie sind keinem Vertreibungsdruck mehr ausgesetzt.
Wenn sich die Verhältnisse nicht nur in Randbereichen, sondern ganz zentral geändert haben, Herr Minister, muß der Gesetzgeber handeln. Dies ist die Meinung der SPD und die Meinung vieler Kolleginnen und Kollegen in CDU/CSU und FDP.
Sie wissen, wovon ich spreche.
Ich bin der festen Überzeugung, daß die SPD-Anträge im Kern in überschaubaren Zeiträumen von allen Fraktionen dieses Hauses mitgetragen werden, weil sich niemand der Vernunft verschließen wird.
Sie können mich zu gegebener Zeit an diese Sätze erinnern.Lassen Sie mich auf die Problemlage von Aus- und Übersiedlern näher eingehen. Das Bundesvertriebenen- und Flüchtlingsgesetz, Herr Czaja, ist kein Aussiedlergesetz, sondern ein Vertriebenengesetz, das auch die Aussiedler nur als Nachzügler der Vertreibung in einer bestimmten geschichtlichen Situation ansieht.
Sie sind bereit, eine Frage des Abgeordneten Czaja zu beantworten? — Ich rechne Ihnen dies nicht an. Bitte sehr, Herr Abgeordneter Czaja.
Herr Kollege, würden Sie einmal darüber nachdenken, daß die Vertreibung so lange andauert, bis durch friedensvertragliche gerechte Regelungen die Unrechtsfolgen der Massenvertreibung, der Geheimabkommen und der jetzigen Unterdrückung und der Versagung der vollen Entfaltung im Recht auf die Heimat beseitigt werden?
Herr Kollege Czaja, wir haben doch, wenn ich Sie gerade richtig verstanden habe, ein gemeinsames Interesse daran — Sie wollen bitte den Beitrag des Kollegen Sielaff so verstanden wissen —, daß die Deutschen und die Deutschstämmigen in Osteuropa — ich sage das einmal vereinfacht — sich
in ihrer Heimat wohlfühlen können. Wir müssen gemeinsam darüber nachdenken, ob nicht da und dortein Stückchen mehr von unserer Seite aus dafür getan werden kann, daß dies gelingen kann.
Die Situation, in der das Vertriebenengesetz entstanden ist, ist zum Glück Vergangenheit, in Polen schon seit zehn Jahren. Seit zehn Jahren gibt es dort Reisemöglichkeiten, auch hierhin. In Rumänien gibt es dies seit wenigen Wochen. In der Sowjetunion hängt noch viel von den örtlichen Verhältnissen ab. Das war auch in der Vergangenheit, in den letzten Jahren so.Wegen der Änderung der geschichtlichen Situation muß das Vertriebenen- und Flüchtlingsgesetz zum Abschluß gebracht werden. Das wissen wir alle. Weil je nach Herkunftsland der Aussiedler die Verhältnisse immer noch unterschiedlich sind, muß Vertrauensschutz in Betracht gezogen werden. Die Umsetzung dessen, was Vertrauensschutz ist, Herr Minister, wird übrigens kein leichtes Unterfangen sein. Auch das wissen wir. Wenn es zur Gesetzgebung kommt, wird das nicht ganz einfach zu erreichen sein, es muß aber geleistet werden.Für einen bestimmten Zeitraum müssen sich vor allem die Deutschen in Rumänien, aber auch viele Deutsche in der Sowjetunion weiterhin auf das Vertriebenen- und Flüchtlingsgesetz berufen dürfen. Sie sollen nicht dafür bestraft werden, daß sie bis vor kurzem noch keine zumutbare Möglichkeit hatten, in die Bundesrepublik auszusiedeln.Ein besonderes Problem stellen diejenigen Personen dar, die aus Polen kommen und sich darauf berufen, sie seien deutsche Staatsangehörige, weil sie selber oder ein Eltern- oder Großelternteil in die sogenannte Volksliste 3 aufgenommen worden seien. Das sind, wie wir alle wissen, keineswegs Einzelfälle. Der weitaus größte Teil der aus Polen kommenden Aussiedler gehört zu diesem Personenkreis. In der bundesdeutschen Behördenpraxis wurde diesem Personenkreis bislang regelmäßig die deutsche Staatsbürgerschaft attestiert, und diese Personen erhielten einen Vertriebenenausweis, in den allermeisten Fällen zu Unrecht.Die Zwangseinbürgerung von polnischen Staatsbürgern auf der Grundlage der sogenannten Volkslistenverordnung in den Jahren nach 1941 begründete regelmäßig nicht die deutsche Staatsbürgerschaft.
Bei der sogenannten „Verordnung über die Deutsche Volksliste und die Deutsche Staatsangehörigkeit in den eingegliederten Ostgebieten" vom 4. März 1941 handelt es sich eindeutig um ein Instrument nationalsozialistisch-rassistischer „Eindeutschungspolitik" . Für diese Politik war kennzeichnend, daß die Aufnahme in die Abteilung 3 der Volksliste ohne den Willen, ja, regelmäßig gegen den Willen der Betroffenen erfolgte. Nach Kriegsende wurde diese rechtswidrige Zwangseinbürgerung zu Recht vom polnischen Staat im Einvernehmen mit den Betroffenen rückgängig gemacht.
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WiefelspützZu diesem Fragenkreis gibt es in der Bundesrepublik eine klare Rechtslage. Die Zwangseinbürgerungen von damals führen regelmäßig nicht dazu, daß die Betroffenen oder ihre Kinder und Kindeskinder heute als deutsche Staatsangehörige zu betrachten sind. Nach geltendem Recht ersetzt die Zwangseinbürgerung nicht das Vorhandensein der deutschen Volkszugehörigkeit. Außerdem verlangt die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, daß die Betroffenen seit 1945 ständig den Willen bekundeten, als deutsche Staatsangehörige behandelt zu werden. Das ist so gut wie nie der Fall.Fazit: In Tausenden, in Zehntausenden von Fällen werden das Bundesvertriebenen- und Flüchtlingsgesetz und deutsches Staatsangehörigkeitsrecht falsch angewendet. Der Fachöffentlichkeit ist dies längst bekannt. Ich begrüße ausdrücklich, daß einige Bundesländer inzwischen dafür Sorge tragen, daß präzise Einzelfallprüfungen vorgenommen werden.
— Herr Czaja, lassen Sie mich zu Ende kommen. Ich muß ein Ende finden. Ich bin gerne bereit, mich nachher noch einmal ausführlich mit Ihnen zu unterhalten, weil Sie auch das Recht dazu haben, und mich interessiert, was Sie als Meinung haben.
Die Bundesregierung muß durch klare und unmißverständliche Richtlinien die korrekte Anwendung des Gesetzes zur Regelung von Fragen der Staatsangehörigkeit sicherstellen. Ich begrüße, Herr Minister, daß Sie angedeutet haben, daß Sie dazu bereit sind und daß dies in der Zusammenarbeit mit den Bundesländern vorbereitet ist.Lassen Sie mich eine zugegebenermaßen zugespitzte Bemerkung machen, die einzige, die ich mir gestatte. In keineswegs allzu ferner Zukunft wird ein deutscher Bundesstaat, der nicht gut 60 Millionen, sondern knapp 80 Millionen Menschen vertritt, die heutige polnische Westgrenze völkerrechtlich verbindlich garantieren. Wenn nicht endlich deutsches Staatsangehörigkeitsrecht korrekt Anwendung findet, ist der Zeitpunkt absehbar, zu dem jeder polnische Staatsbürger auch deutscher Staatsbürger ist oder sofort die deutsche Staatsbürgerschaft erwerben kann, weil er in direkter Linie von einer Person abstammt, die in der Volksliste 3 eingetragen wurde, oder mit einer Person verheiratet ist, deren Vorfahren auf der Volksliste 3 standen. Das kann doch wohl nicht wahr sein.
Herr Abgeordneter, es tut mir leid, Sie übertreffen den Abgeordneten Czaja, was die Überschreitung der Zeit anlangt, auch noch. Ich wäre dankbar, wenn Sie zum Ende kämen.
Ich hätte sehr gerne, Herr Präsident, noch einiges zu den Übersiedlern aus der DDR gesagt, weil ich glaube, daß auch hier die Diskussion in Teilen dem Problem durch allzu viel Polemik und durch Unsachlichkeit nicht gerecht geworden ist.
Die SPD unterbreitet ihre Vorschläge auch im Hinblick auf die Übersiedler aus der DDR in Verantwortung für den sozialen Frieden in unserem Land. Diese Verantwortung haben wir alle in diesem Hause.
Herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Debatte. Der Ältestenrat schlägt Ihnen die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 11/6311 und 11/6381 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. — Andere Vorschläge werden aus dem Hause nicht gemacht. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Der Tagesordnungspunkt 11 a ist abgesetzt worden, so daß wir zum Tagesordnungspunkt 11 b kommen:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Export von TORNADO-Flugzeugen nach Jordanien
— Drucksachen 11/3283, 11/5302 —
Berichterstatter: Abgeordneter Kittelmann
Hier schlägt Ihnen der Ältestenrat eine Debattenzeit von 30 Minuten vor. Wenn das Haus damit einverstanden ist — das ist offensichtlich der Fall —, dann darf ich dies als beschlossen feststellen.
Zunächst einmal hat das Wort der Abgeordnete Professor Soell.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Entschließungsantrag der SPD auf Drucksache 11/3283 zum Export von acht Tornado-Bombern nach Jordanien ist durch die Entscheidung der jordanischen Regierung vom Frühjahr 1989, von der Beschaffung vorerst abzusehen, keineswegs gegenstandslos geworden; denn unser Antrag geht über dieses einzelne Beschaffungsvorhaben weit hinaus. Er fordert, daß aus der Bundesrepublik keine Kriegswaffen und Rüstungsgüter in das Spannungsgebiet des Nahen Ostens geliefert werden sollen.Wie brennend aktuell dieses Problem ist, hat die vor vier Wochen getroffene Entscheidung der Bundesregierung deutlich gemacht, die Produktionsgenehmigung für zwei U-Boote für Israel zu erteilen. Damit hat die Bundesregierung ein wichtiges Signal für einen Dammbruch für Waffenexporte in weitere Kriegs- und Spannungsgebiete gegeben.Gestern wurde im Auswärtigen Ausschuß der Gesetzentwurf der SPD-Bundestagsfraktion zur besseren Sicherung der Kriegswaffenexportkontrolle von den Abgeordneten der Regierungsparteien abgelehnt. Damit hat die Regierungskoalition verhindert, daß künftig Kriegswaffen und Rüstungsgüter nur noch in die 24 Mitgliedsstaaten der OECD exportiert werden können. Damit sollen der deutschen und europäischen Rüstungsindustrie offenbar Möglichkeiten offengehalten werden, angesichts der durch die OstWest-Entspannung sinkenden Nachfrage der Bundeswehr und der verbündeten Streitkräfte Kriegswaf-
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15218 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990
Dr. Soellfen und Rüstungsgüter vermehrt in die Dritte Welt zu liefern.
Gestern ist im Auswärtigen Ausschuß auch deutlich geworden, Frau Kollegin Geiger, daß sich der Bundessicherheitsrat bei der Lieferung von U-Booten nach Israel über Bedenken des Auswärtigen Amts hinweggesetzt hat. Er hat außerdem weitere Waffenexporte in arabische Staaten, insbesondere nach Saudi-Arabien, genehmigt.
Diese heimliche Verknüpfung von Waffenverkäufen ist eine sehr kurzatmige und gefährliche Version von sogenannter Gleichgewichtspolitik. Sie ist auch nicht nur ein Verstoß gegen die geltende Fassung des Kriegswaffenkontrollgesetzes, sondern desavouiert einmal mehr den Bundesaußenminister. Er ist es gewesen, der vor der letzten Generalversammlung der Vereinten Nationen im Herbst 1989 gefordert hatte, die waffenexportierenden Staaten sollten diese Exporte offenlegen, damit sie diese wenigstens unter öffentlichem Druck rechtfertigen müssen.Der Sündenfall dieser Bundesregierung hat in dieser Frage schon früh begonnen. Erinnern wir uns: Die Bundesregierung hat im Tornado-Abkommen mit Großbritannien 1983 die Veto-Position, die von der vorhergehenden sozialliberalen Regierung gefordert worden war, aufgegeben. Bundeskanzler Kohl hat es außerdem abgelehnt, die verschärften Exportrichtlinien der sozialliberalen Regierung vom April 1982 zu übernehmen. Der Grundsatz, keine Waffenlieferungen in Spannungsgebiete, sei international nicht durchsetzbar. So war die Begründung des Kanzlers. Sie ist jedenfalls für uns nicht akzeptabel.Ist Rüstungskooperation — so frage ich weiter — ein unbedingtes Muß? Schon da habe ich erhebliche Zweifel, die in den letzten Jahren gewachsen sind. Die Vielfalt nationaler Anforderungen in einem solchen Kooperationsunternehmen verteuert, wie wir an Projekten wie etwa dem Jäger 90 schon in der Entwicklungsphase feststellen können, Waffensysteme enorm.Wenn wir zum Ausgleich dafür freie Hand beim Export lassen, um durch größere Stückzahlen die Kosten zu senken, bringt diese Entscheidung jede Regierung in die fatale Lage, zu Gefangenen von Rüstungsexportinteressen zu werden und auch zu Gefangenen von Anschlußbeschaffungen zum Zweck der Sicherung von Arbeitsplätzen.Bei der Herstellung eines Gleichstandes bei konventionellen Waffen und Streitkräften in Europa entfällt im übrigen künftig das Argument, man brauche hohe technische Qualität wegen der überlegenen Quantität der östlichen Streitkräfte. Damit entfällt jedenfalls eines der wesentlichen Argumente zugunsten des Zwangs zur Rüstungskooperation.Wenn Sie außerdem den Binnenmarkt in den Blick nehmen, dann wird deutlich, daß in Brüssel immer mehr Probleme des Außenhandels, der Außenwirtschaft entschieden werden sollen. Wir fragen, weshalb gerade im sensitivsten Bereich des Außenhandels, im Rüstungsexport, nationalstaatliche Entscheidungen als heilige Kühe behandelt werden. Die Bundesregierung, so sagen wir, muß deshalb mit Vorrang auf gemeinsame restriktive Grundsätze der Europäischen Gemeinschaft hinarbeiten.
— Ich sehe in dieser Richtung keine Anstrengungen.Lassen Sie mich zu einem weiteren Problem kommen, das immer ins Feld geführt wird. Es wird gesagt, man wolle Gleichgewicht in Krisenregionen herstellen. Ich halte dies nicht für ein zureichendes Argument. Dazu ist folgender Vergleich anzustellen: Es wäre dann nach der Logik der atomaren Abschrekkung nur sinnvoll, an die jeweils beteiligten Konfliktparteien in Krisenregionen Atomwaffen in ausreichender Zahl zu liefern, um den Krieg zu verhindern. Das aber lehnen die Atommächte ab. Sie sind zugleich die größten Waffenexporteure bei konventionellen Waffen.Warum tun sie das? Atomwaffen in fremden Händen könnten die Sicherheit des eigenen Landes gefährden. Bei konventionellen Waffen und C-Waffen sind nur die Bevölkerungen in diesen Krisengebieten die potentiellen Opfer. Diese Doppelmoral müssen wir bekämpfen.Zukunftsträchtige Stabilisierungsprogramme für diese Krisenregionen sehen jedenfalls anders aus, als es dieser Stabilitätsbegriff ausdrückt. Nur sie tragen dazu bei, die Kräfte zu stärken, die auf Versöhnung und friedliche Zusammenarbeit aus sind.Ich möchte in diesem Zusammenhang erwähnen, daß seit über einem Jahr die Rede von weiteren Tornado-Lieferungen nach Südkorea, Oman, Malaysia die Rede ist. Ich frage die Bundesregierung, wie es mit diesen Entscheidungen steht. Ich sage, gerade vor dem Hintergrund der Debatte vor über einem Jahr: Nur wenn Regierung und Parlament mit gutem Beispiel, d. h. mit klarer Ablehnung und nicht mit Augenzwinkern, an Rüstungsexportgeschäfte herangehen, erhalten diejenigen Manager in der Rüstungsindustrie, die von dieser Ökonomie des Todes Abstand nehmen wollen, auch tatsächlich die Möglichkeit, eine solche Industriepolitik zu betreiben.Was vor einem Jahr als Sternstunde des Bundestages erschien, droht nun zum politischen Fiasko zu werden. Nach der Debatte am 27. Januar 1989 ist eine interfraktionelle Arbeitsgruppe eingesetzt worden. Sie scheiterte im Ergebnis daran, daß sich die Koalitionsfraktionen außerstande sahen, auf unsere Vorschläge zu einer stärkeren Kontrolle der Ergebnisse von Rüstungskooperation einzugehen.Wenn ich hier die Begründung in dem Bericht des Kollegen Kittelmann aus dem federführenden Wirtschaftsausschuß lese — ich zitiere — : „Es bestehe ein vorrangiges Interesse, unsere Kooperationsfähigkeit im Bündnis für den Export von Rüstungsgütern zu erhalten" , dann entspricht das genau der Mentalität, die wir bekämpfen. Ich meine, wir können dieses Fiasko nur vermeiden, wenn dem Antrag der SPD zugestimmt wird.
