Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.Meine Damen und Herren, ich darf die folgenden amtlichen Mitteilungen zur Verlesung bringen:Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sollen die Punkte 4 b und c der heutigen Tagesordnung abgesetzt werden, da neue Anträge auf den Drucksachen 11/225 und 11/230 vorliegen.Des weiteren ist interfraktionell vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Liste „Zusatzpunkte zur verbundenen Tagesordnung" aufgeführt:1. Beratung des Antrags der Fraktion der SPDBeseitigung nuklearer Mittelstreckenwaffen größerer und kürzerer Reichweite in Europa— Drucksache 11/225 —2. Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Schoppe, Dr. Mechtersheimer, Schily und der Fraktion DIE GRÜNENAbrüstung nuklearer Mittelstreckenraketen in Europa— Drucksache 11/230 —3. Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Entschädigung für NS-Unrecht"— Drucksache 11/223 —4. Beratung des Antrags der Fraktion der SPDVerbesserung der Situation der Sinti und Roma— Drucksache 11/224 —5. Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Dr. Vollmer und der Fraktion DIE GRÜNENGesetzentwurf zur Regelung einer angemessenen Versorgung für alle Opfer nationalsozialistischer Verfolgung in der Zeit von 1933 bis 1945— Drucksache 11/141 —6. Beratung des Antrags der Abgeordneten Schily, Frau Dr. Vollmer und der Fraktion DIE GRÜNEN Entschädigung für Zwangsarbeit während der Nazi-Zeit — Drucksache 11/142 —7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Dr. Vollmer, Frau Nickels und der Fraktion DIE GRÜNEN Nichtigkeitserklärung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 und der nach diesem Gesetz ergangenen Entscheidungen— Drucksache 11/143 — 8. Aktuelle StundeKriegswaffenexport-Politik der Bundesregierung in Länder des Nahen und Mittleren Ostens, insbesondere nach Saudi-Arabien9. Erste Beratung des von der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Volkszählungsgesetzes 1987— Drucksache 11/170 —10. Beratung des Antrags der Fraktion der SPDDurchführung der Volkszählung am 25. Mai 1987— Drucksache 11/226 —11. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDPVolkszählung 1987— Drucksache 11/231 —12. Aktuelle StundeNeueste Hinweise auf einen alarmierenden Anstieg bei der Verseuchung von Grund- und Trinkwasser durch Einsatz von PflanzenschutzmittelnZugleich soll mit der Aufsetzung des Zusatzpunktes 3 von der Frist für den Beginn der Beratung abgewichen werden.Sind Sie mit diesen Änderungen der Tagesordnung einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch; dann ist es so beschlossen.Ich rufe Punkt 3 der Tagesordnung auf:Eidesleistung des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitMeine Damen und Herren, der Präsident des Bundesrates hat in Vertretung des Herrn Bundespräsidenten am 7. Mai 1987 auf Vorschlag des Herrn Bundeskanzlers Herrn Prof. Dr. Klaus Töpfer zum Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ernannt.Nach Art. 64 des Grundgesetzes leisten die Bundesminister bei der Amtsübernahme den in Art. 56 des Grundgesetzes vorgesehenen Eid. Herr Bundesminister, ich darf Sie zur Eidesleistung bitten. — Ich überreiche Ihnen, Herr Bundesminister, das Grundgesetz und bitte Sie, den vorgeschriebenen Eid zu sprechen.
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524 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987
Bundesminister Dr. Töpfer
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.
Meine Damen und Herren, der Herr Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Herr Prof. Dr. Klaus Töpfer, hat den vom Grundgesetz vorgeschriebenen Eid bei der Amtsübernahme vor dem Deutschen Bundestag geleistet.
Herr Bundesminister, für Ihre verantwortungsvolle Arbeit spreche ich Ihnen die guten Wünsche des Hauses aus. Alles Gute und viel Erfolg!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich danke Ihnen sehr, Herr Präsident.
Dem ausgeschiedenen Bundesminister danke ich, auch im Namen des Hauses, für seine Arbeit.
Meine Damen und Herren, ich rufe Punkt 4 a der Tagesordnung, die Zusatztagesordnungspunkte 1 und 2 sowie Punkt 4 d der Tagesordnung auf:
4. a) Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung Bericht über den Stand der Abrüstungsgespräche
Zusatzpunkt 1:
Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Beseitigung nuklearer Mittelstreckenwaffen größerer und kürzerer Reichweite in Europa
— Drucksache 11/225 — Zusatzpunkt 2:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Schoppe, Dr. Mechtersheimer, Schily und der Fraktion DIE GRÜNEN
Abrüstung nuklearer Mittelstreckenraketen in Europa
— Drucksache 11/230 —
4. d) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Einhaltung des ABM-Vertrages
— Drucksache 11/15 —
Überweisungsvorschlag d. Ältestenrates: Auswärtiger Ausschuß
Verteidigungsausschuß
Meine Damen und Herren, nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Beratung dieser Tagesordnungspunkte 31/2 Stunden vorgesehen. — Ich sehe und höre keinen Widerspruch; dann ist so beschlossen.
Zur Abgabe einer Regierungserklärung erteile ich dem Herrn Bundeskanzler das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung begrüßt die heutige Aussprache über den Stand der Genfer Abrüstungsgespräche. Sie gibt ihr die Gelegenheit, einen Zwischenbericht zu geben, nicht nur über die laufenden Verhandlungen der beiden Weltmächte, sondern auch über die intensiven Konsultationen zwischen den europäischen Partnern und den Mitgliedern der Nordatlantischen Allianz.Lassen Sie mich einleitend noch einmal kurz die Ziele der Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland zusammenfassen. Oberstes Ziel der Sicherheitspolitik der Bundesregierung ist und bleibt, den Frieden in Freiheit zu bewahren.
Die Sicherheitspolitik der Bundesregierung und ihrer Verbündeten ist deshalb darauf gerichtet, den Frieden zu festigen und jede Art von Krieg zu verhindern, sowohl den nuklearen wie den konventionellen. Ein Krieg mit modernen konventionellen Waffen würde unser Volk und die europäische Zivilisation genauso gefährden wie ein Nuklearkrieg. Militärische Konflikte zwischen Ost und West sind in den vergangenen 42 Jahren verhindert worden. Dies danken wir vor allem auch der Tatsache, daß wir als Deutsche und Europäer nicht allein stehen, sondern mit den freien Demokratien des Westens, insbesondere mit den Vereinigten Staaten von Amerika, verbunden sind.Ich habe aus gutem Grund in meiner Regierungserklärung im März vor dem Hohen Haus diese Tatsache mit der Formulierung gewürdigt, daß die Zusammenarbeit, die Partnerschaft und das Bündnis mit den USA für unser Land von „existentieller Bedeutung" sind. Wir verdanken unseren Frieden und unsere Freiheit der Tatsache, daß dieses Verteidigungsbündnis eine erfolgreiche Politik betrieben hat, und es wird sie auch in Zukunft betreiben.Auf der Grundlage gesicherter Verteidigungsfähigkeit wollen wir mit der Sowjetunion und ihren Verbündeten umfassend zusammenarbeiten, insbesondere auch im Felde der Abrüstung und der Rüstungskontrolle. Darin sehen wir den einzigen Weg, unsere Sicherheit stärker auf ein Miteinander als auf ein Gegeneinander zu gründen.Wir haben gerade in den zurückliegenden Monaten wichtige Fortschritte erzielt. Anläßlich der Sitzung der gemischten deutsch-sowjetischen Wirtschaftskommission ist vereinbart worden, die wirtschaftlichen Beziehungen weiter auszubauen und neue Wege zu beschreiten. Wir haben in den letzten Wochen drei Ressortabkommen unterzeichnet, die die Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion in den Bereichen Agrarforschung, Gesundheit und Nuklearforschung weiter intensivieren werden. Damit kann das vereinbarte Rahmenabkommen über technologisch-wissenschaftliche Zusammenarbeit in Kraft treten. Wie Sie wissen, wurden weitere gegenseitige Vereinbarungen und Besuche verabredet.Ich begrüße es heute auch ganz besonders, daß der bulgarische Staatspräsident Todor Schiwkoff meine Einladung angenommen hat und schon sehr bald — am 2. Juni — zu einem offiziellen Besuch in die Bundesrepublik Deutschland kommen wird. Auch die
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987 525
Bundeskanzler Dr. KohlBeziehungen zu den übrigen Warschauer-Pakt-Staaten entwickeln sich konstruktiv und dynamisch. Wir befinden uns, wie jeder erkennen kann, auf einem guten Weg.Dies alles muß sich aber auf der Grundlage gesicherter Verteidigungsfähigkeit vollziehen. Was heißt das, meine Damen und Herren? Die Rückschau in die europäische und in die deutsche Geschichte und ein nüchterner Blick auf jene Weltgegenden, in denen heute Krieg geführt wird, zeigen: Nicht einmal zahlenmäßige Gleichheit möglicher Gegner reicht aus, Kriege zu verhindern, wenn nicht der politische Wille vorherrscht, Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln in jedem Falle auszuschließen.Ziel der Strategie der abgestuften Antwort und der Abschreckung ist es, Krieg zu verhindern. Das ist möglich, wenn ein Angreifer mit einer Antwort rechnen muß, die ihm das Risiko eines Waffengangs zur Verfolgung seiner politischen Ziele von vornherein als untragbar erscheinen läßt. Aus diesen Erwägungen heraus hat unser Bündnis seine bewährte Strategie der flexiblen Antwort entwickelt. Für diese Strategie gibt es in absehbarer Zeit keine Alternative. Für ihre Wirksamkeit und Glaubwürdigkeit bedarf es weiterhin ausgewogener nuklearer und konventioneller Streitkräfte. Deshalb kann unser Bündnis auf absehbare Zeit auf Nuklearwaffen nicht völlig verzichten.Unverzichtbarer Bestandteil der Sicherheitspolitik der Bundesregierung bleibt ein nachdrückliches und konsequentes Eintreten für Abrüstung und Rüstungskontrolle. Es bleibt dabei: Wir wollen Frieden schaffen mit weniger Waffen.
— Meine Damen und Herren auf der Linken des Hauses, angesichts des totalen Scheiterns Ihrer Politik auf diesem Felde würde ich nicht einmal einen Zwischenruf wagen.
Es bleibt dabei: Wir wollen Frieden schaffen mit weniger Waffen. Es war die Allianz, die seit 1981 einseitig 2 400 nukleare Sprengköpfe in Europa abgebaut hat. Dem steht bisher kein vergleichbarer Schritt der Sowjetunion gegenüber. Wir erstreben Rüstungskontrollvereinbarungen, die erhöhte Sicherheit aller Beteiligten auf einem möglichst niedrigen, ausgewogenen Streitkräfteniveau gewährleisten. Dies setzt voraus, daß die berechtigten Sicherheitsinteressen aller, der großen wie der mittleren wie der kleineren Staaten, berücksichtigt werden. Grundlage unseres Bündnisses ist: Die Sicherheit des einen ist die Sicherheit des anderen. Es darf auf gar keinen Fall eine Zone minderer Sicherheit geben.
Aus dieser Sicht handeln wir bei den Fragen von Abrüstung und Rüstungskontrolle. Wir respektieren die legitimen Sicherheitsinteressen unserer östlichen Gesprächspartner. Wir fordern sélbstverständlich das gleiche für uns. Die Sowjetunion hat in den siebziger Jahren unter der Losung von Gleichheit und gleicher Sicherheit ihre Sicherheitspolitik einseitig auf die Vereinigten Staaten ausgerichtet, gleichzeitig aber Westeuropa konventionell und mit neuen Mittelstreckenwaffen bedroht. Dies war eine verhängnisvolle Fehleinschätzung. Das sieht man heute auch in Moskau.Jetzt ist neues Denken und tatsächlich neues Handeln erforderlich. Generalsekretär Gorbatschow hat am 17. Februar dieses Jahres festgestellt: „Die Sowjetunion beansprucht nicht ein Gran mehr Sicherheit, als sie z. B. die USA hat." Wir, meine Damen und Herren, erwarten, daß dies auch gegenüber Westeuropa und gegenüber der Bundesrepublik Deutschland gilt.Lassen Sie mich an dieser Stelle betonen — ich wiederhole das, was ich im März gesagt habe — : Wir verfolgen die Diskussion und die politische Linie, die Generalsekretär Gorbatschow in seinem Land jetzt vorzeichnet und die auch Ankündigungen für die Außenpolitik der Sowjetunion enthält, mit Interesse und Sympathie, und wir hoffen, daß den Worten die notwendigen Taten folgen.
Wenn sein Kurs Chancen birgt zu mehr Sicherheit, zu mehr Zusammenarbeit und vor allem zu konkreten Ergebnissen bei Abrüstung und Rüstungskontrolle, werden wir sie aufgreifen.Lassen Sie mich dazu an einen wichtigen und bewährten Grundsatz der Rüstungskontrollpolitik erinnern. Entscheidend für Abrüstung und Rüstungskontrolle sind nicht politische Willenserklärungen von heute, welchem Ziel und welchem Zweck Waffen dienen sollen. Entscheidend sind nicht Analysen, ob akute Kriegsgefahr besteht oder nicht. Dies alles kann sich sehr schnell ändern. Entscheidend für unsere Beurteilung sind vorhandene Waffensysteme und die daraus objektiv ableitbare Bedrohung.Wir müssen deshalb feststellen, daß die Sowjetunion und ihre Verbündeten militärische Potentiale in Europa aufgebaut haben, die zahlenmäßig denen der USA und des Bündnisses weit überlegen sind und schlechthin nicht durch eigene Verteidigungserfordernisse gerechtfertigt werden können. Die Zahlen sprechen für sich.Wenn wir die Realitäten so sehen, wie sie sind, so müssen wir die Gegebenheiten berücksichtigen: Die geographischen und geostrategischen Vorteile sind eindeutig auf seiten des Warschauer Pakts; dies zeigt ein Blick auf jede Landkarte. Militärstrategie, Gliederung und Ausrüstung der Streitkräfte des Warschauer Pakts sind auf raumgreifende, offensive Operation ausgelegt. Die Militärdoktrin der Sowjetunion geht davon aus, daß eine militärische Auseinandersetzung nicht auf sowjetischem Boden, sondern auf dem Territorium des Gegners auszutragen wäre.Aus all dem, meine Damen und Herren, ergibt sich objektiv eine Invasionsfähigkeit des Warschauer Pakts gegenüber Westeuropa, während unsere Streitkräfte nach Auftrag, Umfang und Struktur zu raumgreifenden Offensiven und Operationen nicht geeignet sind.
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526 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987
Bundeskanzler Dr. KohlDieses Gesamtbild müssen wir bei Abrüstung und Rüstungskontrolle vor Augen haben, insbesondere auf dem so wichtigen Gebiet der nuklearen Mittelstreckenflugkörper.Die Sicherheit aller Beteiligten, meine Damen und Herren — ich sage: aller Beteiligten — , darf durch Abrüstung nicht geringer sein als vorher. Gerade deshalb haben wir zusammen mit unseren Partnern in der WEU im November des vergangenen Jahres festgestellt — ich zitiere —In der Perspektive von Fortschritten bei der nuklearen Abrüstung kommt der Herstellung konventioneller Stabilität eine noch größere Bedeutung und Dringlichkeit zu. Gleichzeitig wird die weltweite völlige Beseitigung der chemischen Waffen noch dringender.
Ich habe in meiner Regierungserklärung im März gesagt:Gemeinsam mit unseren westlichen Verbündeten wollen wir den Prozeß der Abrüstung und Rüstungskontrolle in allen Verhandlungsforen dynamisch fortsetzen.Wir wollen — ich will es deutlich unterstreichen — gleichgerichtete Anstrengungen und Fortschritte in allen Bereichen. Ein weltweites Abkommen über das Verbot chemischer Waffen ist nach übereinstimmender Einschätzung erreichbar. Wie notwendig es ist, meine Damen und Herren, zeigt der Einsatz chemischer Kampfmittel in Konflikten der Dritten Welt in jüngster Zeit.Im konventionellen Bereich haben wir zusammen . mit unseren französischen Freunden vor einem Jahr beim NATO-Rat in Halifax die Initiative zu Verhandlungen „vom Atlantik bis zum Ural" ergriffen, und wir setzen sie bei den Gesprächen in Wien mit Energie fort. Daß der Prozeß der Rüstungskontrolle bald auch im konventionellen Bereich spürbare Erfolge zeitigen soll, liegt im allgemeinen und natürlich erst recht in unserem nationalen Interesse.In der Geschichte der Rüstungskontrollverhandlungen ist noch nie an so vielen Plätzen und in so vielen Foren über so umfassende Abrüstungsvorschläge verhandelt worden wie heute, und — das will ich betonen — noch nie waren die Chancen der Einigung in wichtigen Kernbereichen so gut wie jetzt. Daß dies erreicht wurde, verdanken wir der konsequenten und kontinuierlichen Politik unseres Bündnisses, die wir, die Bundesregierung, maßgeblich miterarbeitet und mitgetragen haben.Die sowjetische Bedrohung durch Mittelstreckenwaffen größerer Reichweite hat unser Bündnis 1979 rüstungskontrollpolitisch mit dem Doppelbeschluß beantwortet. Gemäß seinem Verhandlungsteil haben die Vereinigten Staaten seit 1981 in Genf auf Grund abgestimmter Bündnispositionen verhandelt. Diese Positionen enthielten von Anfang an die Forderung nach vollständiger Beseitigung der beiderseitigen Bestände an Mittelstreckenflugkörpern größerer Reichweite — die Null-Lösung — und begleitende Beschränkungen für Mittelstreckenflugkörper kürzerer Reichweite.Der Doppelbeschluß ist von der von meinem Vorgänger Helmut Schmidt geführten Bundesregierung entwickelt und von der jetzigen Bundesregierung durchgesetzt worden. Ich kann durchaus verstehen, meine Damen und Herren, wenn der Kollege Schmidt in diesen Tagen zu Recht darauf hinweist, daß er für diese Politik noch einmal eine nachträgliche Bestätigung und einen Triumph erlebt hat.
Es ist wichtig, das heute wieder zu erwähnen, weil wir ja im Jahre 1982/83 nach der Regierungsübernahme durch die jetzige Bundesregierung erlebt haben, daß damals innerhalb der Sozialdemokratie die Mär aufgekommen ist, aus ganz anderen Gründen sei Helmut Schmidt gescheitert. Seine eigene Partei, die SPD, hat ihn wegen dieser richtigen Entscheidung in der Rüstungskontrollpolitik gestürzt.
Wir haben damals erlebt, meine Damen und Herren, daß nach der Entscheidung über den NATO-Doppelbeschluß die Sowjetunion den Genfer Verhandlungstisch verlassen hat, aber nach zwei Jahren zurückkehrte. Die Gipfeltreffen von Genf und Reykjavik habe eine nachhaltige Wende zum Besseren im Verhältnis der Großmächte eingeleitet und rüstungskontrollpolitische Annäherungen gebracht, die viele optimistische Erwartungen noch übertrafen. Der klare und der konsequente Kurs dieser Bundesregierung und ihrer Verbündeten wurde von Ihnen, meine Damen und Herren, von Anfang an mit heftiger Propaganda und mit finstersten Voraussagen begleitet. Sie haben alles, was möglich war, irrational mobilisiert. Sie haben diese Politik mit Forderungen nach Bündnisbruch und mit antiamerikanischer Mobilisierung emotional angefeindet. Es wird an diesem Tag und angesichts der greifbaren Erfolge, die jetzt vor uns stehen, doch erlaubt sein zu sagen, in welch einem Umfang Sie ein sicherheitspolitisches Risiko in diesen drei Jahren waren.
— Ach, wissen Sie, wenn man für die Zeit nach der Stationierung einen Raketenzaun prophezeit hat, wenn man eine neue Eiszeit prophezeit hat, wenn man nach Reykjavik von einem schwarzen Tag, von einem Desaster gesprochen hat, hat man jede Kompetenz für das Mitsprechen in dieser Frage verloren.
Sie haben sich — das muß klar gesagt werden — in dieser Kernfrage der Rüstungskontrollverhandlungen aufs schwerste geirrt, nämlich mit der völligen Fehleinschätzung der Interessen und der Fähigkeit zur Flexibilität der sowjetischen Führer. Wo ständen wir denn heute, wenn wir Ihren Ratschlägen gefolgt wären?
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987 527
Bundeskanzler Dr. KohlEinseitige Vorleistungen — dies ist eine Erfahrung in der Geschichte, die sich immer bestätigt hat — werden selbstverständlich immer ohne Gegenleistungen eingestrichen. Beharrlichkeit, Offenheit und auch Konsequenz am Verhandlungstisch in der Vertretung eigener Interessen zahlen sich immer wieder aus.Herr Präsident, meine Damen und Herren, der Gipfel von Reykjavik hat für die Genfer INF-Verhandlungen einen entscheidenden Durchbruch bewirkt. Beide Seiten haben sich grundsätzlich darauf verständigt, für Mittelstreckenflugkörper größerer Reichweite die Null-Lösung in Europa vorzusehen bei gleichzeitiger Verringerung dieser Systeme auf jeweils 100 Gefechtsköpfe, die im asiatischen Teil der Sowjetunion und in den USA zu stationieren sind. Wenn ein solches Abkommen zustande kommt — und ich habe die Hoffnung, daß wir allen Grund zum Optimismus haben — , ist das ein großartiges Ergebnis, das ich namens der Bundesregierung nur nachdrücklich begrüßen kann.
Es ist nicht zuletzt auch das Verdienst unseres konsequenten Beitrags zu dieser Politik.Bedauerlicherweise hatte die Sowjetunion in Reykjavik ein INF-Abkommen noch mit anderen Genfer Verhandlungsmaterien verknüpft. Dies war in der Tat ein Rückschritt. Ende Februar dieses Jahres hat Generalsekretär Gorbatschow dieses selbstgeschaffene Hindernis vom Verhandlungstisch genommen. Anfang März haben die USA ihren im Bündnis abgestimmten Vertragsentwurf in Genf eingeführt, der die Annäherung von Reykjavik widerspiegelt. Kurz darauf folgte der Entwurf einer mit den Stationierungsländern in allen Einzelheiten besprochenen Überprüfungsregelung.Während des Moskau-Besuchs des amerikanischen Außenministers Shultz Mitte April hat die sowjetische Führung die Reykjavik-Formel erneut bestätigt, und letzte Woche hat sie einen eigenen Vertragsentwurf in Genf eingeführt. Dieser geht jedoch, wie Sie wissen, auf Mittelstreckenflugkörper kürzerer Reichweite nicht ein.Lassen sie mich an dieser Stelle deutlich sagen: Mögen Vertragsentwürfe noch so viele vorher erzielte Einigungen widerspiegeln, sie sind stets und ständig Ausgangspunkt für Verhandlungen und nicht ihr Ergebnis.
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528 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987
— Ich verstehe wirklich nicht, wie man angesichts der Entwicklung der letzten 14 Tage darüber lachen kann. Sie haben sich in dieser Sache doch blamiert.
Wie richtig diese Linie war, zeigte sich unmittelbar darauf in Genf. Am 27. April führte der sowjetische Delegationsleiter bei Vorlage seines Vertragsentwurfs mündlich aus, über Mittelstreckenflugkörper kürzerer Reichweite könne entweder im Rahmen eines INF-Abkommens oder auch gesondert verhandelt und beschlossen werden. Dazu schlug er im Reichweitenband von 500 bis 1 000 Kilometer eine auf Europa beschränkte Null-Lösung vor, während er global das Konzept gleicher Obergrenzen vertrat. Er forderte ferner die Einbeziehung der Sprengköpfe auf den Mittelstreckenraketen der Bundeswehr vom Typ Pershing I a, die, wie Sie wissen, im strikten amerikanischen Gewahrsam stehen.Die amerikanische Delegation in Genf hat diese mündlichen Darlegungen mit Entschiedenheit zurückgewiesen. Diese Ablehnung wird ausweislich des Beschlusses unseres Bündnisses und insbesondere auch der jüngsten Tagung der Außen- und Verteidigungsminister der Westeuropäischen Union voll und ganz von allen unterstützt. Es ist offenkundig, daß sich zwischen den sowjetischen Erklärungen von Moskau und Genf und den Erläuterungen, die die Bundesregierung und übrigens viele andere gestern in Bonn erhalten konnten, deutliche Unterschiede auftun. Das zeigt doch, meine Damen und Herren, wie berechtigt unsere Erwartung ist, daß die Sowjetunion ihre Position auch zu diesem Bereich schriftlich einbringt.Der Genfer Vorschlag überschreitet den Verhandlungsrahmen; denn es geht bei diesem INF-Abkommen ausschließlich um amerikanische und sowjetische Träger- und Abschußvorrichtungen, nicht um Systeme Dritter. Es geht hier um eine ganz prinzipielle Haltung des Westens zu Drittstaatensystemen.Die Bundesregierung und ihre Verbündeten werden alle Aspekte der Genfer INF-Verhandlungen und insonderheit der mit einer Null-Lösung in einem Teilbereich der Mittelstreckenflugkörper kürzerer Reichweite verbundenen Fragen sorgfältig prüfen.Meine Damen und Herren, es geht um zu ernste Fragen, als daß wir einfach Propaganda oder unziemlicher Hektik das Feld überlassen.
Ich habe betont, mit welcher Behutsamkeit und mit welcher Verantwortung wir den vorgelegten Vertragsentwurf der Sowjetunion zu bewerten haben. Um so mehr gilt: Wir können auf Grund bloßer mündlicher Erläuterungen, deren letzter Sinn nicht präzise feststeht, keine rüstungspolitischen Grundsatzentscheidungen treffen. Wir können nicht auf Grund von Agenturmeldungen im Zentralbereich unserer Sicherheit Weichen stellen.Wesentliche Kriterien unserer Entscheidungsfindung sind: Ich habe in meiner Regierungserklärung im März unterstrichen, daß ein baldiger Abschluß eines INF-Abkommens ein sichtbares Zeichen wäre für Ernst und Glaubwürdigkeit der Rüstungskontrollverhandlungen und daß ein wichtiger Impuls von solchen Verhandlungsergebnissen auch auf alle anderen politischen Bereiche ausgehen würde. Wir müssen in Rechnung stellen, daß auch nach Beseitigung der Mittelstreckenwaffen größerer Reichweite in den Bereichen von Nuklearwaffen kürzerer Reichweite sowie der chemischen und der konventionellen Waffen gefährliche Waffenpotentiale verbleiben. Sie bedrohen unser Land, unser Volk und die bei uns stationierten verbündeten Streitkräfte in besonderem Maße.Unser Bündnis, meine Damen und Herren, lebt davon und war in Jahrzehnten dadurch erfolgreich, daß Risiken und Lasten bisher immer gemeinsam
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987 529
Bundeskanzler Dr. Kohlgetragen wurden. Wir sind zutiefst überzeugt, daß es auf der jetzigen entscheidenden Wegstrecke der Rüstungskontrollpolitik darauf ankommt, daß wir fähig sind, in Europa unsere Interessen zu bündeln und mit einer Stimme zu sprechen.Wir schätzen gerade in diesen Tagen besonders das großartige Ergebnis der Politik aller Bundesregierungen in diesen Jahrzehnten, die zu unserer engen Freundschaft und Partnerschaft mit Frankreich beigetragen hat. Wir schätzen unser besonders enges Verhältnis zu unseren britischen Freunden und zu unseren Verbündeten und Partnern in der NATO und in der Westeuropäischen Union. Und wir handeln im Bewußtsein der existentiellen Bedeutung unserer Partnerschaft zu den Vereinigten Staaten von Amerika. Wir handeln in der Verantwortung, die uns unsere Geschichte, unser Gewicht im Bündnis und unsere Lage in der Mitte Europas als geteiltes Land an der Trennlinie der beiden politisch-ideologischen Systeme und militärischen Bündnisse aufgeben.
— Ich verstehe Sie wirklich nicht. Das sind doch eigentlich Sätze, die von jedermann hier geteilt werden müßten.
Wie weit sind wir eigentlich in der Parlamentsdebatte heruntergekommen, daß Sie nicht einmal mehr solche klaren Selbstverständlichkeiten — gerade für einen Mann wie Helmut Schmidt waren es Selbstverständlichkeiten — ruhig anhören können!
Gemäß dem Autrag des Grundgesetzes haben wir das Schicksal aller Deutschen im Auge, und wir sind uns deshalb der besonderen Bedeutung bewußt, die unserem Votum, dem Votum der Bundesrepublik Deutschland, und unserer Haltung zu den in Genf anstehenden Fragen in unserem Bündnis und darüber hinaus zukommt. Deshalb wird die Bundesregierung ihren Entscheidungsprozeß in einer dichten Abfolge von Konsultationen und in wichtigen begleitenden Treffen auf hoher und höchster Ebene voranbringen.Ich darf an meine kürzliche Begegnung mit Frau Thatcher vor ihrer Moskau-Reise erinnern, an mein Treffen mit Staatspräsident Mitterrand Ende März, an mein Treffen mit ihm am kommenden Montag in Berlin, an die Konsultationen mit dem französischen Premierminister Jacques Chirac am vergangenen Sonntag, mit dem belgischen Ministerpräsidenten Wilfried Martens gestern und mit dem italienischen Ministerpräsidenten Fanfani in der kommenden Woche. Am Montag wird Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher nach Washington reisen, um mit der amerikanischen Regierung zu konsultieren.
— Ich finde es sehr gut, daß Sie sich so darstellen, wie Sie heute geworden sind.
Weitere Konsultationen, vor allem in den zuständigen Bündnisgremien, stehen an. Sie werden uns dieMöglichkeit geben, die notwendigen Entscheidungen unseres Bündnisses mitzugestalten, sie zeitgerecht, d. h. in einer nahen Zukunft, zu treffen und damit unserer Verantwortung gerecht zu werden.Meine Damen und Herren, in Fragen der Abrüstung und Rüstungskontrolle müssen wir schrittweise vorangehen und darauf achten, daß die Dynamik des Prozesses erhalten bleibt, daß der Prozeß fortgeführt werden kann. Es geht darum, alle schwerwiegenden Ungleichgewichte der Rüstungen zu beseitigen, die Stabilität weltweit zu erhöhen und den Frieden für alle sicherer zu machen. Das entspricht unserer Verantwortung, und wir werden uns dieser Verantwortung stellen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Vogel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Seit Ende des letzten Weltkrieges sind auf unserem Planeten über 50 000 atomare Sprengköpfe angehäuft worden. Allein in Europa lagern gegenwärtig über 10 000 dieser teuflischen Waffen, mehr als 7 000 davon in den beiden deutschen Staaten. Diese Waffen bedrohen europäische, vor allem aber deutsche Ziele in beiden deutschen Staaten mit einer Zerstörungskraft, die 140 000 Bomben des Typs entsprechen, der vor 42 Jahren Hiroshima vernichtet und über eine Viertel Million Menschen getötet hat. Das ist ein Vieltausendfaches dessen, was genügt, um Europa, in jedem Fall aber Mitteleuropa in eine unbewohnbare Wüste zu verwandeln. Seit Tschernobyl dämmert uns zumindest, was das in der Realität bedeuten würde.Einer der ersten, der in dieser Hinsicht einen weltweiten Lernprozeß in Gang gesetzt hat, ist der ehemalige amerikanische Verteidigungsminister Robert McNamara. Ich freue mich, daß er gerade heute auf der Ehrentribüne diese Debatte verfolgt, und entbiete ihm einen herzlichen Gruß.
Lange galt diese Entwicklung als zwangsläufig, ja, als unumkehrbar. Jetzt besteht erstmals seit 1945 die konkrete Chance, diesen Wahnwitz zu stoppen. Mehr noch: Es besteht erstmals die Chance, atomare Waffen nicht weiter anzuhäufen, sondern abzubauen, zu verschrotten.
Wir verdanken diese Chance der Bereitschaft der beiden Weltmächte, für ihre Mittelstreckenraketen in Europa Null-Lösungen zu vereinbaren. Generalsekretär Gorbatschow hat im Zuge dieser Bereitschaft das ursprünglich von ihm proklamierte Junktim zwischen diesen Null-Lösungen und einem amerikanischen Verzicht auf das SDI-Projekt aufgegeben und einen westlichen Vorschlag aufgegriffen, den Helmut Schmidt und Willy Brandt schon zu Beginn der 80er Jahre artikuliert haben. Präsident Reagan hat erfreulicherweise auf diese sowjetische Initiative, auf diese sowjetische Wende positiv reagiert.
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530 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987
Dr. VogelWird diese Chance genutzt, dann verschwinden in absehbarer Zeit fast 1 000 Raketen und mehr als 1 500 Sprengköpfe, die auf unser Territorium zielen oder von unserem Territorium auf Ziele in den Ländern des Warschauer Paktes gerichtet sind. Unser Volk, ja, ganz Europa und die Welt könnten aufatmen, wenn das, worauf sich die Weltmächte bereits im Grunde geeinigt haben, geschähe und Wirklichkeit würde.
Das biblische Wort von den Schwertern, die zu Pflugscharen werden, die Verheißung des Propheten, die die Friedensbewegung zu ihrer Losung gewählt hat, würde wenigstens in einem Teilbereich endlich Wirklichkeit werden.
Was aber tun Sie, Herr Bundeskanzler, in dieser Situation? Wie reagieren die Sprecher Ihrer eigenen Bundestagsfraktion, allen voran die Herren Dregger und Todenhöfer? Und wie reagiert mit Ihrer Duldung der Herr Bundesverteidigungsminister? Freuen sich die Herren darüber, daß die Null-Lösungen, als deren Haupturheber Sie sich doch immer und auch heute wieder bezeichnet haben, nun Wirklichkeit werden können? Unterstützen Sie mit dem Gewicht der Bundesrepublik das rasche Zustandekommen der Vereinbarungen? Danken Sie Präsident Reagan und Generalsekretär Gorbatschow für deren Verständigungswillen? Das alles hätte man doch von einer Fraktion und insbesondere von einem Bundeskanzler als selbstverständlich erwarten können, die seit Jahren davon reden, sie wollten angeblich Frieden schaffen mit immer weniger Waffen.
Jetzt ist die Probe auf dieses Wort abzulegen.
Aber, Herr Bundeskanzler, Sie reden eben nur davon.
Sie veranstalten eine Vielzahl von Besprechungen und Koalitionskonferenzen, die alle nur mit Vertagungen, nichtssagenden Floskeln oder der Feststellung enden, Sie wüßten noch gar nicht, worüber Sie eigentlich zu reden hätten, weil weder die Amerikaner noch die Russen Ihnen das bisher genau genug gesagt hätten. Und anschließend reden doch wieder alle, die an diesen Konferenzen teilgenommen haben, über das, was sie angeblich gar nicht kennen.
Ihre heutige Erklärung, Herr Bundeskanzler, hat diesen niederdrückenden Eindruck, den Eindruck des Gegeneinander und der Ratlosigkeit nicht korrigiert, sondern erhärtet und unterstrichen.
Ja, wir haben einen Bundeskanzler erlebt, der vondiesem Podium aus auch noch stolz darauf ist, daß beiall diesen Besprechungen nur Vertagungen und keine Ergebnisse herauskommen.
Jetzt, wo es darauf ankäme, unterstützen Sie die Null-Lösungen nicht, sondern bereiten ihnen immer neue Hindernisse, und Sie stellen immer neue Bedingungen, von denen vorher überhaupt keine Rede war, auch nicht in Ihrer Regierungserklärung.
Herr Wörner, Herr Dregger, Herr Todenhöfer und Herr Strauß haben gegen die Null-Lösung für die Mittelstreckenraketen größerer Reichweite mit Ihrer Duldung, Herr Bundeskanzler, seit Monaten polemisiert und intrigiert. Und diese Herren werden das selbstverständlich auch nach Ihrer heutigen nichtssagenden Erklärung tun; dafür kennen wir die Herren gut genug.
Gegen die Null-Lösung für die Raketen kürzerer Reichweite agitieren nicht nur diese Herren, sondern auch Herr Rühe, der sich bisher den Anschein eines Befürworters konkreter Abrüstungs- und Entspannungsschritte gegeben hat. Ja, Herr Wörner hat schon die Beschaffung neuer Raketen dieser Reichweite auf die Tagesordnung gesetzt und träumt davon, daß er die Pershing II wenigstens in Pershing I umwandeln und dann im Lande behalten kann.
Auch Sie selbst, Herr Bundeskanzler, haben die Null-Lösung für die Raketen kürzerer Reichweite heute doch keineswegs befürwortet, sondern in Ihrer Erklärung, soweit Sie nicht überhaupt nur Nebel verbreitet haben, mit einer Vielzahl von Bedenken und Vorbehalten in Frage gestellt.
Herr Bundeskanzler, Sie haben sich doch in der Vergangenheit bis zum Überdruß, ja, bis an die Grenze der Peinlichkeit Ihrer Freundschaft mit dem amerikanischen Präsidenten gerühmt. Wo bleibt denn jetzt diese Freundschaft? Jetzt fallen Sie dem Präsidenten doch geradezu in den Arm, ja, Sie entsenden Herrn Rühe in die Vereinigten Staaten, damit er dort gegen die Politik des Präsidenten, Ihres Freundes, argumentiert und Stimmung macht.
Und Sie versuchen, Herr Bundeskanzler, wenn auch bislang erfolglos, eine europäische Fronde gegen den Präsidenten zu formieren. Herr Dregger, lautstark unterstützt von einer Gruppe, die Herr Klein, bevor er Minister wurde, Stahlhelm-Gruppe genannt hat, geht noch einen Schritt weiter und fordert ausgerechnet jetzt die Stationierung zusätzlicher Raketen auf dem Boden der Bundesrepublik, zumindest aber
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987 531
Dr. Vogeldie Öffnung einer Option für solche zusätzlichen Stationierungen, einer Option, die der amerikanische Außenminister erst vor wenigen Tagen zutreffend als ein leeres, inhaltsloses Recht bezeichnet hat.
Was Sie heute über die Obergrenzen gesagt haben, Herr Bundeskanzler, geht doch in die gleiche Richtung. Die Obergrenze, die wir unterstützen, ist null, Null-Lösung auch für diesen Bereich.
Herr Bundeskanzler, gerade nach der Rede, die Sie hier soeben gehalten haben, müssen Sie sich ein paar Fragen gefallen lassen. Was wollen Sie jetzt eigentlich? Wollen Sie sowjetische Abrüstung? Oder wollen Sie westliche Aufrüstung? Wollen Sie mehr, oder wollen Sie weniger Waffen? Wie ernst sind eigentlich Ihre eigenen Abrüstungsvorschläge gemeint?
Noch in Ihrer Regierungserklärung am 18. März haben Sie festgestellt — das darf man Ihnen ja wohl vorlesen — : „Als Sorge bleibt die drückende sowjetische Überlegenheit bei den Mittelstreckenwaffen kürzerer Reichweite. "
Inzwischen will Generalsekretär Gorbatschow diese Waffen und damit die sowjetische Überlegenheit mit diesen Waffen auf Null bringen. Aber statt das zu begrüßen und zu akzeptieren, bringen Sie neue Einwendungen, zögern und lavieren Sie.Herr Bundeskanzler, haben Sie Ihre bisherigen Vorschläge eigentlich in der stillen Hoffnung gemacht, die sowjetische Seite werde sie nicht annehmen, sondern immerzu ablehnen? Die Frage drängt sich doch auf.
Oder, gelten eigentlich Ihre Vorschläge immer nur so lange, bis sie von der anderen Seite angenommen sind, und dann werden sie vergessen?Allmählich verstärkt sich der Eindruck, Sie und viele in Ihrer Fraktion zitterten insgeheim davor, daß Generalsekretär Gorbatschow auch noch weitere westliche Vorschläge annimmt und sich zu eigen macht. Das ist ein schlimmes Bild. Das zerstört internationale Glaubwürdigkeit in schlimmer Weise. Und — Sie müssen sich darüber im klaren sein — : Ihr Verhalten in den letzten Wochen, insbesondere zur Frage der Null-Lösung bei Raketen kürzerer Reichweite, fordert doch Zweifel an der Ernsthaftigkeit des Abrüstungswillens geradezu heraus.
Herr Bundeskanzler, Sie setzen sich zugleich immer mehr dem Verdacht aus, daß es Ihnen beim Doppelbeschluß nur um den ersten Teil des Beschlusses ging. Denn in der Logik dieses Beschlusses liegt es doch, die westlichen Raketen wegzunehmen, wenn die östliche Seite ihre Mittelstreckenraketen und das, was sie nachträglich dazugestellt hat, entfernt. Und das will sie doch jetzt. Wer sich dieser Logik widersetzt, gibt zu erkennen, daß der Doppelbeschluß für ihn eben kein Abrüstungsbeschluß, sondern in Wahrheit ein Aufrüstungsbeschluß war.
Sie berufen sich doch sonst ständig auf Helmut Schmidt und weinen Krokodilstränen darüber, daß er nicht mehr im Amt ist; heute wieder; das Bedauern war Ihnen ja direkt anzuspüren. Sie berufen sich dauernd auf ihn. Sie berufen sich — das ist Ihr gutes Recht — auf die Meinungsverschiedenheiten, die in unseren Reihen über den Doppelbeschluß bestanden; etwa darüber, ob es nicht schon im Herbst 1983 die Alternative gegeben hat, für die wir uns damals mit Mehrheit ausgesprochen haben. Warum eigentlich berufen Sie sich heute in der Frage der Null-Lösungen nicht auf Helmut Schmidt?
Die Antwort ist sehr einfach: Weil Helmut Schmidt — in Logik war er Ihnen schon immer überlegen — in der Logik des Doppelbeschlusses bleibt und die NullLösungen, und zwar beide Null-Lösungen ebenso befürwortet, wie es übrigens Georg Leber tut, auf den Sie sich doch auch sonst ständig berufen.
Sie tun das Gegenteil. Sie geben diese Logik preis und lavieren, statt den zweiten Teil des Beschlusses zu vollziehen, wenn Sie schon auf dieser Grundlage argumentieren und operieren.
Was bringen Sie und Ihre Freunde nun eigentlich zur Rechtfertigung dieser widersprüchlichen Haltung, zur Rechtfertigung einer Politik vor, die geeignet ist, uns in Gegensatz zu beiden Weltmächten zu bringen, die unser Land im äußersten Fall mit dem Odium belädt, eine historische Chance nicht genutzt zu haben? Sie sagen, die Null-Lösungen stärkten die Sowjetunion auf dem atomaren Feld. Abgesehen davon, daß Ihnen dies reichlich spät einfällt — denn Sie haben vorher die Null-Lösungen ja selber befürwortet und gefordert — , ist das schlicht und einfach falsch. Die Sowjetunion hätte als Folge der NullLösung deutlich mehr Raketen und Sprengköpfe zu beseitigen als der Westen. Sie wäre also in Zukunft in diesem Bereich eben gerade nicht mehr überlegen. Das sagen Ihnen doch nicht nur Sozialdemokraten, das sagen Ihnen doch die amerikanischen Sachverständigen, die Ihnen inzwischen wie einem störrischen Kind zureden, um Sie auf den Pfad der Vernunft zu bringen.
Sie sagen, die Null-Lösungen würden Europa vom amerikanischen Schutz abkoppeln. Aber auch damit
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532 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987
Dr. Vogelwidersprechen Sie diametral den Erklärungen der amerikanischen Administration,
insbesondere den Äußerungen von Außenminister Shultz und Staatssekretär Perle. Sie widersprechen auch der Erklärung, die Präsident Reagan selber am 29. April abgegeben hat.Sind Ihnen denn die Tausende von amerikanischen Nuklearwaffen, darunter luft- und seegestützte Marschflugkörper, atombombenfähige Flugzeuge, atomare Gefechtsfeldwaffen, die auch nach der NullLösung noch in Europa wären, nicht genug?Wir Sozialdemokraten sind im Gegenteil der Meinung, daß auch insoweit auf beiden Seiten ein weiterer Abbau möglich und notwendig ist.
Aber zur wechselseitigen Totalvernichtung reichen diese Waffen selbst dann noch allzumal, wenn sie drastisch reduziert werden. Also ist dieser Einwand doch selbst für diejenigen abwegig, die anders als wir meinen, der Friede hänge auf Dauer von der glaubwürdigen Fähigkeit zur wechselseitigen Totalvernichtung ab.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sollten wir nicht gemeinsam — weil Sie immer Helmut Schmidt zitieren — über den Satz Helmut Schmidts nachdenken, daß nach der Explosion der ersten Atomwaffe auf deutschem Boden kein einziger deutscher Soldat mehr kämpfen wird? Könnte es nicht sein, daß an dieser Realität alle noch so ausgeklügelten Strategien zur Makulatur werden, auch die, nach denen die alljährlichen WINTEX-Übungen noch immer ablaufen. Wäre das nicht das Thema, über das wir uns zu unterhalten hätten?
Übrigens: Wenn wir gegen die Absichten der amerikanischen Administration Bedenken erhoben haben, dann haben Sie uns stets Antiamerikanismus vorgeworfen und jeweils mit ihren publizistischen Hilfstruppen Kampagnen gegen uns in Gang gesetzt. Nach diesen Maßstäben müßten Sie sich jetzt auf Grund Ihrer Haltung selber des blanken Antiamerikanismus bezichtigen;
denn Ihre Argumentation bedeutet doch im Grunde nichts anderes, als daß Sie der amerikanischen Bündnisgarantie mißtrauen, daß Sie der offiziellen Erklärung der Regierung der Vereinigten Staaten keinen Glauben schenken. Ein besonders strammer „ Stahlhelmer " in den Reihen Ihrer Fraktion, Herr Dregger, Herr Lowack, Abgeordneter aus Hof,
hat ja auch bereits — man höre und staune — denAustritt aus der NATO als logische Konsequenz derNull-Lösungen bezeichnet. Wo bleibt denn eigentlich Ihr Entrüstungssturm, wenn vom Austritt aus der NATO in Ihren eigenen Reihen gesprochen wird?
Lassen Sie mich dazu nur folgendes sagen: Wir haben manche Kontroverse mit den amerikanischen Freunden ausgetragen; insbesondere mit der gegenwärtigen Administration. Aber anders als Sie haben wir nie bezweifelt, daß die USA es mit ihrer Präsenz in Europa und vor allem in Berlin ernst meinen, daß es sich bei den 100 000 amerikanischen Soldaten nicht um Touristen, sondern um die unübersehbare Willensbekundung einer Weltmacht handelt.
Schließlich behaupten Sie, die Null-Lösungen würden die konventionelle Überlegenheit der Sowjetunion unerträglich machen. Erst wenn diese beseitigt sei, könne man solchen Lösungen nähertreten. Ja, Herr Dregger hat sich dieser Tage sogar zu dem Satz verstiegen, die Null-Lösungen — das muß man sich langsam vergegenwärtigen — würden die Gefahr eines konventionellen Krieges d. h. doch im Klartext: die Gefahr eines sowjetischen Überfalls; denn daß der Westen einen solchen Krieg beginnen würde, werden Sie ja wohl nicht behaupten wollen — dramatisch erhöhen. — Die Null-Lösungen würden die Gefahr eines konventionellen Überfalles der Sowjetunion dramatisch erhöhen!Ich will hier nicht auf die Kontroversen eingehen, die unter Fachleuten über die Stichhaltigkeit der herkömmlichen Bedrohungsanalysen ausgetragen werden; etwa auf die Unterschiede in der Größe, Stärke oder Kampfkraft der Verbände, die da miteinander verglichen werden. Oder auf die Frage, welche Verbände welcher Staaten auf beiden Seiten einbezogen werden müssen. Helmut Schmidt hat in seinem bemerkenswerten Artikel in der jüngsten Ausgabe der „ZEIT" auch die Frage aufgeworfen, ob Sie nicht Divisionen als Bedrohungspotential zählen, die in Wahrheit in dieser Situation eher Bewachungsfunktionen in dem betreffenden Lande haben, in dem sie sich befinden.Ich will auch nicht auf die Tatsache eingehen, daß für die Heranführung der zweiten Staffel nach Mitteleuropa nur wenige Weichsel- und Oderübergänge zur Verfügung stehen, und daß der Gedanke, diese Heranführung könnte unbemerkt vor sich gehen, geradezu absurd erscheint.Ich lasse auch die Feststellung des Generals von Kielmannsegg — der ist ja weiß Gott kein Tagträumer — auf sich beruhen, daß die Sowjetunion im letzten Krieg bei der Abwehr der deutschen Invasion nur dann Offensiven eingeleitet hat, wenn ihre konventionellen Kräfte mindestens im Verhältnis eins zu vier, eins zu fünf, ja mitunter eins zu acht überlegen waren.
Dazu hat sich in einem ganz ähnlichen Sinne erst kürzlich der amerikanische Experte Jonathan Dean in seinem Buche „Watershed Europe" geäußert.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987 533
Dr. VogelIch übergehe auch die Tatsache, daß Sie die konventionelle Kriegsverhütungsfähigkeit der Bundeswehr und das erhebliche Risiko, das die Bundeswehr in Anbetracht ihrer Stärke und ihres Ausbildungsstandes für jeden Angreifer bedeutet, in bedenklicher Weise unterschätzen und damit der Bundeswehr, die zu Minderwertigkeitskomplexen überhaupt keinen Anlaß hat, im Grunde Unrecht tun.
Davon ganz abgesehen haben auch wir nicht bestritten, daß es auf sowjetischer Seite eine konventionelle Überrüstung gibt, zu deren Beurteilung allerdings auch die historischen Erfahrungen der Sowjetunion und Rußlands mitherangezogen werden müssen.Aber die richtige Antwort auf diese Situation ist doch nicht die Torpedierung oder Infragestellung der Null-Lösung oder die Aufstellung neuer Raketen. Die richtige Antwort sind konkrete Vorschläge des Westens für eine Null-Lösung auch für Reichweiten unter 500 km und für eine weitgehende strukturelle Abrüstung auch im konventionellen Bereich.
Die richtige Antwort sind insbesondere europäische Vorschläge und Vorschläge der Bundesregierung; und die sind überfällig.Es sollte doch niemand wundern, wenn demnächst die sowjetische Seite auch auf diesem Gebiet mit neuen Initiativen aufwartet, und der Westen dann einmal mehr den Eindruck eines aufgescheuchten Hühnerhofes macht,
und Sie, Herr Bundeskanzler, erneut ins Stottern kommen, so, wie Sie heute gestottert haben.
Natürlich gibt es dabei von einem bestimmten Punkt an auch einen Zusammenhang zwischen der Reduzierung taktischer Nuklearwaffen und dem Abbau konventioneller Streitkräfte. In den Gesprächen mit der DDR-Führung über das Projekt eines atomwaffenfreien Korridors ist dieser Zusammenhang ausdrücklich festgehalten und auch von seiten der DDR anerkannt worden.Aber das alles trifft nicht den Kern Ihres schlimmen Satzes, Herr Kollege Dregger, den ich verlesen habe, eines Satzes, von dem Sie, Herr Bundeskanzler, sich heute mit keinem Wort distanziert haben. Das Schlimme an diesem Satz ist nämlich die Verewigung eines alten Feindbildes, die Verewigung der jahrzehntelang gepflegten Vorstellung, die Sowjetunion warte unverändert auf die Gelegenheit, Westeuropa und die Bundesrepublik zu überfallen und ihrem Imperium einzuverleiben.Ich weiß, Herr Kollege Dregger, Sie haben sich 1985 anläßlich des 40. Jahrestages des Kriegsendes in einem offenen Brief an den amerikanischen Senat darauf berufen, daß Sie noch am 8. Mai 1945 bei Marklissa gegen die Rote Armee gekämpft haben. Und Sie haben aus dieser Tatsache Ansprüche gegen die Politik und das Verhalten der amerikanischen Führung hergeleitet.
Aber, Herr Kollege Dregger, sind Sie denn wirklich blind für die Einsicht, daß Ihrem Kampf bei Marklissa, daß dem Kampf gegen die Rote Armee nicht ein Überfall der Sowjetunion auf Deutschland, sondern ein Überfall Hitlers auf die Sowjetunion vorausgegangen war?
Sind Sie, Herr Kollege Dregger, noch immer blind für die Einsicht, welch ungeheure Opfer dieser Überall zunächst den Völkern Osteuropas — insbesondere dem russischen Volk — und in der Folge dann auch unserem Volk abverlangt hat? Herr Kollege Dregger, ich frage das fast beschwörend: Stehen denn für Sie in Ihrer geistigen Vorstellung der Kampf des 8. Mai 1945 bei Marklissa und die Warnung vor einem künftigen möglichen Überfall der Sowjetunion wirklich in einer ungebrochenen Linie, die Sie jetzt auch noch in die Zukunft verlängern wollen?
Außerdem: Was spricht denn eigentlich für die Absichten, die Sie der Sowjetunion heute als möglich unterstellen? Sehen Sie denn nicht, daß dieses riesige Land heute ganz andere Sorgen hat? Sehen Sie nicht, daß der erste Mann dieses Landes mit einer großen Kraftanstrengung die Rahmenbedingungen, unter denen sein Volk lebt — und ich sage: über die es Jahrzehnte stöhnt — , verändern und die wirtschaftliche Entwicklung im Innern voranbringen will?
— Hier haben wir den Zwischenruf, der meine Frage schon beantwortet: Das ist die Linie, die von da bis in die Gegenwart und Zukunft reicht.
Das sind Äußerungen, Herr Kollege Bötsch, die wir bisher nur von den Republikanern und von Herrn Schönhuber gehört haben.
Sie machen sich zum Bundesgenossen. Sehen Sie denn nicht, daß Gorbatschow die schwere Bürde der Rüstungslasten für sein Volk erleichtern will?
Was die Rüstungskontrollpolitik angeht, bin ich durchaus für Nüchternheit. Ich bin dafür, daß die Kriegsverhütungsfähigkeit des Bündnisses und unserer Bundeswehr gewahrt bleiben. Ich widerspreche
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534 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987
Dr. Vogelauch in diesem Zusammenhang der Illusion, wir könnten auf die Kriegsverhütungsfähigkeit der Bundeswehr oder des Bündnisses verzichten.Aber es ist doch wahr: Die Sowjetunion hat sich unter Führung dieses Mannes in zwei Jahren auf dem Gebiet der Abrüstungspolitik stärker bewegt als vorher in zwei Jahrzehnten. Sie hat auf die Berücksichtigung der englischen und französischen Kernwaffenpotentiale, jedenfalls in dieser Verhandlungsphase, verzichtet. Sie hat das Junktim mit SDI aufgegeben. Sie hat die Null-Lösung für die Mittelstreckenraketen mittlerer Reichweite akzeptiert
und sich damit zur Beseitigung aller Raketen bereit erklärt, die sie seit 1975 stationiert hat. Sie ist schließlich auch auf die Forderung eingegangen, die Mittelstreckenraketen kürzerer Reichweite zu beseitigen. Auch in der Frage der Verifikation hat es Fortschritte gegeben; Fortschritte, die wir übrigens erstmals bei unseren Gesprächen über eine chemiewaffenfreie Zone in Mitteleuropa herbeigeführt haben.Wer das alles nicht zur Kenntnis nehmen will — das sage ich gerade an die Adresse derer unter Ihnen, die so schreien oder im stillen so denken wie Herr Bötsch; und das sind eine ganze Menge — , der handelt nicht nüchtern, besonnen und vorsichtig, der handelt ideologisch. Der muß sich fragen lassen, ob ihm die Erhaltung alter Klischees und Vorurteile wichtiger ist als konkrete Schritte zur Befreiung der Menschheit von einem Alptraum, und zwar womöglich aus innenpolitischen Gründen.
Die Frage geht auch an Sie, Herr Bundeskanzler. Sie tragen schwere Verantwortung — innerhalb des Bündnisses sowieso, aber auch hinsichtlich unseres Verhältnisses gegenüber der Sowjetunion. Mit einiger Mühe haben Sie erst vor kurzem in Ihrer Regierungserklärung vom 18. März 1987 die Hindernisse und Belastungen auszuräumen versucht, die durch Ihre unbedachte Äußerung gegenüber dem ersten Mann der Sowjetunion und — schlimmer noch — durch Ihre Fehleinschätzung seiner Politik als bloße Propaganda verursacht worden sind. Jetzt sind Sie drauf und dran, die Fehler vom Ende des letzten Jahres neuerdings in bedrückender Weise zu wiederholen.Einer Ihrer Fraktionskollegen, Herr Schulhoff, hat in der letzten Woche öffentlich erklärt, die Bundesregierung hinterlasse in dieser Frage einen hilf- und konzeptlosen Eindruck. Dieser Äußerung eines CDU- Abgeordneten kann man nur zustimmen. Und dieser Eindruck hat sich doch heute noch verstärkt. Wenn Sie heute gesagt haben, Sie müßten noch weitere Prüfungen anstellen, ist das doch nur eine mühsame Verbrämung Ihrer Entscheidungsunfähigkeit oder Ihres Nein. Was wollen Sie denn eigentlich noch prüfen? In Wahrheit reden Sie doch nur deshalb vom Prüfen, weil Sie nicht wissen, was Sie eigentlich wollen, und weilSie keine Einigung in Ihrer Koalition herstellen können, noch nicht einmal in Ihrer eigenen Fraktion.
Ich muß noch einmal Herrn Schulhoff, Ihren Parteifreund und Fraktionskollegen, zitieren. Er hat nämlich auch gesagt, die Aufrechnungen der einzelnen Waffensysteme kämen ihm so kleinkariert vor — jetzt wörtlich — wie das Geschwätz alternder, sandkastenspielender Generale. Der Mann hat recht, wen immer er auch im einzelnen gemeint hat!
Zum Schutz der Generale muß ich allerdings sagen: Die, die er da kritisiert hat, gibt es nicht nur unter den Generalen. Die alternden, sandkastenspielenden Eiferer gibt es auch unter den Zivilisten, die gibt es in den Redaktionen bestimmter Zeitungen, und die gibt es vor allem in Ihrer eigenen Fraktion. Davon hat Herr Schulhoff wohl gesprochen!
Vielleicht können Sie, Herr Kollege Dregger, sagen, Sie seien nicht gemeint, weil Sie, glaube ich, nur Hauptmann oder Major waren, aber das ist der einzige Grund.
Mit Spannung erwarten wir in der heutigen Debatte die Ausführungen der Sprecher der FDP.
Insbesondere erwarten wir mit Spannung die Ausführungen des Kollegen Genscher, von dem es mich freut, daß es gelungen ist, daß er heute doch hier sein kann und nicht in Washington ist. Wir erwarten von Ihnen, Herr Kollege Genscher, übrigens mit besonderem Interesse ein Wort zu den Aktivitäten des Herrn Rühe in Washington, übrigens des gleichen Herrn Rühe, der uns einmal Nebenaußenpolitik vorgeworfen hat und selber Gegenaußenpolitik gegen seinen Außenminister macht.
Nach Ihrem Vorbild müssen wir uns also überlegen, ob der Fehler, den Sie bei uns kritisiert haben, der war, daß wir nicht Gegenaußenpolitik nach Ihrem Beispiel machen.
Schade, Herr Rühe, schade! Ich sage das auch sehr persönlich.Im übrigen, Herr Bundeskanzler, da müssen Sie sich doch Dümmere suchen: Sie können uns doch hier nicht weismachen, daß Herr Rühe diese Aktivitäten gegen Herrn Genscher ohne Wissen und Billigung des Bundeskanzlers entfaltet hat.
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Dr. VogelDas ist ja eine fabelhafte Koalition, und zwar fabelhaft, wenn Sie es gewußt und geduldet haben, und noch fabelhafter, wenn Sie keine Ahnung davon haben, wo der Herr Rühe herumreist.
Zwischen Ihnen, Herr Rühe und Herr Genscher, geht es ja unter Anleitung des Bundeskanzlers fast schon so fabelhaft zu, wie zwischen Herrn Biedenkopf und Herrn Pützhofen. Das ist offenbar das neue Modell.
Was Sie, Herr Genscher, bis vor wenigen Tagen erklärt haben, was die Kollegen Mischnick, Schäfer, Feldmann, Ronneburger und vor allem die Kollegin Hamm-Brücher öffentlich gesagt haben,
das klang ja nicht schlecht; das war so gut, daß wir das meiste davon in unseren eigenen Entschließungsantrag geschrieben haben. Sie finden dort alles wieder. Wenn Sie dabei bleiben, wenn Sie nicht wieder wakkeln, sondern stehen, wird es heute für das, was Sie draußen sagen, in diesem Parlament eine Mehrheit geben.
Es ist zu hoffen, daß Sie der Versuchung widerstehen, einer solchen Entscheidung durch ein Schlupfloch wieder im letzten Augenblick zu entkommen. Äußerungen über die Bedeutung, die Sie auf einmal den 72 Pershing-Ia-Raketen beimessen,
lassen da gewisse Befürchtungen aufkommen. Vorsorglich sage ich dazu: In Anbetracht der über 4 000 Sprengköpfe, die in jedem Falle in Europa auf westlicher Seite verbleiben, werden Sie die Null-Lösungen für die kürzeren Reichweiten doch wohl nicht aus diesem Grund in Frage stellen wollen, und Sie werden wohl auch nicht bestreiten, daß es sich bei den Sprengköpfen dieser Raketen nicht um deutsche, sondern um amerikanische Sprengköpfe handelt. Dies ist ja die originellste Wortschöpfung, die ich bei diesem ganzen Lamento bisher gehört habe, daß wir plötzlich mit diesen Raketen ein „Drittstaat" sind. Ich kann nur zu Ihren Gunsten, Herr Bundeskanzler, annehmen, daß Ihnen die Bedeutung des Wortes „Drittstaat" nicht ganz gegenwärtig ist.
Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren, wir Sozialdemokraten sind uns der großen Tragweite dessen, was in diesen Tagen und Wochen auf dem Spiel steht, voll bewußt. Wir wissen auch, was es bedeutet, daß Europa, vor allem wegen Ihrer Haltung — und Sie haben uns ja den Katalog vorgelesen, wo überall Sie noch tätig werden wollen — , trotz der positiven Äußerungen, die die Parlamentarische Versammlung der Westeuropäischen Union, also die parlamentarischen Repräsentanten Großbritanniens, Frankreichs, Italiens, Belgiens, Hollands, Luxemburgs und der Bundesrepublik, zu den Null-Lösungen abgegeben haben, trotz der übereinstimmenden, völlig einheitlichen Haltung aller sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien in der Europäischen Gemeinschaft, einmal mehr zur geschlossenen Vertretung seiner eigenen Interessen außerstande ist, daß es sich — und das ist wiederum vor allem eine Frage an Sie, Herr Bundeskanzler — von seinem Hauptverbündeten Amerika geradezu querulatorisches Verhalten vorwerfen lassen muß. Wir werden deshalb unsere europäische Initiative, die wir im März vorgelegt haben, mit gesteigertem Nachdruck verfolgen und unermüdlich für den Fortgang der europäischen Einigung kämpfen und dafür werben, daß Europa endlich mit einer Stimme spricht. Wir wären glücklich gewesen, wenn wir es in diesem Hause gemeinsam tun könnten.
Vor allem aber werden wir all unsere Kraft dafür einsetzen, daß die Chance für eine einschneidende Minderung der atomaren Bedrohung in Europa nicht in verzagter Unvernunft vertan, sondern daß sie im vitalen Interesse unseres Volkes, aller Deutschen, ganz Europas genutzt wird, damit die Kräfte frei werden für die Werke des Friedens, für die Überwindung des Hungers, für die Erhaltung der Biosphäre, für eine Welt, die wieder hoffen kann.Ich rufe die überwältigende Mehrheit unseres Volkes, die das ebenso will wie wir, auch von dieser Stelle aus dazu auf, sich zu Wort zu melden, so wie das beispielsweise die 131 Tübinger Professoren oder der Bischof von Limburg oder der Deutsche Gewerkschaftsbund oder der Vorsitzende Ihrer eigenen Organisation, der Jungen Union, im Einklang mit den Jungsozialisten und den Jungen Liberalen getan haben.
Das ist die Stunde aller, die den Frieden voranbringen wollen, die Stunde aller, die es nicht mehr bei Lippenbekenntnissen und Ausflüchten bewenden lassen wollen, die nicht wollen, daß ihre eigene Regierung den Abbau der Massenvernichtungssysteme behindert und möglicherweise, wenn sich Herr Dregger durchsetzt, sogar verhindert, sondern die wollen, daß wir die historische Gelegenheit erkennen und ergreifen.Ihre heutige Erklärung hat endgültig gezeigt, daß Sie, Herr Bundeskanzler, dazu nicht den Willen oder nicht die Kraft haben, daß Sie sogar eine neue Nachrüstungsdebatte in Kauf nehmen.
Weil das so ist, muß unser Volk Ihren Kurs korrigieren, muß unser Volk die Sicherung des Friedens selbst in die Hand nehmen — im Einklang mit den beiden Weltmächten,
im Einklang mit den Deutschen im anderen deutschen Staat, die ebenfalls nichts sehnlicher wünschen, als endlich von den Raketen in ihrem Territorium befreit zu werden,
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Dr. Vogelsich zu Wort melden mit den Mitteln, die das Grundgesetz erlaubt.In diesem Sinne greife ich Ihr Wort auf, die Abrüstungsdiskussion sei mitten in der Entwicklung. Ja; aber ich füge hinzu: Sie ist nicht mitten in der Entwicklung, sie ist erst am Anfang, aber sie wird von Tag zu Tag zunehmen, sie wird mächtig anschwellen, und an ihrem Ende wird sich die Vernunft Bahn brechen, werden die Raketen verschwinden — mit Ihnen, wenn Sie sich noch besinnen, sonst ohne oder notfalls auch gegen Sie. Von Ihnen, Herr Bundeskanzler, wird es dann heißen: „Gewogen und zu leicht befunden", nein, überhaupt nicht befunden, weil Sie sich in der Stunde der Entscheidung unentschlossen und ohne die Kraft zur Führung erwiesen haben.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Dregger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, wollen Abrüstung.
