Gesamtes Protokol
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf: Fragestunde
— Drucksache 11/5429 —
Wir kommen zunächst zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau. Die Frage 1 des Abgeordneten Stiegler soll auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Da keine weiteren Fragen zu diesem Geschäftsbereich vorliegen, ist dessen Behandlung abgeschlossen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen auf. Die Fragen 2 des Abgeordneten Hinsken und 3 des Abgeordneten Gansel werden auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Die Behandlung dieses Geschäftsbereichs ist damit ebenfalls abgeschlossen, weil keine weiteren Fragen vorliegen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten auf. Zur Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär Dr. von Geldern zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 4 des Abgeordneten Eigen auf:
Kann die Bundesregierung Meldungen bestätigen, wonach die USA durch Dumping-Exporte von Getreide und Mehl die Europäische Gemeinschaft von traditionellen Märkten verdrängt, um die Europäische Gemeinschaft für die GATT-Verhandlungen gefügig zu machen, und welche Strategien werden von ihr dagegen entwickelt?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Eigen, ich muß leider die von Ihnen angesprochenen Meldungen bestätigen und will Ihnen gerne den Sachverhalt und auch die Strategien erläutern.Ihre Frage zielt auf das von der amerikanischen Regierung 1985 geschaffene Exportförderungsprogramm für Agrarprodukte. Danach werden bis 1990 durch Bereitstellung von Haushaltsmitteln in Höhe von mindestens 2,5 Milliarden US-Dollar für fünfJahre die Exporte bestimmter US-Agrarprodukte in Form eines Warenbonus aus staatlichen Lagerbeständen verbilligt. Es handelt sich dabei um Getreide, Getreideerzeugnisse, Geflügel, Fleisch, Eier, Pflanzenöl und Milchvieh.Bisher wurden im Rahmen des Exportförderungsprogramms amerikanische Agrarexporte im Wert von rund 8,5 Milliarden Dollar mit einem Subventionswert von rund 2,6 Milliarden Dollar getätigt. An erster Stelle stand Weizen mit über 60 Millionen t, gefolgt von 6,5 Millionen t Gerste und 3 Millionen t Mehl.Empfänger sind vorwiegend solche Länder Nordafrikas und des Nahen und Mittleren Ostens, in denen die EG und die USA um Marktanteile konkurrieren. Der Bonus beträgt derzeit bei Weizen 9 bis 13 Dollar je Tonne; in der Vergangenheit erreichte er Werte von 40 Dollar je Tonne. Bei Weizenmehl wurden zuletzt rund 60 Dollar je Tonne genannt. Im Ende September abgelaufenen Finanzjahr 1989 haben die USA mit Hilfe dieses Exportförderungsprogramms rund 71 % ihrer Weizenexporte und 11 % ihrer Weizenmehlausfuhren getätigt.Im Vergleich dazu exportiert die Europäische Gemeinschaft gegenwärtig Weizen mit Exporterstattungen in Höhe zwischen 99,69 und 109,19 DM je Tonne. Die wichtigsten Mehlsorten erhalten derzeit Erstattungen von 142,42 bis 154,28 DM je Tonne zuzüglich einer Sonderexporterstattung für künftige Ausfuhren nach Ägypten.Zu berücksichtigen ist, daß die Marktpreise für Weizen in der Gemeinschaft zur Zeit etwa beim Interventionsankaufspreis liegen, der für Brotweizen 388,36 DM je Tonne beträgt. Die Weltmarktpreise für Weizen bewegen sich augenblicklich je nach Qualität zwischen 162 und 165 Dollar je Tonne.Erklärtes Ziel des amerikanischen Exportförderungsprogramms ist, die US-Agrarexporte zu steigern und insbesondere auch an die EG verlorengegangene Märkte zurückzuerobern sowie die EG an den Verhandlungstisch zu zwingen. Das Exportförderungsprogramm wurde geschaffen, weil die USA keine den EG-Erstattungen vergleichbaren Exportsubventionen hatten, wenn man absieht von den übrigen Exportförderungsmaßnahmen, die allerdings im großen Stil durchgeführt werden, wie Nahrungsmittelhilfe, Exportkredite und Exportpromotion.
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12770 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. Oktober 1989
Parl. Staatssekretär Dr. von GeldernDie von den USA in das Exportförderungsprogramm gesetzten Erwartungen haben sich allerdings nur teilweise erfüllt. Zwar wurden die US-Agrarexporte durch das Exportförderungsprogramm gesteigert, manche Exporte der USA kamen aber nur mit Hilfe des Bonus zustande, so z. B. seit 1987 die Weizenlieferungen an die Sowjetunion im Rahmen des bilateralen Getreidehandelsabkommens.Die gemeinsame Agrarpolitik wurde durch das amerikanische Exportförderungsprogramm aber nicht beeinflußt. Die Reform der gemeinsamen Agrarpolitik wurde unabhängig von diesem Programm und auch schon vor seiner Schaffung eingeleitet. Insbesondere beabsichtigt die Europäische Gemeinschaft nicht, wegen des Drucks durch das amerikanische Exportförderungsprogramm ihre Exporterstattungen auf zugeben, die einen unverzichtbaren Bestand der gemeinsamen Agrarpolitik darstellen.Gerade auch das flexible Instrument der Erstattungen erlaubte es der EG am besten von allen Ländern, mit dem amerikanischen Exportförderungsprogramm fertig zu werden. Die EG hat besonnen auf das amerikanische Programm reagiert, aber ihre Erstattungen, soweit erforderlich, erhöht und damit trotz zeitweiser Verluste bei Weizen und Weizenmehl ihre Marktanteile insgesamt behauptet.Allerdings — dies habe ich eingangs mit meinem Bedauern zum Ausdruck gebracht — ist dadurch der Subventionswettlauf insgesamt weiter angeheizt worden, zum Schaden vor allem anderer Agrarexportländer, insbesondere von Entwicklungsländern.Die Exportsubventionspolitik ist deshalb ein wichtiger Verhandlungspunkt im Rahmen der UruguayRunde. Wie die Verhandlungen ausgehen werden, ist zur Zeit noch offen.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ich habe eine Zusatzfrage. Bei den ganzen GATT-Verhandlungen, bei den letzten in Montreal, hätte dieses Verhalten der USA doch stärker nicht nur eingebracht werden müssen, sondern auch in der Öffentlichkeit stärker dargestellt werden müssen. Die USA wollen doch die Uruguay-Runde, die nach Montreal jetzt in Genf fortgesetzt wird, dazu benutzen, den Welthandel liberaler zu gestalten. Sie selbst aber haben ein Exportförderungsprogramm, das nichts anderes als der Versuch ist, mit Dumping eigene Märkte im Weltmarkt zu erobern.
Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Eigen, ich stimme Ihnen zu, daß dies ein wichtiger Punkt in der Uruguay-Runde ist — es ist dort natürlich entsprechend zur Sprache gekommen — und daß auch die öffentliche Darstellung sinnvoll sein kann, um die Verhandlungspartner dafür zu gewinnen, daß sie für die Zukunft Lösungen finden, die auf solche Instrumente weitgehend verzichten.
Zweite Frage. Präsidentin Dr. Süssmuth: Bitte.
Herr Staatssekretär, hat die Kommission die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika davon in Kenntnis gesetzt, daß die europäischen Landwirte ein solches Verhalten der USA als unfreundlichen Akt gegenüber der EG empfinden?
Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Ich bin sicher, daß in den Verhandlungen im Rahmen der GATT-Runde der Standpunkt der Kommission immer so zu verstehen war und so auch ausdrücklich begründet worden ist, daß er ein Standpunkt im Interesse der in Europa tätigen Landwirte ist.
Wir kommen nun zu Frage 5 des Abgeordneten Eigen:
Wie steht die Bundesregierung zu dem problematischen Vorgang, daß die Kommission der Europäischen Gemeinschaften die Getreideernte 1989 auf 160,5 Mio. t schätzt, um die Marktordnungspreise 1990 um 3 % senken zu können, obwohl man die Fehlerquote bei jeder Statistik kennt — 2 % bis 5 % — , so daß für den Bauern als Getreideerzeuger das Ganze als politische Manipulation und Provokation erscheinen muß?
Herr Staatssekretär, Sie haben erneut das Wort.
Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Eigen, wir hatten ja auch schon gestern dieses Thema in der Regierungsbefragung. Ich kann mich deswegen auf die wesentlichen Punkte der Kritik beschränken.
Wir bedauern, daß die Entscheidung der EG-Kommission zu einem verfrühten Zeitpunkt gefällt worden ist, zumal sie als eine endgültige Ernteschätzung ausgegeben wird, noch vor Ablauf z. B. der Maisernte. Wir kritisieren diese Entscheidung auch angesichts der von Ihnen genannten Fehlerquote und glauben insbesondere, daß es politisch kritikwürdig ist, daß die EG-Kommission aus dem Paket der am 12. Februar 1988 getroffenen Entscheidungen die eine, nämlich die Stabilisatorenentscheidung, in dieser Weise jetzt exekutiert hat, ohne daß sie dem Auftrag der Regierungschefs in vielen anderen Teilen der Beschlüsse vom Februar 1988 in der Zwischenzeit entsprechend nachgekommen wäre.
Zusatzfrage.
Ich habe die Frage aufrechterhalten, obgleich sie schon gestern teilweise beantwortet worden ist, damit ich nachfragen kann. Mich würde nämlich sehr interessieren, ob die Bundesregierung daran denkt, möglicherweise durch Wegfall oder durch Übernahme der Mitverantwortungsabgabe für die Landwirte eine Kompensation für diesen bedauerlichen Umstand der politischen Fehlleistung der Kommission der Europäischen Gemeinschaft zu schaffen.
Herr Staatssekretär.Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Eigen, die kritikwürdige Entscheidung der Europäischen Kommission, die auch während der Agrarministerratstagung gestern und vorgestern in Luxemburg von deutscher Seite, aber nicht nur von deutscher Seite, entsprechend kritisiert worden ist, ist vom Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten als eine Belastung der Preisrunde bezeichnet worden. Im Rahmen der Preisrunde wird auch die Frage anzusprechen sein, von der Sie jetzt gerade gesprochen haben.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. Oktober 1989 12771
Eine zweite Zusatzfrage.
Könnte man möglicherweise bei den Preisverhandlungen auch die Frage der Ankaufshöhe bei dem Marktordnungsprodukt Getreide ins Spiel bringen, die heute nur 94 % beträgt? Wenn man sie auf 100 % festsetzen würde, würde man damit eine Möglichkeit der Kompensation schaffen.
Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Eigen, ich möchte auch diese Ansatzmöglichkeit nicht ausschließen.
Frau Abgeordnete Weyel.
Herr Staatssekretär, denkt die Bundesregierung daran, im Rahmen der in Brüssel vereinbarten vorübergehenden Einkommensbeihilfen für Betriebe, die im Zuge der Anpassung von Agrarmärkten in Schwierigkeiten kommen, dort irgendwelche konkreten Möglichkeiten anzumahnen, um insbesondere bei den Betrieben, die durch diese Preisentwicklung in Schwierigkeiten geraten, Ausgleichsmaßnahmen zu ermöglichen?
Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Weyel, ich möchte den Ansatz, den Sie nennen, nicht als grundsätzlich falsch bezeichnen; allerdings haben wir bezüglich der Ausgestaltung dieses Förderinstrumentes durch die Europäische Gemeinschaft einige schwerwiegende Bedenken. Es würde wahrscheinlich zu weit führen, diese jetzt im einzelnen darzustellen.
Damit ist auch dieser Geschäftsbereich abgeschlossen. Vielen Dank, Herr Staatssekretär.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr. Zur Beantwortung ist der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Schulte anwesend.
Ich rufe die Frage 6 des Abgeordneten Niegel auf :
Welche Kundenwerbe- und Marketingmaßnahmen hat die Transfracht für den Container-Bahnhof Kulmbach infolge der Empfehlung der Dornier-Studie in den letzten Monaten ergriffen?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, Voraussetzung für die Realisierung der in der Dornier-Studie enthaltenen Empfehlungen ist eine deutliche Verbesserung des Leistungsstandards. Hierfür notwendige Maßnahmen wurden von Transfracht bereits vollzogen bzw. eingeleitet.
Ab dem jüngsten Fahrplanwechsel wurde den Verbesserungsvorschlägen der im Raum Kulmbach ansässigen Kunden mit der Vorverlegung der Bereitstellungszeit und der Verlängerung der Ladeschlußzeit um jeweils eine Stunde inhaltlich voll entsprochen.
Zum April 1990 wird eine Zugpaarverbindung von Kulmbach nach den norddeutschen Seehäfen und dem Raum Hannover eingerichtet. Dieser Zug wird täglich in Richtung und Gegenrichtung verkehren. Die Ladeschluß- und Bereitstellungszeiten werden hierdurch nochmals verbessert. Bei entsprechendem Mengenaufkommen wird zu einem späteren Zeitpunkt eine Zugverbindung von Kulmbach zum RheinRuhr-Gebiet und zurück eingerichtet.
Die in der Dornier-Studie aufgezeigten Mengenpotentiale wurden von Transfracht zum Anlaß genommen, ihre Akquisition im Raum Kulmbach zu intensivieren. Bisher wurden mit acht Firmen Gespräche geführt. Konkrete Ergebnisse haben sich hieraus noch nicht ergeben. Eine Firma ist allerdings bereit, die Zusammenarbeit mit Transfracht wieder aufzunehmen. Transfracht geht davon aus, daß ein wesentlicher Teil des sich auf 45 000 Tonnen belaufenden Jahrespotentials gewinnbar ist, dessen Höhe im einzelnen zur Zeit jedoch noch nicht beziffert werden kann. Bei drei weiteren Firmen zeichnen sich gute Chancen ab, zumindest Teilmengen auf Containertransporte umzustellen.
Im Oktober laufen Verhandlungen mit zwei weiteren Firmen.
Herr Abgeordneter Niegel, bitte.
Herr Staatssekretär, entspricht das, was Sie mit der Akquisition durch Transfracht gemeint haben, den Empfehlungen der Dornier-Studie, so daß damit verstärkt Marketingmaßnahmen bei den potentiellen Abnehmern der Fracht durchgeführt worden sind?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Ich muß davon ausgehen; die Bemühungen dauern allerdings noch an. Umgekehrt müssen wir sagen, daß die Bemühungen früher offensichtlich nicht ausreichend waren.
Noch eine Zusatzfrage.
Wie beurteilen Sie jetzt meine Aktion, daß ich das im Bundestag zur Sprache bringe? Wird das die Möglichkeit schaffen, daß die Transfracht viel stärker an die Abnehmer herangeht?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Ich bin für alle Aktivitäten dankbar, die den kombinierten Verkehr fördern. Durch Ihre Frage ist es auch möglich, daß in anderen Regionen z. B. Industrie- und Handelskammern, regionale Verbände, Kommunen selber sich dieser Dornier-Studie und ihrer Möglichkeiten bedienen.
Der Herr Abgeordnete Stiegler bittet um schriftliche Beantwortung seiner Frage 7. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Damit sind wir auch am Ende dieses Geschäftsbereichs. Vielen Dank, Herr Staatssekretär.
Zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit bitten die beiden Fragesteller, die Abgeordneten Dr. Daniels , Frage 8, und Frau Dr. Segall, Frage 9, um schriftliche Beantwortung. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
12772 Deutscher Bundestag — l 1. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. Oktober 1989
Präsidentin Dr. Süssmuth
Dasselbe gilt für den Geschäftsbereich des Bundesministers für Forschung und Technologie. Die Abgeordnete Frau Ganseforth, der Abgeordnete Zander und der Abgeordnete Dr. Daniels — es handelt sich um die Fragen 10, 11, 12 und 13 — wünschen die schriftliche Beantwortung der Fragen. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe jetzt den Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern auf. Zur Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär Herr Spranger zur Verfügung.
Herr Jäger ist nicht im Saal; ich sehe ihn nicht. Die Fragen 22 und 23 bleiben damit unbeantwortet.
Wir kommen zur Frage 24. Der Abgeordnete Wüppesahl wünscht die schriftliche Beantwortung. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Trotzdem vielen Dank, Herr Spranger.
Ich komme nun zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung. Zur Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär Seehofer zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 25 der Abgeordneten Frau Steinhauer auf:
Hat die Bundesregierung nach wie vor eine negative Einstellung zur Ratifizierung des „Übereinkommens 158 über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber" in Verbindung mit der Empfehlung 166 der Internationalen Arbeitsorganisation, und wenn ja, warum?
