Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Wir kommen zum Zusatzpunkt 3 unserer Tagesordnung. Die Fraktion DIE GRÜNEN hat gemäß Nr. 1 c der Anlage 5 unserer Geschäftsordnung eine
Aktuelle Stunde zu dem Thema
Erneute Zerstörung von wertvollen Bauwerken durch Tiefflugübungen
verlangt.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Ronneburger.
— Eigentlich ist davon auszugehen, daß zunächst die Fraktion DIE GRÜNEN ihr Anliegen begründet. Es muß mir aber gesagt werden, wer dafür gemeldet wird. Kann ich das erfahren? — Das Wort hat der Herr Abgeordnete Lange.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich gönne dem Kollegen Ronneburger an und für sich das erste Wort, aber wenn wir diesmal eine Aktuelle Stunde beantragt haben, dann gestatten Sie uns einleitende Bemerkungen dazu.Meine Damen und Herren, am Dienstag, dem 14. Mai 1985, durchbrachen drei Düsenjäger angeblich unbekannter Nationalität im Tiefflug bei Wolfratshausen in Oberbayern die Schallmauer und brachten damit eine Barockkirche zum Einsturz.
Das ist keine Ausnahme, sondern ein weiteres Zeichen für den umwelt- und menschengefährdenden Charakter von militärischen Tiefflugübungen.Nirgends in der Welt wird so häufig so tief geflogen wie in der Bundesrepublik. Diese Feststellung ist nicht etwa eine Behauptung lärmgeplagter Bürger oder immer zahlreicherer Bürgerinitiativen gegen Fluglärm, die man ja als parteiisch bezeichnen könnte; nein, sie steht schwarz auf weiß im Verteidigungsweißbuch 1983, und jeder, der einmal einen Besuch im westlichen oder im östlichen Ausland gemacht hat, weiß, daß dort wesentlich weniger Tiefflüge stattfinden als bei uns. Die Piloten des Warschauer Paktes haben in den Einsatzverbänden zwischen 120 und 180 Flugstunden pro Jahr. Die NATO-Forderungen sind 240 Flugstunden als Jahressoll und 180 Flugstunden als Minimum.Es ist unerklärlich, warum über unserem dichtbesiedelten Raum die NATO-Piloten mehr Übungsflüge benötigen als die Piloten der nicht weniger komplizierten Flugzeuge des Warschauer Paktes über den dünnbesiedelten Weiten der Sowjetunion. Wir wissen, daß sogar zahlreiche Flugzeuge der NATO-Luftwaffe extra in die Bundesrepublik geschickt werden, um hier den Tiefflug zu üben. Die deutschen Vorschriften erlauben nämlich ein wesentlich tieferes, häufigeres und damit kriegsnaheres Fliegen als die Vorschriften in allen anderen NATO-Staaten. Die Folgen davon, Lärm, Abgase, Bedrohung von Leben und Eigentum, werden mitleidlos unserer Bevölkerung, unserer Natur und Landschaft aufgebürdet, und das bei Einhaltung aller Vorschriften!
Wie die Zerstörung der Kirche in Oberbayern aber zeigt, wird selbst gegen diese geradezu men-schen- und umweltverachtenden Vorschriften verstoßen. Hier wurde nämlich von drei Flugzeugen ein Überschallflug in Bodennähe durchgeführt, wofür es mehrere Zeugen gibt — trotz anderslautender Meldungen des Bundesverteidigungsministeriums.
Dieses Ministerium hat aber für Überschallübungsflüge eine Mindesthöhe von 11 000 m vorgeschrieben. Also werden nicht einmal diese unzureichenden und deshalb fragwürdigen Vorschriften eingehalten. Ähnliches trifft für die Beachtung der Mindestflughöhen von 150 m bzw. 75 m in Tiefstfluggebieten zu. Die mehreren tausend jährlichen Beschwerden zeigen das.Doch obwohl sich die Beschwerden und Petitionen im Bundesministerium der Verteidigung bis unter die Decke stapeln,
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Langegeschah bisher nichts, was die Probleme hätte beseitigen können, und mir scheint, es wird auch weiterhin nichts geschehen. Weder die Anschaffung von zwei Skyguard-Radargeräten noch ein unzureichender Bericht eines Unterausschusses für Truppenübungs- und Flugplätze werden hier Abhilfe schaffen können. Wie viele Kirchen werden noch einstürzen, wie viele Kinder werden noch Schreikrämpfe kriegen, bis die Bundesregierung einsieht, daß man mit dem Schlagwort — —
— Herr Kollege, ich halte bei diesem Thema überhaupt nichts von irgendwelchen ironischen oder lächerlichen Bemerkungen!