Wir wollen Abrüstung auf möglichst allen Feldern. Wir wollen Abrüstung, die die Sicherheit aller erhöht, auch unsere Sicherheit.
Aus diesem Grunde unterstützen wir die Abrüstungspolitik der Bundesregierung, die in den beiden Regierungserklärungen des Herrn Bundeskanzlers vom 18. März und vom heutigen Tage dargelegt worden ist.Meine Damen und Herren, Herr Vogel hat eben einen Brief in die öffentliche Debatte eingeführt, den ich im Zusammenhang mit Bitburg an den amerikanischen Senat gerichtet habe. In diesem Brief ging es ausschließlich um den Appell, den gefallenen Soldaten des Zweiten Weltkrieges, meinem gefallenen Bruder, meinen gefallenen Kameraden, die noch am 8. Mai 1945 in Schlesien ihr junges Leben beenden mußten, nicht die letzte Ehre zu verweigern. Ich habe diese Gedanken dann in meiner Rede zum Volkstrauertag näher ausgeführt. Ich finde es niederträchtig, Herr Kollege Vogel,
wie Sie diesen Appell in die heutige Debatte eingeführt haben.
Ich muß Sie, Herr Kollege Vogel daran erinnern, daß Ihre Partei bei allen sicherheitspolitischen Entscheidungen der Nachkriegszeit die Partei des Irrtums gewesen ist.
Es gibt keine sicherheitspolitische Frage von Gewicht, die Sie in der Nachkriegszeit nicht falsch entschieden hätten.
Ich will die beiden wichtigsten nennen.
Die erste betraf die Entscheidung Konrad Adenauers zur Aufstellung der Bundeswehr und zum Beitritt zur Atlantischen Allianz.
Sie, meine Damen und Herren von der SPD, haben diese Entscheidung erbittert bekämpft. Was wäre aus Deutschland und aus Westeuropa geworden, wenn wir uns damals nicht durchgesetzt hätten?
Westeuropa wäre nicht verteidigungsfähig. Denn Westeuropa kann ohne die Bundeswehr — und das heißt: ohne die Bundesrepublik Deutschland — nicht verteidigt werden. Die Bundesrepublik Deutschland wäre nicht Teil der freien Welt; sie wäre entweder unter einem kommunistischen Regime mit der DDR zwangsvereinigt worden,
oder sie wäre ein allseits mit Mißtrauen betrachteter, in seiner Handlungsfähigkeit eingeschränkter Pufferstaat zwischen Ost und West.Die zweite Fehlentscheidung der SPD betrifft die Abrüstung auf dem Wege des NATO-Doppelbeschlusses. Helmut Schmidt, der von Ihnen gestellte und gerade in dieser Frage von Ihnen verratene Bundeskanzler, und zwar auch ganz persönlich von Ihnen verratene Bundeskanzler, Herr Kollege Vogel, hatte diesen Beschluß in der NATO selbst initiiert. Aber er war mit diesem Beschluß in der SPD und an der SPD gescheitert.Helmut Kohl hat die von Helmut Schmidt initiierte Entscheidung verwirklicht, mit der Unterstützung der FDP und mit der Unterstützung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, die trotz größten öffentlichen Drucks, der sich bei einigen meiner Kolleginnen und Kollegen zu persönlicher Bedrohung gesteigert hat, diese Entscheidung getragen hat.Meine Damen und Herren, das Ergebnis unserer Festigkeit, die wir gegen die SPD durchgehalten haben, ist ermutigend. Zum erstenmal in der Nachkriegsgeschichte ist es zu ernsthaften Abrüstungsverhandlungen zwischen den Weltmächten gekommen. Wir, die CDU/CSU-Fraktion, begrüßen das und feiern das als einen großen Erfolg, an dem wir einen wesentlichen Anteil haben.
Wer sich in wichtigen sicherheitspolitischen Fragen so oft geirrt hat, wer von der geschichtlichen Entwicklung der Nachkriegszeit so oft widerlegt wurde wie Sie in den letzten 40 Jahren, Herr Kollege Vogel, der sollte etwas bescheidener, etwas selbstkritischer und etwas problembewußter auftreten, als Sie es heute morgen getan haben!
Meine Damen und Herren, jetzt müssen wir erreichen, daß die von uns mitbewirkte Abrüstungsbereit-
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Dr. Dreggerschalt der Weltmächte in einer Weise verwirklicht wird, die die Sicherheit unseres Landes nicht vermindert, sondern erhöht. Auch in dieser für die Zukunft unseres Volkes bedeutsamen Frage sind Sie, meine Damen und Herren von der SPD, auf der falschen Fährte. Abrüstung bedeutet noch nicht automatisch in jedem Fall mehr Sicherheit.
Nicht nur Rüstung, auch Abrüstung kann falsch programmiert sein mit dem Ergebnis, daß eine der beiden Seiten militärisch erpreßbar wird. Das muß vermieden werden.
Diese Erkenntnis ändert nichts an unserer Einschätzung, daß Frieden und Sicherheit auf niedrigem Rüstungsniveau besser sind als auf hohem Rüstungsniveau. Es ist auch sicherlich richtig, daß Frieden und Sicherheit ohne chemische und atomare Waffen besser sind als Frieden und Sicherheit mit chemischen und atomaren Waffen. Deshalb sind wir für Abrüstung, insbesondere auch für Abrüstung im chemischen und atomaren Bereich.Letzter Maßstab allerdings für die Beurteilung der Abrüstung kann nicht die Art und auch nicht das Niveau der Rüstung sein, die verbleibt, sondern das Kräftefeld, das durch Abrüstung geschaffen wird. Entscheidend ist, daß die Abrüstung das Gleichgewicht und damit auch die Sicherheit nicht vermindert, sondern erhöht.Meine Damen und Herren, Abrüstung kann sich nur in Etappen vollziehen. Aber jede Etappe muß das Ganze im Auge haben, und in jeder Etappe muß Sicherheit gewährleistet sein, zumal offen ist, ob weitere Etappen folgen werden. Dabei müssen Risiken in Kauf genommen werden. Die Einschätzung der Sicherheit darf nicht beckmesserisch sein. Vertrauensvorschüsse auch an den anderen sind notwendig, aber sie müssen sich in Grenzen halten, die verantwortbar sind.Meine Damen und Herren, wir müssen im Westen dabei bedenken, daß wir — anders als die Sowjetunion — nicht über Überlegenheiten verfügen, die wir abbauen könnten, ohne damit unsere Sicherheit einzuschränken. Wir müssen mit unseren Verbündeten zu gemeinsamen Einschätzungen kommen; das setzt Ehrlichkeit untereinander voraus. Unseren amerikanischen Verbündeten müssen wir klarmachen, daß es spezifisch deutsche und europäische Sicherheitsinteressen gibt. Die Lage im Fulda-Gap ist nicht nur gefühlsmäßig, sondern auch tatsächlich anders als die Lage im mittleren Westen der USA.Meine Damen und Herren, wenn der Fraktionsvorsitzende der SPD, Herr Kollege Vogel, diese meine Feststellung mit dem Vorwurf kontert, ich vertraute den Amerikanern nicht genug, dann ist das ebenso absurd wie verantwortungslos. Herr Vogel ist wirklich der letzte, der sich als Träger und Erhalter amerikanischen Vertrauens hinstellen könnte.
Die Art und Weise, wie Vogel und seine Partei seit Jahren verkennen, wie sehr wir auf den Schutz derUSA angewiesen sind, welches Risiko die Amerikaner mit der Stationierung ihrer Mittelstreckenwaffen auf deutschem Boden eingegangen sind, ein Risiko für ihre Städte, und wie unglaublich die Amerikaner für diesen Akt der Solidarität nicht etwa belobigt, sondern beschimpft worden sind, auch und nicht zuletzt von der SPD, der kann Ihrer Partei nur empfehlen, sich anderen Themen zuzuwenden und sich nicht auch noch als Gralshüterin der deutsch-amerikanischen Freundschaft aufzuspielen.
Von Ihrer Philosophie, die Amerikaner würden um so mehr für unsere Sicherheit tun, je weniger wir selbst für sie tun, kann man nur sagen, daß sie aller geschichtlichen Erfahrung widerspricht. Wir werden auf Dauer nur dann Unterstützung im Bündnis finden, wenn wir selber für die anderen wertvolle Verbündete sind.Meine Damen und Herren, die Notwendigkeit, Vertrauensvorschüsse in Grenzen zu halten, gilt natürlich auch und weit mehr noch für unser Verhältnis zur Sowjetunion. Wir beurteilen die dort in Gang gekommene Entwicklung mit Interesse und mit Hoffnung, aber auch nicht ohne Skepsis. Wie die Sowjetunion sich entwickelt, ist noch völlig ungewiß. Bisher hat sie an den Spannungsursachen, für die sie verantwortlich ist, noch nichts geändert. Das gilt für die offensive Ideologie des Sowjetsystems, für seine innere Struktur, für seine Mißachtung des Selbstbestimmungsrechts der Völker Ost-Mitteleuropas, für die Unterdrückung Afghanistans und für die Aufrechterhaltung der deutschen und der europäischen Teilung. Warten wir also ab, beobachten wir die Entwicklung aufgeschlossen und fördern wir sie, soweit wir das können, aber seien wir weder naiv noch beflissen!Ich glaube übrigens nicht, daß wir Herrn Gorbatschow helfen könnten oder müßten. Dieser Mann kann sich selbst helfen. Er vertritt natürlich die Interessen seines Landes, nicht unseres Landes, und die Interessen seines Systems klug, geschickt und wirksam. Die Einlassung von Herrn Woronzow, dem Verhandlungsführer der Sowjetunion in Genf, zu der Frage Null-Lösung oder doppelte Null-Lösung, verrät eine Flexibilität und eine Bereitschaft, auf deutsche Sicherheitsinteressen Rücksicht zu nehmen, die bei der Sowjetunion zur Zeit größer ist als bei der SPD.
Ich meine, Sie müssen nicht immer sowjetischer als die Sowjetunion sein.
Nun zum Kern unserer Sorgen. Der in Reykjavik vereinbarten Null-Lösung für Mittelstreckenraketen über 1000 km hat die Bundesregierung zugestimmt. Wir halten daran fest.
Aber was würde es bedeuten, wenn wir gleichzeitigder Null-Lösung für Reichweiten zwischen 500 und1000 km, der sogenannten doppelten Null-Lösung,
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Dr. Dreggerzustimmen würden? Auf diese Frage müssen wir doch uns selbst, unserem Volk, vor dem wir Verantwortung tragen, und unseren Verbündeten eine Antwort geben.
Bei dieser doppelten Null-Lösung blieben alle chemischen Waffen und alle Panzerarmeen bestehen, deren Kriegsschauplatz in einem Konfliktfall Deutschland wäre; das ist auf Grund der Geographie leider unvermeidlich. Es blieben auch alle atomaren Kurzstrekkensysteme mit Reichweiten unter 500 km bestehen. Diese Kurzstreckensysteme und Gefechtsfeldwaffen atomarer Art allein reichen aus, um Deutschland völlig zu zerstören.
Weder die sogenannte Null-Lösung noch die sogenannte doppelte Null-Lösung würde unser Land von der atomaren Bedrohung befreien. Das Besondere an den nach einer doppelten Null-Lösung verbleibenden atomaren Waffen der Weltmächte in Deutschland liegt darin, daß sie in einem Konfliktfall nur auf deutschem Boden beiderseits der Zonengrenze explodieren könnten. Ich bin sehr dankbar, daß der Herr Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung darauf hingewiesen hat, daß wir Verantwortung für alle Deutschen tragen, nicht nur für die Menschen, die in der alten Heimat von Herrn Honecker leben, sondern auch für die Menschen, die in der alten Heimat von Herrn Mischnick und von Herrn Genscher leben. Wir müssen sie alle in unsere Betrachtungen einbeziehen.
Was ich über die verbleibenden atomaren Waffen unter 500 Kilometern Reichweite gesagt habe, gilt nicht nur für die sowjetischen Waffen, sondern in gleicher Weise auch für die amerikanischen. Auch diese Waffen unseres Verbündeten könnten nahezu ausschließlich nur auf deutschem Boden explodieren. Wir würden uns auf diese Weise in der atomaren Bedrohung singularisieren, und zwar auf einem Felde, auf dem es aus geographischen Gründen nicht notwendig ist, also von uns selbst herbeigeführt.Ich frage jetzt alle Kolleginnen und Kollegen dieses Hauses: Wollen wir das wirklich? Werden nicht gerade diejenigen, die die doppelte Null-Lösung heute noch begeistert befürworten, nach ihrer Einführung die ersten sein, die das herbeigeführte Ergebnis als politisch und moralisch unvertretbar bezeichnen würden, und hätten sie nicht sogar recht?
— Ich meine Sie. — Wir haben das Mandat vom deutschen Volk und sind verpflichtet, auch seine Sicherheitsinteressen zur Geltung zu bringen.Ich füge noch einen Gesichtspunkt hinzu. Es gibt Erwägungen im westlichen Bündnis, die Lücken, die durch die doppelte Null-Lösung über 500 km Reichweite entstehen, durch Aufstockung der atomarenWaffen auf deutschem Boden mit Reichweiten unter 500 km zu schließen.
Das würde die Entwicklung von Montebello wieder umkehren. Wir Deutschen haben in Montebello den NATO-Beschluß durchgesetzt, einseitig 2 400 atomare Gefechtsfeldwaffen und Kurzstreckensysteme vom deutschen Boden abzuziehen.
— Nein, sie werden abgezogen ohne Gegenleistung. Die Sowjetunion hat bis heute diese unsere Vorabrüstung nicht durch entsprechende eigene Abrüstung honoriert. Aber trotzdem war diese Vorabrüstung, war dieser Beschluß von Montebello richtig. Wir müssen daran festhalten, und die Tendenz dieses Beschlusses darf nicht umgekehrt werden.
Ich bin jedenfalls, meine Damen und Herren, dagegen, die weiterreichenden Mittelstreckensysteme abzubauen und dafür Kurzstreckensysteme auf deutschem Boden zu vermehren, nicht nur, weil eine solche Lösung für uns Deutsche beiderseits der Zonengrenze unzumutbar ist, sondern auch, w sie keinen strategischen Sinn ergibt. Mittelstreckensysteme können den Angreifer auf seinem eigenen Territorium, zumindest in seinem Aufmarschgebiet treffen. Mittelstreckensysteme haben abschreckende Wirkung. Atomare Waffen unter 500 km können das nicht. Je kürzer die Reichweiten, um so deutscher die Zerstörung.Meine Damen und Herren, uns geht es um Kriegsverhinderung. Deswegen müssen wir auch im deutschen Interesse darauf bestehen, daß die Abschrekkungsphilosophie der NATO, die den Krieg verhindern will, ungeschmälert erhalten bleibt; dafür müssen wir eintreten.
Diese Erwägungen zeigen doch, daß wir jetzt nachdenken und argumentieren müssen und nicht zu allem gleich Null oder Amen sagen können. Es geht doch um eine Existenzfrage, und ich bin dem Bundeskanzler dankbar, daß er es ablehnt, sich in einer Existenzfrage unter Zeitdruck stellen zu lassen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Scheer?
Bitte.
Herr Kollege Dregger, Sie sagten eben: Je kürzer die Reichweite, desto deutscher die Bedrohung. Warum hält dann die Union gerade an den Raketen kürzerer Reichweiten fest?
Nein, das ist eine Darstellung, die nicht richtig ist.
Das ist völlig falsch. Wir halten nicht daran fest. Siekönnen aus meinen Worten entnehmen, daß wir Wert
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Dr. Dreggerdarauf legen, insbesondere die Bedrohungen abzubauen, die uns hautnah gegenüberstehen. Das sind die Panzerarmeen, die chemischen Waffen und die atomaren Kurzstreckenwaffen der anderen Seite. Darauf wollen wir unser Gewicht legen.
Meine Damen und Herren, da es um eine Existenzfrage geht, können wir als verantwortliche Regierung uns auch nicht nur nach Augenblicksstimmungen richten. Wir müssen uns nach dem richten, was uns nach sorgfältiger Analyse und gewissenhafter Prüfung als richtig erscheint.Vor allem: Wir erstreben eine gemeinsame europäische Position zu den Abrüstungsgesprächen der Weltmächte. Ich halte es für gefährlich und unwürdig, daß außereuropäische Mächte über Europa, aber nicht mit Europa verhandeln. Das habe ich bereits unmittelbar nach Reykjavik hier in diesem Hause gesagt.Meine Damen und Herren, der Bundeskanzler hat eben von seinen intensiven Kontakten mit den europäischen Staats- und Regierungschefs berichtet. Diese Kontakte haben offensichtlich Erfolg. Die Tatsache, daß gestern der belgische Ministerpräsident in dieser Frage der 500/1 000-km-Reichweiten für unsere deutsche Position volles Verständnis bekundet hat, ist ein Fortschritt. Aber nicht nur bei unseren europäischen Verbündeten, auch in den Vereinigten Staaten von Amerika, die jenseits des Atlantiks ein anderes Lebensgefühl haben als wir, finden wir zunehmend Verständnis für unsere legitimen Sicherheitsinteressen. Das gilt für die beiden Vorsitzenden der Verteidigungsausschüsse von Senat und Repräsentantenhaus, Sam Nunn und Les Aspin. Das gilt ferner für den früheren amerikanischen Außenminister, den ich sehr hoch schätze, Henry Kissinger, und seinen ehemaligen Präsidenten Nixon. Das gilt für den jetzt ausscheidenden NATO-Oberbefehlshaber General Rogers, der es wie alle seine Vorgänger immer als seine besondere Aufgabe angesehen hat, im ganzen Bündnis die europäischen Sicherheitsinteressen zur Geltung zu bringen, auch in den USA.Ich möchte bei dieser Gelegenheit meinem Fraktionskollegen und stellvertretenden Vorsitzenden Volker Rühe unseren herzlichen Dank sagen für die ausgezeichneten Gespräche, die er in Washington gehabt hat.
Meine Damen und Herren, meine Schlußfolgerung aus all dem: Die Abrüstungsgespräche der Weltmächte, die wir mit herbeigeführt haben — nicht Sie — und die wir begrüßen, enthalten zwar Risiken, die wir begrenzen müssen, aber auch begrenzen können. Sie enthalten aber vor allem große Chancen für den Frieden und für Europa. Die Chancen für Europa sind jetzt größer als jemals nach dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft im französischen Parlament 1954.Das sogenannte Monnet-Komitee, das Aktionskomitee für Europa, hat am 24. März 1987 in Rom einmütig einer Erklärung zugestimmt, in der auf meineAnregung hin folgender Satz aufgenommen wurde. Ich zitiere:Auf Dauer kann es keine wirtschaftliche und soziale Solidarität geben, wenn sich diese nicht durch eine gemeinsame Verteidigungspolitik auch auf den sicherheitspolitischen Bereich erstreckt.
Meine Damen und Herren, wer die Geschichte kennt, weiß, was dieser Satz bedeutet. Ich danke daher vor allem den französischen Kollegen des Komitees, an der Spitze dem Präsidenten der Nationalversammlung in Paris, Chaban-Delmas, aber auch den Kollegen Fabius, Faure und den anderen.Unsere Sicherheit im geteilten Deutschland beruht auf zwei Pfeilern: auf der Atlantischen Allianz und auf der Europäischen Union. Die Allianz müssen wir erhalten, und die Europäische Union müssen wir schaffen, um die Allianz zu entlasten. Wenn beide Pfeiler zu schwach werden würden, würde Deutschland in den Neutralismus verfallen. Dort sind Teile der SPD, sind die GRÜNEN und sind auch rechte Fundamentalisten inzwischen angelangt. Wir wollen das nicht. Wir halten fest an den Bindungen zur Atlantischen Allianz. Wir treten dafür ein, die Europäische Gemeinschaft zu einer politischen Union, d. h. auch: zu einer Sicherheitsunion weiterzuentwickeln. Von diesem gesicherten Fundament aus wollen wir die Politik der Entspannung und der Zusammenarbeit mit der Sowjetunion weiterentwickeln mit der Vision, Europa zur friedenserhaltenden Mitte zwischen den Weltmächten zu machen.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, bevor ich weiter das Wort erteile, darf ich eine Begrüßung vornehmen.
Auf der Ehrentribüne haben Seine Exzellenz der Präsident des Nationalkongresses der Republik Honduras, Herr Carlos Orbin Montoya, und seine Delegation Platz genommen.
Es ist mir eine Ehre, Sie als Gäste des Deutschen Bundestages begrüßen zu können. Ich heiße Sie in der Bundesrepublik Deutschland herzlich willkommen.
Der Besuch einer Delegation des Nationalkongresses von Honduras bestätigt die guten Beziehungen zwischen unseren Ländern.
Ich wünsche Ihnen, Herr Präsident, und Ihrer Delegation fruchtbare Gespräche und einen angenehmen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Schily.
Was sein muß, muß sein; Herr Rühe, da haben Sie recht. — Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die konstruktiven Abrüstungsvorschläge der Sowjetunion, die erfreulicherweise das starre Paritätsdenken früherer Zeiten, überwun-
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Schilyden und auch die Selbstfesselung mittels eines Junktims gelöst haben, sind von der Bundesregierung bekanntlich in sehr zwiespältiger Weise aufgenommen worden.Während Außenminister Genscher die Vorschläge begrüßt und dazu rät, den sowjetischen Generalsekretär Gorbatschow beim Wort zu nehmen, sind große Teile der CDU/CSU in großer Hektik bemüht, immer neue Hürden aufzubauen, um eine Abrüstungsvereinbarung der USA und der UdSSR im Bereich der Mittelstreckenraketen länger und kürzerer Reichweite zu verhindern. Das Entgegenkommen der Sowjetunion, bei den Verhandlungen die britischen und französischen Nuklearpotentiale auszuklammern, war praktisch die Annahme der im Jahre 1983 von westlicher Seite vorgeschlagenen Null-Lösung.Bei vielen Sprechern der CDU/CSU löste das erstaunlicherweise keineswegs Begeisterung aus, sondern im Gegenteil äußerste Unruhe. Sie wandten sich offen oder insgeheim gegen eine Null-Lösung und lieferten damit nachträglich den Beweis, daß das Eintreten für die Null-Lösung im Jahre 1983 ein bloßes Täuschungsmanöver war — in der damals sicheren Erwartung, daß die Sowjetunion nicht auf die Null-Lösung eingehen wird.
Unter diesen Umständen werden sich die Anstrengungen des Bundesaußenministers Genscher wohl nicht so sehr darauf richten müssen, den sowjetischen Generalsekretär beim Wort zu nehmen, sondern er wird dafür sorgen müssen, daß Bundeskanzler Kohl und die sonstigen Wortführer seiner Koalitionspartner beim Wort genommen werden, es sei denn, die FDP übt sich wieder einmal in der von ihr bevorzugten Sportart des Umfallens.
Die brutale Offenheit, mit der Franz Josef Strauß eingesteht, daß die Propagierung der Null-Lösung im Jahre 1983 „just for show" war, ist sicherlich nicht jedermanns Sache in der CDU/CSU. Wenn Franz Josef Strauß im „Bayernkurier" schreibt, daß der Vorschlag der Null-Lösung der — wörtliches Zitat —„Beschwichtigung der innenpolitischen Meinung, der leichteren Überwindung von Widerständen" dienen sollte, heißt das ja nichts anderes, als daß die Öffentlichkeit damals schlicht und einfach belogen wurde.
Dieses Eingeständnis ist in doppelter Hinsicht von Interesse: in erster Linie selbstverständlich insofern, als die Regierungskoalition oder mindestens Teile davon die Ernsthaftigkeit ihrer Abrüstungsvorschläge selbst ins Zwielicht bringt. Der zweite Gesichtspunkt — er sollte nicht vernachlässigt werden, gerade auf Ihre Zwischenrufe hin; zumal ja in letzter Zeit viel darüber gestritten wird, wem das Verdienst gebührt, daß es möglicherweise zu konkreten Abrüstungsvereinbarungen kommt — besteht darin, daß im Lauf der Jahre offenbar ein erheblicher Legitimationsdruck entstanden ist, der die westliche Seite veranlaßt hat, den Vorschlag einer Null-Lösung zu unterbreiten.
Wer über ein Gedächtnis mittlerer Reichweite verfügt, wird anerkennen müssen, daß es die Friedensbewegung war, die diesen Legitimationsdruck zustande gebracht hat.
Die Friedensbewegung kann deshalb auch mit Genugtuung darauf verweisen, daß sich in den konstruktiven Abrüstungsvorschlägen der Sowjetunion manche ihrer Ideen und Überlegungen wiederfinden.Jetzt sind Dr. Dregger und seine Freunde wie Dr. Kimble auf der Flucht; auf der Flucht vor der Null-Lösung, auf der Flucht vor den Gelübden der Vergangenheit.Das Abrücken vieler Wortführer der CDU/CSU von der Null-Lösung hat verständlicherweise in den Reihen der CDU/CSU erhebliche Verwirrung gestiftet. Eine ehrliche Haut wie der Kollege Schulhoff von der CDU/CSU-Fraktion
— ja, es ist immer ein bißchen ein Problem, wenn man einen Kollegen aus Ihren Reihen lobt, daß man ihm dann nicht schadet; aber ich versichere Ihnen meinen Respekt, Kollege Schulhoff —, der damals alles für bare Münze genommen hat, was gesagt wurde, findet sich jetzt nicht mehr zurecht. Sein Weltbild ist ins Wanken geraten. Er hat erfreulicherweise auch die Courage, das öffentlich zu äußern.
Bisher hat sich die Bundesregierung nicht dazu aufraffen können, Klarheit zu schaffen. Im Gegenteil: Es verstärkt sich der Eindruck, daß die Bundesregierung oder jedenfalls maßgebliche Vertreter des Koalitionslagers versuchen, eine Einigung zu hintertreiben. Nachdem ursprünglich — vornehmlich wiederum von Herrn Dregger — die Mittelstreckenraketen kürzerer Reichweite ins Spiel gebracht wurden, um eine Sperre gegen die Null-Lösung aufzurichten, konterte das die Sowjetunion zur Verblüffung auf westlicher Seite mit dem Vorschlag einer doppelten Null-Lösung, also auch einer vollständigen Abrüstung im Bereich der Mittelstreckenraketen kürzerer Reichweite.Diese Perspektive löste bei der Stahlhelmfraktion nun blankes Entsetzen aus. Daran ist bemerkenswert, daß die Stahlhelmstrategen, die selbstverständlich das Konzept einseitiger kalkulierter Abrüstungsmaßnahmen für verderblich halten, einseitige Abrüstungsmaßnahmen offenbar selbst dann als Einbuße an Sicherheit bewerten, wenn diese auf östlicher Seite stattfinden. Das ist ja sehr bemerkenswert, wenn man an die Null-Lösung in diesem Felde denkt.
Viele, unter ihnen Bundespräsident von Weizsäkker, sprechen heute von einer historischen Chance, die nicht vertan werden darf. Ich stimme dem zu. In
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Schilyder Tat: Es wäre verhängnisvoll und verantwortungslos, wenn sich ausgerechnet die deutsche Bundesrepublik einer echten Abrüstungsvereinbarung in den Weg stellen wollte, die zu einer drastischen Reduzierung des Potentials an Massenvernichtungsmitteln führen würde. Bei manchen scheint vollständig in Vergessenheit geraten zu sein, daß der gegenwärtige Zustand, die aktuelle Bedrohung mit einer Unzahl von Massenvernichtungsmitteln, die europäischen Völker, die Menschheit insgesamt existentiell gefährdet. Es ist schon erschreckend, zu sehen, wie die Fixierung reaktionärer politischer Kräfte auf ihr militarisiertes Denken immer noch in diesem Lande artikuliert wird.
Nachdem das Manöver gescheitert war, als dritte Sperre die konventionelle Frage aufzubauen, man das immer wieder erneuerte Phantom einer konventionellen Überlegenheit des Ostens ins Spiel bringen wollte, wird jetzt in allerletzter Minute der Versuch unternommen, ein neues, abstruses Junktim zu konstruieren, indem ein Zusammenhang zwischen der Forderung nach Wiedervereinigung und Abrüstung hergestellt werden soll. Das kann man ja in der gestrigen Ausgabe der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" nachlesen. Was kommt in solchen Gedankengängen zum Vorschein? Und das ist, glaube ich, letzten Endes das Denkmuster von Herrn Dr. Dregger und das seiner Freunde. Wollen Sie denn im Blick auf die Vergangenheit Massenvernichtungsmittel ernsthaft als Druckpotential zur Korrektur der Zweistaatlichkeit der deutschen Nation nutzen? Ist das wirklich ein ernsthafter Gedanke? Das ist ja ein Alptraum, wenn das so wäre. — Da nicken Sie.
Es ist interessant, wenn Sie nicken, Massenvernichtungsmittel zur Korrektur der Zweistaatlichkeit, zur Korrektur der Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges zu nutzen.
Das finde ich ja ein erstaunliches Ergebnis. WelcherGroßmachtwahn spukt noch in Ihren Köpfen herum!
Was heißt es, wenn der Bundeskanzler unter Berufung auf die Präambel des Grundgesetzes im Zusammenhang mit der Diskussion um die Abrüstung von Massenvernichtungsmitteln erklärt, er habe Interessen für ein Gebiet zu verantworten, das weiter reiche als die Grenzen der Bundesrepublik Deutschland? Soll der Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik wiederaufleben? Wollen Sie die alte Hallstein-Doktrin womöglich wieder aus der Mottenkiste auspacken? Das sind doch ganz gefährliche, höchst gefährliche Verknüpfungen, die Sie dort vornehmen.
Vielleicht kommt es dann auf die Überlegung heraus, die wir vor einigen Jahren einmal von Franz Josef Strauß gehört haben, der offenbar immer noch in der Wahnvorstellung befangen ist, die Deutschen könnten den Zweiten Weltkrieg endgültig gewinnen. Wollen Sie den Zweiten Weltkrieg tatsächlich noch endgültig gewinnen? Die Frage müssen Sie sich tatsächlich einmal vorlegen.
Befreiung Europas von sämtlichen Massenvernichtungsmitteln, die Sie fürchten wie der Teufel das Weihwasser,
ist für uns ein erstrebenswertes und von uns nachhaltig unterstütztes Ziel, dessen Verwirklichung die Sicherheit in Europa nicht beeinträchtigen, sondern im Gegenteil Sicherheit in Europa erst entstehen lassen wird.
Herr Abgeordneter Schily, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Friedmann?
Nein, ich habe nur noch wenige Minuten. — Daß Abrüstung auch im konventionellen Bereich notwendig und möglich ist, versteht sich von selbst. Auch insoweit hat die Sowjetunion deutliche Abrüstungsbereitschaft erkennen lassen. Die Konfrontation in Europa kann nur auf dem Weg der auch von dem sowjetischen Generalsekretär Gorbatschow angesprochenen Demilitarisierung Europas überwunden werden. Und damit wird der Weg zu einer konstruktiven und friedlichen Zusammenarbeit wirklich frei.Die politische Phantasie wird, so hoffe ich, auch zu neuen Formen gesellschaftlicher Kooperation und Vernetzung führen, die sich nicht mehr auf bloße staatliche Vertragsformen beschränkt. Wer in einer solchen Perspektive nur die Entwaffnung Europas und die Gefährdung des Zusammenhalts der westlichen Gesellschaft sieht, beweist damit nur, daß er sich von seinen alten, reaktionären politisch-militärischen Denkmustern nicht befreien kann.Ich habe wenig Hoffnung, daß die Bundesregierung auf dem Felde der Abrüstungspolitik lernfähig ist, aber vielleicht haben wir Glück. Um Ihnen einen Gefallen zu tun, Herr Rühe — denn Sie haben Italien ja erwähnt
— also, Sie dürfen sich nicht so oft wiederholen; das haben Sie nun schon zehnmal gesagt, einmal hätte es auch gereicht —,
will ich Ihnen mit einem italienischen Sprichwort behilflich sein, das heißt: A chi la fortuna, il bue gli fa un vitello. Das heißt auf deutsch: Wer Glück hat, dem macht der Ochse ein Kalb. Ich glaube, daß wir so viel
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542 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987
SchilyGlück mit der Bundesregierung auf dem Felde der Abrüstungspolitik leider nicht haben werden.Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Abgeordnete Mischnick.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Grundlage unserer Sicherheit ist das Nordatlantische Bündnis, ein Zusammenschluß freiheitlicher Demokratien, die nicht nur ein gemeinsames Sicherheitsinteresse, sondern auch gemeinsame Wertvorstellungen haben, der durch das gemeinsame Streben nach Verwirklichung der großen Idee von Freiheit und Würde der Menschen seinen inneren Gehalt hat. Dasselbe gilt für die Europäische Gemeinschaft. Das Nordatlantische Bündnis sucht das Ziel „Sicherheit für alle" zu erreichen, indem es sich eine doppelte Aufgabe stellt: Verteidigung und Entspannung.Hieran darf es keine Abstriche geben. Beide Ziele haben für uns Freie Demokraten gleiches Gewicht. Wer eines dieser Ziele vernachlässigt, wird auch das andere gefährden.
Gerade liberale Außenminister waren es, die durch Entspannungspolitik und Friedenssicherung über Jahre — Jahrzehnte jetzt — dazu beigetragen haben, daß wir den Friedenszustand haben, über den wir uns heute freuen können. Die Ostverträge, die deutschdeutschen Vereinbarungen, das Viermächteabkommen über Berlin, die Schlußakte von Helsinki, die deutsch-polnischen Vereinbarungen von 1975 usw. kennzeichnen Etappen dieses Weges.Ich will damit nur deutlich machen: Es hat seit Beginn dieser Bundesrepublik Deutschland Bemühungen jeder Regierung gegeben, zu Vereinbarungen zu kommen, die den Frieden sichern halfen und uns damit auch den Frieden in Europa erhalten haben.
Wir haben uns schon immer bemüht, durch eigene Initiativen dazu beizutragen, dieses Ziel zu erreichen. Ich will hier nicht alle einzelnen Bereiche aufzählen, in denen wir Deutschen Verzichte ausgesprochen haben, einseitige Verzichte ausgesprochen haben — ich denke an ABC-Waffen — , denen alle anderen bis heute nicht gefolgt sind, in denen wir Deutschen im Interesse der Erhaltung des Friedens Vorreiter gewesen sind.Nicht die Konservierung militärischer Überlegenheit, nicht Aufrüstung, nicht Vorherrschaft sind der Inhalt dieser Außen- und Friedenspolitik, sondern Abrüstung, Gleichgewichtigkeit, Partnerschaft und gerechter Interessenausgleich auf der Grundlage der Gleichberechtigung und der Unabhängigkeit.
Dies alles betreiben wir mit Hoffnung, aber ohne jede Illusion. Wir sind ja immer Realisten gewesen, aber keine Opportunisten, ganz gleich, in welcher Situation wir uns befanden.
Es ist unbestreitbar, daß die Menschheit immer mehr technisches Wissen und immer mehr ökonomische Möglichkeiten erworben hat, sich gegenseitig Schaden zuzufügen. Ausgangspunkt der Überlegungen ist: Je wirksamere Waffen ich besitze, desto sicherer kann ich mich fühlen, um so weniger kann es sich ein Gegner erlauben, mir seine politischen Ziele mit Gewalt aufzuzwingen. Hier liegt das politische und psychologische Motiv für die ständige Hochrüstung, die wir erleben.Auf der anderen Seite werden — seit Jahrzehnten schon — die Bestrebungen immer stärker, die sich diesem besorgniserregenden Prozeß entgegenstemmen. Immer nachdrücklicher wird auf die Verschwendung ökonomischer Mittel hingewiesen, die diese Rüstungsspirale produziert. Immer lauter wurde auf die Gefahren und vor allem auf die Sinnlosigkeit hingewiesen, die darin besteht, daß moderne Waffensysteme auf beiden Seiten so aufgehäuft sind, daß eine mehrfache, ja hundertfache Vernichtung gegenseitig möglich ist.Wo ist der Ausweg? Wo ist hier die Lösung zu finden?Wir Liberalen haben auf diese Fragen mit folgenden Punkten zu antworten.Erstens. Das Gleichgewicht der Mittel und Kräfte muß so stabil wie möglich erhalten werden.Zweitens. Vorgänge der Rüstung müssen so viel wie möglich transparent gemacht werden. Dies gilt insbesondere gegenüber dem Parlament, dem Souverän der Demokratie.
Drittens. Sicherheits- und Rüstungspolitik kann — das liegt auch in dem zuerst genannten Grunderfordernis der Gleichgewichtigkeit — weder mit einseitigen Vorleistungen noch mit einseitigem Verzicht ausgestaltet werden.
Ein Anhalten und schließlich ein Umkehren der Rüstungsspirale erfordert die Bereitschaft und Mitwirkung aller Beteiligten, d. h. in unserem Falle natürlich auch der anderen Seite: der Sowjetunion, des Warschauer Paktes. Ich bin überzeugt, 1987 werden entscheidende Fortschritte bei den Bemühungen um Rüstungskontrolle und Abrüstung erzielt. Es war schon immer die Haltung der FDP, einerseits die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland vor militärischer Bedrohung von außen durch gesicherte Verteidigungsfähigkeit zu gewährleisten, aber andererseits alle Versuche zu unternehmen, das Rüstungsniveau so gering wie möglich zu halten.Wir haben jetzt erstmalig in Europa seit Bestehen der beiden Bündnisse in Ost und West die Chance, zu einer einschneidenden Reduktion bzw. vollständigen Abrüstung von Waffensystemen zu kommen, die für die Bürger Europas in Ost und West eine existentielle
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MischnickBedrohung darstellen. Diese Chance wurde allein eröffnet durch die konsequente Politik der Bundesregierung, der Koalition in Abstimmung mit den Partnern der Atlantischen Allianz, ebenso wie durch die Neugestaltung der sowjetischen Politik unter ihrem Generalsekretär Gorbatschow. Ich wäre froh, wenn alle, die heute über Null-Lösung reden, bereit gewesen wären, die Verantwortung mit dafür zu übernehmen, daß wir die Null-Lösung erreichen.
Da haben Sie uns im Stich gelassen. Da haben Sie uns draußen Mahnwachen vor die Tür gestellt. Heute tun Sie so, als wäre das ein Erfolg Ihrer Politik, den wir hier vorzuweisen haben. Das Gegenteil ist der Fall.
Meine Damen und Herren, ich brauche hier nicht mehr im einzelnen dazu Stellung zu nehmen, was die Gründe für den Doppelbeschluß waren. Das ist bekannt. Ich erinnere nur daran, daß wir in diesem Hause nach einer zweitägigen leidenschaftlichen Debatte die Entscheidung getroffen haben, als Gegenantwort auf die sowjetische Raketenstationierung mit der Aufstellung eigener Waffensysteme reagiert haben. Natürlich gestehe ich jedem zu, in jeder Situation neu zu überdenken, zu überlegen und zu prüfen, ob er diese oder jene Argumente noch für richtig hält. Aber es ist nicht gut, dann, wenn man einen Weg eine ganze Strecke gemeinsam gegangen ist, plötzlich den Mut zur letzten Verantwortung nicht zu haben und dann hinterher andere zu beschuldigen, sie würden den gewählten Weg nicht konsequent weitergehen. Das ist nicht der richtige Weg.
— Dann sind Sie vielleicht etwas zu kurz hier, wenn Sie auf diese Idee kommen sollten, Kollege Horn. Aber da Sie nicht zu kurz hier sind, kann ich das nur in die Kategorie „Versuch des Zwischenrufs ohne sachlichen Inhalt" eingruppieren.
Meine Damen und Herren, wir haben diese Entscheidung mit der stets wiederholten Aufforderung getroffen, im Rahmen von Verhandlungen diese Stationierung der Gegenmittel zur SS 20 überflüssig zu machen. Unsere Zielvorstellung war und ist die NullLösung. Das ist ja auch in der Regierungserklärung am 4. Mai 1983 zum Ausdruck gekommen. Damals hatten wir als erstes Ziel die Abschaffung der sogenannten Mittelstreckenraketen größerer Reichweite vor Augen.Die gleiche Linie, die gleiche Dynamik bestimmen auch heute unser Handeln. Die FDP war sich damals und ist sich heute bewußt, daß es neben der Bedrohung durch die atomaren Waffensysteme aller Reichweiten erhebliche konventionelle Disparitäten zwischen Ost und West gibt, die in Zukunft genauso ausgeglichen werden müssen, wie die in Mitteleuropa hoch konzentrierten Streitkräfte in Ost und West insgesamt reduziert werden müssen. Das Problem der Abschaffung der chemischen Waffen, die Reduzierung der konventionellen Streitkräfte sind von uns immer und in allen Verhandlungsbereichen als gleichgewichtige Fragen betrachtet worden, die parallel zu vorhandenen Überlegungen weiterverfolgt werden muß. Natürlich muß das unter Wahrung beiderseitiger Sicherheitsinteressen geschehen und so bald wie möglich angepackt werden.Wir haben aber trotz der Kenntnis dieser Zusammenhänge aller Arten und Formen von Streitkräften und Waffen kein Junktim zwischen einer Reduktion der Mittelstreckenwaffen und der konventionellen Rüstung gesehen.Der NATO-Doppelbeschluß von 1979 wurde nicht im Hinblick auf die konventionelle Überlegenheit des Warschauer Paktes, sondern wegen der neuartigen Bedrohung durch die SS 20 gefaßt.Die Festigkeit der Haltung der NATO-Staaten bietet nun in Weiterentwicklung der Gespräche zwischen Präsident Reagan und Generalsekretär Gorbatschow in Reykjavik die Chance, zu einer Null-Lösung bei den Mittelstreckenwaffen mit einer Reichweite von 1 000 bis 5 000 km in Europa zu kommen.Ich habe noch nicht vergessen, wie voreilig am Tage und am übernächsten Tag nach Reykjavik in der Öffentlichkeit Prophezeihungen angestellt und auch in diesem Plenum dargelegt worden sind, die eigentlich nur mit der Vokabel Weltuntergangsstimmung belegt werden können.
Es hat sich wieder einmal gezeigt, wer mit Gelassenheit, Zielstrebigkeit, aber auch mit Festigkeit den Weg weitergeht, der kann dann auch zum Erfolg kommen.
Meine Damen und Herren, es ist doch unbestreitbar ein Erfolg, daß Klarheit darüber zu bestehen scheint — ich sage das noch etwas vorsichtig, weil die Verträge ja noch nicht abgeschlossen sind — , daß die angestrebte Null-Lösung bei Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite zwischen 1 000 und 5 000 km zustande kommt.Anstatt nun dieses Ergebnis einer deutschen Politik öffentlich zu würdigen, wird versucht, es zu verdrängen und andere Dinge in den Vordergrund zu schieben. Das ist auch nicht zum Nutzen der deutschen Politik; im Gegenteil, es kann ihr nur schaden.
Nun, meine Damen und Herren, darüber hinaus hat die UdSSR angeboten, auch im Bereich der Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite von 500 bis 1 000 km zu einer Null-Lösung zu gelangen. Das würde bedeuten, daß die UdSSR, wenn die Zahlen stimmen, im Bereich dieser Waffensysteme einseitig 160 Raketen abrüstet.Meine Fraktion hält dieses zusätzliche Angebot einer zweiten Null-Lösung für mehr als bedenkenswert, nämlich für wünschenswert und erstrebenswert.
— Dazu werde ich gleich etwas sagen, Herr KollegeVogel. Auch unser Bündnispartner, vor allem die
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544 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987
MischnickRegierung der USA, halten dies für eine akzeptable Lösung, die die Sicherheit Europas im Rahmen der Militärstrategie nicht gefährden würde. Wenn die Staaten der Allianz einer zweiten Null-Lösung zustimmen würden, wäre es gerade für die Bundesrepublik Deutschland notwendig, auch unter Berücksichtigung nationaler Interessen, die Solidarität im Bündnis zu sichern, d. h. man muß die Gewichte aller Bündnispartner nach beiden Seiten ausloten. Das heißt nicht, das eigene Sicherheitsinteresse zu vernachlässigen, sondern es heißt, es voll einzubringen, aber es auch an den Überlegungen der Partner zu prüfen, wie auch wir erwarten, daß die Partner unsere Überlegungen ebenfalls nüchtern prüfen.Meine Damen und Herren, meine Fraktion hegt keinen Zweifel an der Zuverlässigkeit des amerikanischen Verbündeten, wenn man uns bedeutet, daß ein Verzicht auf Mittelstreckenraketen der Reichweite von 500 bis 1 000 km keine Schwächung der Militärstrategie beinhaltet.
Für mich wäre es ein gewaltiger Fortschritt, wenn von Mitteleuropa und unserem Land nicht nur die Bedrohung durch Mittelstreckenraketen größerer Reichweite vollständig genommen würde, sondern darüber hinaus auch die Bedrohung von weiteren 160 Systemen verschwinden würde.
Ich kann Argumenten nicht folgen, die da lauten, daß die Strategie der NATO bei Verzicht auf einen Teil ihrer atomaren Waffensysteme insgesamt nicht mehr glaubwürdig wäre, denn wir haben noch genügend weitere Waffensysteme hier.
Eines ist mir klar: Im Bündnis muß sehr sorgfältig abgewogen werden, wenn man zu einer zweiten NullLösung kommt, welchen Entscheidungsbedarf das in anderen Bereichen mit sich bringt oder was parallel dazu erfolgen muß.Meine Damen und Herren, wenn wir uns zur Allianz bekennen, sollten wir natürlich auch die gesonderten französischen und britischen Potentiale nicht außer acht lassen.Alle diese Überlegungen, die jetzt verteidigungspolitisch, sicherheitspolitisch dargelegt worden sind, haben natürlich noch eine weitere Komponente, nämlich die des Verständlichmachens unserer Politik für die Bürger in unserem Land. Es geht um das Vertrauen der Bürger in die Glaubwürdigkeit unserer Politik. Denn wir haben unseren Bürgern erklärt, daß die Nachrüstung leider auf Grund der zunehmenden Bedrohung notwendig war, wir jedoch alle politischen Anstrengungen darauf richten wollten, diese besondere Form der Rüstung zu reduzieren, d. h. auf Null zu bringen. Dies gelingt uns im Bereich der Mittelstrekkenraketen größerer Reichweite.Wenn nun eine zweite Möglichkeit der Reduzierung angeboten wird, muß ich auch dies unter dem Gesichtspunkt prüfen — falls ich diese Möglichkeit sicherheitspolitisch nicht verantworten kann — , ob ich es für den Bürger ganz verständlich machen kann, wenn ich dann diese Möglichkeit nicht ergreife.
Ergreife ich sie nicht, dann muß ich überzeugende Argumente haben, warum dadurch, daß diese Systeme, die heute einseitig vorhanden sind, abgebaut werden, Lücken in anderer Weise aufgerissen werden, die ausgefüllt werden müssen.
Das alles muß geprüft werden. Zu diesem Ergebnis komme ich jedenfalls bei diesen Überlegungen.Meine Damen und Herren, wir haben im Zusammenhang mit den Gesprächen von Reykjavik der UdSSR vorgeworfen, daß sie unzulässigerweise Pakete von Verhandlungen zusammenschnüre und damit Teillösungen verhindere. Die Sowjetunion hat diese Pakete wieder aufgeschnürt und ist bereit zu Verhandlungen. Jetzt dürfen wir nicht durch mögliche neue Konditionen Erfolge bei den Verhandlungen gefährden.
Ich bin der Auffassung, daß sich im Rahmen des KSZE-Prozesses — vor allem auch seit dem Abschluß der KVAE-Verhandlungen in Stockholm 1986 — im militärischen Bereich positive, vertrauensbildende Erfahrungen entwickelt haben. Diesen Weg müssen wir weiter beschreiten. Ein Verhandlungserfolg bei der Reduktion der Mittelstreckenraketen längerer und kürzerer Reichweite — in welcher Form auch immer — wäre ein weiterer Meilenstein und ein Signal für die 1987 ebenfalls anstehenden wichtigen Entscheidungen über die Begrenzung der strategischen Waffensysteme zwischen den beiden Supermächten, für die von uns — wie ich schon sagte — dringend verfolgte Ächtung und vollständige Vernichtung der chemischen Waffen sowie für dringend notwendige Verhandlungserfolge bei den konventionellen Waffen.Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ohne die Festigkeit in der Haltung bei der Realisierung des NATO-Doppelbeschlusses in allen Komponenten durch CDU/CSU und FDP wären wir heute nicht in der Lage, über eine Null-Lösung für Mittelstreckenraketen größerer und möglicherweise auch kleinerer Reichweite hier zu debattieren. Das ist mehr, als Sie selbst für möglich gehalten haben.Meine verehrten Kollegen von der CDU/CSU, lassen Sie uns gemeinsam dafür eintreten, daß die NullLösung bei den Mittelstreckenwaffen längerer Reichweite tatsächlich dieses Jahr in Verhandlungen der beiden verantwortlichen Supermächte erreicht wird; lassen Sie uns aber auch alles tun, damit eine zweite Null-Lösung für den Bereich der Mittelstreckenraketen kürzerer Reichweite vorbehaltlos geprüft wird.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987 545
MischnickWir wollen keine neue Nachrüstung, sondern die Wegnahme einer zusätzlichen Bedrohung durch sowjetische Raketen.
— Ich gehöre nicht zu denen, die Fragen ablehnen. Ich bitte aber heute um Verständnis, daß ich geschlossen vortragen will. Vielleicht kann ich die Frage am Schluß zulassen, wenn Sie sie dann noch stellen wollen.Wir wollen keine neue Nachrüstung, sondern die Wegnahme einer zusätzlichen Bedrohung durch sowjetische Raketen. Wir sehen uns hierzu — wie ich schon sagte — Seite an Seite mit den Verbündeten.Bei dem gegenwärtigen Verhandlungsstand müssen wir uns darüber im klaren sein, daß bei den Verhandlungen zwischen den USA und der Sowjetunion in Genf bisher lediglich der Vertragstext für die erste Null-Lösung vorliegt, während es hinsichtlich der zweiten Null-Lösung noch weiterer Konkretisierungen bedarf, da dazu bisher nur Absichtserklärungen vorliegen. Ich darf das vielleicht so formulieren: Für die Lösung bei Raketen mit über 1 000 km Reichweite haben wir quasi eine erste Lesungsmöglichkeit, weil der Text vorliegt. Die Entscheidung kann gefällt werden, wenn alles vorhanden ist. Bei dem Vorschlag „500 bis 1 000 km" haben wir noch nicht einmal einen Referentenentwurf, sondern haben nur davon gehört, wie der Inhalt eines Referentenentwurfs aussehen kann, wobei noch Unterscheidungen in der Frage getroffen werden, ob z. B. die Pershing I a dabei außer Betracht bleibt oder nicht außer Betracht bleibt.Herr Kollege Vogel, Sie haben vorhin eine abwertende Bemerkung darüber, uns als „Drittstaat" zu bezeichnen, gemacht. Ich möchte es doch rein sachlich sehen. Die Frage, ob die Pershing Ia in der Bundesrepublik bleiben kann oder nicht, ist gerade für die Bündnispartner England und Frankreich ein ganz entscheidender Punkt, wenn es darum geht, ob sie einer Null-Lösung bei den kürzeren Reichweiten zustimmen können oder nicht,
weil es, wenn dies einbezogen würde, zu dem Ergebnis führen würde, daß sie in weitergreifende Überlegungen, die sie bisher abgelehnt haben, einsteigen. Deshalb muß man das mit in die Überlegungen einbeziehen.
Herr Kollege Bahr, Sie sagen dazu nein. Ich nehme zur Kenntnis, daß Sie nein sagen. Ich stelle nur fest, daß das ein Punkt ist, der bisher eine Rolle gespielt hat, was dazu geführt hat, daß die Amerikaner, als die P I a wieder einbezogen wurde, das als Grund genommen haben, es abzulehnen.Dies alles macht doch sichtbar, daß hier in bezug auf die Vorschläge selbst ein weiterer Klärungsbedarf und ein Verhandlungsbedarf besteht, bevor man zu Entscheidungen kommen kann. Deshalb kann ich Ihnen, meine verehrten Kollegen von der SPD, sagen: Dann, wenn Sie in diesem Bereich der kürzeren Reichweite wirklich das optimale Maß haben wollen, müssen Sie die Unsicherheit, wie die Vorschläge tatsächlich aussehen, und die Erklärung von sowjetischer Seite, man könne sowohl die Waffen mit über 1 000 km und die mit unter 1 000 km Reichweite in einem Vertrag miteinander verbinden als auch getrennte Verträge über die Waffen mit über 1 000 km und die mit unter 1 000 km Reichweite schließen, zum Anlaß nehmen, dies einer sorgfältigen weiteren Prüfung zu unterziehen.Die sorgfältige weitere Prüfung erfolgt bei uns normalerweise in den Ausschüssen. Deshalb ist es immer sinnvoll, solche Fragen in die Ausschüsse zu überweisen und sie dort zu beraten. Dies wollen Sie offensichtlich nicht. Das bedeutet für mich, daß es Ihnen im Augenblick gar nicht in erster Linie um die letzte Abklärung von Gesichtspunkten, die man so oder so werten kann, geht, sondern vielmehr darum, möglichst in einer Sicherheitsfrage demonstrativ etwas darzustellen, was doch der sorgfältigsten, detaillierten Beratung bedarf. Das ist der Grund, aus dem wir der Überzeugung sind, daß zu diesem Zeitpunkt bei keinem der Anträge die Reife vorhanden ist, um darüber im Plenum des Deutschen Bundestages zu entscheiden.
Vielmehr muß man weiter über sie beraten, um dann zu sehen, ob man zu einer Entscheidung kommt — und gegebenenfalls zu welcher.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Abschluß noch folgende Bemerkung machen. Unsere Sicherheitspolitik muß immer davon ausgehen, daß es keine einseitige Verwundbarkeit gibt. Das heißt, für uns Deutsche ist es wichtig, in alle Sicherheitsüberlegungen den Gesichtspunkt einzubringen, daß wir nicht die einzigen sind, die verwundbar sind. Umgekehrt darf es auch keine einseitige Unverwundbarkeit geben,
denn wenn jemand einseitig unverwundbar ist,
ist das eine Erhöhung des Risikos.
Wenn man diese beiden Gesichtspunkte in aller Sorgfalt prüft, können wir — da bin ich sicher — zu einem Ergebnis kommen, das den deutschen Interessen dient.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Bahr.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die bisherige Debatte hat, wenn man sie auf einen kurzen Nenner bringen will, ein interessantes Ergebnis gehabt: Erstens: Die Bundesregierung hat keinen Standpunkt geäußert. Zweitens: Herr Dregger hat einen Standpunkt geäußert, nämlich gegen die doppelte Null-Lösung. Drittens: Herr Mischnick hat
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546 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987
Bahrauch einen Standpunkt geäußert; er würde die doppelte Null-Lösung befürworten.
Die einzige Formel, auf die sich die Koalition im Augenblick verständigt, ist die Prüfungsformel. Das ist der Zustand dieser Koalition in einer für unser Land vitalen Frage.
Zum erstenmal, meine Damen und Herren, seit dem Nachrüstungsbeschluß des Jahres 1979 kann dieser Beschluß sein Ziel erreichen, nämlich die potentielle Bedrohung unseres Landes durch die sowjetischen SS 20 zu beseitigen. Innenpolitisch wäre dies die Gelegenheit, erbitterte Auseinandersetzungen der vergangenen Jahre zu beenden und miteinander zu überlegen, wie es denn im Interesse Europas weitergehen kann. Außenpolitisch wäre das die Gelegenheit, das besondere Gewicht und die unentbehrliche Rolle unseres Landes, die Verantwortungsgemeinschaft der beiden deutschen Staaten zu nutzen, um mehr Sicherheit für Europa und um konventionelle Stabilität vom Atlantik bis zum Ural zu erreichen.Was in Wirklichkeit geschehen ist, hat Hans-Jochen Vogel beschrieben. Die Formulierung unseres Standpunktes in einer vitalen Frage unserer Sicherheit wird bis zum heutigen Tage abhängig gemacht von der Kenntnis eines sowjetischen Formulierungsvorschlags. Haben wir denn in dieser Frage nicht einen eigenen Standpunkt?
Konnten wir ihn denn nicht seit sechs Monaten entwickeln? Müssen wir erst auf einen sowjetischen Wortlaut warten, ehe wir unsere Interessen formulieren können? Ist es denn nicht schon vermessen zu fragen, ob es für diese vitalen Probleme unserer Sicherheit nicht vielleicht sogar einen eigenen Vorschlag gibt?Der erbärmliche Zustand, in dem sich Regierung und Koalition zeigen, kann auf die Einschätzung in Washington, in Moskau, in Paris, in Ost-Berlin und in anderen Hauptstädten nicht ohne Wirkung bleiben. Es ist erschreckend, in welchem Umfang und in welcher Geschwindigkeit Gewicht und Ansehen der Bundesrepublik vermindert werden.
Ich drücke das sehr zurückhaltend aus, denn dies zu erleben tut weh.
Verantwortung dafür trägt auch der Vizekanzler, wenn er sich von Herrn Geißler den Mund verbieten läßt und es zuläßt, daß sich Herr Rühe brüstet, die Amerikaner gegen die doppelte Null-Lösung eingenommen zu haben.
Er erweckt bei Wählern den Eindruck, als wolle er diedoppelte Null-Lösung, während er hinnimmt, daßDregger, Rühe, Todenhöfer, genau das Gegenteil beschließen. Herr Dregger hat ja heute die Argumente gegen die doppelte Null-Lösung festgelegt, während der Kanzler noch prüfen will.Wir könnten so schön streiten, Herr Mischnick, ob die Null-Lösung ein Erfolg dieser Bundesregierung sein würde; aber das peinliche und widersprüchliche Durcheinander in der Koalition wird ja wohl niemand mehr als Erfolg bezeichnen. Ist es denn wirklich ein Erfolg, wenn es zur patriotischen Hoffnung geworden ist, daß sich Washington diesmal über Bonn hinwegsetzt?
Wenn erst die Nachrüstung zur sowjetischen Null-Bereitschaft geführt hat, dann ist schwer erklärbar, wieso bei Mittelstreckenwaffen kürzerer Reichweite die sowjetische Null-Bereitschaft ohne Nachrüstung zustande gekommen ist. Ihre ganze Logik vom Erfolg der Stärke funktioniert doch nicht mehr seit der sowjetischen Bereitschaft zur doppelten NullLösung.
Wenn es zur Null-Lösung kommt, dann nicht wegen dieser Regierung, sondern trotz dieser Regierung.
Herr Bundeskanzler, Sie haben heute morgen auch vergessen, daß Sie schon im Februar letzten Jahres versucht haben, Reagan in den Arm zu fallen, als es damals um die sogenannte differenzierte Null-Lösung ging. Die Diskussion hat sich doch völlig verändert, nicht ob die Sowjetunion Abrüstung will, sondern ob die Bundesregierung Abrüstung will, wird getestet.
Die Amerikaner jedenfalls wollen sie auf dem ganzen Mittelstreckensektor. Daran ist Zweifel nicht mehr möglich.Ich gebe zu, daß ich früher Zweifel gegenüber den amerikanischen Absichten gehabt habe. Ich revidiere das. Ich bin darüber sehr froh.Ich will nur hinzufügen: Nicht die Sozialdemokraten haben ihr Verhandlungsziel zu revidieren. Wir wollten und wir wollen Null bei Mittelstreckenraketen längerer wie kürzerer Reichweite. Wenn die Sowjetunion damals Anfang der achtziger Jahre die Vorschläge gemacht hätte, die Gorbatschow heute macht, wäre uns viel erspart geblieben.
Wir wären heute nicht weniger sicher als damals.Während der ersten Verhandlungsrunde ist die SPD für Reduktion eingetreten, während die Union für die Nachrüstung war. Wir hätten den Waldspaziergang angenommen, wenn man uns gefragt hätte.
Wir haben den amerikanischen Vorschlag wie densowjetischen Vorschlag auf Null unterstützt, während
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987 547
Bahrdie Union das sowjetische Übergewicht bei Mittelstreckenraketen kürzerer Reichweite beklagt hat und beklagt. Wir sind gerade deshalb auch für die NullLösung bei den kürzeren Reichweiten, konkret: zwischen hundertfünfzig und tausend bis fünftausend Kilometern. Alle diese Systeme, amerikanische und sowjetische, sollten weg.Kein Einwand dagegen ist stichhaltig. Es wäre eher eine Abkoppelung, wenn die Vereinigten Staaten ihre zahlreichen see- und luftgestützten strategischen Systeme nicht bereit wären im Ernstfall zur Verteidigung Europas einzusetzen. Aber das ist nach der Erklärung des amerikanischen Präsidenten nicht der Fall. Tausende auf See gestützte Cruise Missiles sind nicht weniger Abschreckung als einige hundert landgestützte. Tausende von verbleibenden amerikanischen Atomsprengköpfen sind mehr als genug Abschreckung. Es ist schon ziemlich jämmerlich, wenn die Herren Reagan und Perle und Burt den Herren Dregger und Rühe zurufen müssen: Fürchtet euch nicht, wir haben doch noch genug.
Darüber hinaus sind 250 000 amerikanische Soldaten mit Frauen und Kindern mehr Abkoppelung als ein paar hundert Sprengköpfe.
Die doppelte Null-Lösung würde auch alle Pläne zunichte machen, durch Umrüstung der Pershing II in Pershing I statt Abrüstung neue Aufrüstung zu machen.Im übrigen müssen wir die Klarheit über den nicht nuklearen Status der Bundesrepublik behalten.
Die sogenannte deutsche Pershing I haben wir bezahlt. Wir dürfen sie auch warten. Aber die Sprengköpfe sind allein in amerikanischem Besitz und unter amerikanischer Obhut. Nicht Herr Vogel, Kollege Mischnick, sondern der Bundeskanzler hat heute früh die Öffentlichkeit irregeführt, als er sie als Drittstaatenwaffen bezeichnet hat.
Wir warnen hier vor einem Zwielicht, das nur den Verdacht auf den deutschen atomaren Ehrgeiz wekken könnte.
Wir haben heute morgen von dem Kollegen Dregger gehört: Wenn nur noch atomare Gefechtsfeldwaffen hier wären, würde das die nukleare Auseinandersetzung allein auf deutschem Boden bedeuten können — also die Singularisierung zu deutschen Lasten. Das träfe logisch doch nur zu, Kollege Dregger, wenn man den Amerikanern unterstellte, sie würden von den Tausenden verbleibenden Waffen zur Verteidigung der Bundesrepublik keinen Gebrauch machen. Aber wenn die Gefahr der Singularisierung von Ihnen ernst gemeint ist, dann müßte diese Koalition doch sofort fordern, sämtliche amerikanischen chemischen Waffen vom Boden der Bundesrepublik zu entfernen.
Denn auf diesem Feld stehen wir doch allein und einzig da.
— 1992, für den Fall, daß in der Zwischenzeit binäre neue amerikanische Waffen produziert werden.
— Ich bitte um Entschuldigung. Wir werden noch darüber zu streiten haben. Falls das weltweite Abkommen nicht gelingt, wird diese Bundesregierung noch zu klären haben, ob sie wirklich ein Vetorecht hat, wie sie behauptet und wie es in Amerika geleugnet wird. Das werden wir erfahren.
Schließlich zeigt sich in dieser Argumentation ein tiefgreifender Unterschied in der Art des Denkens; denn wer so argumentiert wie Sie heute morgen, Kollege Dregger, denkt in Kriegsführungskategorien.
Ich halte das für grundfalsch. Die Politik darf nicht dem militärischen Denken folgen, das in der Tat überlegen muß, was zur Kriegsführung nötig wäre, um ihn zu vermeiden. Die Politik muß von der Erkenntnis Helmut Schmidts ausgehen, daß es keine Kriegsführungsfähigkeit in der Bundesrepublik mehr gäbe, nachdem die erste Serie von Atomwaffen explodiert wäre.
Die Bereitschaft der Deutschen zum Kampf wäre nach 20 Atombomben nicht größer als die der Japaner nach Hiroshima und Nagasaki. Die Politik muß Atomwaffen aus der Rolle geplanter hilfsweiser Gefechtsfeldwaffen herauslösen
und, solange es sie gibt, auf ihre politisch abschrekkende Wirkung zurückführen. Das NATO-Ziel, die atomare Schwelle zu heben, darf nicht durch die Erklärung ihrer Unentbehrlichkeit de facto ins Gegenteil verkehrt werden.
Damit bin ich bei unserem Standpunkt zu den taktischen atomaren Gefechtsfeldwaffen und Kurzstrekkenwaffen. Zunächst muß man hier auch einer Irreführung der öffentlichen Meinung entgegentreten. Die völlige Beseitigung aller Mittelstreckenwaffen bedeutet nicht die Denuklearisierung Europas.
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548 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987
BahrDie nukleare Abschreckung gäbe es dann noch immer, von den Gefechtsfeldwaffen über die Kurzstreckenraketen, über die Mittelstreckenwaffen, luft- und seegestützt, bis zu den strategischen Interkontinentalwaffen. Es ist falsch, Abschreckung als eine Leiter zu sehen, die unbenutzbar wird, wenn eine Sprosse, die landgestützten Mittelstreckensysteme, herausgebrochen wird.Wir würden mehr Sicherheit bekommen, als wir in den letzten 25 Jahren vor der Stationierung hatten, als wir trotz des damaligen sowjetischen Mittelstreckenmonopols sicher waren. Abschreckung hieß damals und heißt heute: Ein Angriff auf Europa bedeutet Krieg mit Amerika. Das ist übrigens die verläßlichste Basis der Sicherheit Berlins und erst recht der Bundesrepublik.Selbst wenn es keine amerikanischen Nuklearwaffen auf europäischem Boden gäbe, selbst wenn wir die französischen und britischen Waffen vergäßen — ich stimme Herrn Mischnick zu, wir können das nicht —, gäbe es immer noch eine nukleare Abschreckung. In dem dichtbesiedelten Mitteleuropa gibt es mehr als 100 Atomreaktoren, und das heißt mehr als 100 potentielle Tschernobyls.