Frau Kollegin, die Bundesregierung steht der Arbeit der Internationalen Arbeitsorganisation, IAO, sehr positiv gegenüber. Sie ist deshalb immer bemüht, die Ratifizierung der Übereinkommen der IAO im Rahmen des Möglichen zu befürworten. So gehört die Bundesrepublik Deutschland auch zur Gruppe der Mitgliedstaaten der IAO, die die meisten Abkommen ratifiziert haben.
Bei dem Übereinkommen 158 über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber sieht die Bundesregierung jedoch nach wie vor ernsthafte Schwierigkeiten, die sie daran hindern, die Ratifizierung dieses Übereinkommens vorzuschlagen. Diese Gründe sind im einzelnen in der Stellungnahme der Bundesregierung zu diesem Übereinkommen — Bundestagsdrucksache 11/1622 — sowie in der Ausschußdrucksache 1005 des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung aufgeführt. An der Rechtslage hat sich seither nichts geändert.
Trotz dieser Differenz ist unser Arbeitsrecht und insbesondere das Kündigungsschutzrecht eines der fortschrittlichsten. Es erfüllt weitgehend die Anforderungen dieses Übereinkommens.
In einigen Punkten gibt es aber auch Abweichungen. So greift insbesondere das Kündigungsschutzgesetz erst nach sechsmonatigem Bestand eines Arbeitsverhältnisses und erfaßt nicht die Arbeitnehmer in Kleinstbetrieben mit in der Regel weniger als sechs Arbeitnehmern.
Auch sind nach geltendem Recht einige Tatbestände, z. B. die Einleitung von Verfahren und Anzeigen des Arbeitnehmers gegen den Arbeitgeber, Familienpflichten, Mutterschaft, Erziehungsurlaub, als
Kündigungsgrund nicht so absolut ausgeschlossen, wie es Art. 5 des Übereinkommens vorsieht.
Entgegen Art. 7 des Übereinkommens ist das Anhörungsrecht des Arbeitnehmers vor einer personenbedingten Kündigung gesetzlich nicht geregelt.
Unstimmigkeiten bestehen ferner bei den in Art. 13 des Übereinkommens vorgesehenen Rechten der Arbeitnehmervertreter. Sie werden durch das Betriebsverfassungsgesetz nicht voll abgedeckt, beispielsweise bei der Entlassung leitender Angestellter.
Nach Auffassung der Bundesregierung ist daher eine Ratifizierung dieses Übereinkommens ohne Anderungen unseres Arbeitsrechts nicht möglich. Insbesondere die Erstreckung des Kündigungsschutzgesetzes auf Arbeitnehmer in Kleinstbetrieben und generell auf alle Arbeitnehmer vom ersten Tag ihrer Beschäftigung an würde das Einstellungsverhalten der Arbeitgeber sehr negativ beeinflussen und damit gegenwärtig nicht vertretbare beschäftigungshemmende Wirkungen haben, die den Bemühungen der Bundesregierung um den Abbau solcher Hemmnisse und eine angemessene Flexibilisierung des Arbeitslebens zuwiderlaufen.
Danke. — Frau Steinhauer.
Herr Staatssekretär, ich habe festgestellt, daß in Ihrer Antwort ein ziemlicher Widerspruch besteht, da Sie nämlich zuerst von unseren „positiven Bestimmungen" reden und dann anschließend selber aufzeigen, welche negativen arbeitsrechtlichen Kündigungsschutzbestimmungen wir haben, und entnehme Ihrer Antwort insbesondere, daß Sie nicht die Absicht haben, das Arbeitsrecht dem internationalen Standard in diesen Punkten entsprechend positiv anzupassen. Ich habe eine Frage — nachdem Sie für die Bundesregierung geantwortet haben — : Ist z. B. auch das Familienministerium der Auffassung, daß Familienpflichten einer Arbeitnehmerin nicht ausreichen sollen, Arbeitgeberkündigungen aus betrieblichen Gründen zu widersprechen?Seehofer, Parl. Staatssekretär: Die von mir vorgetragene Auskunft deckt die Meinung der gesamten Bundesregierung ab.
Ich darf Ihnen zu den Familienpflichten ergänzend noch die Rechtslage vortragen. Auch nach deutschem Recht rechtfertigen zwar Familienpflichten als solche nicht die Kündigung von Arbeitsverhältnissen, die den Vorschriften des Kündigungsschutzes unterliegen, die also mindestens sechs Monate in einem Betrieb mit mindestens sechs Arbeitnehmern ausschließlich der Auszubildenden bestanden haben. Familienpflichten können aber in der Bundesrepublik Deutschland ausnahmsweise eine Arbeitgeberkündigung aus betrieblichen Gründen rechtfertigen, wenn die Erfüllung von Familienpflichten die Erfüllung der übernommenen Arbeitspflichten in einem Maße unmöglich macht, daß sie eine sinnvolle Eingliederung des Arbeitnehmers in den betrieblichen Arbeitsablauf ausschließt. Das Übereinkommen 158, das von mir zi-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. Oktober 1989 12773
Parl. Staatssekretär Seehofertiert wurde, schließt dagegen Familienpflichten als Kündigungsgrund schlechthin aus.
Weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist die negative Einstellung zur Ratifikation des Übereinkommens insbesondere auch darauf zurückzuführen, daß das sogenannte Beschäftigungsförderungsgesetz, das die uneingeschränkt befristete Einstellung von Arbeitnehmern erlaubt, hier ein Hemmnis war?
Seehofer, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, die von Ihnen so genannte negative Einstellung hat zu sehr positiven Wirkungen auf dem deutschen Arbeitsmarkt durch die Politik der Bundesregierung geführt, die darauf ausgerichtet war und ist, die Rahmenbedingungen für Wachstum und Beschäftigung nachhaltig zu verbessern.
Wir haben, wie Sie wissen, noch nie so viele Erwerbstätige in der Bundesrepublik Deutschland gehabt wie zur Zeit, nämlich exakt 27,7 Millionen. Ich sehe im übrigen keinen Zusammenhang mit dem von Ihnen erwähnten Beschäftigungsförderungsgesetz und der Ratifikation des Abkommens 158.
Herr Abgeordneter Peter.
Herr Staatssekretär, trifft es zu, daß Industriestaaten mit ähnlichen arbeitsrechtlichen Traditionen das Abkommen, das hier in Rede steht, ratifiziert haben?
Seehofer, Parl. Staatssekretär: Frau Präsidentin, wenn Sie erlauben, würde ich gerne die Staaten vorlesen, die bisher das IAO-Übereinkommen 158 ratifiziert haben: Kamerun, Zypern, Gabun, Malawi, Niger, Spanien, Schweden, Venezuela, Jugoslawien, Zaire, Frankreich und Jemen. Ich füge hinzu, Herr Kollege Peter: Die Qualität einer Sozialpolitik beurteilt sich nicht nach der Zahl der Ratifizierungen, sondern nach der tatsächlichen innerstaatlichen Sozialpolitik.
Frau Abgeordnete Dr. Hartenstein.
Herr Staatssekretär, in Ausnahmefällen kann einer Frau auch während der Schwangerschaft gekündigt werden: § 9 des Mutterschutzgesetzes. Ich frage Sie: Wird die Bundesregierung eine Gesetzesänderung vorschlagen, um wenigstens dieses Ratifizierungshemmnis auszuräumen? Oder ist sie vielleicht der Auffassung, daß es zu viele Fälle gibt? Wessen Interessen vertritt die Bundesregierung hier vorrangig?
Seehofer, Parl. Staatssekretär: Wir vertreten hier sehr wohl auch die Interessen der Arbeitnehmer, insbesondere auch der Frau, die sich im Mutterschaftsurlaub befindet bzw. unter dem Schutz des Mutterschutzgesetzes steht. Ich verweise darauf, daß hier grundsätzlich während der Schwangerschaft und bis zum Ablauf von vier Monaten nach der Entbindung eine Kündigung unmöglich ist. Die Kündigungsmöglichkeit ist auf gesetzlich ganz klar umschriebene Ausnahmefälle beschränkt. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen gerne zu allen Fällen, beginnend bei der Familienpflicht, dem Erziehungsurlaub, dem Mutterschaftsurlaub, den rechtlichen Text exakt vorlesen, weil er in jedem einzelnen Fall sehr differenziert gestaltet ist. Wenn Sie das wünschen, kann ich das gerne tun.
Ich würde um schriftliche Übermittlung bitten.
Seehofer, Parl. Staatssekretär: Dann bekommen Sie zu diesem Komplex — Mutterschaft, Erziehungsurlaub, Familienpflicht — gerne die schriftliche Antwort.
Herr Abgeordneter Kirschner.
Herr Staatssekretär, ist nach den von Ihnen gemachten Ausführungen irgendwann — vielleicht können Sie den Zeitpunkt nennen — damit zu rechnen, daß die Bundesrepublik dieses Übereinkommen unterzeichnet? Was plant die Bundesregierung, damit sie es endlich unterzeichnen kann?
Seehofer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kirschner, ich dachte, dies sei mit meiner Hauptantwort sehr umfassend beantwortet.
Ich habe Ihnen die Unterschiede zwischen dem innerstaatlichen Recht und diesem Übereinkommen dargestellt, und ich habe Ihnen die Auffassung der Bundesregierung dargelegt, daß wir nicht daran danken, hier eine Angleichung vorzunehmen, weil es unserer generellen politischen Linie, nämlich zu flexibilisieren, die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu verbessern, zuwiderlaufen würde. Diese Politik war, wie Sie nicht bestreiten können, im Ergebnis sehr erfolgreich.
Herr Abgeordneter Heyenn.
Herr Staatssekretär, eine Verpflichtung des Arbeitgebers, eine Arbeitnehmerin oder einen Arbeitnehmer vor Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses anzuhören, kann doch keine unvertretbare Last sein. Beabsichtigt die Bundesregierung, dieses Ratifizierungshemmnis zu beseitigen, und wann, Herr Staatssekretär, ist die Bundesregierung endlich bereit, Folgerungen aus der Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zur Verlängerung des Beschäftigungsförderungsgesetzes zu ziehen, in der auch von dem Gutachter, den die Bundesregierung gestellt hat, ganz eindeutig ausgesagt wurde, daß nennenswerte Beschäftigungseffekte durch das Beschäftigungsförderungsgesetz nicht festgestellt werden konnten?
Herr Staatssekretär.
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12774 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. Oktober 1989
Seehofer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Heyenn, zum letzten Punkt: Sie wissen, daß das Beschäftigungsförderungsgesetz derzeit zur Beratung im federführenden Ausschuß liegt und daß Herr des Verfahrens deshalb das Parlament ist.Zur ersten Frage, ob es punktuell Ausnahmen gibt, die auch das Übereinkommen zulassen würde: Wir sind der Auffassung, daß wir bei den Abweichungen des innerstaatlichen Rechtes von diesem Übereinkommen eine Fülle von Ausnahmen treffen müßten, die durch die Ausnahmeregelung in dem Übereinkommen nicht mehr gedeckt wären.
Frau Abgeordnete Faße.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß die Rechtsgrundlage zum Abschluß von Zeitverträgen und damit auch die Möglichkeit der Kündigung in Luxemburg massiv eingeschränkt wurden? Beabsichtigt die Bundesrepublik, sich an diesem kleinen Land zu orientieren?
Seehofer, Parl. Staatssekretär: Sie verbinden die Frage des Beschäftigungsförderungsgesetzes und der Zeitverträge wieder mit diesem Übereinkommen. Ich darf die Antwort wiederholen, die ich dem Kollegen Heyenn gegeben habe: Das Beschäftigungsförderungsgesetz liegt derzeit zur Beratung im Parlament, und deshalb ist Herr dieses Verfahrens das Parlament, nicht die Bundesregierung.
Herr Abgeordneter Reuter.
Herr Staatssekretär, was spricht eigentlich gegen eine Vorschrift über schriftliche Kündigungen? Wäre das aus Sicht der Bundesregierung nicht ein Beitrag zu mehr Rechtssicherheit?
Seehofer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Reuter, man kann sich einige Dinge vorstellen, die man deutlicher machen könnte. Aber auch hier gilt, daß wir das nur im Wege der Ausnahmevorschrift des Übereinkommens machen könnten und daß wir dann eine so große Zahl von Ausnahmen einführen müßten, daß wir nicht mehr im Einklang mit dem Übereinkommen selber stehen würden. Deshalb können wir einzelnen Punkten, so sinnvoll sie bei der isolierten Betrachtung erscheinen mögen, nicht nähertreten.
Ich komme nun zur Frage 26 des Abgeordneten Kirschner:
Treffen Pressemitteilungen zu , wonach der Bundeskanzler den Entwurf der sogenannten Negativ-Liste für Arzneimittel deshalb gestoppt hat, weil dieser Entwurf des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung den Ausschluß zahlreicher Naturheilmittel von der Verordnung auf Kassenrezept vorsieht?
Herr Staatssekretär.
Seehofer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kirschner, Frau Präsidentin, wenn Sie einverstanden sind, darf ich die beiden Fragen 26 und 27 gemeinsam beantworten.
Es besteht Einverständnis. Dann rufe ich auch die Frage 27 auf:Wie wurde bei der Feststellung der Unwirtschaftlichkeit von Arzneimitteln bei der Erstellung des Entwurfs der sogenannten Negativ-Liste die zwingende Vorschrift des § 34 Abs. 2 a des Gesundheits-Reformgesetzes berücksichtigt, wonach der besonderen Wirkungsweise dieser Arzneimittel Rechnung zu tragen ist, und welche Sachverständigen waren bei der Ausarbeitung des Verordnungsentwurfs beteiligt?Seehofer, Parl. Staatssekretär: Der Bundeskanzler hat zum Entwurf der Verordnung über unwirtschaftliche Arzneimittel um zusätzliche Klärung von Fragen gebeten, die die Arzneimittel der besonderen Therapierichtungen betreffen. Dazu werden zur Zeit weitere Gespräche mit Vertretern dieser Therapierichtungen geführt.Das Bundeskabinett wird sich in Kürze mit den Ergebnissen dieser Gespräche befassen. Die Notwendigkeit der ergänzenden Gespräche hat sich daraus ergeben, daß im Bereich der besonderen Therapierichtungen eine ausgeprägte Meinungsvielfalt besteht.Dem Willen des Gesetzgebers, bei der Beurteilung von Arzneimitteln der besonderen Therapierichtungen der besonderen Wirkungsweise dieser Arzneimittel Rechnung zu tragen, wird wie folgt entsprochen:Erstens. Nach dem Verordnungsentwurf sollen Arzneimittel als unwirtschaftlich ausgeschlossen werden, deren Wirkungen wegen der Vielzahl der enthaltenen Wirkstoffe nicht mit ausreichender Sicherheit beurteilt werden können. Bei der Anzahl der Wirkstoffe unterscheidet der Verordnungsentwurf zwischen chemischen Arzneimitteln und Naturheilmitteln.Zweitens. Ferner sollen Arzneimittel als unwirtschaftlich ausgeschlossen werden, deren therapeutischer Nutzen nicht nachgewiesen ist. Nach dem Verordnungsentwurf sind dies Arzneimittel, die bestimmte, in der Anlage 2 des Entwurfs genannte Bestandteile enthalten. Betroffen sind ausschließlich Arzneimittel, die bereits vor Inkrafttreten des Arzneimittelgesetzes 1978 auf dem Markt waren. Bei den in der Verordnung genannten Wirkstoffen haben die Expertenkommissionen nach § 25 Abs. 7 des Arzneimittelgesetzes das wissenschaftliche Erkenntnismaterial dieser Stoffe aufbereitet und in sogenannten Monographien festgestellt, daß der therapeutische Nutzen nicht belegt ist.Für die Beurteilung von Arzneimitteln der besonderen Therapierichtungen, also bei homöopathischen, anthroposophischen und phytotherapeutischen Arzneimitteln, sind für die Aufbereitung des wissenschaftlichen Erkenntnismaterials beim Bundesgesundheitsamt jeweils getrennte Kommissionen gebildet worden. Diese Kommissionen sind mit Experten besetzt, die auf den jeweiligen Anwendungsgebieten, auf dem Gebiet der jeweiligen Stoffgruppe und in der jeweiligen Therapierichtung über wissenschaftliche Kenntnisse verfügen und praktische Erfahrungen gesammelt haben. Die in Anlage 2 des Verordnungsentwurfs genannten Wirkstoffe sind also von Vertretern der jeweiligen besonderen Therapierichtung selber bewertet worden. Damit ist sichergestellt, daß jedes Arzneimittel seiner Eigenart entsprechend sachgerecht beurteilt worden ist.Drittens. Den Herstellern von Naturheilmitteln soll ausreichend Zeit zur Anpassung an das neue Recht
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. Oktober 1989 12775
Parl. Staatssekretär Seehof ereingeräumt werden. Dieser Aspekt wird beim Inkrafttretenstermin berücksichtigt.Sie haben ferner danach gefragt, welche Verbände, Organisationen und Experten bei der Ausarbeitung dieses Verordnungsentwurfs beteiligt wurden. Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung hat ca. 40 Organisationen, Verbände und Sachverständige angehört. Ich kann sie Ihnen alle vorlesen. Ich kann Ihnen aber auch das Angebot machen, Ihnen diese Liste zur Verfügung zu stellen. Grob zusammengefaßt sind es die Arzneimittelkommission der Ärzte, das Bundesgesundheitsamt, die Kommissionen, die dort gebildet sind, verschiedene Hersteller, Einzelsachverständige, die Gesellschaft für Pharmakologie und Toxikologie. Sie alle und noch viele mehr wurden gehört. Ich leite Ihnen die vollständige Liste gerne zu, wenn Sie damit einverstanden sind.