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Dr. SoellGerade vor dem Hintergrund der heutigen Debatte über die deutsch-deutsche Vereinigung und über das, was in Osteuropa und in Gesamteuropa vorgeht, möchte ich vor folgendem warnen: Die internationale Aufmerksamkeit, die diesem Thema derzeit gewidmet wird, sollte jedenfalls die Bundesregierung nicht dazu verleiten, zu meinen, die Gesamtproblematik des Rüstungsexports könne durch die deutsch-deutsche Thematik auf Dauer überdeckt werden. Diese Probleme werden sich uns wieder voll stellen. Ich kann mir lebhaft vorstellen, wann dies sein wird.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Börnsen aus Bönstrup.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Rüstungsexporte sind eine minenhaltige Problematik. Das gilt nicht nur für die Regierung, sondern auch für die Opposition. Bei manchen Bürgern lösen Rüstungsexporte beträchtliche Besorgnis aus, besonders dann, wenn sie in Nicht-NATO-Länder gehen. Ich habe Verständnis dafür; denn unsere Auffassung, daß Soldaten und Waffen den Krieg verhindern und den Frieden sichern, wird nicht von jedermann geteilt.
Wenn zudem Waffen in Spannungsgebiete gelangen — der Nahe Osten gehört dazu —, wachsen die Zweifel an der These: Rüstungsgüter sind ein Beitrag zur Stabilisierung der Lage. Sie sind es tatsächlich. Doch bleiben Waffen das allerletzte Mittel, Sicherheiten zu garantieren. Priorität hat für uns eine Welt mit weniger Waffen. Doch noch ist es nicht soweit.
Für uns wie für unsere Bündnispartner gilt, Frieden und Freiheit wehrhaft zu schützen. Was wir für uns in Anspruch nehmen, können wir auch anderen demokratischen Regierungen nicht verwehren und nicht verweigern.
Diese Annahme war der Ausgangspunkt für die grundsätzliche Bereitschaft zum Rüstungsexport. Restriktiver Rüstungsexport war und ist für uns die Devise. Das galt für die Anlage zur Außenwirtschaftsverordnung der Regierung Brandt im Jahre 1972; das galt auch für die Grundsätze der Regierung Schmidt vom April 1982.
Bis heute hat sich daran nichts geändert. Die CDU/ CSU-Fraktion unterstützt dieses Festhalten an einer restriktiven Rüstungsexportpolitik ohne jedes Wenn und Aber.
Für das Rüstungsabkommen mit unserem Bündnispartner Frankreich steht der Regierung Brandt die Vaterschaft zu. Der Einstieg in den Export von Rüstungsgütern aus internationaler Kooperation erfolgte in der sozialliberalen Koalition Anfang der 70er Jahre. Man hatte gute Gründe dafür; das will ich nicht verkennen.
Trotz enger Verträge kam es schon sehr bald zum ersten Sündenfall. Frankreich lieferte die Abwehrrakete Milan — dieser Staat hat es ja vollzogen — an
Syrien, und dieser Staat befand sich im Kriegszustand mit Israel. Das dürfen Sie nicht vergessen.
Das war eine bittere Pille für die Bündnispartner. Denn der Hauptexporteur bestimmt den Maßstab für die Lieferung. Verantwortlicher Bundeskanzler war Willy Brandt, und Helmut Schmidt war sein Verteidigungsminister. Die 1 000 Milan gingen an Syrien ohne Einspruch, ohne Einwand.
Es gab auch keinen Widerstand bei der Lieferung des Roland-Raketensystems an die Länder des Nahen Ostens. Es gab keinen Widerstand und keinen Widerspruch, als Frankreich Panzerabwehrraketen und Alpha-Jets an Ägypten lieferte, nichts.
Ich frage Sie: Haben Waffenexporte der 70er Jahre eine andere moralische Qualität als die der 80er Jahre? Doch wahrlich nicht.
Die Entscheidung des Lieferlandes gilt. Das Abkommen mit Frankreich macht das ganz deutlich. Dort wird gesagt: Keine der beiden Regierungen hindert die andere daran, in den Export zu gehen, es sei denn, daß schwerwiegende Bedenken bestehen.
Unsere restriktiven Richtlinien, die wir haben, werden eben noch lange nicht angewendet. Wer das will, muß die Verträge reformieren. Eine Überprüfung halte ich — die aktuelle Lage in Osteuropa ist Anlaß genug dafür — für erforderlich. Damit wird die europäische Kooperation im Rüstungsbereich nicht aufgegeben. Sie senkt die Kosten; sie führt zu optimaler Nutzung der Ressourcen; sie macht Spezialisierung möglich; sie bindet die Bündnispartner.
60 % aller Maßnahmen im Rüstungsbereich erfolgen heute in internationaler Kooperation. Die Grundlage dafür und die Verträge dazu sind maßgeblich von Sozialdemokraten beeinflußt worden. Das muß man hier einmal deutlich feststellen.
Der Antrag der SPD von heute, Ihr Antrag, ist eine herbe Kritik an Ihrer eigenen Politik.
Wir würden, wie ich finde, Einflußnahme verlieren, für Stabilität vor Ort zu sorgen, wenn wir jetzt Ihren Antrag annehmen würden.
Unser Anteil am Rüstungsexport beträgt heute 0,18 % des Gesamtexports unserer Wirtschaft.
Herr Professor Soell, ich hoffe, daß Ihre Studenten Sie nicht so oft unterbrechen wie Sie den Redner. Bitte sehr.
1988 entfielen auf Warenlieferungen bei uns 568 Milliarden DM. 1 Milli-
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15220 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990
Börnsen
arde DM entfiel davon auf Waffenlieferungen, mehr nicht. Der größte Anteil ging an die NATO-Länder im Rahmen der Bündnisverpflichtungen. Wir bleiben bei einer restriktiven Rüstungsexportpolitik.1983 wurden Rüstungsgüter im Wert von 3,2 Milliarden DM exportiert, 1988 im Wert von weniger als 1 Milliarde DM. Wir bleiben bei einer restriktiven Rüstungsexportpolitik.
Der Anteil der Verteidigungsausgaben am Bruttosozialprodukt betrug 1981 noch 3,3 % . Heute sind es 2,9 %. Wir bleiben bei einer restriktiven Rüstungsexportpolitik.
Wenn Sie daran denken, daß Frankreich 3,5 % des Bruttosozialprodukts einbringt und die UdSSR sogar 13 %, dann zeigt dies, daß wir unseren Kurs halten.Ich möchte festhalten:Erstens. Der Teil, der Ihren Antrag ausgelöst hat, ist gegenstandslos geworden, weil Jordanien am Kauf von Tornado-Flugzeugen nicht mehr interessiert ist.Zweitens. Der weitergehende Teil des Antrags mit der Aufforderung, den Export von Rüstungsgütern über Drittländer zu unterbinden, ist eine Aufforderung zum Vertragsbruch gegenüber unseren Verbündeten.Drittens. Der dritte Teil ist überaus unaufrichtig. Denn Sie befürworten zwar die Sicherheitsinteressen der Staaten des Nahen Ostens, verweigern ihnen jedoch die notwendigen Mittel durch einen Exportstopp der westeuropäischen Länder. Sie handeln wie jemand, der einen anderen in den Regen schickt, ihn warnt, er könne sich erkälten, aber ihm gleichzeitig Schirm und Regenmantel vorenthält.Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Mechtersheimer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wieder einmal beraten wir einen Antrag, der älter ist als ein Jahr. Aber in diesem Fall könnte er unter Umständen einen erneuten Antrag ersparen, und zwar deshalb, weil damals, im April 1989, von der Bundesregierung im Auswärtigen Ausschuß berichtet wurde, daß zwischen dem Vereinigten Königreich und Jordanien in etwa zwei Jahren geprüft werden soll, ob dann günstigere Voraussetzungen zur Realisierung des Vorhabens gegeben seien. Es ist also an der Zeit, darüber wieder zu sprechen. Ich möchte die Bundesregierung gleich zu Beginn bitten, so konkret wie irgend möglich schon jetzt zu sagen: Was ist der Stand in dieser Frage? Denn ganz offenkundig ist ja das prinzipielle Käufer- und Verkäuferinteresse noch vorhanden.
Dasselbe gilt für die Exportvorhaben, die Herr Soell schon genannt hat: Oman, Malaysia, Südkorea und möglicherweise weitere Länder.
— Wir sind gegen Rüstungsexport und für die Länder. Gerade weil wir für die Länder sind, sprechen wir uns gegen Rüstungsexport aus.
Herr Abgeordneter Mechtersheimer, Sie wissen ja, der Dialog mit der Regierungsbank ist in diesem Zusammenhang nicht unbedingt erwünscht.
Ja, das war in diesem Fall anders.
Vielleicht können Sie das auf eine andere Weise klären.
Ich war doch so dankbar für das Stichwort; das haben Sie doch gemerkt.
Ja, das kann ich mir denken.
Es geht um eine grundsätzliche Frage, nämlich darum, daß die rüstungspolitischen Grundsätze der Bundesregierung einfach das nicht möglich machen, was sie als Programm selbst vorgibt. Wenn es eben kein Vetorecht gegen Rüstungsexport bei Rüstungskooperationsprojekten gibt, dann bedeutet es eben automatisch ein Ja zum Rüstungsexport, europäische Rüstungskooperation zu betreiben. Das muß man ganz deutlich sehen. Wer Rüstungsexport nicht will, darf eben nicht — wie bisher — Rüstungskooperation betreiben, ja, auch noch glorifizieren und politisch als eine Tat für Europa darstellen.Wenn die Bundesregierung dazu beiträgt, daß die NATO primär ein politisches Bündnis werden soll — man weiß ja gar nicht, was das bedeutet, aber immerhin —, dann wäre doch zu hoffen, daß der vorgeblich oder auch tatsächlich vorhandene politische Wille zur restriktiven Rüstungsexportpolitik künftig nicht mehr so oft durch multilaterale Rüstungsprojekte unterlaufen wird.Was hier soeben über das Verhalten der Bundesrepublik Deutschland im Rüstungsexport gesagt worden ist, stimmt mit allen Statistiken, die zugänglich sind und auch veröffentlicht wurden, nicht überein. Die Bundesrepublik Deutschland hat — abgesehen vom Jahr 1988, das ein Ausnahmejahr war — ihren Anteil am Weltwaffenhandel in den letzten Jahren deutlich vergrößert, besonders auffallend gegenüber der Dritten Welt. Es ist ein besonders bedauerlicher Tatbestand, daß dieser Anteil deutlich gestiegen ist.Wenn Sie den Binnenmarkt unter dem Aspekt der Rüstungskooperation betrachten, dann macht das besonders große Sorge. Denn die EG schickt sich an, mit den Supermächten um den ersten Platz beim Rüstungsexport zu wetteifern. Hier gibt es sicher auch die vielzitierten synergetischen Effekte, die dazu beitragen werden, daß die Rüstungsexportkapazität der
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Dr. MechtersheimerEG steigen wird. Das ist ein Grund, hier anders zu argumentieren, als das der Kollege von der Koalition soeben getan hat. Wer verhindern will, daß mit Waffen aus deutschen Fabriken überall in der Welt Kriege geführt werden, muß nein sagen zur europäischen Rüstungskooperation.Das heißt eigentlich, zu fordern, daß neben dem Verhandlungstisch in Wien auch ein Verhandlungstisch steht, an dem die Rüstungsindustriedimension behandelt wird. Denn — es ist schon gesagt worden — ich möchte das unterstreichen: Wenn man die Zahlen der Waffen in Europa reduziert, aber die Rüstungskapazitäten beläßt, verstärkt man den Druck zum Rüstungsexport. Dieses Gesetz ist offenkundig und erfährt auch durch das praktische Verhalten der Industrie, auch durch Konzentrationsprozesse — Stichwort: Daimler — , eine strukturelle Untermauerung.Die gewaltigen offensiven Waffensysteme sind stets auch Exportschlager. Wer heute Rüstungsgüter herstellt, insbesondere Offensivwaffensysteme, entscheidet sich damit auch zwangsläufig zum Rüstungsexport. Abrüstung ist eben nicht nur eine Frage von Truppenreduzierungen, sondern muß auch an der industriellen Abrüstung ansetzen; denn wenn die Truppen reduziert werden, die Rüstungsindustrie aber nicht, betreibt man keine wirklich glaubhafte Abrüstungspolitik.Ich meine, daß wir bei den Verhandlungen über eine europäische Friedensordnung stärker als bisher die Rüstungsindustrie im Auge behalten müssen. Auch hier sind Verhandlungen, sind Diskussionen, sind Verträge notwendig; denn erst wenn diese umfassende Entmilitarisierung angegangen wird, sind wir auf dem Weg zur Friedenspolitik. Wer die Rüstungsindustrie ausklammert, setzt sich dem Verdacht aus, daß er nicht wirklich abrüsten will, sondern nur Veränderungen, Verschiebungen zu Lasten der Dritten Welt herbeiführt.Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Funke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Antrag der SPD-Fraktion zum Export von Tornado-Flugzeugen nach Jordanien ist — darauf ist bereits mehrfach hingewiesen worden — obsolet, da das Königreich Jordanien von einer Realisierung seines Vorhabens, Tornado-Flugzeuge zu kaufen und finanzieren zu lassen — das war ja eines seiner Anliegen —, Abstand genommen hat.
— Wir werden ja sehen, ob das aufgeschoben worden ist. Dann können wir erneut darüber diskutieren, wenn es notwendig sein sollte.
Aber es geht Ihnen in diesem konkreten Antrag ja gar nicht darum,
sondern es geht mal wieder darum, kräftig in Polemik zu machen,
die Bundesrepublik Deutschland als Waffenschmiede der Welt darzustellen und die Bundesregierung anzuklagen, sie lege das Kriegswaffenkontrollgesetz extensiv aus oder beachte es, um noch mehr zu sagen, nicht hinreichend. Das Gegenteil ist der Fall.
Noch in der sozialliberalen Koalition, meine Damen und Herren von der Opposition, sind 1982 die Bestimmungen des Kriegswaffenkontrollgesetzes klar definiert worden.
Ich lasse das zu. Normalerweise wird das bei Fünfminutenbeiträgen nicht gemacht. Bitte sehr, Herr Abgeordneter, wenn es sehr wichtig ist.