Ich denke, daß wir die Sorgen der Bürger tatsächlich ernst nehmen sollten!
Ich glaube, daß man mit dem Schlagwort von der Verteidigung der Freiheit nicht diese Spielart von — ich nenne dieses Wort bewußt — Terror entschuldigen kann.
Wir lassen das nicht länger auf sich beruhen. Deshalb haben die GRÜNEN letzte Woche einen Antrag eingebracht, der zu massiven Verbesserungen beim Tieffliegerproblem führen könnte. Ich möchte diesen Antrag jetzt aus Zeitgründen nicht erläutern. Wir haben dazu noch eine ausführliche Debatte im Plenum.Nur kurz soviel. Wir müssen Sofortmaßnahmen und mittelfristige Maßnahmen treffen, die auch an die wahren Ursachen der übermäßigen Tieffliegerei herangehen. Ich nenne hier den strategischen Rahmen, innerhalb dessen jetzt und in Zukunft Übungsflüge und Tiefflüge stattfinden.Meine Damen und Herren, wir unterstützen die anwachsende Zahl von Bürgerinnen und Bürgern, die berechtigten Protest gegen die Arroganz der Bundesregierung erheben. Nächste Woche wird dieser Protest in zahlreiche Aktionen und Veranstaltungen einmünden.
Der Preis für das, was hierzulande als Freiheit bezeichnet wird, darf nicht täglicher Terror für Tausende von Mitbürgern sein.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Geiger.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn ich meinem Herrn Vorredner zuhöre, kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, daß mancher hier in diesem Hohen Haus die Empörung der Bevölkerung über geschädigte Kirchen und Baudenkmäler für seine Zwecke zu nutzen versucht. Man spricht von der Sorge um unwiederbringliche Kulturgüter und meint Madigmachen und Schwächung der Bundeswehr.
Wenn ich heute einige kritische Bemerkungen mache, so hat dies mit einer solchen Haltung nichts zu tun.
Ich liebe meine Heimat, möchte sie erhalten und bin deshalb für Verteidigung. Die große Mehrheit in unserer Bevölkerung denkt ganz genauso.Ich liebe aber auch meine oberbayerische Heimat mit all ihren herrlichen Barock- und Rokokokirchen und möchte diese so erhalten, wie sie sind. Ich trage deshalb einige dringende Bitten vor. Dabei ist mir bewußt, daß gerade die zahlreichen historischen Baudenkmäler in Oberbayern den militärischen Flugbetrieb vor ganz große Schwierigkeiten stellen. Allerdings ist die Entscheidung des Bundesministeriums der Verteidigung vom April 1984, die Grenzabstandslinie zu Österreich nach Süden zu verschieben, ohne Abstimmung mit dem Land Bayern und damit auch ohne Absprache mit den zuständigen Stellen des Denkmalschutzes in Bayern angeordnet worden.
Die St.-Koloman-Kapelle am Ostufer des Starnberger Sees sollte entfeuchtet werden und einen neuen Dachstuhl erhalten. Traurige Tatsache dabei ist, daß die mit den Renovierungsarbeiten betraute Baufirma leider unsachgemäß gearbeitet hat und das Mauerwerk erschüttert wurde.