Herr Abgeordneter Kirschner.
Herr Staatssekretär, ich danke für die lange Auskunft. Aber mich würde doch die Antwort auf meine Frage interessieren, ob die Pressemitteilung im „Express" vom 14. Oktober 1989 zutrifft, wonach der Bundeskanzler diese Verordnung gestoppt hat. Darauf bitte ich um eine Antwort.
Herr Staatssekretär.
Seehofer, Parl. Staatssekretär: Sie wissen auf der einen Seite durch die Entscheidungen im Zusammenhang mit dem Gesundheitsreformgesetz, daß die Bundesregierung den besonderen Therapierichtungen einen hohen Stellenwert beimißt
und daß dieser hohe Stellenwert auch im Gesetz berücksichtigt wurde.
Sie wissen zweitens, daß dieser Bereich der besonderen Therapierichtungen mit großer Aufmerksamkeit und hoher Sensibilität in der Bevölkerung diskutiert wird.
Der Bundeskanzler hat diese Diskussion aufgenommen, weil hier eine große Meinungsvielfalt besteht, und den Bundesarbeitsminister gebeten, weitere Gespräche mit den Vertretern dieser Therapierichtungen zu führen.
Wir tun dies und werden über das Ergebnis dem Kabinett berichten.
Die zweite Zusatzfrage.
Also, Herr Staatssekretär, heißt das im Klartext, daß der Bundeskanzler diese auf den Weg gebrachte Verordnung des Bundesarbeitsministers gestoppt hat? Ich bitte um eine Beantwortung mit Ja oder Nein.
Seehofer, Parl. Staatssekretär: Wir haben dies einvernehmlich so festgelegt, daß wir auf Grund der Sensibilität und Komplexität dieses Themas und der öffentlichen Diskussion, die dazu stattfindet und, wie
Sie wissen, in vielen Briefen ihren Niederschlag findet, noch einmal in Gespräche eintreten, um Irritationen, Sachargumente und unterschiedliche Meinungen aufzuarbeiten. Der Entwurf der Verordnung ist nach sorgfältiger fachlicher Vorbereitung dem Kabinett vorgelegt worden.
Dritte Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, trifft es zu, daß nach diesem Entwurf Arzneimittel mit mehr als sechs Wirkstoffen als unwirtschaftlich gelten?
Seehofer, Parl. Staatssekretär: Dies ist der Grundsatz, den der Entwurf formuliert. Es gibt aber eine zweite Bestimmung in diesem Entwurf, daß Arzneimittel in dem Sektor, den Sie genannt haben, die zugelassen sind oder die in dem Verfahren nach Art. 3 § 7 Abs. 3 nachträglich zugelassen werden, nicht unter die Ausgrenzung fallen.
Vierte Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, welche wissenschaftlichen Untersuchungen liegen Ihnen bis heute vor — ich gehe von dem Entwurf der Verordnung aus — , die belegen, daß Naturheilmittel mit bis zu sechs Wirkstoffen wirtschaftlicher sind als Naturheilmittel, die mehr als sechs Wirkstoffe haben, denn darauf basiert letzten Endes Ihr Entwurf, daß solche Arzneimittel von der Verordnung ausgeschlossen werden.
Herr Staatssekretär.Seehofer, Parl. Staatssekretär: Frau Präsidentin, wenn Sie erlauben, möchte ich zu diesem Komplex „Warum kommt die Bundesregierung zu der Beurteilung, daß Arzneimittel mit mehreren Wirkstoffen, in diesem Falle sechs, im Sinne des Krankenversicherungsrechts als unwirtschaftlich gelten" zwei Zitate vorlesen. Man muß das vorlesen, weil das sehr fachlich gehalten ist.In der „Homöopathischen Arzneimittellehre" von Fellenberg-Ziegler heißt es:Das Zusammenmischen zweier oder gar mehrerer Arzneistoffe ist unbedingt verwerflich und stets als eine Verletzung des Wesens der Homöopathie zu betrachten, und zwar deshalb, weil jeder Arzneistoff seine ihm allein eigentümlichen, von jedem anderen abweichende Wirkungen hat und nur einfache und unvermischte Arzneistoffe an Gesunden geprüft und in ihren wahren Wirkungen bekannt sind.Künstlich zusammengesetzte und vermischte Arzneistoffe seien zu Heilzwecken nach homöopathischem Grundsatz „ganz unbrauchbar", da in ihren Wirkungen unbekannt. Sogenannte Komplexmittel, in denen 20 und mehr Mittel gemischt seien, gefährdeten das Ansehen der Homöopathie. So Fellenberg-Ziegler.Ich könnte eine ganze Reihe weiterer Zitate vorlesen.Ich wiederhole meine Ausführungen, daß hier eine sehr breite Meinungsvielfalt besteht. Aus diesem Grunde hat es der Bundeskanzler im Einvernehmen
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12776 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. Oktober 1989
Parl. Staatssekretär Seehof ermit dem Bundesarbeitsminister als sachgerecht angesehen, daß wir noch einmal in Gespräche eintreten.
Herr Abgeordneter Heyenn.
Herr Staatssekretär, Sie haben dem Bundestag mitgeteilt, daß der Bundesarbeitsminister die Verordnung sehr sorgfältig erarbeitet habe und daß dennoch der Bundeskanzler mit diesen Hausaufgaben des Bundesarbeitsministers nicht zufrieden war und ihn um Nachbesserung gebeten habe. Wie konkret war der Auftrag des Bundeskanzlers? Welche Punkte umfaßte er? Es kann doch wohl nicht sein, wie Sie bisher mitgeteilt haben, daß der Bundeskanzler den Bundesarbeitsminister lediglich gebeten hat, noch ein paar — ich füge hinzu: vielleicht beruhigende — Gespräche zu führen.
Seehofer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die Verordnung ist in der Tat sehr sorgfältig vorbereitet worden. Aus der Tatsache, daß darüber eine Diskussion entstanden ist, können Sie nicht auf die Qualität der Verordnung schließen. Es gibt in diesem Parlament laufend sehr sorgfältig vorbereitete Gesetzgebungsverfahren, die gleichwohl in der Öffentlichkeit sehr stark diskutiert werden.
Das Bundeskabinett in seiner Gesamtheit hat den Bundesarbeitsminister mit diesen Gesprächen beauftragt. Es wäre ja vermessen, vor Abschluß dieser Gespräche das Ergebnis vorwegzunehmen. Wir werden diese Gespräche führen, sie auswerten und dem Kabinett über das Ergebnis berichten. Ein anderer Auftrag besteht nicht.
Herr Abgeordneter Huonker.
Herr Staatssekretär, nachdem Sie uns nach drei Fragen schließlich mitgeteilt haben, daß der Arbeitsminister dem Kabinett — nach Art. 80 des Grundgesetzes und der Geschäftsordnung der Bundesregierung — einen Verordnungsentwurf vorgelegt hat, frage ich Sie: Welche höhere Sachkenntnis und welche Grundlage hat der Bundeskanzler gehabt, wenn er, wie die Presse sagt — von Ihnen unwidersprochen — , den Verordnungsentwurf gestoppt und Minister Blüm zur Überarbeitung zurückgeschickt hat?
Herr Staatssekretär.
Seehofer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Huonker, die Bewertung „gestoppt" ist Ihre Bewertung oder die Bewertung dieses Presseartikels. Ich teile sie nicht, weil diese Verordnung einvernehmlich mit dem Bundesarbeitsminister in diese Gesprächsphase überführt wurde. Ich sagte auch den Grund: wegen der Meinungsvielfalt in diesem Bereich, auch wegen mancher Irritationen in der öffentlichen Diskussion. Wir haben in manchen Gesprächen, die wir bereits geführt haben, festgestellt, daß Aufklärungsbedarf besteht.
— Nein! Ich sage noch einmal: Wir sind aus der Sicht des Bundesarbeitsministeriums mit dieser Verordnung an das Bundeskabinett herangetreten, nachdem wir sie mit mehr als 40 Verbänden, Organisationen und Sachverständigen sehr sorgfältig vorbereitet haben.
Frau Abgeordnete Dr. Hartenstein.
Herr Staatssekretär, Sie haben uns zwei Zitate von Naturheilkundlern vorgetragen, die nicht unbedingt repräsentativ sein müssen. Ich frage Sie: Ist dem Bundesarbeitsminister bewußt, daß eine überwiegende Mehrzahl von Naturheilkundlern die Auffassung vertritt, daß die besondere Wirkungskraft der Naturheilmittel gerade auf der wohldosierten, von der Natur so vorgesehenen Zusammensetzung der Mittel aus zahlreichen Wirkstoffen beruht, und wie wurde dieser Gesichtspunkt bei der Erstellung der Negativ-Liste bewertet?
Seehofer, Parl. Staatssekretär: Wir messen den besonderen Therapierichtungen nicht nur einen hohen Stellenwert zu, sondern wir wissen auch um die besondere Wirkungsweise dieser Therapierichtungen. Ich sagte Ihnen, daß dies im Verordnungsentwurf dadurch berücksichtigt worden ist, daß die Zahl der Wirkstoffe, die für die Definition „Unwirtschaftlichkeit" maßgebend ist, bei den besonderen Therapierichtungen doppelt so hoch liegt wie bei der Schulmedizin, bei den chemischen Arzneimitteln. Außerdem haben wir bei den besonderen Therapierichtungen verhältnismäßig lange Übergangsfristen vorgesehen, um dieser besonderen Wirkungsweise gerecht zu werden.
Zum ersten Teil Ihrer Frage: Ich habe selbst gesagt, daß auf diesem Gebiet eine besonders große Meinungsvielfalt besteht
und daß diese Gespräche aus diesem Grunde geführt werden. Aber das ist eine Erfahrung, die wir in der gesamten Debatte über die Gesundheitspolitik gerade des letzten Jahres gemacht haben: daß über beinahe alle Komplexe sehr, sehr unterschiedliche Meinungen, auch in Expertenkreisen, gebildet werden.
Herr Abgeordneter Zander.
Herr Staatssekretär, ist es innerhalb der Bundesregierung eher die Ausnahme oder eher die Regel, daß der Bundeskanzler in die Verordnungstätigkeit eines Ressorts eingreift?Seehofer, Parl. Staatssekretär: Ich verfüge jetzt nicht über statistisches Material. Aber es ist mit Sicherheit nicht der erste Fall, daß eine politisch nicht ganz einfache Lösung und ein nicht ganz einfacher Sachverhalt im Kabinett besprochen werden. Ich
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Parl. Staatssekretär Seehof erglaube, wir sind es den betroffenen Bürgern auch schuldig, daß wir ein schwieriges Thema sorgfältig und vertieft miteinander diskutieren und das dann, wenn Irritationen auftreten, nicht gewissermaßen trotz dieser Irritationen verabschieden, sondern versuchen, hier Überzeugungsarbeit zu leisten und Argumente auszutauschen.
Herr Abgeordneter Peter.
Herr Staatssekretär, habe ich Sie richtig verstanden, daß es das Ziel der Gespräche sein soll, die Irritationen des Bundeskanzlers auszuräumen? Oder geht es um die Irritationen des Arbeitsministers?
Seehofer, Parl. Staatssekretär: Es gibt weder da noch dort Irritationen. Ich habe Ihnen jetzt mehrmals über den Zweck der Gespräche berichtet. Wenn neue Argumente auftauchen, werden wir die natürlich werten und werden dem Kabinett darüber berichten. Wir sind nicht irritiert.
Die zweite Zusatzfrage von Frau Dr. Hartenstein.
Danke schön, Frau Präsidentin. — Herr Staatssekretär, würden Sie mir zugeben, daß die Zahl 6 bei Wirkstoffen in Naturheilmitteln mehr oder weniger willkürlich gegriffen ist, daß es also keinerlei wissenschaftliche Belege dafür gibt, daß Naturheilmittel mit weniger als 6 Wirkstoffen wirtschaftlicher sein sollen als solche mit mehr als 6 Wirkstoffen?
Herr Staatssekretär.
Seehofer, Parl. Staatssekretär: Ich habe Ihnen ein Zitat vorgelesen. Wenn Sie wollen, lese ich Ihnen mehrere vor, z. B. aus dem Gutachten der Gesellschaft für Pharmakologie und Toxikologie, das allerdings
— das räume ich ein — in erster Linie von Vertretern der Schulmedizin geprägt ist.
— Aber es gibt eine ganze Reihe von Wissenschaftlern und Fachleuten, die — wie ich Ihnen vorgelesen habe — sagen: Das erstrebenswerte Ziel wären eigentlich ein, zwei, maximal drei Wirkstoffe. Es war dann gewissermaßen der Ausdruck des Bekenntnisses zu den besonderen Therapierichtungen, daß wir die Zahl der Wirkstoffe im Verhältnis zu den chemischen Arzneimitteln verdoppelt haben. Aber ich bestätige noch einmal, daß gerade diese Zahl 6 sehr umstritten ist und daß wir auch deshalb diese Gespräche führen.
Bitte, Graf WaldburgZeil.
Herr Staatssekretär, finden Sie es nicht ausgesprochen erfreulich, daß bei dem hohen Grad an Vertrauen, das Naturheilmittel bei der Bevölkerung genießen, und bei dem Diskussionsstand gerade im Hinblick auf die Frage, welche Wirkstoffe in Naturheilmitteln enthalten sind, noch einmal ein gewisser Zeitrahmen gegeben ist, in dem man überdenken kann, ob es nur 6 sein können, ob es nicht möglicherweise doch mehr sein können und welche Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Nachzulassung bestehen?
Seehofer, Parl. Staatssekretär: Bei der Bedeutung, die diese Therapierichtungen für die Bevölkerung haben, wollen wir keinesfalls den Eindruck erwecken, wir würden die Argumente nicht ernst nehmen. Wir wollen gegenüber den Bürgern dokumentieren, daß wir die Argumente sehr wohl in unseren Entscheidungsprozeß einbeziehen.
Bitte, Frau Abgeordnete Steinhauer.
Herr Staatssekretär, Sie haben in Ihren Antworten die Qualität der Verordnung des Arbeitsministeriums verschiedentlich als hochwertig dargestellt. Heißt das, daß Sie die Einwände qualitativ nicht so hoch bewerten, so daß Sie, wie in der vorletzten Antwort zum Ausdruck gebracht, keine Veranlassung sehen, etwas zu ändern? Denn Sie haben gesagt: Wir gehen ins Kabinett. Sie haben nicht gesagt: Wir wollen die Verordnung ändern. Können Sie mir denn einmal sagen, welche Einwände gegen Ihre Verordnung erhoben wurden?
Herr Staatssekretär.
Seehofer, Parl. Staatssekretär: Erstens. Die Verordnung geht insgesamt von einem Nettoeinsparvolumen von 200 Millionen aus. Wir reden jetzt über einen Bereich von 20 Millionen.
Zweitens. Wir sind in dieser Frage völlig offen. Gespräche hätten ja keinen Sinn, wenn man sie mit der Feststellung beginnen würde: Wir versichern euch von vornherein, daß wir nichts verändern. Insgesamt hätten Gespräche dann keinen Sinn, wenn man an ihrem Beginn das Ergebnis vorwegnehmen würde. Deshalb entspricht es logischerweise dem natürlichen Verlauf, daß wir Gespräche führen, sie auswerten und über das Ergebnis berichten. Die Folge kann dann die Beibehaltung des vorgelegten Entwurfs sein; die Folge könnte aber auch sein, daß der Verordnungsentwurf in diesem besonders umstrittenen Punkt oder auch in anderen Punkten verändert wird.