Lieber Kollege, ist es richtig, daß wir uns hier vor knapp mehr als einem Jahr getroffen haben und uns in einer ernsten Debatte alle einig waren, daß es in der Kooperation zu lösende Probleme gibt, diese Probleme, die z. B. auch in den Ziffern 2 und 3 dieses Antrags angesprochen worden sind, bisher noch nicht gelöst sind und daß es eben ein Jahr nach einem Aufbruch mit Beiträgen aller Fraktionen dahin gehend, daß man etwas ändern müsse, ein Stocken der vorgesehenen Gespräche gab und wir in dieser Frage der Kooperation kein Stück weiter sind?
Nein, Herr Kollege. Sie haben auch nicht ganz abgewartet, was ich anschließend sagen wollte. Ich kann aber auch schon jetzt darauf eingehen.Wir sind natürlich für eine restriktive Waffenexportpolitik. Das wissen Sie ganz genau. Wir haben auch in den Ausschüssen mehrfach darüber diskutiert. Das Kriegswaffenkontrollgesetz, die Außenwirtschaftsverordnung sollen novelliert werden. Die Bundesregierung hat bereits einen Kabinettsbeschluß gefaßt. Wir haben gemeinsam in den Ausschüssen darüber gesprochen, ob und inwieweit diese Gesetze in den parlamentarischen Beratungen noch zu bearbeiten sind. Sie wissen, daß die Koalitionsfraktionen noch heute abend über diese Frage miteinander debattieren.Ihnen geht es nicht um diesen konkreten Fall, sondern Sie wollen offensichtlich hier die Politik der Bundesregierung angreifen.
Diese Bestimmung aus dem Jahre 1982 — —
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15222 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990
Funke— Natürlich sehe ich ein Problem. Deswegen versuchen wir ja, das Kriegswaffenkontrollgesetz und die Außenwirtschaftsverordnungen zu verändern.
— Zu dem Kooperationsproblem komme ich gleich.Auch wenn sich die Lieferung der Tornado-Flugzeuge durch Großbritannien an Jordanien zerschlagen hat, muß darauf hingewiesen werden, daß die Bundesregierung gegenüber ihren Kooperationspartnern im NATO-Rüstungsbereich kein Vetorecht gegen Exporte aus Partnerländern hat. Wie Sie wissen, bestehen lediglich Konsultationsverpflichtungen.
Die Bundesregierung hat ein vorrangiges Interesse daran, unsere Kooperationsfähigkeit im Rüstungsbereich zu erhalten, da immerhin 60 % aller Entwicklungsausgaben im Rüstungsbereich auf Kooperationsprojekte entfallen.
Auf Grund des deutsch-britischen Kooperationsabkommens haben die Partnerländer jeweils die Risiken einschließlich der Finanzierung entsprechend ihren jeweiligen Anteil zu tragen. Ähnliche Regelungen haben wir auch mit Frankreich. Es bestehen keine rechtlichen Möglichkeiten für die Bundesregierung, deutsche Kreditinstitute in der Finanzierung solcher Vorhaben in irgendeiner Weise zu beschränken. Im übrigen würde das auch überhaupt keinen Sinn machen, weil über den Euromarkt jederzeit solche Beträge anderweitig ohne Einschaltung deutscher Kreditinstitute finanzierbar sind.Nach allem kann man wohl sagen: wieder einmal viel Lärm um nichts.Vielen Dank.
Das Wort hat der Staatsminister im Auswärtigen Amt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist hier schon gesagt worden, daß der erste Teil dieses Antrags entfällt,
daß wir uns mit dieser Frage hier im Bundestag schon wiederholt und sehr intensiv, zuletzt im Januar 1989, beschäftigt haben, daß es damals in erster Linie um die Fragen der Finanzierung des britisch-jordanischen Geschäfts ging und daß, wie Ihnen bekannt, dieser Fall dadurch erledigt ist, daß dieses Geschäft nicht stattgefunden hat. Herr Kollege Mechtersheimer, ich kann Ihnen mitteilen, daß es zur Zeit auch keinerlei Anzeichen dafür gibt, daß das Geschäft wieder aufgenommen wird.Meine Damen und Herren, ich möchte mich deshalb auf die zwei Punkte des SPD-Antrags beziehen, die hier zur Debatte stehen, nämlich zum einen auf die Frage der Rüstungskooperation und dann auf die Frage von Waffenlieferungen in den Nahost-Raum.Zunächst einmal ist eine funktionierende Kooperation im NATO-Bündnis bei der Produktion komplexer Waffensysteme nach wie vor erforderlich. Es gibt dafür keine Alternative. Es darf auch ganz klar gesagt werden, daß wir ein Interesse daran haben, unsere Kooperationsfähigkeit im Bündnis in dieser Frage zu erhalten. Zum einen wird die Integration der Mitgliedstaaten, Herr Kollege Müller, durch die gemeinsame Produktion von Rüstungsmaterial gestärkt.
Zum anderen ist heute wohl kein einzelner Staat mehr willens und in der Lage, die immensen Kosten moderner komplexer Waffensysteme zu tragen.
— Dann möchten Sie den einzelnen Staaten in Europa eine nationale Rüstungsproduktion überlassen — ich verstehe diese Art von Alternative nicht — , oder Sie wollen die Waffen in den Vereinigten Staaten kaufen. Das wäre die andere denkbare Alternative.
Herr Kollege Funke hat zu Recht darauf hingewiesen, daß inzwischen 60 % aller Entwicklungsausgaben im Rüstungsbereich auf Kooperationsprojekte entfallen und sich dieser Anteil bei der Beschaffung derartiger Güter wertmäßig inzwischen sogar auf 70 % bemißt.
Nun komme ich zu Herrn Professor Soell. Herr Professor Soell, Sie haben offensichtlich nicht ganz genau achtgegeben im Hinblick auf die von uns noch in der sozialliberalen Koalition gemeinsam gefaßten Grundsätze der Bundesregierung vom April 1982. Die haben sich nicht geändert. Im Gegenteil.
Es ist deutlich zu sagen, daß diese Grundsätze herausgestellt haben, daß gegen Exporte aus Partnerländern eben kein Vetorecht möglich ist, sondern daß nur die Möglichkeit der Konsultation vorgesehen ist. Wenn Sie heute versuchen würden, das zu ändern, wie Sie es uns jetzt offensichtlich vorschlagen, stehen Sie doch genau vor derselben Gefechtslage, wenn ich den Ausdruck hier ausnahmsweise gebrauchen darf, wie damals, daß nämlich keiner der europäischen Staaten bereit ist, uns zuzubilligen, daß wir ein Veto bei solchen Geschäften haben, weil sie ein anderes Verständnis haben.Auch unser Verständnis von den Rüstungsexporten, meine Damen und Herren — damit komme ich jetzt zum Nahen und Mittleren Osten — bedarf vielleicht auch einmal einer gewissen Überprüfung. Ich will
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990 15223
Staatsminister Schäfermich nicht zu der Frage der Bedrohungsanalyse, die hier im Falle der Lieferung der Tornados nach Jordanien gegeben worden ist, einlassen. Es wäre nur einmal ganz interessant festzustellen, wer eigentlich die am stärksten bewaffnete Macht im Nahen Osten ist. Danach könnte man vielleicht auch einmal einige Schutzbedürfnisse anderer Staaten hier diskutieren, meine Damen und Herren. Das wird aber hier nicht getan.In Ihrem Antrag beziehen Sie auch noch den Mittleren Osten mit ein, ohne sich klar zu machen, wie weit Sie geographisch da eigentlich gehen wollen. Ich höre jetzt zum Beispiel von Oman. Sie reden hier vom Schutz der legitimen Sicherheitsinteressen. Ja, haben Sie sich eigentlich schon einmal die Frage gestellt, was beispielsweise die fünf kleinen Golfstaaten während des iranirakischen Krieges ohne jede Verteidigungsmöglichkeit gemacht hätten? Wissen Sie, daß sie in diesen Krieg mehrfach hineingezogen worden sind? Nicht, weil sie nicht an einer Friedenslösung interessiert waren, sie haben sich flehentlich um Friedenslösungen bemüht.Sie aber sagen hier einmal: Wir schützen die legitimen Sicherheitsinteressen. Gleichzeitig sagen Sie aber: Wer nicht die Friedenslösung herbeiführt, bekommt keine Waffe. Das ist eine äußerst fragwürdige Politik. Das müssen Sie bitte einmal eingrenzen.
Ich kann Ihnen nur sagen: Unterhalten Sie sich einmal, Herr Kollege, mit Vertretern dieser Staaten, die nicht in den vergangenen Jahrzehnten in irgendeiner Weise für kriegerische Auseinandersetzungen verantwortlich gewesen sind, die aber am Golf liegen und gefährdet sind.Fragen Sie bitte einmal, was man von einer solchen Moral hält, wie sie hier dauernd verbreitet wird: Diese Staaten bekommen alle nichts; sie gehören ja zum Nahen und Mittleren Osten, und insofern kann das gar nicht in Frage kommen. — Da müssen Sie sich außenpolitisch schon ein bißchen differenzierter verhalten, Herr Kollege, als Sie es tun.
— O doch! Da müssen Sie sich ein bißchen differenzierter verhalten. Wir haben auch eine differenzierte Außenpolitik zu betreiben, für die wir diese Art von Doppelmoral, Herr Kollege Soell, in gar keiner Weise zur Grundlage machen können.Zum Schluß darf ich sagen, meine Damen und Herren: Von unseren Bemühungen, sowohl unsere Partnerländer in der EG von unserer restriktiven Rüstungspolitik zu überzeugen als auch umgekehrt zu Friedenslösungen gerade in dieser Region beizutragen — das ist, glaube ich, die vornehmste Aufgabe, die wir als Außenministerium, als Bundesregierung haben — , werden wir nicht ablassen. Wir werden aber damit nicht erreichen können, daß in jeder Hinsicht und bei all den ganz schwierigen Antworten auf solche Fragen immer die Wünsche aller erfüllt werden können.Ich kann nur sagen, an den Grundsätzen hat sich nichts geändert; und wir werden dabei bleiben. — Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft auf Drucksache 11/5302. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/3283 abzulehnen. Wer für die Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist diese Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen worden. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 12 auf:
a) Beratung der Großen Anfrage des Abgeordneten Dr. Daniels und der Fraktion DIE GRÜNEN
Kernfusion
— Drucksachen 11/4561, 11/5425 —
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Vosen, Roth, Bulmahn, Catenhusen, Fischer , Ganseforth, Grunenberg, Lohmann (Witten), Nagel, Seidenthal, Vahlberg, Jung (Düsseldorf), Lennartz, Menzel, Meyer, Reuschenbach, Schäfer (Offenburg), Stahl (Kempen), Zander, Ibrügger, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD
Energieforschungsprogramm der Bundesregierung
— Drucksache 11/6185 —
c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Forschung und Technologie zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Beendigung des Forschungsprojekts Eurobrüter
— Drucksachen 11/4179, 11/6108 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Maaß Frau Bulmahn
Hierzu liegen ein Entschließungsantrag der Fraktion der GRÜNEN sowie ein Änderungsantrag und Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf den Drucksachen 11/6431, 11/6440 und 11/6455 vor.
Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Beratung eine Stunde vorgesehen. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Daniels .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte mich bei meinen Ausführungen auf den Schwerpunkt Kernfusion
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15224 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990
Dr. Daniels
beschränken. Ich glaube, es ist angesichts der Tatsache, daß die Forscher wieder vor der Tür stehen, für den internationalen thermonuklearen Reaktor Geld anzufordern, notwendig, uns darauf zu beschränken. Ich möchte mich also darauf beschränken und noch einmal etwas Grundsätzliches zur Kernfusion sagen.Mr. Ashworth, Direktionsmitglied des amerikanischen Energiegiganten Pacific Gas and Electric sagte zutreffend:Die Fusion können wir uns absolut sparen, wenn sie nur wieder große, komplizierte Kernanlagen mit den gleichen Standort-, Genehmigungs-, Investitions-, Abfall- und Akzeptanzproblemen bringt, wie wir sie von den Kernspaltungsanlagen kennen. Wir brauchen etwas anderes: eine wirkliche Alternative und keine neue Spielform der Kernenergie.Diese Alternative ist die Sonnenenergiewirtschaft, die Sie von der Regierung allerdings täglich behindern. Die Kernfusion wird mit genauso viel öffentlichen Mitteln gefördert wie alle erneuerbaren Energien zusammen, von der fehlenden Förderung der Energieeinsparung ganz zu schweigen.Die Probleme der Kernfusion beschreiben Sie selber zutreffend in der Antwort auf unsere Große Anfrage. Lassen Sie mich mit den Sicherheitsaspekten anfangen. Tritium wird in einer unvorstellbar großen Menge für einen Fusionsreaktor benötigt. Es ist radioaktiv, wie Sie wissen. Daß es sich wie Wasser im menschlichen Körper überall hinbewegt und alle Zellen schädigen kann, wissen Sie auch. Die Krebsgefahr ist entsprechend groß. Sie unterstützen heute schon Tritiumfreilandversuche in Frankreich und sorgen so zumindest statistisch für eine steigende Zahl der Krebserkrankungen in der EG.Daß Tritium durch fast alles hindurch diffundieren kann, sollte auch Sie skeptisch machen. Flugzeugabsturz, Sabotage und Krieg führen bei Einwirkung auf einen solchen Reaktor zu sofortigen großen Freisetzungsmengen.Völlig absurd wird diese Technik, wenn Sie wissen, daß für den anfänglichen Mindestbedarf jedes Fusionsreaktors fünf Schwerwasserspaltreaktoren des kanadischen Typs CANDU fünf Jahre lang mit Volldampf nur Tritium herstellen müßten, um die benötigten 5 kg Tritium Brennstoff zu gewinnen.Aber auch die widersprüchlichen Materialanforderungen stellen unüberwindbare Hindernisse dar. Einerseits kühlt flüssiges Helium die Magnete bei einer Temperatur von 4 Grad Kelvin, und andererseits wird in diesen Magneten das eingeschlossene Plasma auf Hunderte von Millionen Grad erhitzt.Ebenso wie bei der Kernspaltung ist das Problem des radioaktiven Mülls nicht gelöst. Laut Aussage der Bundesregierung werden etwa doppelt so viele mittel- und hochradioaktive Abfälle erwartet. Außerdem wird mit in diesem Reaktor produziertem radioaktivem Blei 205 mit einer Halbwertzeit von 30 Millionen Jahren wieder einmal sichergestellt, daß die Experimente, die hier durchgeführt werden, in der Erdgeschichte sicher nicht vergessen werden.Meine Damen und Herren, ich bitte Sie: Lassen Sie schon aus Sicherheitsgründen die Finger von der Kernfusion!Dabei hilft Ihnen sicherlich die absehbare Kostenentwicklung; denn dem Steuerzahler hat die Kernspaltung bisher ca. 70 Milliarden DM gekostet. Für die Kernfusion werden jedoch mindestens 150 Milliarden DM Kosten erwartet. Aber selbst das hilft nichts: Fusionsstrom wird mindestens dreimal so teuer sein wie Strom aus Atomkraftwerken, also 50 Pfennig je kWh, wie es auch aus den Schätzungen der Bundesregierung hervorgeht. Selbst die teuerste der erneuerbaren Energien, die Photovoltaik, wird schon billiger sein, bevor das erste Demonstrationskraftwerk vielleicht in 30 Jahren stehen wird.Darin enthalten sind noch nicht die Kosten für die Reservehaltung. Fusionskraftwerke sind Großkraftwerke. Da einzelne Komponenten häufiger ausgewechselt werden müssen, wird auch die Verfügbarkeit relativ gering sein. Während die großen Fusionskraftwerke ausfallen, müssen also andere Kraftwerke die entsprechende Energie liefern.Die Fusionsforschung ist auch von den Militärs begehrt. Gravierend ist die Überlegung, Fusions-Spaltungs-Hybridreaktoren zu bauen: Die Kernfusion produziert Neutronen, um aus Thorium 232 oder Uran238 die spaltbaren Elemente Uran 233 oder Plutonium239 herzustellen.Verhängnisvoll ist auch die Entwicklung der Trägheitsfusion, deren Forschung in den USA streng geheimgehalten wird.