Nach Aussagen der Bauarbeiter und anderer Zeugen war jedoch der unmittelbare Auslöser für den Einsturz des Kirchhauses der Überflug von drei Tornados. Augenzeugen berichten, daß die Düsenjäger fast in Baumwipfelhöhe und mit ungeheurer Geschwindigkeit über die Kirche brausten und einen irrsinnigen Knall verursachten. Anrufe des Baureferats des Erzbischöflichen Ordinariats München bei verschiedenen Towers ergaben, daß die Angaben stimmen mußten und daß es sich vermutlich — ich gebe das mit allem Vorbehalt wieder — um britische Flugzeuge handelt.Auch der Pfarrer der wegen Einsturzgefahr bereits im November 1984 gesperrten Wies-Kirche berichtete mir, daß ihn am 14. Mai um 14.10 Uhr exakt, also am gleichen Nachmittag, ein furchtbarer Überschallknall in seiner Wohnung direkt neben der Kirche erschreckt habe. Das ist um so verwunderlicher, als das Gebiet um die Wies-Kirche für militärische Überflüge derzeit gesperrt ist.
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Frau GeigerAnscheinend hat ein herrlicher Föhntag im Voralpenland zur Umgehung einiger Vorschriften geführt.
In den letzten Wochen habe ich zahlreiche Kirchen im Pfaffenwinkel und im Gebiet Ammersee und Starnberger See besucht. Viele Kirchen im Bereich der Flugschneise sind bereits akut gefährdet. Natürlich sind am schlechten Zustand der historischen Gebäude nicht allein die Tiefflieger schuld. Die Gebäude der Barock- und Rokokokirchen sind durch ihre leichte Konstruktion sowieso gefährdet. Ihre Statik würde modernen Anforderungen niemals genügen.
Die Föhnstürme, die über das Voralpenland brausen, und die schweren Gewitter tragen das ihre dazu bei. Aber trotzdem haben diese Kirchen nun schon Jahrhunderte überdauert, und nach dem Willen unserer Bevölkerung sollen sie auch weiterhin erhalten bleiben. Föhn und Gewitter können wir nicht beeinflussen. Flüge können wir einstellen oder höher legen.Ein Pfarrer sagte mir empört: Tiefflüge sind sicher notwendig, aber doch nicht hier in unserer einmaligen Kulturlandschaft, sondern in der Wüste Gobi! Das ist nun sicher nicht realistisch, aber verständlich ist es schon. Die Konstruktion der Kirchengewölbe, -wände, -streben und -pfeiler ist nicht auf solche extremen Druckwellen ausgelegt, wie sie von den heutigen Flugzeugen erzeugt werden.
Auch die Reaktion des Bundesministeriums der Verteidigung nach eingetretenen Schäden ist nicht immer einfühlsam. Ein Beispiel:
Ein Kirchenbesucher muß in seinem Gotteshaus während eines Überflugs von Düsenjägern erleben, wie die Scheiben klirren, wie die Risse ein wenig größer werden und der Putz rieselt. Wenn er dann am nächsten Morgen in der Zeitung zum wiederholten Male lesen muß, daß der Sprecher des Verteidigungsministeriums aussagt, die Überschallflüge würden keinerlei Schäden am Boden verursachen, dann reibt er sich natürlich verwundert die Augen.
Auch bei einer Bevölkerung, die den Verteididungsanstrengungen der Bundeswehr grundsätzlich positiv gegenübersteht, entstehen dann Mißstimmungen und Verärgerung. Ich erkenne ausdrücklich an, daß der Bundesverteidigungsminister bereits Anstrengungen gemacht hat, um die Belastungen unseres Gebietes durch Tiefflüge zu vermindern. Wie vom bayerischen Ministerpräsidenten Strauß in seinem Brief vom 29. März 1985 an Bundesminister Wörner gefordert,
sind aber noch weitere Schritte notwendig, die ich jetzt aus Zeitgründen leider nicht ausführen kann.Ein letzter Satz. Ich habe eine persönliche Bitte. Dankbar wäre ich auch, wenn in die Überlegungen ein Tiefflugverbot zum Schutze besonders gefährdeter Objekte wie etwa die Wies-Kirche mit einbezogen werden könnte.
Sogar die UNESCO billigt der Wies-Kirche den Status eines der bedeutendsten Baudenkmäler der Erde zu.
Frau Abgeordnete, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Bitte kommen Sie zum Schluß.