Niemand kann doch hoffen, daß die Geschosse eines rein konventionellen Krieges um diese Reaktoren herumfliegen würden.
Ein oder zwei Dutzend explodierende Reaktoren würden doch Europa lähmen. Wir leben in einer Gegend, in der der Wind meist von West nach Ost weht. Es gibt in Europa eine atomare Abschreckung unabhängig von Waffen.
Die Kurzstreckenwaffen und die taktischen Atomwaffen stehen heute in einem unlösbaren Zusammenhang mit den konventionellen Streitkräften. Die Gespräche, die wir mit der SED zum Thema eines Korridors geführt haben, haben deutlich werden lassen, daß die technische Entwicklung, z. B. der doppelverwendungsfähigen Artillerie, es objektiv unmöglich macht, eine eindeutig saubere Trennung zwischen atomaren und nur konventionellen Systemen dieser Art kontrollierbar vorzunehmen.Wenn einigen die Gefahren einer doppelten NullLösung zu groß werden, die durch die atomaren Gefechtsfeldwaffen dann noch bestehen, dann kann man doch einfach raten: Dann laßt uns doch den Korridor machen! Er würde jedenfalls bedeuten, daß weder die sowjetischen noch die amerikanischen Atomwaffen uns oder die DDR erreichen können. Er würde auch tiefgreifende erste Einschnitte im konventionellen Sektor dieser doppelverwendungsfähigen Artillerie und damit eine Reduktion von Angriffsfähigkeit bedeuten. Der Einwand, daß man dort hineinschießen kann, zieht nicht mehr, wenn die NullLösung bei Mittelstreckenraketen vereinbart wird.
Der Einwand, daß man solche Waffen im Krisenoder Kriegsfall wieder nach vorn ziehen könnte, führt geradezu auf ein Hauptinteresse der deutschen Politik. Das Hauptinteresse ist nicht die Vorbereitung zur Kriegsführung, sondern die größtmögliche deutsche Souveränität zum Krisenmanagement in Zeiten der Spannung, um Krieg zu verhindern.
Dies ist bisher bei allen Überlegungen der Bundesregierung zu kurz gekommen oder jedenfalls nicht erkennbar und würde in der Konsequenz auch eine Reihe eigener Wünsche an unsere Verbündeten auslösen. Wir werden darüber später und an anderer Stelle zu diskutieren Gelegenheit haben.Aber gerade unter diesem Gesichtspunkt kann der Korridor interessant sein. Man könnte ihn zeitlich begrenzt zu einer Region ausbauen, in der beiderseits konventionelle Angriffsfähigkeiten durch die Beseitigung schweren Geräts abgebaut werden, bis eine vereinbarte konventionelle Stabilität zwischen Atlantik und Ural erreicht ist.Gerade unter dem Gesichtspunkt von Teillösungen oder zeitlich vorgezogenen Zwischenregelungen wird der Korridor nach einer Null-Lösung interessant. Es verdient sorgfältige Prüfung, wie durch ihn Offensivoptionen oder gar Invasionsfähigkeiten des Warschauer Vertrages, wie die Bundesregierung oder Herr Wörner heute formulieren, zu beseitigen sind. Die Bundesregierung hat den Regierungen der DDR und der CSSR eine seriöse Prüfung zugesagt. Politisch, rüstungskontrollmäßig und militärisch ist der Korridor eine sinnvolle Ergänzung, gerade weil er Verknüpfung zwischen nuklearen Gefechtsfeldwaffen und konventionellen Waffen garantiert.
Meine Damen und Herren, das Bessere darf nicht der Feind des Guten werden.
Die umfassende doppelte Null-Lösung von 150 bis 5 000 Kilometern darf nicht die Teillösung verhindern, nämlich von 500 bis 5 000 Kilometern. Selbst diese Teillösung dürfte nicht eine Null-Vereinbarung über Mittelstreckenraketen längerer Reichweite torpedieren. Es kann kein Zweifel sein: Die Einbeziehung der Mittelstreckensysteme kürzerer Reichweite würde die Gefahr einer neuen Nachrüstung beseitigen; jede Raketennachrüstung würden wir ablehnen und entschieden bekämpfen.
Wir warnen davor, Herr Bundeskanzler, Nachrüstungsabsichten durch Formulierungen zu tarnen, wie Sie sie auch heute wieder benutzt haben, nämlich „neue gemeinsame Obergrenzen". Nicht nur Herr Geißler weiß, warum er sich gegen eine neue Nachrüstung ausgesprochen hat.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987 549
BahrIch wollte etwas zu den Paketen sagen, aber das hat der Kollege Mischnick hervorragend getan. Ich schließe mich ihm an und kann darauf verzichten.
Diese Bundesregierung hat es heute in der Hand, ob wir von der potentiellen Bedrohung durch alle sowjetischen Mittelstreckenwaffen befreit werden oder nur von der durch die weiterreichenden. Daran, wie die Bundesregierung mit dieser Verantwortung umgeht, wird sie gemessen werden, national wie international.
Wenn ich mich nun dem zuwende, was als Konzept sich in dieser Lage anbietet, so möchte ich ausdrücklich an die Ausführungen anknüpfen, die Horst Ehmke in der Debatte nach dem 18. März 1987 zur Selbstbehauptung Europas gemacht hat. Es handelte sich nicht um eine Eintagsfliege, sondern um eine mögliche Politik des Zusammenwirkens im deutschen wie im europäischen Interesse. Es ist eine besondere Verantwortung der Europäer, sich auf die Fragen der konventionellen Stabilität zu konzentrieren.Wir müssen der Sowjetunion sagen, daß das neue Denken einer Sicherheit, die für beide Seiten gleich sein muß, verlangt, auch auf dem konventionellen Gebiet mit gleichem Mut die gleichen Prinzipien anzuwenden, die auf atomarem Gebiet richtig sind. Der konventionelle Krieg muß genauso unmöglich gemacht werden wie der atomare.
Es darf keine Überlegenheiten geben. Überlegenheiten, wo immer es sie gibt, müssen kontrollierbar abgebaut werden.
Das habe ich am 6. November vergangenen Jahres hier gesagt, und ich wiederhole es,
um die Kontinuität unserer Position zu dokumentieren und auch zu dokumentieren, daß Sie mit einigen Ihrer Positionen eigentlich offene Türen bei uns einrennen.Ich habe allerdings auch zu wiederholen — gerade weil seither ein halbes Jahr vergangen ist — : „Bis heute gibt es keinen deutschen Vorschlag, wie die befürchtete Gefahr der konventionellen Überlegenheit des Warschauer Paktes beseitigt werden kann. " Das letzte halbe Jahr hat die Bundesregierung in diesem Punkte offenbar verpennt.
Ich bin im übrigen der Auffassung, daß bei den Verhandlungen über ein Mandat in Wien der gesamteuropäische Rahmen erhalten bleiben muß. Er hat sich in Stockholm bewährt. In diesem Rahmen wird es um so leichter sein, die Verhandlungen zu einer konventionellen Stabilität zwischen den Staaten der beiden Bündnissysteme zu führen, wenn die Verhandlungen über die Verifikation dieser Maßnahmen den 35, alsoden KSZE-Staaten, zugewiesen würden. Ein derartiges Vorgehen würde die Staaten der Atlantischen Allianz und des Warschauer Paktes auf die ausgewogene Reduktion von Waffen konzentrieren, die bewährten guten Dienste auch der Nichtgebundenen und Neutralen für die Verifikation sichern und das Ganze praktikabel machen.Eine interessante Initiative der Bundesregierung könnte sich aus der Prüfung ergeben, eine Ost-West-Außenministerkonferenz vorzuschlagen, die Mandat und Ziel für Verhandlungen über konventionelle Stabilität in Europa festlegt. Mit einer solchen Konferenz könnte am ehesten der Fehler der bisherigen MBFRVerhandlungen vermieden werden, nämlich der eines jahrzehntelangen toten Streits um Ziffern und Daten.Es ist unverkennbar, daß Europa noch einmal eine Chance bekommen kann, seine eigenen und besonderen Interessen wirksamer als bisher wahrzunehmen. Die Entschließung des Monnet-Komitees, die der Kollege Dregger zitiert hat, wird ja von uns, wie er weiß, getragen, und die Zielsetzung wird von uns genauso gesehen. Es ist natürlich ebenso unverkennbar, daß diese Chance davon abhängt, ob Frankreich bereit ist, seine konventionellen Streitkräfte zu europäisieren.
Wir sind bereit, die Unabhängigkeit der französischen Entscheidung über seine nuklearen Streitkräfte zu akzeptieren. Wir lehnen jeden Gedanken an europäische Nuklearstreitkräfte als gefährliche Illusion ab.
Ein europäischer Pfeiler der Atlantischen Allianz mit den sich daraus ergebenden Folgerungen für Struktur, Strategie, Verantwortung und Politik würde Westeuropa in die Lage versetzen, die ihm zukommende Rolle und Verantwortung für die Verhandlungen zu übernehmen, für die Frankreich den Ausdruck „vom Atlantik bis zum Ural" geprägt hat, den die Sowjetunion angenommen hat.Man darf nicht so tun, als gäbe es die nun wiederholte sowjetische Bereitschaft nicht, über Stabilität auf der Basis gleicher Sicherheit und über die Beseitigung von Überlegenheiten mit Auswirkung auf die Strategie zu verhandeln. Es muß endlich zur Kenntnis genommen werden, daß es diese Vorschläge gibt.Herr Bundeskanzler, Sie haben heute morgen eine Reihe von Forderungen in diesem Zusammenhang erhoben. Warum haben Sie denn nicht gesagt, was die deutschen oder die Vorschläge Ihrer Regierung für dieses Gebiet zur Lösung sind?
Der Westen hat einige frühere Erklärungen von Gorbatschow nicht ernstgenommen: über das neue Denken, die sich daraus ergebenden neuen Ansätze zur atomaren Abrüstung. Nur deshalb entstand die Überraschung, als Gorbatschow „Null" vorschlug und in der Logik auch „Null" bei den kürzeren Reichweiten. Ich möchte nicht, daß der Westen abermals über-
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Bahrrascht wird und dann abermals ohne Konzept verwirrt reagiert. Gerade wenn wir erste, für Europa ungewöhnlich aufregende Reduktionen der atomaren Waffen erleben, wäre es unbegreiflich, wenn unsere Sache, nämlich die konventionelle Reduktion und Stabilität, nicht durch unsere Vorschläge in Gang gesetzt wird. Unser Interesse ist, zu drängen und nicht zu bremsen.
Wenn wir die konventionelle Stabilität auf geringerem Niveau erreichen, wenn wir also die Sorge vor der konventionellen Überlegenheit des Warschauer Vertrages beseitigen, die wir ja auch haben, dann stehen wir nicht nur vor der Beseitigung der nuklearen Gefahren für Europa, dann stehen wir vor einem qualitativen Durchbruch, vor einem neuen Abschnitt der europäischen Nachkriegsgeschichte, nämlich die militärische Konfrontation zu ersetzen durch den friedlichen Wettbewerb der Systeme und Ideologien und durch wirtschaftliche Zusammenarbeit.
Nichts geringeres als diese Perspektive liegt im Interesse Europas, übrigens auch der Weltmächte, die sich dann den bisher vernachlässigten Problemen zuwenden könnten, nämlich der Zerstörung unserer Atmosphäre, unserer Umwelt und der Dritten Welt. Zu einer europäischen Initiative, die an die Stelle der militärischen Konfrontation den friedlichen Wettbewerb setzt, zu einer solchen Initiative könnte Bonn einladen.
Die Ergänzung der militärischen Sicherheit ist die politische Sicherheit, und die Ergänzung der politischen Sicherheit ist die militärische. Das, was wir vor weit mehr als einem Jahrzehnt begonnen haben — der Kollege Mischnick hat ja daran erinnert — : die politische Entspannung verlangt zur Ergänzung auf militärischem Gebiet Verträge der gemeinsamen Sicherheit. Das wäre eine logische und eine natürliche Fortsetzung dessen, was wir in den 70er Jahren begonnen haben. Was damals geschaffen wurde, hat sich trotz vieler Krisen bewährt. Nicht viele Verträge haben in den letzten 16 Jahren so exzellent funktioniert wie das Viermächteabkommen, der Moskauer Vertrag und der Grundlagenvertrag.
Dies damals von uns geschaffene Werk ist doch die Grundlage, die auch die heutige Bundesregierung gar nicht entbehren kann und will. Dieses Werk verlangt die europäische Fortsetzung auf dem Gebiet der Rüstungskontrolle und Abrüstung. Auf diesem Wege gäbe es viele Verbündete in Europa. Sogar innenpolitisch könnten wir auf diesem europäischen Weg eine weite Strecke zusammen gehen.Ich hoffe, daß die Koalition und die Bundesregierung beim ersten Schritt, nämlich der doppelten NullLösung für Mittelstreckenraketen, nicht stolpern. Damit sie dies nicht tut, haben wir einen Antrag in einer Form formuliert, daß er eigentlich für jeden in diesem Hause annehmbar sein müßte, wie der Herr Bundeskanzler heute morgen so schön formuliert hat. Ich beantrage deshalb für diesen Antrag namentliche Abstimmung.
Das Wort hat der Abgeordnete Rühe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das, was der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung vorgetragen hat und was unser Fraktionsvorsitzender, Herr Dr. Dregger, hier vorgetragen hat, wird geschlossen von der CDU/CSU-Fraktion unterstützt.
Wir werden diese Haltung in den nächsten Wochen mit Nachdenklichkeit, aber auch mit Geschlossenheit und Entschiedenheit, über die sich niemand täuschen sollte, vertreten.Einige Redner haben hier über die Haltung der Vereinigten Staaten gesprochen, auch der Kollege Mischnick. Der amerikanische Präsident hat mich vor wenigen Tagen in Washington durch seinen Sicherheitsberater wissen lassen,
daß in Amerika in dieser Frage weder eine Vorentscheidung noch eine Entscheidung getroffen worden ist. Er hat hinzugefügt, daß der Präsident Wert auf offene und echte Konsultationen lege. Ich finde, wir sollten dankbar und froh über diese offene Haltung der Vereinigten Staaten sein.
Ich frage mich, ob es im Interesse von deutschen Politikern liegt, den Eindruck zu erwecken, als ob dies nicht der Fall sei, und diese Haltung zu verengen. Seien wir doch froh über diese offene Diskussionshaltung der Vereinigten Staaten.Im übrigen, die offizielle Position der Vereinigten Staaten, unterschrieben vom Präsidenten, lautet weiterhin: Einfrieren der 130 sowjetischen Systeme und das Recht auf gleiche Zahl. Wir haben seit vielen Jahren in der NATO die Meinung vertreten, daß man auch bei den Systemen mit einer Reichweite zwischen 500 km und 1 000 km auf ein niedrigeres Niveau — mit gleichen Obergrenzen — abrüsten sollte. Insofern bleiben wir völlig in der Kontinuität unserer Politik.
Ich bin hier gelegentlich belobigt worden — es war häufig vergiftetes Lob — , wenn ich mich in der Vergangenheit auch kritisch mit der Diskussion in Amerika auseinandergesetzt habe. Ich plädiere seit langem für eine selbstbewußte Partnerschaft. Bei mir hat es allerdings nie Zweifel an der Partnerschaft gegeben, Herr Bahr.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987 551
RüheUnd was merkwürdig ist: Diese selbstbewußte Partnerschaft darf man eben nicht wechseln — je nach der Situation, ob es einem in den Kram paßt oder nicht.
Wenn man deutsche Interessen kontinuierlich vertreten will, dann darf man sich in dieser Situation nicht hinter den Äußerungen einiger sehr wichtiger — wie ich zugebe — amerikanischer Politiker verstecken.
Herr Kollege Mischnick, Sie haben gefragt: Können wir eine zweite Null-Lösung, ein zweites Angebot ablehnen? — Es wird ein drittes geben, es wird ein viertes geben.
Gorbatschow hat ja schon gesagt, er wolle alle Atomwaffen aus Europa wegschaffen, und Herr Bahr sagt, er hoffe, daß es eine solche Null-Lösung gibt.
Das heißt: Irgendwann müssen wir uns entscheiden.
Wenn wir darin übereinstimmen, daß wir den Frieden angesichts der Situation nicht ohne nukleare Abschreckung aufrechterhalten können, dann müssen wir dies zu irgendeinem Zeitpunkt auch mit aller Deutlichkeit sagen. Dann sticht das Argument nicht mehr: Können wir Nein sagen zu einem Null-Angebot? Das nächste wird hinsichtlich der Obergrenzen noch günstiger sein; das wird 600 zu Null zwischen 500 und 150 km sein.Deswegen lassen Sie uns diese Fragen bitte einmal sehr grundsätzlich angehen, bevor wir uns hier so festlegen. Stimmen wir darin überein, daß es für Atomwaffen in Europa eine Notwendigkeit gibt, insbesondere solange das enorme konventionelle Ungleichgewicht von 3 zu 1 besteht?
Wenn wir uns darin aber einig sind, daß wir Nuklearwaffen zur Abschreckung brauchen — ich denke, das ist in der Koalition ganz eindeutig der Fall — , wenn wir uns auch mit allen europäischen Nationen und natürlich auch mit den Amerikanern darin einig sind, dann stellt sich die Frage, welche Nuklearwaffen mit welchen Reichweiten unter 1 000 km wir haben sollten.
Ich sage klar und deutlich: Wir wollen nicht in die Situation kommen, daß nur noch diejenigen Systeme übrigbleiben, die nur noch Deutsche treffen können, in Ost wie in West. Ich finde, auch darin sollten wir übereinstimmen.Deswegen können wir das, was Herr Bahr angedeutet hat, nur ablehnen. Er hat gesagt: Laßt uns Null-Lösungen bis auf 100 km Reichweite herunter machen. Das träfe wirklich nur noch ausschließlich die Deutschen. Herr Bahr wäre, nachdem ein solcher Vertrag unterzeichnet wäre, der erste, der hierher kommen und sagen würde, wie unmoralisch es ist, daß hier nur noch landgestützte Systeme sind, die die Deutschen in West und Ost treffen können. Deswegen wollen wir eine solche Situation nicht herbeiführen.Hier ist das Nötige gesagt worden. Auch der Generalinspekteur der Bundeswehr hat deutlich gemacht: Je kürzer die Reichweiten, desto deutscher die Wirkung.Es gibt einen zweiten sehr wesentlichen Grund, warum wir aus deutscher Sicht bei den Mittelstrekkenraketen der Reichweite zwischen 500 und 1 000 km jetzt nicht auf Null gehen sollten. Nur wenn wir jetzt nicht auf Null gehen, können wir auch im Bereich unter 500 km Reichweite weiter abrüsten.
Das ist unsere Vorstellung. Ich möchte eine weitere 50%ige Reduzierung auch bei den Systemen darunter, die nur Deutsche treffen können; auch bei den Gefechtsfeldwaffen.
Herr Abgeordneter, der Abgeordnete Voigt möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.
Ich habe jetzt leider keine Zeit.Ich lese heute in der „International Herald Tribune", daß ein amerikanischer Regierungsbeamter folgendes erklärt hat — ich sage das mit aller Deutlichkeit, und ich bin gespannt, ob Sie diese amerikanische Haltung dann auch sofort übernehmen oder ob Ihre Taktik nicht innerhalb einer Minute enttarnt ist, Herr Vogel —
Nach einer Null-Lösung im Bereich von über 500 km müßten neue Waffensysteme zwischen 250 und 400 km Reichweite entwickelt und aufgestellt werden. Ist es eine antiamerikanische Haltung, wenn ich sage, mit mir nicht? Die Null-Lösung bis herunter auf 500 km und darunter neue und zusätzliche Systeme, die nur die Deutschen in Ost und West treffen könnten:
Ist das Antiamerikanismus oder ist das die Wahrnehmung deutscher Interessen auf diesem wichtigen Feld.
Jeder Befürworter der Null-Lösung bei den Systemen zwischen 500 und 1 000 km Reichweite sollte sich darüber im klaren sein,
daß dann gleichzeitig für die Systeme unter 500 km Reichweite sowohl Modernisierung als auch mögliche weitere Anschaffungen in Frage kommen. Auf jeden Fall wird dadurch eine weitere Reduzierung in Frage gestellt, wenn nicht sogar ausgeschlossen, und das gerade bei diesen Systemen. Das kann nicht im deutschen Sicherheitsinteresse liegen. Ich habe das eben angedeutet.
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552 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987
RüheEs kann auch nicht im deutschen Sicherheitsinteresse liegen, daß wir auf diese Weise, was die verbleibenden nuklearen landgestützten Systeme mit einer Reichweite angeht, die nur Deutsche treffen können— das sind die Tatsachen —, die Legitimität der Abschreckung in unserem Lande untergraben und damit die perfekte Selbstabschreckung organisieren.
Wir durchschauen durchaus die Strategie. Bei Ihnen gibt es sehr viele Anhänger einer totalen Abschaffung der Atomwaffen,
die bei jedem Ostermarsch dabeiwaren, um zu verhindern, daß bei uns Atomwaffen aufgestellt werden; die in der Sowjetunion sollen bleiben. Für sie ist es nur konsequent, wenn sie weiterhin die Zustimmung der Bevölkerung untergraben wollen, was den Konsens über die Moralität und Legitimität nuklearer Abschreckung angeht. Da kann ich nur sagen: Da muß man den Weg gehen und nur noch solche kurzen Systeme haben.
Deshalb: Wer Abrüstung will, um mehr Sicherheit gerade der Deutschen zu erreichen, der darf jetzt nicht den Weg der Abrüstung bei den Systemen unter 500 km Reichweite verbauen.Die Politik und die Strategie der Sowjetunion machen klar, daß die Sowjets ihre eigentliche, ihre wahre Stärke in Europa erkannt haben, nämlich ihre konventionelle Überlegenheit verbunden mit der Geographie in Europa. Sie können und sie werden viele weitere Null-Lösungen in diesem Bereich präsentieren. Deswegen sollten wir es, wie ich finde, Herrn Gorbatschow nicht gestatten, immer nur Vorschläge im Nuklearwaffenbereich zu machen, bei den nicht minder gefährlichen konventionellen Waffen jedoch keine Beweglichkeit zu zeigen.
— Ich sage Ihnen jetzt zwei ganz konkrete Punkte in dem Bereich.Wer für sich in Anspruch nimmt, jedenfalls ein revolutionärer Erneuerer der Rüstungskontrollpolitik zu sein, der muß endlich auch echte Abrüstungsvorschläge im konventionellen Bereich vorlegen.
Ich fordere Herrn Gorbatschow auf,
die Null-Lösung im Hinblick auf die fünf sowjetischen Invasionsdivisionen in der Tschechoslowakei vorzuschlagen. Wo bleibt die Null-Lösung im Hinblick auf die fünf sowjetischen Invasionsdivisionen in der Tschechoslowakei? Das wäre im wesentlichen ein symbolischer Vorschlag, vertrauensbildend, mitgeringer militärischer Bedeutung. Aber warum bleibt dieser Vorschlag aus?
— Werden Sie nicht unruhig.Warum schlägt Herr Gorbatschow — hören Sie bitte genau zu — nicht die Abrüstung all derjenigen Panzer der Ersten Strategischen Staffel der Sowjetunion auf die gleiche zahlenmäßige Höhe vor, die die NATO auf unserer Seite hat? Warum nicht dieser sowjetische Abrüstungsvorschlag?
— Herunter auf der sowjetischen Seite auf unsere Höhe. — Auch was die Anzahl der Jagdbomber angeht, muß die Sowjetunion um mehr als die Hälfte reduzieren, damit hier auch nur ein annäherndes Gleichgewicht entstehen würde. Ich frage mich: Warum diskutieren wir nicht über die Vorschläge, die Herr Gorbatschow nicht macht?
Warum lassen wir uns darauf ein, immer nur über die Vorschläge im nuklearen Bereich zu diskutieren? Wir sollten ihm die Diskussion über wirkliche konventionelle Abrüstung in Europa nicht ersparen.
Herr Abgeordneter, der Abgeordnete Professor Ehmke möchte eine Zwischenfrage stellen.
Gut, eine kurze Frage, wenn mir die Zeit dafür nicht angerechnet wird.
Herr Kollege Rühe, erinnern Sie sich daran, daß der Warschauer Pakt auf der Außenministerkonferenz in Budapest eine 25%ige Reduzierung konventioneller Streitkräfte vorgeschlagen, daß Gorbatschow das in Prag aufgenommen hat und daß die Antwort des Westens darauf bisher leider nur der Kriterienkatalog war, den die in Halifax eingesetzte Gruppe erarbeitet hat? Das heißt: Wenn auf konventionellem Gebiet überhaupt Vorschläge
— wenn auch nicht ausreichende Vorschläge — vorliegen, dann liegen sie bis jetzt von östlicher und nicht von westlicher Seite vor.
Herr Kollege Ehmke, und Sie sind natürlich sofort bereit, sie zu übernehmen,
obwohl Sie wissen, daß dies bei einer 3 : 1-Überlegenheit kein Ausgangspunkt sein kann. Das haben wir im übrigen auch in Moskau vorgetragen. Wir können wieder 20 Jahre darüber streiten, was 100 % ist, um dann eine 25%ige Reduktion zu bekommen. Und genau das wollen wir nicht machen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987 553
RüheDeswegen muß es, genau wie wir das auch bei Gefechtsfeldwaffen gemacht haben, einseitige sowjetische Schritte geben, so wie Gorbatschow das auch angekündigt hat, damit die entsprechenden Überrüstungen dort im konventionellen Bereich abgebaut werden.
Herr Abgeordneter Rühe, die Abgeordneten Bahr und Professor Ehmke würden gern eine Zwischenfrage stellen.
Ich verstehe das, aber ich habe leider so wenig Zeit. Ich würde mich gern noch ein bißchen mit dem Kollegen Vogel auseinandersetzen. Wir haben ja auch sonst noch Gelegenheit.
Das einzige, was mich überrascht hat — —
— Die Zeit wird nicht angerechnet? — Ja, bitte.
Eine Frage rechne ich nicht mehr an. Aber dann bitte ich, fortzufahren, weil wir den Zeitplan sonst nicht mehr einhalten können.
Herr Kollege Rühe, wir stimmen doch sicher darin überein — auch Sie sind doch sicher dieser Meinung — : Je früher der Westen seine eigenen Vorschläge auf diesem Gebiet vorlegt, desto besser, oder wollen Sie weiter darauf warten, daß nur die Sowjetunion etwas tut?
Nein, natürlich nicht, Herr Kollege Ehmke. Das ist doch gerade der Ansatzpunkt, den wir gewählt haben,
den auch Herr Dregger vorgetragen hat: daß wir nukleare Abrüstungsverhandlungen endlich mit einem Einstieg in die konventionelle Abrüstung verbinden. Dazu brauchen wir aber auch einen Hebel, und dieser Hebel muß im Bereich der Mittelstreckensysteme kürzerer Reichweite eingesetzt werden, damit in Europa auch konventionell und chemisch abgerüstet wird.
Herr Kollege Vogel, das einzig Überraschende und Interessante an Ihrer Rede war, daß Sie nun doch den Versuch gemacht haben, sich auf Helmut Schmidt zu berufen.
Ich habe gestern mit Kollegen Wetten abgeschlossen,
ob Sie den Mut haben würden, sich auf Helmut Schmidt zu stützen. Das ist zwar ein trauriger Mut, aber Sie haben ihn aufgebracht.
Helmut Schmidt schreibt heute in der „Zeit"
— darauf komme ich gleich —, daß die Chance, die es jetzt für eine Null-Lösung im Bereich der Mittelstrekkenraketen größerer Reichweite gibt, eine Stunde des Triumphes für ihn sei.
Wie würden Sie die Stunde für die Leute charakterisieren, die Helmut Schmidt verlassen, im Stich gelassen, verraten haben?
Müßte das nicht eine Stunde tiefer Depression sein? Und statt dessen erleben wir die Selbstgerechtigkeit, mit der Sie hier heute vormittag geredet haben.
Ich habe Helmut Schmidt gestern abend sehr genau zugehört. Die NATO-Position seit vier Jahren, die auch er schon zu seiner Regierungszeit im Bereich der Mittelstreckenraketen kürzerer Reichweite seit 1981 vertreten hat,
lautete nie: Null — das können Sie alles nachlesen, wenn Sie wollen — , sondern: ergänzende Beschränkungen auf ein reduziertes Niveau, gleiche Obergrenzen.
— Ich höre immer genau zu, wenn er redet, im Unterschied zu Ihnen, gnädige Frau.
Helmut Schmidt hat gestern nur von den Mittelstrekkenraketen kürzerer Reichweite gesprochen, die 1984 in die DDR und in die Tschechoslowakei gebracht worden sind, und gesagt, daß er deren Abschaffung, diese Null-Lösung wolle. Und da stimme ich ihm völlig zu. Unsere Überlegungen, die ja auf eine mindestens 50%ige Abrüstung auch im Bereich der Mittelstreckenraketen kürzerer Reichweite hinauslaufen,
würden das voll umfassen: nicht nur den Rückzug, sondern auch die Vernichtung dieser sowjetischen Systeme. Also so, wie er das gestern im Ersten Deutschen Fernsehen im „Brennpunkt" gesagt hat, sind wir in dieser Frage, was diesen konkreten Punkt auch
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554 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987
Rüheder Systeme kürzerer Reichweite angeht, deckungsgleich.Aber nachdem Sie den Helmut Schmidt sechs Jahre im Stich gelassen haben,
können Sie doch wirklich nicht hier in sechs Minuten versuchen, eine falsche Gemeinsamkeit wieder zu züchten.
Lassen Sie mich abschließend sagen: Die Menschen in der Bundesrepublik können sich darauf verlassen: Wir bleiben voll in der Kontinuität unserer Politik. Wir haben die Null-Lösung bei den Systemen über 1 000 Kilometer versprochen. Wir werden dies zusammen mit unseren Verbündeten — das wissen auch die Amerikaner — in diesem Jahr zum Erfolg bringen.
Und wir wollen Begrenzung und Abrüstung auch darunter, auch unter 500 km keine weiteren Null-Lösungen.
Wir wollen, daß mehr über konventionelle Abrüstung gesprochen wird.
Es gibt ein besonders törichtes Wort aus den letzten Wochen. Man müßte prüfen, von wem es stammt.
Es heißt: Angst vor der Abrüstung. Es ist auch der Titel einer nicht ganz unbekannten Zeitschrift geworden. Ich habe kaum etwas Törichteres in den letzten Wochen gehört.Wenn es eines gibt, was wir uns von niemandem vorwerfen lassen, dann ist es Angst vor der Abrüstung. Wir sind es — unter starkem Druck — gewesen, die die Null-Lösung bei den Systemen über 1 000 km in Reichweite gebracht haben. Wir sind es gewesen, die einseitig 2 400 nukleare Gefechtsfeldwaffen abgeschafft haben. Wir sind es gewesen, die mit den Amerikanern ausgehandelt haben, daß die chemischen Waffen hier verschwinden,
während Sie 20 Jahre darauf gesessen haben. Und wir sind es gewesen, die auch in vielen anderen Bereichen die NATO-Positionen erarbeitet und durchgesetzt haben.Wenn es eines gibt, was wir uns nicht und von niemand vorwerfen lassen, dann ist es eine solche törichte Behauptung.Unser Markenzeichen ist und wird auch immer bleiben:
Entspannung und Sicherheit. Abrüstung in Sicherheit! Darauf kann sich jeder verlassen. Wir weichenkein Jota von der Haltung ab, die wir in den letzten Jahren eingenommen haben.
In diesem Sinne werden wir in diesem Jahr das Abrüstungsabkommen über 1 000 km erreichen. Wir werden Schritte in Angriff nehmen, um auch auf den Ebenen darunter und in den anderen Bereichen Abrüstung in Sicherheit zu verwirklichen. Das ist unser Markenzeichen. Das sollte jeder wissen. Das lassen wir von niemandem überdecken.
Das Wort hat der Bundesminister des Auswärtigen, Hans-Dietrich Genscher.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die heutige Aussprache des Deutschen Bundestages findet in einer Lage statt, die durch eine außerordentliche Dynamik des Rüstungskontrollprozesses und durch neue Perspektiven im West-Ost-Verhältnis gekennzeichnet ist.Dieses Jahr 1987 kann zu einem Jahr weitreichender Fortschritte in allen Bereichen der Abrüstung werden. Zu dieser Entwicklung hat die konsequente, auf Sicherung des Friedens gerichtete Politik der Bundesregierung wesentlich beigetragen.Diese Politik folgt dem Harmel-Bericht von 1967, der die Fähigkeit zur Verteidigung mit dem Willen zu Dialog, Zusammenarbeit und Rüstungskontrolle verbindet. Nur die folgerichtige Anwendung dieser Politik in allen ihren Elementen garantiert unsere Sicherheit. Sie verpflichtet uns gleichermaßen zu Verteidigungsanstrengungen wie auch zur ernsthaften Suche nach Wegen, die politischen Spannungen im WestOst-Verhältnis abzubauen.Eine solche Politik verzichtet auf das Streben nach Überlegenheit. Sie erkennt die legitimen Sicherheitsinteressen auch der anderen Seite an. Sie erwartet das gleiche aber auch für sich. Sie will dauerhafte Sicherheit für alle schaffen. Nur das schafft Stabilität.In eindrucksvoller Weise hat das Bündnis in seiner Brüsseler Erklärung über die konventionelle Rüstungskontrolle vom 12. Dezember 1986 noch einmal die Philosophie der westlichen Sicherheitspolitik definiert. Es heißt dort:Die Aufgabe von Streitkräften sollte nur darin bestehen, Kriege zu verhindern und die Selbstverteidigung sicherzustellen. Sie sollten nicht dazu da sein, um Aggressionen zu begegnen und zu begehen und als Mittel der politischen oder der militärischen Einschüchterung zu dienen.Meine Damen und Herren, das nukleare Zeitalter hat eine merkwürdig paradoxe Situation herbeigeführt: Es hat einerseits unvorstellbare Vernichtungspotentiale geschaffen, die natürlichen Lebensgrundlagen erschreckenden, wie Tschernobyl gezeigt hat, auch grenzüberschreitenden Gefahren ausgesetzt. Andererseits haben gerade diese Gefahren der Einsicht zum Durchbruch geholfen, daß die Menschheit
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987 555
Bundesminister Genschernur gemeinsam überleben kann, daß es der Zusammenarbeit bedarf, um die Probleme der Zukunft bewältigen zu können. Wir sind, ob wir es wollen oder nicht, zur Überlebensgemeinschaft auf dieser Welt geworden.
Meine Damen und Herren, Gefahren für das Überleben der Menschheit und die Chancen für eine bessere Zukunft liegen dicht beieinander. Wir haben es in der Hand, den Kurs zu bestimmen. Die Bewältigung dieser Aufgabe setzt die Bereitschaft zu breiter Zusammenarbeit auch im West-Ost-Verhältnis voraus. Abgrenzung und Verweigerung können die Welt in unabsehbare Risiken stürzen. Die Bundesregierung begrüßt es deshalb, daß gegenwärtig über Abrüstung und Rüstungskontrolle in einer Breite und Dichte verhandelt wird wie nie zuvor und daß zugleich neue Perspektiven zur Gestaltung des West-Ost-Verhältnisses erkennbar werden, die es für unsere Stabilität zu nutzen gilt.Es fehlt nicht an ermutigenden Zeichen im Bereich der Rüstungskontrolle. Der erfolgreiche Abschluß der Stockholmer Abrüstungskonferenz — übrigens, Herr Kollege Bahr, eine deutsch-französische Initiative — ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu mehr Stabilität in Europa.
Die ersten Erfahrungen, die wir danach gemacht haben, sind insgesamt positiv. Ermutigend ist auch, daß sich soeben die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion auf die Einrichtung von Zentren zur Verminderung des nuklearen Risikos in Washington und Moskau geeinigt haben.
Und schließlich ist gerade für uns in der Bundesrepublik Deutschland von großer Bedeutung, daß die Null-Lösung für die Mittelstreckenraketen größerer Reichweite in greifbare Nähe gerückt ist, ein Verhandlungsziel, um das wir uns seit Ende der 70er Jahre bemüht haben.In Genf verhandeln die Vereinigten Staaten von Amerika und die Sowjetunion über eine drastische Reduzierung ihrer strategischen Atomwaffenpotentiale. Der amerikanische Präsident hat die Vorlage eines Vertragsentwurfs über eine 50 %ige Reduzierung strategischer Waffen soeben angekündigt. Ebenfalls in Genf wird über die Mittelstreckenflugkörper größerer und kürzerer Reichweite verhandelt. Die Genfer Abrüstungskonferenz hat bei den Verhandlungen über die weltweite umfassende Achtung der chemischen Waffen bedeutende Fortschritte gemacht. Der baldige Abschluß eines Abkommens erscheint möglich, wenn alle Beteiligten konstruktiv und mit Nachdruck auf eine Lösung der noch wenigen offenen Fragen hinwirken. Die konventionelle Rüstungskontrolle verlangt verstärkte Anstrengungen.Meine Damen und Herren, in Wien wird über ein Mandat verhandelt für eine Konferenz zur Herstellung konventioneller Stabilität in ganz Europa vom Atlantik bis zum Ural. Auch dieses Angebot derNATO geht auf eine deutsch-französische Initiative zurück. Ziel muß es sein, daß sich auf beiden Seiten die Streitkräfte allein an dem Erfordernis der Verteidigung ausrichten und keine Seite die Fähigkeit zur Invasion besitzt, was für uns, für das westliche Bündnis, schon heute gilt.Das Bündnis hat sich, Herr Kollege Bahr, für die Verhandlungen in diesem Bereich folgende Ziele gesetzt: Es geht darum, ein stabiles und gesichertes Streitkräfteniveau herzustellen, das darauf gerichtet ist, Ungleichgewichte zu beseitigen. Es geht um einen stufenweisen Verhandlungsprozeß, der die unverminderte Sicherheit aller Betroffenen in jeder Phase gewährleistet. Insbesondere wird es darauf ankommen, die Fähigkeit zu Überraschungsangriffen und zur Einleitung von raumgreifend angelegten Offensiven abzubauen und zu beseitigen. Es geht um weitere Maßnahmen zu Vertrauensbildung und zur Verbesserung der Offenheit und der Berechenbarkeit hinsichtlich des militärischen Verhaltens. Schließlich ist, wie in allen anderen Rüstungskontrollabkommen, eine wirksame Verifikationsregelung erforderlich.Die Bundesregierung bemüht sich um eine Überwindung der auf der westlichen Seite noch vorhandenen unterschiedlichen Meinungen über den Verhandlungsrahmen.
Wir bedauern das. Wir bemühen uns, es liegt gewiß nicht an der Bundesregierung, Herr Kollege Bahr, wenn diese Einigung noch nicht hergestellt werden konnte.
Durch diesen breit angelegten Verhandlungsprozeß sind jetzt die chemischen Waffen, das konventionelle Kräfteverhältnis, die strategischen nuklearen Waffen und die Mittelstreckenraketen in den westöstlichen Verhandlungsprozeß einbezogen. Wie unsere Verteidigungsanstrengungen entsprechen diese Verhandlungen dem Kernanliegen westlicher Sicherheitspolitik, nämlich, jeden Krieg zu verhindern; also nicht nur einen atomaren, sondern auch einen konventionellen Krieg. Abrüstung und Rüstungskontrolle sind und bleiben integrale Bestandteile unserer Sicherheitspolitik.
Der KSZE-Prozeß und die von ihm ausgehende Vertrauensbildung und auf Zusammenarbeit gerichtete Wirkung hat dazu wesentlich beigetragen.Meine Damen und Herren, bei der Stockholmer Konferenz hat die Sowjetunion in der Frage der Verifikation eine über Jahre und Jahrzehnte betriebene Verweigerung wirksamer Kontrollmaßnahmen, insbesondere von obligatorischen Inspektionen vor Ort, aufgegeben. Nur so konnte die Stockholmer Konferenz zu einem Erfolg werden.
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556 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987
Bundesminister GenscherDiese Veränderung der grundsätzlichen Haltung der Sowjetunion hat auch die Fortschritte in Genf und in Reykjavik möglich gemacht.
Die Bereitschaft zu wirksamer und angemessener Verifikation leistet einen wirksamen Beitrag zur Vertrauensbildung. Wer nichts zu verbergen hat, kann zur Nachprüfung bereit sein. Wer die Nachprüfung ablehnt, setzt sich dem Verdacht aus, etwas verbergen zu wollen.Bei den Mittelstreckenraketen größerer Reichweite hat die Bundesregierung mit beiden Teilen des Doppelbeschlusses — dem Verhandlungsangebot und dem Nachrüstungsteil; mit beiden also — den Zweck verfolgt, die Sowjetunion zur Rückgängigmachung dieser besonderen Bedrohung durch die SS 20Vorrüstung zu bewegen. Der Nachrüstungsbeschluß und damit die Entscheidung für die Aufstellung amerikanischer Raketen Pershing II und Cruise Missiles war die Antwort auf diese sowjetische Vorrüstung, auf nichts sonst.Die Null-Lösung ist in der Bundesrepublik Deutschland entwickelt, vom Atlantischen Bündnis übernommen und 1981 in die amerikanisch-sowjetischen Verhandlungen eingeführt worden. Die in Reykjavik zum erstenmal zum Ausdruck gekommene Bereitschaft der Sowjetunion, auf diese Null-Lösung einzugehen, ist ein entscheidender Erfolg westlicher Sicherheitspolitik. Die von beiden Seiten in Aussicht genommene Beseitigung aller amerikanischen und sowjetischen landgestützten Mittelstreckenflugkörper größerer Reichweite in Europa und ihre Begrenzung auf je 100 Gefechtsköpfe im asiatischen Teil der Sowjetunion bzw. in den USA, wäre ein Gewinn für die Sicherheit Europas.
Es ist ganz sicher, meine Damen und Herren, ein Gewinn für die Sicherheit der Deutschen in West und Ost. Hier bewährt sich das Ziel, das sich die Bundesregierung gesetzt hat: Frieden schaffen mit immer weniger Waffen!Diese Null-Lösung bedeutet konkret die Vernichtung einer großen Zahl von sowjetischen Abschußvorrichtungen und Raketen, meine Damen und Herren, die insgesamt 1 335 atomare Sprengköpfe tragen, während auf westlicher Seite nach dem derzeitigen Stand Raketen und Marschflugkörper mit 216 atomaren Gefechtsköpfen beseitigt und vernichtet würden.Herr Kollege Bahr, Sie haben uns vorhin Vorwürfe gemacht wegen unserer Haltung in der Abrüstungspolitik. Sollten Sie nicht ernsthaft darüber nachdenken, ob Sie nicht besser bei Ihrer Haltung zum NATO- Doppelbeschluß geblieben wären?Der Ausstieg aus dem NATO-Doppelbeschluß, meine Damen und Herren, hätte den Ausstieg aus einer realen Abrüstungschance bedeutet, die sich jetzt zu erfüllen beginnt.
Immerhin hatten Sie doch noch im Herbst letzten Jahres vorgeschlagen, daß die westliche Nachrüstung beseitigt wird, wenn die Sowjetunion auf den Stand von 1979 zurückrüstet.
Bis dahin waren es ja mehrere hundert Gefechtsköpfe auf SS 4 und SS 20.Meine Damen und Herren, an dieser aussichtsreichen Entwicklung, die sich jetzt abzeichnet, hat die Bundesrepublik Deutschland einen entscheidenden Anteil gehabt. Nur durch Festhalten an beiden Teilen des Doppelbeschlusses und nicht durch Abrücken ist ein solches Abkommen in greifbare Nähe gerückt. Die strikte Befolgung beider Elemente des NATO-Doppelbeschlusses hat ein Fundament für die Glaubwürdigkeit und Berechenbarkeit unserer Politik geschaffen.Schon in der Regierungserklärung vom 18. März 1987 wurde auf das Problem der verbleibenden drükkenden Überlegenheit der Sowjetunion bei den Mittelstreckenraketen kürzerer Reichweite verwiesen und die Erfassung auch dieser Raketen durch Verhandlungen gefordert. Es war seit 1981 die Auffassung des Bündnisses, daß ein solches Abkommen nicht zur Entstehung einer von Rüstungskontrollverhandlungen nicht erfaßten Grauzone bei den Mittelstreckenflugkörpern mit einer Reichweite von 500 bis 1 000 km führen dürfe. Das heißt, man hatte gemeinsam das Ziel, eine Umgehung des INF-Abkommens zu verhindern. Bei diesen Flugkörpern sieht sich der Westen schon jetzt einer drückenden Überlegenheit der Sowjetunion gegenüber, weil es amerikanische Systeme in diesem Bereich nicht gibt, wohl aber weltweit 130 bis 160 sowjetische Raketen mit mehrfacher Nachladefähigkeit der Abschußvorrichtungen.Der amerikanische Entwurf vom 2. März sieht daher — wie bereits der frühere Entwurf — Beschränkungen für die Mittelstreckenraketen zwischen 500 und 1 000 km vor. Unterschiedliche Reaktionen der Sowjetunion auf diesen Vorschlag — auf die Unterschiede hat der Bundeskanzler in der Regierungserklärung hingewiesen — rechtfertigen einmal mehr die Erwartung der Bundesregierung, daß die sowjetischen Vorstellungen schriftlich spezifiziert werden. Der sowjetische Vorschlag zu einer Null-Lösung auch bei den Mittelstreckenflugkörpern kürzerer Reichweite bedarf der von mir wiederholt geforderten und in der Regierungserklärung bekräftigten verantwortungsvollen und sorgfältigen Prüfung.Meine Damen und Herren, in der Tat wäre jedes andere Verhalten in einer Frage von dieser Bedeutung nicht zu verantworten.
Das gilt umso mehr als die Sowjetunion gestern durch ihren Ersten Stellvertretenden Außenminister Woronzow Gesprächsbereitschaft über alle Elemente ihrer Vorschläge signalisiert hat. Mein Kollege Mischnick hat zu den Verhandlungen über die Mittelstreckenraketen kürzerer Reichweite hier für uns alle sehr Bedenkenswertes ausgeführt.
Meine Damen und Herren, über die Notwendigkeit sorgfältiger Prüfung sind wir uns mit unseren euro-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987 557
Bundesminister Genscherpäischen Bündnispartnern ebenso einig wie in dem Willen, eine gemeinsame Position zu erarbeiten. Wir müssen uns dabei immer der Tatsache bewußt bleiben — ich sage das angesichts geäußerter Illusionen, aber auch Befürchtungen — , daß auch nach einem Abkommen über Mittelstreckenraketen größerer Reichweite, ja sogar bei einer doppelten Null-Lösung, noch erhebliche atomare Potentiale auf beiden Seiten vorhanden sind.
Die nuklearstrategischen Systeme der Sowjetunion sind nicht nur gegen die USA, sondern auch gegen deren europäische Verbündete einsetzbar. Die Sowjetunion verfügt über ein luftgestütztes und seegestütztes Mittelstreckenpotential, das ganz Europa bedroht. Umgekehrt ist der Westen zum Einsatz entsprechender Potentiale in der Lage. Das heißt, das sind Tausende von atomaren Sprengköpfen auf beiden Seiten, die alle Völker Europas — die einen in dieser und die anderen in jener Richtung — bedrohen können.Meine Damen und Herren, die sowjetischen Mittelstreckenraketen kürzerer Reichweite bedrohen uns wegen unserer exponierten geostrategischen Lage in einem besonderen Maße, aber natürlich auch die bei uns stationierten Streitkräfte unserer Verbündeten und ihre Einrichtungen. Der Abschluß eines INF- Abkommens, den auch die Sowjetunion in diesem Jahr für notwendig und erreichbar hält, würde Auswirkungen haben, die weit über die Eliminierung dieser Waffenkategorie hinausreicht. Von ihm würden positive Impulse ausgehen, die sich nicht nur auf den Bereich der Rüstungskontrolle im nuklearen, im chemischen und im konventionellen Bereich erstrecken, sondern das West-Ost-Verhältnis in seiner ganzen Breite positiv beeinflussen können.
Das Treffen in Reykjavik hat die Tür zu einer kooperativen Sicherheitspolitik aufgestoßen. Auf beiden Seiten offenbart sich ein verändertes Denken, das auf Kooperation an Stelle von Konfrontation und von Rüsten und Gegenrüsten gerichtet ist.
Meine Damen und Herren, diese Tür kann nicht mehr geschlossen werden, ohne die Hoffnungen der Menschen in aller Welt auf Zusammenarbeit und Abrüstung zu erschüttern.Wir haben Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre die Bemühungen der USA und der Sowjetunion, ihr Verhältnis auf eine neue und stabilere Grundlage zu stellen, genutzt, um durchgreifende Verbesserungen der Lage in Europa zu erreichen. Die Ende der 70er Jahre eingetretene Abkühlung und Verhärtung im Verhältnis der USA und der Sowjetunion hat die positiven Ergebnisse, die der Entspannungsprozeß für Europa herbeigeführt hatte, weitgehend unberührt gelassen. Die Ostverträge der Bundesrepublik Deutschland haben sich als beständig und als eine weitreichende Zukunftsperspektive erwiesen. Das Viermächteabkommen über Berlin hat der Stadt neue Zuversicht und Lebenskraft gegeben. Gerade in ihrem Geburtstagsjahr lohnt es sich, darauf hinzuweisen.
Das deutsch-deutsche Verhältnis hat sich auf einer soliden Grundlage positiv entwickelt, gerade für die Menschen diesseits und jenseits. Die Schlußakte von Helsinki, die Kursbestimmung für eine bessere europäische Zukunft, wird von allen Unterzeichnerstaaten auch heute als eine richtige und vorteilhafte Weichenstellung bezeichnet.Auch jetzt geht es darum, eine neue Phase amerikanisch-sowjetischer Annäherung, die möglicherweise umfassendere, dauerhaftere Wirkung als die damalige haben kann, für Europa zu nutzen und dabei die Chancen sicherheitsbildender und sicherheitsvermehrender Abrüstung zu ergreifen. Deshalb liegt es in unserem europäischen Interesse, diese Bemühungen der beiden Großmächte zu unterstützen und unsere Interessen dabei einzubringen. Deswegen muß Europa diese Interessen gemeinsam definieren und in das politische wie in das militärische Gesamtkonzept des Bündnisses einbringen.Westliche Sicherheit ist eine transatlantische Gemeinschaftsaufgabe. Das Atlantische Bündnis ist der Garant unserer Freiheit und Sicherheit. Das erfordert auch in Zukunft die Anwesenheit starker amerikanischer Truppen in Europa. Gerade die Anwesenheit von 300 000 amerikanischen Soldaten in Europa steht für das Bewußtsein von Sicherheit und gemeinsamer Wertordnung. Sie unterstreicht auf eindrucksvolle Weise, daß die Vereinigten Staaten die Gefahren der konventionellen Überlegenheit der Sowjetunion nicht geringer einschätzen als wir Europäer. Für dieses Bewußtsein gemeinsamer Sicherheit steht auch die nukleare Abschreckung der Vereinigten Staaten, die unveränderter Bestandteil unserer Strategie der Kriegsverhinderung, der Verhinderung eines atomaren wie eines konventionellen Krieges, ist.Meine Damen und Herren, Präsident Reagan hat eindrucksvoll die untrennbare Kopplung der deutschen mit der amerikanischen Sicherheit beschrieben. Europas Kräfte, so sagte er, sind unsere Kräfte, Europas Grenzen sind unsere Grenzen; wir stehen gemeinsam mit den Europäern, um unser Erbe der Freiheit und der Würde zu verteidigen.Gerade wir Deutschen haben keinen Anlaß, an der Verläßlichkeit der Garantien der Vereinigten Staaten zu zweifeln. Diese Verläßlichkeit hat sich an guten und an schweren Tagen in Berlin bewährt.Aber die Vereinigten Staaten sind nicht nur bei der gemeinsamen Verteidigung unsere Partner. Wir wollen den Schulterschluß mit unseren amerikanischen Verbündeten auch beim Bemühen um Abrüstung und Rüstungskontrolle und bei der Gestaltung eines besseren West-Ost-Verhältnisses. Abrüstung, die mehr Sicherheit schafft, liegt gerade im Interesse der Menschen auf unserem hochgerüsteten Kontinent.Meine Damen und Herren, wer könnte größeren Nutzen aus einer Verbesserung des West-Ost-Verhältnisses ziehen als die Europäer, vor allem aber als wir Deutschen?
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558 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987
Bundesminister GenscherDie Grenze mitten durch Europa ist die Grenze mitten durch Deutschland, durch kein anderes Land sonst in Europa.
Deshalb liegt die Verbesserung des West-Ost-Verhältnisses in unserem europäischen und unserem nationalen Interesse.
Wenn es heute die Chance geben sollte, einen Wendepunkt im West-Ost-Verhältnis zu erreichen, dann müssen wir diese Chance ergreifen. Wir dürfen keine Ansätze neuen Denkens, die sich auch in neuem Handeln der Sowjetunion erweisen, ungenutzt vorübergehen lassen.
Eine Politik der Öffnung der Sowjetunion nach innen und außen liegt in unserem Interesse. In unserem Interesse liegt es deshalb auch, eine solche Politik zu ermutigen. Meine Damen und Herren, wir müssen den Willen haben, die andere Seite beim Wort zu nehmen, und wir müssen das Selbstvertrauen haben, auch uns an unseren eigenen Worten messen zu lassen. Wir sind das der Sicherung des Friedens in Europa schuldig. Die Deutschen hier und in der DDR erwarten das von uns.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Mechtersheimer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Obwohl wir heute morgen eine Regierungs-Nicht-Erklärung gehört haben, ist doch einiges deutlich geworden. Es ist nämlich deutlich geworden, daß die Regierung offenkundig im Hinblick auf den 17. Mai nicht die Stimmung in der Bevölkerung nutzen kann, die ganz eindeutig in Richtung einer Doppel-Null-Lösung geht. Das ist bedenklich, weil dann offenkundig die Widerstände gegen eine Null-Lösung auch im Bereich von 500 bis 1 000 km erheblich sein müssen. Wir haben in der Bevölkerung, soweit uns das die Umfragen sagen, eine ganz überwältigende Mehrheit zugunsten der Doppel-Null-Lösung in Kenntnis eines numerischen konventionellen Übergewichts des Warschauer Paktes.
Wenn ich die Situation richtig beurteile, haben wir ja auch wohl hier im Bundestag eine Mehrheit für eine Doppel-Null-Lösung.
Jetzt wird sich herausstellen, wie sich diese Mehrheit in der folgenden Abstimmung umsetzt.
Die Fraktion DIE GRÜNEN wird dem SPD-Antragsicher mehrheitlich zustimmen können, auch wennsich das nicht auf die Begründung bezieht, aber wohl auf den eigentlichen Entschließungsantrag. Nun ist die Frage, wie sich die FDP verhält.
Da lassen wir uns natürlich gerne überraschen. Ich möchte nur darauf hinweisen: Es gibt so viele Versuche, die Bedeutung und die Arbeitsweise, die Wirksamkeit und das Ansehen des Parlaments zu heben. Sie müssen sich darüber im klaren sein: Wenn hier entgegen den politischen Aussagen abgestimmt wird, können Sie auf lange Zeit nicht mehr gutmachen, was Sie dem Ansehen des Deutschen Bundestages antun.
Die deutsch-amerikanischen Beziehungen sind ja wohl nicht so, wie uns das immer dargestellt worden ist. Ich habe den Eindruck, da handelt es sich im Kern doch nur um eine Waffenbrüderschaft. Solange man gemeinsam aufrüstet, ist die Gemeinsamkeit groß; da gibt es die Idee einer strategischen Einheit. In dem Augenblick aber, in dem eine Seite nicht mehr weiterrüsten will — zumindest an einer einzigen Stelle —, fällt das auseinander. Ich hoffe das löst auch bei Ihnen Lernprozesse aus. Ich gehe davon aus, daß in dieser Frage letzten Endes geschieht, was die USA wollen.
Vielleicht ist es der einzige Unterschied, daß das Herr Genscher deutlicher erkennt und besser zu nutzen weiß als der Rest der Koalition.
Die Frage ist schon berechtigt: Wieso eigentlich setzt Herr Reagan möglicherweise seine Unterschrift unter einen solchen Vertrag? Denn das ist doch offenkundig nicht typisch für seine Politik, wenn ich das richtig sehe. Ich sehe auch überhaupt nicht, daß die Kräfte der Aufrüstung gebrochen wären. Ganz im Gegenteil. Die Nuklearwaffenpotentiale in den USA nehmen zu. Für vier verschrottete werden fünf neue Atomwaffen gebaut. Das ist der Zustand im Augenblick. SDI wird forciert. Selbst im Bereich der B-Waffen, wo wir meinten, das Wettrüsten sei völkerrechtlich weggedrückt, sind Anzeichen für Aufrüstung zu erkennen. Deswegen müssen wir realisieren, daß eine Unterschrift des amerikanischen Präsidenten unter eine Null-Lösung, wie auch immer im Detail, an atypischer Schritt für die Politik der US-Administration ist.Zum zweiten. Warum dieses Zögern, warum diese politische Dummheit, Doppel-Null abzulehnen? Es sind mehrere Gründe: die Ängste und das Abschrekkungskonzept.Zu den Ängsten. Ich kann es aus Zeitgründen nur stichwortartig ausführen. Es gibt bei Ihnen in der Fraktion der CDU/CSU — ich sage bewußt: in der Fraktion, nicht: die Fraktion insgesamt — eine Angst vor einem allgemeinen Abrüstungstrend.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987 559
Dr. MechtersheimerDas können Psychologen wahrscheinlich besser erklären. Das sind quasi Ängste vor Entmannung, die offenkundig herumgeistern.
Sie haben Angst vor dem Feindbildentzug. Sie haben Angst vor Denuklearisierung. Denn die nukleare Teilhabe ist ja offenkundig für manchen so etwas wie ein Souveränitätsersatz — Pershing I beispielsweise. Sie haben Angst vor weiteren Abrüstungsvorschlägen der Sowjetunion. Sie machen Politik aus einer Angstsituation heraus. Das erklärt sicher auch das Reaktive, das Passive in Ihrer Politik.Zum Abschreckungskonzept. Die Sowjetunion soll — vielleicht kann man das kurz fachlich einfügen; ich möchte nicht das wiederholen, was hier immer und immer wieder gesagt worden ist — als potientieller Angreifer unmittelbar abgeschreckt werden. Das war die immanent logische Begründung für die Pershing II und die Cruise Missiles. Nachdem man die wegziehen muß — von Ihrer Seite widerwillig — , ist nun folgendes zu fragen.Sie bestehen offenkundig auf den Raketen kürzerer Reichweite, zwischen 500 und 1 000 km. Wen wollen Sie mit diesen Raketen eigentlich abschrecken? Herrn Jaruzelski, Herrn Husák, Herrn Honecker? Irgendwo ist es richtig, wenn man sagt, daß das Abschreckungskonzept durch diese Vorschläge ausgehöhlt wird. Nur wird die Sicherheit deswegen nicht ausgehöhlt. Die Sicherheit nimmt in dem gleichen Maße zu, wie dieses Konzept der nuklearen Abschreckung in die Krise gerät. Nur ziehen Sie nicht die Konsequenz, daß Sie sagen: Dann müssen wir etwas anderes suchen. Sie bleiben dem gefährlichen Atomkriegsführungskonzept verhaftet. Wenn Sie das sind, dann werden Sie alles unternehmen, dann, wenn man Ihnen Abrüstung abgenötigt hat, nach Ausgleichsrüstung zu suchen. Wer widerwillig abrüstet, wird immer versuchen, ein Abkommen zu umgehen. Das ist eine Feststellung, die Sie erst entkräften müssen. Bisher haben Sie nur Argumente dafür geliefert.
Entschuldigen Sie bitte, wenn ich Sie unterbreche, Herr Abgeordneter. Ich möchte das Haus bitten, die notwendige Ruhe für den Redner herzustellen.
Es ist unerträglich, wenn in solchem Umfang Unterhaltungen geführt werden. Diejenigen Abgeordneten, die sich unterhalten wollen, mögen bitte nach draußen gehen.
Ich habe das schon gelernt. Das hängt mit der namentlichen Abstimmung zusammen. Ich sehe darin keine persönliche Mißachtung.
Natürlich. Aber die namentliche Abstimmung — das kann ich dem Hause bei dieser Gelegenheit bekanntgeben — wird frühestens in 25 Minuten stattfinden.
Sie können trotzdem hierbleiben.
Meine Damen und Herren, nun bitte ich die notwendige Ruhe herzustellen. Herr Abgeordneter, fahren Sie fort.
Ich sehe die Gefahr, daß aus der Null-Lösung null Lösung werden könnte, und zwar dann, wenn beispielsweise aus den vielerwähnten hundert Sprengköpfen die Pershing-IISprengköpfe mit Waffensystemen werden sollten, die man dann vielleicht in Alaska deponiert. Das sind zwar nur 108, aber hundert Raketen bleiben erhalten. Sie werden nur verlagert. Das ist eine ganz wichtige Information für die öffentliche Debatte, damit man hier nicht zu sehr an große Abrüstungserfolge glaubt. Es gibt nach wie vor die Möglichkeit einer solchen Regelung, daß die Pershing II nicht verschwindet, sondern nur hinaustransportiert wird. Das muß man ganz nüchtern sehen.Es gibt außerdem die ganz große Wahrscheinlichkeit, daß man die Cruise Missiles, die Marschflugkörper — das sind ja dieselben Waffensysteme — nicht auf Land stationiert, wo sie jetzt sind, sondern auf See. Auch das wäre keine Abrüstung, nicht einmal eine Umrüstung, sondern nur eine regionale Verschiebung.Das ist alles möglich unter dem, was wir als Null-Lösung im weiteren Bereich im Augenblick diskutieren. Wenn 72 Pershing-I-Raketen der Bundesluftwaffe bestehenbleiben, wenn dann möglicherweise hohe oder darüber hinausgehende Obergrenzen für diesen Bereich festgelegt werden, wenn die auch, was vorbereitet ist, noch modernisiert werden und wenn dann auch noch unter Umständen taktische Nuklearraketen eingeführt werden — Reichweite 300 km bis 360 km —, wenn dann vielleicht auch noch die F 16 aus Spanien, weil sie dort wegverhandelt wird, hierher kommt und wenn man dann noch berücksichtigt, daß durch den Zuwachs, wie er jetzt geplant ist, bei den britischen und französischen Raketen das mehr als ausgeglichen wird, worum es im Augenblick bei der Null-Lösungs-Debatte geht, dann ist es berechtigt, davor zu warnen, daß da eine Scheinlösung entsteht. Das muß die Öffentlichkeit wissen.
Ich behaupte, daß Sie in der Unionsfraktion keinen wirklichen Abrüstungswillen haben; Sie haben ihn zumindest nicht belegt. Sie hätten die einmalige Chance, indem Sie nur Ihr Wort hielten, hier das zu tun, was im Augenblick von allen gewünscht wird. Sie akzeptieren Abrüstung aber nur, wenn Sie dafür an anderer Stelle aufrüsten können.Die Konsequenz für die GRÜNEN ist: Wenn die Hoffnungen erfüllt werden sollen, dann muß es ein eindeutiges Null-Lösungs-Konzept geben, in das auch die 72 Pershing I der Bundesluftwaffe eingeschlossen sind.
Da ist es nicht erheblich, ob die Sowjetunion das ebenfalls fordert. Für uns sind diese Raketen wie alle anderen Raketen, ungeachtet der Frage, welches Hoheits-
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Dr. Mechtersheimerabzeichen sie tragen, immer Bedrohungs- und Selbstbedrohungselemente. Deswegen fordern wir als ersten Schritt die Beseitigung auch dieser Pershing-Raketen.
Den Menschen in Osteuropa und Westeuropa ist es völlig gleich, wie das Etikett aussieht, das auf diese Raketen geklebt ist. Der Wille der Bevölkerung lautet nicht: „Macht das so, oder macht einen Umweg! ", sondern die Bevölkerung sagt: Schmeißt diese nuklearen Mittelstreckenraketen aus der Bundesrepublik, aus Westeuropa, aus Europa heraus! Das ist der politische Auftrag, den Sie im Augenblick mißachten.
Die Doppel-Null-Lösung ist eine Chance, wenn sie als erster Schritt genutzt wird, um die Rüstungsspirale umzukehren. Nur, wenn man eine Rüstungsspirale umkehren will, braucht man keine Waffen, sondern Abrüstungsinitiativen. An diesen Initiativen fehlt es. Die Organisation dieser Regierung kennzeichnet das Denken, das dahintersteht, daß man völlig unfähig ist, die Umkehrung der Rüstungsspirale auch politischpraktisch zu betreiben.Ich gehe davon aus, daß, wenn die Friedensbewegung diese erste Chance zur Umkehrung der Rüstungsspirale nutzt, auch bei der Bevölkerung dieses Landes letzten Endes nur die politischen Kräfte eine Zukunft haben, die diesem antinuklearen Willen der Bevölkerung gerecht werden.
Ein letztes Wort zu Herrn Genscher. Herr Genscher hat gesagt, wir sollten das neue Denken nutzen. Herr Außenminister — ich hoffe, daß er irgendwo sitzt und zuhört —, wer das neue Denken nur dem anderen abverlangt und selber die alte Politik fortsetzt, ist ein Anhänger des alten Denkens. Man muß die eigene Position verändern, wenn man etwas erreichen will.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Biehle.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich habe heute morgen, während Herr Vogel sprach, eine fertige Illustrierte bekommen und gelesen.