Fusionskraftwerke gehen von einer zentralen, umfangreichen Stromnachfrage aus. Sie passen daher überhaupt nicht in eine an der Bedarfsorientierung ausgerichtete dezentrale, effiziente Energiestruktur. Daher ist die Fusionsforschung unserer Meinung nach dramatisch zu reduzieren. Ein weiterer Bericht zur Fusion, wie von der SPD vorgeschlagen, mit den bekannten Fakten hilft da nicht weiter.Die Kernfusionsforschung ist ein typisches Beispiel falscher Forschungspolitik. Herr Riesenhuber, was verstehen Sie eigentlich unter Großforschung? Wie lauten die Kriterien für deren Förderung? Es besteht eine politische Verantwortung für diese Forschung. Heute wird Forschungspolitik von Industrielobbyisten, Großtechnologiefetischisten, Sachzwangforschern und Vermutungswissenschaftlern betrieben. Ich habe Angst vor diesen Experten, die uns Kernenergie und Kernfusion als Energiequelle der Zukunft verkaufen, wie unlängst in einer „Zeit"-Anzeige zu lesen war.Politisch und gesellschaftlich wird die Kernfusion noch nicht diskutiert. Bei der Kernspaltung setzt heute das große Wehklagen über die Fehler von gestern ein. Ach, hätten wir doch damals mehr für die erneuerbaren Energien getan! Ach, hätten wir doch weniger Geld für die unsinnige und teure Atomenergie ausgegeben!
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990 15225
Dr. Daniels
— Meine Damen und Herren, bei der Kernfusion besteht heute noch die Möglichkeit, allzuviel Unheil zu verhindern.Lassen Sie uns über die Kriterien dieser Forschungspolitik diskutieren. Die Kriterien aus grüner Sicht sind: Reversibilität und Fehlertoleranz, Überschaubarkeit und Angepaßtheit, Umweltfreundlichkeit und Ressourcenschonung, Sozial- und Demokratieverträglichkeit. Wir sollten in einer öffentlichen Anhörung im Forschungsausschuß diese Technik nach diesen Kriterien bewerten. Ich würde mich freuen, wenn wir uns auf diese Punkte einigen könnten.
Lassen Sie mich abschließen: Herr Riesenhuber, Ihr Ministerium hat schon 1981 zynisch richtig festgestellt:
„Die kontrollierte Kernfusion könnte eine ähnlich ergiebige Energiequelle erschließen wie die Brutreaktoren." Heute können wir weiter schließen: Die kontrollierte Kernfusion wird ein ähnliches finanzielles Fiasko und ebenso politisch nicht durchsetzbar sein wie der Schnelle Brüter und auch der Eurobrüter.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Lenzer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte die Position der CDU/CSU-Bundestagsfraktion nicht allein zu dieser Großen Anfrage der GRÜNEN zur Kernfusion darlegen, sondern mich auch mit den beiden anderen Anträgen der SPD-Fraktion beschäftigen.Doch zunächst zur Kernfusion. Herr Kollege Daniels, bei Ihnen hatte ich den Eindruck, daß Sie so tun, als ob das Leistungskraftwerk auf Kernfusionsbasis vor der Tür stünde. Ich möchte sagen: Die Kernfusion ist für uns zur Zeit — und wird es auch auf lange Zeit noch bleiben — eine der möglichen energiewirtschaftlichen und energiepolitischen Optionen für eine sichere, umweltfreundliche und kostengünstige Energieversorgung der Zukunft.
Aber alles, was dabei zur Zeit geschieht, ist nun wirklich nur der Grundlagenforschung zuzurechnen. Sie wissen, daß Parameter, die für eine kontrolliert ablaufende Kernfusion wichtig sind, bisher nur in getrennten Experimenten erreicht worden sind. Ich denke an die Temperatur des Plasmas, ich denke an die Dichte, an die Einschlußzeit. Es wird noch lange dauern, bis wir dort soweit sind, daß es überhaupt funktioniert.Das Ziel ist ein internationaler Versuchsreaktor als Voraussetzung für spätere Demonstrationskraftwerke. Die Experten sagen uns, daß das vielleicht in drei Jahrzehnten einmal der Fall sein kann. Wir tun das deswegen auch nicht in einem nationalen Alleingang, sondern sind eingebunden in die europäischen Aktivitäten.
Sie wissen, 14 verschiedene Staaten beteiligen sich; mit JET und dem großen Forschungsreaktor in Culham hat es angefangen. Mit einem Finanzaufwand von weltweit etwa 2,3 Milliarden DM sind diese Aktivitäten zur Zeit zu bilanzieren. Wenn Sie sich dabei vergegenwärtigen, daß Japan dabei mit 400 Millionen DM, die UdSSR mit 400 Millionen DM,
die USA mit 600 Millionen DM und die EG mit 900 Millionen DM, beteiligt sind und daß wir, die Bundesrepublik Deutschland, davon pro anno 200 Millionen DM aufwenden — das sind 9 % des gesamten Aufwandes —,
dann, glaube ich, ist das eine relativ preiswerte Eintrittskarte für 100 % Know-how in einer zukunftsträchtigen Technik.
Die Sicherheitsfragen scheinen auch nach dem, was man heute weiß, lösbar. Es gibt keine Leistungsexkursionen — ich kann jetzt nicht alles ansprechen, was wichtig wäre — , es besteht z. B. nur ein geringes Nachwärmeproblem, es gibt keine Abgase, und ebenso gibt es keine radioaktiven Spaltprodukte. Dafür existiert allerdings radioaktives Strukturmaterial, das ja durch die ablaufende Fusion später entsteht. Es besteht auch durchaus eine gewisse Problematik bei den chemischen Reaktionen. Beim SNR 300, also einem flüssigmetallgekühlten Reaktor, ist ähnliches festzustellen.Zu der Proliferationsgefahr möchte ich nun wirklich überhaupt nichts sagen, denn das ist ein politisches Problem. Es ist ein Problem, das — wie beim NPT-Vertrag — politisch gelöst werden muß. Es ist ein Problem, das nicht der Forschung speziell anzulasten ist.Es gibt bei der Fusion auch nicht den von Ihnen angesprochenen Trägheitseinschluß — der wäre allerdings problematisch — , sondern es gibt den magnetischen Einschluß. Auch von daher besteht also nicht die Gefahr, daß hier für Waffenzwecke abgezweigt werden könnte.Lassen Sie mich zum Abschluß dieses Punktes noch sagen: Die von Ihnen geforderte Technikfolgenabschätzung gibt es dort bereits. Es gibt in Amerika einen Bericht, den Star Power Report; es gibt einen Bericht im Auftrag der Europäischen Kommission, den sogenannten STOA-Bericht, und zur Zeit läuft im Auftrag der Bundesregierung auch ein Bericht über die Probleme der Fusion, den die gemeinsame Forschungsstelle in Ispra erstellen wird. Ich glaube, alles, was man im Moment tun kann, ist auf den Weg gebracht.Nun zum Antrag der SPD zum Energieforschungsprogramm. Ich weiß, daß die SPD nach wie vor über gute Kontakte — das ist auch nichts Unanständiges — zum Forschungsministerium verfügt. Sie hat bestimmt
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15226 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990
Lenzerläuten hören, daß das Energieforschungsprogramm in der nächsten Woche im Kabinett verabschiedet werden soll. Nun springt sie halt auf den fahrenden Zug und fordert die Bundesregierung auf, möglichst schnell — das letzte liegt schon eine Zeitlang zurück — ein solches Programm vorzulegen. In der Tat ist es richtig, daß 1981 ein Programm noch von dem Kollegen von Bülow als Forschungsminister vorgelegt worden war. Das war in vielen Teilen durchaus tragfähig und sinnvoll. An der allgemeinen Einschätzung hat sich genau wie beim Energieprogramm eigentlich nichts Grundsätzliches geändert, sofern ich an die alten Stichworte umweltfreundlich, kostengünstig, Risikostreuung usw., usf. denke, die wir kennen. Hier hat sich genauso wie an der grundsätzlichen Problematik der Energieversorgung nichts geändert. Mittlerweile sind allerdings die Umwelt- und Klimafragen viel stärker in den Vordergrund getreten, als das noch vor zehn Jahren absehbar war. Ich glaube, daß es auch hier noch eines gewissen Umdenkungsprozesses bedarf. Wir werden vielleicht auch zu einer Neubewertung der Kernenergie kommen. Man kann das in der Tendenz schon bei der 14. Weltenergiekonferenz in Montreal feststellen, wenn ich die Schlußfolgerungen einmal betrachte.Wir werden das Energieforschungsprogramm, welches ein Regierungsprogramm ist, auch im Ausschuß selbstverständlich sehr sorgfältig unter die Lupe nehmen. Es wird also genug Zeit sein, sich dort noch mit weiteren Einzelheiten zu beschäftigen. Alle die Forderungen, die Sie stellen, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, sind in diesem Programm, glaube ich, berücksichtigt. Wenn z. B. von der Verminderung der Umweltbelastungen gesprochen wird, sind wir uns natürlich einig, aber dann bitte ich, daß wir dann ganz leidenschaftslos einmal etwa die Rolle der Kernenergie betrachten, denn sie ist im Gegensatz zur Fusion eine heute verfügbare energiepolitische Option. Wenn dann im gleichen Atemzug vom CO2-Problem, von den Treibhausgasen, Belastungen und anderen Dingen — durchaus realen Gefahren — auf der einen Seite gesprochen wird, auf der anderen Seite wieder der Ausstieg aus der Kernenergie proklamiert wird, so, meine ich, fällt das doch irgendwo auf, da stimmt doch irgend etwas nicht zusammen.Der Vorwurf der Vernachlässigung erneuerbarer Energien wird immer wieder erhoben. Er wird aber dadurch nicht wahrer, daß man ihn wiederholt. Ich glaube, diese Bundesregierung, auch Bundesminister Riesenhuber, tut alles, um jedes sinnvolle, jedes vernünftige Projekt bei den erneuerbaren Energien zu fördern. Die erneuerbaren Energien stellen ja kein forschungspolitisches Problem dar, sondern sind ein Problem des Marktes. Sie sind nun einmal zur Zeit noch hoffnungslos im Hintertreffen, wenn ich von der Wasserkraft, die auch dazuzuzählen wäre, einmal absehe.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Daniels ?
Wenn wir uns darüber einig sind, daß sie wirklich so teuer sind, möchte ich Sie, Herr Abgeordneter, fragen, warum dann nicht intensiv in diesen Bereich investiert wird, damit sie möglichst schnell billiger werden. Wir sind uns doch einig, daß die Preise für erneuerbare Energieträger möglichst schnell sinken sollten. Gerade in diese Richtung müßte doch auch von der Bundesregierung investiert werden.
Sie stoßen hierbei natürlich immer wieder an physikalische Grenzen. Es wird auch mit noch so vielen Beschlüssen selbst in diesem Parlament nicht gelingen, die Gesetze der Physik zu überwinden.
Die sind nun einmal in vielen Fällen, etwa bei der Photovoltaik, unüberwindlich.
— Den will ich auch nicht abschaffen. Den werden wir auch mit Mehrheit nicht abschaffen können. — Ich meine, es ist ein Markteinführungsproblem. Man könnte irgendwelche Subventionstatbestände schaffen, z. B. die Markteinführung durch steuerliche Präferenzen zu erleichtern. Wenn man das politisch will, muß man es beschließen. Wir betrachten das wirklich sehr skeptisch. Bitte, Herr Kollege Daniels, es ist kein forschungspolitisches Problem. Es ist kein Vorwurf, der an den BMFT gerichtet werden kann.Lassen Sie mich etwas zum dritten und letzten Punkt sagen, den wir hier in der verbundenen Debatte behandeln. Es geht um den SPD-Antrag zur Beendigung der Aktivitäten des Forschungsprojekts Eurobrüter, ERUG. Auch hier muß man sagen: Dieser Antrag berücksichtigt in keiner Weise die internationale Entwicklung und den Stand der internationalen Bemühungen. Er ist auch bar jeder realistischen Einschätzung, wenn man von der Bevölkerungsentwicklung spricht, wenn man den Energiebedarf der Entwicklungsländer entsprechend veranschlagt — da können wir nicht als Oberlehrer auftreten, um ihnen Ratschläge zu erteilen —, oder wenn man die Umweltansprüche betrachtet. Wir sprechen ja immer wieder davon, und es gibt ja die Enquete-Kommission „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre" in diesem Parlament, die das wirklich sehr klar herausgearbeitet hat. Wir konnten das bei einer Delegationsreise des Forschungsausschusses ja am eigenen Leibe erleben und uns vor Ort informieren. Wenn man einmal bedenkt, daß z. B. die Volksrepublik China fast eine Milliarde Tonnen Kohle zur Stromerzeugung verbrennt und das in den nächsten Jahren noch auf 1,5 Milliarden Tonnen steigern will, dann, glaube ich, wird die ganze Dimension des Problems deutlich.
Es wäre wirklich fahrlässig, wenn man eine so wichtige Option wie die Schnellbrütertechnik fallen ließe. Niemand behauptet, daß das eine wirtschaftlich vernünftige Alternative zu irgendeinem anderen Energiepfad ist. So war es auch nicht gedacht. Der SNR 300 z. B. war nur als Prototypreaktor vorgesehen, nicht etwa als Leistungsreaktor, der unter kommerziellen Bedingungen arbeiten sollte. Sein Sinn lag in einem
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Lenzeranderen Zusammenhang, nämlich als Forschungsprojekt. Deswegen meine ich: Wir sollten nicht so ohne weiteres aus der europäischen Schnellbrütertechnik aussteigen.Wir haben weltweit Erfahrungen mit 19 Brutreaktorkraftwerken. Das „European Fast Reactor"-Programm, wie es heißt, datiert von einem Regierungsabkommen vom 10. Januar 1984, wo wir ebenfalls nicht allein auf weiter Flur sind, weil wir da etwa mit dem Kopf durch die Wand wollten. Beteiligt sind außer uns Frankreich, Großbritannien, Belgien und Italien. Was darüber hinaus die privatwirtschaftlichen Verträge betrifft, die es nach einem Abkommen vom 16. Februar 1989 gibt, glaube ich, daß dieses Parlament nun wirklich seine Kompetenz überschreiten würde, wenn wir uns da einmischen wollten.Ich möchte ganz einfach an Sie appellieren: Kehren wir zu einer sachlichen Diskussion zurück. Sie schließen bestimmte Energieoptionen von vornherein aus. Ich halte das für falsch. Lassen Sie uns über alle energiepolitischen Möglichkeiten, über alle möglichen Optionen sprechen! Lassen Sie uns keine Glaubenskriege führen!
Sie können nun einmal nicht mit dem Kopf durch die Wand.
Sie können nicht einerseits den Schutz der Erdatmosphäre propagieren und andererseits die einzig mögliche Option, die auch in nennenswerter Menge zur Verfügung steht und die schadstofffrei, abgasfrei usw. ist, nämlich die Kernenergie, außen vor lassen.Eine Mittelkürzung, wie sie von Ihnen bei der KfK in Betracht gezogen wird, würde natürlich die Schwächsten treffen. Sie würde nämlich zum Verlust von Arbeitsplätzen führen. Glauben Sie nur nicht, daß Sie die Leute auf Grund aller möglichen Konversionstheorien bei irgendwelchen anderen Produktionen einsetzen könnten. Das hängt ja auch ein bißchen mit der Qualifikation zusammen.Ich möchte den Wissenschaftlern danken, die unter schweren Bedingungen und teilweise unter öffentlichen Anfeindungen ihrer Tätigkeit nachgehen.