Ich bitte um Verständnis, wenn ich diesen Punkt nach der nächsten Frage von Herrn Huonker abschließe, weil wir sonst, da wir noch sechs Fragen haben, bis 14 Uhr nicht durchkommen. Bitte sehr.
Herr Staatssekretär, stimmen Sie mir zu, daß nach der Geschäftsordnung der Bundesregierung der zuständige Ressortminister die Gespräche mit den Verbänden zu führen hat, ehe er die Entscheidung trifft, eine Vorlage mit einem bestimmten Inhalt dem Bundeskabinett zuzuleiten? Wenn Sie mir zustimmen, frage ich Sie, ob das in diesem Falle so war, der Bundesarbeitsminister dann entschieden hatte, eine Verordnung dieses Inhalts vorzulegen, und dann auf Grund von Meinungsverschiedenheiten mit dem Bundeskanzler die Sache gestoppt worden ist. Das ist ein
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HuonkerTeil der Tatsachenaufklärung, die wir betreiben müssen, ehe wir inhaltlich miteinander reden können.
Herr Staatssekretär.
Seehofer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, es handelt sich hier um eine Ministerverordnung, die der Minister im Grunde direkt über das Kanzleramt dem Bundesrat zuleiten könnte. Es wäre nicht zwingend, daß sich das Bundeskabinett damit beschäftigt. Ich sagte Ihnen aber, daß es sich hier um einen sehr bedeutsamen, komplexen und sensiblen Bereich handelt. Mit der Kabinettsbefassung bringen wir zum Ausdruck, welche Bedeutung wir diesen besonderen Therapierichtungen beimessen.
Ich rufe die Frage 28 des Abgeordneten Huonker auf:
Wie viele der insgesamt auf dem Arzneimittelmarkt erhältlichen Arzneimittel der besonderen Therapierichtungen können nach geltendem Recht auf Kassenrezept verordnet werden, und wie viele davon würden nach dem Verordnungsentwurf der sogenannten Negativ-Liste vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Dr. Blüm, von der Erstattungsfähigkeit ausgeschlossen, wenn dieser Entwurf geltendes Recht würde?
Seehofer, Parl. Staatssekretär: Hier geht es im Grunde, Herr Kollege, um den gleichen Sachverhalt, den wir eben sehr ausführlich besprochen haben.
Wie die Bundesregierung bereits in ihrem Bericht zu Auswirkungen des Prozesses von Aufbereitung und Nachzulassung für Arzneimittel mit vorbeugenden Wirkungen und Phytotherapeutika vom 23. März 1989 in der Bundestagsdrucksache 11/4250 ausgeführt hat, sind beim Bundesgesundheitsamt insgesamt 126 000 fiktiv zugelassene Arzneimittel erfaßt. Davon enthalten 67 132 Arzneimittel pflanzliche Bestandteile, 21 312 homöopathische Stoffe, und 3 421 Arzneimittel sind der anthroposophischen Therapierichtung zuzuordnen. Dabei handelt es sich jedoch teilweise nicht um reine Naturheilmittel, weil in zahlreichen Kombinationsarzneimitteln auch chemische Substanzen oder zugleich homöopathische und phytotherapeutische Bestandteile enthalten sind. Dadurch kommen Überschneidungen zustande, auf die in dem genannten Erfahrungsbericht hingewiesen worden ist. Die genaue Zahl der Mittel, die nach geltendem Recht auf Kassenrezept verordnet werden können, ist nicht bekannt, weil es hierzu keine Erhebungen gibt. Es ist jedoch anzunehmen, daß in der Vergangenheit ein erheblicher Teil dieser Mittel nicht zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen verordnet, sondern als frei verkäufliche und nicht rezeptpflichtige Arzneimittel im Rahmen der Selbstmedikation bezogen worden ist. Bei etwa 28 000 dieser Mittel handelt es sich z. B. um Tees oder Teemischungen, die überwiegend auch in Drogerien beziehbar sind.
Es liegen aber statistische Erhebungen des Wissenschaftlichen Instituts der Ortskrankenkassen für die 2 000 am häufigsten verordneten Arzneimittel in der gesetzlichen Krankenversicherung vor. Auf diese 2 000 verordnungshäufigsten Mittel entfallen rund 90 % der Arzneimittelausgaben der Krankenkassen. Von diesen 2 000 Arzneimitteln sind durch die Verordnung nach § 34 SGB V mehr als 200 chemische Arzneimittel und ca. 35 Naturheilmittel betroffen. Die 35 Naturheilmittel sind etwa ein Viertel aller Naturheilmittel, die unter den 2 000 am häufigsten verordneten Arzneimitteln erfaßt sind. Von einem „Angriff" auf die Arzneimittel der besonderen Therapierichtungen kann auch aus diesem Grunde keine Rede sein.
Dem Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung ist bekannt, daß von einigen Verbänden abweichende Zahlen genannt werden. Diese Zahlen sind für uns jedoch nicht nachvollziehbar, weil es veröffentlichte statistische Erhebungen über die volle Zahl der in der gesetzlichen Krankenversicherung verordneten Naturheilmittel nicht gibt.
Im übrigen weise ich darauf hin, daß auch die im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung ermittelten Zahlen nur als grobe Anhaltspunkte angesehen werden können, weil sich die Daten auf dem Arzneimittelmarkt z. B. durch Zu- und Abgänge von Arzneimitteln oder durch Veränderungen von Arzneimitteln fortlaufend ändern.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter.
Der bisherige Verlauf der Fragestunde, Herr Staatssekretär, hat ergeben,
daß sich der Bundesarbeitsminister nach der Anhörung — die Frage kommt natürlich — der Verbände über deren Bedenken hinweggesetzt und einen Verordnungsentwurf dem Kabinett zugeleitet hat. Deswegen frage ich: Warum hat sich der Arbeitsminister über diese Bedenken hinweggesetzt, und welche Gewähr besteht, daß er jetzt nach der Intervention des Bundeskanzlers diesen Bedenken Rechnung trägt, wenn er den zweiten Anlauf zur Vorlage eines Verordnungsentwurfs unternimmt?
Seehofer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich bleibe bei meiner Ankündigung, daß ich den Gesprächsergebnissen und insbesondere den Bewertungen und Folgen daraus nicht vorgreife und deshalb jetzt auch keine Prognose abgeben möchte, ob die Verordnung überarbeitet wird und — wenn ja — mit welchem Inhalt.
Ich habe Ihnen hinsichtlich des Stellenwerts der Naturheilmittel oder der besonderen Therapierichtungen gerade vorgetragen, wie sich das Verhältnis zwischen chemischen Arzneimitteln und Naturheilmitteln bei den 2 000 am häufigsten verordneten Arzneimitteln darstellt. Ich habe Ihnen mehrmals vorgetragen, in welcher Weise in dem jetzt vorliegenden Verordnungsentwurf der besonderen Wirkungsweise der besonderen Therapierichtungen Rechnung getragen wurde: durch eine Erhöhung der Wirkstoffbestandteile, durch ein Hinausschieben des Termins des Inkrafttretens und durch die Regelung, daß Arzneimittel auf diesem Sektor, die bereits zugelassen sind oder nach Art. 3 § 7 Abs. 3 noch zugelassen werden, nicht von der Ausgrenzung erfaßt sind.
Herr Staatssekretär, hat der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung vor der Unterzeichnung des Verordnungsentwurfs die in der Geschäftsordnung der Bundesregierung vorgeschriebe-
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Huonkernen Gespräche mit den Verbänden zu diesem Thema geführt, und — wenn ja — ist er auf Bedenken hingewiesen worden, und aus welchen Gründen hat er sich dann, als er den Verordnungsentwurf auf den Weg gebracht hat, über diese Bedenken hinweggesetzt?Seehofer, Parl. Staatssekretär: Auch diese Frage glaubte ich schon beantwortet zu haben. Wir haben, wie es in der Geschäftsordnung vorgeschrieben ist, mit Experten, Verbänden, Organisationen, Herstellern und einzelnen Sachverständigen — das alles bekommen Sie ja jetzt schriftlich übermittelt — sehr, sehr intensive Gespräche geführt. Wir sind in der Bewertung dieser Gespräche, bei denen sowohl Zustimmung als auch Bedenken geäußert wurden, zu dem Ergebnis gekommen, daß der Verordnungsentwurf, wie Sie ihn kennen, auf einer fundierten fachlichen Grundlage steht.
Ich rufe die Frage 29 des Abgeordneten Huonker auf:
Rede von: Unbekanntinfo_outline
„Es ist der erklärte Wille des Deutschen Bundestages, daß jedes Arzneimittel eine seiner Eigenart entsprechende sachgerechte Beurteilung erfährt und dem Schutz der besonderen Heilweisen Rechnung getragen wird"?
Seehofer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, in seinem Beschluß vom 25. November 1988 hat der Deutsche Bundestag zum Ausdruck gebracht, daß es sein erklärter Wille sei, „daß jedes Arzneimittel eine seiner Eigenart entsprechende sachgerechte Beurteilung erfährt und dem Schutz der besonderen Heilweisen Rechnung getragen wird".
In der Antwort auf die Frage des Abgeordneten Kirschner habe ich dargelegt, daß die Arzneimittel der besonderen Therapierichtungen in dem Verordnungsentwurf nach § 34 Abs. 3 SGB V ihrer Eigenart entsprechend bewertet worden sind. Damit ist dem Bundestagsbeschluß eindeutig Rechnung getragen.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, können Sie sich vorstellen, daß — nachdem der Bundesarbeitsminister die Gespräche mit den Verbänden geführt hat, ehe er den Verordnungsentwurf vorgelegt hat, und Sie ausgeführt haben, diese Gespräche, in denen alles berücksichtigt worden sei, seien sehr intensiv gewesen — Zweifel an der Richtigkeit Ihrer Aussage im Hinblick auf die Zukunft bestehen, denn Sie sagten, die ersten Gespräche seien sehr intensiv gewesen und alle folgenden Gespräche würden noch intensiver sein, was zur Folge habe, daß der Verordnungsentwurf dem Thema Naturheilmittel mehr als heute Rechnung trage?
Seehofer, Parl. Staatssekretär: Ich kann Ihre Logik nicht nachvollziehen.
Die zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ich will jetzt nicht über die Logik reden. Schweigen ist auch eine Antwort. — Ich frage Sie ernsthaft: Wie viele der Naturheilmittel, die nach dem Entwurf, der vorgelegt worden ist, von der Verordnungsmöglichkeit ausgeschlossen gewesen wären, werden nach Ihrer Einschätzung nach dem künftigen Entwurf verordnungsfähig sein?
Seehofer, Parl. Staatssekretär: Man kann sich einem Ziel auf unterschiedliche Art und Weise nähern, aber Sie verfolgen immer die gleiche Absicht.
Ich nehme das Ergebnis der Gespräche nicht vorweg.
Ich beende hiermit die Fragestunde.
Die Beantwortung der übrigen Fragen müssen wir morgen fortsetzen.
Ich rufe Zusatzpunkt 1 der Tagesordnung auf: Aktuelle Stunde
Die Haltung der Bundesregierung zum Alpentransit — Nachtfahrverbot für LKW durch Österreich
Meine Damen und Herren, die Fraktion der SPD hat gemäß unserer Geschäftsordnung eine Aktuelle Stunde zu dem erwähnten Thema verlangt.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Herr Schäfer.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herrn! Jährlich wälzt sich eine Verkehrslawine von 1 Million Lkws im Transit durch Österreich. Aneinandergereiht ergäbe dies eine Lkw-Schlange von 15 000 km Länge. Diese Verkehrslawine über die Alpen führt zu unerträglichen gesundheitlichen Belastungen für die Menschen in den Alpen sowie zur Zerstörung des in Jahrhunderten gewachsenen Alpenschutzwaldes. Die Alpenregionen stehen kurz vor dem ökologischen Infarkt.Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung ist das Verhalten der Bundesregierung gegenüber Osterreich und der Schweiz skandalös. Es gehört schon eine Menge Unverfrorenheit dazu, die berechtigten Interessen der Österreicher in Frage zu stellen und mit der Drohgebärde des starken Goliaths den kleinen David in die Knie zwingen zu wollen. Der David Österreich hat in diesem ungleichen Kampf nur eine kleine Schleuder: das Nachtfahrverbot für Lkws.Österreich handelt mit dem geplanten Nachtfahrverbot in reiner Notwehr.
Ohne Rücksicht auf Österreich und die Schweiz hatman in Brüssel und in Bonn einer Liberalisierung desGüterfernverkehrs vor allem auf der Straße innerhalb
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Schäfer
der EG zugestimmt. Darüber, ob diese Liberalisierung im Alpentransit und darüber hinaus überhaupt ökologisch verkraftet werden kann, hat man offenbar nicht im geringsten nachgedacht.Umweltminister Töpfer, der bezeichnenderweise hier genauso fehlt wie der umweltpolitische Sprecher der CDU-Fraktion,
gefällt sich als Redner auf Alpenschutzkonferenzen, so erst in der vorletzten Woche. Aber wo war die Stimme des Umweltministers in Bonn? Wo war und ist die Stimme des Umweltministers in Brüssel?Der Alpentransit muß ökologisch verträglich bewältigt werden. Dazu genügt es nicht, sich darin einig zu sein, daß der Schwerlastverkehr im Alpentransit auf die Schiene muß. Man muß auch etwas dafür tun. Die notwendigen Investitionen in den Ausbau des Schienennetzes im Alpentransit sind, wie wir wissen, riesengroß. Sollen Österreich und die Schweiz diese nicht von ihnen verursachte Last allein tragen? Wo waren die Vorschläge der Bundesregierung in Brüssel, einen großen Teil der Finanzierung für die Investitionen in den Ausbau des Schienennetzes für den Alpentransit durch die EG zu übernehmen?Meine Damen und Herren, wo ist das klare Umstiegskonzept im Güterfernverkehr für die Bundesrepublik Deutschland?
Die Güterfernverkehrspolitik der Bundesregierung ist nicht vom Verlagern der Güter auf die Bahn gekennzeichnet. Die Investitionen für den Ausbau des Schienennetzes in der mittelfristigen Finanzplanung sinken, während die Mittel für den Fernstraßenbau eine Aufstockung erfahren.
Diese Bundesregierung setzt in der Güterfernverkehrspolitik — und nicht nur dort — die ökologisch falschen Signale: Beton statt ökologischer Vernunft. Dies ist das Markenzeichen der Verkehrspolitik.
Den Österreichern ist zu danken, daß sie das Problem des Transitverkehrs auf die Tagesordnung gesetzt haben. Die Schaffung von ausreichenden Kapazitäten im alpenquerenden Schienenverkehr ist zwingend erforderlich, um die Verkehrsbelastungen von der Straße auf die Schiene zu verlagern.Dementsprechend ist das vorhandene Konzept des Ausbaus der bestehenden Schienenstrecken am Brenner und am Gotthard und der Schaffung neuer Schienenkapazitäten zu unterstützen. Dies muß umgesetzt, und zwar forciert umgesetzt werden.Dazu bedarf es aber nicht nur schöner Worte, sondern auch einer kräftigen Mitfinanzierung der EG und der Bundesregierung. Die Bundesregierung wäre gut beraten — und wir fordern sie dazu auf, dies zu tun — , den sinnlosen Transitkrieg gegen Österreich erst gar nicht vom Zaun zu brechen, sondern endlich zu einer ökologischen Vernunft und zur Vernunft gut nachbarschaftlicher Beziehungen zurückzukehren.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hinsken.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Für die Lkw-Fahrer soll in Österreich bereits am 1. Dezember Knecht Ruprecht kommen. Bei uns, in Bayern, kommt er normalerweise erst am 5. bzw. 6. Dezember.Ich möchte gerade in dieser Aktuellen Stunde mein Unverständnis für Österreich zum Ausdruck bringen; denn erstens verstößt Österreich gegen das Udine-Abkommen, und zweitens ersetzen spektakuläre Schnellschüsse wie das Nachtfahrverbot nicht sinnvolle, umsetzbare Paketlösungen.Ist einerseits die populistische Entscheidung Österreichs in etwa noch nachvollziehbar, so ist andererseits das Verhalten des SPD-Chefs Vogel — den ich im übrigen, Herr Schäfer, heute vermisse — ein Affront sondergleichen. Da meint der SPD-Chef, er müsse aus dem Ausland den mittelständischen deutschen Unternehmen in den Rücken fallen.