Was da kaputtgeht, ist unwiderbringlich, und eine Ausnahme wäre hier ganz gewiß gerechtfertigt.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Duve.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Daß Krach Mauerwerk zum Einsturz bringen kann, war dem alttestamentarischen Angreifer Josua vor Jericho bekannter als dem neuchristlichen Verteidiger Wörner.
Ich zitiere:Und wenn das Horn bläst und ihr die Posaune hört, so soll das ganze Volk ein großes Feldgeschrei machen. So werden der Stadt Mauern umfallen.Sorgfältig bereiten sich die Eroberer auf den Posaunenstoß vor, sachgerecht wird das große Getöse — Sie können das im Alten Testament nachlesen — genau nach Anweisung durchgeführt, so daß es dann im Vers 20 heißt:Und nach Posaunenklang und Feldgeschrei: die Mauern von Jericho fielen um.
Dagegen die lapidare Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage zum Thema der Gefährdungen von Kulturbauten im Dezember:
Die Regelungen für den militärischen Flugbetrieb sind so abgefaßt, daß bei sachgerechter Durchführung Schäden vermieden werden.Ich muß mit der Bibel sagen: Die Schallwellenattacken auf Kirchen in unserem Land werden physikalisch nicht minder sachgerecht geflogen als die Posaunen von Jericho geblasen worden sind.Unsere Empörung, Frau Kollegin Geiger, ist keine Empörung minderer Art, nur weil es die Empörung der Opposition ist,
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Duveund Ihre Empörung sei sozusagen die qualifizierte Empörung, der es ernst ist um die Bürger, während wir uns nur empören, um die Bürger gegen die Bundeswehr aufzuhetzen. Dies, was ich hier in Händen halte, ist die Kette der Anfragen zu diesem Thema aus den letzten zwölf Monaten.
— Nein, es gibt wesentlich mehr. Ich habe mir erlaubt, hier nicht alles auszurollen, weil mir das nachher beim Einwickeln zuviel Arbeit macht.Die Bundesregierung geht mit diesem Thema leichtfertig um. Herr Würzbach — ich denke, daß er da ist; er ist nicht einmal da — —
— Doch, entschuldigen Sie. Ich bin kein Tiefflieger, deshalb sehe ich Sie nicht, Herr Würzbach.
In allem Ernst: Ich finde, in Ihren Antworten auf diese Fragen gehen Sie leichtfertig mit der Frage der Kulturbauten um. Auf jene Kleine Anfrage vom Dezember:Ist der Bundesregierung bekannt, daß auf Grund der schon seit der früheren Geschichte vorhandenen relativ dichten Besiedelung auch gebautes Kulturgut gefährdet ist?antworten Sie:Die Regelungen für den militärischen Flugbetrieb sind so abgefaßt, daß bei sachgerechter Durchführung Schäden vermieden werden.Ich habe es eben schon gesagt.In Ihrem Bericht zu den Tiefflügen vom April letzten Jahren sagen Sie lapidar:Einschlägige Untersuchungen ergaben übereinstimmend, daß die Druckspitzen der Schallknalle keine meßbare Zerstörungswirkung auf gesundes Mauerwerk, Putz, Dächer oder Inneneinrichtungen von Häusern ausüben. Glasfenster sind nur dann gefährdet, wenn sie nicht sach- und normgerecht eingesetzt werden.Ich denke, das mindeste, was wir jetzt von der Bundesregierung brauchen, ist eine lückenlose Übersicht über alle Schäden, die der Bundesregierung und den Länderregierungen in den letzten Jahren bekanntgeworden sind, und nicht diese Art von Abwehr durch das Verteidigungsministerium, die wissenschaftlich nicht mehr haltbar ist und die von den Bürgern nicht mehr akzeptiert wird. Dieses brauchen wir dringend.