Deswegen glaube ich: Wenn es nötig ist, auszusteigen — wenn Sie mir diese flapsige Bemerkung am Ende meiner Ausführungen gestatten — , dann lassen Sie uns gemeinsam aus allen möglichen sozialistischen und sonstigen ideologischen Hirngespinsten aussteigen! Dann haben Sie uns auf Ihrer Seite.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Professor Ganseforth.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte zu dem Tagesordnungspunkt 12b, zu dem Energieforschungsprogramm der Bundesregierung, und zu unserem Antrag sprechen, hier etwas zu tun. Die Notwendigkeit eines Energieforschungsprogramms liegt eigentlich auf der Hand; denn es gibt ein solches Programm nicht. Hier wird unser Antrag — ich habe soeben gehört, daß das sehr schnell geht — dem Minister Beine machen. Das ist auch gut so. Das von der sozialliberalen Regierung 1981 aufgelegte zweite Programm Energieforschung und Energietechnologien ist 1985 ausgelaufen. Seitdem gibt es keine entsprechende Programmatik. In der Energiepolitik, in der Energieforschungspolitik herrschen Konzeptionslosigkeit und Unklarheit. Der mehr oder weniger zufällige Kurs geht dazu noch in die falsche Richtung.
Jeder weiß, daß die Energiefrage eine Schlüsselfrage ist, wenn es um den ökologisch verantwortbaren Umbau der Industriegesellschaft geht, der nötig ist. Nicht erst seit der Debatte um die drohende Klimakatastrophe wissen wir davon, sondern auch die anderen Umweltbelastungen in der Energienutzung sind uns lange bekannt.Dabei ist der Energieverbrauch unter den Menschen sehr ungleichmäßig verteilt. Die Enquete-Kommission hat angegeben, daß 1986 der Pro-Kopf-Primärenergie-Verbrauch für die Bundesrepublik bei 5,7 Steinkohleeinheiten lag. Das ist genau dreimal so viel wie der Weltdurchschnittsverbrauch.Höher als bei uns liegt der Pro-Kopf-Verbrauch nur in der UdSSR, in den Niederlanden, der DDR, den USA und Kanada. In allen anderen Ländern liegt er niedriger.Er ist bei uns fast zehnmal so hoch wie in Asien und— Herr Lenzer, ich finde es gut, daß Sie China erwähnt haben — fast zwanzigmal so hoch wie in China, in Afrika und in Indien ist der Energieverbrauch pro Kopf bei uns.
— Ja, aber wir verbrauchen trotz guter Technik soviel mehr Energie. Ich bin auf diesen Punkt so ausführlich eingegangen, weil man eben immer ins Ausland— nach Asien, nach Afrika, nach China — guckt und damit nicht sieht, was bei uns zu machen ist, damit von dem ablenkt, was bei uns z. B. in bezug auf rationelle Energieverwendung und Energieeinsparung noch möglich und nötig ist ist — auch im Forschungsbereich.
Der Forschungsbereich ist deshalb so wichtig, weil Versäumnisse und Verzögerungen hier sich noch für die nachfolgenden Generationen verheerend auswirken. Wir brauchen die Energieforschung heute nötiger denn je mit einem mutigen Konzept mit den Schwerpunkten im nichtnuklearen Energieforschungsbereich, die wir in unserem Programm nennen: Energieeinsparung und rationelle Energienutzung, Kohleforschung, Solarenergie und Wasserstoff— hier möchte ich nur daran erinnern, daß unser Antrag zu diesem Thema seit über zwei Jahren in den Ausschüssen schmort und unbedingt auf den Weg gebracht werden muß — sowie übrige regenerative und alternative Energieformen wie Wind, Wasser, Wellen, Gezeiten, Erdwärme und Biomasse. Das wer-
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15228 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990
Frau Ganseforthden und müssen die Schwerpunkte des Energieforschungsprogramms sein.Auch im Interesse unserer Kinder und Kindeskinder brauchen wir hier große Anstrengungen und die Bündelung des wissenschaftlichen Sachverstandes sowie auch entsprechende Mittel. Das sieht unser Antrag auch vor.Doch wo setzt bisher der Forschungsminister den Schwerpunkt in der Energieforschung? — Kernenergie- und Fusionsforschung sind mit 1,3 Milliarden DM, rationelle Energieverwendung mit 90 Millionen DM dotiert. Diesen Faktor 13 hat heute ein sachverständiger Wissenschaftler in der Enquete-Kommission beklagend vorgetragen und damit auf das Ungleichgewicht in der Energieforschungsförderung hingewiesen.Die Schieflage betrifft übrigens nicht nur den Forschungsminister, sondern die gesamte Regierungspolitik. Wenn man das auflistet, stellt man auch da entsprechende Schieflagen fest.Ich möchte das auch einmal an einem Beispiel deutlich machen. Ich habe vor einem guten Jahr eine mündliche Frage zum Zurückfahren der Mittel für rationelle Energieverwendung gestellt. Ich möchte das kurz zitieren. Ich habe gefragt:Hält die Bundesregierung das drastische Zurückfahren der Forschungsförderung für rationelle Energieverwendung ... angesichts der zu erwartenden Klimakatastrophe und den von Fachleuten beklagten Defiziten auch bei der verbrauchsorientierten Forschungsförderung rationeller Energieverwendung für verantwortbar?Was meinen Sie, hat mir der Staatssekretär darauf geantwortet? — „Ja". Schlichte Antwort: ja.Dabei wissen wir aus der Arbeit der Enquete-Kommission, daß ein großer Forschungsbedarf besteht, um z. B. die Lücke zwischen den technisch möglichen und den theoretisch möglichen Einsparpotentialen zu verringern. Herr Lenzer, wir wissen noch nicht einmal, wo die Grenze liegt, wo das physikalisch mögliche Einsparpotential liegt, und das technisch mögliche ist weit davon entfernt. Hier besteht noch ein großer Forschungsbedarf. Das kostet natürlich Mittel und Sachverstand.Mir ist aber auch klargeworden, warum ich vom Staatssekretär diese Antwort bekommen habe bzw. warum dieses Ungleichgewicht im Ministerium in bezug auf die verschiedenen Energien besteht. Ein sachverständiger Wissenschaftler sagte heute etwas ganz Interessantes in der Enquete-Kommission, nämlich daß in den Behörden, Ministerien und Verbänden die Menschen, die neuen Entwicklungen gegenüber aufgeschlossen sind, erst mit jahrelanger Verzögerung einziehen. Das ist auch logisch, und man kann es niemandem vorwerfen. Das ist eben Fakt. Es hieß, daß auf ungefähr zehn Leute, die den gestrigen Vorstellungen verhaftet sind, eine Person kommt, die den neueren Entwicklungen in der Energiepolitik gegenüber aufgeschlossen ist, die dann auch noch völlig überlastet ist.Diese Aussage in bezug auf die Behörden und Ministerien trifft genauso für die außeruniversitären Forschungseinrichtungen zu. Wir hören auch die Klagen von denjenigen, die sich den neueren Energien und den Energiesparforschungsprogrammen zuwenden, daß sie überlastet sind und wie schwierig ihre Situation ist.Herr Lenzer, wenn Sie den Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen in den Forschungseinrichtungen gedankt haben, dann möchte ich einmal denen danken, die sich den neuen Energieformen und den neuen Gedanken aufgeschlossen zeigen
und die gegen den Strom der Zeit und gegen den Strom derer, die das Sagen haben, mutig und konsequent schwimmen. Denen möchte ich an dieser Stelle einmal danken.
Übrigens, Herr Lenzer, auch bei Ihren Aussagen ist mir klargeworden, daß das nicht nur für die Behörden zutrifft, sondern daß das weit in die Ausschüsse und weit in das Parlament hineingeht, daß dort das veraltete Denken noch eine Rolle spielt und dort noch immer Leute glauben, daß Kernenergie und Kernfusionen die Lösung der Energieprobleme bringen. Das ist wirklich nicht mehr der Stand der Zukunft.
Ich möchte ein weiteres Beispiel zu diesem veralteten Denken bringen: Ende Januar, vor etwa drei Wochen, stellten uns in der Enquete-Kommission die Projektleiter Jochem vom Fraunhofer-Institut für Systemtechnik und Innovationsforschung, Karlsruhe, und Professor Schaefer von der Forschungsstelle für Energiewirtschaft in München die Zusammenfassung von 19 Studien vor. Sie beschäftigen sich mit dem Thema Energieeinsparung durch rationellere Energienutzung und Verminderung der Energiedienstleistung.Das Ergebnis dieser Studien, wie es von den beiden Sachverständigen vorgestellt wurde, möchte ich aus „heute im Bundestag" vom 23. Januar 1990 zitieren. Dort heißt es:Durch rationelle Energienutzung können die jährlichen Kohlendioxid-Emissionen bis zum Jahre 2005 um etwa 134 Millionen Tonnen, das sind etwa 19 % weniger im Vergleich zu 1987, reduziert werden. Hinzu kommen die Reduktionen durch energiebewußtes Verhalten beziehungsweise Verminderung der Energiedienstleistung.Dann heißt es:Die angegebenen Zahlen, so Schmidbauer weiter,— hier wird Schmidbauer von der CDU zitiert —liegen auf der „sicheren Seite einer relativ großen Bandbreite der möglichen Einsparpotentiale" und könnten aufgrund der Studienergebnisse als realisierbar angesehen werden.— Das war vor drei Wochen das Ergebnis in der Enquete -Kommission.
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Frau GanseforthDas Forschungsministerium ist um eine Stellungnahme zu diesen Studien gebeten worden. Ich habe sie heute bekommen und möchte daraus zitieren, was dort zu diesem Thema gesagt wird. Es heißt dort:Die Studie suggeriert damit der Politik ein Einsparpotential von + 19 % ,— hiermit meinen sie sicher Schmidbauer —das in der realen Welt nicht machbar sein dürfte; es sei denn, man würde den totalen Überwachungsstaat einführen und eine gigantische Umerziehungskampagne starten. Daß dies auf Akzeptanzprobleme treffen würde, die in unserem Staat praktisch nicht lösbar wären, ist kaum von der Hand zu weisen.— Originalton Forschungsministerium.Der Minister Riesenhuber schreibt in dem Begleitschreiben dazu, daß er sich bemüht habe, soviel Sachverstand wie möglich bei den Stellungnahmen zu aktivieren.Ich kann nur sagen: Das macht sehr deutlich, wie notwendig unser Antrag ist. Die Bundesregierung muß unverzüglich ein Energieforschungsprogramm mit den notwendigen und richtigen Schwerpunkten auflegen.Ich bitte Sie, unserem Antrag zuzustimmen.
Das Wort hat der Abgeordnete Professor Dr. Laermann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch wenn ich von Hause aus Ingenieur bin, möchte ich jetzt nicht in technische Details der einen oder anderen Technik einsteigen. Ich will vielmehr versuchen, einige politische Positionen zu formulieren.Nach meinen Informationen soll das Energieforschungsprogramm der Bundesregierung in Kürze vom Kabinett verabschiedet werden; das haben wir vorhin gehört. Vielleicht hat ja in der Tat Ihr diesbezüglicher Antrag, Frau Kollegin Ganseforth, etwas beschleunigend gewirkt — ich will das nicht in Frage stellen —; aber andererseits muß ich, wenn Sie das anmahnen, auch sagen: Gut Ding will Weile haben. Es haben sich ja ziemliche Veränderungen in der politischen Landschaft ergeben, aber auch in den eigentlichen fachbezogenen Ansätzen. Von daher denke ich, daß wir ein akzeptables Energieforschungsprogramm vorgelegt bekommen.Meine Fraktion und ich gehen jedenfalls davon aus, daß in diesem Programm eine nachdrückliche Betonung auf Forschung und Entwicklung, Erschließung erneuerbarer Energien, insbesondere auf Solarenergie, auf Wasserstofftechnik, auf rationelle und umweltverträgliche Energieumwandlungs- und -nutzungstechniken gelegt wird. Im Vordergrund eines solchen Programms sollten dabei Kleinanlagen und deren Nutzung im Niedrigtemperaturbereich — also nicht nur Stromerzeugung — sowie Forschungen auf dem Gebiet der Energiespeichertechnik stehen.Wenn wir da einen Durchbruch erreichen, werden wir, glaube ich, bei der Nutzung erneuerbarer Energien durchaus sehr viel mehr Fortschritte erzielen können.Besonderer Forschungs- und Entwicklungsbedarf besteht allerdings auch für die großtechnische Nutzung erneuerbarer Energien. Denken wir an Solarkraftwerke, Solaratomkraftwerke.Besonderes Augenmerk ist auf Techniken zu Energiebedarfsdeckung in den Entwicklungsländern zu legen. Ich meine, daß wir das ganz besonders herausstellen müssen; denn dort müssen wir den größten Energiebedarfszuwachs erwarten.
Derartige Ansätze vermisse ich allerdings in dem Katalog des SPD-Antrags. Wir werden in diesen Ländern nämlich einen hohen Elastizitätskoeffizienten haben, d. h. eine stringente Anbindung des Energiebedarfszuwachses an die Steigerung des Lebensstandards und der wirtschaftlichen Entwicklung.Neben das herkömmliche Ziel der Energiepolitik, eine preiswerte und sichere Energieversorgung zu garantieren, ist das Ziel einer umweltverträglichen Energieversorgung getreten. Die Bedrohung des Weltklimas macht es notwendig, unabhängig von der jeweiligen Marktlage die Neuentwicklung, Erprobung und Anwendung von umweltfreundlichen Energietechnologien, die Nutzung erneuerbarer Energien und die Energieeinsparung stärker voranzutreiben.Meine Damen und Herren, es genügt aber nicht, auf Forschung und Entwicklung allein zu setzen. Viele gute, praktisch einsetzbare Entwicklungsergebnisse liegen vor. Jetzt gilt es, deren Anwendung zu fördern, ihre Markteinführung zu stützen. Kleine Gewerbebetriebe, Privathaushalte, gemeinnützige Organisationen und landwirtschaftliche Betriebe sind ideale Einsatzgebiete für die Nutzung erneuerbarer Energiequellen, jedenfalls in unseren Breitengraden. Die interessierten Anwender nehmen den hohen Wartungsaufwand, die Unstetigkeit des Energieangebots wie auch die experimentellen Notwendigkeiten des Einsatzes moderner Technologien wegen ihres Engagements für Umwelttechnologien hin und legen keine engen Maßstäbe betriebswirtschaftlicher Rentabilität zugrunde. Private, landwirtschaftliche, kleingewerbliche und gemeinnützige Anwender müssen daher in Zukunft stärker gefördert werden.So fordern wir z. B. — ich möchte das nur an wenigen Beispielen konkretisieren — , daß befristete Fördermaßnahmen zur Markteinführung eingesetzt werden. Die steuerlichen Sonderabschreibungen sind deutlich zu verbessern. Für Anwender, die nicht von steuerlichen Abschreibungen profitieren, muß alternativ eine Zuschußregelung angeboten werden: Ein Schulungs-, Beratungs- und Weiterbildungsprogramm muß für die Anwendung und Erprobung erneuerbarer Energien eingerichtet werden. Im Rahmen der Neuregelung der Stromtarife und der Überprüfung des Energiewirtschaftsgesetzes müssen mit den Energieversorgungsunternehmen weitere Gespräche über höhere Einspeisevergütungen für Strom
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15230 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990
Dr.-Ing. Laermannaus nichtgewerblichen Anlagen auf der Grundlage erneuerbarer Energien geführt werden.
— Das ist mit dem Wirtschaftsminister so besprochen.Meine Damen und Herren, die Industriestaaten sind wegen ihrer Entwicklungspotentiale, ihrer Forschungsinfrastruktur, ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit in der Lage und verpflichtet, Energiekonzepte für die Zukunft zu entwickeln. Sie können und müssen Konzepte für die Deckung des zu erwartenden Weltenergiebedarfs erarbeiten — eine bedeutende Voraussetzung für die Überwindung des Nord-SüdGefälles. Dabei sind die Aspekte der Ressourcenschonung, des Umwelt- und Naturschutzes, der Klimabelastung und auch der Sicherheit zu beachten.Daraus folgt logisch die Notwendigkeit zu sehr viel engerer internationaler Kooperation über den Rahmen der europäischen Zusammenarbeit hinaus. Die Industrienationen sind verpflichtet, Optionen für neue Energietechniken und Energiesysteme zu eröffnen und zu erhalten. Dabei sind auch die Folgewirkungen zu untersuchen und vor allem internationale Sicherheitsstandards für alle Optionen zu erarbeiten.