Wenn stimmt, was die „Süddeutsche Zeitung" vom 23. Oktober 1989 schreibt, daß Vogel auf dem SPÖParteitag der Versammlung zugerufen habe, diese Entscheidung sei gut, richtig und notwendig,
und er deshalb den Österreichern geraten habe, sich durch keine Drohung beirren zu lassen und keinen Millimeter zurückzuweichen, dann ist das unverständlich. Ich meine, das ist geschmacklos, unseriös und nicht akzeptabel.
Es ist geradezu unglaublich: Um Beifall im Ausland zu erheischen, werden deutsche Interessen verkauft.
Wo ist Herr Vogel denn heute? Er hätte in dieser Aktuellen Stunde die Möglichkeit, das Wort zu nehmen. Nein, da kneift er, da geht er nach Österreich und rennt mit gegen die deutschen Interessen an.Ich meine, Österreich ist gezwungen, zumindest Kompromißbereitschaft zu zeigen; denn im bilateralen Verkehr mit Österreich haben die deutschen Unternehmer einen Marktanteil von nur 32 %. Es gibt Lösungen, die aber nicht von heute auf morgen umgesetzt werden können. Ich nenne z. B. den Ausbau des Eisenbahnnetzes im Interesse eines stärkeren Kombiverkehrs oder leisere Lastkraftwagen. Aber das ist nicht von heute auf morgen umsetzbar, um das noch einmal zu sagen.Möglich wäre auch, das Inkrafttreten des Nachtfahrverbotes aufzuschieben, denn — darauf möchte ich besonders hinweisen — die Folgen sind verheerend. Das Nachtfahrverbot führt täglich zu Warte-
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Hinskenschlangen von 2 bis 20 km Länge, d. h. zu Wartezeiten für die Fahrer von acht Stunden und mehr.
Das heißt erstens umweltschädlicher Verkehr durch Dauerstaus an den Grenzübergängen am Tage, zweitens soziale Probleme für die Brummifahrer: die Verpflegung, der sanitäre Bereich, die Kälte im Winter. Wo bleibt hier Ihre Humanität, die Sie immer einfordern?Schließlich bringt das Nachtfahrverbot einen volkswirtschaftlichen Schaden in einer Größenordnung von ca. 400 Millionen DM und auch unnötige Schwierigkeiten auf dem Weg zum EG-Binnenmarkt.Wir sind natürlich alle aufgefordert, Maßnahmen zu ergreifen, um Abhilfe zu schaffen, um den zum Teil berechtigten Interessen Österreichs Rechnung zu tragen. Das geht aber nur über einen vernünftigen Stufenplan; denn von heute auf morgen haben weder die Bahnen die erforderlichen Kapazitäten noch sind leise Lkw herbeizuzaubern.Die Bundesregierung hat bereits einige Maßnahmen auf den Weg gebracht. Minister Zimmermann hat seine Hausaufgaben ausgezeichnet gemacht und sich auf verschiedenen Ebenen eingeschaltet.
Sogar unser Bundeskanzler hat sich dieses Themas angenommen und sich mit dem EG-Präsidenten Delors in Verbindung gesetzt; denn das ist ja nicht in erster Linie ein bilaterales, sondern ein europäisches Problem.
Ich meine deshalb abschließend feststellen zu müssen: Sollte Österreich uneinsichtig und unnachgiebig bleiben, müssen Gegenmaßnahmen ergriffen werden; denn die einseitige Abschnürung der wichtigsten Transportadern Europas ist einfach nicht hinnehmbar.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Weiss.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit 1970, seit der Eröffnung der Brenner-Autobahn hat der alpenquerende Straßengüterverkehr in Österreich um das Sechsfache zugenommen, er hat sich versechsfacht. Es ist eigentlich verwunderlich, daß es angesichts dieser Entwicklung erst in diesem Jahr, 1989, zu Gegenreaktionen gekommen ist. Ich hätte sie viel früher erwartet.Der Grund für die angekündigten Gegenreaktionen liegt natürlich auch darin — das muß man ganz klar sehen — , daß die Tiroler Landtagswahl im März 1989 erdrutschartige Verluste für die ÖVP gebracht hat und daß die Regierenden in Österreich jetzt endlich begreifen, daß sie etwas zum Schutz der berechtigtenInteressen ihrer Bevölkerung tun müssen. Das hat sich nur leider nicht in der Bundesrepublik herumgesprochen, sonst könnte unser Bundesverkehrsminister nicht weiter auf die Österreicher schimpfen und nichts dazu beitragen, um die berechtigten Interessen der bundesdeutschen Bevölkerung, die sicher in ähnlichem Maße unter der Umweltbelastung und unter Lkw-Lärm leidet, wahrzunehmen und zu schützen.
Da aber hat die Bundesregierung offensichtlich ein blindes Auge;
denn es redet heute zwar jeder davon, daß alles getan werden muß, um Verkehr von der Straße auf die Schiene zu verlagern.
Aber leider wird nur geredet; es wird aber nichts getan. Im Gegenteil: Man eröffnet eine Alibidiskussion. In dieser Alibidiskussion geht es immer um Brenner-tunnel und Eisenbahntunnel. Dabei weiß doch jeder: Wenn man so ein Projekt realistisch angeht, ist es frühestens im Jahr 2010 fertig. Aber für den Bundesverkehrsminister ist es eine bequeme Diskussion; denn er kann über etwas diskutieren, was er erst im Jahr 2010 umsetzen muß. Er führt diese Diskussion, weil er dann heute nichts tun muß und weil er sagen kann: Wir verweisen auf den Brennertunnel, und die nächsten Jahre brauchen wir nichts zu tun.Aber es gibt tatsächlich Möglichkeiten, auch heute einiges zu tun. Dabei sind die Österreicher vorangegangen und haben erste Maßnahmen ergriffen. Die Österreicher waren im Grunde gar nicht die ersten. Es waren vorher die Schweizer, die begriffen haben, in welche Richtung es gehen muß: mit 28-t-Limit, mit Nachtfahrverbot, mit Schwerverkehrsabgabe und mit einer konsequenten Förderung des kombinierten Verkehrs auf der Schiene. Das alles geht schon heute. Dazu brauchen wir nicht irgend etwas, das erst in 20 Jahren verwirklicht werden kann.Deshalb ist die Bundesregierung aufgefordert, schon heute etwas zu tun. Es bringt doch überhaupt nichts, auf die Alpentransitländer weiter Druck auszuüben. Dies zeigt nur die Ignoranz gegenüber den Anwohnerinnen und Anwohnern an der Transitautobahn, die darin besteht, daß man überhaupt nicht wahrnehmen will, wie die Situation ist.
— Herr Staatssekretär, waren Sie schon einmal an der Brennerautobahn, waren Sie schon einmal im Wipp-Tal, und haben Sie dort auch nur eine Nacht in einer Pension übernachtet? Ich sage Ihnen eines: Sie werden kein Auge zutun, Sie werden nicht schlafen können.
Aber das ist Ihnen eigentlich egal. Ihnen geht es nurdarum, daß die Lkw frei fahren können. Sie müssen
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12782 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. Oktober 1989
Weiss
sich einmal vorstellen, worunter die Bevölkerung seit dem Jahr 1970 leidet, als die Brennerautobahn eröffnet worden ist. Sie aber versuchen, mit Ihren Zwischenrufen kleine Witzchen zu machen. Ich glaube, für die Bevölkerung in Österreich und insbesondere in Tirol ist die Situation sehr viel ernster. Es ist längst überfällig, daß Maßnahmen ergriffen werden. Mit solchen Zwischenrufen, wie Sie sie hier machen, werden Sie der Situation in keiner Weise gerecht. Sie gehen völlig an den Realitäten vorbei.
In der Tat gehört natürlich auch eine ganz massive Verkehrsverlagerung zu einem Verkehrskonzept. Es gehört ferner dazu, vor allem über Verkehrsvermeidung nachzudenken. Man muß sich eines einmal überlegen: Wenn die Wachstumsraten im alpenquerenden Straßengüterverkehr in den nächsten Jahren weiter so wie in den bisherigen Jahren steigen, wird auch ein Brennertunnel zu spät kommen. Im Jahr 2010 können Sie den Mehrverkehr, der sich in den nächsten 20 Jahren bei den jetzt prognostizierten Wachstumsraten unweigerlich entwickelt, vielleicht durch den Brennertunnel jagen. Aber Sie werden damit keine Entlastung der schon heute unzumutbaren Verhältnisse herbeiführen.Das steht eben dahinter: Sie wollen keine Verbesserung, Sie wollen keine Entlastung der Bevölkerung. Deswegen beschränken Sie sich in der Diskussion gerade auf den Brennertunnel. Das ist doch die tatsächliche Situation.
Aus diesem Grund habe ich kein Verständnis für die verbalen Drohungen, die der Bundesverkehrsminister bei jeder Gelegenheit gegenüber Österreich auszustoßen pflegt.Ich unterstütze voll die Maßnahmen, die Österreich nach dem 1. Dezember endlich ergreifen wird, auch wenn ich finde, daß sie reichlich behutsam sind und noch nicht die Einschränkungen bringen, die die Alpen zum Schutz des einmaligen Ökosystems eigentlich brauchten.
Das Wort hat der Abgeordnete Gries.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Österreich läßt grüßen, möchte ich jetzt nach den beiden Beiträgen der Opposition hier sagen. Aktuell finde ich an dieser Stunde allerdings nur die Erkenntnis, mit welcher Hektik die SPD — ich muß das eigentlich mit ein bißchen Bedauern sagen — versucht, unter dem Deckmantel des Umweltschutzes jetzt aus der Verkehrspolitik auszusteigen.
Am 20. Oktober haben Sie eine Kleine Anfrage gestellt, am 25. Oktober haben wir hier über dasselbe Thema diskutiert, und Ende November werden wir schon wieder über dasselbe Thema diskutieren. Ich weiß schon selbst nicht mehr, was ich noch sagen soll.
Deshalb greife ich das Schlagwort von der mangelnden Aktualität der Regierungspolitik nicht auf. Diese Regierung bemüht sich — ich will hier keine Dankadressen aussprechen, weil wir vom Erfolg noch weit entfernt sind — , ein europäisches Konzept zur Lösung dieser Probleme zu finden. Aber mit Sicherheit ist das aktuell, was der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion und der SPD, Herr Dr. Vogel, gesagt hat. Er hat auf dem österreichischen Sozialistenkongreß verkündet — ich finde es nicht besonders bemerkenswert, daß er dort Gast war, wohl aber daß er dort in solcher Weise über deutsche Politik redet, wie es Herr Hinsken schon zitiert hat — : Dieses Nachtfahrverbot ist gut, richtig und notwendig.
Das muß man sich auf der Zunge zergehen lassen. Es ist unerhört. Es ist nicht nur unfreundlich, sondern es ist falsch und europawidrig, und deshalb kann man das nicht einfach so hinnehmen.Ihre stellvertretende Vorsitzende Frau Däubler-Gmelin hat das auf dem Parteitag der SPD am Niederrhein ähnlich gesagt: Auch sie hat dieses österreichische Nachtfahrverbot unterstrichen und befürwortet. Ich verstehe nicht, weshalb die Sozialdemokraten, wenn sie sich im Ausland schon so äußern, nach der Rückkehr hier in der Bundesrepublik einen solchen konzeptionslosen Alleingang eines Landes so unterstützen. Ich halte das für falsch.
Das ist ein Rückfall in Kleinstaaterei, die wir eigentlich überwunden haben wollten,
denn es geht nicht an, daß Österreich sagt: Nachts sind unsere Grenzen zu. Was ist denn die Reaktion? Dann kommen die Bayern — um es einmal harmlos zu sagen — und sagen: Dann machen wir am Kleinen Deutschen Eck auch zu!
Meine Damen und Herren, ist das europäische Politik, ist das eine Verkehrspolitik aus Vernunft? Das ist nichts anderes als Ideologie auf der einen Seite und Emotion auf der anderen Seite. So kann man Verkehrspolitik in Europa meines Erachtens nun wirklich nicht machen.
Wir müssen in Europa über die Grenzen hinweg gemeinsame Anstrengungen unternehmen, um die Natur zu schützen, um die Umwelt zu schützen, um die Luft sauberzuhalten, Lärmbelästigungen von den Bürgern, und zwar von allen Bürgern in Europa, fernzuhalten. Wir sollten aber nicht durch solche einseitigen, im Grunde genommen kleinkarierten Maßnahmen versuchen, etwas zu erreichen. Wir Liberalen wollen jedenfalls europaweit etwas erreichen. Wer
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. Oktober 1989 12783
GriesEuropa will, der muß sich dann auch europäisch verhalten und nicht mit solchen Alleingängen jede vernünftige Konzeption vereiteln.Ich muß die Sozialdemokraten auch einmal fragen: Denken Sie in Ihrem eigenen Parteiverständnis nicht auch einmal über die Lage der Lkw-Fahrer nach,
die Sie zu stundenlangem Warten unter unwürdigen und inhumanen Verhältnissen an den Grenzen zwingen? Denken Sie nicht auch einmal an die Bürger, die am Tag dann eine größere Lärm- und Luftverschmutzung — möglicherweise für ein paar Stunden Nachtruhe — hinnehmen müssen?
Daran sollten Sie auch einmal denken, wenn Sie Ihre Position überprüfen.Bei den GRÜNEN nehme ich das nicht so ernst, aber bei Ihnen nehme ich es ernst, wenn Sie, auf dem falschen Bein stehend, hier hurra schreien.Ich sage Ihnen — darüber sind wir uns einig — , daß alle anderen Maßnahmen nicht kurzfristig greifen können: Die Bahn ist logistisch nicht in der Lage, die Kapazitäten anzubieten. Die technischen Voraussetzungen in den Tunnels und auch sonst — von den Maßen, Gewichten, Höhen usw. her — sind nicht gegeben, um kurzfristig zu vernünftigen Lösungen zu kommen. Das heißt, wir müssen planen, und das braucht Zeit. Deshalb muß man einfach zu der Erkenntnis kommen: Der Lkw ist im Transit, auch im Alpen-Transit, schlichtweg unverzichtbar, ob Ihnen das paßt oder nicht.
Sie können ihn ja wegwünschen, Sie können ihn aber nicht wegreden. Sie müssen handeln, aber was hier geschieht, ist nicht Handeln.Ich finde auch, daß es deutschen Parlamentariern nicht schlecht ansteht, sich einmal Gedanken darüber zu machen, was wir eigentlich unseren Bürgern zumuten.
Die Belastung durch Lärm und Luftverschmutzung am Autobahndreieck Stuttgart-Vaihingen ist achtmal größer als auf der Brenner-Autobahn. Wollen Sie die Konsequenz ziehen, dort jetzt auch Nachtfahrverbote einzurichten? Irgendwo muß es auch eine Logik in der Politik geben. Warum tun Sie das dann nicht? Das kann so im Grunde nicht gehen.Ich hoffe nicht, daß Sie schon so weit sind, meine Damen und Herren und liebe Kollegen von der SPD, zu sagen, daß man Frau Däubler-Gmelin so verstehen müßte, daß Sie im Grunde schon intern — wenn Sie die Autofahrer schon nicht durch höhere Benzinpreise von der Straße vertreiben können, außer vielleicht diejenigen, die den höheren Preis nicht mehr bezahlen können — insgeheim ein Nachtfahrverbot auch für deutsche Strecken einkalkuliert haben.
Ich darf noch ein letztes Wort sagen; ich bin dann etwas kürzer als Herr Weiss von den GRÜNEN. Ich bin auch nicht bereit, die Untätigkeit z. B. der EG hinzunehmen. Ich habe das hier schon einmal gesagt. Die EG hat lange geschlafen und ist untätig geblieben, vielleicht auch wir als deutsche Anschubgruppe in der EG; das soll man ruhig deutlich sagen. Ich finde, unsere Bundesbahn hat ebenfalls nicht genug Angebote gemacht und ist nicht aktiv genug geworden. Es geht hier doch nur in der Richtung, daß wir eine gemeinsame, vernünftige europäische Lösung finden. Dazu muß sich die Bundesregierung auch finanziell bereit erklären, und das auch kurzfristig, damit wir zu einem vernünftigen Ergebnis kommen.Deshalb möchte ich hier auch an die österreichische Regierung nochmals appellieren, von diesem einseitigen, kurzfristigen Schritt zum 1. Dezember abzusehen und dafür zu sorgen, daß es zu vernünftigen Übergangsregelungen und auch zu vernünftigen Ausnahmevorschriften kommt und daß es nicht so gemacht wird, wie es bisher programmiert ist. Mit dem Kopf gegen die Wand ist noch niemand klüger geworden.Vielen Dank.