Wir brauchen ferner den Katalog der Maßnahmen, der von unserer Seite und von anderen hier im Hause immer wieder gefordert wird.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Ich will meine Minuten — —
— Das wäre zuwenig. Ich bin kein Verteidigungsexperte. Meine Kollegen von der Verteidigung werden sich dazu noch äußern.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Ronneburger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gibt bei dieser Aktuellen Stunde heute morgen zwei erstaunliche Umstände.Erstens. Es bedurfte eines Einsturzes eines zweifellos wertvollen Gebäudes, eines Einsturzes,
dessen Ursache bisher nicht geklärt ist, sondern nur vermutet wurde, um diese Aktuelle Stunde herbeizuführen.
Wäre es nicht viel naheliegender gewesen, die Belastung von Menschen durch Tiefflüge einmal genauer untersuchen zu lassen — medizinisch exakt— und genau festzustellen, welche Wirkungen sich ergeben, und vielleicht daraus eine Aktuelle Stunde zu machen? Denn, meine Damen und Herren von der Fraktion DIE GRÜNEN, zweifellos haben Sie recht — —
— Mein Gott, Herr Mann, was ist das für eine Äußerung zu einem Komplex, den wir sicherlich von allen Seiten her ernst nehmen sollten!
Das wäre meines Erachtens eine bessere Veranlassung für diese Aktuelle Stunde gewesen.Zweitens, meine Damen und Herren von den GRÜNEN: Eines muß j a nun vor allen Dingen erstaunen, nämlich daß der Antrag gegen die Belastung durch den Fluglärm, der unsere Bürger da ausgesetzt sind, ausgerechnet von der Fraktion kommt, die vor wenigen Wochen den Antrag gestellt hat, Tiefflugübungen in Kanada z. B. einzustellen oder zumindest einzuschränken und damit die Belastung in der Bundesrepublik noch zu verstärken.
— Wir werden doch wohl ernsthaft über ein solches Thema reden können.
— Es besteht doch kein Zweifel daran, daß Sie diesen Antrag gestellt haben. Das können Sie doch nicht bestreiten.
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RonneburgerReden wir doch vernünftig miteinander! — Deswegen ist es angesichts der Belastung, die von Tiefflügen, auch von Überschallflügen in Höhen über 11 000 m zweifellos ausgeht, richtig, wenn wir uns erstens darüber unterhalten, welche Bestimmungen für solche Übungen bestehen, und zweitens darüber, ob diese Bestimmungen tatsächlich eingehalten werden. Für eine Einhaltung haben wir seit kurzer Zeit Skyguard.
Zweifellos hat dieses Überwachungssystem bereits einiges an Fehlverhalten festgestellt und damit eine Voraussetzung dafür geschaffen, daß die Bestimmungen tatsächlich nach Möglichkeit eingehalten werden.Aber was mir noch wichtiger erscheint, meine Damen und Herren, ist folgendes: Wir haben seit 25 Jahren eine Einteilung der Bundesrepublik in Tiefflugübungsgebiete mit den verschiedenen Abstufungen und Bestimmungen. Dies bedeutet schlicht und einfach, daß die Einwohner dieser Gebiete seit 25 Jahren stärker belastet sind als die Bürger in anderen Gebieten. Deswegen halte ich es für unbedingt notwendig, daß wir den Vorschlag aufgreifen und mit aller Intensität verfolgen, den der Bundesverteidigungsminister am 26. Februar in München der Bayerischen Staatsregierung gemacht hat, nämlich eine Einteilung des gesamten Bundesgebiets in Tieffluggebiete und eine rollierende Nutzung dieser Gebiete,
um, wie ich es einmal etwas vereinfacht darstellen möchte, eine größere Lärmgerechtigkeit zu erzielen.Über eines werden wir uns in diesem Parlament sicherlich nicht hinwegsetzen können: daß eine Übungstätigkeit unserer Luftwaffe auch über dem Bundesgebiet in Zukunft notwendig sein wird und daß sich auch unsere Alliierten mit örtlichen Gegebenheiten und regionalen Besonderheiten werden vertraut machen müssen. Wir werden letzten Endes um diese Übungen nicht herumkommen, wenn wir uns weiterhin dazu bekennen, durch Verteidigungsfähigkeit den Frieden zu sichern.Deswegen kommt es vor allen Dingen auf die Frage an: Müssen wir Bestimmungen ändern? Wie können wir mehr Gerechtigkeit in der Belastung unserer Bürger herbeiführen und damit auch die Gebiete entlasten, die seit 25 Jahren die Hauptlast dieses Übungsbetriebs zu tragen haben?Danke sehr.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Schulte .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie verschiedenen Pressemitteilungen zu entnehmen war, hat die Bundesluftwaffe nach der Zerstörung der Barockkirche bei Wolfratshausen behauptet, es seien keine deutschen Maschinen gewesen. Auch hier wurde wieder gesagt: Nicht wir sind es gewesen, sondern die bösen Engländer.Egal, ob hier wieder einmal die Verantwortung auf die schwer faßbaren Alliierten geschoben wird, verantwortlich und haftbar ist auf jeden Fall die Bundesregierung.