Meine Fraktion begrüßt daher sehr die internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Kernfusion. Die europäische Kooperation hat sich bisher bewährt. Die unter der Schirmherrschaft der Internationalen Atomenergie-Organisation vereinbarte Kooperation zwischen der EG — einschließlich Schweden und der Schweiz; man beachte dies —, den USA, der UdSSR und Japan im sogenannten ITER-Projekt, in der alle Beteiligten ihre bisher gewonnenen Erkenntnisse einbringen, betrachte ich als Meilenstein und beispielhaft für internationale und verantwortliche Kooperation.
Um es unmißverständlich zu sagen: Die Fusionsforschung befindet sich noch im Stadium der Grundlagenforschung. Dem Wesen von Forschung entspricht es auch, daß niemand voraussagen kann, ob die angestrebten Ziele tatsächlich erreicht werden können oder nicht. Wir halten es deshalb nicht für vertretbar, wenn sich die Bundesrepublik aus dieser weltumspannenden Forschungsgemeinschaft verabschieden sollte.
Wir erwarten, daß im Energieforschungsprogramm auch detaillierte Aussagen über die Fusionsforschung enthalten sind.Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich denke, wir werden im Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung darüber beraten — wenn uns das Forschungsprogramm vorliegt — , ob weiterer Informationsbedarf über den Anteil und die Entwicklungen im Fusionsbereich erforderlich sein wird und weiterer Informationsbedarf besteht. Ich bitte Sie, die Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion, deshalb,Ihren Entschließungsantrag zur Kernfusion heute nicht zur Abstimmung zu stellen.Lassen Sie mich schließlich noch einen Satz zu Ihrem Antrag betreffend Eurobrüter sagen. Nachdem Ihr ursprünglicher Antrag in den Ausschußberatungen abgelehnt wurde, legen Sie heute einen Änderungsvortrag vor, der sich zuerst mit dem SNR 300 in Kalkar und dann mit dem Eurobrüter befaßt.Wir werden diesen Antrag ablehnen, erstens weil wir der Meinung sind, daß rational und fachlich fundiert, ohne Wahlkampftrara, über das weitere Schicksal des SNR 300 im Ausschuß zu beraten ist — ich halte auch dieses für notwendig — , zweitens weil wir die regierungsseitig vereinbarte wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit zwischen sechs europäischen Ländern zur Dokumentation, Aufarbeitung und Verwertung der bisher gewonnenen Erkenntnisse und Erfahrungen, auch der negativen Erfahrungen hinsichtlich der Brütertechnik, für notwendig halten, um in der internationalen Diskussion über sicherheitsrelevante Fragen mitreden zu können, nicht etwa, um die Brütertechnik jetzt schon kommerziell zu nutzen, sondern um auf Sachkompetenz begründete internationale Mitwirkungsmöglichkeiten zur Wahrung und Durchsetzung unserer ureigensten Sicherheitsinteressen zu behalten. Das muß gerade denjenigen, die eine solche Technik nicht wollen, ein besonderes Anliegen sein, damit wir nicht von den Entwicklungen in anderen Ländern überrollt werden.
Wir können nicht nach dem Prinzip von Heinrich Heine verfahren: An deutschem Wesen wird die Welt genesen; wir stellen alle anderen internationalen Partner in die Ecke. — Ich denke, das wäre eine Anmaßung, die wir uns nicht leisten sollten.Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Catenhusen.
Meine Damen und Herren! Die Klimaproblematik stellt sicherlich drängende und dramatische Fragen an die Schwerpunkte der Energieforschung und der Energiepolitik in den nächsten Jahrzehnten. Wir wissen, daß die bisherigen Formen der Energiegewinnung und -nutzung in unvertretbarer Weise die Umwelt belasten. Wir stimmen hier sicherlich alle der Forderung der Weltenergiekonferenz und des Brundtland-Reports zu, daß eine rasche 50%ige Reduzierung des Verbrauchs fossiler Energieträger anzustreben ist.Meine Damen und Herren, es geht aber auch darum, zu sehen, daß wir nicht Teufel durch Beelzebub austreiben;
denn die mit der Nutzung der Atomenergie, insbesondere der Schnellbrutreaktortechnologie, verbundenen Risiken und Gefahren sind von vergleichbarer Qualität. Es geht um große Störfälle, die wir auch bei geringsten Wahrscheinlichkeiten nicht akzeptieren
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Catenhusenkönnen. Es geht auch um die ungelösten Probleme, radioaktive Abfälle für Jahrtausende von der Biosphäre sicher abzuschließen.Ich will nicht verhehlen, daß der Weltenergieverbrauch in den nächsten Jahrzehnten durch die rasche Industrialisierung der Schwellenländer weiter ansteigen wird. Ein Null-Wachstum des Energieverbrauchs weltweit ist zur Zeit nicht in Sicht. Immer wichtiger wird natürlich gleichzeitig die Bestimmung und die Realisierung ökologisch verträglicher Grenzen unseres und des weltweiten Energieverbrauchs.Daß in dieser Situation das neue Energieforschungsprogramm von Bundesminister Riesenhuber seit mittlerweile gut fünf Jahren überfällig ist, verwundert einen nicht; das ist ja auch bei anderen Programmen so. Meine Damen und Herren, der wahre Grund scheint offensichtlich darin zu liegen, daß sich Herr Riesenhuber nicht traut, in einem solchen neuen Forschungsprogramm auch gleichzeitig anzugeben, wieviel Geld er in den nächsten Jahren in diesen Bereich investieren will. Wir haben allgemein den Eindruck, daß durch neue Großprojekte — ich nenne nur die Raumfahrt — der Spielraum des BMFT für wirklich neue Akzente auch in der Energieforschungspolitik sehr geschwunden ist.Es ist zu befürchten, daß bei dieser Fortschreibung des Energieprogramms Sie, Herr Minister Riesenhuber, als letzter Verantwortlicher in der Bundesrepublik den Versuch fortsetzen wollen, die Weiterentwicklung der Schnellbrutreaktortechnologie auch mit staatlichen, wenn auch bescheidenen, Mitteln zu retten. Unter Ihrer Regierungszeit sind über 4 Milliarden DM in den SNR 300 geflossen. Ich meine, Herr Minister Riesenhuber, Sie haben eine Chance verpaßt, uns und der Öffentlichkeit überzeugend zu demonstrieren, daß technische Großprojekte, die auf Grund veränderter Rahmenbedingungen entbehrlich, obsolet geworden sind, in einem geordneten Verfahren beendet werden können.
Sie haben diesen Mut, Herr Riesenhuber, beim Hochtemperaturreaktor nicht aufgebracht, und bei Wakkersdorf hat Ihnen die deutsche Elektrizitätswirtschaft die Entscheidung aus der Hand genommen, nachdem Herr Minister Töpfer bei dem Wettstreit, wer der letzte Mohikaner in der Bundesrepublik ist, klugerweise Ihnen den Vortritt gelassen hat.Meine Damen und Herren, die Schnellbrutreaktortechnologie ist unwirtschaftlich. Ihr Einsatz ist weder ökologisch noch ökonomisch vertretbar. Schnellbrüterwirtschaft bedeutet auch immer Plutoniumwirtschaft, und diese wollen wir auch wegen der Gefahr des militärischen Gebrauchs von Plutonium nicht.
Nun ist die Frage, ob der Fusionsreaktor eine Alternative dazu darstellt. Er sollte ja in den Träumen von Technikern in den 50er Jahren die dritte und letzte Stufe auf dem Weg ins Energieschlaraffenland werden. Seit 30 Jahren werden weltweite Anstrengungen unternommen, das Prinzip der Energieerzeugung durch Verschmelzung von Wasserstoffkernen unter extrem hohen Temperaturen technisch zu verstehen und zu berherrschen. Wir sind nach diesen 30 Jahren von dem denkbaren Endpunkt, bis wir es technisch beherrschen können, weiter entfernt, als es uns die Wissenschaftler in den 50er Jahren gesagt haben — mindestens 60 Jahre. Fusionsforschung ist — das kann man begrüßen — nach 30 Jahren immer noch Grundlagenforschung.Das heißt natürlich auch, daß der point of no return in dieser Technikentwicklung längst noch nicht erreicht ist und daß wir auch zu den Fragen der technischen Machbarkeit, der Sicherheit im Betrieb, zu den Fragen der Entsorgung radioaktiver Abfälle, zum energiepolitischen Sinn, zum ökonomischen Nutzen der Fusionsreaktortechnologie heute keine abschließenden Antworten geben können. Deshalb ist auch eine Forderung, den Beweis antreten zu wollen, daß diese Technik weder machbar und ökologisch vertretbar noch ökonomisch sinnvoll ist, meiner Ansicht nach heute nicht zu erfüllen. Genauso fragwürdig ist aber auch der Optimismus, die Kernfusion sei nach heutiger Erkenntnis eine Energiequelle mit einem nahezu unerschöpflichen Brennstoffvorrat, eine Energiequelle, die inhärent sicher sei und gegenüber Kernkraftwerken ein deutlich geringeres Gefährdungspotential aufweise. Diese Thesen sind genauso fragwürdig.Probleme — da stimme ich Herrn Daniels durchaus zu — sind erkennbar. Wir haben überhaupt nur eine einzige Denkidee, wie ein Fusionsreaktor aussehen könnte. Die TA-Studie des Europäischen Parlaments kommt ja zu dem Ergebnis, daß die möglichen Risikopotentiale eines Fusionsreaktors im einzelnen heute kaum bestimmbar sind.Eine Meßlatte ist für uns ganz klar: Wir Sozialdemokraten wollen keinen Fusionsreaktor, der sicherheitstechnisch, ökonomisch und ökologisch vergleichbare Probleme wie die Leichtwasserreaktortechnologie aufwirft. Das ist keine Zielvorstellung für uns Sozialdemokraten.Wir wissen bisher überhaupt nicht, ob ein Fusionsreaktor jemals eine positive Energiebilanz erreichen kann. Das verbindet ihn ja mit dem schnellen Brüter. Die bisherigen Kostenschätzungen für einen Fusionsreaktor sind drei- bis fünfmal so hoch wie für einen Leichtwasserreaktor. Die Fusionstechnik ist — das kann man heute sicherlich sagen — wesentlich kapitalintensiver als die Kerntechnik. Sie kann nur in großen Einheiten betrieben werden und kommt auf Grund ihrer technischen Komplexität ohnehin nur für wenige große Industrieländer in Frage. Dabei wieder die Dritte Welt ins Spiel zu bringen, ist genauso unsinnig wie bei der Förderung der Schnellbrutreaktortechnologie. Beide werden niemals ein Exportartikel werden können.Wir wissen natürlich genau, daß das bundesdeutsche Fusionsprogramm stark in das europäische Fusionsprogramm eingebunden ist. Das Fusionsprojekt JET ist auf eine Laufzeit von mindestens 15 Jahren angelegt. In dieser Situation das Parlament mit dem Antrag zu überraschen, aus dem Stand ein Moratorium für die Fusionsforschung zu verkünden, nach dem Motto: Fusionsforscher in Jülich, Karlsruhe und
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CatenhusenGarching, legt eure Werkzeuge aus der Hand und wartet das Ergebnis des allgemeinen öffentlichen Dialogs ab, ist, glaube ich, keine angemessene Antwort, kein angemessener Umgang mit den Problemen, über die wir heute diskutieren. Auch Ihnen, Herr Daniels, ist seit über zehn Jahren bekannt, daß wir hier Fusionsforschung betreiben. Wenn es Ihnen wirklich so pressiert hätte, hätten Sie vielleicht auch seit Ihrem Einzug ins Parlament etwas schneller handeln können.Ich meine, was politisch ansteht, ist unsere Vorbereitung auf die Entscheidung, uns an Bau und Betrieb des nächsten großen europäischen Fusionsprojektes NET, das vielleicht auch in Form des NET ein weltweites Unternehmen werden könnte, zu beteiligen. Ein solcher Schritt würde mindestens zu einer Verdoppelung der jährlichen Ausgaben im Forschungshaushalt auf über 400 Millionen DM führen. Erst nach diesem Projekt, also in 20 Jahren, wird die Entscheidung über den Einstieg in die konkrete Reaktorentwicklung getroffen werden können. Dann wäre der point of no return erreicht.Für mich als Politiker ist ein großes Problem: Bei einem auf Generationen angelegten Technologieprogramm stellt sich für uns Politiker die Frage, wie dieses Projekt überhaupt noch politisch und parlamentarisch kontrolliert oder beeinflußt werden kann. Einem Automatismus von einem Großprojekt zum anderen werden wir als Sozialdemokraten nicht von vornherein unsere Zustimmung geben. Wir wollen, daß sich das Parlament hier bis zum nächsten Jahr Entscheidungsspielräume erkämpft und auch Entscheidungsalternativen vorbereitet, über die wir dann politisch zu entscheiden haben. Ich möchte dazu noch einige Punkte kurz nennen.Erstens. Wir wollen zumindest sicherstellen, daß in der Energieforschung Maßnahmen zur Förderung erneuerbarer Energiequellen, insbesondere der Photovoltaik, und der Förderung der Energieeinsparung Vorrang erhalten. Denn nur auf diesem Wege, nicht durch die Förderung der Kernfusion, kann der größte Beitrag für eine ökologisch verträgliche Energiepolitik in den nächsten Jahrzehnten erbracht werden.
Um es auf den Punkt zu bringen: Die Ausgaben für Fusionsforschung dürfen auf jeden Fall die Ausgaben für diese Bereiche nicht übersteigen.Zweitens. Wenn weitere Großprojekte einen Sinn machen sollten — darüber werden wir noch im Detail zu reden haben — , dann sollten sie ähnlich wie beim Bau von Großbeschleunigern so weit wie möglich internationalisiert werden, möglichst in Zusammenarbeit zwischen EG, Japan, USA und Sowjetunion, damit auch dadurch national Kosten gespart werden können. Ich will nicht, daß wir beides tun, international mehr ausgeben und national entsprechend sozusagen neue Kohlen auf das Feuer werfen.Drittens. Wir brauchen Vorschläge für das Parlament, ob bei verstärkter internationaler Arbeitsteilung die Schwerpunkte der bundesdeutschen Fusionsforschung, die vor allem in Garching, Karlsruhe und Jülich betrieben werden, konzentriert werden können.Letzter Punkt. Es wird Zeit, daß die Bundesregierung dem Parlament für die Fortsetzung des Fusionsprogramms über JET hinaus Entscheidungsgrundlagen und Entscheidungsalternativen vorlegt. Unser Antrag zielt darauf ab. Wir sind gern bereit, Herr Laermann, uns im Forschungsausschuß über die Einzelheiten eines solchen Berichts zu verständigen, den das Parlament unserer Überzeugung nach dringend braucht, um hier verantwortliche Entscheidungen mit großer finanzieller und forschungspolitischer Reichweite treffen zu können.Wir stimmen natürlich der Überweisung dieses Antrags an den Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung zu.Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Forschung und Technologie.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Wir sind uns über einige Punkte hier offensichtlich weitgehend einig, vor allem über die Problemformulierung. Das Problem ist dadurch gekennzeichnet, daß die Weltbevölkerung groß ist und daß sie wächst. Das Problem ist dadurch gekennzeichnet, daß die Menschen einen größeren Wohlstand haben wollen. Das Problem ist dadurch gekennzeichnet, daß der Energiebedarf nicht nur mit der wachsenden Zahl der Menschen wachsen wird, sondern, wenn nichts anderes passiert, überproportional mit dem wachsenden Wohlstand pro Kopf. Das ist der Ausgangspunkt.