Darin steht folgendes:
SPD 1987 kopflos wie noch nie. Was den Sozialdemokraten fehlt, sind starke Führungspersönlichkeiten, klare Ziele und Geschlossenheit. Wenn die SPD so weitermacht, verliert sie ihre Rolle als große Volkspartei.
Dies spiegelt in etwa das, was die SPD hier sagte, wider.
Herr Abgeordneter, Entschuldigung, daß ich Sie unterbreche. — Ich möchte diejenigen Abgeordneten, die dem Redner nicht zuhören wollen, eindringlich bitten, den Saal zu verlassen.
— Herr Abgeordneter Vogel, das rechtfertigt nicht, in einem Umfang Unterhaltungen zu führen, der es den anderen Kollegen unmöglich macht, dem Redner zuzuhören.
Ich bitte nunmehr Herrn Abgeordneten Biehle, in seiner Rede fortzufahren.
Herr Vogel meinte, daß die Regierung eine Chance verpaßt habe. Herr Vogel, Sie sollten sich einmal Gedanken machen, ob Sie nicht die Chance vertan haben, nach dem 25. Januar wieder eine ordentliche und realistische Politik zu betreiben.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte klar unterstreichen, daß die CDU/CSU seit der Übernahme der Regierungsverantwortung 1982 in der Abrüstungspolitik eine kontinuierliche Linie verfolgt,
die sich an klaren und eindeutigen Prinzipien orientiert. Die CDU/CSU hat mit der Nachrüstung die NullLösung als Erbe der SPD-Regierung übernommen. Weil wir allen Widerständen zum Trotz standhaft die Nachrüstung durchgestanden und damit letzten Endes auch die Glaubwürdigkeit unserer Bundesrepublik bewiesen haben, haben wir erreicht, daß wieder über weniger Waffen verhandelt wird.Nachdem der Vorschlag der Null-Lösung mittlerweile sechs Jahre alt ist, ist nun wohl auch die Frage erlaubt, ob sich in diesen sechs Jahren die gesamtpolitischen und militärstrategischen Rahmenbedingungen verändert haben. Schließlich ist die Sowjetunion in den zurückliegenden sechs Jahren auch konventionell qualitativ stärker geworden. Sie hat darüber hinaus ihr älteres Potential an Kurz- und Mittelstreckenraketen durch moderne Typen ersetzt. Daran muß ja wohl erinnert werden. Wie so häufig tut sich auch hier ein Widerspruch auf zwischen sowjetischen Worten und sowjetischen Taten. Das will man einfach nicht wahrhaben. Wir halten an der Null-Lösung für weiterreichende Mittelstreckenraketen fest.Herr Bahr, wenn Sie glauben, die Union und die Koalition zum bösen Buben stempeln zu müssen, und dann sagen, daß der Kollege Rühe bei den Amerikanern gewesen sei, um sie gegen die Null-Lösung zu bringen, dann darf ich Ihnen einmal zitieren, was der amerikanische Präsident am 23. April 1987 erklärt hat:Der amerikanische Entwurf schlägt eine Veningerung auf eine vorläufige weltweite Obergrenze von je 100 Sprengköpfen auf amerikanischen und sowjetischen landgestützten INF-Raketen
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Biehlelängerer Reichweite im nichteuropäischen Raum vor bei gleichzeitigen weltweiten Beschränkungen von INF-Raketen kürzerer Reichweite auf gleichem Niveau sowie Bestimmungen für eine wirksame Verifikation.Dies ist, wie ich meine, eine klare Aussage und dies ist auch ein Schulterschluß mit der Bundesregierung.Herr Bahr fordert nun für die SPD die doppelte Null-Lösung, also alle Mittelstreckenraketen längerer und kürzerer Reichweite zu beseitigen, und fügt wie andere Redner auch dann immer hinzu: Es bleiben immer noch über 4 000 nukleare Sprengköpfe, um Abschreckung zu produzieren. — Das ist ein Zahlentrick und eine große Täuschung; denn von diesen über 4 000 Sprengköpfen ist die Hauptmenge Artilleriemunition und damit Gefechtsfeldmunition, mit der keine Abschreckung erzielt wird.Altbundeskanzler Schmidt hat gestern im Fernsehen eine simple neue Formel für das SPD-Gleichgewicht des Warschauer Pakts gefunden: Sowjetarmee minus Satellitenstaaten ist Gleichgewicht. Damit sind die nuklearen Raketen überflüssig.Der SPD-Meisterschütze von Bülow spricht sogar von einer Überlegenheit des Westens. Nun, dem Kollegen von Bülow muß ich sagen: Mengenlehre scheint nicht seine Stärke zu sein.
Sinnvoll wäre es wohl, meine ich — das ist wiederholt angeklungen — , daß eigentlich auch mit der Beseitigung der Gefechtsfeldwaffen begonnen werden sollte;
denn diese bedeuten nicht Abschreckung, sondern Selbstzerstörung unseres deutschen Landes, und zwar in beiden Teilen unseres deutschen Vaterlandes.
Seegestützte Raketen zählen seither zu den strategischen Waffen. Die NATO-Flugzeuge haben eine Doppelrolle, nuklear und konventionell. Sie sind auf neun Flugplätzen stationiert. Im Ernstfall werden sie für die konventionelle Bekämpfung in der Tiefe benötigt. Das Abkoppeln für die nukleare Abschreckung würde angesichts der Luftüberlegenheit der Sowjetunion die nukleare Schwelle erneut senken.Die Union steht zur Null-Lösung für Mittelstreckenraketen größerer Reichweite. Dies bedeutet ein erstes großes Rüstungskontrollabkommen. Zweitens soll es nach dem Abschluß eines Mittelstreckenwaffenabkommens für Raketen größerer Reichweite Verifikationen und vor Ort Inspektion in der Sowjetunion geben. Aber hierzu muß die Sowjetunion erst noch den konkreten Beweis antreten. Ich weiß nicht, ob Sie sich, Herr Vogel, als Sie das heute morgen angesprochen haben, Gedanken gemacht haben, was eigentlich Verifikation bedeutet. Wenn 100 Raketen bestehen bleiben, dann bleiben Produktionsstätten, dann bleibt Logistik, dann bleiben Infrastruktur, Ersatzraketen, Instandsetzungswerkstätten, Übungsraketen usw.
Dies muß genau kontrolliert werden. Wir werden sehen, was die Sowjetunion dazu zu sagen hat. Wir jedenfalls sind dazu bereit.Im übrigen haben sich die außenpolitischen Grundlinien und die Doktrin der Sowjetunion auch unter Generalsekretär Gorbatschow im Vergleich zu seinem Vorgänger kaum geändert. Das Ziel der Sowjetunion ist weiterhin klar: die Abkoppelung der USA von Europa und somit die Schwächung der europäischen Staaten. Die Sowjetunion wird versuchen, dies ohne Einsatz militärischer Macht zu erreichen; dessen bin ich sicher. Ein Krieg zwischen NATO und Warschauer Pakt ist deshalb derzeit höchst unwahrscheinlich. Aber am Beispiel Afghanistans zeigt sich, daß dies nicht mehr zutrifft, wenn die Risiken augeschlossen und beseitigt sind. Man will das Konzept einer atomwaffenfreien Zone in Europa, das die SPD im übrigen mit der SED ausgehandelt hat, nun durch die Hintertür einführen. Diese Taktik sichert den Frieden nicht.Nuklearwaffen waren seither friedenserhaltend. Deshalb sind sie in begrenztem Umfange unter gegenwärtigen Verhältnissen unverzichtbar.
Nuklearwaffen haben seit Jahrzehnten den Frieden in Freiheit bewahrt. Gerade diesen Frieden wollen wir mit bewährten Mitteln auch in die Zukunft hinein für unsere Menschen erhalten.Die CDU/CSU ist ebenfalls bei den Mittelstreckenwaffen kürzerer Reichweite für eine Reduzierung. Denn auch in dieser Waffenkategorie ist die Sowjetunion überlegen. Allerdings: Zu diesem Paket des Friedens — lassen Sie mich das so bezeichnen — gehören auch die Kurzstreckenraketen unter 500 km.
Dazu gehören die C-Waffen, und dazu gehört die konventionelle Rüstung. Dies ist ein Friedenspaket. Wer den Frieden will, muß diesen Weg mit uns beschreiten.
Wir werden testen, ob es die Sowjetunion mit ihren Abrüstungsversprechungen ernst meint.Ein gänzlicher Verzicht auf Mittelstreckenraketen kürzerer Reichweite würde die schon heute vorhandene sowjetische Überlegenheit bei konventionellen und chemischen Waffen drastisch steigern und der Sowjetunion bisher nicht dagewesene militärische Optionen eröffnen. Konventionelle Konflikte in Europa wären wieder denkbar.Wenn Sie, Herr Vogel, heute morgen gesagt haben, daß bei dem Verteidigungsminister Wörner die Beschaffung neuer, moderner Raketen auf der Tagesordnung stehe, dann darf ich Sie daran erinnern, daß wir auch das als Erblast in der Planung und mit Planungsmitteln aus Ihrer Zeit übernommen haben; —
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Biehleeine logische Folge und Konsequenz, natürlich! Nur darf man nicht so tun, als ob das nun Bundesverteidigungsminister Wörner getan hätte.
Wie ist denn die militärische Lage? Ich will nicht so wie Herr Dr. Mechtersheimer fragen: was wäre, wenn?, sondern die Realitäten aufzeigen. Die Sowjetunion hat danach wohl die größte vollmechanisierte Armee der Welt. Sie kann im Kriegsfall allein 200 Divisionen mobilisieren. Hinzu kommen noch 55 der Verbündeten. Das ist bei Panzern, Hubschraubern und Artillerie ein Kräfteverhältnis von 1 :3, und bei den Flugkörpern bis 1 : 9. Es gab gerade in den achtziger Jahren hohe qualitative Verbesserungen.Ich bin davon überzeugt, daß bei sofortiger totaler Beseitigung der kürzeren Mittelstreckenraketen neben der sicherheitspolitischen Komponente auch das letzte Faustpfand zum Einhandeln der konventionellen Abrüstung — hier beziehe ich auch chemische Waffen ein — leichtfertig vergeben würde.Die Sowjetunion würde geradezu einen Lottogewinn verschenken, wenn sie sich dann noch nach diesen totalen Null-Lösungen zu einer konventionellen Abrüstung bereitfände. Für Mittelstreckenwaffen kürzerer Reichweite kann es daher aus all den genannten Gründen derzeit nur eine gleichgewichtige Reduzierung und keine Null-Lösung geben.Wenn die Bundesregierung nun prüft und auch meine Fraktion sorgfältig diskutiert, dann ist das für verantwortliche Politiker eigentlich selbstverständlich.Die Opposition soll doch endlich einmal zur Kenntnis nehmen, daß es nicht einmal ein Papier der Sowjets für die Abrüstung bei Waffen kürzerer Reichweite und auch gar nicht für die Verifikation gibt. Voreilige Beschlüsse dazu sind also leichtfertig. Und im übrigen — lassen Sie mich das einmal an alle hier in diesem Hause sagen — : Wir sollten eigentlich sehr schnell einmal diese ganzen Debatten in die Sprache des Mannes auf der Straße umsetzen; denn bei diesem Chinesisch versteht langsam niemand mehr, worum es hier geht.
Wir sollten es nicht zerreden, sondern für die Menschen auf der Straße klar aufzeigen. Denn der Frieden ist auch für die Menschen im ganzen Vaterlande.Die bisherige Abrüstungspolitik der CDU/CSU ist, wie ich meine, von Erfolg gekrönt. Das wird sich auch in der Zukunft fortsetzen. CDU und CSU haben die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß es zu einer Abschaffung von Mittelstreckenwaffen größerer Reichweite kommt. Wir stellen auch die Weichen dafür, daß der Bestand von Mittelstreckenwaffen kürzerer Reichweite in Europa auf niedrige Obergrenzen reduziert wird. Wer andere Dinge behauptet, stellt die Wahrheit auf den Kopf. Der Unterschied zwischen Ihnen und uns läßt sich auf die griffige Formel bringen: Wir wollen abrüsten, damit der Frieden in Freiheit gefestigt wird. Mit Ihrem Ja zur doppelten Null-Lösung stellen Sie die Weichen für ein atomwaffenfreies Europa, das sowjetische Vorstellungen erfüllt, und vergessen, daß damit das Risiko für die Sowjetunion weitestgehend beseitigt wird. Die NATO hat eine Strategie der flexiblen Abschreckung. Helfen Sie mit, daß es keine risikolose Kriegsführungsstrategie für die Sowjets wird!Die Koalitionsfraktionen haben einen Antrag auf der Drucksache 11/243 eingebracht. Ich beantrage namens der Koalitionsfraktionen dazu ebenfalls namentliche Abstimmung.Herzlichen Dank.
Als nächstes hat der Abgeordnete Scheer das Wort. Ich werde das Wort dem Abgeordneten Scheer aber erst erteilen, wenn die notwendige Ruhe im Hause hergestellt ist.
Herr Abgeordneter Czaja, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie die übrigen Kollegen bitten würden, entweder zu schweigen oder den Saal zu verlassen. Das hat so wirklich keinen Zweck. — Herr Abgeordneter Hoffacker, es geht nicht weiter, solange nicht die notwendige Ruhe dort hinten hergestellt worden ist.
— Das trifft für die andere Seite genauso zu, ja, ja.
So, Herr Abgeordneter Scheer, ich glaube, wir können es einmal probieren.
Schönen Dank, Herr Präsident. — Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Tatsache, daß der Herr Kollege Biehle namens der CDU/ CSU-Fraktion eben namentliche Abstimmung über den Antrag der beiden Koalitionsfraktionen beantragt hat, der lautet:Der Deutsche Bundestag begrüßt und unterstützt die Regierungserklärung des Bundeskanzlers vom 7. Mai 1987.
ist kein Grund zum Lachen,
sondern beleuchtet, daß es hier im wesentlichen um eine Vorstufe zur Vertrauensfrage geht aufgrund einer tiefen Spaltung innerhalb der Regierung.
Deshalb ist dieses ein durchaus heikler Punkt, der eigentlich den Stand dieser ganzen Abrüstungsdebatte markiert.Ich möchte vor dem Hintergrund dieser Debatte für meine Fraktion abschließend fünf Bemerkungen machen.Erstens. Mir fällt auf, daß wiederholt bei Rednern der Union ein Satz auftaucht, der zwar für sich gesehen richtig ist, bei dem aber gefragt werden muß, warum er so oft auftaucht. Der Satz lautet: Sicherheit darf durch Abrüstung nicht geringer werden. Ich wie-
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Dr. Scheerderhole: Natürlich ist das richtig, aber Ihre dauernde Wiederholung dieses Satzes zeigt eines: Ihnen kommt es offenbar gar nicht mehr in den Sinn, daß durch Abrüstung die Sicherheit erhöht werden könnte.
Das heißt, dies drückt Ihre reservierte Haltung aus, die in den letzten Jahrzehnten immer wieder dazu geführt hat, daß parallel zu Abrüstungsgesprächen und erst recht, wenn es sogar um konkrete Ziele und Chancen geht, immer wieder sofort an eine neue, andere Rüstung gedacht worden ist. Anders können es sich einige offensichtlich nicht vorstellen.Nun ist es wichtig, daß man bei dieser Debatte ehrlich bleibt. Die Öffentlichkeit muß nämlich denken: Natürlich reden alle von Abrüstung, und eigentlich muß das ja auch jeder wollen; also geht es offensichtlich nur um verschiedene politische Handlungsmethoden. Ich aber glaube, die Sache ist anders. Tatsächlich hatten die Befürworter des NATO- Doppelbeschlusses von Anfang an zwei ganz verschiedene Motive: Das erste war das von Helmut Schmidt und den Autoren dieses Doppelbeschlusses geprägte Motiv einer Rüstungskontrolle mit dem Ziel, daß die Verhandlungen zu einer beiderseitigen Null-Lösung führen.Das zweite Motiv war, völlig unabhängig von der Anzahl sowjetischer Mittelstreckenraketen und davon, ob es überhaupt welche gibt, eine westliche Mittelstreckenraketenrüstung in Westeuropa herbeizuführen, weil angeblich eine Abschreckungslücke bestehe. Dies war das zweite Motiv.Das erste Motiv war das der damaligen Koalitionsparteien SPD und FDP. Das zweite Motiv war das der damaligen Opposition CDU/CSU. Weil die FDP mit uns an dem Rüstungskontrollziel festhält, ist es jetzt logisch, daß sie jetzt auch für die Null-Lösung ist. Und weil die CDU die Abschreckungslückentheorie im Auge hatte, aber auch deshalb, weil sie unabhängig davon, ob und wie viele sowjetische Mittelstreckenraketen es gibt, nachrüsten wollte, ist es logisch, daß sie jetzt Widerstand gegen diese Abrüstungsmöglichkeiten entfaltet.
Genau das ist der Konflikt, vor dem wir hier in der Bundesrepublik stehen.Nun kann man vielleicht aus irgendwelchen Gründen, die wir nicht teilen, dieser Abschreckungstheorie folgen. Dann sollte man es aber auch ehrlich sagen und nicht so tun, als sei man für Abrüstung, während man sie tatsächlich zu verhindern versucht.
Ein dritter Punkt. Dies alles führt geradewegs dazu, daß immer neue Hürden seitens derjenigen aufgebaut werden, die skeptisch oder ablehnend sind. Das heißt: Es wird versucht, Abrüstung durch weitergehende Abrüstungsvorschläge, die gegenwärtig nicht realisierbar sind, zu verhindern. Man macht diese weitergehenden Abrüstungsvorschläge, weil man sich bei der Verhinderung der Abrüstung nicht von der eigenen Öffentlichkeit erwischen lassen will.
Das ist das eigentliche Handlungsmotiv.Da werden dann Purzelbäume geschlagen, und die sind ungeheuer, wenn man einmal das letzte halbe Jahr Revue passieren läßt. Ab Oktober letzten Jahres, ab dem Reykjavik-Gipfel am 11. Oktober, war die beiderseitige Null-Lösung bei Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite von über 1 000 km Gesprächsgrundlage zwischen den Weltmächten. Die Union hielt diese Lösung bei Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite von über 1 000 km sofort anschließend sicherheitspolitisch für nicht akzeptabel. Das ist von ihrem alten Ansatz her gesehen logisch, weil es die Abschreckungslücke, die angeblich existiert, wieder aufmachen würde. Deshalb hat die Union gesagt: Keine separate Null-Lösung bei Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite von über 1 000 km, sondern Kurzstreckenraketen müssen einbezogen werden.Jetzt — nach einem halben Jahr — ist auf Grund eines amerikanischen Vorschlags, auf Grund eines Vorschlages des amerikanischen Außenministers Shultz, die Einbeziehung der Kurzstreckenraketen — die man jetzt „Mittelstreckenraketen kürzerer Reichweite" nennt — mit einer Reichweite zwischen 500 und 1 000 km auf einmal möglich geworden. Jetzt sagt die amerikanische Regierung gegenüber denjenigen, die nun Widerstand dagegen leisten — das sind dieselben, die erst die Einbeziehung der Kurzstreckenraketen forderten — : Dann wollen wir es wissen. Sie sagt: Wenn ihr die Abrüstung nicht wollt, stimmt ihr entweder sofort einer Nachrüstung bei Kurzstreckenraketen zu, oder ihr stimmt der beiderseitigen Abrüstung zu!Jetzt merkt die Union, daß sie sich bei einer neuen Nachrüstung bei Kurzstreckenraketen die Finger verbrennen würde. Und was ist die Lösung? Sie ist vorgestern herausgekommen. Die Lösung ist, daß sich die Union jetzt nur für eine separate Lösung bei Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite von über 1 000 km einsetzt. Das aber ist eine Lösung, die sie noch vor einem halben Jahr für unerträglich gehalten hat.
Dies ist ein klassischer Purzelbaum, dessen Ursache allein darin liegt — weil man als erfahrener Politiker ja eigentlich nicht so irrational handeln kann — , daß man eigentlich weder die Abrüstung bei den Mittelstreckenraketen noch die Abrüstung bei den Kurzstreckenraketen will,
weil man an der atomaren Abschreckung festhalten will. Das ist der eigentliche Hintergrund des Verhaltens der Union.Was man dann nicht mehr verhindern kann, nämlich die Null-Lösung bei Mittelstreckenraketen, muß dann wenigstens in Zusatzbedingungen so eingerahmt werden, daß es dann heißen kann: Bis hierher und nicht weiter! Denn in der Tat ist alles, was von Ihnen heute an Paketen serviert worden ist, gleichbedeutend damit, daß Abrüstung für lange Zeit aufgeschoben würde.Die greifbar vor uns liegende Abrüstungschance wird wahrscheinlich nicht von ewiger Dauer sein. Es
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Dr. Scheerkann natürlich passieren, daß dieser Kurs, wenn er im Innern der Sowjetunion nicht nach einigen Jahren — das braucht nicht allzulange zu dauern — Erfolge aufweisen kann, wieder durch einen härteren Kurs abgelöst wird. Das kann sein. Das entspricht der bisherigen historischen Erfahrung. Das heißt, wir können nicht beliebig breite Pakete schnüren, die dann irgendwann einmal — wenn wir uns innerhalb des Westens, alle zusammen, über einen Plan der konventionellen Abrüstung bis hin ins letzte Detail geeinigt hätten — zu irgendeiner Abrüstungslösung führen. Und vor allem: Welches Hindernis würde dann aufgebaut werden?Das bedeutet, wir müssen die jetzt greifbaren Chancen wahrnehmen. Dann ist es in der Tat richtig, bei den Atomwaffen zu beginnen, weil sie sich am leichtesten verhandeln lassen — das ist der eine Grund — und weil sie am gefährlichsten sind; denn sie bedeuten, solange sie da sind, die Gefahr der Selbstvernichtung des europäischen Kontinents. Aus dem Grunde ist es wichtig, daß hier angesetzt wird. Das ist eine Lebensfrage.
Ein letzter Punkt, den ich noch hervorheben will: Die im Grunde genommen erbärmlichste Behauptung ist die einer angeblichen 3: 1-Überlegenheit des Warschauer Paktes bei konventionellen Truppen. Das wird als Argument benutzt, um atomare Abrüstung zu blockieren. Eine solche Überlegenheit von 3 : 1 gibt es nicht. Wer das behauptet, kennt sich entweder nicht aus — so daß er hier eigentlich gar nicht sitzen dürfte — oder er täuscht bewußt die Öffentlichkeit.
Nach den Zahlen, über die man sich in Wien bei den MBFR-Verhandlungen geeinigt hat, besteht in Mitteleuropa ein Verhältnis von 1 Million im Westen zu 1,2 Millionen im Osten. Das ist kein Verhältnis von 1 : 3, sondern von 1 : 1,15.
Wenn man Waffen und andere Dinge einbezieht: Es gibt nicht eine einzige seriöse wissenschaftliche Studie, die das unterstreicht. Meine Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, wenn man Waffen einbezieht, muß man natürlich auch die Qualität der Waffen mitberechnen. Auch dazu gibt es Untersuchungen, etwa des amerikanischen Streitkräfteausschusses, der von einem Verhältnis von 1 : 1,2 spricht. Eine 1 : 3-Überlegenheit ist absurd. Wer es in der Vergangenheit als Politiker je hingenommen hätte, daß sich so etwas entwickelt, hätte verantwortungslos gehandelt.Ich komme zum Schluß. Wir anerkennen das Engagement der FDP für eine doppelte Null-Lösung. Wir hoffen, daß sie dieses Engagement durchsteht. Wir sind der festen Überzeugung, daß sie dieses Engagement nur durchstehen kann, weil es ein breites Engagement der Sozialdemokraten und weit darüber hinaus in der Bundesrepublik für atomare Abrüstung gibt.
Nur deshalb kann sie das durchstehen, weil sie weiß, weil eine übergroße Mehrheit der Bevölkerung von uns das Engagement für die Abrüstung der Atomwaffen in Deutschland verlangt. Darüber wird heute abgestimmt.
Meine Damen und Herren, ich kann nunmehr die Aussprache schließen.
Bevor ich dem Abgeordneten Mischnick das Wort nach § 31 unserer Geschäftsordnung gebe, möchte ich dem Hause bekanntgeben:
Erstens. Es werden zwei namentliche Abstimmungen stattfinden.
Zweitens. Die Sitzung des Ältestenrats beginnt fünf Minuten nach Beendigung der zweiten namentlichen Abstimmung.
Drittens. Nach der zweiten namentlichen Abstimmung wird es noch einige — auch kontroverse — Abstimmungen geben, so daß ich die Damen und Herren Abgeordneten bitte, im Hause zu bleiben.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Mischnick.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Zur Abstimmung über den Antrag der Koalitionsfraktionen erkläre ich — nicht nur in meinem Namen, sondern auch im Namen meiner Fraktion — , daß wir ihm zustimmen, weil damit sichergestellt wird, daß die Null-Lösung für Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite von mehr als 1 000 Kilometer von der Koalition insgesamt unterstützt wird. Und wenn es noch einer Begründung für die namentliche Abstimmung bedurfte, dann haben Sie sie soeben gegeben, weil Sie bezweifelt haben, daß es in diesem Punkt Einmütigkeit in der Koalition gebe.Zweiter Punkt: Damit wird sichergestellt, daß eine vorbehaltlose Prüfung aller Gesichtspunkte des zweiten Teils der Vorschläge erfolgt. Wenn ich eine vorbehaltlose Prüfung will,
schließt das aus, heute eine Festlegung zu treffen
und damit das Ergebnis einer Prüfung vorwegzunehmen,
zumal für den zweiten Teil schriftliche Vorschläge der Sowjetunion bis zur Stunde nicht vorliegen
und wir Blankoschecks weder früher noch heute ausgestellt haben bzw. ausstellen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987 565
MischnickWelche Gesichtspunkte die Freien Demokraten in die weitere Diskussion einbringen, ist erfreulicherweise auch von den Kollegen der Sozialdemokraten richtig erkannt worden.Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, wir kommen nunmehr zur Abstimmung.
— Also, der Abgeordnete Professor Ehmke hat das Wort zu einer Erklärung zur Abstimmung gemäß § 31 unserer Geschäftsordnung. Aber ich wäre — wenn ich das einmal sagen darf — dankbar gewesen, wenn diese Wortmeldung hier oben pünktlich angekommen wäre.
Ich bitte um Entschuldigung, Herr Präsident. — Herr Präsident, ich möchte den Kollegen Mischnick nur darauf aufmerksam machen, daß — —
Herr Professor Ehmke, da Sie ein in Sachen Geschäftsordnung kenntnisreicher Abgeordneter sind — so unterstelle ich — , gehe ich davon aus, daß Sie eine Erklärung zur Abstimmung und keine Erwiderung auf die Erklärung des Abgeordneten Mischnick abgeben.
Die Erklärung zur Abstimmung ist, daß wir nicht eine Abstimmung über einen Vertrag verlangen, der noch gar nicht vorliegt, sondern daß wir darauf zielen, das Bemühen der beiden Großmächte zu unterstützen, zu einem solchen Abkommen zu kommen. Das ist das, was der Herr Kollege Mischnick hier selbst gesagt hat.
So, nun können wir wirklich zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 11/243 kommen. Nach § 52 unserer Geschäftsordnung ist ordnungsgemäß namentliche Abstimmung beantragt worden. Sie kennen das Verfahren.Die Damen und Herren Schriftführer bitte ich an die Urnen. Die Abstimmungen können nicht laufen, wenn die Urnen nicht entsprechend besetzt sind.Ich eröffne die Abstimmung.Darf ich die Geschäftsführer der Fraktionen bitten, einmal festzustellen, ob wir die Abstimmung bald schließen können.Darf ich einmal rückfragen: Kann die Abstimmung geschlossen werden? — Ja. SPD? — Frau Abgeordnete Traupe, kann ich die Abstimmung schließen? — Dann schließe ich die Abstimmung.* )Meine Damen und Herren, wir kommen nunmehr zu der Abstimmung über den Antrag der SPD auf Drucksache 11/225, der zurückgezogen und dann neu eingebracht worden ist, also Drucksache 11/225 .
— Die Abstimmung ist geschlossen, Herr Abgeordneter Stratmann. Ich habe dreimal gefragt.Die Besetzung der Urnen bleibt wie gehabt, die Urnen werden ausgetauscht.Ich eröffne die Abstimmung.Ich möchte darauf aufmerksam machen, daß im Anschluß an diese namentliche Abstimmung noch einige andere kontroverse Abstimmungen stattfinden. Die Fraktionen müssen also dafür sorgen, daß die Besetzung des Hauses entsprechend ihren Wünschen ist.Darf ich fragen, ob alle Anwesenden abgestimmt haben? — Darf ich die Geschäftsführer der Fraktionen fragen, ob wir die Abstimmung schließen können? — Ich schließe die Abstimmung und bitte die Damen und Herren, Platz zu nehmen, damit wir die weiteren Abstimmungen durchführen können.* * )Ich rufe den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/230 auf. Es wird beantragt, daß der Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/230 zur federführenden Beratung an den Auswärtigen Ausschuß und zur Mitberatung an den Verteidigungsausschuß überwiesen wird. Wer diesem Antrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Damit ist dieser Antrag angenommen.Der Ältestenrat schlägt vor, die Vorlage auf Drucksache 11/15 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. — Gibt es andere Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Die Überweisung ist beschlossen.Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 5 bis 7 sowie die Zusatztagesordnungspunkte 3 bis 7 auf :5. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 30. April 1986 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Ungarischen Volksrepublik über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen— Drucksache 11/26 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Wirtschaft Auswärtiger Ausschuß6. Beratung des Antrags des Bundesministers der Finanzen*) Ergebnis der Abstimmung Seite 586B * *) Ergebnis der Abstimmung Seite 587 D
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566 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987
Vizepräsident CronenbergEntlastung der Bundesregierung für das Haushaltsjahr 1985— Vorlage der Haushaltsrechnung und Vermögensrechnung des Bundes — — Drucksache 10/6753 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Haushaltsausschuß7. Beratung des Antrags des Bundesministers für WirtschaftRechnungslegung über das Sondervermögen des Bundes„Ausgleichsfonds zur Sicherung des Steinkohleneinsatzes"— Wirtschaftsjahr 1985 — — Drucksache 10/6784 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Haushaltsausschuß
Ausschuß für WirtschaftZusatzpunkt 3:Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Entschädigung für NS-Unrecht"— Drucksache 11/223 —Zusatzpunkt 4:Beratung des Antrags der Fraktion der SPDVerbesserung der Situation der Sinti und Roma— Drucksache 11/224 — Zusatzpunkt 5:Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Dr. Vollmer und der Fraktion DIE GRÜNENGesetzentwurf zur Regelung einer angemessenen Versorgung für alle Opfer nationalsozialistischer Verfolgung in der Zeit von 1933 bis 1945— Drucksache 11/141 — Zusatzpunkt 6:Beratung des Antrags der Abgeordneten Schily, Frau Dr. Vollmer und der Fraktion DIE GRÜNENEntschädigung für Zwangsarbeit während der Nazi-Zeit— Drucksache 11/142 — Zusatzpunkt 7:Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Dr. Vollmer, Frau Nickels und der Fraktion DIE GRÜNENNichtigkeitserklärung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 und der nach diesem Gesetz ergangenen Entscheidungen— Drucksache 11/143 — Eine Aussprache ist nicht vereinbart.Zu den Tagesordnungspunkten 5 bis 7 schlägt der Ältestenrat vor, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dazu andere Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann kann also die Überweisung als beschlossen gelten.Nun kommen wir zu den Zusatztagesordnungspunkten 3 bis 7. Hierzu hat der Ältestenrat keinen Vorschlag für eine Ausschußüberweisung gemacht. Es gibt also hier Differenzen.Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP haben zu dem Zusatztagesordnungspunkt 3 beantragt, den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD auf der Drucksache 11/223 zur federführenden Beratung an den Innenausschuß und zur Mitberatung an den Rechtsausschuß sowie zur Mitberatung und zur Beratung gemäß § 96 unserer Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuß zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das Wort hat die Abgeordnete Frau Vollmer.
Ich spreche zu den Zusatzpunkten 3 bis 6.Bei Zusatzpunkt 7 sind wir damit einverstanden, daß an den Rechtsausschuß überwiesen wird.Aber bei den Zusatzpunkten 3 bis 6 bitten wir Sie, der Überweisung an den Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit zuzustimmen.Nun ist gerade diese Frage keine, die man im Parteienstreit lösen sollte. Ich will auch dazusagen, daß es gute Argumente gibt, sie im Innenausschuß federführend zu behandeln. Mein Kollege Ströbele hat es in der Vergangenheit auch gesagt. Die Hauptbegründung, es im Innenausschuß zu behandeln, ist, daß die NS-Vergangenheit und das Aufspüren der Wurzeln und auch der weiteren Wirkungen des nationalsozialistischen Denkens eine Frage der demokratischen Kultur und damit im Innenausschuß sehr gut angesiedelt ist.Ebenso gute Gründe gibt es aber, die Vorlagen an den Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit zu überweisen, weil die Fragen der betroffenen Behinderten, der Psychiatrie, der Sinti und Roma und auch der Sozialhilfebereich in diesem Ausschuß verankert sind.Weswegen wir Sie aber bitten, es doch federführend bei dem Auschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit zu lassen, dafür gibt es zwei Gründe.Das eine ist die Vorgeschichte. Diese Gesetzentwürfe — sowohl die Entwürfe der SPD als auch die der GRÜNEN — sind unverändert aus der letzten Legislaturperiode eingereicht worden. Sie haben dann einen regelrechten Irrweg gemacht. Sie waren eingereicht im Innenausschuß, kamen dann in den Finanzausschuß und landeten schließlich im Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit. Wir meinen, daß gerade diese Gesetzentwürfe keine weitere Verzögerung vertragen.
Wir bitten Sie vielmehr ganz eindringlich, zu bedenken, daß es hier um etwas geht, was wirklich ein allerletzter Termin ist. Die Menschen, die davon profitieren sollen, sterben nämlich darüber, wenn sie nicht rechtzeitig dieses bißchen Versorgung und die darin
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987 567
Frau Dr. Vollmerenthaltene Würdigung, welches Unrecht ihnen geschehen ist, erreicht. Deswegen fürchten wir, daß es, wenn es jetzt noch einmal den Ausschuß wechselt, wiederum eine Verzögerung gibt, die wir nicht wollen.Es gibt einen zweiten Grund: Gerade infolge dieser Irrwege hat es in der Vergangenheit die Situation gegeben, daß die Ministerin Süssmuth einen Bericht vortragen mußte, der vom Finanzministerium erarbeitet worden war und der katastrophale Begriffe und Vokabeln enthalten hat, für die man sich schämen mußte.
Die Ministerin hatte damals die politische Verantwortung dafür. Ich denke, sie hat sich in ziemlich eindringlicher Weise in die Materie eingearbeitet; und sie hat sich persönlich dafür verantwortlich gefühlt, daß diese Frage für die Betroffenen befriedigend geregelt wird. Sie hat mit Herrn Galinski gesprochen, mit Vertretern des Auschwitz-Komitees, mit dem Zentralrat der Roma und Sinti, mit Vertretern der Mengele-Zwillinge; und sie hat in Auschwitz selber gesagt, daß sie sich persönlich dafür verantwortlich fühlt.In diesem Falle bitte ich Sie, doch zu überlegen: Wollen Sie diese Frage — jedenfalls von seiten des Ministeriums — lieber in den Händen von Frau Süssmuth haben oder in den Händen von Herrn Zimmermann? Da bitten wir Sie, sie in die Verantwortung des Ausschusses für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit zu geben, also als Adressaten die Ministerin Süssmuth zu wählen, und unserem Antrag zuzustimmen, die Vorlagen dorthin zu überweisen.
Meine Damen und Herren, da hier offensichtlich Unklarheit über die vorliegenden Anträge herrscht, möchte ich noch einmal klarstellen: Für die Anträge unter den Zusatzpunkten 3 bis 7 sind sich die Fraktionen von SPD, CDU/ CSU und FDP darüber einig, daß in jedem Fall die Überweisung in den Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit — zur Mitberatung, nicht zur Federführung — erfolgt.
Die GRÜNEN beantragen zunächst einmal für den Zusatzpunkt 3 die Federführung des Ausschusses für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit.
— Also für alle?
— Für die Punkte 3 bis 6, nicht für alle? Okay. - Herr Abgeordneter Seiters, Sie bekommen gleich das Wort. Ich wollte nur noch einmal klarstellen, daß wir über die Punkte 3 bis 6 geschlossen abstimmen können. Nachdem dies klargestellt ist, gebe ich Ihnen, Herr Abgeordneter Seiters, gern das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte zunächst einmal klarstellen — ich glaube, das ist wichtig — , daß alle Fraktionen sofort bereit waren, diese Gesetzentwürfe zusätzlich auf die Tagesordnung dieser Woche zu nehmen und sie an die Ausschüsse zu überweisen, damit möglichst bald in die Beratungen eingetreten werden kann. Da gibt es also überhaupt keinen Streit.
Es geht um eine sachgerechte Beratung, und wer sich an die Diskussion im November 1986 erinnert, der weiß ganz genau, daß damals — darauf ist ja auch hingewiesen worden — die Fraktion der GRÜNEN ausdrücklich beantragt hat, alle Vorlagen geschlossen an den Innenausschuß zu überweisen und keine Aufteilung vorzunehmen. Damals ist eine andere Regelung getroffen worden.
Ich will Ihnen jetzt nicht unterstellen, daß Ihr Sinneswandel damit zusammenhängt, daß der Vorsitzende des Ausschusses für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit von Ihnen gestellt wird, aber Sie sollten auch uns nicht etwas unterstellen. Ich fühle mich etwas provoziert, weil Sie hier zwei Minister gegeneinander abgewogen haben. Das sollten wir um der Materie willen, glaube ich, nicht tun.
Ich denke, es gibt für unseren Antrag eine gute Begründung. Ich darf nur noch einmal die Überschriften nennen: Gesetzentwurf zur Regelung einer angemessenen Versorgung für alle Opfer nationalsozialistischer Verfolgung in der Zeit von 1933 bis 1945, Entschädigung für Zwangsarbeit während der Nazi-Zeit, Errichtung einer Stiftung „Entschädigung für NS- Unrecht" und Verbesserung der Situation der Sinti und Roma. Das alles gehört von der Kompetenz, von der Zuständigkeit her wirklich in den Innenausschuß, und zwar geschlossen, ohne Aufteilung. Was wir hier vorschlagen, ist sinnvoll.
Im übrigen weise ich darauf hin, daß man sich ja gestern, wie ich höre, im mitberatenden Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit darauf verständigt hat, möglicherweise eine gemeinsame Anhörung mit dem federführenden Innenausschuß vorzunehmen.
Damit wird doch schon all das mit berücksichtigt, was hier an Vorschlägen von anderer Seite kommt. Aus diesem Grunde meine ich: Überweisen wir jetzt, damit die Ausschüsse anfangen können, tätig zu werden.
Das Wort hat der Abgeordnete Wolf gramm.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die Bedeutung, die wir dem Thema dieser Anträge beimessen, zeigt sich darin, daß wir die Diskontinuität ja de facto nicht wirksam werden lassen, sondern zum frühestmöglichen Zeitpunkt die Ausschüsse damit beschäftigen wollen, damit wir auch in der Sache bald zu einem Ergebnis kommen, was in der letzten Legislaturperiode leider durch Zeitablauf nicht mehr möglich war.
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568 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987
Wolfgramm
Wir haben damals schon gesagt: Es ist sinnvoll, daß wir diesen Komplex der Entschädigungsfragen und Wiedergutmachungsfragen aus der schmachvollen NS-Zeit — die Sinti und Roma eingeschlossen — in eine Hand legen wollen. Es war damals, wie ich meine, vielleicht doch nicht ganz glücklich, daß wir es gespalten haben. Wir waren jedenfalls der Meinung, ein Ausschuß sollte federführend sein. Der Innenausschuß ist auf Grund seiner Beschäftigung mit Fragen des Lastenausgleichs und mit Wiedergutmachungsfragen besonders mit Entschädigungsfragen betraut gewesen. Es sind hier sicherlich auch Statusfragen abzuwägen, für die der Innenausschuß ebenfalls federführend ist. Damit werden die Rechte des Ausschusses für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit nicht geschmälert. Er ist mitberatend. Er wird seine Überlegungen mit einbringen können. Aber wir möchten, daß es hier in einer Hand liegt. Deswegen stimmen wir für die Überweisung in den Innenausschuß.
Das Wort hat der Abgeordnete Jahn.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In dieser Auseinandersetzung sollten wir uns auf das Wesentliche konzentrieren. Wichtig sind zwei Dinge: erstens, daß diese schwierigen Themen, die in den verschiedenen Anträgen angesprochen sind, so schnell wie möglich in die Sachberatung kommen, und zweitens, daß wir Zusagen, die gemeinschaftlich gegeben worden sind, nämlich noch vor der Sommerpause in eine öffentliche Anhörung einzutreten, ebenfalls einlösen können. Dies ist auch, nachdem der Kollege Seiters das hier noch einmal ausdrücklich festgestellt hat, für den Innenausschuß und den Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit gesichert. Wir wollen deshalb das Verfahren fördern und werden der Überweisung, obwohl wir in der Sache eine andere Grundauffassung hatten, an den Innenausschuß zustimmen, zumal auch die Mitberatung durch den Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit sichergestellt ist.
Die Fraktion der GRÜNEN erhält den Antrag aufrecht. Dann lasse ich darüber abstimmen. Wer also dem Antrag der GRÜNEN folgen will, daß die Zusatztagesordnungspunkte 3 bis 6 in dem Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit federführend beraten werden, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Damit ist dieser Antrag abgelehnt.
Ich gehe davon aus, daß die Überweisung gemäß dem Antrag der Koalitionsfraktionen, dem auch die SPD zugestimmt hat, erfolgt.
Damit sind folgende Überweisungen erfolgt:
Zusatzpunkt 3: federführend Innenausschuß, mitberatend Rechtsausschuß und Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit, mitberatend und gemäß § 96 der Geschäftsordnung Haushaltsausschuß
Zusatzpunkt 4: federführend Innenausschuß, mitberatend Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit, mitberatend und gemäß § 96 der Geschäftsordnung Haushaltsausschuß
Zusatzpunkte 5
und 6: federführend Innenausschuß, mitberatend
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit und Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung, mitberatend und gemäß § 96 der Geschäftsordnung Haushaltsausschuß
Ich lasse jetzt über den Zusatztagesordnungspunkt 7 abstimmen.
Hier besteht Übereinstimmung, daß zur federführenden Beratung an den Rechtsausschuß und zur Mitberatung an den Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit sowie zur Mitberatung und zur Beratung nach § 96 an den Haushaltsausschuß überwiesen wird. — Weitere Vorschläge werden nicht gemacht. Dann ist dies so einstimmig beschlossen.
Nunmehr kann ich Sie in die Mittagspause entlassen.
Die Fragestunde beginnt um 14.15 Uhr. Die Sitzung ist unterbrochen.
Die unterbrochene Sitzung wird fortgeführt. Wir treten in die
Fragestunde
— Drucksache 11/207 —
ein.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen auf. Zur Beantwortung steht uns Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Voss zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 13 des Herrn Abgeordneten Dr. Struck auf:
Kann die Bundesregierung bestätigen, daß mit den angekündigten Eckdaten für die Neuverschuldung des Bundes 1988 und 1990 alle jetzt schon bekannten Milliarden-Belastungen berücksichtigt sind, wie z. B. höhere Kokskohlenbeihilfen auf Grund des niedrigeren Dollar-Kurses, Airbus-Finanzierung, Anstieg der Zinsausgaben auf Grund höherer Neuverschuldung, Abdekkung der Kosten für das Babyjahr der Trümmerfrauen, neue Forschungs- und Verteidigungsvorhaben?
Bitte sehr.
Danke schön, Herr Präsident.
Herr Kollege Dr. Struck, die Bundesregierung kann dies nicht bestätigen. Wie ich bei der Frage des Kollegen Mertens gestern bereits ausführte, ist die Meinungsbildung der Bundesregierung zur Entwicklung des Bundeshaushalts 1988 und des Finanzplans bis 1991 noch nicht abgeschlossen.
Eine Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, ist bei den Zahlen der Neuverschuldung für 1988 und 1990 von der Bundesregierung unterstellt worden, daß es wie-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987 569
Dr. Struckder zu Ausgabensperren kommt, wie es sie schon für 1986 und 1987 gegeben hat?Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Struck, es ist einfach verfrüht, zum jetzigen Zeitpunkt etwas Derartiges zu beantworten. Hierüber sind keine Entscheidungen gefallen. Hierüber gibt es jetzt auch noch keine besonderen Gedankengänge. Es ist also effektiv zu früh, jetzt eine derartige Sache zu entscheiden. Ich habe bereits gestern gesagt: Wir sind jetzt im Moment bei den sogenannten Referatsleitergesprächen. Dann schließen sich die Abteilungsleitergespräche an. Dann kommt die Steuerschätzung. Dann kommen die Chefgespräche. Dann kommt die Kabinettsvorlage. Sie wissen, was sich auf diesem Wege noch alles verändern kann. Ergo ist es bedeutend zu früh, jetzt derartige Fragen zu beantworten.
Weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, daß die Bundesbankgewinne für die Jahre 1988 und 1990 genausohoch ausfallen werden, wie noch in der gültigen Finanzplanung für diesen Zeitraum vorgesehen?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Struck, auch das ist nicht zu bestätigen. Sie wissen, daß das von den Verhältnissen des Vorjahres abhängt. Die Bundesregierung hat aber von Anfang an, seit sie die Verantwortung übernommen hat, immer den Ausgangspunkt gehabt, daß die Bundesbankgewinne sich nicht in dieser Höhe fortsetzen würden, wie sie sich in den Anfangsjahren dargestellt haben. Von daher haben wir in der Finanzplanung immer einen degressiven Ansatz gewählt.
Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Poß.
Herr Staatssekretär, können Sie die Meldung des Bonner „General-Anzeigers" vom 29. April bestätigen — oder eben nicht —, daß 1988 mindestens 500 Millionen DM weniger Bundesbankgewinne zu erwarten seien, als bisher im Finanzplan angenommen wurde? Für 1988 sind 7 Milliarden DM angenommen worden.
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Das sind Spekulationen der Presse, zu denen ich keine Stellung nehmen kann, Herr Kollege.
— Das vermag ich nicht zu sagen. Ich kann nicht sagen, was aus einem Hause wie dem Bundesfinanzministerium auf diese oder jene Weise den Gang in die Presse findet.
Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Stahl.
Herr Staatssekretär, nun ist aber doch in etwa bekannt, was die Airbus-Finanzierung von seiten des Bundes insgesamt kostet. Es ist auch bekannt, was der Bundeskanzler und was der Forschungsminister an Verbindlichkeiten z. B. im
Bereich der Luft- und Raumfahrtforschung mit den Franzosen und mit den Amerikanern insgesamt ausgehandelt bzw. zugesagt haben. Deshalb ist Ihre Antwort nicht ganz verständlich, daß Sie z. B. für diese beiden Punkte nicht sagen können, in welcher Höhe dazu Nettokreditaufnahmen notwendig sein werden.
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Stahl, wem die Materie vertraut ist, der findet meine Antworten nicht unverständlich. Beispielsweise laufen zur Zeit, was die Airbus-Finanzierung anbetrifft, noch eine Reihe von Gesprächen zwischen uns, dem Bundeswirtschaftsministerium, und der Industrie. Hier sind deutliche Unterschiede hinsichtlich der Notwendigkeiten der Finanzierung festzustellen. Das geht von der Serienfinanzierung über die Senkung der Kosten bis hin zur Übernahme von Bürgschaften oder zur Risikoübernahme bezüglich des Dollarkurses. Das sind alles sehr gewichtige Punkte. Bevor über diese nicht endgültig entschieden ist, ist auch hier Endgültiges nicht zu sagen.
Keine weitere Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 14 des Herrn Abgeordneten Dr. Struck auf:
Kann die Bundesregierung bestätigen, daß bei der Erhöhung der Neuverschuldung für den Bund 1988 und 1990 und gleichzeitig niedrigeren Ausgabesteigerungen als bisher vorgesehen zusätzliche Entlastungen für den Bundeshaushalt dadurch zustande kommen, daß vorgesehen ist, eine Reihe von Bundesausgaben auf die Bundesanstalt für Arbeit zu übertragen?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Struck, ich vermag auch dies nicht zu bestätigen; denn die Mehrbelastungen des Bundes, die sich durch die stufenweise Einbeziehung der vor 1921 geborenen Mütter in die Regelung über die Anerkennung von Kindererziehungszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung ergeben, sollen durch eine Neuordnung der Finanzbeziehungen des Bundes zur Bundesanstalt für Arbeit in einem mittelfristigen Zeitraum ausgeglichen werden.
Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, wie beurteilen Sie die Meldung des „Handelsblattes" vom 25. Februar 1987 — darf ich Sie auffordern, dazu Stellung zu nehmen —, nach der der Bund in Erwägung zieht, die Kosten für die Förderung benachteiligter Jugendlicher auf die Bundesanstalt für Arbeit zu übertragen?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Struck, Sie können von mir nicht verlangen und ich bin auch nicht bereit, zu Pressemeldungen Stellung zu nehmen, die weitgehend auf spekulativem Hintergrund beruhen.
Weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, nachdem ich vorausschicke, daß ich dafür Verständnis habe, darf ich Sie fragen, ob die Bundesregierung in Erwägung zieht, Maßnahmen, die bisher aus dem Bundeshaushalt finanziert wurden, z. B. aus dem Sozialhaushalt,
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570 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987
Dr. Struckauf den Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit zu übertragen. Mit anderen Worten: Hat die Bundesregierung in ihrer Planung für den Haushalt 1988 eine derartige Möglichkeit — abstrakt oder konkret — vorgesehen?Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Struck, ich habe eben gesagt, daß eine Neuordnung der Finanzbeziehungen vorgesehen ist. Im Rahmen dieser Neuordnung kann sich natürlich das eine oder andere ergeben; aber das ist im Moment nicht definitiv zu sagen.
Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Poß.
Herr Staatssekretär, verstehe ich Ihre letzte Antwort so richtig, daß Sie Verschiebungen vom Bundeshaushalt auf den Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit nicht ausschließen?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich habe schon mehrmals gesagt: Die Frage „Können Sie ausschließen oder können Sie nicht ausschließen ... " ist letztlich eine intellektuell unredliche Frage. Ich kann nicht ausschließen, daß morgen der Himmel einstürzt und alle Spatzen tot sind. Bei Entscheidungen, die von Gremien gefaßt werden, wie das in der Demokratie üblich und notwendig ist, kann niemand ausschließen, daß sich letztlich die eine oder andere Tendenz durchsetzt. Das werden Sie aus Ihrer parlamentarischen Erfahrung doch auch nur bestätigen können.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich hoffe, daß wir alle davor verschont bleiben, daß eine solche Möglichkeit überhaupt ins Auge gefaßt wird.
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Ich hoffe das auch, Herr Präsident.
Herr Abgeordneter Stahl, bitte.
Herr Staatssekretär, nun sind derartige Pressemeldungen, die Sie in Ihrer netten Art kommentiert haben, sicherlich nicht aus der Luft gegriffen oder, wie Sie sagen, vom Himmel gefallen, sondern sie sind Bestandteil ernster Erwägungen, die zumindest bei der mittelfristigen Finanzplanung des jeweiligen Ministeriums erörtert wurden. Ich gehe davon aus, daß dies am Kabinettstisch zumindest angesprochen wurde. Können Sie wenigstens das bestätigen?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich habe Ihnen den Gang schon mehrmals aufgeführt. Wir sind mit diesen Überlegungen noch nicht am Kabinettstisch; da ist noch eine ganze Reihe von Vorstufen zu durchlaufen.
Sie können sicher sein, daß alle wichtigen und ernsthaften Überlegungen im Kabinett zur Sprache kommen, wie das auch bisher der Fall gewesen ist. Wie etwas von den einzelnen Presseorganen in ihren Artikeln gewertet wird, ist noch kein Grund dafür, daß es auch wirklich den Durchbruch ins Kabinett schafft.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe die Frage 15 des Herrn Abgeordneten Poß auf:
Bedeutet die Streckung des Subventionsabbaus ab 1990 auf mehrere Jahre, daß für die entstehende Finanzierungslücke des „ 19 Milliarden DM-Umstrukturierungsteils" des Steuerpakets 1990 die Mehrwertsteuer erhöht werden muß?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Poß, sind Sie damit einverstanden, daß ich wegen des sachlichen Zusammenhangs Ihre beiden Fragen gemeinsam beantworte?
Nein.
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Dann zunächst zu Frage 15: Die Koalitionsparteien haben mit ihren steuerpolitischen Beschlüssen die Eckpunkte der für 1990 geplanten großen Steuerreform beschlossen. Dies soll eine Bruttoentlastung von 44 Milliarden DM ergeben. Zur Finanzierung dieser Reform sollen steuerliche Umschichtungen in Höhe von 19 Milliarden DM erfolgen. Nach Feststellung der Koalition macht es die geplante nachhaltige Tarifsenkung für alle Einkommensteuerpflichtigen möglich, einen Teil dieses Umschichtungsbetrages von 19 Milliarden DM im Sinne einer Vereinfachung des Steuersystems durch den Abbau von Steuersubventionen und steuerlichen Sonderregelungen zu gewinnen. Dabei kann es sich in der Sache als sinnvoll erweisen, bestimmte Sonderregelungen stufenweise abzubauen. Dies steht jedoch in keinem Zusammenhang mit einer Erhöhung der Mehrwertsteuer.
Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, daß die Meldung einer Ihnen nahestehenden Zeitung, nämlich der „Bild"-Zeitung vom 29. April 1987, falsch ist, daß von der Bundesregierung eine Erhöhung der Mehrwertsteuer um einen Prozentpunkt in Erwägung gezogen wird?Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die Bundesregierung hat mehrfach zum Ausdruck gebracht, daß sie eine Mehrwertsteuererhöhung nicht anstrebt, daß sie also nicht den Weg gehen will, Herr Kollege, den Ihre Partei im Jahre 1977 und im Jahre 1979 gegangen ist,
indem sie nämlich bei entsprechenden Steuerentlastungen jeweils die Mehrwertsteuer um einen Prozentpunkt erhöht haben. Diesen Weg will diese Bundesregierung nicht gehen. Das hat sie verschiedentlich erklärt, und dabei bleibt sie auch.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987 571
Weitere Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, ist es richtig, daß ohne eine Erhöhung der Mehrwertsteuer für den Bundeshaushalt erhebliche Mehrbelastungen aus dem 19-Milliarden-DM-Teil des Steuerpaketes entstehen müssen, wenn gleichzeitig der Subventionsabbau über mehrere Jahre gestreckt werden wird?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, es ist vorgesehen, die Steuerentlastung von über 44 Milliarden DM durch eine Kompensation von 19 Milliarden DM zu begleiten. Das heißt, hier müssen alle Steuervergünstigungen oder, wenn Sie so wollen, alle Subventionen auf den Prüfstand gebracht werden; denn Sie werden mit mir darüber einig sein, daß nur der Zeitpunkt, wie wir ihn jetzt haben, nämlich im Zusammenhang mit einer wirklich deutlichen Steuerentlastung, der geeignete sein wird, um Subventionen abzubauen. Die Subventionen, die jetzt beispielsweise außen vor gelassen würden, würden dann in der nächsten Zeit auch nicht mehr in dieser Form zur Debatte gestellt werden können. Von daher ist die Bundesregierung der Meinung, daß eventuell sogar ein stufenweiser Abbau in Betracht kommen kann, da ja die Subventionen nicht alle von gleicher Qualität sind, da sie nicht alle das gleiche Gewicht für den Steuerbürger haben.
Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Struck.
Herr Staatssekretär, können Sie hier in diesem Hause definitiv erklären, ob die Bundesregierung beabsichtigt, die Mehrwertsteuer zu erhöhen, oder nicht?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Struck, ich habe Ihnen eben gesagt, die Bundesregierung ist fest entschlossen, alles zu tun, was eine Erhöhung der Mehrwertsteuer vermeiden kann. Sie wird alle Anstrengungen unternehmen, um an einer Mehrwertsteuererhöhung, wie wir sie in den Jahren 1977 und 1979 — —
— Nein, Herr Kollege, das war in einem anderen Zusammenhang. Damals war es nicht im Zusammenhang mit Steuerermäßigungen, sondern mit der Notwendigkeit, mit einer Belastung fertig zu werden, die wir von Ihnen übernommen haben.
Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Stahl.
Herr Staatssekretär, nun sind 19 Milliarden DM kein Pappenstiel, und Sie werden Verständnis dafür haben, daß wir von seiten der Opposition gegenüber der Regierung skeptisch sind, weil Sie schon einmal versprochen haben, Subventionen sehr stark abzubauen, und dies nicht eingehalten haben. Deshalb meine Frage: Sie sprachen vorhin an, daß ganz bestimmte Sonderregelungen, Steuervergünstigungen bzw. Subventionen, abgebaut werden sollen. Können Sie dem Hohen Hause einmal darstellen, was z. B. in dem Geheimpapier der FDP-Fraktion steht, in dem ja eine ganze Latte von derartigen Maßnahmen oder Vorschlägen aufgeführt ist, und welche bestimmten Sondervergünstigungen und Subventionen Sie für die Deckung dieser 19 Milliarden DM denn abbauen wollen?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, Ihnen ist bekannt, daß die Bundesregierung und die Koalition beschlossen haben, den Subventionsabbau im Herbst dieses Jahres anzugehen.
Sie werden von mir nicht verlangen können — ich werde das auch nicht tun —, Ihnen jetzt einige dieser Subventionen hier zu nennen und Ihnen zu sagen, diese werde abgebaut und jene nicht.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Schreiner.
Herr Staatssekretär, da Sie soeben sagten, daß alle steuerlichen Vergünstigungen nun auf den Prüfstand kämen, frage ich Sie: Können Sie für die Bundesregierung definitiv sagen, daß der Weihnachtsfreibetrag, der allgemeine Arbeitnehmerfreibetrag und die steuerliche Begünstigung von Feiertags-, Wochenend- und Nachtarbeit von der Bundesregierung ausgenommen wird?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich muß mich leider wiederholen, weil Sie sich in Ihrer Fragestellung auch wiederholen.
— Nein, nein, die Wiederholung lag in der Frage, die vorher schon gestellt worden ist. Es ist eben schon davon geredet worden, ob ich etwas ausschließen könne. Ich will hier nichts ausschließen, und ich kann hier nichts ausschließen. Man kann etwas erst ausschließen, wenn Beschlüsse gefaßt worden sind, und Beschlüsse sind in diesem Zusammenhang bisher nicht gefaßt worden.
— Nein, nein, das ist ja der völlig falsche Schluß.
Sie können nicht daraus, Herr Kollege, daß ich sage: Ich kann das nicht ausschließen und will das nicht ausschließen, weil ich doch parlamentarischen Entscheidungen und parlamentarischen Verfahren nicht vorgreifen will, den Umkehrschluß ziehen, daß ich das will.
Herr Abgeordneter, die Zwischenbemerkungen in der Fragestunde sind nicht so zu genehmigen, wie das in der allgemeinen Debatte üblich ist.
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572 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987
Vizepräsident StücklenAber Ihnen, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, würde ich dringend empfehlen, auf die Zwischenrufe nicht einzugehen. Sonst kommen Sie in Teufels Küche.Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Ich komme nicht in Teufels Küche.
Eine weitere Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, können Sie ausschließen, daß Ihr Minister angesichts steigender Subventionen und der steigenden Nettoverschuldung nicht mehr in den Spiegel schauen kann?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die Ernsthaftigkeit dieser Frage muß ich bezweifeln. Daher versage ich mir eine Antwort darauf.
Ich war abgelenkt; sonst hätte ich diese Frage gar nicht zugelassen.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Dann rufe ich die Frage 16 des Herrn Abgeordneten Poß auf.
Kann die Bundesregierung bestätigen, daß bei einer Erhöhung der Mehrwertsteuer Länder und Gemeinden zur Finanzierung ihres Anteils am „ 19 Milliarden DM-Umstrukturierungsteil" des Steuerpakets 1990 erheblich stärkere Finanzierungsprobleme zu erwarten haben, als der Bund und die Gemeinden darüber hinaus die erhöhte Mehrwertsteuer bei ihren Ausgaben zusätzlich bezahlen müssen?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Poß, die Bundesregierung hat, wie gesagt, wiederholt darauf hingewiesen, daß sie eine Erhöhung der Mehrwertsteuer nicht anstrebt. Die Bundesregierung wird bis zur Vorlage des Gesetzentwurfs für die Steuerreform die dafür notwendigen Einzelentscheidungen einschließlich derjenigen betreffend die einzelnen Finanzierungselemente treffen. Aus diesem Grunde sind Aussagen über unterschiedliche Belastungen der einzelnen öffentlichen Haushaltsebenen zur Zeit nicht möglich.
Eine Zusatzfrage? — Bitte.
Herr Staatssekretär, ist es Ihnen aber möglich, zumindest die folgende Frage im Blick auf die mittelfristige Finanzplanung zu beantworten, die ja für den Bund für 1990 eine Neuverschuldung von 22 Milliarden DM vorsieht, was jetzt von Ihnen sehr wahrscheinlich auf 33 Milliarden DM korrigiert wird: Können Sie bestätigen, daß eine entsprechende Erhöhung der Neuverschuldung des Bundes eine Erhöhung der Neuverschuldung aller Gebietskörperschaften in der Finanzplanung um rund 28 Milliarden DM auf 50 bis 60 Milliarden DM im Jahre 1990 bedeutet?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, Sie unterstellen hier wieder etwas, was ich nicht bestätigt habe und was ich auf Grund des Entscheidungsprozesses, den wir noch vor uns haben, auch nicht bestätigen kann. Von daher sind auch die Folgerungen, die
Sie treffen, auf Sand gebaut, und von daher vermag ich sie nicht zu bestätigen.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist es denn in diesem hypothetischen Fall einer Erhöhung der Mehrwertsteuer richtig, daß die Gemeinden eine erhöhte Mehrwertsteuer über ihre Ausgaben zusätzlich bezahlen müßten und ansonsten von einer Mehrwertsteuererhöhung nicht profitieren würden?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Es ist nicht zu bestreiten, Herr Kollege, daß von einer Erhöhung der Mehrwertsteuer, die aber hypothetisch ist, die von mir nicht bestätigt wird und die von der Bundesregierung nicht angestrebt wird, natürlich diejenigen, die am meisten Mehrwertsteuer zu zahlen haben, auch stärker betroffen werden als andere; das ist ganz denknotwendig und ganz selbstverständlich.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Stahl.
Herr Staatssekretär, wenn Sie das Loch, das Herr Poß hier eben angesprochen hat, nicht bestätigen, dann darf ich Sie doch fragen, wie sich denn diese 19 Milliarden DM, die Ihnen jetzt fehlen — derzeit steigen ja bei den Gemeinden auf Grund der hohen Arbeitslosigkeit gerade die Ausgaben für die Sozialhilfe ganz immens; dies gilt für alle; man kann ja Herrn Rommel, der ein sehr vernünftiger Mann in dieser Sache ist, einmal zitieren; er sagt, daß die Gemeinden demnächst alle pleite seien — , auf die Gemeinden auswirken, zumal Sie ja wohl versprochen haben — nicht Sie persönlich, aber die Bundesregierung — , daß den Gemeinden für die Sozialhilfe demnächst Vergünstigungen erteilt werden sollen, damit sie zusätzliche Investitionen vornehmen?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Stahl, ich halte es für ziemlich selbstverständlich, daß beim Abbau von Steuervergünstigungen alle den Anteil tragen, den sie auch sonst haben. Das ist ganz normal. Wenn gesagt wird, auf Grund anderer Umstände müßten hier jetzt Sonderregelungen getroffen werden, so vermag ich mich damit nicht anzufreunden.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Struck.
Herr Staatssekretär, ist es richtig, daß der Bund bei einer — hypothetischen — Mehrwertsteuererhöhung von einem oder zwei Prozentpunkten mehr Einnahmen zusätzlich erhält als die Länder, Bund und Länder aber an der Einkommensteuer den gleichen Anteil haben, mit anderen Worten, daß der Bund der große Profiteur bei einer Mehrwertsteuererhöhung wäre?Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Struck, das können Sie schon aus der Verteilung der Mehrwertsteuer ersehen; denn die Verteilungsmechanismen sind hier ja unterschiedlich, und ergo sind auch
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987 573
Parl. Staatssekretär Dr. Vossdie Ergebnisse unterschiedlich. Das ist auch denknotwendig.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Die Frage 17 und 18 des Abgeordneten Börnsen sollen auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft auf. Zur Beantwortung der Fragen steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Dr. von Wartenberg zur Verfügung.
Die Fragen 19 und 20 werden auf Grund von Nr. 2 Abs. 2 der Richtlinien für die Fragestunde schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 21 des Herrn Abgeordneten Dr. Sprung auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Zukunftschancen der deutschen Blei- und Zinkproduktion, nachdem über 800 weitere Arbeitsplätze durch die Schließung der beiden Bergwerke im Harz in dieser Woche verlorengegangen sind und damit 85 v. H. der deutschen Bleierzförderung, 53 v. H. der Zinkerzförderung und die gesamte Silbererzförderung ausfällt?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Herr Dr. Sprung, ich beantworte Ihre Frage wie folgt: Der Beschluß der Preussag AG, die beiden letzten Gruben im Harz, Rammelsberg und Bad Grund, Ende 1987 und damit einige Jahre früher, als wegen der bevorstehenden Erschöpfung der Vorräte ohnehin geplant, stillzulegen, hat auf die Zukunftschancen der deutschen Blei- und Zinkhütten kaum einen Einfluß. Die Gründe für die vorzeitige Stillegung liegen in der mangelnden Rentabilität der beiden Gruben. Es ist zu erwarten, daß die Hütten ihren Erzbedarf durch Importe decken können.