Kürzer war es nicht. Das Wort hat der Bundesminister für Verkehr, Herr Zimmermann.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben die EG frühzeitig und permanent aufgefordert, sich der Probleme des Alpentransits anzunehmen, weil 80 des alpenquerenden Verkehrs EG-Verkehr ist. Aber viele Länder hat das nicht interessiert.Dann haben wir mit den betroffenen Ländern nicht nur geredet, sondern Vereinbarungen geschlossen, z. B. im Februar 1986 zwischen Deutschland, Italien, Österreich und der Schweiz in Zürich für einen Stufenplan „Zusätzliche Schieneninfrastruktur", im Juli 1986 in Rom über den mittelfristigen Ausbau des Brenner, wo wir — ich würde sagen — nurmehr ein paar Monate vor der Endentscheidung des Konsortiums sind. Es ist seither allerhand geschehen.Ich nenne ferner die Konferenz von Interlaken im Jahre 1988, bei der sich die Schweiz, Österreich, Italien und die Bundesrepublik Deutschland darüber einig waren, den Verkehrszuwachs durch die Schiene aufzunehmen.Wir haben zusammen mit Italien und Österreich die Arbeit für den neuen Brenner-Tunnel vorangetrieben. Es ist ein Projekt von 10 Milliarden DM.Italien, Deutschland und die Schweiz haben sich auch im Hinblick auf die Schweizer Alpentransversalen koordiniert.Im April 1989 — mein Vorgänger war noch im Amt — haben die beteiligten Länder und die EG-
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Bundesminister Dr. ZimmermannKommission in Udine in einem eigenen Memorandum ihre Strategie festgelegt. Der damalige und heutige österreichische Verkehrsminister war im April in Udine dabei und hat kein einziges Wort über die österreichischen Pläne zum 1. Dezember gesagt, die er wenige Wochen nacher aber veröffentlicht hat.
Der lärmarme Lkw, meine Damen und Herren, ist natürlich jahrelang nicht verlangt worden, weil er nicht verordnet wird. Jetzt wird er aber angeboten. Es gibt Werke, die schon 200 oder 300 Bestellungen haben. Er ist im nächsten Jahr in zeitlichen Abständen lieferbar. Deswegen meine ständige, auch an die EG, an den zuständigen Kommissar van Miert und an den Präsidenten des Verkehrsministerrates Delebarre, herangetragene Bitte und Forderung, zu einem Stufenplan mit Österreich zu kommen. Nur so etwas ist sinnvoll.Denn das Nachtfahrverbot drückt einen Verkehr zwischen 4 000 und 6 000 Lkw von 24 auf 17 Stunden zusammen.
Das ist der ganze Unterschied, sonst nichts. Die Umwelt hat überhaupt nichts davon. Das darf ich Ihnen hier sagen.
Zu den Vorwürfen, es sei nichts geschehen: Der Bau des Bahnhofs München—Riem ist zeitgleich mit dem Bau der Umfahrung Innsbruck begonnen worden. Er wurde durch eine Fülle von Einsprüchen blockiert, und zwar oft derjenigen, die uns heute in anderer Richtung Vorwürfe machen. Es sind immer die gleichen.
Ich nenne ferner den Ausbau des Rangierbahnhofs München—Nord mit Kosten von 225 Millionen DM. Das wird alles zu einer weiteren weitaus verbesserten Struktur auf diesen Strecken führen.Ich erwähne weiterhin die Strecke München—Rosenheim—Kiefersfelden mit Kosten von 40 bis 50 Millionen DM. Die Fertigstellung wird natürlich erst in ein paar Jahren erfolgen, weil bei der Bahn Investitionen — was ich bis jetzt genannt habe, ist allein schon 600 bis 700 Millionen DM wert — nicht von heute auf morgen getätigt werden können.Bei der Strecke München—Mühldorf—Freilassing ist die Wirtschaftlichkeitsuntersuchung positiv ausgefallen. Das ist eine Entscheidung von gestern, also brandneu. Sie wird eine erhebliche Kapazitätsausweitung bringen, und sie verbessert den Brenner-Zulauf.
— Ich bin doch kein Prophet.
— Das überlasse ich Ihnen. Sie waren immer schon die besseren Propheten; nur waren Sie auch gleichzeitig die falschen Propheten, nicht bloß die besseren.
Wir haben Anfang dieser Woche Österreich die Einrichtung einer neuen Kombilinie ab Mitte November von Ingolstadt zum Brenner mit drei Zügen täglich in jeder Richtung vorgeschlagen. Wir können ab 1. Dezember deutscherseits auf der Strecke München—Kiefersfelden—Brenner 31 zusätzliche Züge, davon gut die Hälfte im kombinierten Verkehr, einsetzen, was allein auf dieser Transitstrecke nach Österreich eine Entlastung von 800 bis 900 Lkw pro Tag bedeutet.Mit diesem Paket hat die deutsche Seite, glaube ich, nun wirklich alles getan, um zur Lösung des Alpentransitproblems beizutragen. Das Nachtfahrverbot als Blockademaßnahme, ohne sich auf irgend etwas einzulassen, kann doch nicht die richtige Lösung sein.Die EG hat mit Nachdruck verhandelt — der Kommissar, der Präsident des Verkehrsministerrates — und hat uns und Italien sowie alle anderen Länder ausdrücklich aufgefordert, so lange nicht bilateral zu verhandeln, solange das die EG tut. Daran haben wir uns selbstverständlich gehalten. Erst wenn das Scheitern der Verhandlungen erklärt werden müßte, erst wenn der Appell des Bundeskanzlers an Präsident Delors nichts genützt haben sollte, werden wir natürlich auch unmittelbar die letzten Gespräche, die dann noch möglich sind, führen. Auf Arbeitsebene ist die Verbindung im übrigen jederzeit aufrechterhalten worden. Wir bitten jetzt dringend darum, wenigstens die verderblichen Güter wie Milch, Obst, Gemüse sowie periodische Druckschriften auszunehmen.
Da nützt uns aber ein Angebot von Herrn Streicher von 30 bis 40 — —
— Da meinen wir natürlich die Presse, den „Kurier" und die „Kronen-Zeitung" , lauter unentbehrliche Druckwerte für die Lektüre in der Bundesrepublik Deutschland, wie Sie sich leicht vorstellen können. — Da nützt uns ein Angebot von 30 bis 40 Lkw in der Nacht nichts, die noch dazu vom österreichischen Bundesland Tirol genehmigt werden sollen. Das ist ein Feigenblatt auf einem Betonklotz; das nützt uns nichts.Aber ich hoffe, daß es hier noch in letzter Minute zu einem vertretbaren Kompromiß kommt. Wenn es nicht zu einem vertretbaren Kompromiß kommt, dann ergreifen wir, Kollege Hinsken, überhaupt keine Gegenmaßnahmen und schon gar keine Strafmaßnahmen, sondern wir handeln auf der Basis der Gegenseitigkeit.
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Bundesminister Dr. ZimmermannDavon habe ich das Kabinett am 11. Oktober unterrichtet. So wird es hoffentlich nicht kommen müssen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Faße.
Frau Präsidentin! Herr Minister, ich muß Ihnen sagen, es war eine recht schwache Vorstellung. Von Tag zu Tag müßte Ihnen doch deutlicher werden, daß die Verkehrspolitik dieser Bundesregierung eindeutig gescheitert ist.
Ein Mehr an Verkehr hat dazu geführt, daß der Luftraum über unseren Flughäfen überlastet ist, hat dazu geführt, daß unsere Städte im Autoverkehr ersticken, hat dazu geführt — und das ist unser Thema heute —, daß unserem Nachbarn Österreich gar nichts anderes mehr übrigbleibt, als ein Nachtfahrverbot auszusprechen. Strategien alleine, Papiere alleine helfen uns hier nicht weiter, Herr Minister. Das sollten Sie, denke ich, doch einmal klar und deutlich erkennen. Seit langem ist uns allen bewußt, daß die Belastbarkeitsgrenze entlang der Transitkorridore überschritten ist. Der Druck auf jede Regierung wird groß, wenn Gesundheit und Existenz der Bevölkerung gefährdet sind. Die Menschen sind glücklicherweise weniger bereit, mit den Lärm- und Abgasemissionen der europäischen Transportfahrzeuge zu leben.
Die Methode der Androhung von Repressalien von seiten der Bundesrepublik hat bisher nicht gewirkt. Das Ganze jetzt umzubenennen „auf der Basis der Gegenseitigkeit" — ein toller Begriff — , hilft Ihnen, glaube ich, im Inhalt überhaupt nicht weiter. Sie waren und sind noch immer mit Drohen beschäftigt, so daß Sie noch nicht einmal auf die Idee gekommen sind, zu überlegen, was man kurzfristig machen kann?
In der Bundesrepublik fehlt ein Gesamtverkehrskonzept. Genauso kann man umsonst lange nach einem gemeinsamen verkehrspolitischen Konzept mit Nachbarn und EG-Partnern suchen. Wenn nichts getan wird, muß man sich nicht wundern, daß es zur Eskalation kommt. Die Bundesregierung hätte sich schon länger konsequenter dafür einsetzen müssen, daß insbesondere für den europäischen Transitverkehr ein Verkehrskonzept erstellt wird. Die sträfliche Vernachlässigung der Entwicklung der europäischen Eisenbahn ist eindeutig am Thema alpenquerender Verkehr festzumachen. Der Transitverkehr, insbesondere der Schwerlastverkehr, muß auf die Schiene verlagert werden. Dafür sind die entsprechenden planerischen und investiven Vorkehrungen zu treffen. Jeder Ausbau von Transitstraßen muß verhindert werden. Die Schaffung von ausreichenden Kapazitäten ist zwingend erforderlich. Ich denke, daß auch Sie das allmählich wissen und begriffen haben; aber alleine auf Tunnelbauten hinzuweisen reicht wirklich nicht aus.
Herr Minister, Angebote unseres Nachbarn Österreich z. B. zur Verbesserung des kombinierten Verkehrs liegen doch vor. Ich wundere mich eigentlich, daß gerade Sie, der Sie aus Bayern kommen, diese Angebote nicht konsequenter verfolgen.
Ich möchte Sie an einen Brief des österreichischen Verkehrsministers, heute in der „DVZ" veröffentlicht, erinnern, der darum bittet, daß Sie den Brief beantworten mögen,
und der sich seit zehn Wochen bemüht, telefonischen Kontakt mit Ihnen herzustellen, was bisher nicht möglich war. — Die Post ist so fit; sie schafft es, von der Bundesrepublik nach Österreich eine Leitung herzustellen. Rufen Sie ihn doch einmal an! Vielleicht läßt sich von Minister zu Minister einiges bereinigen. Das wäre doch etwas!
Es ist notwendig, in allen drei Ländern umfassende verkehrspolitische Maßnahmen zur Förderung des kombinierten Verkehrs zu treffen. Im Vor- und Nachlauf sind die Österreicher in ihrer Planung viel weiter als wir. Auf österreichischem Gebiet wird eine Verladestelle am Brenner errichtet; auf deutschem Gebiet tut sich kaum etwas. So etwas muß meines Erachtens auch nicht grenznah, sondern es kann auch grenzfern geschehen; denn wir wollen schon innerhalb unseres Landes die Güter nicht mehr auf der Straße, sondern vorrangig auf der Schiene transportieren. Ich meine, hier kann man Bedürfnissen der Bürger und Bedürfnissen der Wirtschaft nachkommen.
Falls Sie uns das alles nicht abnehmen und uns das alles nicht glauben, möchte ich — ein bißchen auch zu meiner Überraschung — die Einsicht des Bundesverbandes des Deutschen Güterfernverkehrs hier vortragen: In einer großen Anzeige heute in der „FAZ" bittet dieser Verband, daß die Bahn doch dem Güterfernverkehr helfen möge. Helfen Sie doch bitte schön der Bahn, dieses möglich zu machen! — Eine ganzseitige Anzeige!
Herr Minister, wenn Sie uns das nicht abnehmen, dann gehen Sie doch bitte einmal auf den Verband ein; er bittet die Bundesbahn und damit uns um Hilfe.
Das Wort hat der Abgeordnete Herr Oswald.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Rede unseres Bundesministers Dr. Fritz Zimmermann hat klar und eindeutig gezeigt,
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Oswald— hören Sie erst einmal zu! — , daß die Bundesregierung alle Maßnahmen angepackt hat, die zu einer Verbesserung der Situation führen können.
Dies wird von unserer Fraktion anerkannt, und wir haben dafür ausdrücklich zu danken.
Die Bundesregierung Frau Kollegin, hat alle Gesprächsmöglichkeiten ergriffen, um dieses einseitige österreichische Vorgehen abzuwehren. Ich darf Ihnen ganz persönlich den Rat geben: Sie sollten nicht alles glauben, was Ihnen Genossen erzählen.
Der politische Beschluß des Tiroler Landtags und die Ankündigung des österreichischen Verkehrsministers, ein striktes Nachtfahrverbot für Lkw über 7,5 t auf Transitstrecken einzuführen, erfolgten ohne jegliche Abstimmung, obwohl fast gleichzeitig — dies ist entscheidend — bilaterale und multilaterale Fachgespräche liefen. Dieses einseitige Vorgehen erschwert Kompromißmöglichkeiten.Herr Kollege Schäfer, unser Ziel für den Alpentransit ist es — dafür macht sich gerade der Kollege Gröbl sehr stark — : Wir müssen umweltfreundliche und zugleich wirtschaftlich vertretbare Lösungen finden.Das Problem der Umweltbelastung ist grenzüberschreitend und muß deshalb gemeinsam gelöst werden. Während auf dem Brenner täglich durchschnittlich 4 000 Lkw fahren, haben wir am Karlsruher Kreuz durchschnittlich 14 000 und bei Heilbronn täglich 12 800 Lkw.
Der durchschnittliche Tagesverkehr nördlich und südlich von München beträgt mehr als das Fünffache des Durchschnittswertes auf der Brenner-Autobahn.
— Sehen Sie, bei diesen Wahrheiten werden Sie direkt unruhig!Es ist besonders wichtig, daß bei all den Verhandlungen, die wir oder die EG führen, nicht nur Osterreich, sondern auch die Schweiz angegangen wird. Ein Tolerieren der Schweizer Beschränkungen — Nachtfahrverbot, 28-t-Begrenzung — würde nach meiner Auffassung Reaktionen allein gegen Österreich unglaubwürdig machen.Ferner sollte das im April dieses Jahres in Udine von den Verkehrsministern Österreichs und Italiens mit der Bundesrepublik und der Schweiz beschlossene Vorgehen zur mittel- und langfristigen Verbesserung der Schienenverbindungen in jedem Fall zügig fortgesetzt werden, damit nicht weitere Engpässe auftreten.Auch die Brenner-Konferenz muß erwähnt werden. Dort wurden eine Reihe von realistischen Vorschlägen zur kurzfristigen Steigerung des Angebots der Bahnen und zur Verbesserung der Attraktivität des Schienenverkehrs unterbreitet. 31 zusätzliche Züge ab 1. Dezember!
— Sie sind nach dem, was Sie hier gesagt haben, doch ein Verkehrsverhinderer und kein Verkehrspolitiker!
Wenn man die Brenner-Route München—Verona auf der Schiene verbessern will, müssen alle beteiligten Länder ihre Hausaufgaben machen. Wir jedenfalls— die Bundesbahn und die Bundesregierung — haben die vorbereitenden Maßnahmen getroffen
und diese Hausaufgaben gemacht. Ein genauer Zeitplan liegt vor. Das vom Bund vorgelegte Maßnahmenpaket, von dem wir gehört haben, zur Verlagerung von der Straße auf die Schiene verdient Anerkennung.