Die Frage ist: Wie können wir angesichts dieser Problematik Energieversorgung bereitstellen? Denn die klassischen Energiequellen stoßen an ihre Grenzen. Auch darüber sind wir uns einig. Wenn also in Ländern der Dritten Welt über Jahrtausende ein Gleichgewicht zwischen nachwachsendem Holz und dem Holzverbrauch gewesen war, dann ist es in dem Moment zerstört, wo die Wälder an den Hängen des Himalaya in Indien niedergeholzt werden, weil andere Holzquellen nicht mehr da sind, und dies ist irreversibel.
— Liebe gnädige Frau und verehrte Frau Kollegin, ich bin bereit, auch darüber zu sprechen; ich bin gerne dazu bereit. Nur, ich kann nicht über alles zugleich sprechen. Wir müssen jetzt wirklich erst einmal versuchen, die Gesamtbilanz zu sehen. Die Gesamtbilanz sieht so aus, daß wir hier keine beliebige Zahl von Wahlfreiheiten haben. Wir haben die vorhandenen „alten" Energien: die Kohle, das Öl, das Erdgas; wir haben das Holz. Wir haben ferner die Möglichkeit, neue Energien zu erschließen. Wenn wir nicht nur die Ressourcen betrachten, sondern die Umweltprobleme, die hier von mehreren Kollegen dargestellt worden sind, hinzunehmen — die Arbeiten der Enquete-Kommission; der CO2-Effekt; das Problem, daß
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Bundesminister Dr. Riesenhuberwir CO2 dauerhaft absenken müssen —, dann bleiben uns für längere und auch für kürzere Fristen drei Alternativen und nicht mehr. Das ist die Kernfusion, das ist die Kernspaltung, und das ist die Sonne.Die sonst noch vorhandenen Möglichkeiten, Energie zu erzeugen — ich spreche nicht von Energieeinsparung; das ist ein weiteres Thema —, werden keine große Rolle spielen, ob das nun Erdwärme oder Schwerkraft via Gezeitenkraftwerke sein wird; wie gesagt, dies alles spielt keine Rolle.In dieser Situation hat Forschung nur eine einzige Aufgabe. Sie hat die Chancen zu prüfen, die wir haben. Sie hat uns in den Stand zu versetzen, daß wir beurteilen können, worin jeweils die Vor- und Nachteile bestehen. Es scheint mir eine unverantwortliche Strategie zu sein, die Prüfung selbst zu verweigern.
Denn dann stoßen wir auf Probleme, die sich als unlösbar herausstellen können.Ich sage hier eindeutig: Selbst innerhalb der Prüfung, selbst beim Versuchsgerät wird man die Frage zu stellen haben, ob nicht vom Versuchsgerät Risiken ausgehen. Insofern verweise ich auf die Diskussion über den Schnellen Brüter. Was den SNR 300 betrifft, existiert ein Genehmigungsverfahren, dessen Strenge unbestritten ist. Wenn er genehmigungsfähig ist, dann wird er genehmigt werden. Wir müssen jetzt schauen, daß die Genehmigung in der Tat — ich zitiere Herrn Jochimsen, der zuständig ist — „nach Recht und Gesetz", also zügig erfolgt.
Aber die Grundsatzfrage, daß es möglich sein muß, hier ein Gerät zu prüfen, ist in der Sache unbestritten.Die Frage — Kollege Laermann hat darauf hingewiesen —, ob dies hernach in der Praxis eingeführt ist, ist dann, wenn es so weit ist und wenn man die Alternativen zu prüfen hat, zu entscheiden, nicht früher.Nun hat Herr Catenhusen hier von 4 Milliarden DM gesprochen. Herr Catenhusen, bezüglich des SNR 300 — davon sprachen Sie — habe ich Kosten in Höhe von 2,8 Milliarden DM, die praktisch festgelegt waren, ermittelt. Wir haben die Wirtschaft inzwischen in freundschaftlicher Diskussion gewonnen. 1,56 Milliarden DM von den ingesamt 2,8 Milliarden DM zu übernehmen. Wir haben hier also nicht 4 Milliarden DM, sondern wir haben weniger als die Hälfte dieses Betrages ausgegeben. Wenn wir das Projekt abgebrochen hätten, wäre der Betrag — rein fiskalisch gesprochen — größer gewesen.Was nun den Eurobrüter, den Sie in Ihrem Antrag behandeln, anbetrifft, sage ich Ihnen: Wir bezahlen ihn nicht. Wir bezahlen nicht die Projektierung. Wir bezahlen nicht den Bau. Wir bezahlen auch nicht den Betrieb. Wir haben gesagt: Wir machen eine begleitende Forschung, insbesondere zur Sicherheit. Hierin liegt die Verantwortung der Bundesregierung. Genau dies halte ich für richtig.Was Herr Laermann gesagt hat, trifft zu — Christian Lenzer hat es an anderer Stelle aufgegriffen — : Wir müssen hier Sicherheitsstrategien so anlegen, daß eine Technik, wenn wir in die Situation kommen, daß wir über ihre Anwendung zu entscheiden haben, wirklich durchschaubar ist und soweit wie überhaupt möglich beherrscht wird.
Wenn wir eine Technik beherrschen, werden wir sie einsetzen. Wenn wir sie nicht beherrschen, setzen wir sie auch nicht ein. Aber wir können uns doch nicht der Forschung verweigern. Wenn wir uns angesichts einer bedrängten Welt mit wachsenden Umweltproblemen, mit künftigen Ressourcenproblemen, mit einer wachsenden Menschheit sehenden Auges der Forschung verweigern und die neuen Möglichkeiten der Technik nicht ausschöpfen, dann verrennen wir uns hier bewußt in ein unlösbares Problem, und dies ist unverantwortlich.
— In der Tat. Ich spreche hier jetzt von der Kernfusion. Hierauf hat sich Herr Catenhusen bezogen. Herr Catenhusen hat gesagt, er verlange, daß wir für die Fusion nicht mehr als für die regenerativen Energien ausgeben sollen. Für die regenerativen Energien sind im Jahre 1990 fast 300 Millionen DM veranschlagt; ich glaube, es sind 294 Millionen DM. Für die Fusion sind, wie wir in der Debatte gerade gehört haben, 200 Millionen DM veranschlagt. Daran wird die Relation deutlich.
— Herr Catenhusen möchte eine Frage stellen. Herr Präsident, wenn Sie die Uhr anhalten, bin ich freundschaftlich bereit, seine Zwischenfrage zuzulassen.
Das mache ich glatt.
Aber ich rede nicht länger, als es parlamentarischen Gepflogenheiten entspricht.
— Ich unterwerfe mich der Geschäftsführung.
Herr Riesenhuber, ich will meine Frage auf zwei Punkte konzentrieren.
Der erste Punkt ist: Herr Riesenhuber, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß das, was ich gesagt habe, sowohl für den Bereich der Energieeinsparung als auch für den Bereich der regenerativen Energiequellen gilt?
Stimmen Sie mir zweitens darin zu, daß die Entwicklung in der Nach-JET-Phase aus den Fugen geraten könnte?
Ich glaube, in einem der Papiere, die dieser Debatte zugrunde liegen, wird abgeschätzt, daß 700 Millionen DM für ITER in den 90er Jahren notwendig sein werden, und zwar über einen Zeit-
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15234 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990
Bundesminister Dr. Riesenhuberraum, der auf etwa 10 Jahre geschätzt wird. Dies ergibt rechnerisch 70 Millionen DM im Jahr, immer bezogen auf die Bundesrepublik Deutschland. Dies ist also gegenüber den 200 Millionen DM, die wir haben, nicht eine Verdoppelung.Selbst wenn Sie sagen, es sei nicht gleich verteilt und man habe ein Maximaljahr, in dem es vielleicht einmal 140 Millionen DM sind, ist es immer noch keine Verdoppelung. Das heißt, in den Relationen müssen wir hier schon ehrlich bleiben, und da sprechen wir nicht von dieser Größenordnung.Jetzt habe ich Ihre elegante zweite Frage leider vergessen. Sie haben mir zwei Fragen gestellt, und ich schreibe nicht mit. Entschuldigung, Herr Präsident. — Ach ja, die regenerativen Energien, ob sie rationell sind.
— Ja, ja, das ist sehr gut.Zu den regenerativen Energien und zur rationellen Energieversorgung: Bei den regenerativen Energien habe ich die Zahl genannt. Ich kann nur noch einmal das wiederholen, was ich gesagt habe. Mit den 300 Millionen DM geben wir mehr aus — das habe ich immer wieder gesagt — als jedes andere europäische Land, mehr als alle anderen europäischen Länder gemeinsam, mehr als Japan und mehr als die Vereinigten Staaten. Es ist in Breite, Höhe und Tiefe das größte Programm, das es weltweit gibt.Bei der rationellen Energieversorgung haben wir in der Tat eine Differenz. Frau Kollegin Ganseforth hat hier zu Recht darauf hingewiesen, daß ein Szenario dargestellt ist. Jetzt könnte ich meinen Brief zur Gänze zitieren; ich habe ihn hier liegen. Er war nicht ganz so harsch, wie er hier in Ihrem Auszug klang. Das ist nicht mein Punkt.Aber selbst aus den Ausarbeitungen, die hier vorgelegt worden sind, geht dreierlei hervor: erstens daß das Spektrum mit zwischen plus 2 und minus 19 % bei der Entwicklung der Kohlendioxidemissionen unter den verschiedenen Annahmen liegt, zweitens daß die Wissenschaftler, die nur ein halbes Jahr zur Arbeit gehabt haben, nicht die Möglichkeit hatten, wirtschaftliche Machbarkeiten abzuschätzen, und drittens daß in diesem Zusammenhang der Forschungsbedarf nicht als die eigentliche strategische Problematik dargestellt worden ist.Wenn man dies zusammennimmt, dann stellt sich das, was wir tun, anders dar. Das meiste, was wir hier beispielsweise an Wärmedämmung in Häusern machen müssen, ist keine originelle oder neue Technik. Das können wir, und das wissen wir.
Wo aber etwas ganz Neues auftritt, von der Supraleitung bis zur Brennstoffzelle, machen wir die Untersuchungen dort, wo neue Technik es bringen kann. Aber ich glaube, daß hier nicht staatliches Handeln, sondern daß der Markt, die Steuerpolitik, die Finanzpolitik, die Möglichkeit der steigenden Energiepreise, vor allem aber die Verantwortung des einzelnen die richtigen Kriterien schaffen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, was nun ITER betrifft, ohne dies jetzt hier wirklich in allen Punkten anzusprechen — ich beziehe mich voll Zustimmung auf das, was Christian Lenzer und auf das, was Karl-Hans Laermann vorgetragen hat — : Wir werden über ITER zu entscheiden haben. Es ist darauf hingewiesen worden — Christian Lenzer hat es gesagt —, was zur Technikfolgenabschätzung, was zur Abschätzung der Technik gebracht worden ist.Herr Daniels, ich kann leider nicht mehr auf alle Details eingehen. Aber ich muß Ihnen sagen: Die Trägheitsfusion wird hier nicht betrieben; die Hybridfusion wird nicht betrieben; ITER ist auch nicht Hybridfusion. Was wir hier mit der militärischen Technik zu tun haben, ist nicht zu sehen, außer im großen Fusionsreaktor. Darin sind vielleicht zwei oder drei Kilo Tritium. Davon sind 200 Gramm frei, und der Rest ist gebunden. Im Jahr kommen vielleicht 2 Gramm heraus.
Wie Sie also da zu diesen Horrorszenarien kommen, die Sie dargestellt haben, ist überhaupt nicht nachvollziehbar.Ich kann jetzt hier leider nicht weitersprechen. Vielleicht kann mir der Präsident mehr Zeit geben. Auf Zwischenfragen führe ich alles aus; aber das schaffe ich nicht mehr.In der Sache werden wir den Prozeß so offen und sorgsam durchführen, wie wir es gemacht haben. Aber im Kern bleibt eines: Wir dürfen in einer begrenzten Welt nicht auf eine Chance verzichten. Wir brauchen alle Möglichkeiten der Energieeinsparung. Wir waren in den letzten 15 Jahren wesentlich erfolgreicher, als das hier irgend jemand gesagt hat. Bei einem Bruttosozialprodukt, das 35 % höher ist, als es vor 15 Jahren gewesen ist, haben wir heute einen Energieverbrauch, der praktisch auf dem Niveau von 1973 liegt. Ich bin der festen Überzeugung, daß wir bei einer vernünftigen Strategie, an der wir alle zusammen zu arbeiten haben, auf diesem Wege fortschreiten.Ich habe mit Vergnügen, Herr Daniels, bei Ihnen auf dem Energiewendekongreß mit Ihnen und Ihren Kollegen von Ihrer Fraktion diskutiert. Wir werden alle prüfen müssen, welche Möglichkeiten da bestehen. Aber wir dürfen nicht auf eine Möglichkeit, die wir haben, verzichten. Wir müssen alle Chancen ausschöpfen, in der Forschung und in der Entwicklung. Wir müssen die besten Möglichkeiten schaffen, die sicher und umweltfreundlich und insgesamt verantwortbar sind. Dann haben wir allerdings die Chance, eine Zukunft aus Verantwortung, Sachkunde und aus einem großen Engagement aufzubauen. Dies ist die Arbeit, die wir gemeinsam zu leisten haben.
Das Wort hat nun Herr Dr. Daniels; er hat noch drei Minuten.
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Herr Minister, Sie haben sich soeben auf diesen Kongreß bezogen, auf dem wir uns mit Energiefragen intensiv beschäftigt haben. Wenn wir in die Zukunft schauen, dann sehen wir, es gibt ganz erhebliche Probleme; nehmen wir nur einmal das CO2-Problem. Daher sollten wir gemeinsam versuchen, zu einer Bestimmung dieser Probleme und auch zu einer gemeinsamen Lösung zu kommen, und da wäre es sinnvoll, nicht mit einer alten Technologie weiterzumachen, sondern etwas Neues anzufangen, also nicht auf Technologien zurückgreifen, bei denen sich — da sind wir uns doch heute schon einig — die Probleme im großen und ganzen wiederholen werden.
Wir werden bei der Kernfusion radioaktive Abfälle haben. Wir müssen dieses Atomkraftwerk abreißen und haben dann radioaktive Stoffe.
— Hören Sie sich das ruhig an, das ist so. — Und wir haben auch Probleme mit der Freisetzung von radioaktiven Stoffen.
Das kann doch nicht, wenn man von einem Konsens ausgehen will, eine Alternative für die Zukunft sein. Eine Alternative sollte darin bestehen, ein möglichst schadstoffarmes Energiesystem zu schaffen, mit dem wir die Menschheit nicht weiter belasten. Wenn man da ansetzen würde, ein solches System zu entwickeln
— und man kann heute abschätzen, daß es so etwas gibt; das ist die Sonnenenergie —,
dann wäre es möglich, endlich einmal im Konsens vorwärtszukommen und nicht in dieser Auseinandersetzung, die sich bei der Kernfusion jetzt praktisch schon wieder andeutet. Denn eines kann ich Ihnen sagen
— ich wohne in der Oberpfalz — : Das Angebot der Bundesregierung, in der Oberpfalz — nachdem Wackersdorf gescheitert ist — eventuell diesen ITER, diesen Experimentalreaktor, errichten zu wollen, wird zu einer ähnlichen Auseinandersetzung führen. Denn die Menschen in diesen Gebieten fern der Ballungsräume wollen es sich nicht gefallen lassen, daß diese Risikotechnologien immer dort angesiedelt werden. Da wird es dann auch dementsprechende Auseinandersetzungen geben.