Nach Stillegung der beiden Bergwerke ergibt sich rechnerisch ein zusätzlicher Importbedarf von Blei- und Zinkkonzentraten mit einem ausbringbaren Metallinhalt von ca. 15 000 t bei Blei und 42 000 t bei Zink. Gemessen an unseren bisherigen Importen wird dies eine Importsteigerung bei Bleikonzentraten um ca. 12 % und bei Zinkkonzentraten um ca. 17 bedeuten. Unsere also ohnehin schon bestehende hohe Importabhängigkeit wird damit bei Bleikonzentraten von bisher ca. 86 % auf 98 % und bei Zinkkonzentraten von ca. 66 % auf rund 83 % steigen.
Herr Kollege Sprung, angesichts weltweiter Überkapazitäten im Bereich der NE-Metallerzbergbauförderung, weitgestreuter Bezugsquellen und weltoffener Märkte dürfte der höhere Importbedarf an diesen Rohstoffen auch auf längere Sicht keine Schwierigkeiten bereiten.
Für Blei gilt dies allerdings mit der Maßgabe, daß das Angebot an Bleikonzentraten auf dem Weltmarkt zur Zeit knapp ist. Die Ursache hierfür liegt darin, daß in letzter Zeit mehrere Gruben, deren Erze nur einen verhältnismäßig geringen Metallgehalt haben, als Folge des seit über mehrere Jahre andauernden Preisrückgangs für Blei stillgelegt wurden. Zur Zeit steigt jedoch der Bleipreis wieder an. Sollte sich diese Entwicklung über längere Zeit fortsetzen, so kann davon ausgegangen werden, daß auch das Angebot von Bleikonzentraten auf dem Weltmarkt erneut anwächst.
Zusatzfrage? — Bitte sehr.
Herr Staatssekretär, stimmen Sie mir zu, daß unter dem Gesichtspunkt eines Mindestmaßes an Versorgungssicherheit der Verlust einer eigenen Rohstoffbasis zu bedauern ist?
Dr. von Wartenberg, Parl. Staatssekretär: Ja, ich stimme zu.
Wenn Sie zustimmen, würde ich gerne die Frage anschließen, ob man dann nicht genauso verfahren sollte wie bei anderen Rohstoffbereichen, bei denen ja auch dieses Argument vorgebracht wird, um ihnen bei der Bewältigung ihrer Probleme behilflich zu sein.
Dr. von Wartenberg, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Sprung, wir überprüfen alle derartigen Maßnahmen, sind aber auf Grund der wirtschaftlichen Entwicklung und der Rohstoffversorgung der Meinung, daß hier in diesem Fall kein konkreter Handlungsbedarf besteht.
Haben Sie noch eine Zusatzfrage?
— Sie haben noch eine.
— Ja, gut, in Ordnung.Dann rufe ich Frage 22 des Herrn Abgeordneten Dr. Sprung auf:Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, der deutschen NE-Metallindustrie bei der Anpassung an die veränderte Marktsituation zu helfen, sei es durch internationale, durch EG- oder durch nationale Lösungen oder Maßnahmen?Bitte sehr.Dr. von Wartenberg, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Sprung, die Lage auf den NE-Metallmärkten wird für die Produzenten immer schwieriger. Bei den Metallerzeugern wirkt sich vor allem der stark gefallene Wechselkurs des US-Dollars aus. Als Folge hat sich das Verhältnis zwischen Erlös und Produktionskosten während der letzten zwei Jahre fortwährend verschlechtert. Nach Angaben der betreffenden Unternehmen wird in diesem Bereich zur Zeit vielfach mit Verlusten gearbeitet. Insgesamt sind es aber die auf der Hüttenstufe bestehenden Überkapazitäten, die den Unternehmen Schwierigkeiten bereiten.Die veränderten Rahmenbedingungen zwingen im NE-Metallbereich zur Strukturanpassung. International nicht mehr wettbewerbsfähige Produktionen müssen auf Sicht stillgelegt werden.
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574 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987
Parl. Staatssekretär Dr. von WartenbergDie Bundesregierung ist der Auffassung, daß solche Strukturanpassungsprozesse nicht zu vermeiden sind. Ein ungehinderter internationaler Handel, an dem wir als exportorientiertes Land in hohem Maße interessiert sind, kann nur dann reibungslos funktionieren, wenn sich die am Welthandel Beteiligten notwendigen strukturellen Anpassungsprozessen nicht entgegenstellen.
Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, ist die Bundesregierung bereit, die jüngsten Bemühungen einer Reihe europäischer Zinkproduzenten z. B. im Hinblick auf die Erstellung einer gemeinsamen Studie über die optimale Gestaltung der Bergwerks- und Hüttenkapazitäten zu unterstützen? Ich könnte mir denken, daß diese Unterstützung ja auf verschiedensten Wegen möglich wäre.
Dr. von Wartenberg, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Sprung, zum aktuellen Stand: Wir sind, was die Beurteilung einer solchen Unterstützung angeht, noch nicht soweit. Bereits 1983 bestanden ja in der europäischen Zinkindustrie Pläne, in diesem Bereich übernommene Überkapazitäten abzubauen. Die günstige Preisentwicklung in den vergangenen Jahren verhinderte dies jedoch.
Die Tatsache, daß inzwischen wieder alle europäischen Zinkhütten rote Zahlen schreiben dürften, hat vermutlich zu den erneuten Überlegungen beigetragen. Wir haben die Pressemeldungen bisher auch nur zur Kenntnis genommen. Wir wissen, daß die Zinkindustrie eine Studie in Auftrag gegeben hat. Wir werden dann Einzelheiten in der Bundesregierung beraten.
Noch eine Zusatzfrage.
Ich hätte von Ihnen, Herr Staatssekretär, dann noch gern gewußt, inwieweit die Schwierigkeiten, die dieser Wirtschaftszweig hat — das betrifft insbesondere die Blei-, Zink- und Kupfergewinnung — , auch darauf zurückzuführen sind, daß diese Produktionen in anderen Ländern subventioniert werden?
Dr. von Wartenberg, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Sprung, wir haben nicht nur in diesem Bereich, .sondern in vielen Bereichen Strukturkrisen in der Bundesrepublik mit zu ertragen, die dadurch entstanden sind, daß weltweit Überkapazitäten vorhanden sind, auch im europäischen Raum, die woanders subventioniert werden. Wir haben bisher versucht, diese Subventionen zu drücken.
Herr Abgeordneter Sprung, zu Ihrer ersten Frage haben Sie eine Zusatzfrage gestellt, aber der Umstand, daß Sie zu Ihrer ersten Frage nur eine Zusatzfrage gestellt haben, wird nicht im Sinne einer Gutschrift für die nächste Frage gewertet. Wenn aber bei Ihnen ein Geschäftsordnungsirrtum entstanden ist, dann sollte man hier großzügig sein. Haben Sie noch eine wichtige Zusatzfrage?
Ja, Herr Präsident, ich habe noch eine wichtige Zusatzfrage.
Ja, bitte schön.
Diese Aussage des Herrn Staatssekretärs führt mich zu der weiteren Frage, was denn nun — so wie für andere Bereiche, würde ich gern hinzufügen — auch für diesen Wirtschaftszweig getan wird, um die von anderen Ländern gewährten Subventionen zurückzudrängen?
Dr. von Wartenberg, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Sprung, Sie wissen aus der Zeit Ihrer Tätigkeit als Parlamentarischer Staatssekretär, daß die Bundesregierung insbesondere in Brüssel darauf achtet, daß die anderen europäischen Staaten entsprechend dem Subventionskodex die Subventionen herunterfahren, was auch in diesem Bereich sehr hilfreich wäre.
Die Fragen 23 und 24 des Herrn Abgeordneten Stiegler sollen auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Damit ist dieser Geschäftsbereich abgeschlossen. Vielen Dank.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung auf. Zur Beantwortung steht uns Herr Parlamentarischer Staatssekretär Würzbach zur Verfügung.
Frage 27 des Herrn Abgeordneten Dr. Weng soll auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe Frage 25 des Herrn Abgeordneten Neumann auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung Tendenzen, wie sie z. B. in Bremen-Vegesack zum Ausdruck kommen, daß auf Vermittlung des Bremer Senats ein Denkmal aufgestellt wurde mit der Aufschrift: „Dem unbekannten Deserteur — Reservisten verweigern sich", das einen Bundeswehr-Stahlhelm darstellt und vom Senat finanziell gefördert wurde?
Herr Kollege Neumann, nach den vorliegenden Erkenntnissen soll die Skulptur die Deserteure aus dem Zweiten Weltkrieg auf eine Ebene mit den Widerstandskämpfern gegen das nationalsozialistische Regime stellen, und sie soll versuchen, Desertieren als moralische Pflicht auch für Soldaten unserer Bundeswehr zu propagieren. Das bezeichne ich als eine bewußte Geschichtsfälschung, dazu als grobe Geschmacklosigkeit. Nach Auffassung der Bundesregierung ist beides nicht hinnehmbar.Darüber hinaus ist das eine Diskriminierung sowohl der Frauen und Männer des Widerstandes gegen Hitler als auch all der Soldaten, die im Zweiten Weltkrieg ehrenhaft und in gutem Gewissen ihre Pflicht erfüllt haben, wie aber auch der Soldaten unserer Bundeswehr, die die Erfüllung unseres Verteidigungsauf-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987 575
Parl. Staatssekretär Würzbachtraps, nämlich den Frieden zu sichern — das sind inzwischen allein über fünfeinhalb Millionen Wehrpflichtige gewesen —, mit gewährleistet haben.Zusätzlich wird von den Denkmalaufstellern wie — ich füge das ausdrücklich hinzu — von denen, die das gefördert haben, zwischen der Verteidigung unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung in unserer Demokratie Bundesrepublik und dem Krieg des NS-Unrechtsregimes eine Gemeinsamkeit hergestellt. Solche Versuche dürfen nach Ansicht der Bundesregierung keine Unterstützung, erst recht nicht die von frei gewählten Parlamentariern und Parlamenten erfahren.Der Bundesminister der Verteidigung hat aus diesen Gründen dem Bürgermeister der Hansestadt Bremen bereits zweimal brieflich die Bitte mitgeteilt, diese Skulptur zu entfernen. Leider ohne Erfolg.
Eine Zusatzfrage, bitte sehr.
Herr Staatssekretär, wie bewerten Sie die Tatsache, daß diese Skulptur mit der Aufschrift „Dem unbekannten Deserteur — Reservisten verweigern sich" vom Bremer Senat mitfinanziert wurde, daß der Senat für die Aufstellung der Skulptur ein staatliches Bürgerhaus zur Verfügung stellte und daß sich ein offizieller Vertreter der bremischen Landesregierung mit einem befürwortenden Redebeitrag an der Einweihungszeremonie beteiligte?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, das ist ein schlimmer und — ich sage — die geschichtlichen Zusammenhänge verfälschender und geschmackloser Vorgang, der dort in dem Wissen, daß dadurch — mit Zurückhaltung formuliert — zumindest Unfriede in diesem Zusammenhang hergestellt wird, vorgenommen wurde. Wir haben diesen Vorgang mit Empörung einerseits und mit Bedauern andererseits registriert. Er brachte die Bundesregierung dazu, den Bremer Senat zweimal — das wird nicht das letzte Mal gewesen sein, wenn dem kein Erfolg beschieden ist — offiziell zu bitten, die Schritte rückgängig zu machen, an denen man sich selbst beteiligt hat.
Eine weitere Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, wie bewerten Sie die in einem Schreiben an den Kommandeur der Panzergrenadierbrigade 32 vom bremischen Senator für Bildung, Wissenschaft und Kunst Franke enthaltene Aussage — ich zitiere — :
Ich halte die Gewissensentscheidung, in einem Krieg nicht mitzumachen und angesichts von Kriegsgreueln zu desertieren oder Befehle zu verweigern, nach wie vor für aktuell. Ich bin mir bewußt, wie heikel dieses Thema für Armeen ist, deren Selbstverständnis schließlich zu einem guten Teil auf Gehorsam aufbaut.
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, keiner will Krieg, auch nicht die Soldaten in unserer Bundeswehr; im Gegenteil: sie leisten Dienst dafür, daß ein Krieg — das ist bisher sehr erfolgreich geschehen — verhindert wird. Aber es ist schon, wie ich finde, ein großes Maß an Unterstellung, wenn man den vielen wehrpflichtigen Soldaten, wie in dieser schlimmen Beurteilung geschehen, das Gewissen abspricht. Jeder Soldat — Berufssoldat, Zeitsoldat wie auch jeder Wehrpflichtige — hat wie die, die den Dienst in den Streitkräften nicht leisten, vorher sein Gewissen in gründlicher Form auch geprüft und ist dann zu der Entscheidung gekommen: Jawohl, ich leiste in dieser Armee meinen Dienst, um den Frieden in der Demokratie zu erhalten. Ich finde es mehr als schlimm — ich hoffe, daß man in sich geht und das ändert — , daß diesen Soldaten eine solche Überlegung in der Form abgesprochen wird.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Lippelt.
Herr Staatssekretär, glauben Sie nicht, daß der Begriff des Desertierens in der deutschen Geschichte so sehr belastet ist, daß es sehr wohl richtig wäre, diesen Begriff einmal in einem anderen Lichte zu sehen? Ich erinnere in dem Zusammenhang an die vielen Unrechtsurteile, u. a. von einem ehemaligen CDU-Ministerpräsidenten, zur Zeit des letzten Krieges gegen Deserteure.
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Ich finde, es wird dem Ernst der Dinge, über die wir hier reden, nicht gerecht, wenn man, Herr Kollege, Deserteure alle miteinander gleichermaßen pauschal verurteilte. Genauso wenig aber ist es natürlich zulässig, Desertieren generell auf eine Stufe mit dem zu stellen, was ich vorhin in der Antwort — ich glaube, ausführlich und verständlich — gesagt habe. Ich darf also Deserteure nicht auf eine Stufe mit denen stellen, die als Widerstandskämpfer gegen das Regime aufgetreten sind. Weder das eine, noch das andere ist am Platz. Deshalb ist eine solche öffentliche Ehrung unter Beteiligung öffentlicher Repräsentanten völlig unangebracht und der Sache nicht entsprechend.
Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Weyel.
Herr Staatssekretär, ich nehme an, daß Sie auf Grund ihres Alters nicht aktiver Kriegsteilnehmer im letzten Krieg waren. Ich begrüße durchaus, daß Sie soeben ein bißchen differenziert haben. Aber sind Sie nicht der Meinung, daß unter denjenigen, die im letzten Krieg als Deserteure bezeichnet worden sind, sehr wohl Soldaten sein können, die aus politischer Überzeugung desertiert sind, z. B. nach dem Erlebnis von Erschießungen von Zivilisten im Osten und dgl., und halten Sie es nicht auch für verständlich, wenn unter den zuletzt rekrutierten Jugendlichen, die zum Teil 15, 16 Jahre alt waren, angesichts der letzten Kriegstage auch manche desertiert sind, weil sie es für sinnlos hielten, in dieser letzten Phase ihr Leben wegzuwerfen, und ist nicht der Begriff des Deserteurs unter diesem Gesichtspunkt für die Zeit des letzten Krieges mit etwas mehr Fingerspitzengefühl zu betrachten?
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576 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, in dem ersten Teil haben Sie meine Aussage ausdrücklich bestätigt. Ich brauche die, glaube ich, nicht zu wiederholen.Und was den letzten Teil angeht, bestätigte ich das, was Sie mich soeben gefragt haben. Ich hätte mir gewünscht, daß der Bremer Senat mit mehr Fingerspitzengefühl an dieses Thema herangegangen wäre. Zwar gab es sicherlich den 15jährigen und vielleicht auch den 50jährigen Soldaten, der damals nichts anderes mehr tun konnte, als sich diesem Weg anzuschließen, weil er eine andere Widerstandsform nicht hatte. Aber mit Sicherheit gab es auch den oder die, die diesen Weg aus anderen Motiven, aus persönlicher Feigheit gegangen sind. Deshalb ist es bei diesem ernsten Thema — ich nehme Ihr Wort —, das Fingerspitzengefühl verlangt, völlig unangebracht, eine solch pauschale Heraufstellung auf diesen Sockel, auf eine Ebene mit den Widerstandskämpfern, Frau Kollegin, einerseits und mit Soldaten der Bundeswehr in der Demokratie andererseits — bei den Reden wurden Worte gesprochen wie: Wir als Reservisten der Bundeswehr sind die Deserteure von morgen — vorzunehmen. Und dies ist das, was die Bundesregierung nicht versteht.
Weitere Zusatzfrage, Herr Dr. Emmerlich.
Herr Staatssekretär, teilen Sie meine Auffassung, daß es sich bei Hitlers Krieg um einen in der Geschichte seinesgleichen suchenden brutalen Eroberungskrieg mit dem Ziel der Versklavung ganzer Völker und der Ausrottung bestimmter Rassen handelte, und sind Sie der Auffassung, daß über einen Deserteur bei einem solchen Krieg generell das moralische Unwerturteil gefällt werden kann, das Sie hier zum Ausdruck gebracht haben?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, den Krieg und die Art, wie Soldaten — in der Meinung, ihre Pflicht als Soldat gewissenhaft zu tun, worauf sie ja auch einen Eid geleistet haben — dort mißbraucht worden sind, beurteile ich wie Sie. Und ich verurteile — ich tue das in sehr kurzer Form, weil wir auf Fragen und Antworten aufbauen, die wir hier in den letzten Minuten hatten — deshalb ganz besonders, daß hier eine Brücke zwischen der Situation damals und der Situation heute oder morgen in unserer Demokratie geschlagen wird.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe die Frage 26 des Abgeordneten Dr. Emmerlich auf:
Verstößt es gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz, daß junge männliche Deutsche, die, wie z. B. Boris Becker ihren Wohnsitz ins Ausland verlegt haben, nach geltendem Recht nicht zum Wehrdienst herangezogen werden können, und wird die Bundesregierung eine Initiative zu einer entsprechenden Änderung des Wehrpflichtgesetzes ergreifen?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Emmerlich, der Gleichbehandlungsgrundsatz verlangt, Gleiches gleich zu behandeln. Er erlaubt solche Differenzierungen, für die vernünftige, sachlich einleuchtende Gründe vorliegen.
Es verstößt daher nicht gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz, daß das Wehrpflichtgesetz bei jenen männlichen Deutschen, die ihren ständigen Aufenthalt und ihre Lebensgrundlage — beides muß, bitte, im Zusammenhang gesehen werden — im Ausland haben, das Ruhen der Wehrpflicht vorsieht. Ständiger Aufenthalt im Ausland und wirtschaftliche Unabhängigkeit vom Inland sind sachgerechte Kriterien, die die bestehende gesetzliche Regelung rechtfertigen. Die bloße Verlegung des Wohnsitzes ins Ausland — wie in Ihrer Frage im Zusammenhang mit Boris Becker formuliert — reicht nicht aus, die Wehrpflicht zum Ruhen zu bringen.
Deshalb sieht die Bundesregierung in diesem Zusammenhang keinen Handlungsbedarf.
Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, ermöglicht die jetzige gesetzliche Regelung — allerdings zugegeben: nur — den Personenkreisen, die den dazu erforderlichen finanziellen und sonstigen Aufwand betreiben können, nicht, sich gleichsam von der Wehrpflicht freizukaufen, und halten solche Möglichkeiten für tolerabel, insbesondere angesichts des hohen Pathos, das Sie im Zusammenhang mit der vorigen Frage zum Ausdruck gebracht haben?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, nähme ich einmal an, es wäre so, wie Sie in Ihrer Frage fragen, dann bedeutete dies, daß wir in ganz jungem Kindesalter bereits eine Überwachung einführten, um Personen zu ergreifen, wehrmäßig zu erfassen, zu überwachen: wo gehen sie mit neun, zwölf, 15 oder sonstwieviel Jahren hin, ernähren sie sich drüben im Ausland selber, stehen sie auf eigenen Füßen? Und ich glaube, schon durch schildern dieser Möglichkeiten, die ja Notwendigkeiten würden, wird deutlich, daß hier eine völlige, auf 100 Prozent gehende Erfassung dieser Dinge durch das Gesetz nicht möglich ist.
Andererseits — da stimme ich Ihnen zu — erwartet die Bundesregierung gerade von denen, die eine Menge Gutes durch ihr Vaterland haben, die im Namen dieses Landes — für sich selbst, aber auch sicher für das Land — Erfolge, bis hin zu finanziellen, einstreichen, daß sie sich zu gegebener Zeit der Pflicht unterziehen, wie es Millionen andere vor ihnen und — ich sage — für sie, damit hier Ruhe, innere und äußere Ordnung und Frieden bestanden, getan haben.
In dem genannten Fall, nach dem Sie fragen, bei Boris Becker, haben wir begründete Annahmen, daß er, bevor er aus dem Wehrpflichtalter herauswächst, sich — in Anführungsstrichen gesprochen — freiwillig dieser Wehrpflicht stellen wird.
Weitere Zusatzfrage, bitte.
Unter Bezugnahme auf das, was Sie zur Gleichbehandlung und der sich daraus ergebenden Verpflichtung, Gleiches gleich zu behandeln, und der Möglichkeit, Ungleiches ungleich behandeln zu dürfen, ausgeführt haben, frage ich Sie: Läuft es in dem hier zur Grundlage meiner Frage
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987 577
Dr. Emmerlichgemachten Fall nicht darauf hinaus, daß die Steuerflucht durch eine Freistellung von der Wehrpflicht belohnt wird?Würzbach, Parl. Staatssekretär: Diesen Zusammenhang, Herr Kollege, sehe ich nicht.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe die Frage 28 des Abgeordneten Huonker auf:
Welche Gründe sind für die Entscheidung maßgeblich, auf dem bundeseigenen Gelände in Sachsenheim , im Ballungsgebiet „Mittlerer Neckar", ein NATO- POMSS-Depot zu errichten, und kann die Bundesregierung zusichern, daß eine umfassende Umweltverträglichkeitsprüfung durchgeführt wird, die auch die Frage alternativer Standorte einschließt?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Huonker, das NATO-Depot wird für amerikanische Verstärkungskräfte im entsprechenden Bereich benötigt. Nach Lage und Größe ist das bundeseigene Gelände des ehemaligen Flugplatzes und der ehemaligen Raketenstellung für die Errichtung dieses Depots mit einer Bedarfsfläche von rund 70 ha besonders geeignet. Andere im Besitz des Bundes stehende Flächen dieser Größenordnung stehen in diesem Raum nicht zur Verfügung.
Die Landesregierung Baden-Württemberg wird im Rahmen des ja noch nicht abgeschlossenen Anhörungsverfahrens nach dem entsprechenden Raumordnungsgesetz zu dem Vorhaben Stellung nehmen. Sie wird sich dabei natürlich vor allem zu den Fragen der Umweltverträglichkeit dieses Depots und zu den Belangen des Naturschutzes äußern. Wenn diese Stellungnahmen vorliegen, werden möglicherweise Versuche, andere Standorte, sollten erhebliche, gravierende Bedenken vorgetragen werden, zu finden, einzuleiten sein.
Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, wird bei der Planung derartiger Vorhaben entsprechend den Grundsätzen für die Prüfung der Umweltverträglichkeit öffentlicher Maßnahmen des Bundes aus dem Jahre 1975 verfahren, in denen eine Umweltverträglichkeitsprüfung vorgesehen ist, und ist die Bundesregierung bereit, bei der Weiterverfolgung ihrer Überlegungen eine solche Umweltverträglichkeitsprüfung unter Einbeziehung dessen, was die Landesregierung vortragen wird, vorzunehmen?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, natürlich wird auf der Grundlage bestehender Gesetze — seit 1975 haben wir diese Gesetze ja eher verschärft als verwässert — überprüft, vorgetragen, abgewogen. Daran wird sich die Bundesregierung sehr genau halten.
Herr Staatssekretär, Sie haben gesagt, es gäbe in dem entsprechenden Raum keine Ausweichplätze. Können Sie definieren, was Sie hier mit „Raum" , „Bereich" meinen, und können Sie sagen, warum z. B. in weniger stark bevölkerten Gebieten, also außerhalb des Ballungsgebietes Mittlerer Neckar, ein solcher Standort — wenn ich Sie richtig verstanden habe — von vornherein ausgeschlossen worden ist? Das heißt also: Können Sie die Funktion der Dinge, die gelagert werden sollen, etwas näher beschreiben im Hinblick auf die Standortüberlegungen?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, auf die Funktion geht Ihre zweite Frage ein, wenn ich das richtig im Kopf habe. Zu dem ersten sage ich, daß in diesem bestimmten Streifen, bei dem es natürlich eine Möglichkeit der Verschiebung nach Nord und Süd und auch ein bißchen nach Osten und Westen gibt, eine im Bundeseigentum befindliche und inzwischen durch Abzug einer anderen Form militärischer Einrichtung freigewordene Fläche dieser Größenordnung nicht vorhanden ist. Wenn sich bestimmte Dinge, die Sie nannten: Naturschutz, Umweltverträglichkeit und ein paar Dinge mehr, damit vereinbaren lassen, dann bietet es sich geradezu an, daß wir dieses Gelände nutzen.
Keine weiteren Zusatzfragen? —
Dann rufe ich die Frage 29 des Herrn Abgeordneten Huonker auf.
Welche Gegenstände sollen in dem geplanten NATO-Depot gelagert werden, und kann die Bundesregierung die Lagerung von Waffen und Munition definitiv ausschließen?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: In dem Depot sollen Kraftfahrzeuge, Anhänger dafür, Bau- und Wartungsgeräte, Bekleidung, Verpflegung sowie Betriebsstoff in geringen Mengen — diese allerdings nur für den laufenden Betrieb in dem Depot — gelagert werden.
Zusatzfrage?
Herr Staatssekretär, in welchem Umfang wird, wenn die Prüfungen nicht von vornherein ein Nein zu diesem Standort ergeben sollten, das gelagerte Material z. B. in Manövern eingesetzt, und können Sie zusichern, daß die betroffenen Gemeinden, Kommunen, die Verwaltungsgemeinschaft Vaihingen an der Enz, Landkreis, Landratsverwaltung bei der Planung beteiligt werden?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, im Rahmen der vom Gesetz vorgesehenen Regelungen werden die entsprechenden Gremien und auch die kommunalen Ebenen beteiligt; das ist völlig klar. In unregelmäßigen Abständen — etwa bis zu zweimal im Jahr; so ist beabsichtigt — soll dieses Material — nicht immer alles, aber doch Teile davon — in Manöver, in Truppenübungen einbezogen werden.
Weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, können Sie zusichern, daß bei der vorzunehmenden Prüfung Belange des Umweltschutzes, verkehrspolitische Erwägungen, Erwägungen der Landwirtschaft gleichgewichtig geprüft werden im Verhältnis zu der von Ihnen erwähnten Tatsache, daß sich das fragliche Gelände bereits im Eigentum des Bundes befindet?
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578 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Ich wiederhole, was Praxis der Bundesregierung ist — nicht erst unserer, sondern auch derer davor —, daß all diese Dinge, die Sie nannten — und ja noch eine Reihe mehr, Herr Kollege — natürlich vorher mit einbezogen und, bevor eine Entscheidung für das Einrichten dort getroffen wird, entsprechend gewichtet werden.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe die Frage 30 des Herrn Abgeordneten Schreiner auf.
Welche konkreten Untersuchungen über die Entwicklung weniger Lärm verursachender Triebwerke bei Militärflugzeugen sind von der Bundesregierung veranlaßt worden, und wie ist der aktuelle Sachstand?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, Schreiner, auch auf Grund von Anhörungen im Verteidigungsausschuß und Dingen, die sich dort ergaben — übrigens einvernehmlich zwischen den Fraktionen — , sind Aufträge an die Triebwerksindustrie gegangen, den Rahmen über eine Studie über Möglichkeiten zur Lärmminderung an heute schon vorhandenen, besonders aber an später zu konstruierenden Triebwerken abzustecken und möglicherweise uns auch konkrete Angebote von seiten der Industrie vorzulegen.
Ich möchte aber um der Redlichkeit willen darauf hinweisen, daß es verfrüht ist, heute bereits Erwartungen auszusprechen, als seien da kurzfristig solche Erfolge zu erwarten, die Triebwerke an militärischen Flugzeugen erheblich geräuscharmer gestalten lassen könnten; denn wir können dies nicht mit Triebwerken für die zivile Luftfahrt vergleichen. Dort konnte man die Triebwerke einfach im Durchmesser erheblich größer und damit fast automatisch geräuscharmer machen. Dies geht, weil eine Militärmaschine klein und eng und kurz sein soll und in Sekundenbruchteilen eine erhebliche Schubkraft entwickeln muß, leider nicht genau so wie im zivilen Bereich.
Über das eben Genannte, einen Auftrag an die Industrie, haben wir auch auf der NATO-Ebene unsere Partner nicht gebeten, sondern angewiesen, wie wir dies können, entsprechende Energien auch in ihrer Industrie zu entwickeln, um gemeinsam in der Kooperation voranzukommen.
Zu einer Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, wenn ich Sie richtig verstanden habe, gibt es bestimmte Hinderungsgründe im Vergleich zur zivilen Luftfahrt. Ich frage nach, ob diese Hinderungsgründe eher in finanziellen, eher in technischen Gründen liegen oder ob möglicherweise beides zusammenwirkt.
Würzbach Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, sie liegen vornehmlich im technischen Bereich.
Zu einer weiteren Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, kann die Bundesregierung angeben, in welchem ungefähren Zeitraum mit Lösungsmöglichkeiten, angesichts der Situation, wie geschildert, zu rechnen ist?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die Bundesregierung ist erfahren und ist klug und ist auch in der Lage,
in die Zukunft hinein Beurteilungen anzustellen. Aber ich glaube nicht, daß wir hier klüger sind als die besten Spezialisten der besten Firmen, die Triebwerke in der Welt entwickeln, die uns dies heute noch nicht sagen können. Ein solches Datum kann ich Ihnen nicht nennen.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe auf die Frage 31 des Herrn Abgeordneten Schreiner:
Ist Tiefflug und der damit verbundene Lärm angesichts neuerer technischer Entwicklungen wie des MRCA-Tornado ECR und der Einführung des sogenannten „look down — shoot down" Radars beim Warschauer Pakt überhaupt noch notwendig bzw. sinnvoll?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die entsprechenden Fähigkeiten bei den Luftwaffen des Warschauer Paktes sind vorhanden, wie Sie es fragen. Aber wir bewerten sie folgendermaßen: Hauptsächlich ein Waffensystem, das wir in der NATO FULCRUM nennen, besitzt die von Ihnen erfragten Fähigkeiten. Die Wirksamkeit des in diesem Flugzeug verwendeten Bordradars auf der einen Seite und der eingesetzten sogenannten halbaktiven Luft-Luft-Raketen nimmt aber gegenüber den Systemen ab, die eben extrem tief fliegen. Deshalb muß gerade — umgekehrt wie der Ansatz Ihrer Frage zu sein scheint, wie ich ihn verstanden habe — wegen dieser neuen Fähigkeit der Luftwaffe im Warschauer Pakt bei uns weiterhin — nehmen Sie es ganz logisch — eigentlich noch tiefer als bisher tiefgeflogen werden, um die technischen Fähigkeiten der anderen Seite, soweit es geht, zu minimieren.
Eine Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, da Sie soeben gesagt haben, die Bundesregierung sei klug und weise: darf ich Ihre Antwort so begreifen, daß in Zukunft angesichts der von Ihnen geschilderten technischen Entwicklung Tiefflüge herkömmlicher Art überflüssig sind und daß man sich nunmehr konzentrieren müsse auf Tiefstflüge gewissermaßen einen Meter über dem Schornstein?Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, würde man nur nach den lufttechnischen, lufttaktischen Einsatzgrundsätzen auf Grund dessen, was auf der anderen Seite technisch geleistet werden kann, gehen, dann müßte dies so sein, wie Sie sagen. Da wir aber mit der Luftwaffe hier nicht alleine leben, sondern da wir über unsere Häuser, die Häuser unserer Mitbürger — auch die Soldaten tun dies — fliegen, haben wir natürlich abzuwägen zwischen dem militärisch-taktisch Notwendigen in der Ausbildung und im möglichen Einsatz und dem, was wir auch im Frieden unserer Bevölkerung — um in etwa die Ausbildung der Piloten und damit unserer Luftwaffe in der NATO zu gewährleisten — andererseits zumuten können
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987 579
Parl. Staatssekretär Würzbachund müssen. Wir werden einen Kompromiß auch in der Zukunft beibehalten. Ich sage Ihnen, es ist nicht daran gedacht, auch nur einen Meter tiefer zu fliegen, als wir dies bislang getan haben.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist es unter logischen Gesichtspunkten auszuschließen, daß diese Antwort offenbar keinen Sinn macht, da die bisherigen Tiefflughöhen offenkundig unter Übungsgesichtspunkten überflüssig geworden sind, da die andere Seite über technische Systeme verfügt, die im sogenannten Ernstfall eine solche Flughöhe gewissermaßen ausschließen, die Bundesregierung aber auf der anderen Seite, wenn ich Sie richtig verstanden habe, hier einräumt, daß unterhalb der bisherigen Niedrigstschwellen nicht geübt werden soll?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, wir wollen über Deutschland nicht tiefer fliegen, als wir bisher tiefflogen, und auch nicht häufiger. Aber klar ist, daß der Pilot, wenn es ernst würde, in der Lage sein muß, nicht nur 150 m oder 75 m tief zu fliegen, sondern 15, 20 und 30 m tief zu fliegen. Das wollen wir, obwohl es technisch und taktisch notwendig ist, unsere Piloten über Deutschland nicht machen lassen. Sie wissen, daß wir erfreulicherweise bei einem unserer NATO-Partner — konkret: in Kanada — dazu die Ausbildungsmöglichkeiten haben. Da wird — wie Sie es vorhin sagten — in Baumwipfelhöhe geflogen. Dies werden wir intensivieren, um es nicht hier machen zu müssen. Die Zahlen, die wir in den letzten Jahren erheblich erhöht haben, kennen Sie aus verschiedenen Fragestunden.
Eine weitere Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Müller .
Herr Staatssekretär, was ist darunter zu verstehen, wenn das Bundeskanzleramt in einem Brief vom 9. Juli 1986 schreibt, daß „möglicherweise Änderungen der Technik tatsächlich eines Tages dazu führen, daß Tiefflüge unzweckmäßig werden"?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, darunter ist das zu verstehen, was diese Antwort aussagt. Man kann sich im Zuge weiterer technischer Entwicklungen möglicherweise wegentwickeln von bemannten Flugzeugen zu unbemannten Systemen, was ja sehr wohl ein Sprung nach vorne wäre, wenn ich an die technologischen Entwicklungsmöglichkeiten denke. Man kann sich vorstellen, daß eine Überwachung der Lufträume nicht mehr nur mit dem Auge, sondern mit technischen Systemen mit einer Gründlichkeit und in eine große Tiefe hinein entstehen kann oder daß Aufklärungssysteme auf dem Boden stehen oder in der Atmosphäre sind, die eine unmittelbare Kopplung zu automatischen Waffensystemen und Ähnliches haben können. Man kann hier verschiedene Szenarien schildern; fünf oder sechs wüßte ich aus dem Kopf, die dies möglicherweise einmal vorsehen.
Ich kenne das Schreiben nicht ganz, aber ich bin ganz sicher, daß es am Anfang oder am Ende — sicherlich mit dem Wort „leider" darin, das ich auch für mich gebrauche — sehr deutlich eine Aussage enthält, die etwa besagt, daß wir heute auf Grund dessen, was uns gegenübersteht, und um uns wehren zu können, damit es nicht eingesetzt wird, eine Luftwaffe mit Flugzeugen und Piloten und für diese eine Ausbildung brauchen, wie wir sie betreiben.
Noch eine Zusatzfrage, Herr Dr. Lippelt.
Herr Staatssekretär, glauben Sie angesichts der Fülle von Bürgerinitiativen gegen Lärmschäden nicht auch, daß bei der Abwägung, von der Sie vorhin sprachen, die Bürger in den Flugschneisen in der Regel immer den Kürzeren ziehen?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die Flugschneisen haben wir nicht mehr; die haben wir vor Jahren abgeschafft. „Schneise" heißt: einen kurzen, engen Raum, wo man immer wieder nur fliegt. Das haben wir bewußt entfächert. Um nicht immer die Gleichen zur gleichen Zeit im gleichen Haus mit dem gleichen Lärm zu beeinträchtigen, sind die Schneisen weg.
Aber ich räume Ihnen ein, daß die Bürger, über deren Häuser wir fliegen, beeinträchtigt sind, daß sie in ihrer Ruhe gestört werden, daß sie teilweise empfindlich in ihrer Ruhe gestört werden und daß sie in den Tieffluggebieten — sieben haben wir in Deutschland — in einer ausgesprochen starken Form beeinträchtigt werden. Das räume ich Ihnen ein.
Wir — die politische Führung im Ministerium wie auch die Soldaten bis zu den Piloten — wünschten, daß wir dies nicht müßten. Herr Kollege, wir tun dies nicht aus Spaß. Kein Pilot tut das aus Spaß. Beim Abwägen dessen, was im Mindestmaß nötig ist, ist dies erforderlich. Die Luftwaffe keiner Nation fliegt so wenig wie die deutsche.
Weitere Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Dr. Götte.
Herr Staatssekretär, wenn Sie uns schon keine Hoffnung machen können, daß durch neuere technische Möglichkeiten der Tiefflug überflüssig wird, können Sie uns dann wenigstens Hoffnung machen, daß durch neuere technische Möglichkeiten andere Übungsmöglichkeiten, z. B. in Simulatoren, stärker als bisher eingesetzt werden können, um den Fluglärm zu mindern?Würzbach, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Dr. Götte, wir haben ja erhebliche Fortschritte gemacht. Ich habe nachher die Frage eines Kollegen von Ihnen. Ich glaube, Herr Kollege Reimann ist der Fragesteller, der danach fragt.Aus dem Kopf kann ich jetzt folgendes sagen: Noch vor drei Jahren ist die Bundesluftwaffe über Deutschland etwa 65 000 Stunden Tiefflug geflogen. Wir sind dann vor zwei Jahren auf 40 000 Stunden gegangen und sind im Begriff, jetzt auf unter 30 000 Stunden in Deutschland zu gehen. Die Bemühungen, in Kanada mehr zu fliegen, stehen vor einem erfolgreichen Abschluß. Die Bemühungen, bei anderen Alliierten
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580 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987
Parl. Staatssekretär Würzbachnoch mehr zu fliegen oder gar mit der NATO zusammen in der Türkei einen großen Flugplatz für ähnliche Vorhaben auszubauen, haben auch das Plenum oft beschäftigt.Sie sehen, daß wir daran arbeiten. Ich warne nur davor — und beteilige mich nicht daran — , unredlich gegenüber den Bürgern zu sein, über die wir eben sprachen, und den Eindruck zu erwecken, wir könnten morgen oder innerhalb sehr kurzer Zeit diesen Tiefflug völlig abschaffen. Diese Meinung möchte ich nicht nähren, weil das unrealistisch ist.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Schily.
Herr Staatssekretär, verfügt die Bundesregierung über medizinische Erkenntnisse darüber, wie es um die gesundheitliche Situation von Kindern in Tieffluggebieten bestellt ist?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Schily, diese Untersuchung haben wir erstmals in Auftrag gegeben; die gab es bisher — wirklich wissenschaftlich standhaltend, seriös und in einer breiten Befragung erhoben — noch nicht. Die Untersuchung steht kurz vor dem Abschluß; die Ergebnisse werden dann ausgewertet und natürlich auch der Öffentlichkeit mitgeteilt.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe Frage 32 der Abgeordneten Frau Dr. Götte auf :
An wie vielen Orten der Bundesrepublik Deutschland, die unter militärischem Fluglärm besonders zu leiden haben, hat die Bundesregierung Langzeitmessungen über die Entwicklung des Fluglärms durchführen lassen, und seit wann sind wie viele SkyGuard-Meßstationen im Einsatz?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Dr. Götte, die Bundesregierung hat im Raum München/Augsburg, in einem größeren zusammenhängenden Raum, und in Bremervörde, also einmal im Norden und einmal im Süden, modellhaft Schallpegelmessungen durchführen lassen. Die Untersuchungen, die vom Umweltbundesamt vorgenommen werden, sind noch nicht abgeschlossen.
Die Luftwaffe erfaßt und bewertet durch den Einsatz von Skyguard-Radargeräten das Tiefflugaufkommen über Deutschland und überprüft die Einhaltung mannigfaltiger militärischer Flugbetriebsbestimmungen. Das erste der vier inzwischen beschafften Geräte kam erstmals im Mai 1984 zum Einsatz; das vierte Gerät wurde jetzt, am 1. April 1987, zugeführt und wird inzwischen darauf vorbereitet, in den Einsatz zu gehen.
Eine Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, trifft das zu, was die „Rheinpfalz" vom 3. April 1987 über das Pressegespräch des Einsatzleiters von Skyguard berichtet, daß nämlich die Hauptaufgabe dieses Überwachungsgerätes nicht in der Feststellung von Verstößen gegen Tiefflugrichtlinien bestehe, sondern darin, der Bundeswehr Aufschluß über die Anzahl der Tiefflüge zu verschaffen?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Dies trifft nicht zu. Dieses Gerät ist dazu da, festzustellen, um welches Flugzeug es geht — man kann sehr genau die Nummer des Flugzeuges festhalten, was man mit dem Auge nicht kann, und zwar in EDV-Streifen und auch auf Fotografien —, wie schnell es geflogen ist — wir haben mit Rücksicht auf die Bevölkerung die Geschwindigkeit in einer bestimmten Form begrenzt —, wie tief es geflogen ist — wir haben auch Mindesthöhen festgelegt — und ob es sich in Gegenden bewegt hat, wo es überhaupt nicht fliegen darf. Dies sind die Hauptaufgaben, und Sie wissen, daß die festgestellten Verstöße glücklicherweise bei den Deutschen wie bei den hier fliegenden Alliierten nur bei etwa 1 % liegen.
Eine weitere Zusatzfrage.
Wie viele ausländische Piloten sind denn bisher wegen Verstößen in der Bundesrepublik Deutschland zur Rechenschaft gezogen worden und, falls ja, wie?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Ich habe die Prozentzahlen nicht im Kopf und die absoluten Zahlen erst recht nicht, aber nur 1 % aller durch Skyguard überprüften Flugbewegungen haben Verstöße ergeben, wobei „Verstoß" heißen kann, daß er zu schnell war, daß er zu tief war oder daß er auch außerhalb des für das Tieffliegen eigentlich vorgesehenen Gebietes war. In Prozenten teilt sich das auf die alliierten und auf unsere Soldaten etwa so auf, wie es der Anzahl der Flugzeuge entspricht, die hier in Deutschland stationiert sind und fliegen.
Grobe Verstöße haben sowohl die Alliierten als auch wir entsprechend geahndet, bis hin zum Entzug der Pilotenlizenz, also mit entsprechenden tiefgreifenden Auswirkungen um diese, wie ich sagen möchte, gute Moral der Piloten — der alliierten wie unserer — zu erzielen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Müller .
Können Sie mir eine Liste zugänglich machen, die Angaben über die Ahndung von Verstößen enthält, und zwar speziell im Blick auf die von Frau Dr. Götte erwähnte Überwachung durch Skyguard, worüber in der „Rheinpfalz" am 3. April 1987 berichtet wurde?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, in der üblichen allgemeinen Form kann ich dies tun, also unter Berücksichtigung des Personenschutzes, nämlich bezüglich Disziplinarverfahren nicht den Namen und sonst etwas nennend.
Keine weiteren Zusatzfragen.Ich rufe die Frage 33 der Frau Abgeordneten Dr. Götte auf:Wie hoch sind die Kosten eines solchen Gerätes, und warum hat die Bundesregierung nicht andere Geräte zusätzlich eingesetzt, die ebenso präzise Daten über Luftlärm wetterunabhängig
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987 581
Vizepräsident Stücklenund über einen beliebig langen Zeitraum erfassen und aufzeichnen, aber nur einen Bruchteil der Sky-Guard-Kosten verursachen ?Würzbach, Parl. Staatssekretär: Die Kosten für ein Skyguard-Gerät belaufen sich auf zirka 10 Millionen DM. Da Skyguard keine Fluglärmdaten ermittelt, ist ein Vergleich, Frau Kollegin, mit den Geräten, die Sie nannten, nicht möglich.
Zusatzfrage, bitte.
Wie Sie aber sicher wissen, wird in Rheinland-Pfalz, das ja unter Fluglärm besonders zu leiden hat, die Frage, ob der Fluglärm zugenommen hat, heftig diskutiert, und die Landesregierung bedauert, daß Daten über den Fluglärm nicht vorliegen, weil eben Skyguard-Geräte viel zu selten eingesetzt werden. Weshalb hat denn die Bundesregierung nicht diese mehrfach ausgesprochene Forderung auch der rheinland-pfälzischen Landesregierung aufgegriffen, um hier endlich für Daten zu sorgen, zumal die bereits entwickelten Geräte nur Kosten von zirka 20 000 DM verursachen?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, die rheinland-pfälzische Landesregierung weiß, daß wir bewußt Auftrag an eine freie Einrichtung gegeben haben, an eine unabhängige Systemgesellschaft, die auch schon Regierungen vorher mit Regierungsaufträgen versorgt haben, über das Bundesgebiet hinweg, also für alle Bundesländer, wo wir fliegen, in einer Studie festzustellen: Wo fliegen wir, aber auch die Alliierten, wie häufig, mit welcher damit verbundenen konkreten Belastung für die Bevölkerung? Diese Studie, vor zwei, drei Jahren in Auftrag gegeben, steht kurz vor dem Abschluß, wird dann ausgewertet und möglicherweise zu der einen oder anderen Korrektur des Flugverhaltens der Luftwaffe wie der Allierten über dem Bundesgebiet führen.
Weitere Zusatzfrage, bitte.
Wie ist es denn möglich, eine solche Studie zu erstellen, wenn Sie die Daten gar nicht erheben?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, bisher haben wir die Daten dadurch ermittelt, daß wir auf jedem Flugplatz abfragten: Wann ist bei euch an welchem Tag welche Maschine auf welchem Weg in welcher Richtung und wie lange dann in welchem Gebiet sich aufhaltend, geflogen? Dies sind Ermittlungen, da wir da kein EDV-System haben, wo durch verschiedene Dinge nach oben oder unten Abrundungen vorgenommen werden konnten. Sie kennen die Geschwindigkeit, und ich habe vorhin davon gesprochen, daß wir entzerrt haben, so daß Sie auch nicht vom Piloten nachher genau im Nachzeichnen feststellen konnten: Ist er da oder da lang geflogen? Diese Systemgesellschaft, der wir nicht unerhebliche Summen für diese Studie bezahlen müssen, hat durch entsprechende Instrumente und Personal erstmals dann zu einer wirklich nachprüfbaren, wissenschaftlich haltbaren Arbeit geführt, auf deren Daten wir warten.
Weitere Zusatzfrage, Herr Müller . Aber darf ich darauf aufmerksam machen — Sie haben ja noch zwei Fragen zum gleichen Problem — , ich möchte ganz gerne, daß wir in dieser Fragestunde noch möglichst viele Fragen zur Beantwortung bringen können.
Ich werde mich leicht zurückhalten.
Aber noch zu der Frage von Frau Dr. Götte?
Ja. — Herr Staatssekretär, würden Sie mir zustimmen, daß man, wenn man als Bürger oder als Abgeordneter bei der zuständigen Stelle in Köln-Porz anruft, dann die Auskunft bekommt, daß die Bundesluftwaffe keinerlei Übersicht darüber habe, wer und aus welcher Nationalität und wann und wie über deutschen Landen geflogen wird?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Ich stimme Ihnen nicht zu, Herr Kollege.
Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Schreiner.
Herr Staatssekretär, sind denn der Bundesregierung die in der Frage 33 der Kollegin Frau Dr. Götte aufgeführten zusätzlichen technischen Möglichkeiten, wie sie von der Universität Kaiserslautern entwickelt worden sind, bekannt, und wie ist gegebenenfalls die Haltung der Bundesregierung zu diesen, wie hier aufgeführt, erheblich kostengünstigeren Überwachungsgeräten?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, wir reden über zwei verschiedene Dinge. Skyguard — ich habe das erläutert, mich wenigstens bemüht, es zu sagen — legt fest: Wo fliegt er, wie schnell fliegt er, wie tief fliegt er? Wenn ich das richtig sehe — der Bundesregierung ist dieses Gerät aus Kaiserslautern nicht bekannt — , handelt es sich bei diesem Gerät aber um ein Lärmmeßgerät. Dies sind zwei verschiedene Dinge, Herr Kollege.
Keine weiteren Zusatzfragen.Ich rufe die Frage 34 des Herrn Abgeordneten Müller auf:Ist die Bundesregierung bereit, fluglärmgeschädigten Fremdenverkehrsregionen, wie z. B. der Südpfalz, Entschädigungen zu zahlen, wenn z. B. an einem Frühlingstag von morgens 7.30 Uhr bis abends 22.30 Uhr und auch zwischen 12.30 Uhr und 14.00 Uhr Tiefflug geübt wird und teilweise mehr als 20 Flugbewegungen pro Stunde zu verzeichnen sind?Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Müller, meine Antwort ist nein. Für derartige Entschädigungen ist keine gesetzliche Grundlage vorhanden. Ich habe heute und besonders in vielen, vielen Fragestunden vorher darauf aufmerksam gemacht, daß das, was Sie beklagen — verständlicherweise beklagen — , nahezu alle ähnlichen Fremdenverkehrsorte von der Nordsee und Ostsee bis an den Alpenrand und quer durch unser Bundesgebiet betrifft. Wir haben deshalb freiwillig der Luftwaffe eine Vielzahl von Einschränkungen auferlegt. Wir fangen erst zu
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582 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987
Parl. Staatssekretär Würzbacheiner bestimmten Zeit morgens an und hören abends auf, fliegen nicht an den Wochenenden, haben jetzt während der Sommerzeit besonders im Hinblick auf die Fremdenverkehrsorte die Mittagszeit eingeführt, die Geschwindigkeit begrenzt und ähnliche Dinge mehr getan, Herr Kollege.
Zusatzfrage, bitte.
Glaubt die Bundesregierung, anders als beim Verkehrslärm gäbe es beim Fluglärm keine Grenze der Zumutbarkeit?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Es gibt eine Grenze der Zumutbarkeit. Deshalb sind wir die vor drei, vier Fragen erörterten erheblichen Kompromisse, die tief in die Ausbildungsnotwendigkeiten der Besatzungen einschneiden, eingegangen.
Weitere Zusatzfrage, bitte.
Was ist Ihr Antwortvorschlag für Vermieter von Fremdenzimmern und Hoteliers, die Briefe von Gästen erhalten, in denen diese des Lobes für die Gastgeber voll sind, aber gleichzeitig ankündigen, daß sie als Gast nicht mehr zu sehen sein werden, solange der Fluglärm nicht beseitigt ist?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Ich kann mich in die Lage eines solchen Unternehmers hineinversetzen. Es sind ja nicht nur Wirte von Fremdenverkehrseinrichtungen, sondern auch Sanatorien und Altersheime, aber auch viele andere Einrichtungen, die ähnlich betroffen sind, was wir nie geleugnet haben und leugnen können. Ich würde mich in einer solchen persönlichen Situation bemühen, alle anderen großartigen Dinge in meinem Hause, in der Einrichtung, in der Landschaft drumrum zu schildern und zu sagen, daß dies wohl leider in der Masse ähnlicher Orte gleich ist, man es nicht ändern kann, und herzlich einladen, wiederzukommen.
Weitere Zusatzfrage, bitte sehr.
Herr Staatssekretär, Sie haben in der Antwort soeben gesagt, daß man „bemüht" sei, eine Mittagspause einzuhalten. Das war in der vorigen Legislaturperiode öfter Gegenstand in Fragestunden. Inwieweit ist diese Bemühung von Erfolg gekrönt, d. h. wird sie auch eingehalten? Denn gerade diese Frage bringt zum Ausdruck, daß das offensichtlich nicht der Fall ist.
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, bei aller Hochachtung vor den Kollegen — auch ich habe hier jahrelang gefragt — : Nicht alles, was gefragt wird, ist von vorn bis hinten auch Faktum.
Lassen Sie mich bitte sagen: Wir haben die Mittagspause einzuhalten befohlen. Die Flugpläne werden so gemacht, daß in dieser Zeit das Flugzeug wieder auf dem Platz, noch nicht wieder weg ist. Dann gucken wir durch Skyguard dem Piloten auf die Finger, ob er sich daran hält. Ich habe Ihnen die Rate gesagt, wie dagegen verstoßen wird.
Ich möchte die Gelegenheit Ihrer Frage wahrnehmen, vor einem Mißverständnis zu warnen. Wenn man auch in der Mittagspause Flugzeuge hört, dann verstoßen sie nicht automatisch gegen die Bestimmungen. Denn wir haben gesagt: In dem Tiefflugbereich zwischen 75 und 450 Metern — das, was die Menschen besonders ärgert — darf mittags nicht geflogen werden. Dazu lassen Sie mich generell sagen: Dies halten wir ein und die Alliierten auch.
Weitere Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Dr. Götte.
Herr Staatssekretär, Hoteliers aus dem Pfälzer Wald haben sich besonders darüber beschwert, daß am Ostermontag geflogen wurde. Sieht die Bundesregierung eine Möglichkeit, darauf hinzuwirken, daß an solchen Feiertagen, die in Deutschland als Feiertag geführt werden, aber im Ausland keine Feiertage sind, die Beschränkungen eingehalten werden?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Wir bemühen uns darum, Frau Kollegin. Die hier stationierten alliierten Verbände, die fest in Deutschland sind, fliegen an Sonn- und Feiertagen nicht. Sie fliegen an deutschen Feiertagen nicht. Es kann sich nur um eine aus Amerika herüber verlegt werdende oder nach Amerika zurückgehende große Einheit handeln, die sich dann an solchen Tagen ausnahmsweise bewegt. Wir bemühen uns, das vorher der Bevölkerung mit der Bitte um Verständnis mitzuteilen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Brück.
Herr Staatssekretär, von wann bis wann ist diese Mittagspause, und befinden sich dann die Maschinen tatsächlich am Boden, wie Sie vorhin gesagt haben, oder aber, wie Sie dann später erklärt haben, befinden sie sich in der Luft, wenn auch nicht im Tiefflugraum? Kennen Sie den Lärm eines Flugzeuges, das in 600 Metern Höhe über Sie hinwegdonnert?Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich kenne ihn in 600 Metern, und ich kenne ihn auch in 30 Metern, und ich weiß sehr wohl — ich glaube, das habe ich hier anschaulich geschildert — , daß ich mich in die Lage derer versetzen kann, über deren Kopf das Flugzeug fliegt.Die Mittagspause haben übrigens wir im letzten Jahr eingeführt. Es hat sie dreißig Jahre lang nicht gegeben, obwohl sie immer gefordert wurde, Herr Kollege. Das darf ich hier bei aller Bescheidenheit einmal sagen, um ein weiteres Beispiel der Kompromißbereitschaft der Bundesregierung zu zeigen.
Sie gilt von Mai bis Oktober und uhrzeitmäßig von 12.30 bis 13.30 Uhr. Sie beinhaltet Flüge unterhalb 450 Metern. Entweder hat der, der auf Grund seines Ausbildungsauftrages nur Tiefflug zu üben hat, zurückzukehren oder zu warten, bis die entsprechende Zeit erreicht ist, oder in dieser Zeit höherzugehen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987 583
Parl. Staatssekretär WürzbachHerr Kollege, würden wir auch dies verbieten — wir fliegen schon so wenig wie kein anderer — , dann müßten sie logischerweise entweder früher Iosfliegen oder abends länger fliegen. Auch das würde eine Menge Leute ärgern, gerade in den Fremdenverkehrsorten. Hier muß doch ein Kompromiß gefunden werden.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe die Frage 35 des Herrn Abgeordneten Müller auf:
Ist die Bundesregierung bereit, mit den Alliierten mit dem Ziel nachzuverhandeln, das unfaire Verhältnis von ca. 60 000 Flugstunden der Alliierten in der Bundesrepublik Deutschland zu 17 000 Flugstunden der Bundeswehr außerhalb der Bundesrepublik Deutschland dahin gehend zu ändern, daß die Alliierten einen beträchtlichen Teil ihrer Tiefflugübungen in ihre eigenen Länder verlegen?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, der von Ihnen angestellte Vergleich geht — bei aller Zurückhaltung formuliert — von nicht ganz zutreffenden Voraussetzungen aus.
Das Tiefflugaufkommen entspricht in etwa — ein bißchen nach oben oder unten — der Stärke der hier stationierten Luftflotten der Alliierten und von uns. Das Verhältnis, was wir im Ausland fliegen — ich erwähnte Kanada, aber hätte auch Portugal, Holland, in Maßen Dänemark und England, vor allem aber Italien hinzuzufügen — und was wir haben, entspricht prozentual etwa dem, was die Alliierten bei uns fliegen und was sie haben.
Zusatzfrage.
Vorweg: Diese Zahlen sind einem Beitrag von Ihnen entnommen. Aber das ist nicht meine Frage.
Halten Sie das Verhältnis von 60 000 Flugstunden der Alliierten bei uns gegenüber 17 000 der Bundesluftwaffe außerhalb — das heißt nach meiner Schätzung ein Belastungsverhältnis von 60 : 3, weil die 17 000 Flugstunden über weniger bewohnten Gebieten anfallen — für fair?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die hier stationierten amerikanischen, kanadischen und anderen Flugzeuge sind in unserem Interesse hier. Wären sie nicht hier, müßten wir mindestens ebenso viele deutsche Flugzeuge hier stationieren, und die müßten natürlich auch fliegen.
Insofern kann man die Unterteilung der Rechnung nicht aufmachen, daß man sagt: Du sollst nicht gleich weggehen, aber nur bei dir im Land fliegen! — Sie können einem Piloten eine Menge seiner Flugkenntnisse im Ausland beibringen; wir als Deutsche machen die Flugausbildung überhaupt nur im Ausland, auch die Tiefflugausbildung. Aber die Piloten müssen ein Minimum über dem eigenen Gelände unter den hier typischen Flugbedingungen fliegen, um es zu kennen und um es zu können, wenn es hier und nicht irgendwo in Amerika, Kanada, Holland, Dänemark oder Frankreich darauf ankommt.
Weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist die Bundesregierung bereit, die französische Regierung zu bitten, jene Tiefflugübungen in der Südpfalz und in anderen Regionen unseres Landes zu unterlassen, die dem von uns nicht mitbestimmten Verteidigungskonzept Frankreichs, sich an seiner Ostgrenze zu verteidigen und damit z. B. die Südpfalz als Gefechtsfeld zu betrachten, dienen?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, was die Mitbestimmung angeht, würden auch wir uns wehren, von anderen Vorgaben zu bekommen, wie wir uns im nationalen Bereich der Ausbildung zu verhalten haben. Ich habe keine Anstalten zu unternehmen, den Franzosen mitbestimmend zu sagen, wie sie sich bei ihrer Ausbildung verhalten sollen.
Was die Bundesregierung aber bereits tat und nicht erst tun möchte, ist, all unsere Alliierten — Frankreich eingeschlossen, Holland nenne ich hier besonders — auf der obersten dafür möglichen Ebene zu bitten, in ihren Ländern, besonders in den benachbarten Ländern, für unsere Piloten die gleichen Bedingungen zur Flugausbildung zu schaffen, wie diese sie bei uns haben.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe die Frage 36 des Herrn Abgeordneten Reimann auf:
Warum suchen NATO und Bundesregierung nicht nach einer Sicherheitskonzeption, die die Tiefflugübungen und damit die ungeheuer schwere Belastung unserer Bevölkerung unnötig macht?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Reimann, die Bundesregierung prüft ständig und kritisch die Richtigkeit, die Wirksamkeit und die Notwendigkeit der bestehenden Tiefflugkonzeption der Luftwaffe wie auch die unserer Partner bei uns. Dies ist schon aus dem Bestreben heraus geboten, wie auch heute mehrfach erwähnt, die Belastung der Bevölkerung so weit wie möglich zu beschränken. Ich habe auf die Erfolge hingewiesen, wie wir die Anzahl der Flugstunden der Bundesluftwaffe und der Alliierten haben reduzieren können. Ich weise darauf hin, daß konkrete Verhandlungen vor dem Abschluß stehen, um weitere Reduzierungen über dem eigenen Land vornehmen zu können. Aber ein Teil wird hierbleiben müssen, der leider als Belastung nicht von unserer Bevölkerung weggenommen werden kann.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, das heißt konkret, daß in absehbarer Zeit oder auch in nicht absehbarer Zeit nicht damit zu rechnen ist, daß wesentliche Entlastungen eintreten können, auch nicht durch neue Techniken wie Elektronik und dergleichen, auch nicht — ich bin Laie —, daß nicht mehr so tief geflogen werden muß, weil Radarfallen schon irgendwie etwas entgegengesetzt werden kann. Ist also auf dem Gebiet nichts zu erwarten?Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, der Tiefflug wird — wir haben vorhin darüber gesprochen — noch auf absehbare Zeit eine notwendige Ein-
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584 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987
Parl. Staatssekretär Würzbachsatzgrundart und ein Einsatzmittel gerade dann bleiben müssen, wenn feindliche Radarerfassung, elektronische Kampfführung und ähnliches weiter ausgebaut werden. Aber nicht richtig ist, daß keine Entlastungen der Bevölkerung eintreten.Ich möchte, weil Sie so nachfragen, Kollege Reimann, noch einmal die Zahlen sagen. 1983 sind es noch runde 70 000 Stunden gewesen, die allein die Luftwaffe tiefflog. Wir sind dann 1986 unter 40 000 Stunden gewesen. Dies ist eine gewaltige Reduzierung. Die Maßnahmen, die dazu führten, habe ich hier oft geschildert. Wir gehen davon aus, daß wir in diesem oder im nächsten Jahr in die Nähe der 30 000 Stunden kommen. Entsprechendes gilt für die Alliierten. Dies ist fast eine Halbierung der Anzahl der Flugstunden.Nun will ich sofort hinzufügen: Der Bürger, ob Mann, Frau, jung, alt, in der Stadt oder im Dorf, im Haus oder beim Spazierengehen, wird es subjektiv nicht empfinden, daß früher zwölf Maschinen über ihn herüberflogen und es jetzt nur noch sechs sind. Das weiß ich sehr wohl. Aber wenn Sie sehen, wie wir uns bemühten zu reduzieren, bitte ich, das auch zu gewichten und anzuerkennen.
Weitere Zusatzfrage.
Dann würde ich Sie noch gerne fragen, Herr Staatssekretär: Die Reduzierung der Flugstunden kann ja so sein, daß manche Gebiete ziemlich stark entlastet werden, aber daß bestimmte Gebiete trotzdem sehr stark belastet bleiben. Die Reduzierung der Flugstunden sagt mir über die Reduzierung des Lärms und über die gesundheitsschädigenden Wirkungen für den Bereich der Menschen nichts aus, die davon nach wie vor betroffen sind. Ist die Reduzierung durchgängig gewesen, ober ist sie nur in bestimmten Bereichen gewesen?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, Sie gilt für alle Geschwader auf allen Flugplätzen quer durch die Bundesrepublik in gleichem Maße. Aber dazugefügt werden muß natürlich, daß wir den Tiefflug in 75 Metern Höhe nur in sieben Gebieten Deutschlands machen. Hier habe ich oft geschildert, daß wir einmal einen Plan entwickelt haben — das sogenannte Rotationsverfahren — , nicht in sieben Gebieten, sondern in 49 Gebieten zu fliegen und dann jeweils im 7er-Rhythmus zu wechseln, also immer nur in jeweils sieben Gebieten zu fliegen, aber die sieben zu wechseln. Dies ist an der entschiedenen Einrede verschiedener Landesregierungen — ich will nicht sagen, im Anfangsstadium, aber ziemlich früh — gescheitert.
Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Diller.
Herr Staatssekretär, Ihre Behauptung über die Reduzierung der Flugstunden über der Bundesrepublik kann ich persönlich aus eigener Erfahrung, kann die betroffene Bevölkerung von Rheinland-Pfalz aus ihrer täglichen Erfahrung nicht nachvollziehen. Meine Frage: Hat die Bundesregierung Erkenntnisse darüber, wie sich die Zahl der Flugstunden über Rheinland-Pfalz — Bundesluftwaffe und
Alliierte zusammengerechnet — in den letzten Jahren entwickelt hat?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, Ihre erste Einschätzung kann ich nicht nachvollziehen. Ich will nicht behaupten, daß ich mehr als Sie, aber vielleicht nicht viel weniger gerade mit dieser betroffenen Bevölkerung und den gewählten Repräsentanten in diesen Bereichen persönlich in Verbindung bin, diskutiere, mich der Diskussion stelle. Wenn sachlich diskutiert wird, wird sehr wohl eingeräumt, daß es weniger, sogar spürbar weniger geworden ist. Natürlich wird gesagt, daß es immer noch zuviel und unbequem ist, aber ich wäre dankbar, wenn das, um was wir uns bemühten, auch gesehen würde. Wenn wir weiter der Luftwaffe sagen: weniger, kürzer, nicht soviel bei uns, und es kommt überhaupt kein Zeichen, daß man wenigstens sieht, daß man sich Mühe gibt und daß der Rückgang der Zahlen gespürt wird, dann wissen Sie, was Sie damit möglicherweise bewirken könnten.