Mittelfristig ist die Ausweitung der Tunnelprofile anzustreben, um zwischen München und Verona mindestens 40 Züge mehr als gegenwärtig einsetzen und im Huckepackverkehr mit einer Eckhöhe von 4 m — Sie wissen das genau, Kollege Weiss — befördern zu können. Die Probleme liegen hier auf der italienischen Seite. Auf der Schweizer Seite ist zusätzlich eine Kapazität von 58 Zügen für den kombinierten Verkehr zwischen Italien und Deutschland bis 1992 auszuschöpfen.Wir müssen uns aber darüber im klaren sein, daß mit diesen beachtlichen Anstrengungen das gesamte Transportvolumen, das heute auf die Nachtzeit entfällt, nicht aufgefangen werden kann. Solange jedoch ein hinreichendes Alternativangebot nicht zur Verfügung steht, ist ein striktes Nachtfahrverbot ohne angemessene Umstellungszeiten eben nicht akzeptabel. Das ist das Entscheidende.Wechselseitige Behinderungen und Gegenbehinderungen sind ganz sicher nicht der Weisheit letzter Schluß. Grenzüberschreitende Verkehrsprobleme müssen in Besonnenheit und konstruktiver Rücksichtnahme gelöst werden.
Einseitige Maßnahmen von Österreich und zuvor von der Schweiz passen nicht in eine Zeit der Freizügigkeit und Liberalität in Europa. Die Probleme des alpenquerenden Verkehrs lassen sich nur partnerschaftlich lösen.
Das Wort hat der Abgeordnete Herr Weiss.
: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn wir die Situation
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Weiss
1 jetzt richtig einschätzen, dann muß man doch eines einmal ganz klar sagen: Wenn es Kapazitätsengpässe auf der Schiene gibt, dann liegen sie zum großen Teil im Vorlauf und im Nachlauf. Wenn sich der Bundesverkehrsminister rühmt, etwas getan zu haben, dann hat auf der anderen Seite diese Bundesregierung die Voraussetzungen, um mehr auf die Schiene verlagern zu können, vertagt, indem sie die Probleme der Bundesbahn nicht mehr in dieser Wahlperiode angeht, sondern mit einer Kommission in die nächste Wahlperiode verschleppt.
Bitte stellen Sie sich doch einmal vor: Was wäre denn, wenn es tatsächlich gelänge, Verkehr in größerem Umfang auf die Schiene zu verlagern? Wir hätten wahrscheinlich nicht die Lokführer. Wir hätten wahrscheinlich nicht die Züge. Wir hätten nicht die Loks. Wir hätten keine Waggons. Schauen Sie sich nur den Schadensstand der Güterwaggons bei der Deutschen Bundesbahn an! Dann erkennen Sie einfach, daß es von den Voraussetzungen her, die die Bundesregierung geschaffen hat, heute gar nicht möglich wäre.Deshalb ist es vielleicht eine sehr heilsame und nützliche Entwicklung, wenn auf Grund der österreichischen Maßnahmen die Bundesregierung nunmehr vielleicht dazu bewogen wird, endlich etwas zu tun, um die Bahn in die Lage zu versetzen, tatsächlich ein echter Konkurrent des Straßenverkehrs zu werden. Dazu gehören natürlich auch eine entsprechende Ausstattung und Sanierung des Unternehmens Deutsche Bundesbahn. Die Österreicher investieren unter anderem mit der Umfahrung Innsbrucks in ihr Bahnnetz, um so mehr Güterverkehr auf der Schiene möglich zu machen. Wenn sie nun beim Blick über die Grenze zu uns sehen, daß die Bahn hier bei uns Aufträge ablehnen muß, weil sie nicht mehr die Züge und das Personal hat, dann entsteht da eine gewisse Verbitterung — ich kann sie voll verstehen — , und daraus entsteht das Nachtfahrverbot. Das ist eine Reaktion darauf, daß auf österreichischer Seite tatsächlich einige Anstrengungen unternommen worden sind; auf bundesdeutscher Seite aber ist verweigert worden, entsprechende Investitionen in die Bahn zu tätigen, um endlich eine von allen Seiten immer wieder verbal geforderte, aber nie realisierte Verlagerung auf die Schiene durchzusetzen.
Das Wort hat der Abgeordnete Kohn.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die Probleme im alpenquerenden Verkehr sind doch in Wahrheit nur eines: sie sind ein Signal für die Notwendigkeit einer verkehrspolitischen Wende in Europa. Das bedeutet: sie sind eine Herausforderung für uns alle, den Schienenverkehr in diesem zusammenwachsenden Europa zu stärken.
Das heißt erstens Investitionen für die Bahnen, dasheißt zweitens Kooperation der Bahnen in Europa,und das heißt drittens gemeinsame Marketingaktivitäten, um die Kapazitäten, die die Bahnen in Europa haben, auch zu nutzen.Ich will hier zwei Dinge als Europäer sagen. Ich übe erstens Kritik an der Europäischen Gemeinschaft, weil es nach meinem Verständnis nicht die Rolle einer zusammenwachsenden Gemeinschaft von freiheitlichen Demokratien ist, mit dem Instrumentarium von Drohpolitik auf andere Interessen zu reagieren.
Ich kritisiere zweitens an der Europäischen Gemeinschaft, daß sie in der Vergangenheit die Chance verpaßt hat, ein Konzept für das Zusammenspiel der Verkehrsträger zu entwickeln, um die spezifischen Stärken, die diese Verkehrsträger haben, im Interesse der gemeinsamen europäischen Entwicklung zu optimieren.Seither ist zu stark auf die Entwicklung des Straßengüterverkehrs gesetzt worden. Ich sage das nicht in anklagender und selbstgerechter Pose gegenüber denjenigen, die früher Entscheidungen getroffen haben. Wir müssen aber sehen, daß die heutigen Probleme durch Fehlentscheidungen der Vergangenheit entstanden sind.Ich habe eine Menge Verständnis dafür, daß Bürger in Österreich und in der Schweiz sagen, die Dinge müßten sich ändern. Als Realist füge ich aber hinzu: Wir werden in den nächsten Jahren eine erhebliche Wachstumsdynamik vor allem im Bereich des grenzüberschreitenden Güterverkehrs durch den Europäischen Binnenmarkt haben. Darauf müssen wir uns einstellen. Wir müssen darüber hinaus als Realisten zur Kenntnis nehmen, daß wir schon sehr dankbar und erfreut sein müssen, wenn es uns gelingt, wenigstens einen Teil des Verkehrszuwachses auf Grund dieser Dynamik auf die Schiene zu verlagern. Das ist die eigentliche Hausaufgabe, der wir uns zu stellen haben.
Aus Gründen des Menschenschutzes und aus Gründen des Umweltschutzes erhebe ich also folgende Forderungen:Erstens. Priorität für Investitionen in alpenquerende Schienenstrecken.Zweitens. Priorität für Investitionen in den kombinierten Ladungsverkehr, aber Terminals nicht erst an der Grenze, sondern möglichst am Versandort.Drittens. Die Europäische Gemeinschaft muß ein integriertes europäisches Verkehrskonzept entwikkeln.Viertens. Wir müssen für die Lösung der akuten und aktuellen Probleme nachbarschaftliche kooperative Übergangslösungen entwickeln. Die Dramatik der Probleme, um die es geht, legt es uns nahe, diese Situation nicht für präkoitale Balzrituale zu mißbrauchen, sondern sie als Chance für eine verkehrspolitische Wende in Europa nach der Maxime „Die Bahnen in Europa haben Zukunft" zu erkennen.
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Das Wort hat Frau Abgeordnete Ganseforth.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister! Der Beitrag von Herrn Kohn soeben hat sich wohltuend von den rechthaberischen Vorstellungen abgehoben, die hier vorher von der rechten Seite geäußert worden sind.
Er machte nämlich die Eckpunkte der Verkehrspolitik deutlich, allerdings 20 Jahre zu spät oder 10 Jahre zu spät.
— Ja, natürlich. Aber Sie machen sich das jetzt auch wieder etwas einfach. Es genügt nicht, immer nur Schuldige zu suchen. Wir stehen jetzt in einer Situation, die die Bevölkerung sehr belastet: Wir wissen inzwischen alle, daß Lärm krank macht und daß Lärm von Lastwagen, ganz besonders nachts, für die Menschen sehr belastend ist. Die Zuweisung von Versäumnissen an die EG finde ich unheimlich primitiv, denn auch wir haben in der EG enorm viel zu sagen.Die Österreicher, die unter diesem Verkehrslärm und den Belastungen jahrelang gelitten haben, haben diesen Zustand beendet und ein Nachtfahrverbot für Lkws erreicht. Ich schließe mich dem Fraktionsvorsitzenden der SPD an: Das ist gut, richtig und notwendig.
Ich denke, daß viele Bürgerinnen und Bürger die Österreicher um diese Maßnahme beneiden, auch diejenigen, Herr Oswald, die — Sie haben sie soeben angesprochen — in der Bundesrepublik unter diesem Lärm leiden. Ich habe z. B. vor knapp zwei Wochen an einem Ortstermin in meinem Wahlkreis an der Bundesautobahn 2 Dortmund—Berlin teilgenommen. Da haben die Bürgerinnen und Bürger mich um Hilfe gebeten, weil der Lärm so unerträglich laut geworden ist, besonders durch die Lkws. Sie haben mir sehr deutlich geschildert, wie man — nach dem Fahrverbot für Lkws an Wochenenden — abends merkt, daß der Lärm dadurch deutlich zunimmt, daß die Lkws wieder fahren. Ich habe mir das angehört und kann Ihnen nur sagen: es ist wirklich schlimm.
Selbst bei geschlossenem Fenster — geschweige denn bei offenem Fenster oder im Garten — ist dieser laute, diffuse Lärm, dem man nicht entfliehen kann, unerträglich.
Die Bürgerinnen und Bürger haben mich um Hilfe gebeten. Sie möchten, daß der Lastwagenverkehr reduziert
und daß langfristig versucht wird, ihn von der Straße auf die Schiene zu verlagern.Aber in der Bundesrepublik geschieht das Gegenteil. Erstens tun wir nichts und zweitens versuchen wir noch, Österreich von seiner menschenfreundlichen Politik abzubringen. Herr Minister Zimmermann, Sie haben vorhin gesagt, daß das österreichische Vorgehen „Maßnahmen auf Gegenseitigkeit" hervorrufen wird. Wenn „Gegenseitigkeit" bedeutet, daß auch unsere Bürgerinnen und Bürger nachts vom Lastwagenverkehr verschont werden, dann kann ich Ihnen nur zustimmen und das begrüßen.
Wir haben im Juni dieses Jahres eine Anhörung in der Enquete-Kommission „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre" durchgeführt. Die Anhörung hatte das Thema: „Klimarelevanz des Verkehrssektors". Es ging dabei um Emissionen und Energieeinsatz. Da haben wir von den Experten gehört, daß das Transportvolumen auf der Straße in den nächsten Jahren noch um 40 % zunehmen wird.
Ein Grund dafür ist, daß der Gütertransport auf der Straße bei uns hoch subventioniert ist zum einen aus betriebswirtschaftlicher Sicht; zum anderen gilt das ganz besonders, wenn man die externen Folgekosten wie Waldsterben, Treibhauseffekt und Gesundheitsschäden durch Lärmbelastungen noch mit einbezieht.Weiter haben wir gehört, daß der Lkw gegenüber dem Transport auf der Schiene gewaltige Vorteile dadurch hat, daß die Geschwindigkeitsbegrenzungen nicht eingehalten und die Sozialvorschriften nicht beachtet werden. Wenn man an die Lkw-Fahrer denkt, sollte man an diesem Punkt ansetzen. Die Bußgelder, die es bei Übertretungen gibt, sind einfach albern.Ich möchte ein Zitat aus dieser Anhörung bringen. Da hat einer der Experten gesagt, daß — „Milch in Bayern produziert, nach Italien transportiert, in Mailand zu Joghurt verarbeitet wird und der Joghurt dann wieder über die Alpen zurück nach Bayern gebracht" wird.
Das ist von Experten gesagt worden. Und da hilft keine Sonderregelung für verderbliche Güter, sondern wir müssen uns fragen, ob es überhaupt sinnvoll ist, diesen Verkehr weiter in dem Maße zu subventionieren.
Die Österreicher haben die Notbremse gezogen. Viele unserer Bürgerinnen und Bürger beneiden sie darum.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. Oktober 1989 12789
Frau Gansef orthDanke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Herr Fischer.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist deutlich geworden, daß Österreich ohne jede Abstimmung mit den Nachbarstaaten und der EG mitten in einer Verhandlungsrunde einseitig derartige Blockademaßnahmen verkündet hat,
obwohl sich Deutschland und Italien bereit erklärt haben, in einem verbindlichen Zeitplan über Maßnahmen wie z. B. den Ausbau der Schienenstrecke zu verhandeln, dies zu vereinbaren und damit den Straßentransit zu entlasten.Die Österreicher nehmen in Kauf, daß in Europa eine schwere Beeinträchtigung des Handels stattfindet. Dies ist, für sich genommen, als Tatbestand völlig unmöglich. Es ist nicht gutnachbarschaftliches Verhalten. Es ist kein Verhalten, das die Österreicher dann praktizieren dürfen, wenn sie gleichzeitig verlangen und wünschen, Mitglied in der Europäischen Gemeinschaft zu werden.
Dort gelten andere Maßstäbe des Verhandelns.
Dieses Verhalten muß verurteilt werden.
Der EG-Ministerrat hat auf Vorschlag von Bundesminister Zimmermann einstimmig eine Verhandlungslinie festgelegt. Die Einzelheiten sind genannt worden. Wenn man mit einer solchen Verhandlungslinie antritt und wenn dann die Österreicher sagen „Wir haben über nichts zu verhandeln, wir sind überhaupt nicht zu Gesprächen bereit", ist auch dies ein Tatbestand und ein Verhalten, das zu verurteilen ist, das nicht gutnachbarschaftlich ist, das im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft nicht akzeptiert werden kann.Alle Gespräche sind erfolglos geblieben. Wir fügen ausdrücklich hinzu, daß wir natürlich auch nicht mit der Art und Weise einverstanden sind, wie der EG-Kommissar van Miert mit diesem Verhandlungsmandat umgegangen ist. Wir hätten uns hier mehr Nachdruck und mehr Rückhalt durch die Europäische Gemeinschaft bei der Beseitigung dieser Problematik gewünscht.
Ich glaube, daß wir als Bundesrepublik Deutschland, als neben Italien hauptbetroffenes Land, uns insoweit nicht mit der Art und Weise einverstanden erklären können, wie dieses Mandat — das ja vor wenigenTagen erneuert und bekräftigt worden ist — wahrgenommen worden ist.Die Österreicher sind in ihrem Verhalten überdies völlig widersprüchlich. Einerseits erklären sie es seit 1987 zu ihrem Ziel, daß sie eine möglichst umfassende Teilnahme am Binnenmarkt der EG wollen und daß sie einen von Abgaben und Beschränkungen befreiten Personen-, Waren- und Dienstleistungsverkehr wollen. Andererseits erlegt die österreichische Regierung dem internationalen Lkw-Verkehr massive Beschränkungen auf, ohne sich um eine Abstimmung innerhalb der EG auch nur zu bemühen. Herr Streicher, der SPÖ-Verkehrsminister, erklärt, das Nachtfahrverbot sei überhaupt nicht verhandelbar, und dies alles zu einem Zeitpunkt, zu dem Gespräche laufen, zu einem Zeitpunkt, zu dem die Österreicher offiziell den Antrag einreichen, Mitglied der EG zu werden.Meine sehr verehrten Damen und Herren, es versteht sich von selbst, daß diese Widersprüche auch in Österreich diskutiert werden. Die österreichischen Handelskammern beklagen sich bitter darüber,
daß der Straßengüterverkehr zunehmend in eine Buhmann-Rolle gedrängt wird. Frau Ganseforth, auch Sie haben das hier eben weidlich praktiziert. Hören Sie sich bitte einmal die Reden Ihrer Kollegen aus dem Verkehrsbereich an, wenn diese vor Verkehrsverbänden sprechen, und vergleichen Sie das mit dem, was Sie eben geboten haben.
Dies war eine Rede nach dem Motto „Verkehr — igittigitt" , und das kann keine vernünftige Position in einer arbeitsteiligen Gesellschaft sein, die auf Warenverkehr, auf Kommunikation und andere Dinge angewiesen ist. Diese Rede war nach meiner Auffassung verkehrspolitisch völlig daneben!