Zu der anderen Frage, was wir mit den Wissenschaftlern machen, will ich eines sagen: Ich habe ein bißchen Kontakt mit Leuten, die sich mit Sonnenenergie beschäftigen, die diese Dinge weiterentwickeln. Es stellt sich heraus: Am Wochenende sind die Herren Wissenschaftler aus Garching mit großem Engagement und mit Freude dabei, diesen Leuten zu helfen, weil sie endlich einmal an einer sinnvollen Technologie mitarbeiten wollen. Denn sie müssen sich ewig damit herumquälen, daß dieses Ding in Garching nicht funktioniert. Im Grunde genommen ist der Drang der Wissenschaftler in diese Richtung also vorhanden. Man müßte nur grünes Licht geben, und dann würden die auch alle mitmachen.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zu den Entschließungsanträgen der Fraktion DIE GRÜNEN und der Fraktion der SPD auf den Drucksachen 11/6431 und 11/6448.
Es ist beantragt, die Entschließungsanträge zu überweisen, und zwar zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Forschung und Technologie und zur Mitberatung an den Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Sind Sie damit einverstanden? — Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Nun kommen wir zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/6185 zum Energieforschungsprogramm der Bundesregierung. Wer für diesen Antrag stimmt, den bitte ich ums Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN ist der Antrag mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen abgelehnt worden.
Nun kommen wir zur Abstimmung über Tagesordnungspunkt 12c, und zwar zuerst über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/6455. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist dieser Änderungsantrag mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen abgelehnt worden.
Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Forschung und Technologie auf Drucksache 11/6108. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/4179 abzulehnen. Wer für diese Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? —Dann ist diese Beschlußempfehlung mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen angenommen worden.
Nun rufe ich den Tagesordnungspunkt 14, den letzten auf unserer heutigen Tagesordnung, auf:
Erste Beratung des von der Abgeordneten Frau Saibold und der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetzes
— Drucksache 11/5651 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
Im Ältestenrat, meine Damen und Herren, ist für die Beratung ein Beitrag bis zu fünf Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. —
Ich sehe keinen Widerspruch dagegen. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abgeordnete Frau Saibold.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die rasante Entwicklung hin zur
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Frau Saibold
deutschen Einheit zieht ja in diesen Tagen und Wochen nahezu die gesamte Aufmerksamkeit von Presse und Öffentlichkeit auf sich. Ich meine aber, daß die Gentechnik ein Bereich ist, der größeres Interesse verdient. Es geht hier um eine Entscheidung für eine weitere Risikotechnik, die nicht rückgängig gemacht werden kann, weder durch eine Revolution noch durch eine Volksabstimmung oder gar einen Regierungsbeschluß.
Unabhängig von den Auseinandersetzungen um das von der Industrie diktierte Gentechnikgesetz haben die GRÜNEN einen Gesetzentwurf eingebracht, nach dem gentechnische Verfahren im Nahrungsmittelbereich verboten werden sollen. Ich beschränke mich daher heute nur auf diesen Bereich.
Der Komplex Gentechnik und Lebensmittel ist ein besonders sensibler Bereich. Verbraucher und Verbraucherinnen befürchten, daß mit der Anwendung gentechnischer Verfahren im Nahrungsbereich auch der letzte Rest von Natürlichkeit verlorengeht. Sie befürchten zu Recht, daß still und leise über ihre Köpfe hinweg eine Technik Einzug hält, die sie nicht wollen, die relativ schleichend traditionelle und bewährte Verfahren in der Lebensmittelproduktion verdrängen und die ihnen insgesamt erhebliche Nachteile bringen wird.
Zum einen ist es die chemische Industrie, die die Gentechnik forciert. Nachdem Chemie im Essen in Verruf geraten ist, propagiert sie die neuen Möglichkeiten der Bio- und Gentechnik. „Bio" ist in und soll es selbst dann sein, wenn es aus der Retorte stammt. Zum anderen ist es die Ernährungsindustrie, die sich durch die Anwendung der Gentechnik die Erschließung neuer Märkte und insbesondere verringerte Produktionskosten verspricht. „Schneller, größer und mehr" lautet auch hier die Devise.
Höhere Erträge in der Landwirtschaft z. B. durch den Einsatz des Rinderwachstumshormons BST, geringere Lagerkosten durch schnellere Reifung bei Käse, Bier und Sekt, höhere Stoffausbeute durch sogenannte gentechnische Optimierung von biotechnischen Prozessen bis hin zum Einzellerprotein aus dem sogenannten Bioreaktor machen die Gentechnik für die Anwender attraktiv. Eiweiß aus dem Labor und Orangenfleisch oder Kakaobutter aus der Produktionsanlage machen da die Landwirtschaft überflüssig. Es ist daher nur zu verständlich, daß sich an der Anwendung der Gentechnik im Nahrungsmittelbereich fundamentale Ängste der Verbraucherschaft kristallisieren. Ich nenne als Beispiel die Anti-BST-Kampagne, die von einer breiten Basis von ökologischen Verbrauchergruppen, Umweltverbänden und der Agraropposition getragen wird und die die schwerwiegenden Bedenken gegen diese Art von Hochtechnologie in der Landwirtschaft und in der Ernährungsindustrie bündelt.
Erfreulicherweise hat auch der Verbraucherausschuß beim Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten in seinem Beschluß vom 26. Oktober festgestellt, daß für die Herstellung und Verarbeitung von Lebensmitteln nur solche Verfahren benutzt werden dürfen, die zur Versorgung mit gesundheitlich unbedenklichen Lebensmitteln geeignet sind.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Carstensen?
Aber gerne.
Frau Kollegin, ist Ihnen bekannt, daß sich gegen das BST auch der Deutsche Bauernverband ausgesprochen hat und es nicht nur die Agraropposition ist
— ich sage auch gar nichts dagegen — , die sich, wenn auch aus anderen Gründen, dagegen ausgesprochen hat?
Das ist mir bekannt. Sie sehen, wie breit die Ablehnung ist.Bei der Gentechnik ist jedenfalls in keiner Weise gegeben, daß es sich um Verfahren handelt, die unbedenkliche Lebensmittel erbringen. Wer weiß denn heute schon, welche Auswirkungen der tägliche und langwierige Verzehr von Nahrung oder Nahrungsbestandteilen aus dem Genlabor auf den menschlichen Organismus und die Umwelt hat oder wie körpereigene Bakterien durch über die Nahrung aufgenommene gentechnisch manipulierte Bakterien verändert werden? Da die Ernährung neben der Atmung den innigsten Kontakt des Menschen mit der Umwelt darstellt,
kommt der Herstellung und der Qualität der Lebensmittel besondere Bedeutung zu.Wir GRÜNEN setzen uns seit jeher für Lebensmittel aus dem ökologischen Landbau ein, für möglichst geringe und schonende Verarbeitung, sowie für eine drastische Reduzierung des Zusatzstoffeinsatzes. In konsequenter Fortführung dieser Ziele fordern wir nun ein Verbot gentechnischer Verfahren im Nahrungsmittelbereich. Diese neuen Verfahren sind gerade in diesem Bereich vollkommen unnötig und auch unverantwortlich. Wirtschaftliche Interessen dürfen sich nicht unter Inkaufnahme zusätzlicher gesundheitlicher Risiken durchsetzen. Die Erfahrungen z. B. mit der Abtrennung der wertvollen Schichten des Getreidekorns und der ausschließlichen Verwendung des Mehlkörpers, deren negative gesundheitlichen Auswirkungen jahrelang nicht erkannt, dann Jahrzehnte bestritten wurden und heute nur mehr teilweise rückgängig zu machen sind, sollten uns zu größter Vorsicht veranlassen. Deshalb muß dieser unkalkulierbaren Technik zumindest im Lebensmittelbereich schon bald ein Riegel vorgeschoben werden, bevor die laufende Forschung im industriellen Maßstab umgesetzt wird.Ich danke.
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Das Wort hat die Abgeordnete Frau Limbach.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Anwendung gentechnischer Verfahren bei der Erzeugung und Verarbeitung von Lebensmitteln generell zu verbieten kommt mir ein bißchen vor wie aus Angst vor der eigenen Courage erst gar nicht auf die Straße zu gehen.
Sicherlich gibt es die Notwendigkeit, die Verbraucherinnen und Verbraucher — das sind bei Lebensmitteln wir alle — vor gesundheitlichen Gefahren zu schützen. Es ist sicherlich auch richtig, daß man auf Risiken, die neue Techniken bergen, hinweist, damit mit der gebotenen Vorsicht gehandelt wird. Aber das kann nicht dazu führen, daß man von vornherein apodiktisch sagt: Das darf auf gar keinen Fall sein. Denn ich denke, das führt dazu, daß neue Techniken und neue Entwicklungen überhaupt nicht mehr stattfinden können und dürfen. Insofern hat das durchaus einen Bezug zu dem Tagesordnungspunkt, den wir vorhin diskutiert haben. Ich denke, daß die GRÜNEN wie so oft bei der berechtigten Sorge um gesunde Lebensmittel und bei der berechtigten Verantwortung für Risiken, die es geben mag, wieder einmal überziehen und sagen: Deshalb gleich alles weg.
— Ich will das gerne beantworten. Das dauert dann doch länger als die zwei Minuten, die ich mir vorgenommen hatte. Sie sagen in Ihrer Begründung beispielsweise selbst, daß solche Verfahren Produktionskosten senken und die Ausnutzung optimieren könnten. Das ist bei Ihnen sofort negativ und schlecht. Ich muß sagen: Es kann, wenn es gesundheitlich unbedenklich ist, sogar sehr vorteilhaft sein, wenn Kosten gesenkt werden und wenn das Produkt besser ausgenutzt werden kann. Sie dürfen nicht nur von der Versorgungslage bei uns ausgehen, sondern es gibt leider durchaus auch Länder, wo die Versorgungslage ganz anders, nämlich sehr schlecht ist.
Ganz abgesehen davon, daß nach dem § 12 des hier in Rede stehenden Gesetzes unter das Verbot der Zusatzstoffe auch solche Dinge fallen und aufgenommen werden können, ganz abgesehen davon, daß es schon einen Richtlinienentwurf der EG gibt, daß es dort auch einen Verordnungsentwurf für die Beschränkung und auch für Verbote gibt, führt mich das alles dazu, zu sagen: Gesundheitlicher Verbraucherschutz in diesem Punkte ja, aber nicht weit über das Ziel hinausschießen, sondern unter Risikoabschätzung und -abwägung das, was sinnvoll ist, später auch zulassen, und das, was nicht sinnvoll ist, verhindern, aber nicht von vornherein generell sagen: Das darf überhaupt nicht sein.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Götte.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist spät; ich mache es kurz. Die SPD teilt die Sorgen derer, die vor der Anwendung gentechnischer Verfahren im Nahrungsmittelbereich warnen. Darüber waren wir uns auch im Ausschuß einig. So haben wir z. B. im Rahmen der Auseinandersetzungen mit dem Bericht der EnqueteKommission Chancen und Risiken der Gentechnologie beantragt, den Einsatz von gentechnisch hergestellten Rinderwachstumshormonen nicht zuzulassen.
Gleichzeitig hat die SPD im Gesundheitsausschuß über die Empfehlung der Kommission hinaus beantragt, daß zur Sicherung einer gesunden Ernährung in der EG und in der Bundesrepublik Nahrungsmittel, die lebensfähige gentechnisch veränderte Organismen enthalten — das ist z. B. im Joghurt möglich — nicht hergestellt oder in den Verkehr gebracht werden dürfen und daß solche Nahrungsmittel, die abgetötete gentechnisch manipulierte Lebewesen enthalten, bis zum sicheren Nachweis ihrer Unbedenklichkeit nicht in den Verkehr gebracht werden dürfen.
— Wir haben aber solche Überprüfungen, z. B. im Arzneimittelbereich, ständig. Auch dort gibt es eine Risikoabschätzung. Zumindest das muß vorhanden sein.
Drittens — das halte ich für ganz wichtig — haben wir darauf bestanden, daß die jetzt auf dem Markt befindlichen gentechnisch produzierten Lebensmittel gekennzeichnet werden müssen, daß dort also erkennbar sein muß, daß dieses Lebensmittel gentechnisch hergestellt ist. Das gilt selbstverständlich auch für Importwaren.
Die GRÜNEN wollen nun Nägel mit Köpfen machen und durch Änderung des Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetzes jede Verwendung von gentechnisch veränderten Zutaten im Lebensmittel verbieten, beispielsweise auch die Verwendung des Fleisches von Tieren, denen gentechnisch erzeugte Arzneimittel zugeführt worden sind. So einleuchtend eine solche Radikallösung auf den ersten Blick ist, so meine ich doch, daß wir uns im Ausschuß dazu noch den Rat von Sachverständigen einholen müßten. Keine Angst! Ich will hier nicht schon wieder eine neue Anhörung fordern. Man kann sich solchen sachverständigen Rat auch auf andere Weise beschaffen. Aber ich glaube, daß wir noch eine Menge Fragen zu klären haben. Das sollten wir im Ausschuß tun und dann möglicherweise über Änderungen zu Ihrem Antrag diskutieren.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Würfel.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich durfte hier schon dreimal nach Mitternacht reden. Deshalb bin ich außerordentlich erfreut, daß es jetzt erst 21.26 Uhr ist.
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15238 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 197. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1990
Frau WürfelIch denke, wir sollten das einmal für das Protokoll festhalten,
wann wir uns hier abends noch mit welchen Themen befassen.Liebe Kolleginnen von den GRÜNEN, Sie können sich sicher vorstellen, daß ich nicht unbedingt Ihre Ansichten, die Sie in diesem Änderungsantrag äußern, teile, mit Ihnen übereinstimme. Für mich ist keineswegs ersichtlich, daß die Anwendung gentechnischer Verfahren im Nahrungsmittelbereich negative Auswirkungen in gesundheitlicher und ernährungsphysiologischer Hinsicht erwarten ließe.Für mich steht sicher wie auch für Sie außer Frage, daß auch für gentechnische Verfahren dieselben Bewertungskriterien herangezogen werden müssen, die sich bisher als zuverlässig für die Gewährleistung von Qualität und Sicherheit von Produkten erwiesen haben.
Ein genereller Verzicht auf die Anwendung gentechnischer Verfahren bzw. gentechnisch veränderter Mikroorganismen im Lebensmittel- und Bedarfsgegenständesektor erscheint mir aus mehreren Gründen nicht geboten.Erstens. Bei einem Verbot würden heute noch nicht übersehbare Chancen zur Versorgung der Weltbevölkerung mit ausreichenden Mengen qualitativ hochwertiger Lebensmittel nicht genutzt werden können.Zweitens. Es bestehen Aussichten, daß durch neue technische Verfahren bei der Aufarbeitung bzw. Verwertung von Rohstoffen mit Enzymen oder Mikroorganismen wesentlich geringere Abfallbelastungen und auch Abwasserbelastungen als bei den bisher üblichen Verfahren anfallen werden.Drittens. Ein genereller Verzicht würde auch den Absichten der Europäischen Gemeinschaft entgegenstehen, die diesen Anwendungsbereich in dem besonderen Programm FLAIR — Food Linked Agro-Industrial Research — bis 1993 unterstützt.Ich gestehe Ihnen, meine Damen von den GRÜNEN— Herren sind ja nicht mehr anwesend — , einerseits durchaus zu, daß Sie für verschiedene Bereiche des menschlichen Daseins eine ganz besondere Sensibilität entwickelt haben. Andererseits werden Sie aber— ich möchte es einmal salopp sagen — von erstaunlich vielen Ängsten geplagt, die für mich nicht nachvollziehbar sind.Ich glaube, Sie wissen ebenso gut wie ich, daß es bis heute weltweit keine besonderen Probleme mit gentechnischen Verfahren oder mit gentechnisch hergestellten Produkten gibt. Solange dies so ist, besteht auch kein Anlaß, ein Verbot gentechnischer Verfahren im Lebensmittelbereich vorzusehen.
Meine Damen und Herren, dann fasse ich mich auch kurz: Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/5651 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung, meine Damen und Herren.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 16. Februar 1990, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.