Die Angaben, was die Länder angeht, sind schwierig zu erfassen, weil oft Bewegungen von woanders her über die Länder und umgekehrt gehen, einmal darum herum- und einmal darübergeflogen wird. Wir erwarten von der Studie der Gesellschaft, von der ich sprach, hier genauere Angaben, um dann möglicherweise etwas zu korrigieren, was die Flugwege, Anflugwege, Rückflugwege und Bereiche des Tieffliegens angeht.
Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Brück.
Herr Staatssekretär, können Sie bitte noch einmal die Regionen nennen, in denen diese Tiefflüge stattfinden, um auch deutlich zu machen, welchen Beitrag die einzelnen Regionen zu den Verteidigungslasten der Bundesrepublik Deutschland leisten.
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich schicke Ihnen gerne eine Karte, auf der diese Gebiete eingezeichnet sind; es sind sieben. Ich anerkenne, daß die Menschen dort und die Bundesrepublik insgesamt im Vergleich zu manch anderen NATO-Staaten Belastungen ertragen. Wir haben eine sehr enge Besiedlung mit Dörfern und Städten. Sie können aus dem einen Ort herausfahren, und den anderen sehen Sie schon und sind fast darin. Kein anderes Land hat eine solch enge Besiedlung, einen solchen dichten Luftverkehr, eine solche Konzentration an Tiefflug. Dies ist eine besondere Belastung, die wir gegenüber den NATO-Partnern, wenn es dann darum geht, aufzuzeigen, wer welche Belastung trägt, sehr wohl und auch deutlich beim Namen nennen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Müller .
Herr Staatssekretär, Sie haben vorhin davon gesprochen, daß in absehbarer Zeit noch mit Fluglärm zu rechnen sei. Wenn es absehbar ist, können Sie dann einem potentiellen Investor in Fremdenverkehrsinvestitionen auch sagen, wieviel Jahre er damit noch rechnen muß?
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987 585
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, auf eine solche Zeit gesehen, wie ein Investor eine Fremdenverkehrseinrichtung plant, muß er auf Grund der Dinge, wie wir sie heute einzuschätzen haben, davon ausgehen, daß der Tiefflug, wenn auch in etwas eingeschränktem Maße, noch bestehenbleibt.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Gerster .
Herr Staatssekretär, würden Sie bestätigen, daß in Rheinland-Pfalz acht NATO-Flugplätze existieren und daß von daher die Wahrscheinlichkeit groß ist, daß in Rheinland-Pfalz das Tiefflugaufkommen deutlich über dem anderer Bundesländer liegt, obwohl wir keine dieser 75Meter-areas in Rheinland-Pfalz haben?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich bestätige, daß in Rheinland-Pfalz ein überdurchschnittlich großer Anteil besonders von alliierten Soldaten stationiert ist. Ich freue mich, daß durch ein entsprechendes Verhalten besonders der Landesregierung, aber auch der ganz großen Mehrheit der Bürger in Rheinland-Pfalz trotz der Beeinträchtigung — denn die Soldaten fliegen, fahren und schießen; all dies zählt ja auch dazu und muß sein — ein großartiges, ein herzliches Miteinander zwischen unseren deutschen Bürgern in Rheinland-Pfalz und den Alliierten vorhanden ist.
Ich bestätige nicht, daß damit ein ungewöhnlich hohes Aufkommen an Tiefflug verbunden ist. Denn die Piloten haben sich zu bemühen — und sie tun dies —, sehr schnell nach dem Start die Maschine in größere Höhen zu ziehen und erst sehr spät vor der Landung in einen Tief- und Sinkflug zu kommen, um die Bevölkerung möglichst wenig zu beeinträchtigen. Dies ist überhaupt nicht mit dem Tieffliegen in gleicher, also sehr niedriger, Höhe in den genannten sieben Gebieten zu vergleichen.
Keine weiteren Zusatzfragen? —
Herr Reimann, Sie hatten Ihre zwei Zusatzfragen.
— Wir sind immer noch bei Ihrer Frage.
Ich rufe die Frage 37 des Herrn Abgeordneten Diller auf.
Welchen Gefährdungen sind die Piloten der übenden Maschinen und die Bevölkerung im Übungsbereich der elektronischen Kampfsimulationsanlagen AEWTF in Rheinland-Pfalz durch die einzelnen Übungsprogramme ausgesetzt?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Diller, bei dieser Anlage handelt es sich nicht darum, wie von manchem angenommen, eine zusätzliche oder überhaupt eine Konzentration der Tiefflugausbildung vorzunehmen, sondern die Flugzeuge, die dort ohnehin fliegen, im Rahmen der elektronischen Kampfführung so zu erfassen, daß sie bestimmte Signale aufzunehmen, zu beantworten und entsprechend darauf zu reagieren haben. Es gibt keine Erhöhung der Anzahl der Flugbewegungen, im Gegenteil: eher eine Reduzierung, weil nur eine begrenzte Anzahl von Maschinen von diesen technischen Einrichtungen jeweils erfaßt werden kann.
Eine Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, angesichts der Tatsache, daß in meiner Frage das Wort „Tiefflug" überhaupt nicht vorkommt, möchte ich doch bitten, sich auf die Frage, so wie sie eingereicht worden ist, in der Antwort zu beschränken.
Herr Abgeordneter Diller, das ist eine Aufgabe, die der Präsident wahrzunehmen hat.
Noch eine Zusatzfrage? — Bitte.
Meine Frage ist also: Welchen Gefährdungen sind die Piloten der übenden Maschinen und die Bevölkerung im Übungsbereich durch diese elektronische Kampfsimulationsanlage denn nun ausgesetzt?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich folge Ihrer Bitte und sage: Weil dort nicht mehr geflogen wird als ohnehin, dies keinen weiteren besonderen Anforderungen unterliegt, die das Fliegen dort komplizierter machen, und eher weniger geflogen wird, bestehen durch dieses Fliegen keine besonderen Gefährdungen für die dortige Bevölkerung.
Eine weitere Zusatzfrage, bitte.
Ist es also nicht richtig, daß diese Anlage beispielsweise elektronische Impulse aussendet, die die Elektronik der anfliegenden Maschine stört, so daß also der Pilot praktisch in Bruchteilen von Sekunden von automatischem Fliegen auf manuelles Fliegen umschalten muß, um die Maschine vor dem Abstürzen zu retten?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, es gibt keine Impulse, die die Maschine in eine Absturzgefahr oder ähnliche Bewegungen auch nur im Anfang bringen könnten. Klar ist, daß der Pilot merkt, daß er von einem elektronischen Signal erfaßt wurde und entsprechend zu reagieren hat.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe die Frage 38 des Herrn Abgeordneten Diller auf:
Wie hoch belaufen sich nach Schätzungen von Fachleuten die durch Fluglärm verursachten jährlichen wirtschaftlichen Schäden für das rheinland-pfälzische Fremdenverkehrsgewerbe?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Kollege Diller, derartige Schätzungen sind der Bundesregierung nicht bekannt.
Zusatzfrage? — Bitte sehr.
Herr Staatssekretär, was unternimmt oder was könnte die Bundesregierung Ihres Erachtens
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586 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987
Dillerunternehmen, um Investitionen im Fremdenverkehrsbereich in den Regionen, die in der beschriebenen Weise vom Fluglärm belastet sind, möglich und rentabel zu machen, und welche Perspektiven sieht die Bundesregierung für diese Femdenverkehrsregionen überhaupt, wenn sie erklärt, Fluglärm müsse dort weiterhin ertragen werden?Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich habe mir auf Grund Ihrer Frage einmal herausgesucht, wie viele Kurorte und — das habe ich hinzugenommen — wieviel Altenheime, Schulen und Krankenanstalten wir in Deutschland haben. Ich darf einmal sehr schnell die Zahlen nennen: 1 500 staatlich anerkannte Kurorte, 3 300 Krankenanstalten, fast 20 000 Altenheime, über 40 000 Schulen. Ich habe nur diese genommen. Es gibt ähnliche Einrichtungen, die das gleiche Ruhebedürfnis haben. Wenn Sie diese Zahlen, die ich nannte, in einer Landkarte einzeichnen, dann würden wir zu den Schneisen, vielleicht noch zu Schneisen in Schneisen zurückkehren. Das wäre ein Konzept, von dem wir bewußt Abschied genommen haben. Es gibt eine Reihe von Gesetzen in bestimmten Gegenden — die kennen Sie — : das Lärmschutzgesetz mit verschiedenen Zonen, wo sich der Bund beteiligt mit entsprechenden Zuschüssen. In all den Bereichen können wir, was den passiven Schutz angeht, finanziell nicht tätig werden. Dem aktiven Schutz habe ich eingeräumt, was wir vorhin an restriktiven Maßnahmen unserer Luftwaffe und den anderen auferlegt haben.
Ich kann keine weiteren Zusatzfragen zulassen. Wir sind am Ende der Fragestunde.
Ich übergebe an Herrn Vizepräsident Westphal.
Meine Damen und Herren, bevor wir in die Aktuelle Stunde eintreten, gebe ich Ihnen die Ergebnisse der beiden namentlichen Abstimmungen bekannt, die vor der Mittagszeit stattgefunden haben.Zunächst das Ergebnis der Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 11/243: Es wurden 430 Stimmen abgegeben. Davon war keine ungültig. Mit Ja haben 236 Abgeordnete, mit Nein 194 Abgeordnete gestimmt. Es hat keine Enthaltung gegeben.Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen 430; davonja: 236nein: 194JaCDU/CSUAustermannBauerBayhaDr. Becker Frau Berger (Berlin) BiehleDr. Blank Dr. Blens Dr. Blüm Börnsen
Dr. Bötsch BohlBohlsen Borchert BreuerCarstens Carstensen (Nordstrand) ClemensDr. CzajaDr. Daniels
Frau DempwolfDeresDörflinger Dr. DollingerDossDr. DreggerEchternachEhrbarEigenEngelsbergerEylmann FeilckeDr. FellFischer Francke (Hamburg)Dr. FriedmannDr. FriedrichFuchtelGanz
Frau GeigerGeisDr. GeißlerGerstein Gerster
GlosDr. GöhnerGröblGünther Dr. Häfele HarriesFrau Hasselfeldt HaungsHauser Hauser (Krefeld) HedrichFreiherr Heereman vonZuydtwyckFrau Dr. Hellwig HelmrichDr. HennigHerkenrathHinrichs Hinsken Höffkes Höpfinger Hörster Dr. HoffackerDr. HornhuesFrau Hürland-Büning Dr. HüschDr. Jahn
Dr. JenningerDr. JobstJung
Jung
KalbKalischDr.-Ing. KansyDr. KappesFrau Karwatzki Klein
Dr. Köhler KolbKossendeyKrausKreyKroll-Schlüter Dr. KronenbergDr. Kunz LamersDr. LammertDr. LangnerLattmannDr. LaufsFrau Limbach Link Link (Frankfurt) LinsmeierLintnerDr. Lippold Dr. h. c. LorenzLouvenMaaßFrau Männle MarschewskiDr. Meyer zu Bentrup MichelsDr. MiltnerDr. MöllerMüller Müller (Wesseling) Dr. NeulingNeumann
Dr. OlderogOswaldPeschPetersenPfeffermannPfeiferDr. PfennigDr. PingerDr. Pohlmeier Dr. ProbstRauenRaweRegenspurger RepnikDr. RiesenhuberFrau Roitzsch Dr. RoseRossmanithRoth RüheDr. RüttgersRufSauer Sauer (Stuttgart) Sauter (Epfendorf) Sauter (Ichenhausen)Dr. Schäuble Scharrenbroich Schartz SchemkenScheuSchmidbauer Schmitz
Dr. Schneider SchreiberDr. Schroeder SchulhoffDr. Schulte
Schulze (Berlin) Schwarz
Dr. Schwörer SeesingSeitersSpilkerSprangerDr. SprungDr. Stark
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987 587
Vizepräsident WestphalDr. StavenhagenDr. Stercken Straßmeir StrubeStücklenFrau Dr. Süssmuth SussetTillmannDr. Uelhoff UldallFrau VerhülsdonkVogel
Vogt
Dr. Voigt
Dr. VondranDr. WaffenschmidtDr. WaigelGraf von Waldburg-Zeil Dr. WarrikoffDr. von Wartenberg WeirichWeiß Werner (Ulm)Frau Will-FeldFrau Dr. WilmsWilzWimmer WindelenFrau Dr. Wisniewski WissmannDr. WittmannDr. Wörner Würzbach Zeitlmann Dr. ZimmermannZinkFDPDr. BangemannBaumBeckmannCronenberg Eimer (Fürth)EngelhardDr. FeldmannFunkeGattermann Genscher GriesGrünbeckFrau Dr. Hamm-Brücher Dr. Haussmann HeinrichDr. Hirsch HoppeDr. Hoyer IrmerKleinert KohnDr. Graf Lambsdorff LüderMischnick Möllemann Neuhausen NoltingPaintnerRichterRindRonneburger Dr. Rumpf Schäfer
Frau Dr. SegallFrau Seiler-AlbringDr. Solms Dr. Thomae TimmWolfgramm Frau WürfelZywietzNeinSPDFrau Adler AmlingAndresDr. ApelBachmaier BahrBambergBecker
Frau Becker-Inglau BindigDr. Böhme Börnsen (Ritterhude) BrandtBrückBüchler Dr. von BülowFrau BulmahnBuschfort Catenhusen Frau Conrad ConradiFrau Dr. Däubler-Gmelin DillerDreßlerDr. Ehmke
Dr. EhrenbergDr. EmmerlichEstersFrau FaßeFischer
Frau Fuchs
Frau GanseforthGanselDr. Gautier Gerster
GilgesFrau Dr. GötteGrafGroßmann Grunenberg Dr. Haack Haack
HaarFrau HämmerleFrau Dr. Hartenstein HasenfratzDr. Hauff Heimann Heistermann HeyennHiller
HornHuonkerJahn
JansenJaunichDr. JensJungmann Kastning Kirschner Kißlinger KoltzschKoschnick Kühbacher Kuhlwein Leidinger Lennartz Leonhart Lohmann
LutzFrau LuukFrau Dr. Martiny-Glotz Frau Matthäus-Maier MenzelDr. Mertens MeyerDr. MitzscherlingMüller
Müller MünteferingNagelFrau Dr. NiehuisDr. Niese Niggemeier Dr. NöbelFrau Odendahl Oesinghaus OostergeteloPaternaPauliDr. Penner Peter
PfuhlDr. PickPorznerPoßReimann Frau RengerReschke ReuterRixeRothSchäfer SchanzScherrerFrau Schmidt Schmidt (Salzgitter)Dr. SchmudeDr. Schöfberger SchreinerSchröer SchützSeidenthal Frau SeusterSielaffFrau SimonisSingerFrau Dr. Skarpelis-Sperk Dr. SperlingDr. SpöriStahl
Frau SteinhauerStieglerStobbeDr. Struck Frau TerborgTietjenFrau Dr. Timm ToetemeyerFrau TraupeUrbaniak Vahlberg Verheugen Dr. Vogel Voigt
VosenWaltematheWaltherWartenberg
Weiermann Frau WeilerWeisskirchen Dr. WernitzWestphalFrau Weyel Dr. WieczorekFrau Wieczorek-Zeul Wiefelspützvon der Wiesche Wimmer WischnewskiWittichWürtzZanderZeitlerZumkleyDIE GRÜNENFrau Beck-Oberdorf Frau BeerFrau Brahmst-Rock BrauerDr. Daniels EbermannFrau EidFrau Flinner Frau Garbe HäfnerFrau Hillerich HossHüserKleinert
Dr. Knabe Kreuzeder Frau KriegerDr. Lippelt Dr. Mechtersheimer Frau NickelsFrau Oesterle-Schwerin Frau OlmsFrau Rust Frau Saibold SchilyFrau Schmidt-BottFrau SchoppeSellinFrau TeubnerFrau Trenz Frau Unruh Frau VennegertsFrau Dr. Vollmer VolmerWeiss WetzelFrau Wilms-Kegel WüppesahlDamit ist die Entschließung angenommen.Bei der zweiten Abstimmung handelte es sich um den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/225 . Es haben ebenfalls 430 Abgeordnete ihre Stimme abgegeben. Es gab keine ungültige Stimme. Mit Ja haben 180 Abgeordnete, mit Nein 240 Abgeordnete gestimmt. Es hat 10 Enthaltungen gegeben.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen 429; davonja: 179nein: 240enthalten: 10
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588 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987
Vizepräsident WestphalJaSPDFrau Adler AmlingAndresDr. ApelBachmaier BahrBambergBecker
Frau Becker-Inglau BindigDr. Böhme Börnsen (Ritterhude) BrandtBrückBüchler Dr. von BillowFrau BulmahnBuschfort Catenhusen Frau Conrad ConradiFrau Dr. Däubler-Gmelin DillerDreßlerDr. Ehmke
Dr. EhrenbergDr. EmmerlichEstersFrau FaßeFischer
Frau Fuchs
Frau GanseforthGanselDr. Gautier Gerster
GilgesFrau Dr. GötteGrafGroßmann Grunenberg Dr. Haack Haack
HaarFrau HämmerleFrau Dr. Hartenstein HasenfratzDr. Hauff Heimann Heistermann HeyennHiller
HornHuonkerJahn
JansenJaunichDr. JensJungmann Kastning Kirschner Kißlinger KoltzschKoschnick Kühbacher Kuhlwein Leidinger Lennartz Leonhart Lohmann
LutzFrau LuukFrau Dr. Martiny-Glotz Frau Matthäus-Maier MenzelDr. Mertens MeyerDr. MitzscherlingMüller
Müller MünteferingNagelFrau Dr. NiehuisDr. NieseNiggemeier Dr. NöbelFrau Odendahl Oesinghaus Oostergetelo PaternaPauliDr. Penner Peter PfuhlDr. PickPorznerPoßReimannFrau Renger ReschkeReuterRixeRothSchäfer SchanzScherrerFrau Schmidt Schmidt (Salzgitter)Dr. Schmude Dr. Schöfberger SchreinerSchröer SchützSeidenthal Frau Seuster SielaffFrau Simonis SingerFrau Dr. Skarpelis-Sperk Dr. SperlingDr. SpöriStahl
Frau SteinhauerStieglerStobbeDr. Struck Frau Terborg TietjenFrau Dr. Timm Toetemeyer Frau Traupe UrbaniakVahlbergVerheugen Dr. VogelVoigt
VosenWaltemathe WaltherWartenberg WeiermannFrau Weiler Weisskirchen Dr. WernitzWestphalFrau Weyel Dr. WieczorekFrau Wieczorek-Zeul Wiefelspützvon der WiescheWimmer WischnewskiWittichWürtzZanderZeitlerZumkleyDIE GRÜNENFrau Beck-Oberdorf Frau Brahmst-RockDr. Daniels Frau EidFrau FlinnerFrau GarbeHäfnerFrau HenselFrau HillerichHossHüserKleinert Dr. KnabeFrau NickelsFrau RustFrau SaiboldSchilyFrau SchoppeFrau UnruhFrau Vennegerts Frau Dr. Vollmer Weiss WetzelNeinCDU/CSUAustermannBauer BayhaDr. Becker Frau Berger (Berlin) BiehleDr. BlankDr. BlensDr. BlümBörnsen
Dr. BötschBohlBohlsen Borchert BreuerCarstens Carstensen (Nordstrand) ClemensDr. Daniels
Frau DempwolfDeresDörflingerDr. DollingerDossDr. DreggerEchternachEhrbar EigenEngelsbergerEylmann Feilcke Dr. FellFischer Francke (Hamburg)Dr. FriedmannDr. FriedrichFuchtelGanz
Frau GeigerGeisDr. GeißlerGerstein Gerster
GlosDr. GöhnerGröblGünther Dr. HäfeleHarriesFrau HasselfeldtHaungsHauser Hauser (Krefeld)HedrichFreiherr Heereman von ZuydtwyckFrau Dr. Hellwig HelmrichDr. HennigHerkenrathHinrichsHinskenHöffkesHöpfingerHörsterDr. Hoffacker Dr. Hornhues Frau Hürland-BüningDr. HüschDr. Jahn Dr. JenningerDr. JobstJung Jung (Lörrach) KalbKalischDr.-Ing. Kansy Dr. KappesFrau Karwatzki Klein
Dr. Köhler KolbKossendeyKrausKreyKroll-Schlüter Dr. KronenbergDr. Kunz LamersDr. LammertDr. LangnerLattmannDr. LaufsFrau Limbach Link Link (Frankfurt) LinsmeierLintnerDr. Lippold Dr. h. c. LorenzLouvenMaaßFrau Männle MarschewskiDr. Meyer zu Bentrup MichelsDr. MiltnerDr. MöllerMüller Müller (Wesseling) Dr. NeulingNeumann
Dr. OlderogOswaldPeschPfeffermannPfeiferDr. PfennigDr. PingerDr. Pohlmeier Dr. ProbstRauenRaweRegenspurger RepnikDr. RiesenhuberFrau Roitzsch Dr. RoseRossmanithRoth RüheDr. RüttgersRufSauer Sauer (Stuttgart) Sauter (Epfendorf) Sauter (Ichenhausen)
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987 589
Vizepräsident WestphalDr. Schäuble ScharrenbroichSchartz
Schemken ScheuSchmidbauer Schmitz
Dr. Schneider SchreiberDr. Schroeder Schulhof fDr. Schulte
Schulze (Berlin)
SchwarzDr. Schwörer SeesingSeitersSpilkerSprangerDr. SprungDr. Stark
Dr. StavenhagenDr. Stercken Straßmeir StrubeStücklenFrau Dr. Süssmuth SussetTillmannDr. Uelhoff UldallFrau VerhülsdonkVogel
Vogt
Dr. Voigt
Dr. Vondran Dr. VossDr. WaffenschmidtDr. WaigelGraf von Waldburg-Zeil Dr. WarrikoffDr. von Wartenberg WeirichWeiß Werner (Ulm)Frau Will-FeldFrau Dr. WilmsWilzWimmer WindelenFrau Dr. Wisniewski WissmannDr. WittmannDr. Wörner Würzbach Zeitlmann Dr. ZimmermannZinkFDPDr. BangemannBaumBeckmannCronenberg Eimer (Fürth)EngelhardDr. FeldmannFunkeGattermann Genscher GriesGrünbeck GrünerDr. Haussmann HeinrichHoppeDr. Hoyer IrmerKleinert KohnDr. Graf Lambsdorff Mischnick Möllemann NeuhausenNoltingPaintnerRichterRindRonneburger Dr. Rumpf Schäfer
Frau Dr. SegallFrau Seiler-AlbringDr. Solms Dr. Thomae TimmWolfgramm Frau WürfelZywietzDIE GRÜNENFrau Beer Ebermann Frau KriegerFrau Oesterle-Schwerin Frau OlmsFrau Schmidt-Bott WüppesahlEnthaltenFDPFrau Dr. Hamm-BrücherDIE GRÜNENBrauerKreuzederDr. Lippelt SellinStratmann Frau Teuber Frau Trenz VolmerFrau Wilms-KegelDamit ist dieser Entschließungsantrag abgelehnt.Ich rufe nun den Zusatztagesordnungspunkt 8 auf:Aktuelle StundeKriegswaffenexport-Politik der Bundesregierung in Länder des Nahen und Mittleren Ostens, insbesondere nach Saudi-Arabien.Meine Damen und Herren, die Fraktion der SPD hat gemäß Anlage 5, Nr. 1 c unserer Geschäftsordnung diese Aktuelle Stunde verlangt.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abgeordnete Frau Renger.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist mir ein Bedürfnis, an dieser Stelle, wie ich hoffe, für das ganze Haus den Dank an den Präsidenten des Staates Israel zum Ausdruck zu bringen, der in so nobler politischer Verständnisbereitschaft und beeindruckender menschlicher Weise einen neuen Abschnitt israelisch-deutscher Beziehungen eingeleitet hat.
Als Zeugen dieses wahrhaft geschichtlichen Ereignisses sollte es jedermann noch einmal klargeworden sein, wie groß unsere Verantwortung für die Sicherung der Existenz Israels und des Friedens für die Menschen in diesem Lande ist. Ich hatte mich besonders über die Ansprache des Herrn Bundeskanzlers gefreut, die er anläßlich des Empfanges des Herrn Staatspräsidenten gemacht hat, wo man deutlich spüren konnte, um wieviel mehr er nun von den tiefen Wunden und Ängsten der Juden begriffen hat, die in Israel ihre Heimat gefunden haben. Er sagte:Es ist für uns ein wichtiges politisches Ziel, die Zukunft Israels und seine Lebensfähigkeit sichern zu helfen ... Darum haben wir auch als Deutsche ganz besonders Verständnis für das Sicherheitsbedürfnis Ihres Staates.Meine Damen und Herren, ich bedaure, feststellen zu müssen, daß diese Versicherung der Bundesregierung schnell ihre Glaubwürdigkeit verloren hat. Der gerade ernannte Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Herr Klein — nun nicht mehr der Sprecher des ultrarechten Flügels der CSU, sondern Kabinettsmitglied, das den Richtlinien des Bundeskanzlers untersteht — , erklärte unverblümt und in peinlicher Unhöflichkeit, den Besuch des hohen Staatsgastes begleitend, daß er Waffenexporte an Saudi-Arabien für durchaus vernünftig und erwägenswert halte, obwohl er doch wußte, daß sich Israel durch weitere Waffenanhäufung bedroht fühlt und es besonders makaber wäre, wenn es sich um deutsche Waffen handelte.Der bayerische Ministerpräsident setzte dem dann noch die Krone auf,
indem er — abgesehen von sonstigen, eher peinlichen Ausführungen unter dem Rubrum: die historische Wahrheit muß auf den Tisch — formulierte, „Waffen für Saudi-Arabien lägen schließlich im wohlverdienten Interesse des Westens wie auch des Staates Israel".Meine Damen und Herren, das Dementi des Regierungssprechers, es handele sich bei der Äußerung des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit lediglich um die „Erwägung eines Ministers" und die Bundesregierung werde an ihrer restriktiven Waffenexportpolitik festhalten, wurde durch das Sprachorgan von Herrn Strauß sogleich lächerlich gemacht und — was noch schlimmer ist — als nicht zutreffend ent-
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590 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987
Frau Rengerlarvt. „Der Inhalt der Erklärung des Regierungssprechers stand also mit der Wahrheit nicht einmal mehr in ungefährem Zusammenhang", stand im „Bayernkurier" . An anderer Stelle heißt es in dieser Postille: Wenn Ost — das ist der Pressesprecher der Bundesregierung — über Exporte nach Saudi-Arabien erkläre, „derzeit erübrige sich jede Diskussion", muß daran erinnert werden, daß Bundeskanzler Kohl vor und während der Koalitionsverhandlungen mehrmals ein dringendes Interesse angemeldet hat. — Ich kann das nicht nachprüfen, ich lese nur aus dem „Bayernkurier" vor.
Meine Damen und Herren, diese empörende Doppelzüngigkeit belastet natürlich zuallererst unsere guten Beziehungen zu Israel. Im Zusammenhang mit dem Besuch des höchsten israelischen Repräsentanten, des israelischen Staatspräsidenten, war es eine unglaubliche Entgleisung und Provokation.Politisch unverantwortlich ist es aber auch, wie hier von seiten der Bundesregierung und von der CDU/ CSU in aller Öffentlichkeit die uns freundlich gesinnten arabischen Staaten — insbesondere Saudi-Arabien — vorgeführt werden. Ich bin sicher, man wird in Saudi-Arabien verstehen, daß wir Deutschen wegen der besonderen Beziehungen zu Israel keine deutschen Waffen an sie liefern können und wollen. Dies sollte unsere gegenseitigen Beziehungen nicht trüben, aber darüber hinaus füge ich hinzu, daß alle Bemühungen um eine friedliche Lösung des NahostKonflikts durch die weitere Anhäufung von Waffen an wen auch immer in immer weitere Ferne gerückt wird. Anstatt mit Waffenlieferungen zu spielen und dabei auch noch das Geschäft über die Moral zu stellen, sollte sich die Bundesregierung bei den befreundeten Nationen in dieser Region um eine erfolgversprechende Friedenskonferenz bemühen.
Diese Region braucht Entspannung, wirtschaftliche Entwicklung und ein Friedenskonzept. Was dort nicht gebraucht wird, sind mehr Waffen, am wenigsten deutsche Waffen.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Kittelmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch die CDU/CSU dankt bei dieser Gelegenheit noch einmal für den geschichtlichen Staatsbesuch des israelischen Staatspräsidenten. Wir haben uns über diesen Besuch sehr gefreut.Frau Kollegin Renger, wir können hier an sich nur wiederholen, was wir in den letzten Wochen gedanklich — meistens über die Medien — miteinander ausgetauscht haben. Es gibt weder eine Doppelzüngigkeit noch Unklarheit in der Haltung der Bundesregierung und der CDU/CSU zu der Frage von Waffenexporten. Die politischen Grundsätze für den Rüstungsexport aus dem Frühjahr 1982 gelten auch unter der jetzigen Bundesregierung unverändert fort. Sie sind nicht von dieser Bundesregierung formuliert worden. Auch die Leitsätze zu Fragen des restriktiven Rüstungsexports, die die sozialdemokratische Regierung 1981 aufgestellt hat, sind in den wesentlichen Punkten nicht sehr weit von dem entfernt, was die CDU/CSU vertritt.
Die CDU/CSU unterstützt auch weiterhin vorbehaltlos die restriktive Politik dieser Bundesregierung in den Fragen des Rüstungsexports. Diese steht voll im Einklang mit dem Außenwirtschaftsgesetz und dem Kriegswaffenkontrollgesetz. Unsere Waffenexportregeln sind die restriktivsten überhaupt. Wir praktizieren die zurückhaltendste Waffenexportpolitik. Das muß einfach zur Kenntnis genommen werden. Es hilft auch kein großes Geschrei, anderes zu sagen. Wenn man jedoch glaubt, der Bundesregierung etwas anderes nachweisen zu können, sollte man Roß und Reiter nennen und nicht pauschale Angriffe und unnötige Polemik formulieren.Die CDU/CSU hat bereits in der Aktuellen Stunde vom 17. Oktober 1985 ihre Haltung hierzu mehrfach eindeutig klargemacht. Ich bitte Sie herzlich, das Protokoll nachzulesen. Man könnte beinahe die gleichen Reden, die damals gehalten worden sind, jetzt wiederholen.Wir verurteilen den erneuten untauglichen Versuch der Sozialdemokraten, den Eindruck zu erwecken, diese Bundesregierung trete besonders intensiv für eine Rüstungsexportpolitik ein.
Die Rüstungsexportpolitik unserer Bundesregierung knüpft nahtlos an die Politik ihrer Vorgängerinnen an. Diese war auch damals der Verantwortung für das Ganze verpflichtet.Ich darf daran erinnern, daß die damalige Opposition die Entscheidungen in dieser Frage immer mitgetragen hat. Die Art und Weise, wie Sozialdemokraten heute Tatsachen verdrehen und bewußt falsche Schwerpunkte setzen, verleiht dem sensiblen Thema Waffenexport in keiner Weise den Akzent, der erforderlich ist. Damit wird die Opposition auch ihrer außenpolitischen Verantwortung nicht gerecht.
Ich habe Verständnis dafür, daß Frau Renger im Hinblick auf die Problematik, wie sie sie aus ihrer persönlichen Einschätzung dargestellt hat, eine andere Sicht der Dinge hat. Ich möchte aber sagen, daß die Sicht der Dinge zu der Zeit, als Sie regierten und Ihre Beschlüsse faßten, genauso war wie heute. An den Fakten hat sich nichts geändert.Rüstungsexport kann durchaus ein Mittel der Politik sein, das bedeutet ein Mittel der Einflußnahme und der Stabilisierung. Die Frage, ob Waffen geliefert werden oder nicht, muß auch und gerade unter Berücksichtigung unserer vitalen Sicherheitsinteressen beantwortet werden. Dazu gehört in erster Linie die Friedenssicherung. Friedenssicherung beinhaltet
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987 591
Kittelmannim wesentlichen aber auch eine Stabilisierungsfunktion.Unverkennbar gibt es Spannungsgebiete, wo man durch Waffenlieferungen eher Stabilität als Instabilität erreichen kann. Als zweitstärkste Handelsmacht weltweit hat die Bundesrepublik ein natürliches Interesse an globaler Sicherheit. Als rohstoffarme und auf den Export angewiesene Industrienation können wir nicht per se Rüstungslieferungen aus unseren internationalen Beziehungen aussparen. Das wissen Sie genauso gut wie ich. Deshalb ist der Versuch, durch Verdrehung, Verleumdung und unnötige Polemik dieses Thema immer wieder bewußt falsch in die Öffentlichkeit zu bringen, nicht im Interesse dieses Hauses. Im wesentlichen haben Sie damit in der Öffentlichkeit glücklicherweise auch keinen Erfolg.Schönen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Eid.
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Spätestens das illegale U-Boot-Geschäft mit Südafrika hat vielen Menschen die Augen geöffnet.
Es gibt in der Rüstungsexportpolitik der Bundesregierung, Herr Kollege Bohl, keinerlei Tabus mehr. Es gibt kaum einen Kriegsschauplatz in der Dritten Welt, auf dem nicht mit deutschen Waffen gekämpft würde.
Die Bundesregierungen redeten und reden immer davon, daß sie Frieden mit immer weniger Waffen schaffen wollen. Aber sowohl die sozialliberale als auch die rechts-konservative Regierung haben den Krieg exportiert. Die Bundesrepublik ist in wenigen Jahren, seit 1973, zu einem der größten Rüstungsexportländer aufgestiegen. Der Nahe Osten als Spannungsgebiet par excellence ist traditionell einer der Hauptabsatzmärkte für deutsche Waffentechnik. Allein im Zeitraum 1979 bis 1983 war Saudi-Arabien mit einem Rüstungsimportvolumen von 525 Millionen Dollar drittgrößter Kunde der Bundesrepublik. Davor lagen nur die argentinischen und türkischen Generäle.
1973 lieferte das Industriekontor Lübeck Blaupausen für U-Boote nach Israel. 1986 sind Pläne für weitere U-Boot-Lieferungen nach Israel durch das bundesdeutsche Unternehmen HDW bekanntgeworden. Gleichzeitig wurde bekannt, daß auch das mit Israel verfeindete Saudi-Arabien U-Boote erhalten sollte. Ausgerechnet während des Besuchs des israelischen Staatspräsidenten Chaim Herzog gab Franz Josef Strauß der erstaunten Öffentlichkeit bekannt, daß Saudi-Arabien bereits eine schriftliche Zusage für die Genehmigung dieses Geschäfts erhalten habe. Ganz unabhängig davon, ob die U-Boote jemals direkt gegen Israel eingesetzt werden oder nicht, erhöhen sie doch das militärische Drohpotential gegen dieses Land und führen so zu einer Verschärfung der Spannungen in dieser Region. Eine politische Lösung des
Nah-Ost-Konfliktes, mit der es zu einem Ausgleich zwischen den Interessen Israels und denen des palästinensischen Volkes kommt, wird dadurch immer schwieriger. Die Beteuerung der Bundesregierung, für eine friedliche Regelung im Nahen Osten einzutreten, wird durch die geplanten Lieferungen an Saudi-Arabien völlig unglaubwürdig.
Bei den Rüstungsexporten nach Saudi-Arabien geht es ja nicht nur um die geplanten U-Boot-Exporte, es geht auch nicht um den seit Jahren in der Öffentlichkeit ausgetragenen Streit um die mögliche Lieferung von Leopard-2-Panzern. Dieser Streit verdeckt nur das, was tatsächlich seit langem läuft. Leopard-2-Panzer sind so ziemlich das einzige Kriegsgerät, das die Saudis von der Bundesregierung bislang nicht bekommen haben.
Es ist richtig: Saudi-Arabien führt im Moment selbst keinen Krieg. Es ist — und das ist schlimm genug — Transitstation für den Golf-Krieg, so wie der Iran Nachschub für Syrien erhält.
Wir GRÜNEN sind gegen Rüstungsexporte, gleich, ob nach Südafrika, Irak, Iran, Israel oder Saudi-Arabien.
Erlauben Sie mir an dieser Stelle eine Zwischenbemerkung, die mir im Zusammenhang mit der Friedensdebatte von heute morgen besonders wichtig ist. Unsere Eltern sind zum einen freiwillig für die nationalsozialistischen Weltmachtideen in den Krieg gezogen, und zum anderen haben sie den Massenmord am jüdischen Volk geduldet und dadurch überhaupt erst möglich gemacht. Es gibt deshalb für mich einen unauflöslichen moralischen Zusammenhang zwischen diesen Verbrechen und unserer heutigen Politik.
Wenn Sie, meine Damen und Herren der Bundesregierung, diese Waffenlieferungen an Saudi-Arabien zulassen, dann erwecken Sie den Eindruck, daß Sie Ihre ganz individuelle historische Verantwortung geringschätzen.
Die Verschärfung des Militärpotentials verhindert eine friedliche Entwicklung im Nahen Osten. Deshalb fordere ich die Bundesregierung auf, keine Rüstungsgüter nach Saudi-Arabien zu liefern. Ich fordere sie auch auf, die GSG 9 nicht nach Saudi-Arabien zu schicken; das konnten wir ja heute in der Zeitung lesen. Ich fordere Sie auf, sich statt dessen an der Entwicklung einer friedlichen Lösung zu beteiligen, die sowohl die Rechte des palästinensischen als auch des jüdischen Volkes berücksichtigt.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Beckmann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Alte Bekannte trifft man
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592 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987
Beckmannimmer wieder — so könnte das Motto der heutigen Aktuellen Stunde lauten.Das Thema Kriegswaffenkontrolle hat uns in der vergangenen Legislaturperiode hier ungezählte Male beschäftigt, und zwar sowohl in den Plenardebatten als auch in den Fragestunden. Ungezählte Male ist auch die Haltung der Bundesregierung, an der sich nichts, aber auch wirklich gar nichts geändert hat, ausführlich dargelegt worden. Deswegen handelt es sich bei diesem Tagesordnungspunkt, über den wir hier zu debattieren haben, um ein sehr, sehr durchsichtiges Manöver. Es soll gleichsam der Eindruck erweckt werden, als ob die ganze Welt von deutschen Waffen überschwemmt würde. Diese Vorstellung besteht allerdings ausschließlich in den Köpfen der Opposition. Sie hat mit der Wirklichkeit nichts, aber auch gar nichts zu tun.
Der Anteil von Rüstungsgütern und Kriegswaffen an der gesamten deutschen Warenausfuhr beträgt nur 1,5 %.
Nur 0,2 % der Beschäftigten in der Bundesrepublik Deutschland sind für den Rüstungsexport tätig. Die Bundesrepublik Deutschland — das widerspricht den Darstellungen, die ich hier insbesondere von Frau Eid gehört habe — liefert jährlich nur 4 % aller Kriegswaffen in der Welt. Das sind Fakten, die hier schon oft dargelegt worden sind. Aber die wollen Sie offensichtlich nicht zur Kenntnis nehmen.
Ich weiß wohl — das sage ich in allem Ernst — um die moralische und politische Bedeutung dieses Themas. Meine Fraktion hat die hier anstehenden Fragen oft und sehr intensiv erörtert. Wir haben hierzu eine klare Position. Wir Freien Demokraten sind und bleiben für die — wie Sie wissen, gemeinsam mit der SPD — erarbeiteten Grundsätze restriktiver Rüstungsexportpolitik.
Wo ist denn eigentlich dann der aktuelle Anlaß für diese Debatte? Außer Spekulation, Herr Gansel, ist doch bisher nichts gewesen. Und daß Sie spekulieren können, haben Sie ja im U-Boot-Untersuchungsausschuß zur Genüge unter Beweis gestellt. Bewiesen haben Sie allerdings nichts.Wir dagegen sind für eine berechenbare, kontinuierliche und verläßliche Politik auch im Bereich des Rüstungsexports.Wir werden, wenn konkrete Fälle aktuell werden, sorgfältig prüfen, und zwar anhand der 1982 gemeinsam mit Ihnen festgelegten Grundsätze.Wir werden uns auch jetzt nicht mit erhobenem Zeigefinger hier hinstellen und erklären: Rüstungsexporte in den Nahen und Mittleren Osten nie und nimmer! In den im Jahr 1982 vereinbarten Grundsätzen zum Rüstungsexport ist ja das Prinzip der Einzelfallentscheidung verankert. Also ist hier eine Ermessensentscheidung notwendig. Dabei ist zu berücksichtigen, was bisher immer berücksichtigt worden ist:Saudi-Arabien ist ein wichtiger Stabilisierungsfakter im Nahen Osten. Es unterhält enge und freundschaftliche Beziehungen zum Westen, denen nach Einschätzung aller EG-Partner eine entscheidende Rolle für die friedliche Lösung des Nahost-Konflikts zukommt. Selbstverständlich ist Saudi-Arabien auch für uns ein wichtiger Wirtschaftspartner. Wir haben also ein vitales Interesse an der inneren Stabilität dieses Landes.Auf der anderen Seite werden wir natürlich — das sage ich mit allem Ernst — auch die spezifischen Sicherheitsinteressen Israels und unsere besonderen historischen Verpflichtungen diesem Land gegenüber immer berücksichtigen.Für uns ist es auch wichtig, daß durch entsprechende Endverbleibsklauseln so weit wie möglich gegen eine unberechtigte Verwendung der deutschen Waffen Vorsorge getroffen wird.
Nach diesen Grundsätzen, Herr Kollege Gansel, sind unter sozialdemokratisch geführten Bundesregierungen mehrmals Sonderschiffslieferungen in den Nahen Osten genehmigt worden. Das wissen Sie.
— Wer war denn der Bundeskanzler, Herr Gansel? — Wir stehen zu diesen Entscheidungen der früheren sozialdemokratischen Bundeskanzler Brandt und Schmidt. Das unterscheidet uns von Ihnen.Wir wissen sehr wohl: Rüstungsexportpolitik ist kein geeignetes Mittel der Beschäftigungspolitik. Arbeitsmarktpolitische Überlegungen und Erwägungen sind in den Grundsätzen von 1982 ausdrücklich für unerheblich erklärt. Uns ist aber — das will ich hier ebenfalls sagen — auch das Schicksal der Arbeiter auf den norddeutschen Werften nicht gleichgültig.
Die deutschen Werften und ihre Arbeiter haben auch einen Anspruch darauf, daß vorurteilsfrei über Exportaufträge nach den gemeinsam festgelegten Grundsätzen entschieden wird.
Dabei sind wir uns aber unserer gesamtpolitischen Verantwortung wie bisher wohl bewußt.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft, Herr Dr. Riedl.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich beziehe mich zunächst auf die
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987 593
Parl. Staatssekretär Dr. Riedlschriftlichen Antworten der Bundesregierung auf zwei Anfragen des Abgeordneten Dr. Burkhard Hirsch, die auf seinen Antrag hin schriftlich erteilt worden sind, und gebe in Ergänzung dazu in vier Punkten für die Bundesregierung folgende Erklärung ab.Erstens. Alle Bundesregierungen haben sich seit Beginn der 70er Jahre bemüht, die Zusammenarbeit mit Saudi-Arabien zu verbreitern und zu vertiefen. In dieser Perspektive verständigte sich im Oktober 1983 die Bundesregierung mit Saudi-Arabien darüber, auch Fragen des Verteidigungsbereichs in die Zusammenarbeit einzubeziehen und in diesem Zusammenhang Möglichkeiten der Lieferungen deutscher Rüstungsgüter, die für die Verteidigung bestimmt sind, zu prüfen. Über die Ausfüllung dieser Vereinbarungen finden Gespräche mit der saudischen Regierung statt, wobei sich beide Seiten über die besondere Interessenlage des Partners im klaren sind. Diese Gepräche haben sich bisher noch nicht dahin konkretisiert, daß die Bundesregierung über Art, Ausmaß und Rahmenbedingungen einer solchen Rüstungszusammenarbeit zu entscheiden hätte.Zweitens. Die Bundesregierung hat in der Vergangenheit wie auch die früheren SPD-geführten Bundesregierungen unter Bundeskanzler Willy Brandt und Bundeskanzler Helmut Schmidt nach sorgfältiger Abwägung aller Einzelumstände der Lieferung bestimmter Rüstungsgüter nach Saudi-Arabien zugestimmt, und sie wird das auch in Zukunft tun im Auswärtigen Ausschuß, in anderen Parlamentsgremien, in Parlamentarischen Anfragen hier im Deutschen Bundestag und — meine Damen und Herren von der sozialdemokratischen Fraktion, dieses Angebot unterbreite ich Ihnen — auch mit den Kollegen in Ihren Wahlkreisen, mit den Betriebsräten, mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund und mit anderen, ich möchte sagen: relevanten, Gruppen unserer Gesellschaft. Ich meine hier insbesondere die Kirchen.
— Herr Kollege Gansel, ich nehme Ihr Angebot sehr gerne auf.
— Ich komme zu den Gesprächspartnern, die Sie mir vorschlagen. Da habe ich keine Vorbehalte. Ich stelle mich verantwortungsbewußt sehr gerne dieser Diskussion. Ich bedanke mich, daß Sie dies annehmen.Drittens zu dem U-Boot-Geschäft mit Saudi-Arabien. Meine Damen und Herren, der Presse ist zu entnehmen, daß es sich um ein großes Gesamtprogramm der saudischen Marine handelt, zu dem in großem Umfang Industriebauten, Hafenanlagen und Umbauten gehören. An diesem Projekt haben sich Firmen aus vielen Ländern beteiligt, vor allen Dingen aus den Ländern, deren Industrie in der Lage ist, die Komponenten dieses Großprojektes zu liefern bzw. zu erstellen.Wir wissen, daß sich große Firmenkonsortien aus Frankreich, aus Großbritannien, aus den Niederlanden an der Ausschreibung beteiligen und durch ihre Regierungen nachhaltig gestützt werden. Da ein deutsches Firmenkonsortium sich ebenfalls an der Ausschreibung beteiligen wollte, hat die Bundesregierung das Vorhaben im Hinblick auf das Kriegswaffenkontrollgesetz , auf das Außenwirtschaftsgesetz und unter Berücksichtigung der rüstungsexportpolitischen Grundsätze geprüft und diese Firmen wissen lassen, daß sie diesem Projekt grundsätzlich positiv gegenübersteht. Dabei ist auch berücksichtigt worden, daß dieser Auftrag der deutschen Werftindustrie helfen könnte, in schwieriger wirtschaftlicher Lage Arbeitsplätze und aus eigenen Verteidigungsgründen unverzichtbares technisches Know-how zu sichern.Da die saudische Regierung über die Auftragsvergabe noch nicht entschieden hat, liegt der Bundesregierung ein konkreter Antrag zur Genehmigung heute noch nicht vor.Viertens. Künftige Entscheidungen über Waffenlieferungen nach Saudi-Arabien, aber auch in andere Länder außerhalb des NATO-Bereichs und der der NATO rüstungsexportpolitisch gleichgestellten Länder, wird die Bundesregierung in sachlich angemessener und politisch gebotener Zurückhaltung wie bisher im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften und der rüstungsexportpolitischen Grundsätze von 1982 treffen.Meine Damen und Herren, ich möchte unterstreichen, was der Abgeordnete Beckmann schon erwähnt hat: die Bundesrepublik Deutschland nimmt mit ihren Rüstungsexporten in die Dritte Welt einen niedrigen Rang ein.
Das Stockholmer SIPRI-INSTITUT hat für die Bundesrepublik Deutschland einen Anteil — nun divergiere ich etwas zum Kollegen Beckmann — von 3 % in den Jahren 1980 bis 1984 errechnet, für die UdSSR dagegen einen Anteil von 37,1 %, für die USA von 29,1 %, für Frankreich von 11,1 %, für Großbritannien von 4,8 % und für Italien von 4,4 %Dies schließt aber auch einen nüchternen und realistischen Bezug auf die vielschichtigen außen- und sicherheits- sowie wirtschaftspolitischen Interessen der Bundesrepublik in zweifacher Hinsicht ein.Einmal dürfen wir nicht übersehen, daß auch Länder außerhalb der beiden großen Bündnisse legitime Sicherheitsinteressen und Verteidigungsbedürfnisse haben, über die wir nicht befinden können. Und zum anderen: Unser Land ist bekanntermaßen rohstoffarm, hochindustrialisiert und von Exporten abhängig. Deshalb brauchen wir politisch funktionierende Wirtschaftsbeziehungen zu allen Ländern. In diesem Zusammenhang werden auch hinsichtlich von Waffenlieferungen Erwartungen an uns gestellt, ob wir dies wollen oder nicht.
— Gnädige Frau gestatten Sie mir, Sie zu bitten, mir zuzuhören. — Im Falle Saudi-Arabien kommen
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Parl. Staatssekretär Dr. Riedlbesondere Erwägungen hinzu. — Dieses Land stellt in seiner außenpolitischen Grundhaltung einen wichtigen Stabilisierungsfaktor im Nahen Osten dar. Es unterhält enge und freundschaftliche Beziehungen zu den Ländern des Westens, nach deren gemeinsamer Einschätzung Saudi-Arabien eine entscheidende Rolle für eine friedliche Lösung des Nahost-Konfliktes zukommt. In diesem Zusammenhang sind auch die Bemühungen um ein Kooperationsabkommen zwischen der EG und den Golfstaaten zu nennen.Darüber hinaus ist Saudi-Arabien für uns ein bedeutender Wirtschaftspartner, mit dem wir als zuverlässigem Erdöllieferanten langfristig zusammenarbeiten wollen. An der inneren Stabilität und Verteidigungsfähigkeit dieses Landes besteht somit ein vitales Interesse der Bundesrepublik Deutschland und des gesamten Westens.
Auf der anderen Seite wird auch die Bundesregierung bei Genehmigungen von Rüstungslieferungen in Länder des Nahen und Mittleren Ostens, Frau Kollegin Renger, das spezifische Sicherheitsinteresse Israels und unsere besonderen historischen Verpflichtungen gegenüber diesem Land berücksichtigen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Gansel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nun haben die Ausführungen des Staatssekretärs aus dem Wirtschaftsministerium doch eine Wende in die Debatte gebracht, und ich muß jetzt feststellen, daß Staatssekretär Ost, der als Sprecher der Bundesregierung während des Besuches des israelischen Staatspräsidenten verkündet hat, daß Waffenlieferungen an Saudi-Arabien kein aktuelles Thema seien, seinerzeit eindeutig die Unwahrheit gesagt hat.
Sie, Herr Staatssekretär, haben eben bestätigt, daß man zu eben dieser Zeit die offizielle Unterstützung der Bundesregierung zugesagt hat für Akquisitionsverhandlungen hinsichtlich von U-Booten nebst Zubehör für Saudi-Arabien.
Sie nicken mit dem Kopf; und nun frage ich: Tragen Sie Ihre Position vor oder die Position des Wirtschaftsministeriums, die Position der CSU oder die Position der Bundesregierung? Hat Staatssekretär Ost als Sprecher der Bundesregierung vor der deutschen Öffentlichkeit unwissend die Unwahrheit gesagt, oder hat man ihn lügen lassen?
Jedenfalls stimmen die Tatsachen nicht mit seinen Erklärungen überein.
Sie können bei dieser Gelegenheit nicht wieder mit dem Arbeitsplatzargument kommen. Das kann zumindest in bezug auf die deutsche Werftindustrie keine Bundesregierung sagen, die unsere Anfragen und Initiativen für Hilfen für den deutschen Schiffbau hier abgeschmettert hat mit dem Hinweis, Kapazitäten im Schiffbau müßten nur einmal reduziert werden. Selten hat sich eine Regierung so erbarmungslos gegenüber den Nöten von Menschen verhalten, die um ihren Arbeitsplatz bangen mußten.
Wenn das nur ein bißchen ernst gemeint ist, was Sie gesagt haben, dann werden Sie unseren Anträgen die Zustimmung geben, die Schiffbauhilfen auf mindestens 20 % des Auftragsvolumens zu erhöhen,
so wie es nach den EG-Richtlinien, denen Sie die Zustimmung gegeben haben, möglich ist.Aber es bleiben offene Fragen, wenn hier eine neue Waffenexportpolitik verkündet werden soll. Gibt es z. B. interne Absprachen — wie es ja Franz Josef Strauß angedeutet hatte — über eine Ausdehnung der Kriegswaffenexporte zwischen den Koalitionsparteien; und wenn ja, warum hat der Bundeskanzler diesen Teil der Koalitionsvereinbarungen nicht in die Regierungserklärung aufgenommen? Gibt es eine öffentliche und daneben eine geheime Richtlinie für die Politik der Bundesregierung? Gibt es in der Bundesregierung wirklich keine Beunruhigung über die Zunahme illegaler Kriegswaffenexporte in den Nahen und Mittleren Osten? Gibt es wirklich kein Problembewußtsein über kriegsverlängernde und todbringende Auswirkungen von genehmigten Ersatzteillieferungen für Munitionsfabriken im Iran und Irak? Elektronik für die pakistanische Atombombe, Raketenteile für Libyen, Hilfeleistungen bei der Giftgasproduktion im Irak und bei der Munitionsfabrikation im Iran. Darüber und über die Beteiligung deutscher Firmen hat die Presse in den vergangenen vier Wochen berichtet. Da gibt es bloße Verdachtsmomente, aber es gibt auch staatsanwaltschaftliche Ermittlungen.
Es gibt keine Erklärung der Bundesregierung, die Rüstungswirtschaft vor solchen Geschäften zu warnen und ihre unnachsichtige rechtsstaatliche Bestrafung in Aussicht zu stellen.
Es gibt im Gegenteil in der Rüstungslobby eine klammheimliche Freude über die regierungsamtliche Diskussion zur Ausweitung der Kriegswaffenexporte.
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GanselDie Position der SPD ist klar. Wir haben einen Gesetzentwurf vorgelegt. Wir wollen ein Verbot von Waffenexporten in Staaten, die Entwicklungsländer sind, die von menschenrechtsfeindlichen Regimen beherrscht werden oder die in Spannungsgebieten liegen.Das gefährlichste Spannungsgebiet der Gegenwart ist der Nahe und Mittlere Osten. In dieser Region kann und darf die Bundesrepublik militärische Verantwortung nicht übernehmen, auch nicht für Israel.
Aber die Bundesregierung trägt die Verantwortung dafür, daß aus der Bundesrepublik nichts unternommen wird, was die Menschen in Israel als Gefährdung ihrer Sicherheit empfinden könnten. Ich sage bewußt „empfinden", denn wer die Gefühle derer glaubt ignorieren zu können, die den barbarischen Abschnitt der jüngsten deutschen Geschichte überlebt haben, der tritt nicht aus dem „Schatten Hitlers" heraus, wie Strauß in einem Zeitungsinterview erklärte, sondern er beschwört ihn wieder herauf.
Ich appelliere noch einmal an Sie und wir werden es hier immer wieder tun: Nehmen Sie diese Befürchtung ernst und versuchen Sie nicht, andere Befürchtungen — Befürchtungen um Arbeitsplätze — damit zu verbinden! Das haben die deutschen Arbeitnehmer nicht verdient. Sie haben verdient, daß sich ihre Regierung um die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, um die regionalen und strukturellen Probleme in der Bundesrepublik Deutschland kümmert, aber sie haben es nicht verdient, daß Geschäftssinn, außenpolitische Großmannssucht, falsche Versuche der Vergangenheitsbewältigung — auf ein Stammtischniveau reduziert — zur Entschuldigung für Kriegswaffenexporte in Spannungsgebiete herangezogen werden.
So tief darf das Niveau unserer Außen- und Wirtschaftspolitik nicht sinken.
Das Wort hat der Abgeordnete Lamers.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Eine Vorbemerkung: Herr Kollege Gansel, ich kann den von Ihnen konstatierten Widerspruch zwischen der Äußerung von Staatssekretär Ost und der heutigen von Staatssekretär Riedl beim besten Willen nicht feststellen. Staatssekretär Ost hat von Lieferungen gesprochen, und Staatssekretär Riedl hat heute davon gesprochen, die Bundesregierung stehe der Beteiligung deutscher Unternehmen an dieser Ausschreibung grundsätzlich positiv gegenüber. Das sind wirklich zwei grundlegend verschiedene Dinge.
Meine Damen und Herren, ich will im übrigen zunächst zu dem speziellen Aspekt unserer heutigen Debatte und sodann generell etwas zum Thema „Rüstungsexport" sagen. Die historische Schuld der Deutschen gegenüber den Juden stellt ohne jeden Zweifel zugleich eine besondere Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland im Verhältnis zum Staat Israel dar. Aber beides ist nicht identisch. Die besondere Verantwortung gegenüber dem Staat Israel bedeutet, daß wir die Sichtweise Israels bei der Verfolgung seiner Interessen besonders sorgfältig prüfen müssen; sie bedeutet nicht, daß wir diese Sichtweise automatisch übernehmen müssen.Im vorliegenden Fall möglicher U-Boot-Lieferungen an Saudi-Arabien, für welche ich die Aufträge noch nicht in den Auftragsbüchern der deutschen Unternehmungen sehe, bedeutet dies, daß die erwähnte sorgfältige Prüfung der israelischen Einwendungen zum gegebenen Zeitpunkt vorgenommen werden müßte. Dabei spielt natürlich auch die Waffenart eine Rolle.Was die Empfängerseite, Saudi-Arabien, angeht, so ist es im Interesse des Westens, dafür Sorge zu tragen, daß die saudiarabische Politik weiter ihrer maßvollen Linie folgt. Nichts anderes, glaube ich, hat der Kollege Klein im Kern sagen wollen.
Andererseits ist die Frage durchaus berechtigt, ob die gesellschaftlichen Strukturen dieses Landes in der Lage sind, immer mehr hochtechnologische Waffensysteme aufzunehmen. Schon heute reichen die Potentiale an eigenem qualifizierten Bedienungspersonal für diese Waffensysteme nicht aus. Das hiermit verbundene Risiko darf in der Tat nicht unterschätzt werden.Zum allgemeinen Aspekt: Zunächst begrüße ich sehr nachdrücklich, daß die Bundesregierung hier heute — in der Tat, Herr Kollege Beckmann, zum wievielten Male? — ihre alte Position wiederholt hat. Das entspricht der Haltung meiner Fraktion, wie ich sie insbesondere in der Debatte über den Gesetzentwurf von Ihnen, Herr Kollege Gansel, am 23. Mai 1985 für meine Fraktion vorgetragen habe. Ich würde auch sehr nachdrücklich von einer Änderung dieser Haltung warnen, weil nicht nur ethische, sondern auch sehr nüchterne industrie- bzw. arbeitsmarktpolitische und außenpolitische Gründe dagegen sprechen. Eine Ausweitung des Rüstungsexports würde zu einer Vergrößerung der Produktionskapazitäten führen. Damit würde nicht nur der Exportdruck für die Bundesrepublik Deutschland erhöht, sondern diese Entwicklung ginge angesichts des durch immer mehr Anbieter immer enger werdenden globalen Rüstungsmarktes auch vor allem zu Lasten Frankreichs und Großbritanniens. Angesichts unserer sehr deutlichen Überlegenheit im Welthandelt mit zivilen Gütern wäre, so meine ich, eine solche Folge äußert fragwürdig.Darüber hinaus zeigt uns die bisher praktizierte Exportpolitik Frankreichs, die von weniger Zurückhaltung geprägt ist als die unsrige, daß diese Position über kurz oder lang in eine schwierige Lage führt. Frankreich hat aus dieser Situation die einzig richtige Schlußfolgerung gezogen: Frankreich hat die Schaf-
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Lamersfung eines gemeinsamen europäischen Rüstungsmarktes vorgeschlagen, der übrigens von meiner Partei, der CDU, schon vor drei Jahren vorgeschlagen worden ist und der ja auch aus militärischen Gründen äußerst sinnvoll ist. Deswegen bitte ich die Bundesregierung sehr nachdrücklich, dieser Idee, die der französische Verteidigungsminister vorgetragen hat, nachzugehen und — so schwer es auch ist — zu versuchen, sie in die Tat umzusetzen.Danke sehr.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Lippelt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Kürze der mir zur Verfügung stehenden Zeit nur noch drei Argumente:
Erstens. Die Erklärung, die der Herr Staatssekretär hier hinsichtlich Saudi-Arabiens abgegeben hat, zeigt meines Erachtens eklatant die Hilflosigkeit und die Konzeptionslosigkeit unserer Politik in diesem Punkt. Wenn Sie, Herr Staatssekretär, sagen, wir liefern nach Saudi-Arabien, weil Saudi-Arabien eine stabilisierende Rolle in diesem Raume hat, dann übersehen Sie total, daß Saudi-Arabien im Moment die Rolle der logistischen Basis für den Irak im Golfkrieg spielt.
Nächster Punkt. Wir können ja im Moment in der Presse einiges nachlesen über die Aktivitäten eines bundeseigenen Unternehmens namens Fritz Werner. Was deutlich geworden ist, ist folgendes. Diese Firma hat in den 70er Jahren im Iran Rüstungsindustrie aufgebaut. Nach 1979, als der Golfkonflikt begann, unterbrach die Bundesregierung direkte Waffenlieferungen. Sie hat aber nichts dagegen, daß im Moment noch Verschleißlieferungen geschehen. Das heißt, unsere Bundesregierung erhält die Funktionsfähigkeit der iranischen Rüstungsindustrie aufrecht. Insofern — ich bedaure, daß der Außenminister jetzt nicht da ist — stimmt es voll und ganz — —
— Ist voll vertreten, insofern kann es ihm ja weitergesagt werden. Ich hätte es ihm aber gern selbst gesagt; denn worauf ich mich jetzt beziehe, das sind die Auseinandersetzungen während des Bundestagswahlkampfes, wo Herr Beckmann von unserer Seite, der andere Beckmann, sagte: Jawohl, unsere Waffen schießen auf beiden Seiten. Sie tun es. Das möchte ich hier noch einmal festgestellt haben.
Wenn das, was ich hier vortrage, und wenn gewissermaßen die moralische Argumentation, die sich hieraus ergibt, daß wir so etwas grundsätzlich nicht wollen, nicht ausreicht, dann zwei Argumente, gewissermaßen mehr in der Logik Ihres Denkens.
Erstens. Sie machten ja seinerzeit Verträge, nach Persien an den Schah Unterseeboote und AKWs zu liefern. Alles sollte dahin, denn der Schah war ja so stabil. Wäre das ausgeliefert worden, dann wäre es in die Hände der Fundamentalisten von Khomeini gelangt. Jetzt sagen Sie: Saudi-Arabien ist doch so ein stabiler und stabilisierender Faktor. Ich kann Ihnen sagen: Kein Land im Nahen Osten ist im Moment sozial so bedroht wie dieses Ihnen so stabil erscheinende Land; denn die Leute, die die U-Boote fahren sollen, die Leute, die in der Armee sind, sind schon importierte Söldner. Wie lange sind Sie nach dem Sturm der Kaaba und anderem in Ihrer Beurteilung sicher, daß diese Sachen nicht später auch in der Hand der Fundamentalisten sind? — Ich argumentiere in Ihrer Logik, nicht in meiner.
Und das dritte. Sie haben beispielsweise gesagt — Herr Präsident, ich bin mit zwei Sätzen zu Ende —, unsere Werften brauchen doch Arbeit, und sie bekommen doch dadurch Arbeit. Soviel sollte inzwischen klar sein, daß die Relation von Investitionskosten und Arbeitsplätzen in der Rüstungsindustrie doppelt so schlecht ist wie in der normalen Industrie. Das heißt, auch hier — wenn Sie jetzt feiern: wir sind jetzt an dritter, vierter Stelle — kann man nur sagen: Auch das ist eine Bankrotterklärung für eine Wirtschaftspolitik, von der wir die Vorstellung haben, sie müßte ohne diesen Rüstungssektor laufen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hirsch.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Fragen des Rüstungsexports haben im Deutschen Bundestag immer wieder eine Rolle gespielt. Man wird zur ausgleichenden Gerechtigkeit sagen können, daß der frühere Bundeskanzler nicht gerade als ein eifriger Befürworter äußerster Restriktionen bekanntgeworden ist. Insofern handelt es sich um ein Thema, um das wir uns alle in gleicher Weise kümmern müssen.Wenn ich nun einen Querschnitt durch die bisherigen Beiträge ziehe, dann muß ich feststellen, daß sich zunächst einmal alle Fraktionen offenbar einig sind, daß die restriktiven Exportrichtlinien beachtet werden sollen. In diesen restriktiven Richtlinien heißt es übrigens auch, daß Arbeitsmarktfragen keine ausschlaggebende Rolle spielen sollen, Herr Kollege Lamers.Das zweite, was ich feststelle, ist, daß niemand an eine Änderung des Kriegswaffenkontrollgesetzes denkt, sondern an seine strikte Beachtung. In diesem Kriegswaffenkontrollgesetz heißt es ausdrücklich, daß Waffenexporte dann zu untersagen sind — zwingend — , wenn die Gefahr besteht, daß diese Waffen alsbald zu kriegerischen Handlungen, insbesondere zu Angriffskriegen gebraucht werden. Hier eröffnet sich möglicherweise ein Unterschied, wie ein Land zu beurteilen ist, das sich zwar in einem erklärten Krieg befindet, ihn aber möglicherweise nicht praktiziert.Was den Nahen Osten insgesamt angeht, muß man allerdings sagen, daß es sich um eine Region handelt, in der Krieg geführt wird. Das müßte eigentlich uns alle gemeinsam dazu bringen, eine äußerste Zurückhaltung zu bewahren, wenn man dem Gedanken folgt, den auch der Außenminister immer wieder betont hat: daß wir eine historische Verantwortung gegenüber dem israelischen Volk haben. Es ist in der Tat ein für mich kaum nachzuvollziehender Gedanke,
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Dr. Hirschdaß sich diejenigen, die einem schrecklichen Völkermord entkommen sind, und ihre Nachkommen in ihrem Leben und ihrer Sicherheit erneut der Drohung von Waffen ausgesetzt sehen sollten, die in Deutschland hergestellt wurden. Das ist ein Gedanke, den jedenfalls ich persönlich nicht nachvollziehen kann.Man muß sich gleichzeitig, selbst wenn man ein hartgesottener Merkantilist ist, die Frage stellen, ob Lieferungen an einen Partner in dieser Region nicht gleichzeitig die Versuchung oder vielleicht die politische Zwangslage nach sich ziehen, an andere Partner in gleicher Weise entsprechend Waffen zu liefern, so daß wir in eine Kette hineingeraten, die im Ergebnis unseren Interessen nicht nützt, sondern ihnen nachhaltig schaden wird.Darum ist es wichtig, daß wir uns größere parlamentarische Klarheit über die Sachlage verschaffen. Ich begrüße, daß ich in der schriftlichen Antwort, die ich heute auf meine eingereichte Frage bekommen habe, eine gewisse Bereitschaft der Bundesregierung erkennen kann, in einem bestimmten Umfang, im Auswärtigen Ausschuß in vertraulicher Sitzung, Einzelheiten über die Exportwirklichkeit dem Parlament darzustellen. Das ist ein Weg, meine Damen und Herren Kollegen, den wir beschreiten sollten, um uns Gewißheit darüber zu verschaffen, daß die Praxis, die nach dem System des Kriegswaffenkontrollgesetzes weder parlamentarisch noch gerichtlich kontrolliert werden kann, dem Geist des Gesetzes entspricht. Es ist eines der Probleme, daß die Restriktion des Kriegswaffenkontrollgesetzes
weder gerichtlich noch parlamentarisch kontrolliert werden kann.Wir sollten also den Weg, den die Bundesregierung andeutet, entschlossen gehen, um uns mehr Klarheit über die Wirklichkeit zu verschaffen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Koschnick.
Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die Tatsache, daß mich meine Fraktion gebeten hat, heute zu der Problematik der Kriegswaffenexportpolitik das Wort zu ergreifen, bedeutet nicht, daß hier ein Unschuldsengel in Sachen Rüstungsexport spricht. Nein, meine Damen, meine Herren, ich habe in früheren Jahren in meiner Verantwortung für das Bundesland Bremen mehr als einmal die Bundesregierung bedrängt, Exportaufträge für Marineeinheiten zu genehmigen, da solche Einheiten bei inneren Unruhen nicht als Bürgerkriegswaffen eingesetzt werden konnten und die Lieferung insofern keine Parteinahme bei gesellschaftlichen Veränderungen darstellte.
Ich habe das im Interesse der Schiffbauunternehmen in den vier Küstenländern getan, weniger fürBremen — denn unser Rüstungsbereich war für lange Zeit auf eine mittlere Werft begrenzt, die Kapazität beschränkt. Doch ich habe im Laufe der siebziger Jahre bei Gesprächen im Ausland erleben müssen, lieber Herr Schily, wie eine Rüstungsexportpolitik die Vertretung bundesrepublikanischer Interessen begrenzt, welchen Pressionen man sich aussetzte, wenn man bei den Diskussionen Spannungsgebiete ausgrenzte und insonderheit einen Rüstungsexport in die Region des Nahen Ostens ablehnte,
um den besonderen Beziehungen unseres Landes zum Staate Israel gerecht zu werden,
auch unter Würdigung unserer freundschaftlichen Beziehungen zu den arabischen Staaten. — Ja, für die Bundeswehr stehe ich noch heute ein und werde immer wieder Vernünftiges unterstützen.
Wir reden über Rüstungsexporte nach Israel oder an die Feinde von Israel, aber nicht über die Bundeswehr. Falls Sie das als Vorwurf meinen, bin ich bereit, ihn zu tragen. Das werfen mir schon andere vor, auch in meiner eigenen Partei.
Deshalb habe ich in der Zeit der Regierung Schmidt/Genscher an der Eingrenzung der Bestimmungen zum Kriegswaffenexport mitgewirkt, habe ich die Ablehnung der Lieferung von U-Booten an Chile unterstützt und die Verweigerung der Zustimmung zur Lieferung der von Saudi-Arabien gewünschten Waffen mitgetragen. Übrigens, um keine Geschichtsmärchen darzustellen: Der deutsche Botschafter hat am 16. Juni 1982, in der Zeit, als Schmidt Kanzler war, mitgeteilt, daß diese Bundesregierung nicht die Waffen liefern wird — nicht erst hinterher.
Auch trage ich den Gesetzentwurf meiner Fraktion aus der letzten Legislaturperiode mit.
Alles, weil ich etwas gelernt habe und weil ich glaube, daß Lernen auch für Abgeordnete kein Nachteil sein muß.
Insonderheit aber gilt das, was meine Kollegin Frau Renger zum Verhältnis einer deutschen Politik in bezug auf die Sicherheitsinteressen des jüdischen Volkes gesagt hat. Ich kann mir keine verantwortliche moralische Politik vorstellen, die eine Abkehr von bisherigen Positionen propagiert. Ich bin bestürzt, mit welcher Unbefangenheit maßgebliche CSU-Vertreter hier eine Korrektur bisheriger Konsenslösungen for-
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Koschnickdern, wie plötzlich der Sohn des bayerischen Ministerpräsidenten in Gegenwart seines Herrn Vater in Riad neue Positionen deutscher Kriegswaffenexportpolitik verkündete und zur gleichen Zeit den offiziellen Vertreter der Bundesrepublik im Regen stehenließ. Ich bin betroffen von dem Versuch konservativer bayerischer Politiker,
plötzlich doch Unternehmensinteressen und angebliche Arbeitnehmerinteressen als Maßstab deutscher Rüstungsexporte in den Vordergrund zu stellen.Lesen Sie nach, was Herr Strauß gesagt hat! Lesen Sie nach, was im „Bayernkurier" steht! An erster Stelle steht dort die Industrie, an zweiter Stelle stehen die Arbeitnehmer und noch ein paar andere Dinge. Ich sage: Die Arbeitnehmer auch auf unseren Werften setzen nicht auf sporadische Produktion für Rüstungsexporte in krisengeschüttelte Gebiete.
Sie wollen auch nicht über angebliche Altverträge in die Pflicht genommen werden, in kriegführende Länder Ersatzteile für verschlissene Rüstungsproduktionsanlagen etc. zu liefern und damit ungewollt in eine Auseinandersetzung, wenn auch nur mittelbar, einbezogen zu werden.Ich warte deshalb auf eine eindeutige Antwort der Bundesregierung auf die Fragen meines Kollegen Gansel. Lassen Sie es nicht zu, daß das Ansehen der Bundesrepublik weiteren Schaden nimmt! Sorgen Sie für Klarheit, tragen Sie zur Friedensfindung und Friedenssicherung im Nahen Osten bei, nicht durch Rüstungsexporte, sondern durch wirtschaftliche und wissenschaftliche Kooperation!
Ich stehe nicht an, die Bundesregierung in diesem Zusammenhang an die Aufforderung des Heiligen Vaters Johannes Paul II. zu erinnern, der vor kurzem in Argentinien gefordert hat, Wirtschaftssysteme abzulehnen, die sich ausschließlich am Gewinnstreben orientieren, ohne sich um moralische Belange zu kümmern. Lassen Sie es nicht zu, daß dieser Staat so dargestellt wird, als würde es nur um die Flöten gehen und nicht mehr um Moral.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Kraus.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wie Herr Beckmann vorhin schon ausgeführt hat, besteht keinerlei Unterschied zwischen der derzeitigen Praxis und der Handhabung durch frühere Bundesregierungen. Deshalb kann ich einige der Reden hier überhaupt nicht verstehen. Wo war z. B. Frau Renger in der Zeit der SPDgeführten Regierung? Möglicherweise hängt das moralische Bewußtsein in irgendeiner Weise mit der Frage zusammen, ob man gerade in der Opposition oder in der Regierung ist.Die Bundesrepublik Deutschland erwirtschaftet zur Zeit einen besonders großen Anteil ihres Bruttosozialprodukts über den Export. Waffenexporte machen einen kleinen Bruchteil unserer Exporte und des Bruttosozialprodukts aus. Wer jedoch mit befreundeten Staaten wirtschaftliche Beziehungen unterhalten will, aber zugleich denselben Staaten Gerät für ihre äußere oder innere Sicherheit verweigert, der wird nicht lange als Geschäftspartner akzeptiert. Darin liegt die wirtschaftspolitische Bedeutung dieser Frage.Wir müssen abseits jedes Blockdenkens auch den Ländern der Dritten Welt legitime Sicherheitsinteressen zubilligen. Eben dieses legitime Sicherheitsinteresse der Länder der Dritten Welt ist in den Jahren von 1969 bis 1982 von der SPD-geführten Bundesregierung in ihrer Rüstungsexportpolitik durchaus berücksichtigt worden. Gerade beim Export von U-Booten zeichnet sich die SPD-geführte Bundesregierung besonders aus; damals wurde eine große Zahl von U-Booten in alle möglichen Staaten der Welt geliefert.Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß zum Zeitpunkt der Aufträge weder Argentinien noch Brasilien, noch Chile in ihrer Regierungsform als Länder bezeichnet werden können, die der damaligen Bundesregierung besonders nahegestanden hätten. Hier liegt die eigentliche Heuchelei in der heutigen Diskussion.
Damals sind Waffen an Länder geliefert worden, deren politisches System von den Sozialdemokraten vehement abgelehnt wurde. Diese Doppelzüngigkeit und Doppelbödigkeit besteht bei uns jedenfalls nicht.
— Meine Damen und Herren, „Skrupellosigkeit" muß ich zurückweisen. Ich stelle nur fest, Frau Traupe, nachdem Sie sich in dieser Frage früher sonst keineswegs so restriktiv geäußert haben, daß vielleicht bei Ihnen das Wort Doppelzüngigkeit eben der geeignete Ausdruck für Ihre Verhaltensweise ist.Der bayerische Ministerpräsident jedenfalls hat offen angesprochen, daß eine Arbeitsgemeinschaft deutscher Firmen in Saudi-Arabien verhandelt, weil sie Interesse an diesem Auftrag hat. Wir befinden uns da gleichzeitig in Konkurrenz und in bester Gesellschaft mit Firmen aus Großbritannien, Frankreich, Holland, Italien und Brasilien. Will hier jemand sagen, daß diese Länder einen minderen moralischen Status haben?
So weit kann man ganz sicher nicht gehen. Angesichts der krisenhaften Situation der deutschen Werften ist nur zu verständlich, daß sich die Unternehmensführungen um Aufträge bemühen.Auf der einen Seite wurde in der Debatte zum Jahreswirtschaftsbericht vom wirtschaftspolitischen Sprecher der SPD-Fraktion, Herrn Roth, beklagt, daß sich die Verarmung in den krisengeschüttelten Regio-
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Krausnen der Bundesrepublik fortsetzen würde. Andererseits ist man aber bereit, auf einen Auftrag von annähernd 8 Milliarden DM — es sind nicht nur die U- Boote, sondern auch alle Anlagen, die zu diesem Auftrag gehören — zu verzichten.Maßstab ist für uns das außenpolitische Interesse. England und Frankreich handeln ähnlich. So ist unser Interesse der Frieden im Mittleren Osten. Deshalb müssen befreundete Länder wie Saudi-Arabien, die stabilisierend wirken, gestärkt werden. Waffenexporte können dazu einen Beitrag leisten. Ein Verlust der Stabilität Saudi-Arabiens würde nicht nur dieses Land selbst, sondern auch eine große Zahl anderer arabischer Staaten destabilisieren, und das kann nicht in unserem Interesse sein.Insgesamt halten wir deshalb die Politik der Bundesregierung für richtig. Das gilt sowohl in sicherheitspolitischer als auch in wirtschaftspolitischer Hinsicht.Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Staatsminister im Auswärtigen Amt Herr Schäfer.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist bereits von meinen Vorrednern ausführlich zu der Frage Stellung genommen worden, wie hoch eigentlich der Anteil der Rüstungsexporte an unserer Gesamtausfuhr ist. Ich kann das wiederholen. Man kann auch andere Zahlen nennen, die Ihnen vielleicht weniger verdächtig erscheinen, z. B. von SIPRI. Aus diesen Zahlen wird deutlich — ich muß das noch einmal in aller Schärfe feststellen — , daß es keine Veränderung des restriktiven rüstungsexportpolitischen Verhaltens der Bundesregierung gibt und daß auch, Herr Gansel, Behauptungen, wir seien dabei, in Koalitionsgesprächen diese Haltung aufzugeben, schlicht erfunden sind.
— Lieber Herr Gansel, wir haben nun alle schon genug parlamentarische Erfahrung, daß wir nicht jede Äußerung von Herrn Strauß als bereits innerhalb der Koalition laufende Verhandlungen mißverstehen können. Auch das muß ich einmal sagen.Ich kann nur feststellen — was Sie auch aus welchen Gazetten hier zitieren — : Es gibt keine Verhandlungen innerhalb der Koalition über eine Veränderung der bewährten Praxis, die wir noch in der sozialliberalen Koalition mit Herrn Schmidt und, wie Sie sich erinnern können — Sie waren mit dabei — , in einer Gruppe von Abgeordneten damals formuliert haben.Meine Damen und Herren, es ist hier immer wieder davon gesprochen worden, daß unsere geschichtliche Erfahrung bei unserer Einstellung zum Rüstungsexport ganz besonders wichtig sei. Das ist unbestritten. Wir sind aber auch der Meinung, daß alle Staaten der Welt — ich betone: alle Staaten — , Frau Kollegin Renger, auch solche, die eigentlich unseres besonderen Schutzes bedürftig sind, sich bitte auch an solche strengen Exportrichtlinien halten sollten. Vielleicht täte es gut, gelegentlich den Mut zu haben, auch einmal in dieser Richtung tätig zu werden. Ich glaube, Sie haben das getan, und wir sollten das nicht unterlassen.Wir haben vor den Vereinten Nationen — ich bitte Sie, sich noch einmal daran zu erinnern — auch vorgeschlagen — es war die deutsche Bundesregierung, es war der Bundesaußenminister — , ein internes Melderegister einzurichten, zu dem alle Mitgliedstaaten ihre Waffenaus- und -einfuhren anmelden, um so in einem ersten Schritt durch die Offenlegung von Daten Druck mit dem Ziel der Einschränkung des Rüstungstransfers auszuüben. Das war eine Bundesregierung, die von diesen beiden Koalitionsparteien geführt worden ist.Ich kann nur sagen: Wir dürfen hoffen, daß die hohen moralischen Ansätze, die hier gegenüber der Dritten Welt immer zum Ausdruck kommen, auch einmal von vielen Staaten der Dritten Welt bei den Vereinten Nationen dadurch beantwortet werden könnten, daß sie bereit wären, ein solches Melderegister zu akzeptieren. Die Widerstände kommen ja keineswegs nur aus den Industriestaaten.Im übrigen, Frau Eid, um Ihnen das noch einmal zu sagen: Es nutzt nichts, dauernd zu behaupten, der Anteil des Rüstungsexportes sei geradezu explosionsartig gestiegen. Sie müssen zur Kenntis nehmen, und man muß es Ihnen immer wieder in Erinnerung rufen, daß, wenn Sie ein oder zwei Schiffe liefern, der Gesamtexport natürlich gestiegen ist. Ich darf darauf aufmerksam machen, daß der wertmäßige Anteil der Kriegsschiffe bei Kriegswaffenausfuhren der Bundesrepublik Deutschland in Länder der Dritten Welt auf deren dringenden Wunsch in den Jahren 1980 bis 1986 über 80 % betragen hat.Der Sonderschiffsbau war ja, Herr Gansel, bei unseren Beratungen keineswegs moralisch so sehr umstritten, wie Sie das jetzt hier heute darstellen; Herr Koschnick hat darauf hingewiesen. Es waren ja Herr Grobecker und andere Kollegen, die sehr nachhaltig gesagt haben: Den Sonderschiffsbau nehmen wir bitte vom Rüstungsexport aus. Insofern müssen Sie auch die Äußerungen von Herrn Ost wahrscheinlich verstehen. Wir haben nicht gesagt: Wir wollen U-Boote nach Saudi-Arabien liefern, sondern wir haben gesagt: Wir wollen bei einer Ausschreibung dieses Staates in der ganzen Welt unseren Werften nicht untersagen, daß sie sich an der Ausschreibung beteiligen.
Inwieweit geliefert wird, entscheidet Saudi-Arabien. Und seien Sie sicher, Herr Kollege Gansel, wenn die Saudis diesen Auftrag nicht an unsere Werften erteilen, hat nicht zuletzt die Fülle der Debatten hier dazu beigetragen, die Verärgerung in diesem Lande hervorgerufen haben.
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600 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987
Staatsminister SchäferSie können das ja in Ihren Wahlkreisen, wo Werften sind, dann vertreten, nicht?
— Auch ehrlich vertreten, jawohl.Was die illegale Praxis anbetrifft, Herr Gansel, die Sie hier in Ihrem hochmoralischen Ton, den ich nicht so sehr an Ihnen schätze, obwohl ich Sie sonst sehr schätze, immer wieder vortragen, ob wir nicht über das Anwachsen der illegalen Praxis bei diesen Ausfuhren besorgt seien, kann ich Ihnen nur sagen: Wir sind besorgt über alle illegalen Entwicklungen. Wir sind besorgt über das Anwachsen der Kriminalität, und dazu gehört auch die Kriminalität auf diesem Sektor. Wir hatten ja gestern im Ausschuß Gelegenheit, darüber zu diskutieren. Ich darf ihnen noch einmal sagen: Wir sollten dazu beitragen, daß die Löcher in bestehenden Gesetzen da, wo sie am größten sind, noch gestopft werden. Ich sage auch, daß man bei den Grauzonen sehr energisch sein muß und alles tun muß, um hier auch jeden Versuch, Gesetze zu unterlaufen, schärfer zu unterbinden. Aber Sie kennen Affairen, wo uns nichts übrig bleibt, als im nachhinein die Staatsanwaltschaften zu befassen. Wir werden das auch in Zukunft tun.Meine Damen und Herren, hier sollte vielleicht noch etwas zu dem Kollegen Dr. Lippelt gesagt werden und zu den Fragen, die die Frima Fritz Werner betreffen. Ich darf hier noch einmal ganz klar zum Ausdruck bringen, was ich gestern im Ausschuß, obwohl es nicht auf der Tagesordnung stand und ich überraschend Stellung dazu nehmen mußte, bereits getan habe: Die Bundesregierung wahrt im iranischirakischen Konflikt strikte Neutralität. Sie hat deshalb seit Ausbruch dieses Krieges keine Genehmigung zur Lieferung von Kriegswaffen und Rüstungsgütern, Waffen und Munition im Sinne von Teil A der Ausfuhrliste zum Außenwirtschaftsgesetz nach Iran genehmigt. Solche Genehmigungen werden auch in Zukunft nicht erteilt werden. Dies ist eine klare und unveränderliche Position.
Bei sogenannten dual-use-Gütern, d. h. Gütern, die keine Waffen sind, aber trotzdem den Exportbeschränkungen des Außenwirtschaftsgesetzes unterliegen, hat die Bundesregierung ebenfalls eine sehr restriktive Linie im Hinblick auf den iranisch-irakischen Konflikt verfolgt. In Einzelfällen sind in diesem Bereich Genehmigungen erteilt worden.
Die Bundesregierung hat dabei den Grundsatz ihrer strikten Neutralität im Konflikt beachtet und die Gesamtbeziehungen zum Empfängerland berücksichtigt. Diese Genehmigungen, Herr Kollege Voigt, erstreckten sich auf Ersatzteile für genehmigungsbedürftige Industrieanlagen, die vor Ausbruch des Konflikts geliefert worden waren. Ich möchte besonders betonen, daß es sich um Ersatzteile und Verschleißteile für Maschinen und Industrieausrüstungen handelte, nicht um Ersatzteile für irgendwelche Kriegswaffen oder andere Waffen.Meine Damen und Herren, wir werden noch häufig Debatten dieser Art hier zu führen haben. Aber wir sollten uns vielleicht angewöhnen, dem jeweiligen politischen Gegner zu unterstellen, daß er genauso moralisch in seiner Kriegswaffenexportpolitik ist, wie man das von sich annimmt.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Stobbe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für uns Deutsche ist das Thema „Rüstungsexport in den Nahen Osten" mit den Kategorien reiner Realpolitik nicht zu bewältigen. Von uns wird eine Behandlung des Themas verlangt, die erkennen läßt, daß wir die bitteren Erfahrungen unserer Vergangenheit dabei berücksichtigen.Die jetzige Bundesregierung hat während dieses Staatsbesuches den traurigen und alarmierenden Verdacht auf sich gezogen, daß sie die Bewertung des Rüstungsexports aus einer die deutsche Geschichte in Betracht ziehenden Gesinnung heraus und einer daraus resultierenden Zurückhaltung aufzugeben bereit sein könnte. Herr Strauß war ehrlich genug, dieses Umsteuern offen zu begründen. Er sagt, unser Volk könne auf Dauer nicht mit einer kriminalisierten Geschichte leben — das ist sein Wort — , unser Blick zurück dürfe nicht zu einem alles hemmenden Zweifel und einer moralischen Selbstlähmung führen. Ausgerechnet am empfindlichsten Nerv unserer Außenpolitik, ausgerechnet am Thema „Waffen aus Deutschland" sollen sich — so Strauß — unsere innere Stärke und unsere neue Selbstgewißheit beweisen.Dieser These, öffentlich erhoben während des Staatsbesuches, möchte ich sehr eindringlich und sehr bestimmt entgegenhalten: Die nationale Zurückhaltung, die nationale Selbstbescheidung und auch der nationale Skrupel, die Herr Strauß da so robust beiseite drücken will, waren gerade die entscheidenden Grundlagen für die erfolgreiche Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland, sowohl bei Adenauers West-Bindung wie bei Brandts Ostpolitik und auch bei unserer bisherigen Nahostpolitik. Das durch bittere Erfahrungen gewonnene Augenmaß muß auch in Zukunft die entscheidende Grundlage unserer Außenpolitik bleiben, wenn die Bundesrepublik ein geachtetes Mitglied der Völkerfamilie bleiben soll. Das muß in erster Linie dann auch für den Rüstungsexport gelten.Die Größe des israelischen Volkes besteht doch gerade darin, daß es mit und durch die intensive Erinnerung an seine leidvolle Geschichte lebt. Seinem Präsidenten während eines Staatsbesuches in der Bundesrepublik ins Stammbuch zu schreiben, wie das Herr Strauß getan hat, das deutsche Volk müsse nunmehr wieder aus dem Schatten seiner Geschichte heraustreten, z. B. um mehr Handlungsspielräume für Rüstungsexporte zu gewinnen, das ist zwar sehr deutsch, aber meiner festen Überzeugung nach deutsch im schlechten Sinne.
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StobbeEine Position wie die von Herrn Strauß kann man politisch bekämpfen, weil sie offen vorgetragen wird. Die Haltung der Bundesregierung zum Rüstungsexport finde ich inzwischen — ich will das hier so offen sagen — erbärmlich, weil sie nämlich vertuscht, verschweigt, herunterspielt und nicht bekennt, was offensichtlich beabsichtigt ist.
Es bedurfte schon der Robustheit des Koalitionspartners Strauß, um während des Staatsbesuches in seiner Kontroverse mit Herrn Ost die Wahrheit ans Licht zu bringen.Diese Bundesregierung spricht, wenn zur Rede gestellt, von einer restriktiven Rüstungspolitik, aber sie scheint bereit zu sein, das genaue Gegenteil zu praktizieren, wie ja doch der Umstand beweist, daß mitten in diesem Staatsbesuch die Nachrichten von den Verhandlungen in Riad bekannt wurden. Es geht ihr um Rüstungsexporte aus Gründen des Geschäfts, drapiert mit dem sachlich keineswegs überzeugenden Arbeitsplatzargument. Dazu kann man nur sagen: Unser Land muß seine wirtschaftlichen Probleme mit anderen Mitteln lösen als mit der zynischen Vorstellung, es könne den sozialen Fortschritt gewissermaßen herbeirüsten. Die außenpolitischen Kosten des Rüstungsexports in ein hochexplosives Gebiet wie den Nahen Osten können sehr schnell sehr viel höher sein als der kurzfristige wirtschaftliche Nutzen. Diese These, daß Waffenlieferungen dann stabilisierend wirken — das haben wir auch heute hier gehört —, wenn sie Rüstungsungleichgewichte in einer Region beseitigen, veranlaßte Klaus Natorp in der FAZ zu der berechtigten Frage:Doch wer entscheidet, wann ein Ungleichgewicht besteht, und wie dauerhaft ist Stabilität, die durch Kriegsmateriallieferungen erzeugt wird? Eines Tages werden viele dieser Waffen eingesetzt werden. Ein Land, das heute noch sicher scheint, kann morgen schon Spannungsgebiet sein.Genauso ist es, genauso war es in der Vergangenheit. Wir müssen die Konsequenzen daraus ziehen.Ich komme zum Schluß, Herr Präsident. — Meine Damen und Herren, die Konsequenz daraus kann doch nur sein, daß eine verantwortlich handelnde Bundesregierung eben nicht Waffen in den Nahen Osten liefert, sondern politische Beiträge von Gewicht exportiert, damit der Friedensprozeß im Nahen Osten endlich vorankommt. Engagierte Diplomatie, nicht Rüstungsexport ist die Aufgabe einer Bundesregierung, die sich ihrer außenpolitischen Verantwortung auf dem Hintergrund der deutschen Geschichte bewußt ist.
Das Wort hat der Abgeordnete Lowack.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte zunächst eine Äußerung der von mir sonst so sehr verehrten Frau Kollegin Renger zurückweisen. Es gibt keinen „ultrarechten Flügel" in der Christlich-Sozialen Union.
Die Christlich-Soziale Union ist ein stabiles und stabilisierendes Element in der deutschen Politik,
und ohne ihre politischen Leistungen wäre der Weg zu einer der freiheitlichsten und erfolgreichsten Demokratien auf dieser Erde nicht denkbar.
Es gibt eigentlich keinen plausiblen Grund, meine sehr verehrten Kollegen, daß Sie diese Debatte heute zum wiederholten Male führen müssen.
Die Bundesrepublik Deutschland hat sich bisher — gemessen an ihren Fähigkeiten und Möglichkeiten — beim Waffenexport vorbildhaft verhalten. Ich würde an Ihrer Stelle doch lieber einmal von Dingen wie Waffenlieferungen der Sowjetunion an Äthiopien für fast 10 Milliarden DM sprechen, die teilweise damit bezahlt wurden, daß man Nahrungsmittel, die wir an die verhungernde Bevölkerung dort geliefert haben, umgesetzt hat, um aus diesen Schulden herauszukommen. Darüber sollten wir sprechen.
Mit der heutigen Debatte soll doch im Grunde genommen nur ein Schreckgespenst aufgebaut werden, hier sollen Irritationen geschaffen und geweckt werden, wo mehr Verständnis notwendig wäre, auch zwischen den Deutschen und den Israelis. Wir sollten manchmal etwas mehr Diplomatie in sensible außenpolitische Bereiche bringen.Ich möchte Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, fragen: Wer hat denn den Israelis nach dem Zweiten Weltkrieg am meisten geholfen? Wer hat denn anerkannt, daß den Juden, die ja nun ethnisch ein Teil unserer eigenen Bevölkerung waren — auch das muß einmal ausgesprochen werden — , ein eigenes Recht auf ein eigenes Land in gesicherten Grenzen zugesprochen wird? Das war die große historische Leistung eines Konrad Adenauer. Und ich frage Sie: Wer hat eigentlich den Israelis in der Stunde tiefster Not geholfen? Das war Franz Josef Strauß. Wo waren denn da die Genossen, die heute alles besser wissen und uns deswegen kritisieren?Ich erkenne die großen Leistungen von Sozialdemokraten in dem Prozeß der deutsch-israelischen Aussöhnung an. Verehrte Frau Renger, Sie sind für mich insoweit auch durchaus ein Symbol dieser Zusammenarbeit und der Freundschaft, die sich im persönlichen Bereich abspielt. Aber wer hat denn erklärt, das bisherige Kriterium „Spannungsgebiet" erscheine nicht mehr tauglich bei der Bewertung, ob der Export von Rüstung und Waffen angemessen ist oder nicht? Das war die Arbeitsgruppe Rüstungsexport der SPD-Bundestagsfraktion in ihrem Bericht vom 24. November 1981. Vorsitzender war Egon Bahr. Lieber Herr
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LowackGansel, Sie haben mitgearbeitet, Herr Ehmke und andere haben mitgearbeitet. Darin stehen noch ein paar wachsweiche Äußerungen zu Saudi-Arabien, aber wer hat denn mit den Saudis über die Lieferung von Panzern gesprochen, und wer hat hinterher die Grundsätze der Bundesregierung mit der Entscheidung vom 28. April 1982 geändert?Meine verehrten Kollegen, es gibt natürlich, wie die „ZEIT" das damals kommentiert hat, einen Grundwiderspruch unserer deutschen Politik zu Israel: auf der einen Seite den Versuch, den besonderen Charakter der Beziehungen, den wir vorbehaltlos bejahen, zu berücksichtigen, und zugleich ganz normale Politik, auch freundschaftliche Politik mit Ländern zu betreiben, mit denen wir traditionsgemäß befreundet waren. Das ist der Konflikt, in dem wir stehen. Ich akzeptiere diese Bewertung und diese Problematik, wie sie damals die „ZEIT" gefunden hat, durchaus. Aber wenn die Christlich-Soziale Union darauf hingewiesen hat, daß die Hauptsorgen der Araber heute mehr die revolutionären und expansiven Absichten des Mullah-Regimes im Iran sind und die Stabilität Saudi-Arabiens sowohl im Interesse des freien Westens wie auch des Staates Israel liegt, dann sollten wir das als Ausdruck politischer Sorge sehen und versuchen, die gemeinsamen Interessen, die heute teilweise schon zwischen Israelis und Saudis bestehen, herauszufinden.Lassen Sie mich abschließend eins sagen. Es geht bei dieser Debatte auch um die Frage unseres Selbstverständnisses in der internationalen Politik. Sensibilität ja, aber kein permanenter Minderwertigkeitskomplex und keine bis zur Unwürdigkeit vorgetragene Unterwürfigkeit.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe nun die Zusatzpunkte 9 bis 11 der Tagesordnung auf:
9. Erste Beratung des von der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Volkszählungsgesetzes 1987
— Drucksache 11/170 —
10. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Durchführung der Volkszählung am 25. Mai 1987
— Drucksache 11/226 —
11. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU und FDP
Volkszählung 1987
— Drucksache 11/231 —
Interfraktionell ist eine gemeinsame Beratung der Zusatztagesordnungspunkte 9 bis 11 mit zwei Beiträgen bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart worden, d. h. es finden zwei Debattenrunden statt. — Ich sehe dazu keinen Widerpruch. Dann ist so beschlossen.
Wir kommen zunächst zu dem Zusatztagesordnungspunkt 9, dem Gesetzentwurf der Fraktion DIE
GRÜNEN auf Drucksache 11/170 . Interfraktionell ist beantragt worden, gemäß § 81 Abs. 1 unserer Geschäftsordnung unmittelbar in die zweite Beratung einzutreten. Kann ich davon ausgehen, daß Sie damit einverstanden sind? — Ich sehe, daß die erforderliche Mehrheit das so beschlossen hat.
Wir treten in die Aussprache ein. Als erste hat das Wort Frau Abgeordnete Schmidt-Bott.
Wir haben einen Entwurf zur Aufhebung des Volkszählungsgesetzes 1987 eingebracht, weil wir die Volkszählung nicht nur überflüssig, sondern bedrohlich finden. Es wird suggeriert, bei der Volkszählung handele es sich um „eines der gewöhnlichsten und harmlosesten Projekte, die es in einem zivilisierten Staat gibt", wie Herr Gerster, der innenpolitische Sprecher der CDU/CSU- Fraktion, das einmal behauptet hat.
In krassem Widerspruch dazu stehen die ganz und gar nicht zivilisierten Methoden der Repression, mit denen Zweifler und Kritiker eingeschüchtert, drangsaliert, bedroht und kriminalisiert werden.
Da werden Info-Tische abgeräumt, Bücher und Flugblätter beschlagnahmt, Veranstaltungen verboten, Hausdurchsuchungen nicht nur bei Unterzeichnern von Flugblättern durchgeführt, sondern auch bei deren Nachbarn, Eltern und Großeltern. Verteiler von Flugblättern werden verhaftet und seit neuestem auch erkennungsdienstlich behandelt. Kriminalisiert und eingeschüchtert wird überall dort, wo sich Widerstand regt. Wer mit derartigen Zwangsmethoden arbeitet, kann nichts Harmloses im Schilde führen!
Unsere Kritik an der Totalerfassung ist in drei Hauptbereichen festzumachen.Zunächst: Alle Hochglanzbroschüren, Plakate, Werbespots usw. suggerieren in wirklich volksverdummender Manier, nur mit der Volkszählung sei eine soziale und gerechte und ökologische Politik möglich. Das ist schlicht die Unwahrheit!Beispiel Steuergerechtigkeit: Für die Verschuldung der Länder und Gemeinden sind nicht genaue Kopfzahlen verantwortlich, sondern Ursache dafür ist eine unsoziale Steuerpolitik der Umverteilung von unten nach oben. Die Länder und Gemeinden leiden jetzt vor allem wieder unter den jüngsten Koalitionsbeschlüssen zur Steuerpolitik, die ihnen Steuermindereinnahmen in Milliardenhöhe beschert haben; und sie leiden nicht darunter, weil irgendwelche Statistiken ein bißchen ungenau sind.Beispiel Umweltschutz: Wir lesen in einem dieser offiziellen Pamphlete aus Nordrhein-Westfalen, Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik, daß die Volkszählungserkenntnisse über das Wirtschaftsleben einzelner Regionen „im Zusammenhang mit der Beurteilung von Umweltgefährdungen und der Notwendigkeit von Abwehrmaßnahmen" unerläßlich seien. Niemand ist so dumm und glaubt, daß wir wegen der Volkszählung demnächst in sauberen
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987 603
Frau Schmidt-BottFlüssen baden werden! Denn: Wenige Tage nach der Rheinkatastrophe wurde der Sandoz-Boß Winkler vom „Spiegel" befragt: „Sind Sie jetzt bereit, offenzulegen, was Sie wirklich produzieren und wo Sie es in welchen Mengen lagern?" Und darauf antwortet der Chemie-Boß: „Das ist nicht üblich, daß wir das als einzige Firma tun, kommt nicht in Frage. "
Auffallend ist ein ausgeprägtes Datenschutzbewußtsein dort, wo Umweltverschmutzung produziert wird — sozusagen der Straftatbestand eines Giftzählboykotts — hier allerdings ohne staatliche Bußgeldandrohung.
Fazit: Volkszählung hat überhaupt nichts mit Steuerpolitik, mit Umweltschutzpolitik oder sonstigen behaupteten sozialen Wohltaten zu tun.Der zweite Kritikbereich bezieht sich auf den Datenschutz: Der Datenschutz ist in vielerlei Hinsicht unmöglich zu gewährleisten. Dazu nur ein paar Stichpunkte: Reanonymisierung ist relativ einfach möglich und für bestimmte Kreise auch von Interesse. Die Beteuerungen und persönlichen Ehrenerklärungen, zuletzt von Herrn Justizminister Engelhard — er verbürgt sich wieder persönlich — , daß Unbefugte keinen Zugriff haben, wirken nur noch grotesk und sind längst widerlegt. Auch Bundespräsident Heuss hat sich am 13. September 1950 persönlich dafür verbürgt, daß weder Polizei noch Steuerbehörden die damaligen Listen bekämen. Nicht einmal einen Monat später, am 4. Oktober 1950, wurden sie den Finanzämtern für den Gewerbesteuerausgleich zur Verfügung gestellt — ganz offiziell.
Unter Datenschutzgesichtspunkten steht die Durchführung der Volkszählung — Abschottung der Erhebungsstellen, Zuverlässigkeit der Zähler/innen, Nichtvorhandensein von Datenverarbeitungskonzepten — auf so wackeligem Boden, daß allein Skepsis und Mißtrauen vernünftig sind. Jeder Vertrauensvorschuß wäre nur blöde.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Conradi?
Nein, ich habe nur eine sehr kurze Redezeit. —
Die wichtigste Kritik aus unserer Sicht ist aber der legale Mißbrauch der Daten aus dieser Totalerfassung.
Denn: Die Volkszählung macht nur Sinn, macht wirklich nur Sinn im Zusammenhang mit dem ganzen
Arsenal an Sicherheitsgesetzen, von denen wir einige schon haben. Ein großer Teil liegt bei Herrn Zimmermann noch in der Schublade und wird uns demnächst ins Haus stehen.
Noch ist nicht legal, was der damalige Bundesdatenschutzbeauftragte Bull 1981 an Mißbrauch berichtete, nämlich daß die Daten der Wehrpflichtigen eines Jahrganges, eines ganzen Jahrganges mit der Datei NADIS vom Verfassungsschutz abgeglichen wurden, um herauszufinden, ob darunter Personen sind, die von der Bundeswehr fernzuhalten seien. Es gibt nun bestimmt Schlimmeres , als von der Bundeswehr ferngehalten zu werden.
Aber dieselbe Methode, angewandt bei Einstellungen in den öffentlichen Dienst, veranschaulicht, welche Bedrohung durch Datenerfassung und Datenabgleich auf uns zukommt. Und sehr leidvolle Erfahrungen mit Berufsverboten haben wir ja.
Was uns droht, hat Herr Herold bereits 1979 auf den Nenner gebracht.
Frau Kollegin, gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Hirsch?
Ich würde meinen Beitrag gerne erst zu Ende führen und dann Fragen beantworten.
— Okay. Dann müssen Sie darauf verzichten. — Horst Herold 1979:Die Polizei der Zukunft wird eine andere, höherstufige, mit einer gesellschaftssanitären Aufgabe sein.So zu lesen im „Spiegel" Nr. 18, 1979.
Gesellschaftssanitäre Aufgabe! Mir ist es kalt über den Rücken gelaufen.Staaten handeln nach dem Prinzip: Wissen ist Macht, und Machthaber wollen alles wissen. Je totaler die Macht ist, desto mehr wollen Machthaber wissen. Diktaturen und Terrorregime erkennt man an der Perfektion ihres Spitzelwesens.
Wir sind auf dem Sprung in eine neue Variante der Klassengesellschaft: Datengeber und Datennehmer. Die neuen Technologien machen es in rasantem Tempo möglich.Die Volkszählungsparteien sagen: Wir brauchen eure Daten für den Wohlfahrtsstaat. Wir halten dem entgegen: Die Daten werden für den Überwachungsstaat gebraucht.
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Frau Schmidt-BottSeit Wochen erleben wir eine perfide Doppelstrategie der Herrschenden: Einerseits sanfte Überzeugungs- und Akzeptanzkampagne; wo das nicht fruchtet, wird knallhart vorgegangen.Auch Herr Geißler hat zu den üblen Hetz- und Kriminalisierungskampagnen wieder einmal sein Scherflein beigetragen. Schon 1983 machte er die Pazifisten für Auschwitz verantwortlich. Heute sagt er zum Volkszählungsboykott-Beschluß der GRÜNEN, wir hätten ein „fast faschistoides Verhältnis zum Rechtsstaat".
Und sein Adjutant Gerster formuliert zu Ende, was Herr Geißler sowieso schon denkt:In der deutschen Geschichte haben Fanatiker und Ideologen mit derartiger Gesinnung— gemeint sind die GRÜNEN —das größte Unrecht begangen und das schlimmste Leid über unser Volk gebracht.
Wir kennen diese Methode der totalen Geschichtsverfälschung. Wir kennen die demagogische Methode derer, die sich dadurch reinwaschen und rechtfertigen wollen, daß sie die Opfer zu Tätern stempeln.Wir beziehen uns auf die Tradition des gewaltlosen Widerstands, des zivilen Ungehorsams gegen den Staat und gegen das Gewaltmonopol des Staates.
Ich erinnere an Gandhis erste gewaltfreie Aktion 1906
— jetzt sollten Sie wirklich alle sehr genau zuhören — in Transvaal gegen ein Gesetz zur Registrierungs- und Ausweispflicht für Inder. Der Zählboykott wurde mit Geldbuße, Gefängnis und sogar Ausweisung bedroht. 12 000 Menschen beteiligten sich an dem Boykott; 1 500 gingen für ihre Überzeugung ins Gefängnis. Nach weiteren Auseinandersetzungen mußten die Herrschenden das Gesetz zurücknehmen!
Gewaltfreier Widerstand und ziviler Ungehorsam sind die klassischen Mittel zur Artikulation und Durchsetzung von Bürgerrechten in freiheitlich-parlamentarischen Demokratien.Ja, wir rufen zum Boykott der Volkszählung auf. Wir verweigern uns der Total- und Zwangserfassung. Wir sind mündige Bürger. Unseren Widerstand gegen den gläsernen Menschen werden wir auch nach dem 25. Mai fortsetzen.
Frau Kollegin SchmidtBott, ich rufe Sie zur Ordnung für die letzte Bernerkung des Aufrufs hier vor dem Hause gegen ein Gesetz, das hier legal zustande gekommen ist.
Das Wort hat der Abgeordnete Gerster .
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Daß wir 17 Jahre nach der letzten Volkszählung und nach den gewaltigen Strukturveränderungen seit Anfang der 70er Jahre neue und verläßliche Datengrundlagen und deswegen eine Volkszählung brauchen, weiß natürlich jeder, und das wissen ganz besonders natürlich auch DIE GRÜNEN. Ich kann es mir daher ersparen, die Unverzichtbarkeit der Volkszählung im einzelnen zu belegen.
Aber eines möchte ich mit Nachdruck betonen: Die bevorstehende Volkszählung ist ein Plebiszit für eine schwarze, rote oder wie immer geartete Politik. Die Volkszählung wird vielmehr die nachprüfbare, jedermann zugängliche Informationsgrundlage schaffen, auf welcher unsere Bürger privat und Politiker öffentlich handeln können.
Dabei wird diese Volkszählung auf einer verfassungsrechtlich einwandfreien Grundlage durchgeführt. Das mit den Stimmen der SPD, der FDP und meiner Fraktion verabschiedete und von sämtlichen Bundesländern gebilligte Volkszählungsgesetz hat peinlich genau alle Maßgaben des Bundesverfassungsgerichts aus dem bekannten Urteil vorn Dezember 1983 umgesetzt. Dieses Volkszählungsgesetz ist sehr gründlich von sieben Ausschüssen des Bundestages unter Beteiligung von Fachleuten auch internationalen Ranges beraten worden. Von Anfang an haben sich die GRÜNEN jedem Sachargument für die Volkszählung verschlossen. Sie predigen heute den Boykott und rufen in diesen Tagen in einer in der Geschichte unseres Staates einmaligen Art und Weise zum Rechtsbruch auf. Wenn es den GRÜNEN dabei wirklich um den Schutz der Persönlichkeitsrechte unserer Bürger ginge, hätten sie schon längst das Bundesverfassungsgericht angerufen; aber nichts dergleichen ist geschehen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schily?
Ich halte mich hier ausnahmsweise an die Gepflogenheit meiner Vorrednerin.Dies beweist: Ihnen geht es um etwas ganz anderes. Sie wollen mit diesem Boykott einen Ersatzwahlkampf. Wenn Sie schon keine parlamentarische Mehrheit für Ihre Verweigerungspolitik finden, wollen Sie diesen Staat, der Ihnen selbstverständlich treu und brav volle Sozialleistungen austeilen soll, mit dem Boykott eins auswischen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987 605
Gerster
Dabei kümmert die GRÜNEN keinen Deut, daß sie damit Bürger in den Rechtsbruch und in sie belastende Ordnungswidrigkeitsverfahren treiben.
Ich frage mich, in welch arrogante Funktionärsmentalität haben Sie sich hier eigentlich hineingesteigert?
Jeder kleine Mann muß viele und auch lästige Gesetze beachten; er muß natürlich wie wir Steuern zahlen und auch Verkehrsvorschriften einhalten.
Tut er dies nicht, wird er zur Rechenschaft gezogen. Demgegenüber nehmen Sie mit Ihren Boykottaufrufen Sonderrechte in Anspruch, setzen sich über die für alle geltenden Gesetze hinweg und verhalten sich dabei wie eine privilegierte Kaste in einer Bonzokratie.
Damit werden Sie zur Belastung für eine funktionierende Demokratie. Was genauso schlimm ist: Sie werden zu einer Gefahr für die von Ihnen verführten arglosen Bürger, denen Sie bewußt und willentlich Schaden zufügen.
Meine Damen, meine Herren, die Demokratie lebt von der Anerkennung der Mehrheitsentscheidungen und der Achtung demokratisch beschlossener Gesetze. Ein demokratischer Rechtsstaat verlangt nicht wie totalitäre Staaten, daß die Bürger ihre Gesinnung dem staatlichen Willen anpassen und alle Gesetze als absolut richtig und vernünftig ansehen.
Vielmehr lebt die Demokratie von der Kritik und dem Versuch zur Änderung des bestehenden Rechtes, aber nach den dafür vorgesehenen Verfahren. Dieses demokratische Prinzip setzt voraus, daß beschlossenes und geltendes Recht bis zur Änderung für alle gleich gilt und von allen beachtet werden muß.
Rechtsgehorsam ist daher kein Duckmäusertum, sondern Ausdruck demokratischer und rechtsstaatlicher Gesinnung.
Die Geschichte hat nun einmal kein besseres Verfahren für das Zusammenleben einer Gemeinschaft erfunden. Die Idee der Selbstbestimmung aller Bürger bei Aufhebung der Staatsgewalt ist eine Utopie. Sie muß an den Interessengegensätzen in einer Gesellschaft scheitern. Diese Utopie führt entweder in die Anarchie oder in die Tyrannei von selbsternanntenBesserwissern, die dem Volk diktieren, was richtig zu sein hat.
Meine Damen und Herren von den GRÜNEN, merken Sie wirklich nicht, daß Sie mit der Mißachtung von parlamentarischen Mehrheitsentscheidungen und der Propaganda für massenhaften Rechtsbruch Gefahr laufen, ins Totalitäre abzugleiten.
In dem gestern von der „Frankfurter Rundschau" abgedruckten Streitgespräch zur Volkszählung hat Ihre Parteifreundin, die hessische Landtagsabgeordnete Blaul, die Katze aus dem Sack gelassen: Der Sozialstaat brauche Planungsdaten, dagegen hätten die GRÜNEN nichts. Aber bislang hätten Statistiken und Volkszählungen in der Gesellschaft nichts geändert. — Mit anderen Worten: Wenn Sie in der Volkszählung ein Mittel zur Gesellschaftsveränderung sehen würden, würden Sie dieses Mittel sofort einsetzen.
Sehen Sie da nicht Parallelen Ihres Verhaltens zum Umgang von Totalitären, Kommunisten und Faschisten mit dem Recht?
Auch bei diesen hat und hatte das Recht der jeweiligen Ideologie zu dienen. Daß dies keine Vermutungen sind, zeigt ja gerade Ihr Beschluß auf Ihrer letzten Bundesversammlung, nämlich die Duisburger Erklärung zur Stahlkrise, die Sie am 2. Mai beschlossen haben.
— Ich lese sie Ihnen vor, Kollege Kleinert. Zum Umbau der Stahlregionen fordern Sie wörtlich sogenannte Entwicklungsfonds; ich zitiere: „die Erhebung von Arbeitsmarktdaten, Angebots- und Nachfragestrukturen, Informationen über Umweltbelastung und gesellschaftliche Bedarfe."Dort heißt es weiterhin:An der Durchführung der Arbeit der Entwicklungsfonds werden dezentrale Entscheidungsträger wie Stahlbelegschaften, Gewerkschaften, Verbraucherverbände, Bürgerinitiativen, Kommunalverbände und andere beteiligt.Mit anderen Worten, während Sie eine anonymisierte Datensammlung bei der Volkszählung verweigern, fordern Sie zur gleichen Zeit eine ungeschützte Datensammlung über Betriebs- und Arbeitnehmergeheimnisse, die allgemein, also für Hinz und Kunz zugänglich sein sollen. Das nenne ich Unglaubwürdigkeit der GRÜNEN auf ihrer eigenen Bundesversammlung.
Am 2. April dieses Jahres hat die Sprecherin der GRÜNEN, Frau Schmidt-Bott, an dieser Stelle wörtlich ausgeführt:
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606 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987
Gerster
Ja, wir rufen auf zu Gesetzesverletzungen, zu Rechts- und Regelverletzungen und werden uns daran beteiligen.— Heute hat sie ähnliches von sich gegeben und ist dafür von der Frau Präsidentin gerügt worden.Wissen die GRÜNEN eigentlich, daß sie sich damit dem Gedankengut der Terroristen zu Beginn der 70er Jahre nähern?
— Hören Sie einmal genau zu. In der berüchtigten Schrift des allseits bekannten Horst Mahler von 1971 über den bewaffneten Kampf in Westeuropa vertrat dieser exakt die These, daß als Mitkämpfer für den bewaffneten Kampf nur gewonnen werden könne, wer auch sonst aktiv gegen Gesetze handle. Für Mahler war die Entwöhnung vom Gehorsam gegenüber der bürgerlichen Rechtsordnung eine wesentliche Voraussetzung für die Revolutionierung der Massen.
Nach Mahler muß der eingeschliffene Gehorsamsreflex durch wiederholte bewußte und praktische Normverletzung überwunden werden. Sie könnten ja einmal Ihren Kollegen Ströbele fragen, der sich heute als einer der eifrigsten Aktivisten des Volkszählungsboykottes aufführt. Er muß diese Zusammenhänge aus dem Beginn der 70er Jahre noch sehr genau kennen.
Gegenüber den Aufforderungen der GRÜNEN zum Volkszählungsboykott stelle ich abschließend fest: Sie, die GRÜNEN, benutzen den Rechtsbruch als Mittel der politischen Auseinandersetzung.
Sie sind nicht bereit, sich eindeutig von Gewalt zu distanzieren. Ihr Widerstand gegen die Volkszählung gründet nicht in Bürgerinteressen, sondern im Interesse Ihrer als elitär verstandenen Bewegung, den demokratischen Rechtsstaat zu schwächen, ja handlungsunfähig zu machen.Die CDU/CSU lehnt dieses undemokratische Verhalten der GRÜNEN und deren Gesetzentwurf ab.
Herr Stratmann, ich muß Ihnen einen Ordnungsruf wegen Ihrer beleidigenden Bemerkung gegenüber dem Kollegen Gerster erteilen.
— Sie, Herr Schily, wissen sehr gut, daß ich nicht bewerten kann, was politisch ausgedrückt wird, sondern daß ich hier nur eine Beleidigung rügen kann,
und das habe ich getan. Ich bitte um Zurückhaltung gegenüber dem Präsidenten.
— Ich erteile Ihnen einen Ordnungsruf wegen Beleidigung des Präsidenten, dem Sie hier unterstellen, daß er eine falsche Anordnung gegeben hat.
Meine Damen und Herren, es geht weiter. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Conradi.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Die SPD-Bundestagsfraktion hält das Volkszählungsgesetz 1987 für verfassungskonform. Wer das bestreitet, hatte seit der Verabschiedung des Gesetzes im September 1985 — da wird Herr Schily mir sicher zustimmen — ausreichend Zeit, das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe anzurufen. Die bloße Behauptung, ein Gesetz entspräche nicht der Verfassung, rechtfertigt keinen Boykott.
Wir halten die Volkszählung 1987 auch für erforderlich. Eine soziale, demokratische und rationale Politik in den Städten, in den Gemeinden, in den Ländern und im Bund braucht verläßliche Zahlen. Da mögen einige anderer Meinung sein, aber allein die Meinung, die Volkszählung sei nicht erforderlich, Frau Schmidt-Bott, rechtfertigt nicht den Boykott. Was würden Sie, was würden die GRÜNEN sagen, wenn die deutsche Chemieindustrie zum Boykott des Immissionsschutzgesetzes aufrufen würde mit der Begründung, das Gesetz sei nicht erforderlich?
Die Gesetze sind die Grundlage unseres Zusammenlebens. Die parlamentarische Minderheit kann die von der Mehrheit beschlossenen Gesetze ablehnen. Sie kann sie kritisieren. Sie kann ankündigen, daß sie sie ändern wird, wenn sie dafür bei Wahlen eine Mehrheit bekommt. Aber sie kann nicht sagen: Wir halten uns nicht an das Gesetz.
Nun muß ich allerdings sagen — ich sage das zur rechten Seite des Hauses — —
— Sie sitzen rechts, Herr Bötsch. Das ist unzweifelhaft. So weit kann ich noch sehen. Wo mein Daumen links ist, ist die rechte Seite.Die CDU/CSU und die FDP mögen sich überlegen, daß denen, die das Einkommensteuergesetz, das Parteiengesetz und damit auch die Verfassung so verletzt haben, wie das geschehen ist, die mit fragwürdigen Amnestievorschlägen versucht haben, das zu vertuschen, Selbstgerechtigkeit gegenüber den Bürgerin-
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Conradinen und Bürgern, die sich der Volkszählung entziehen wollen, nicht ansteht.
Es gibt Fälle, Herr Hirsch, in denen sich jemand aus respektablen Gründen über ein Gesetz hinwegsetzt. Ich will ein Beispiel sagen: Wenn in Bayern ein Pfarrer einen verfolgten türkischen Gewerkschafter, der von der Ausweisung bedroht ist, bei sich versteckt, dann handelt er wohl gesetzwidrig, aber er handelt menschlich, und wir haben Respekt vor ihm.Meine Partei — die Sozialdemokraten — hat sich in 120 Jahren ihrer Geschichte über Gesetze hinwegsetzen müssen, die ungerecht, unfreiheitlich, undemokratisch waren. Aber das waren schwerwiegende Gründe.
— Ich sprach vorher vom Einkommensteuergesetz, über das Sie und Ihre Freunde sich hinweggesetzt haben.
— Ich bestreite ja nicht, daß das auch bei uns geschehen ist. Ich kritisiere nur die Selbstgerechtigkeit, mit der Sie Bürger kriminalisieren, Sie, die sich selbst mit windigen Methoden der Strafverfolgung entziehen wollten.
— Nein.Es gibt keinen moralischen Grund, der es rechtfertigen könnte, das Volkszählungsgesetz zu boykottieren. Im Gegenteil: Die Boykottkampagne hat alle Züge eines modischen Gesellschaftsspiels, dessen Teilnehmer sich ohne großes Risiko als Widerständler aufführen.Der Streit um die Volkszählung zeigt etwas anderes, und das sollte uns nachdenklich machen. Er zeigt, daß dieser Staat an Legitimation, an Glaubwürdigkeit, an Vertrauen verloren hat. Die Volkszählung kann doch nur gelingen, wenn das Volk sich daran beteiligt. Ich finde es absurd, die Bürger mit Strafandrohungen, mit Repressionen, mit Kriminalisierung dazu zwingen zu wollen. Wollen Sie denn Hunderttausende, wollen Sie möglicherweise Millionen von Bürgern mit Strafen belegen? Wenn es nur die 3 % sind, von denen der Innenminister jetzt schon weiß, daß sie sich unter keinen Umständen beteiligen wollen, dann sind das schon fast 2 Millionen Menschen. Wollen Sie die alle bestrafen?Ihnen geht es gar nicht mehr um die Volkszählung. Ihnen geht es um das Prinzip: Denen muß man zeigen, wer Herr im Haus ist.
Das ist Ihr Politikverständnis. Das halte ich für vordemokratisch und autoritär.Zu diesem Legitimationsverlust des Staates hat vieles beigetragen.
— Das ist keine Frage des Eierns. Sie sollten einmal darüber nachdenken, was der Grund dafür ist — Herr Hirsch, Sie sind daran beteiligt, ich komme gleich darauf —, daß weit über die GRÜNEN hinaus Menschen Angst haben und dem Staat unterstellen, er würde ihre Daten mißbrauchen. Das ist doch eine Befürchtung, die bis hinein in konservative und liberale Kreise geht. Ich sage Ihnen: Ihre Politik hat dazu mit beigetragen, z. B. die Politik der Berufsverbote, z. B., was der Verfassungsschutz macht.
— Glauben Sie denn, Herr Kleinert, daß eine Frau, der nach Jahren vorgehalten wird, sie habe einmal an einem linken Büchertisch in einer Universität gestanden, und ein Mann, dem vorgehalten wird, sein Auto habe vor dem Lokal geparkt, in dem die DKP ihre Weihnachtsfeier — ausgerechnet! — gefeiert hat, glauben Sie, Herr Hirsch, daß solche Leute noch großes Vertrauen in diesen Staat haben?
Eine Bundesregierung, die sich kalten Bluts darüber hinwegsetzt, daß Hunderttausende von jungen Menschen keine Arbeit und keine Ausbildung finden, eine Bundesregierung, die es untätig zuläßt, das Millionen von Menschen keine Arbeit haben, eine Bundesregierung, die angesichts der Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen untätig bleibt,
eine Bundesregierung, die die Friedenssehnsucht von Millionen Menschen mißachtet, darf sich nicht wundern, wenn das Zutrauen zu diesem Staat Schaden nimmt.
— Ich habe vorher klipp und klar gesagt, daß wir für die Einhaltung des Volkszählungsgesetzes sind. Ich versuche, Ihnen zu erklären, daß Ihre Politik diesen Staat Glaubwürdigkeit und Vertrauen kostet. Es genügt ja nicht, in der Wahl eine Mehrheit zu gewinnen, eine Regierung zu bilden und draufloszuregieren; ein demokratischer Staat braucht den Grundkonsens auch der Minderheit, und wer so mit Minderheiten umgeht wie Sie, der darf sich nicht wundern, wenn sich viele Menschen diesem Staat verweigern und diesem Staat nicht mehr trauen.
— Sie versuchen, diesem Vertrauensverlust des Staates mit Kriminalisierung und Repression zu begegnen,
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608 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987
Conradistatt sich zu fragen: Was ist eigentlich passiert, daß so viele Leute diesem Staat nicht mehr trauen?
Ich will den GRÜNEN etwas sagen: Es gibt gewiß in unserem Land vieles, was kritik- und verbesserungswürdig ist, aber es gibt in der deutschen Geschichte keinen Staat, der sozialer und gerechter und freiheitlicher war als dieser Staat.
Wir Sozialdemokraten stehen zu dieser Republik. Sie sollten sich nicht den Spaß machen, diesen Staat zu schmähen, womit Sie der rechten Seite des Hauses zuspielen, sondern Sie sollten sich überlegen, ob Sie nicht Institutionen und Instrumente beschädigen, die wir alle brauchen, wenn wir die Arbeitslosigkeit beseitigen, die natürlichen Lebensgrundlagen erhalten und den Frieden sichern wollen.
Die SPD-Bundestagsfraktion steht zum Volkszählungsgesetz 1987. Überall, wo die Durchführung der Volkszählung auf Einwände stößt, wollen wir dazu beitragen, die Einwände auszuräumen. Wir versprechen den Bürgern — und da unterscheiden wir uns von der Bundesregierung und ihren verächtlichen Reden über den Datenschutz — : Die Sozialdemokraten werden sorgsam darauf achten, daß mit den Daten der Bürgerinnen und Bürger kein Mißbrauch getrieben wird.
Wir werden uns an der Volkszählung beteiligen, und wir forden alle Bürgerinnen und Bürger in unserem Lande auf, das ebenso zu tun.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hirsch.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist natürlich gar keine Frage, daß der Gesetzentwurf der GRÜNEN nach der Sach- und Rechtslage abgelehnt werden muß. Der Frau Kollegin Schmidt-Bott möchte ich auf die verweigerte Frage hin sie gleich selber beantworten: Sie müssen zur Kenntnis nehmen, daß auch eine gesetzliche nachträgliche Änderung der Zweckbestimmung der Volkszählungsdaten nicht möglich ist, weil sie verfassungswidrig wäre und ein solches Gesetz sofort auffliegen würde.
Dem verehrten Kollegen Conradi möchte ich sagen: Es ist natürlich eine tolle' Argumentation, wenn Sie den Staat und die Staatspraxis schmähen und dann dringend davor warnen, das zu tun.
Ich möchte den Sozialdemokraten trotz Ihrer Rede dafür danken, daß sie sich im Interesse einer vernünftigen sozialstaatlichen Politik ihrer Verantwortung in der Volkszählungsfrage nicht entziehen.
Herr Dr. Hirsch, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Conradi? — Bitte.
Darf ich aus Ihrer Behauptung, ich hätte hier den Staat geschmäht, nicht die Regierung, schließen, daß Sie diese Regierung mit dem Staat gleichsetzen?
Wenn ich Ihrer Frage entnehmen kann, daß Sie den Staat und die Staatspraxis bei der Bekämpfung von Extremisten nicht schmähen wollten, bin ich Ihnen dankbar und nehme das zur Kenntnis.Die Entschließung, die wir vorgelegt haben, entspricht Wort für Wort dem gemeinsamen Beschluß der Innenministerkonferenz, unabhängig von der unterschiedlichen Parteizugehörigkeit ihrer Mitglieder. Wir sollten uns aber nicht damit zufriedengeben, daß wir im Ergebnis eine so weitgehende Übereinstimmung erzielt haben. Bei den vielen Fragen, die auch Bürger zur Volkszählung stellen, die mit den GRÜNEN überhaupt nichts am Hut haben, muß man natürlich die Frage stellen, warum viele in den Fragen der Datenverarbeitung verunsichert sind. Es stellt sich die Frage, ob wir genügende Sicherungen in der Datenschutzgesetzgebung geschaffen haben.Da muß man den Bürgern nun erneut deutlich sagen: Wir haben schon vor Jahren wirksame Datenschutzgesetze in Bund und Ländern geschaffen, die in anderen europäischen Ländern keinen Vergleich finden. Man muß nicht dauernd schlechtmachen, was man getan hat, sondern muß erst einmal betonen, wie weit wir in dieser Frage schon gegangen sind,
und zwar weil die notwendige Anwendung der modernen Datenverarbeitung in Wirtschaft und Verwaltung auf Dauer nur möglich sein wird, wenn der Bürger sicher sein kann, daß ihre Möglichkeiten nicht mißbraucht werden. Das hat Widerstände gegeben; das weiß jeder.Wir begrüßen es, daß manche Kritiker des Datenschutzes zum Schutz der Volkszählung nun Datenschutzargumente gebrauchen. Wir hoffen, daß dieses Umdenken anhält. Wer den Datenschutz als eine veredelte Form des Widerstandes gegen die Staatsgewalt betrachtet, wer die Kontrollmöglichkeiten der Datenschutzbeauftragten in der Praxis nicht fördert, der würde die Probleme, die uns die GRÜNEN bei der Volkszählung bereiten, in zunehmendem Maße auch auf anderen Gebieten zu spüren bekommen. Darum appelliere ich an alle Beteiligten, die Innenminister
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987 609
Dr. Hirscheingeschlossen, nicht zögernd, nicht widerwillig, nicht abwehrend, sondern aktiv und bejahend den notwendigen Ausbau des Datenschutzes zu betreiben und an einer längst überfälligen Anpassung vieler Gesetze an die Grundsätze des Volkszählungsurteils aktiv mitzuwirken. Der Bürger kann sich darauf verlassen, daß wir Liberalen in dieser Frage nicht ruhen und rasten werden, bis wir auch in anderen Rechtsgebieten so exakte Regelungen haben, wie wir sie nun beim Volkszählungsgesetz in der penibelsten Weise erreicht haben.
Es ist geradezu skurril, daß die GRÜNEN nun ausgerechnet die Aufhebung dieses Gesetzes vorschlagen.
Die Sachargumente sind alle ausgetauscht. Wir haben das immer wieder betont. Sie wissen ganz genau, daß eine umfangreiche Anhörung vor dem Innenausschuß mit großer Übereinstimmung zu dem Ergebnis geführt hat, daß erstens das Fragenprogramm minimal und unbedingt erforderlich ist, daß zweitens der Fragenkatalog vernünftig ist und in keinem Teil den Kernbereich der Privatsphäre berührt, daß drittens eine Erhebung nach Stichproben nicht ausreichend ist und daß viertens das Gesetz mit den Grundsätzen des Volkszählungsurteils des Bundesverfassungsgerichts nicht nur übereinstimmt, sondern die Datenschutzregeln peinlichst genau beachtet.Die Agitatoren verschweigen dem Bürger dabei sorgfältig, daß das Verfassungsgericht in seiner berühmten Entscheidung ausdrücklich bestätigt hat, daß eine zuverlässige Statistik in einer hochindustrialisierten Gesellschaft notwendig ist und ihre Gefährdung darauf hinausläuft, eine wichtige Voraussetzung sozialstaatlicher Politik in Frage zu stellen.Wir haben Ihnen das an vielen Beispielen dargestellt. Die letzte Volks- und Berufszählung war vor 17 Jahren, die letzte Arbeitsstättenzählung ebenso. Die letzte Gebäude- und Wohnungszählung war vor 30 Jahren. Ich kann Ihnen aus meiner eigenen landespolitischen Erfahrung sagen, zu welchen außerordentlichen Schwierigkeiten das z. B. bei der Aufstellung von Wohnungsbauprogrammen für kinderreiche Familien, für Behinderte, für Alten- und Behindertenwohnungen, für die Aufteilung von Wohnungsbaumitteln auf Regionen und Gemeinden und die Verteilung auf Neubau und Modernisierung geführt hat. Welche Probleme bei der Berufsberatung, welche Probleme bei der Berechnung der Rücklagen der Alterssicherungssysteme bestehen, das sind alles Fragen, die Sie gar nicht interessieren, wenn Sie hier die technischen Mittel, um die nötigen Informationen zu gewinnen, versagen wollen. Ihnen geht es in Wirklichkeit darum, uns, den Bürger, unsere Gesellschaft in eine Loyalitätsprobe mit dem Staat hineinzuhetzen. Sie finden dabei — das muß ich bedauerlicherweise sagen — die Unterstützung aller sattsam bekannten Einrichtungen, vom MSB Spartakus bis zur Sozialistischen Einheitspartei West-Berlins, von der „UZ" bis zur „Roten Fahne", dem Zentralorgan der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands.