Meine Damen und Herren, die Konsequenzen: Wir wollen keinen Verkehrskrieg, aber auch keine einseitigen Diktate. Will Österreich vollwertiges Mitglied der EG werden,
so muß es sich auch an die dort geltenden Regeln halten. Auch die österreichische Regierung sollte erkennen, daß die Zeit nationaler Alleingänge nicht nur im Verkehrsbereich vorbei ist.An die Adresse der Sozialdemokraten muß noch einmal in aller Deutlichkeit gesagt werden, daß mit flotten, opportunistischen, oftmals widersprüchlichen Aussagen, insbesondere mit flotten Sprüchen für österreichische Sozialisten, vielleicht kurzfristige publizistische Erfolge erzielt werden können, daß aber die Umwelt dadurch in Wahrheit um kein Schmutzpartikel sauberer gemacht wird. Dafür muß man wirklich ein bißchen mehr draufhaben als Sie, Herr Kol-
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12790 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. Oktober 1989
Fischer
lege Weiss, der hier einfach sagt: Es muß alles geschehen. Das heißt soviel wie: alles oder nichts.
Wir werden auch ermitteln müssen — wir werden die Bundesregierung bitten, uns das noch einmal darzustellen — , wo in den letzten Jahren durch Bürgerinitiativen mit Ihrer tatkräftigen Unterstützung Schieneninvestitionen blockiert und langfristig verzögert worden sind. Das wird eine eindrucksvolle Liste sein. Wir, Herr Kollege Weiss, werden uns bemühen, diese Liste alsbald zu erhalten.Die durchsichtigen Anbiederungsversuche des Kollegen Vogel in Österreich verdeutlichen erneut, daß die SPD, anstatt die Bundesregierung auf europäischer Ebene zu unterstützen, ihr vielmehr in den Rükken fällt und damit eine Einigung und Erfolge für unser Gewerbe vereitelt.
Ihre Redezeit ist beendet, Herr Abgeordneter Fischer.
Herr Schäfer — ich knüpfe an das erste Wort der Debatte an — , dieses nenne ich unverfroren.
Das Wort hat der Abgeordnete Antretter.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich wende mich an die Kollegen von der Unionsfraktion und der Fraktion der FDP, die heute hier gesprochen haben; allerdings muß ich die bedenkenswerten Äußerungen des Kollegen Kohn hier ausnehmen. Aber alles andere, was Sie hier gesagt haben, meine verehrten Kollegen, paßt nicht mehr in diese Landschaft.
Was Sie hier zum Besten gegeben haben, sind bestenfalls Reden von gestern. Vielleicht liegt es daran, daß, wenn ich es richtig sehe, keiner der Umweltpolitiker der Unionsfraktion unter uns ist.
— Aber kein Sprecher der Fraktion in Umweltfragen.Jedenfalls ist gegen Ende dieser wichtigen Debatte festzuhalten, daß die Koalitionsfraktionen letztlich die Tatsache ignorieren, daß sich der alpenquerende Güterverkehr zwischen Nord- und Südeuropa in den letzten zwei Jahren explosionsartig erhöht hat. Dies nehmen Sie überhaupt nicht zur Kenntnis. Und Sie verstehen das Signal nicht, das die österreichische Maßnahme und das, was die Schweizer schon länger getan haben, für uns bedeuten müßte.
Sie vernachlässigen die Tatsache, daß die beschlossene Liberalisierung des Verkehrsmarktes zu weiteren Belastungen des Straßennetzes führen wird. Und es läßt Sie gleichgültig, daß die hauptbetroffenen Länder Österreich und Schweiz nicht nur immer weniger bereit sind, sondern daß wir ihnen schlicht nicht mehr zumuten dürfen, diesen Verkehr auf den Straßen abzuwickeln. Wie sonst wäre es eigentlich zu erklären, daß im Nachrichtenspiegel des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 1. September dieses Jahres die „dpa"-Meldung zitiert wurde, daß die EG zu Gegenmaßnahmen entschlossen sei, falls Österreich an dem geplanten Nachtfahrverbot für den Transitgüterverkehr festhalte. Dies — so heißt es in dem besagten Pressespiegel — hätten Bundesminister Zimmermann und der französische Verkehrsminister Delebarre bei einem Gespräch bekräftigt. Man beruft sich dabei auf Äußerungen des Bundesverkehrsministeriums.Diese, meine Kolleginnen und Kollegen, letztlich europafeindliche, weil Europaverdrossenheit produzierende Haltung können Sie auch dadurch nicht kaschieren, daß Sie etwa durch Ihren Parlamentarischen Staatssekretär Schulte auf konkrete Anfragen meines Kollegen Brück an die Bundesregierung dazu haben sagen lassen, der Bundesregierung lägen keine Vorschläge über Gegenmaßnahmen der EG gegen Österreich für den Fall vor, daß Österreich an dem geplanten Nachtfahrverbot festhalte. Welche ist nun eigentlich die Falschmeldung: die Information Ihres Hauses an „dpa" oder die Beantwortung der Anfrage des Abgeordneten Brück durch den Parlamentarischen Staatssekretär?Unsere Haltung ist klar und eindeutig. Sie ist berechenbar. Sie finden uns an Ihrer Seite, wenn Sie der EG-Kommission sagen, daß es nicht gut ist, wenn sie, wie gestern bekannt wurde, die Belastbarkeit der Europabegeisterung unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger dadurch auf die Probe stellt, daß sie beim Europäischen Gerichtshof Klage gegen die Straßenbenutzungsgebühr erhebt, die Sie nun, nachdem sie die Sozialdemokraten vier Jahre lang gefordert haben, endlich eingeleitet haben.
Sie sollten in Brüssel kundtun, Herr Minister, daß die Europabegeisterung sowohl bei den Ländern innerhalb der Gemeinschaft wie bei denen, die wir gerne bei uns hätten, da ihre Grenze findet, wo man glaubt, ihnen im Namen Europas Unzumutbares zumuten zu dürfen. Wenn Sie nicht wollen, daß die Zustimmung der Menschen zu Europa in Verdrossenheit umschlägt, dann müssen Sie in Brüssel für eine verantwortlichere europäische Verkehrspolitik eintreten.
Dazu gehört, daß Sie sich für eine radikale Umorientierung der jetzigen Verkehrspolitik stark machen. Dazu gehört aber auch, daß Sie keinen Druck auf die Alpenländer ausüben. Dazu paßt auch nicht, daß Sie es ignorieren, daß die Menschen immer weniger bereit sind, mit dem Lärm und den Abgasemissionen der europäischen Transportfahrzeuge zu leben.Schützen Sie die Bürgerinnen und Bürger vor dem Brüsseler Straßenverkehrsfanatismus,
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. Oktober 1989 12791
Antretterund lassen Sie die Kommission nicht im unklaren darüber, daß wir alle es damit ernst meinen! Fordern Sie die EG-Kommission zu einer Kurskorrektur auf, und unterstützen Sie sie nicht, indem Sie Druck auf Österreich und die Schweiz ausüben! Sagen Sie der Kornmission, sie solle aufhören, den Ruf Europas in Umweltfragen zu ruinieren! Lassen Sie sie wissen, daß das vernünftige Ziel des EG-Binnenmarkts nicht auf dem Weg der verkehrspolitischen Unvernunft zu erreichen sein wird!Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Herr Börnsen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben hier nicht die österreichischen Interessen zu vertreten, sondern wir haben unsere Interessen zu vertreten.
Das verkehrspolitische Diktat der Republik Österreich ist fatal, folgenreich und umweltpolitisch ein Flop. Das Nachtfahrverbot ist keine Fahrkarte für eine gewünschte Mitgliedschaft in der EG. Es blockt die Bereitschaft ab, einen Partner aufzunehmen, der egoistisch nationale Eigeninteressen artikuliert, ohne Gemeinschaftsinteressen zu berücksichtigen.
Die Verkehrspolitik Österreichs ist nicht mehr kalkulierbar. Dabei ist abgestimmte Politik gefragt; Alleingänge führen in die Sackgasse.
Das gilt auch für die Schweiz, die im Schlagschatten der Alpenrepublik ihr eigenes Süppchen kocht.
Ihre einseitig getroffenen Restriktionen haben dazu geführt, daß fast 40 % des Transitverkehrs durch Österreich Umwegeverkehr sind.
Niemand verkennt die Umweltbedrohung der Alpen. Die Alpen, dieses europäische Dach, bedürfen einer dringenden Reparatur. Fast 50 % der Bäume in den Bergwäldern kränkeln vor sich hin. Das Waldsterben bedroht die Funktion der Alpen als Trinkwasserspeicher, Entwässerungssystem und als Klimaregulator für große Teile Mitteleuropas. Kaputte Wälder schützen nicht vor Lawinen, bremsen weniger Steinschläge, halten weniger Hochwasserkatastrophen auf.
Das gute Geschäft mit den 40 Millionen Touristen und gut 60 Millionen Ausflüglern im Jahr hat schon seine Schattenseiten. Zu lange hat man die Expansion des Fremdenverkehrs betrieben, zu lange der Landflucht zugesehen, zu lange auf Skipisten — auf jetzt 41 000 — gesetzt und es dabei an Demut gegenüber der Natur fehlen lassen.
Unbestritten, auch der Verkehr trägt seinen Teil zum Umweltballast bei. Niemand will das bestreiten. Die Berge wirken für den Lärm wie Schalltrichter; in den Tälern sammeln sich Abgase. Unbestritten, auch an dieser Schraube müssen wir gemeinsam drehen.
Das Nachtfahrverbot jedoch ist Augenwischerei. Kein Lkw wird deshalb weniger fahren. Alles ballt sich in den Tagesstunden, die Fahrzeuge, der Lärm, die Abgase. Nicht Entzerrung, sondern Konzentration von Verkehr fördert man, mehr Unsicherheit, mehr Stau und mehr Belastung für die Brummi-Fahrer.
Die Alpenschutzkonferenz, unter der umsichtigen Delegationsleitung von Wolfgang Gröbl, war ein wichtiger und sachgerechter erster Schritt zu mehr Gemeinsamkeit in der Lageeinschätzung, in der Schutzbereitschaft und in der konzeptionellen Einleitung gemeinsamer Maßnahmen. Sie fußt auf dem Umweltgewissen der Länder und wurde von der Idee eines kooperativen Vorgehens getragen.
Wer sich — wie die Republik Österreich — dazu bekennt, kooperativ vorzugehen, sollte nicht plötzlich ausscheren und damit die Möglichkeit zur Mitwirkung und Glaubwürdigkeit verlieren. Die Ankündigung des Nachtfahrverbots kann höchstens ein heilsamer Schock sein, mehr nicht. Als Strafe eignet es sich wenig, denn die Alpenrepublik sollte nicht außer acht lassen, daß österreichische Lkw in der Bundesrepublik Deutschland gegenwärtig das Vierfache an Verkehrsleistungen deutscher Lkw in Österreich erbringen. Auch wir hätten das Recht, gegenüber den Österreichern weniger Lärm, weniger Luftbelastung einzuklagen.
Die Bundesregierung — das will ich noch einmal sagen — leistet schon ihren Beitrag zur Entlastung, und zwar mit der Einführung des Katalysators, mit der Umrüstung von Altfahrzeugen; immer unter gesamteuropäischer Perspektive. Das ist ein vernünftiger Schritt.
Ich glaube, es ist vernünftig, daß der Bundesverkehrsminister der Automobilindustrie mit klaren und deutlichen Worten gesagt hat, wo der Weg langgeht, daß er auch schonungslos aufgedeckt hat, zu welchen Leistungen die Automobilindustrie fähig ist.
Der von Umweltminister Töpfer eingeleitete ökologische Alpenplan ist in zwei Jahren realisierbar, wenn man jetzt keine neuen Barrieren schafft, wenn es zu keiner Beeinträchtigung des Warenaustausches kommt.
Man muß erkennen: Nachtfahrverbote sind eine Vorstufe des Protektionismus. Daran kann kein Alpenland, daran kann kein europäisches Land Interesse haben.
Das Wort hat der Abgeordnete Herr Zeitlmann.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich glaube, wir reden heute zunächst einmal nur über das Nachtfahrverbot und die Meinung der Bundesregierung dazu.
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12792 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. Oktober 1989
ZeitlmannIch habe den Wahlkreis Rosenheim, der ganz speziell betroffen ist, weil die Inntal-Autobahn durch diesen Landkreis führt. Wenn ich die Bürger in meinem Wahlkreis frage „Was versprecht ihr euch vom Nachtfahrverbot?"; dann sagen sie mir — und das ist ganz logisch — : Wo bleiben in der Nacht die Lkw über 7,5 t, die in Österreich nicht fahren dürfen? — Sie stehen im bayerischen Inntal. Wenn ich die Zahlen des zuständigen Zollamts zugrunde lege, dann ist — unterschiedlich je nach Wochentag — mit Schlangen bis zu 20 km Länge zu rechnen. Diese Lkw müssen teilweise ihre Motoren laufenlassen, insbesondere im Winter zur Beheizung.Diese Probleme hatten wir bereits anläßlich einer Blockade im Inntal. Dabei haben wir die ganzen rechtlichen Probleme, die damit zusammenhängen, kennengelernt.Meine Damen und Herren, ich kann überhaupt nicht verstehen, wie Herr Kollege Vogel so etwas für richtig halten kann; dies hat er ja in Österreich so geäußert. Das Pikanteste an der Meldung in der „Süddeutschen Zeitung" ist, daß er den Österreichern darüber hinaus geraten hat, den deutschen Forderungen keinen Millimeter nachzugeben. Das ist im Grunde ein unglaublicher Vorgang für die Bürger im bayerischen Inntal, die von diesem Nachtfahrverbot ganz erheblich betroffen sind,
und für mich ist es schon sehr pikant, zu sehen, daß man eine solche Maßnahme für richtig hält.Ich muß den Spieß einmal umdrehen: Da es in der Bundesrepublik Strecken gibt, die verkehrsmäßig wesentlich intensiver belastet sind als das Inntal — ich denke z. B. an die Rheinebene — , müßten Sie beispielsweise über den Bundesrat längst Initiativen ergriffen haben, um das Nachtfahrverbot durchzusetzen. Das gilt beispielsweise für Nordrhein-Westfalen im Zusammenhang mit der Rheinebene.Es ist doch ein Irrsinn, zu glauben, Verkehrsströme könnten dämonisiert werden. Die Verkehrsströme sind eine wesentliche Ader innerhalb unserer Volkswirtschaft, die wir nicht quasi an die Wand drücken dürfen.Natürlich kenne ich die Belastungen. Durch meinen Wahlkreis weiß ich, wo die Hauptverkehrsachsen verlaufen. Ich lebe selbst an einer Autobahn, die eine doppelt so große Verkehrsdichte aufweist wie die Inntal-Autobahn. Ich registriere jeden Tag die Belastung, die Lärmimmission, die von dieser Autobahn ausgeht. Ein Nachtfahrverbot kann aber keine Lösung sein, da sich dadurch der Verkehr tagsüber entsprechend komprimiert und am Tage mit der dann vorhandenen UV-Strahlung höhere Abgaswerte entstehen.Meine Damen und Herren, wir haben gehört, welche Maßnahmen der Abwendung möglich sind. Wir haben gehört, daß ab 1. Dezember 31 Züge eingesetzt werden können, daß die Hälfte im kombinierten Verkehr möglich ist.Ich bin der Meinung, wenn Sie alle von der Opposition dieses Nachtfahrverbot so akzeptieren, dann müßten Sie von der Logik her zum Schutz unserer Bürger in der Konsequenz auch sagen: Dann möge der Bundesverkehrsminister dem deutschen Bürger ab 1. Dezember 1989 zumindest die 200 000 österreichischen Lkw ersparen!
— Die Gegenseitigkeit hielte ich für richtig.Ich bin auch der Meinung, daß die Bayerische Staatsregierung das Landratsamt Berchtesgaden zu Recht angewiesen hat, die Ausnahmegenehmigungen im Lofer-Verkehr zu überprüfen und entsprechend anzupassen;
denn nach dem Vertragsinhalt ging es hier ursprünglich um einen innerösterreichischen Verkehr und nicht um den gesamten Ost-West-Verkehr in Osterreich.Ich will die Dinge abkürzen. Nur eines möchte ich noch sagen: Die Gegenmaßnahmen, die Deutschland treffen kann, müssen meines Erachtens im vollen Umfang getroffen werden. Die bilateral vereinbarten Genehmigungen für österreichische Lkw sind dann auch entsprechend auf die Tageszeit zu beschränken. Ich meine auch, daß wir dann in Richtung Schweiz konsequent sein müssen, d. h. wir müßten gegenüber den Schweizer Fahrzeugen entsprechende Gewichtsbeschränkungen einführen.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, die Aktuelle Stunde ist beendet. Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages für morgen, Donnerstag, den 26. Oktober 1989, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.