Ich will ein paar klare Feststellungen treffen. Die Vertreter der GRÜNEN im Innenausschuß haben sich jeder sachlichen Erörterung der anstehenden Fragen entzogen
und keinen Zweifel daran gelassen, daß sie das Gesetz ablehnen werden, wie auch immer es im einzelnen aussieht.Zweitens. Sie schüren unbegründete Ängste. Sie führen die Menschen, die Ihnen glauben, in eine Situation, in der sie mit erheblichen Geldbußen rechnen müssen und bei denen Sie diesen von Ihnen verführten Menschen nicht mehr helfen können. Sie machen Menschen zum Instrument Ihrer Argumentation.
— Ich will Ihnen etwas sagen: Ich finde das verächtlich.
Drittens. Haben Sie eigentlich schon einmal darüber nachgedacht,
mit welcher Leichtfertigkeit Sie Zehntausenden von Mitarbeitern des öffentlichen Dienstes unterstellen, daß sie ohne weiteres bereit wären, Recht und Gesetz zu brechen, um ihre Mitbürger politisch zu unterjochen und zu überwachen?
Was für eine Staatsvorstellusng haben Sie? Ist das für Sie eine Räuberbande, wo Leute zähnefletschend herumsitzen und nur darauf warten, daß sie beißen können?
Wie kommen Sie überhaupt noch in Schlaf?
Machen Sie sich eigentlich einmal klar, wie Sie mit dem Leumund und dem demokratischen Selbstbewußtsein vieler Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes umgehen, die den Staat mit aufgebaut haben, der Ihnen die Freiheit gibt, hier zu agitieren? Haben Sie auch nur einmal einen einzigen Gedanken an diese Mitbürger verschwendet, denen Sie die Ehre nonchalant abschneiden?Könnten Sie Ihren Protest vielleicht einmal darauf richten, daß wir in möglichst allen europäischen Ländern zu den Datenschutzstandards kommen sollten, die wir in der Bundesrepublik haben, damit wir im
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610 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987
Dr. HirschInteresse der Bürger dieser Länder zu einer besseren Zusammenarbeit kommen können?
Herr Abgeordneter, kann ich zwischendurch einmal fragen, ob Sie eine Frage zulassen?
Der verehrten Frau Schmidt-Bott möchte ich einmal sagen: Ich finde es besonders gut, eine Frage nicht zuzulassen und dann selber eine stellen zu wollen. — Tut mir leid.
Herr Kollege Dr. Hirsch, es gibt noch eine andere Fragestellerin, Frau Oesterle-Schwerin. Würden Sie dazu bereit sein?
Gnädige Frau, selbstverständlich. — Ich nehme an, daß die Uhr angehalten wird. — Bitte schön.
Herr Kollege, bezüglich Volkszählung und Wohnungsbau: Sie wissen ganz genau, daß sich der Bund aus dem Sozialwohnungsbau schon jetzt fast völlig zurückgezogen hat, und Sie wissen auch, daß die Liquidierung der Wohnungsgemeinnützigkeit noch in dieser Legislaturperiode auf der Tagesordnung steht. Ich frage Sie: Welchen Sinn hat die Volkszählung jetzt noch für den Wohnungsbau?
Ich kann die Arglosigkeit Ihrer Frage nur andächtig bestaunen.
Erstens ist es nicht zutreffend, daß sich der Bund aus jeder Art der Mitfinanzierung zurückzieht. Zum zweiten: Haben Sie eigentlich noch nicht begriffen, daß die Daten der Volkszählung natürlich auch den Ländern und den Gemeinden zur Verfügung stehen? Ich sage ja: typisch; hier hereingeschneit, keine Ahnung von der Wirklichkeit und dann hergehen
und sich über die Schwierigkeiten der vollziehenden Verwaltung lustig machen! Das haben wir gern.
Wir wollen im Interesse der Bürger die Möglichkeit zu rationaler Politik erhalten, wie es das Verfassungsgericht ausdrücklich als notwendig anerkannt hat. Wir appellieren auch heute erneut an den Bürger, Gemeinsinn zu zeigen. Deswegen werden wir Ihren Gesetzentwurf ablehnen.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Herr Waffenschmidt.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Alle Experten in Bund, Ländern und Gemeinden und auch in zahlreichen gesellschaftlichen Gruppen sind sich einig, daß die Daten der Volkszählung unerläßlich sind, um verantwortlich für die Zukunft planen zu können. Den GRÜNEN, die sich hier gerade so aufgeregt haben, möchte ich sagen: Sie sind angeblich die Anwälte der Schwachen. Gerade für die Schwachen müssen wir die sozialen Wohltaten für die Zukunft planen.
In offenkundiger Weise haben Sie mit Ihren Boykottaufrufen den Boden der Rechtsstaatlichkeit verlassen. Wir sagen das hier noch einmal ganz deutlich:
Sie führen die Bürger in die Irre, und Sie treiben mit Ihren Aktionen Verfassungsbruch gegen den freiheitlichen Rechtsstaat.
Ich erinnere daran, daß das Bundesverfassungsgericht, unser höchstes Gericht, das Wesen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung als eine rechtsstaatliche Ordnung definiert hat, nach der sich die Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit vollzieht. Es ist inzwischen unerträglich, wie die GRÜNEN ihre elitäre politische Pseudomoral hier zur Geltung bringen. Das ist eine Agitation gegen die Mehrheit in unserem Volk.
Meine Damen und Herren, inzwischen gibt es eine Vielzahl kompetenter und über jeden Zweifel erhabener Stimmen von Sachverständigen, die das Volkszählungsgesetz klar und eindeutig als verfassungsrechtlich einwandfrei qualifizieren. Ich nenne stellvertretend für viele den langjährigen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Professor Dr. Ernst Benda, der dies öffentlich erklärt hat. Ich zitiere auch gern den Vorsitzenden des Deutschen Richterbundes, Herrn Dr. Franz-Joseph Pelz.An dieser Stelle möchte ich einmal all jenen ganz herzlich danken, die uns weit über den Bereich von Bund, Ländern und Gemeinden hinaus in den gesellschaftlichen Gruppen bis hin zu den Kirchen helfen und unterstützen, die den Bürgern sagen: Macht mit bei dieser Volkszählung, sie ist notwendig für die Zukunft unseres Landes!
Herzlichen Dank diesen verantwortlichen Mitbürgern!
Wie in keinem anderen Bereich sind im Volkszählungsgesetz 1987 Vorkehrungen getroffen, die das Statistikgeheimnis und damit den Datenschutz gewährleisten. Der Bundesbeauftragte für den Daten-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987 611
Parl. Staatssekretär Dr. WaffenschmidtSchutz hat mehrfach erklärt, daß für keinen Bürger Anlaß bestehe, sich Sorgen zu machen. Noch vor kurzem führte der Bundesbeauftragte Baumann wörtlich aus:Nach menschlichem Ermessen ist alles getan worden, um den Datenschutz zu gewährleisten.Wer hier gleichwohl sagt — auch gegen das eindeutige Zeugnis des Datenschutzbeauftragten — , der Datenschutz sei nicht gewährleistet, der betreibt eine verwerfliche bewußte Irreführung der Bürgerinnen und Bürger. Das wollen wir hier ganz klar feststellen.
Die Sicherung des Datenschutzes bei der Durchführung der Volkszählung war mehrfach Gegenstand ausführlicher Abstimmungen zwischen unserem Haus, dem Bundesinnenministerium, und den Statistischen Landesämtern. Ich will gerne einmal einen unabhängigen Sachverständigen zitieren, Professor Dr. Seegmüller. Er sagt:Die Sicherheitsvorkehrungen, die inzwischen bei den Statistischen Landesämtern zur ordnungsgemäßen Verarbeitung der Volkszählungsdaten sowie anderen statistischen Erhebungsmaterials getroffen sind, entsprechen in jeder Hinsicht den geforderten hohen Anforderungen.So Professor Dr. Seegmüller, anerkannter Experte auf diesem Gebiet. Weiter sagt er wörtlich:Die Sicherheitslage in den Ämtern ist hervorragend. Dies gilt auch für Ämter, die sich zur Datenverarbeitung eines staatlichen Mehrzweckrechenzentrums bedienen.Wer sagt, hier sei der Datenschutz nicht gewahrt, hier bestünden Bedenken, der schürt bewußt Ängste, der will die Bürger irreführen.Lassen Sie es mich offen ansprechen: Ihnen bei den GRÜNEN geht es letztlich gar nicht um die Volkszählung, sondern Sie wollen diesen Staat herausfordern, Sie wollen diesen Staat demütigen, Sie wenden sich gegen unsere staatliche Ordnung. Das ist das Verwerfliche an Ihren politischen Aktionen.
Ihr Angriffsziel ist offensichtlich, und darum werden wir die Bürger nachdrücklich und mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln zu Rechtstreue und zu einem Beachten der geltenden Gesetze aufrufen.Bei den Kritikern und Boykottaufrufern wird bewußt unterschlagen — ich nenne nur drei Dinge — :Erstens die Feststellung des Bundesverfassungsgerichts in seinem Volkszählungsurteil, daß die Statistik und im besonderen die Volkszählung für eine dem Sozialstaatsprinzip verpflichtete Politik unerläßlich ist;zweitens, daß das neue Volkszählungsgesetz 1987 in allen vom Bundesverfassungsgericht beanstandeten Punkten klare Vorschriften enthält und insofern dem Volkszählungsurteil und darüber hinausgehenden Bedenken Rechnung trägt;drittens, daß insbesondere die Gewährleistung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung in einer Weise sichergestellt ist, wie sie weltweit einmalig ist.
— Meine Damen und Herren, dies sollten Sie zur Kenntnis nehmen. Daß es Sie unruhig macht, verstehe ich, denn es unterläuft Ihre Argumentation.Ich möchte aber gerne hier noch etwas vortragen, was ganz deutlich macht, wie unglaubwürdig die Aktionen der Boykottinitiatoren und wie unglaubwürdig insbesondere die Politik der GRÜNEN hier ist. Die GRÜNEN sind nämlich geradezu Großverbraucher an statistischen Daten. Ich habe das einmal zusammenstellen lassen. Ich führe einmal an, was die Fraktion der GRÜNEN allein in der letzten Wahlperiode in Kleinen und Großen Anfragen und sonstigen Anfragen alles im Parlament veranlaßt hat und was verantwortlich nur erledigt werden konnte, wenn auch entsprechende Statistik — —
— Aber Sie wollten statistische Daten. Ihre ganze Unglaubwürdigkeit liegt darin, daß Sie Daten anfragen und daß Sie sich hier hinstellen und die Erhebung der notwendigen Daten verhindern wollen. Da können Sie sehen: Sie sind völlig unglaubwürdig geworden, meine Damen und Herren!
Ich nenne nur einige Beispiele. Nahezu jede dritte parlamentarische Große Anfrage Ihrer Fraktion bezog sich direkt oder indirekt auf Volkszählungsergebnisse. Ob es sich etwa um die Große Anfrage Altenhilfepolitik oder um die zur Situation der erwerbslosen Jugend in der Bundesrepublik Deutschland vom 3. Juli 1985 oder andere Anfragen handelt, immer waren umfangreiche statistische Angaben gefragt.
Da können Sie sehen, wie unglaubwürdig Sie sind und wie Sie diesen Staat funktionsunfähig machen wollen. Sie wollen noch nicht einmal die Erhebung der Daten zulassen, damit wir in den wichtigen Dingen Altenhilfepolitik und Jugendpolitik das Notwendige für die betroffenen Menschen tun können. Das disqualifiziert auch Ihre parlamentarischen Anfragen und Initiativen dann als reine Scheinmanöver, weil Sie ja die Grundlage für die Arbeit gar nicht gewährleisten.
Die parlamentarische Behandlung dieser Themen zu fordern, gleichzeitig aber die Gewinnung der hierfür erforderlichen Daten abzulehnen, zeigt, wie unglaubwürdig diese Politik ist.
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612 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987
Parl. Staatssekretär Dr. WaffenschmidtIch will zusammenfassend sagen: Wir sind überzeugt, die Bundesregierung ist überzeugt — ich danke in dieser Stunde auch all denen, die sich aus den Fraktionen des Bundestages sehr verantwortlich zur Verfügung gestellt haben — , daß eine große Mehrheit unserer Bürgerinnen und Bürger, ja bis auf eine winzige Minderheit alle unsere Bürgerinnen und Bürger sich gesetzestreu verhalten und die notwendigen wenigen Daten geben werden. Wir in den Parteien, die sich für dieses Gesetz entschieden haben, setzen auf die Rechtstreue, auf die Gesetzestreue der Bürger. Wir haben guten Anlaß, auf die Gesetzes- und Rechtstreue der Bürger zu setzen. Wir setzen nicht auf Verfassungsbruch und Rechtsbruch.
Ich will Ihnen sehr deutlich sagen: Den gesetzeswidrigen und sozialschädlichen Ratschlägen der GRÜNEN wird durch die tatkräftige Bereitschaft der Bevölkerung zur Mitarbeit bei der Volkszählung eine klare Absage erteilt werden.Ich danke an dieser Stelle auch den Vieltausenden von Zählern, die sich in diesen Tagen informieren lassen, die zu den Haushaltungen gehen und die die Angaben für verantwortliche Politik in unserem Land erfragen werden.Wir werden bis zu den Tagen, an denen sich die Volkszählung vollzieht, weiter werben. Das ist nicht irgendwie eine leichte Propaganda, sondern das ist die Information der Mitbürgerinnen und Mitbürger über das, was notwendig ist, ist die Information über den Datenschutz, ist die Information, was für ihre Zukunft geschehen soll. Ich bin fest überzeugt, daß diese große Aufgabe, daß diese Volkszählung, daß das, was wir in unserem Parlament mit großer Mehrheit beschlossen haben, von den gesetzestreuen Bürgern auch mit ganz überwältigender, mit ganz großer Mehrheit zum Wohle unseres Landes durchgeführt wird. Ich rufe die Bürgerinnen und Bürger auf, uns zu helfen, dieses Gesetz zum Wohle des Landes durchzuführen!Herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, interfraktionell ist beantragt worden, gemäß § 81 unserer Geschäftsordnung unmittelbar in die zweite Beratung einzutreten. Kann ich davon ausgehen, daß das Haus damit einverstanden ist? — Danke schön. Dann ist dies mit der erforderlichen Mehrheit, sogar mit absoluter Mehrheit, der Anwesenden so beschlossen.
Wir kommen dann zur Aussprache in der zweiten Beratung. Es soll sich, wie vorher, eine Debattenrunde anschließen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wüppesahl.
Viel abzuarbeiten habe ich auf Grund der mangelnden Qualität meiner drei Vorredner zum Glück nicht.
Aber trotzdem — einige kurze Bemerkungen auch dazu:Herr Gerster, Sie halten hier erneut ein intensives Plädoyer für die Mehrheitsentscheidungen. Ich sage Ihnen: Gerade an diesem Beispiel des Volkszählungsgesetzes können wir in der Bundesrepublik als kritische Bürger endlich einmal den Minderheitenschutz praktizieren, indem wir unsere Rechte selbst in die Hand nehmen.
Herr Conradi, Sie haben für die SPD-Fraktion wiederum ein klassisches Beispiel nicht nur für den Eiertanz, den Ihnen die CDU-Fraktion vorgehalten hat, geliefert, sondern Sie haben ganz einfach vorgeführt, wie bei Ihnen vorgegangen wird: sie denken Links und handeln Rechts!
Denn was Sie an Kritik alles ausgeführt haben, im besonderen die Ablehnung der Kriminalisierung der Boykotteure und Boykotteurinnen, muß Sie zwingend dazu veranlassen, Ihr Veto gegen dieses Gesetz einzulegen.
Solange Sie zustimmen, nehmen Sie mit in Kauf, was zur Zeit passiert.Für das, was alles im Land passiert, beispielhaft nur folgendes: Heute morgen in Bonn; vier nette Herren in der Wohnung eines Boykotteurs; Beschlagnahme von 28 Flugblättern — sehr „erfolgreich" bei der Auflage von 100 000. Jetzt in diesen Stunden wird in Mainz eine Durchsuchung ohne Durchsuchungsbefehl mit einer konstruierten Gefahr im Verzuge durchgeführt.So erleben wir das tagtäglich. In Berlin vor zwei Tagen vier Festnahmen einschließlich ED-Maßnahmen; drei weitere Festnahmen einschließlich ED- Maßnahmen auf Grund der Verteilung von Flugblättern. Das ist, was Sie in der Konsequenz zur Zeit mittragen.
Zu Herrn Hirsch, meine ich, bedarf es keiner weiteren Begründung. Ihr Beitrag, Herr Hirsch, das war ein Hirsch. Bei Herrn Waffenschmidt erspare ich mir völlig eine Bewertung.Ich halte es für viel wichtiger, positiv aufzuzeigen, wie weit der Boykott vorangeschritten ist: Verwaltungsgericht Gießen, 2. April 1987: Ein Zähler setzt erfolgreich durch, daß er nicht zählen braucht.Verwaltungsgericht Koblenz, 14. April 1987: Gleichfalls setzt ein Zähler durch, daß er nicht zählen braucht.30. April 1987, Verwaltungsgericht Sigmaringen:
— Darf ich um etwas mehr ruhe im Saal bitten,
das ist ein ja permanentes Dazwischenreden.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987 613
Ich bemühe mich sehr oft darum, nicht nur an einer Seite.
Eine Bürgerin setzt durch, daß sie den Gebäudebogen nicht auszufüllen braucht.Am 3. April 1987, Verwaltungsgericht Darmstadt, bestätigt vom Verwaltungsgerichtshof Kassel: daß ein Info-Tisch aufgebaut werden darf, der auch für den Aufruf zum Boykott da ist.
In Friedrichskog setzt ein Bürger im Widerspruchsverfahren durch, daß er sich an der Gebäudevorerhebung nicht zu beteiligen braucht. Aber was passierte dann? Die Erhebungsstelle gibt die ganze Korrespondenz an den Bürgermeister — ein Beispiel, wo eindeutig verfassungswidrig vorgegangen worden ist.
Ich möchte Ihnen noch etwas zur Erinnerung aus der Anhörung des Innenausschusses vom 17. April 1985 vorlesen. Ich zitiere Professor Krause, der die Vorgaben, die das Verfassungsgericht erstellt hat, als „Traumtänzerei" in der Praxis dargestellt hat. Professor Krause ist ein vehementer Befürworter dieser Volksaushorchung. Er sagte:Mein Ort hat einen einzigen Verwaltungsmann. Das ist der Bürgermeister. Da soll nun eine organisatorische und verwaltungsmäßige Trennung durchgeführt werden. Vielleicht macht es die Verbandsgemeinde. Aber die zehn Mann, die dort die Verwaltungsarbeit machen, kenne ich auch. Versuchen Sie das mal organisatorisch und personell zu trennen.Und was bedeutet das, wenn ich einen Mann hauptamtlich abstelle? Der macht das ein halbes Jahr lang, vielleicht ein Dreivierteljahr. — Was tut er dann? Vielleicht können Sie ihn im Anschluß einer Gehirnwäsche unterziehen. Er könnte auch aus dem Staatsdienst entfernt werden, vielleicht pensioniert werden.Das ist genau die Situation, die wir zur Zeit in allen Flächenländern vor uns haben, und das bekommen die Bürger und Bürgerinnen mit. Glauben Sie nicht, daß dafür nur der wissenschaftliche Habitus des Professors Krause nötig ist. Der gesunde Menschenverstand der Staatsbürger und -bürgerinnen in diesem Lande wird den meisten sagen, daß genau das der Fall ist, daß ihre Daten nicht geschützt sind, daß sie ihre Daten nur selbst schützen können, indem sie den Erhebungsbogen nicht ausfüllen werden.Weitere Beispiele, was tatsächliche Praxis ist: Wuppertal: Gebäudeerhebungsbögen werden zur Komplettierung an das Amt für Bauförderung und Wohnungswesen weitergereicht; ebenso in Elmshorn. In München werden Polizisten als Zähler eingesetzt.
In Hamburg und in anderen Ländern sind die Namenund Hilfsmerkmale in großen Rechenzentren zusammen mit anderen Daten gespeichert. Eindeutig verfassungswidrig!In diversen Städten in Baden-Württemberg und anderswo wird mit PC's gearbeitet, ohne EDV-Organisations- und Datensicherungskonzepte. Klare Verfassungswidrigkeit! Die Belehrung auf Vordrucken führt insofern auch immer noch in die Irre.In Hamburg und anderen Ländern werden Zähler zum Zählen in der Nähe ihrer Wohnung eingesetzt. Wieder ein Verstoß gegen die Leitlinie des Verfassungsgerichtsurteils.In Hamburg, Baden-Württemberg und anderen Ländern sind die Datenschutzbeauftragten nicht an den Datenverarbeitungskonzepten beteiligt worden.In Ravensburg und Überlingen werden Meldeamtsleiter als Erhebungsstellenleiter, in Lauenburg wird der Sozialamtsleiter als Mikrozensuszähler eingesetzt.In Hamburg werden 40 000 Namen an das Statistische Landesamt übermittelt, obwohl nur 13 000 Zähler erforderlich sind.In Hamburg wird auch das Datengeheimnis gebrochen, da die Zählereinwände von den Dienststellenleitern gelesen worden sind.Da wollen wir uns hier noch ernsthaft darüber streiten, ob dieses Gesetz verfassungsgemäß oder verfassungswidrig ist? Lassen Sie uns das strittig im Raum halten.
Klar ist, daß die Durchführung eindeutig verfassungswidrig ist.
Jetzt noch einige wenige andere Aspekte. Wir haben erlebt, wie das Zentralverkehrsinformationssystem in Flensburg per Knopfdruck mit einem einfachen Gesetz, legal, also, plötzlich den Sicherheitsorganen per Online-Verfahren zur Verfügung gestellt wurde. Auch gestern mochte der Innenminister Zimmermann auf meine Frage nicht antworten, wer uns die Garantie gibt
oder ob er oder andere sie geben kann, daß über ein solches Gesetz im Nachhinein zur Durchführung der Volkszählung diese ganzen Datensätze, nicht den Sicherheitsorganen zur Verfügung gestellt werden können. Über ein Zusammenarbeitsgesetz oder andere legalistische Grundlagen.Genau dafür haben wir wiederum eine Fülle von Beispielen. Der pensionierte Bundeskriminalamtsleiter Herold hat das ausgeführt: Über zehn große Datensätze wurden Mitte der 70er Jahre illegal zum Abgleich für die Durchführung der Rasterfahndung benutzt..
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614 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987
WüppesahlDa wollen Sie uns oder den Bürgern draußen einreden: Wir sollen Vertrauen haben. Genau das Gegenteil ist angesagt: Das Mißtrauen muß um so größer sein nach den Erfahrungen, die wir gesammelt haben.
Was in der aktuellen Diskussion völlig unterbelichtet ist.
Herr Kollege, darf ich vorher einmal fragen, ob Sie eine Zwischenfrage zulassen.
Wenn das von der Zeit nicht abgerechnet wird, ja.
Nein, das wird Ihnen nicht abgerechnet, Herr Abgeordneter.
Herr Abgeordneter, wenn ich Ihnen zum wiederholten Male zuhöre, stellt sich mir als Ihr
— ich muß das bedauern — ehemaliger Berufskollege die Frage, wie Sie Ihr ganzes Gequäke gegen diesen Rechtsstaat eigentlich in Einklang bringen wollen mit Ihrem Diensteid, den Sie seinerzeit einmal in einem Bundesland in der Bundesrepublik Deutschland geleistet haben?
Darf ich einmal sagen, daß „Gequäke" kein schöner Ausdruck ist? Ich rüge dieses.
Sie haben das Wort, bitte.
Wenn das möglich ist, gerne.
— Ich finde diese Frage durchaus berechtigt, und ich kann Ihnen dazu nur sagen, daß gerade sowohl in meiner Eigenschaft als jetzt im einstweiligen Ruhestand befindlicher Polizeibeamter des Landes Hamburg als auch als Abgeordneter des Deutschen Bundestages aus meiner Sicht die Pflicht besteht, gegen dieses Gesetz Sturm zu laufen, und auch aufzufordern, diesen Vorgaben nicht zu folgen.
Zivil-militärische Zusammenarbeit wird wirklich in der aktuellen Diskussion völlig unterbelichtet. Nicht ohne Grund ist Herr Hölder jetzt der Präsident des Statistischen Bundesamtes. Er war bis vor vier Jahren Leiter der Zivilschutzabteilung im Innenministerium. Herr Hölder weiß ganz genau, was man mit all diesen Daten mit Hilfe der Statistiker zaubern kann.
Am letzten Montag hatte ich die Gelegenheit, mit dem Leiter der Durchführung der Volkszählung in Schleswig-Holstein eine Diskussion zu führen. Wenn Sie uns dauernd erzählen wollen, wir würden die Menschen draußen irreführen, dann berichte ich Ihnen, was nach der sehr deutlichen Aussage dieses
Herrn passieren wird — Schleswig-Holstein ist ein CDU-regiertes Bundesland — : Es wird in SchleswigHolstein bei einem Boykott kein Bußgeld geben; es wird Zwangsgelder geben, 100 DM, 200 DM, 300 DM, Schluß.
Dazu kann ich Ihnen nur sagen: In diesem Land bekommen wir keine Demokratie zum Null-Tarif! Und ich kann nur hoffen, daß viele Menschen bereit sind, diesen Obulus für eine Verbesserung der demokratischen Kultur zu löhnen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Kühbacher?
— Ich bitte um Entschuldigung, ich habe das, worüber Sie sich so empören, nicht gehört. Ich werde das nachlesen.
Jetzt frage ich Sie, ob Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Kühbacher zulassen.
: Ich sehe, daß die Uhr weiterläuft — —
Nein, sie läuft nicht weiter, wenn Sie die Zwischenfrage zulassen.
Ich möchte sie nicht zulassen, weil ich jetzt zum Schluß kommen möchte.
Gleichzeitig wissen wir um die Begehrlichkeiten des Verfassungsschutzes und des Staatsschutzes. Wir wissen es aus Niedersachsen, wir wissen es vom Bundesamt, und wir wissen es vom Staatsschutz in Berlin. Mir kann doch niemand etwas erzählen. Ich weiß doch, welche Atmosphäre und welcher Geist bei den Polizeien herrscht. Die lecken sich doch die Finger danach, zur Durchführung ihrer verschiedenen Fahndungsmethoden an diese Daten zu kommen.
Wer in diesem Bereich den Bürgern blauäugig suggerieren möchte, daß der Datenschutz gesichert werden könne, der leitet tatsächlich irre, so wie Herr Waffenschmidt das ausgeführt hat.
— Ich möchte Ihnen zu diesen Kollegen doch einmal etwas sagen, jetzt einmal zu denen vom Verfassungs-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987 615
WüppesahlSchutz: Sie haben doch auch vor wenigen Tagen ein Informationsblatt, nämlich eine Studie des Verfassungsschutzamtes vom 10. April, bekommen. Darin sind so große Mängel, da wird mir schlecht.
Darin steht z. B., daß 14 Tage später ein Kongreß in Köln über den Volkszählungsboykott durchgeführt werden soll. — Nein, es steht nicht drin: in Köln, weil das Verfassungsschutzamt noch gar nicht wußte, wo er stattfindet.
Das war aber schon vier Wochen vorher bekannt. Darin steht beispielsweise, daß 400 VoBo-Initiativen existieren.
Ihre Redezeit ist beendet, Herr Kollege!
Über tausend existieren zu dem Zeitpunkt bereits. Verstehen Sie, das ist die Qualität dieser Sicherheitsorgane, die natürlich auf Grund des eingleisigen Denkens zustande kommt.
Ihre Redezeit ist beendet, Herr Kollege!
Letzter Satz — —
Nein, Ihre Redezeit ist beendet.
Ich will das gar nicht effektivieren — —
Nein, Ihre Redezeit ist beendet.
— — aber ich möchte Ihnen aufzeigen, wie absurd das ist, wenn Sie sich auf diese Information verlassen.
Ihre Redezeit ist beendet. Ich entziehe Ihnen das Wort. Nun hören Sie doch schon mal auf!
Danke.
Meine Damen und Herren, es macht mir wirklich keinen Spaß, hier so zu reagieren; aber leider ist das bei dieser Materie offensichtlich nicht zu umgehen.
Verehrter Herr Kollege Gerster, ich muß Ihnen einen Ordnungsruf erteilen. Sie haben einen Kollegen der Lüge bezichtigt. Dies ist nicht möglich in diesem Haus. Das müssen Sie dann schon anders formulieren.
Meine Damen und Herren, jetzt hat der Abgeordnete Fellner das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Wüppesahl, wenn ich so kaputt wäre wie Sie,
und wenn ich überall so viel Unrecht sähe wie Sie, und wenn ich mich so von dunklen Geistern verfolgt fühlte wie Sie,
dann würde ich auf gut bayerisch sagen: „mogst' ja nimma leben". Dann würde ich mich hinlegen und sterben und würde den Leuten nicht mehr auf den Geist gehen, geschweige denn als Gespenst erscheinen. Es reicht so auch schon, wie Sie uns hier erscheinen.
Meine Damen und Herren, man sollte nicht müde werden zu sagen und darauf hinzuweisen, was der eigentliche Skandal bei dieser Volkszählung denn nun wirklich ist. Der Bundestag hat vor einiger Zeit mit einer breiten Mehrheit nach sehr ausführlicher Diskussion ein Gesetz zur Durchführung einer Volkszählung beschlossen. Die Beratungen waren ganz besonders sorgfältig gewesen, nachdem das Bundesverfassungsgericht ein früheres Gesetz als rechtswidrig beurteilt hatte. Diese damals negative Entscheidung des Verfassungsgerichts war ergangen, weil wir mit dem früheren Volkszählungsgesetz gleichzeitig auch im Interesse der Gemeinden und Städte die Melderegister auf den aktuellen Stand bringen wollten.Das Verfassungsgericht hat aber damals gleichzeitig die Volkszählung für notwendig und zulässig erklärt und enge, detaillierte datenschutzrechtliche Kriterien für die Durchführung aufgestellt. Das Verfassungsgericht — ich darf jetzt ein paarmal aus dem Volkszählungsurteil zitieren — hat gesagt:Wenn die ökonomische und soziale Entwicklung nicht als unabänderliches Schicksal hingenommen, sondern als permanente Aufgabe verstanden werden soll, bedarf es einer umfassenden, kontinuierlichen sowie laufend aktualisierten Information über die wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Zusammenhänge.Frau Schmidt-Bott, genau das haben Sie vorhin, als Sie uns vorwarfen, wir wollten das wissen, schlicht als Volksverdummung bezeichnet. Damit wird gleichzeitig deutlich, wie Sie verfassungsmäßige Organe in unserem Staat einschätzen. Sie haben das, was das Verfassungsgericht ausdrücklich fordert und für zulässig erklärt, als Volksverdummung bezeichnet.Sie haben — damit greife ich ein paar Argumente, die ständig in der Diskussion gebracht werden, auf, auch wenn sie wirklich abwegig sind — gleichzeitig auch gesagt, es sei nicht notwendig, eine Volkszählung, eine umfassende Erhebung durchzuführen. Auch dazu hat das Verfassungsgericht etwas gesagt: „Eine Totalerhebung ist die einzige Methode, die mit hinreichender Genauigkeit Ergebnisse als Basismaterial liefern kann. "
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616 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987
FellnerDamit hat das Verfassungsgericht gleichzeitig die Argumente, die auch gebracht werden, vom Tisch gewischt: Man könnte die benötigten Daten aus Stichprobenerhebungen gewinnen oder aus anderen vorhandenen Registern zusammentragen. Ich möchte Ihnen gleich auch noch eine Illusion rauben. Das Verfassungsgericht hat damals, als es die Volkszählung an sich für zulässig erklärte, auch gesagt, das Volkszählungsgesetz 1983 verpflichte in § 5 die Beschwerdeführer unter Androhung einer Geldbuße zur Auskunft. Dann sagt es weiter: „Diesen Informationseingriff hat der Auskunftspflichtige hinzunehmen." Das Verfassungsgericht hat also ausdrücklich auch die Androhung und damit natürlich auch die Durchsetzung eines Bußgeldes für Verweigerer gebilligt.DIE GRÜNEN haben — darauf ist schon hingewiesen worden — ausdrücklich darauf verzichtet, das jetzt gültige Gesetz vor dem Verfassungsgericht anzufechten. Das wäre bei der Sachlage wohl auch aussichtslos gewesen. Das mag zwar manchen überraschen, wer aber die eigentlichen Absichten der GRÜNEN und der zum Teil dahinter stehenden linksextremistischen Organisationen kennt, wundert sich gar nicht.
— Weil Sie es immer noch nicht verstehen, stelle ich es Ihnen gerne noch einmal dar. Sie wissen ohnehin, was Sie treibt, diese Kampagne zu führen. Die Bürger sollen es auch wissen, vor allen Dingen diejenigen, die Sie mit Ihrer Kampagne ins Unglück stürzen wollen. Darum sage ich es noch einmal: Die eigentlichen Absichten, die dahinter stehen, sind ganz andere.Die GRÜNEN wissen, daß sie das Recht brechen. Sie benutzen den Rechtsbruch als Mittel der politischen Auseinandersetzung. Kein Bürger sollte sich meines Erachtens dafür einspannen lassen.
Sie tun das, weil Sie sich auf dem demokratischen, auf dem parlamentarischen Weg nicht durchsetzen können, auch das gestehen Sie ein.
Sie wollen Ihren Willen als Minderheit auf anderen Wegen durchsetzen.Deshalb muß man Sie natürlich fragen, was Sie denn eigentlich täten, wenn Sie die Mehrheit hätten. Sie würden die Volkszählung natürlich abschaffen — das ist richtig — , aber Sie würden auch die demokratischen Spielregeln und den Rechtsstaat abschaffen. Wie man ein solches Verhalten klassifiziert, ist in Deutschland meines Erachtens sehr wohl bekannt.
Nun auch noch ein Wort zur SPD. Ich möchte mich zunächst —
— Sie wissen es.
Ich möchte noch ein Wort zu den Kollegen der SPD sagen. Ich möchte mich zunächst bedanken bei den sachlich und fachlich kompetenten Kollegen — das ist eine durchaus beachtliche Zahl — , die nach wie vor zur Sache stehen. Ich zähle den Kollegen Conradi ausdrücklich nicht dazu. Wenn man den Antrag der SPD anschaut und gehört hat, mit welchen Verrenkungen er hier gesprochen hat, muß man sagen: Seine Rede ist sicherlich der Preis dafür, daß Sie nicht bereit sein konnten, mit uns gemeinsam einen Antrag vorzulegen und zu beschließen.
Ich bedauere das um so mehr, als wir Ihnen einen Antrag vorgelegt haben, der identisch ist mit dem, was die Innenministerkonferenz der Bundesländer erst kürzlich verabschiedet hat, und zwar auch mit den Stimmen der SPD. Das ist Ihnen sicherlich nicht verborgen geblieben.Ich meine, es ist schlimm, daß die Realitätsferne bei der SPD dort am ärgsten ist, wo die Verantwortung für unseren Staat und unsere Gesellschaft eigentlich am größten sein müßte. Ich möchte es fast als eine Art Todestrieb einer Partei bezeichnen, der sie trotz aller widrigen Erfahrungen der letzten Zeit und auch trotz besserer Einsichten in ihren Reihen den GRÜNEN immer wieder hinterher- und in ihr eigenes Unglück laufen läßt. Ich kann es wirklich nur als Anbiederung an die GRÜNEN und die Boykottgegner werten, wenn Sie in der Ziffer 4 Ihres Antrags jetzt unterschwellig doch wieder auf Argumente der Gegner eingehen.Ich meine, es wäre, wenn die Volkszählung schon ständig in völlig abwegiger Art und Weise mit den noch nicht ausgearbeiteten Datenschutzgesetzen oder, wie seitens der GRÜNEN geschehen, mit den Sicherheitsgesetzen in Verbindung gebracht wird, angemessen gewesen, dann auch einmal die eindeutige Lage darzustellen. Das Volkszählungsgesetz selbst schließt eine Übermittlung von Daten für nichtstatistische Zwecke aus; das steht im Gesetz. Daß Sie meinen, darüber werde sich jemand hinwegsetzen, zeigt nur, daß Sie offenbar der Ansicht sind: Alle Leute denken so, wie Sie es machen. Sie setzen sich über Gesetze hinweg. Aber wir haben keinerlei Anlaß, den Leuten, die mit der Durchführung der Volkszählung befaßt sind, die gleiche verwerfliche Gesinnung zu unterstellen, die Sie an den Tag legen. Und es darf keine Bundes- und Landesbehörde im Bereich der öffentlichen Sicherheit auf diese Volkszählungsdaten zugreifen; das steht im Volkszählungsgesetz. Und in den Entwürfen zu den Sicherheitsgesetzen steht, daß eine Übermittlung dieser Daten untersagt ist, soweit ihr besondere gesetzliche Übermittlungsregelungen entgegenstehen. Und genau diese gesetzliche Übermittlungsregelung, die entgegensteht, ist im Volkszählungsgesetz enthalten.
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FellnerRechtlich ist ein Datenmißbrauch also absolut abwegig.
Es kann nur funktionieren, wenn Sie den Bürgern die gleiche verwerfliche Gesinnung unterstellen, die Sie selber haben.Ich darf deshalb noch einmal ausdrücklich um Vertrauen für die mit der Durchführung der Volkszählung befaßten Bürger bitten. Sie haben es verdient, daß wir ihnen trauen, abgesehen von den von Ihnen schon apostrophierten und angekündigten „U-Booten". Aber auch diese werden es nicht schaffen, den Erfolg der Volkszählung zu verhindern.Lassen Sie mich abschließen und ausnahmsweise einmal den Bundespräsidenten hier in Anspruch nehmen. Er hat vor dem Statistischen Bundesamt im Oktober des vergangenen Jahres gesagt — ich zitiere ihn —:Wenn der Bürger möchte — und darauf hat er Anspruch —, daß die Bundesregierung, die Landesregierungen und die kommunalen Selbstverwaltungsorgane in durchsichtiger, nachprüfbarer, auf objektiven Daten beruhender Weise Politik machen, dann ist es in seinem ureigensten Interesse, seinerseits mit dazu beizutragen, daß die statistischen Unterlagen dafür auch zur Hand sind.Und dies wollen wir mit der Volkszählung. Danke schön.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Wartenberg .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Diskussion um die Volkszählung ist längst zu einem Glaubenskrieg geworden, sie ist zu einem Schaukampf entartet. Robert Leicht hat in der „ZEIT" geschrieben:Manchmal drängt sich der Eindruck auf, die Deutschen hätten, wenn es um das Verhältnis zu ihrem Staat geht, entweder das Maul oder die Hosen zu voll — oder beides zugleich wie in diesem Fall. Der Agitationskampf um die Volkszählung nimmt sich aus, als wollten die Wortführer — kompensatorisch überreizt und anmaßend — nachholen, was unsere Ahnen an bürgerlich stabilem Selbstbewußtsein haben vermissen lassen.
Ich glaube wirklich, es ist eine sehr deutsche, unangenehm deutsche Diskussion, vor allem, wenn man es mit dem vergleicht, was es an wirklichen Problemen in dieser Gesellschaft gibt: Arbeitslosigkeit, Umweltschutz, Abrüstung, worüber wir heute morgen diskutiert haben.
Es ist schon fast wahnwitzig, in welcher Hysterie eine eigentlich normale Sache wie eine Volkszählung hier plötzlich übersteigert diskutiert wird.
Volkszählung gibt es in allen Ländern dieser Welt; das ist eine Übereinkunft.
In keinem Land der Welt gibt es eine solche Diskussion.
— Informieren Sie sich!
Es geht bei der Volkszählung nicht nur darum, Planungsgrundlagen zu bekommen, sondern es ist noch viel simpler: Eine Gesellschaft versucht, sich zu einem bestimmten Stichtag ein relativ genaues Bild über sich selbst zu machen. Das ist ein normaler Vorgang; denn jede Gesellschaft muß den Anspruch haben, über sich selbst einigermaßen genau Bescheid zu wissen. Das heißt: Die Erkenntnisse, die die Volkszählung bringt, schaffen nicht per se einen Erkenntnisvorsprung für irgendeine Verwaltung oder Regierung,
sondern sie sind eine Arbeitsgrundlage für die gesamte jeweilige Gesellschaft.
Denn diese Zahlen sind öffentliches Gut. Das ist ja das Besondere der öffentlichen Statistik.
Wir alle, nicht nur die Verwaltung, sondern unsere Gesellschaft, braucht sie nicht nur in politischen, sondern in allen gesellschaftlichen Prozessen.
Wenn ich mich mit der Kritik an der Volkszählung auseinandersetze, weiß ich sehr wohl zu differenzieren. Auf der einen Seite ist die Fraktion oder Partei der GRÜNEN, die einen allgemeinen politischen Anspruch hat, an dem sie sich, auch bezogen auf den Volkszählungsboykott, den sie ausruft, messen lassen muß. Auf der anderen Seite sind die Bürger, die mehr aus allgemeinem Mißtrauen über den Gebrauch von Daten mit den modernen Mitteln der Technologie Unbehagen und Mißtrauen in starkem Maß zum Ausdruck bringen.Ich setzte mich zunächst mit Ihnen auseinander.Ein großer Teil Ihres parlamentarischen Wirkens — Herr Waffenschmidt hat darauf hingewiesen — , ein großer Teil Ihrer parlamentarischen Arbeit sind Anfragen nach Statistiken und Daten. Aus diesem Widerspruch kommen Sie nicht heraus.
Es gibt einen ganz besonders peinlichen Vorgang in Berlin. Die Abgeordneten aus der Fraktion der AL hatten eine Anfrage nach sensiblen wichtigen politischen Daten gestellt. Der Senat von Berlin antwortete:
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618 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987
Wartenberg
Es tue ihm leid; diese Daten dürfe der Senat weder erheben, geschweige denn an die AL weitergeben, und zwar gemäß dem Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts. Wahrscheinlich wollte die AL in Wirklichkeit die Daten gar nicht wissen, sondern nur einmal prüfen, ob sich der Senat verfassungsgemäß verhält.
Sie fragen pausenlos nach diesen Daten und verweigern auf der anderen Seite sogar den Ansatz der Erhebung von Daten. Das ist Ihre Schizophrenie.
Ich sage Ihnen, das ist fast schon ein Krankheitsbild; eine fundamentalitische Schizophrenie.
Ein weiterer Kritikpunkt ist, daß in Ihrer Argumentation und Ihren Boykottaufrufen der Widerstandsbegriff verwendet wird, besonders von Frau Schmidt-Bott. Der Begriff Widerstand verkommt, wenn Sie ihn in diesem Zusammenhang benutzen.
Schämen Sie sich eigentlich nicht, den Widerstand von Gandhi gegen ein kolonialistisches Regime auf die Volkszählung zu übertragen?
Es ist unglaublich, mit welcher Schamlosigkeit historische Begriffe in diesem Zusammenhang benutzt werden.
Darüber denken Sie bitte auch einmal in anderem Zusammenhang nach, wenn wir wirklich gegen etwas ankämpfen müssen, wenn der Rechtsstaat wirklich in Gefahr ist.
Ich meine, Diskussion und Kritik an der Volkszählung enthalten auch einen anderen Widerspruch. Bei der Volkszählung tritt der Staat dem Bürger offen gegenüber. Haben Sie eigentlich das Urteil des Bundesverfassungsgerichts einmal gelesen? In dem Urteil steht ausdrücklich, daß der Bürger wissen muß, wer was wann warum über ihn erhebt. Es gibt keinen Bereich in der Datenerhebung, wo er das so genau weiß, wie bei der Volkszählung. Es gibt gar kein anderes Instrument, wo der Staat nach den Grundsätzen der informationellen Selbstbestimmung dem Bürger offener gegenüber tritt. Das ist der Widerspruch. Seine Offenheit ist seine Schwäche. Und die nützen Sie aus.
Merken Sie eigentlich nicht, daß Sie, wenn eine offene Abfrage nicht mehr funktioniert, Sie die Legitimation dafür geben,
daß dann ein Abgleich von abgeschotteten Datenbeständen vorgenommen wird, das, was das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich verboten hat? Das Verfassungsgericht bezeichnet dies als das größere Übel und die offene Erhebung gegenüber dem Bürger als die bessere Lösung. Wissen Sie eigentlich um diesen Widerspruch? Wissen Sie eigentlich, daß Sie an der falschen Front kämpfen?Ich muß sagen: Mich erbittert das deswegen so, weil wir überall, bei ZEVIS, beim maschinenlesbaren Personalausweis, wo Daten verdeckt erhoben werden, so schwer kämpfen müssen. Und in dem Bereich, wo der Staat offen ist, kämpfen Sie dagegen, aber nicht deswegen, weil es besonders gefährlich ist, sondern weil es so einfach ist.
Das ist das Problem. Es ist eine rein taktische Auseinandersetzung. Sie haben taktisch die Volkszählung instrumentalisiert.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Wüppesahl?
Nein. Meine Zeit ist gleich zu Ende. Vielen Dank. Ich verzichte. Auch Sie haben nicht alle Zwischenfragen zugelassen.
Lassen Sie mich, nachdem ich mich mit dem politischen Anspruch der Fraktion DIE GRÜNEN auseinandergesetzt habe, auf die mißtrauische und kritische Grundstimmung eingehen, die viele Bürger zur Volkszählung haben. Diese kritische Haltung rührt nicht so sehr aus der Volkszählung selber her, sondern vielmehr aus Gesetzen wie im Sicherheitsbereich, in denen Datenschutzbelange nicht richtig berücksichtigt worden sind und den Bürger in das Gefühl treiben, daß mit seinen Daten Mißbrauch getrieben wird, ohne daß eine wirksame Kontrolle greifen kann. Die Angriffe auf die Datenschutzbeauftragten aus der konservativen Ecke verstärken zu Recht den Eindruck dieser Bürger. Diesem Gefühl, das die Bürger haben, ist permanent durch den Innenminister, durch seinen Staatssekretär Spranger und viele andere aus der konservativen Ecke Vorschub geleistet worden.
Wer immer wieder den Datenschutz als Täterschutz disqualifiziert, wer Datenschutz gegen Sicherheitsinteressen ausspielt, der muß sich nicht wundern, nein, der ist verantwortlich dafür, wenn das Mißtrauen in dieser Gesellschaft wächst.
Insofern ist die Bundesregierung für die Emotionen,die die Volkszählung hervorruft, mitverantwortlich,
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Wartenberg
wenn auch die datenschutzrechtlichen Bedenken bei der Volkszählung gerade nicht gerechtfertigt sind.
Die vertrauensbildende Maßnahme war gefragt, nicht das Muskelspiel und das Keulenschwingen nach allen Seiten.Ich fordere die Bundesregierung dringend auf, dafür zu sorgen, daß der Rechtsstaat auch bei Verstößen gegen die Volkszählung eine noble, liberale Rechtshaltung behält.
Dies macht die Qualität des Rechtsstaates aus. Wir Sozialdemokraten lehnen den Gesetzentwurf der GRÜNEN ab und auch jede Boykottmaßnahme.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Kleinert .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Herzog Alba als Statthalter in den Niederlanden hat dafür gesorgt, daß dort — ich verdanke diese Weisheit meinem Freund Burkhard Hirsch — diese halben Gardinen eingeführt worden sind, damit er immer wußte, wenn sich mehr als drei Holländer versammeln und eventuell etwas gegen die spanische Herrschaft aushekken.
Wir Liberalen bemühen uns, auch aus der Geschichte etwas zu lernen. Ich wollte Ihnen nur sagen: Wir sind sehr bewußt im Hinblick auf Datenschutz. Deshalb finden wir es um so merkwürdiger — da kann ich mich den Worten meines Herrn Vorredners nur anschließen — , daß wir uns heute hier mit diesem eigentümlichen Antrag befassen müssen.
Wenn man sich von einer Welt von Feinden umstellt fühlt und wenn man glaubt, man wäre von allen möglichen bösen Mächten umzingelt, dann mag ja eine Situation entstehen, in der man schier den Verstand zu verlieren glaubt. Ich habe inzwischen den Eindruck: Das ist auch so passiert;
denn es besteht nun wirklich keine Veranlassung. Sehr nett wäre es z. B. gewesen, wenn irgend jemand von den Antragstellern einmal versucht hätte, an Hand des Fragebogens der Frage nachzugehen, was denn hier wo welche Ängste einigermaßen berechtigterweise hervorrufen können sollte.
Das machen Sie ja gar nicht. Sie sind diese Strahlenleute: Alles, was man nicht sehen kann, was möglichst
unheimlich ist, was Ängste erweckt, da hauen Sie sich drauf.
Wenn es in einem Jahr das Waldsterben gewesen ist, dann vergessen Sie das nach Tschernobyl und wenden sich gegen Atomkraftwerke, obwohl nun einmal feststeht, daß das Waldsterben allerdings durch andere Sorten von Kraftwerken eher begünstigt wird als ausgerechnet durch Atomkraftwerke.
Nun sind Sie mit den beiden Dingen nicht mehr so ganz in der Mode, deshalb haben Sie sich ausgerechnet diese Volkszählung ausgesucht. Ein sehr bedenklicher Vorgang.
Viele Bürger fragen sich: Was sind denn das für Leute, diese GRÜNEN? Was haben sie für Motive? Was versuchen sie, um Wähler zu gewinnen? Worauf wollen sie hinaus? Wie machen sie das so? Darüber wird noch einige Zeit nachgedacht werden, bis es dann vorbei ist.
— Nein, Herr Kleinert, ich weiß das nicht, sondern ich denke immer wieder darüber nach. Ich höre Ihnen auch aufmerksam zu
und versuche, das herauszufinden. Einen Teil Ihres Geschäftsgeheimnisses habe ich erkannt: Eine Sache muß möglichst unheimlich und unklar sein, damit man mit voller Wucht das Demagogische daraus herleiten kann, damit man, ohne irgend etwas beweisen zu müssen, Stimmungen erregt. Und jetzt sind wir genau an dem Punkt: Es geht hier darum, daß man Zahlen bringt, daß man eine Buchhaltung unseres Staates und unserer Volkswirtschaft aufstellt.
Das allerwichtigste für ein gesundes Unternehmen ist eine gesunde Buchhaltung. Die schwachen Erben können ein Unternehmen ruinieren, denn sie haben nicht mehr die Tatkraft der Gründer. Ein von den richtigen Leuten auf geschickte demagogische Weise zusammengebrachter Betriebsrat kann ein Unternehmen auch ruinieren. Ich glaube allerdings, daß unsere Gewerkschaften normalerweise sehr vernünftige Menschen dahinschicken, ich möchte da gar keinen Irrtum entstehen lassen.
Bei Personalräten habe ich übrigens bedeutend mehr Sorgen als bei Betriebsräten; das will ich hier nicht weiter ausführen.
So, auf diese Weise kann man also ein Unternehmen ruinieren. Aber die sicherste Weise ein Unternehmen zu ruinieren, ist, wenn man seine Zahlen nicht in Ord-
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Kleinert
nung hat und die Fakten nicht kennt, auf denen sich Entscheidungen aufbauen müssen
Das Gewinnen solcher Fakten in einem ungewöhnlich bescheidenen Maße wollen Sie dem Staat verwehren, nur damit Sie gegen diesen Staat antreten und wieder einmal versuchen, Emotionen zu erwekken.
Ich habe die frohe Hoffnung, daß die konservativen Leute, die Ihre ökologischen Überlegungen teilen, daß vielleicht sogar die mehr sozialdemokratischen Leute, denen die SPD irgendwann einmal etwas zu langweilig bei der Durchsetzung gewisser Dinge gewesen ist, und die sich deshalb Ihnen, den GRÜNEN, zugewendet haben, an diesem Beispiel erkennen, daß eine Firma, die noch nicht mal bereit ist, ihr Minimum an Buchhaltung in Ordnung zu halten, mit Sicherheit nicht in der Lage ist, irgend etwas zugunsten von irgend jemandem, dessen Interessen zu vertreten sie vorgibt, zu bewegen. Das ist absolut unmöglich.
Sie versuchen, den ganzen Laden mieszumachen. Wie lange soll denn das gehen? Glauben Sie ernsthaft, daß in der Welt, in der wir leben — Herr Hirsch hat dazu vorhin auch schon etwas gesagt — , unsere Bürger Ihnen längere Zeit abnehmen, sie lebten hier in einem Tal des Jammers und des Elends, nur weil Sie ihnen das immer wieder erzählen? Dazu kann man sich in diesem Lande zu leicht Flugtickets oder Eisenbahnfahrkarten kaufen, um zu wissen, daß diese Ihre Vermutungen über das Elend in diesem Lande nicht zutreffen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Sellin?
Ich bitte darum.
Wie steht es eigentlich um die Bereitschaft der Selbständigen, des Mittelstandes und der Unternehmen, dem Statistischen Bundesamt weitere Daten offenzulegen über ihre Unternehmensstatistik, damit die Erlangung differenzierter Zahlen über die Entwicklung der Wirtschaft möglich wird? Wie steht es denn da um die Bereitschaft?
Ich habe noch nie gehört, daß es irgendwelche Bedenken der beteiligten Kreise gegeben hätte, ihrerseits die nötigen Zahlen herzugeben, zumal wenn sie so sorgfältig behandelt werden, wie sie behandelt zu werden pflegen. Ich habe davon noch nichts gehört.
— Das ist ja nun wieder eine ganz andere Frage.
Lieber Herr Roth, ich habe vorhin den Herzog Alba erwähnt. Natürlich fängt die Sache mit den Gardinen bei den Bilanzen an, das ist doch ganz klar. Muß ich denn die deutsche Wirtschaft zum Ausverkauf feilbieten, und zwar genau den Mittelstand für die Großunternehmen? Sind Sie nicht diejenigen, die gegen die Konzerne wettern? Da mache ich doch lieber die Gardine etwas mehr zu.
Wir wollen die Zahlen haben, die ganz dringend und unbedingt notwendig für unsere staatliche und volkswirtschaftliche Leistung gebraucht werden. Aber wir wollen alles andere möglichst geheimhalten, so daß gewährleistet ist, daß man nebenbei auch noch Mensch bleiben kann.
Ich möchte Ihnen einmal einen Antrag zur Kenntnis geben, der kürzlich hier im Hause behandelt worden ist, und zwar vom 27. März dieses Jahres:Wir fragen deshalb die Bundesregierung:1. Hat die Bundesregierung eine zahlenmäßige Aufstellunga) über die Anzahl der betroffenen Wohnungen, die nach diesem Verfahren mit Ziegelsplitt als Zuschlagstoff zum Beton erbaut wurden,b) in welchen Städten sich diese Häuser befinden,c) bei welchen dieser Städte es sich um „Gebiete mit erhöhtem Wohnungsbedarf" handelt,d) über die Verteilung der Häuser bzw. Wohnungen auf private und gemeinnützige Eigentümer,e) über die Anzahl der sanierungsfähigen Wohnungen und die dabei anfallenden Kosten,f) über die Anzahl der abrißbedrohten Wohnungen und die notwendigen Kosten für Ersatzbau?Das ist ein Antrag der Fraktion „DIE GRÜNEN"!
Irgendwo muß ja wohl in der Sache eine gewisse Logik bleiben.
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Deshalb frage ich Sie, ob Sie eine Frage zulassen.
Danke, nein. — Ach, Herr Kleinert! Bitte schön, wir als Vettern.
: Herr Kollege Kleinert, ist Ihnen bekannt, daß nach diesen Sachverhalten in den Volkszählungsbögen gar nicht gefragt wird?
Es ist mir bekannt, Herr Kollege Kleinert, daß in den Fragen nach den Wohnungsverhältnissen eine Fülle von Material enthalten ist, auf dem man eine vernünftige Statistik zu den von Ihnen an die Bundesregierung gestellten Fragen überhaupt erst aufbauen kann.
Diese Gelegenheit benutze ich gerne, um Ihnen zu sagen: Der dauernd hörbare Hinweis, man brauche ja gar nicht so eine umfassende Volkszählung, weil man ja auch mit Stichproben — Mikrozensus und dergleichen Mitteln — zum gleichen Ergebnis kommen könne, ist nämlich deshalb falsch, weil einige wirklich grundsätzliche Zahlen nun einmal richtig ermittelt sein müssen, bevor man mit den anderen Möglichkeiten — Mikrozensus — darauf aufbauend zu einigermaßen tragfähigen Ergebnissen kommen kann.
Herr Kollege Kleinert, da möchte noch ein Fragesteller eine Zwischenfrage stellen, der Herr Abgeordnete Wetzel, wenn ich das richtig sehe.
Bitte fahren Sie fort, Herr Kollege.
Keine Frage mehr.
Meine Damen und Herren von den GRÜNEN, Sie haben uns ja diese Stunde hier beschert.
Wozu soll ich mir Sachen ausdenken, die ich nicht so gut formulieren kann wie andere.
Zur Formulierung fällt mir gerade noch eines ein. Wenn Nietzsche recht hat, daß das Wort verbessern den Gedanken verbessern heißt, dann ist das mit der informationellen Selbstbestimmung wahrscheinlich noch nicht der Weisheit letzter Schluß gewesen; denn das Wort spricht dafür, daß der Gedanke noch nicht ganz fertig ist. Wenn Nietzsche recht hat!
Dr. Knabe möchte eine Zwischenfrage stellen.
Dies ist das eine.
Das andere beziehe ich bei einem noch Größeren. Der ist in solchen Zusammenhängen fällig. Ich habe hier die gelbe Lampe, und das paßt auch sehr gut zu diesem mephistophelischen Bereich, den ich jetzt ansprechen will. Das scheint mir wirklich zuzutreffen auf die einzige erkennbare Grundlinie Ihrer Politik:
Ich bin der Geist, der stets verneint!
Und das mit Recht: denn alles, was entsteht, Ist wert, daß es zugrunde geht;
Drum besser wär's, daß nichts entstünde. So ist denn alles, was Ihr Sünde,
Zerstörung, kurz das Böse nennt,
Mein eigentliches Element.
Das Wort hat der Herr Bundesminister der Justiz.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir werden den Gesetzentwurf der GRÜNEN zur Aufhebung des Volkszählungsgesetzes 1987 alsbald ablehnen. Das Volkszählungsgesetz 1987 ist von der überwältigenden Mehrheit des Deutschen Bundestages beschlossen worden. An seiner Verfassungsmäßigkeit bestehen nicht die geringsten Rechtszweifel. Die Volkszählung ist notwendig. Sie nutzt allen und schadet keinem. Würde man die Zählung unterlassen, so nutzte dies niemandem, aber es schadete letztlich uns allen.Es ist ja immerhin erstaunlich — das sollte man bei dieser Gelegenheit einmal ansprechen — , daß die GRÜNEN heute auf parlamentarischem Wege versuchen, die Volkszählung zu verhindern.
Würde uns das das Signal geben, daß die GRÜNEN gesonnen sind, sich parlamentarischen Mehrheitsentscheidungen zu unterwerfen und diese zu respektieren,
so wäre dies völlig unabhängig von dem Inhalt ihres Antrages, der abzulehnen ist, ja zu begrüßen.Aber wer Derartiges vermuten sollte, muß wissen, daß er sich täuscht, weil erst jüngst, am letzten Wochenende, die Bundesversammlung der GRÜNEN und heute die erneuten Erklärungen in dieser Debatte deutlich gemacht haben, daß mit allen, aber auch mit allen Mitteln versucht werden soll, eine mit parlamentarischer Mehrheit getroffene Entscheidung zu unterlaufen, zu bekämpfen und zu verhindern.
— Es gehört — und hier ist kein Anlaß mehr zur Heiterkeit —
zum Wesen der Demokratie, daß sich eine Minderheit,die sich im parlamentarischen Gesetzgebungsverfah-
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Bundesminister Engelhardren nicht durchsetzen konnte, nach dem von unserer Verfassung vorgegebenen Mehrheitsprinzip, das wiederum nur im Rahmen dieser Verfassung ausgeübt werden kann und von ihr strukturiert wird, dieser Mehrheit beugt, daß sie diese Mehrheit anerkennt und daß sie als der Unterlegene das mitträgt, was die Mehrheit beschlossen hat. Alles andere führt, wenn man es recht bedenkt, zu nichts anderem als zur Diktatur einer Minderheit.Wenn hier der Abgeordnete Wüppesahl hergeht und sagt, dies sei ja das Problem, daß sich hier Minderheiten auf den Weg machen, um sich selbst die Rechte zu nehmen, die sie für notwendig halten, frage ich: Was anderes ist dies eigentlich als die Abwendung nicht nur von diesem Staat, nein, sondern auch vom geordneten Zusammenleben von Menschen in großer Zahl überhaupt?
Wie immer sollen Menschen unter einer Regel, unter einem Recht, unter einem Gesetz zusammenleben können, wenn der einzelne nach seinem Willen frei entscheiden kann, ob dies für ihn gilt
oder ob es, weil er es ablehnt, für ihn nicht gilt?
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Knabe?
Ja, bitte.
Sehr geehrter Herr Minister, ist Ihnen der Begriff „Diktatur" eigentlich ganz klar? Diktatur einer Minderheit würde ja bedeuten, daß diese Minderheit der Mehrheit vorschreibt, was sie zu tun hat, während tatsächlich diese Minderheit nur beansprucht, für sich selbst anders zu handeln.
Wir sehen die Gesetze, hier das Volkszählungsgesetz, morgen ein anderes und übermorgen wieder ein anderes, und ich sage Ihnen, warum es die Diktatur ist: Weil eine Minderheit nicht der Mehrheit vorschreibt, was diese zu tun hat, aber durch ihre Verweigerung diktiert, daß Dinge, die von der Mehrheit zwingend für notwendig gehalten werden, in diesem Staate nicht geordnet stattfinden können, oder, wenn Sie es deutlicher wissen wollen: bis hin zu der Entscheidung, daß eine Minderheit die Unordnung, das Chaos, den Saustall schlechthin diktieren kann.
Wenn dies nicht Diktatur ist, was dann ist es eigentlich?
Meine Damen und Herren, es ist aus gegebenem Anlaß in den letzten Monaten immer erneut die Frage gestellt worden, wie das Verhältnis der GRÜNEN zur Gewalt ist. Eine klare Antwort haben wir bis heute nicht bekommen. Es tritt eine weitere und gleichzeitig mindestens ebenso drängende Frage nach dieser Debatte wieder an uns heran: Wie eigentlich halten es die GRÜNEN mit dem Prinzip der Mehrheit, mit dem Gesetz, mit dem Recht und mit der demokratischen Legitimation dieses Rechts?
Wie stehen denn die GRÜNEN zum Entscheidungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts bei der Feststellung der Verfassungswidrigkeit von Gesetzen? Bestreiten sie auch hier das Recht des Bundesverfassungsgerichts, allein eine solche Entscheidung zu treffen, und setzen sie ihren Willen, ihre Einfälle an diese Stelle?
Nun ist in der Begründung des Gesetzentwurfs die Verfassungswidrigkeit gar nicht behauptet worden. Wir haben heute gehört, das Verfahren entspreche nicht unserer Verfassung. Ja, ich sage, wenn Sie der Auffassung und Überzeugung sind, daß auch verfassungsrechtlich nichts zu beanstanden ist, so wird es schlimmer; denn es ist der Ausstieg der GRÜNEN aus dem Staate schlechthin, wie immer dieser Staat aussehen würde.
Wo sich eine Gruppe auf den Weg macht und sagt, es kann von der Mehrheit, von denen, die dafür die Zuständigkeit und die Legitimation haben, beschlossen werden, was immer sie will, wir werden, wenn uns dies richtig erscheint, uns dem nicht beugen, so ist dies das Ende. Es ist wichtig, das zu wissen und an Sie die Frage zu stellen. Wir werden Ihnen in dieser Frage keine Ruhe geben. Sie sollen nicht glauben, daß Sie sich in ein Stadium der Bequemlichkeit zurückziehen können, wo es Ihnen einmal paßt. Wir werden immer und immer wieder von Ihnen die Antwort verlangen, damit die Bürger draußen wissen, mit wem sie es hier zu tun haben: mit einer Gruppierung, die die tragenden Grundprinzipien dieses Staates verneint, ihnen aber zumindest zuwiderhandelt, sie zu minimieren sucht, wo immer es ihr paßt.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.Wir kommen jetzt zur Abstimmung in zweiter Beratung über den Gesetzentwurf der GRÜNEN. Ich rufe die Art. 1 bis 3, Einleitung und Überschrift auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Entwurf ist in zweiter Beratung mit großer Mehrheit abgelehnt. Damit unterbleibt nach § 83 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/226. Wer stimmt diesem Antrag zu? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Dieser Antrag ist abgelehnt.Wir stimmen nunmehr über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 11/231 ab. Wer stimmt diesem Antrag zu? — Gegenprobe! —
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Mai 1987 623
Vizepräsident Frau RengerEnthaltungen? — Der Antrag ist bei Enthaltungen mitder Mehrheit der CDU/CSU und FDP angenommen.Meine Damen und Herren, wir sind am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 8. Mai, 9 Uhr ein.Die Sitzung ist geschlossen.