Die ausländischen Streitkräfte haben nämlich die deutschen Gesetze und Verordnungen zu achten. Insofern stellt die Zerstörung der bayerischen Kirche einen klaren Verstoß gegen Art. 2 des NATO-Truppenstatuts dar.
Ja, mehr noch: Die deutschen Behörden hätten sogar nach Art. 46 des Zusatzabkommens direkten Einfluß auf die Flughöhe der alliierten Flugzeuge nehmen können.
Insofern ist die Bundesregierung für Zerstörungen und Schäden durch die Stationierungsstreitkräfte voll verantwortlich zu machen.
Sie müssen sich fragen lassen, Herr Würzbach, warum Sie von den Möglichkeiten, Einfluß zu nehmen, nicht Gebrauch gemacht haben.
Ist Ihnen die treue Gefolgschaft zu den Verbündeten mehr wert als der Schutz unserer Menschen vor dem infernalischen Lärm und der Zerstörung von Bauwerken? Für mich ist dieses sicherlich eher eine rhetorische Frage angesichts der unterwürfigen NATO-Politik dieser Bundesregierung.
Die GRÜNEN im Bundestag haben in ihrem Antrag gegen Tiefflieger aus der letzten Woche die Bundesregierung zu entsprechenden Taten aufgefordert.
Hätte man ihn rechtzeitig berücksichtigt, wäre die bayerische Kirche nicht eingestürzt; denn nach diesem Antrag hätten die Tiefflieger erstens wesentlich höher fliegen müssen,
und zweitens hätten sie die Schallmauer über Land nicht durchbrechen dürfen. Drittens wäre von den alliierten Piloten vorher die strikte Einhaltung der deutschen Vorschriften eingefordert worden. — Ich
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Schulte
weiß gar nicht, was es bei diesem Problem zu lachen gibt.
— Meine Herren, Sie und die Minister dieser Regierung sitzen in ihren Luxusvillen,
von Schutzzonen umgeben. Sie bekommen von diesem Lärm überhaupt nichts mit, während sich woanders Kinder unter Küchentische verkriechen angesichts dieses infernalischen Lärms.
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Bitte kommen Sie zum Schluß.
Zum Schluß möchte ich darauf hinweisen, daß unsere Fraktion eindeutig und unverrückbar an der Seite derjenigen steht, die nächste Woche gegen Tiefflieger demonstrieren und protestieren.
Ich bin mir sicher — —
Herr Abgeordneter, ich muß Ihnen das Wort entziehen. Ihre Redezeit ist um über eine Minute überzogen. Bitte beenden Sie Ihre Rede.
Letzter Satz: Diese Aktionswoche wird nach meiner Auffassung zeigen, daß die Behinderungen durch die Behörden nicht zu rechtfertigen sind und die Aktionswoche ein voller Erfolg werden wird.
Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Wilz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich an dieser Stelle zunächst den Teilen der Bevölkerung danken, die durch die Lärmeinwirkung von Tieffliegern betroffen sind.
Ich zolle ihnen hohen Respekt, weil sie mittelbar einen Beitrag zur Aufrechterhaltung unserer Verteidigungsbereitschaft leisten. Heute wollen die GRÜNEN in dieser Aktuellen Stunde aber über etwas diskutieren, über das noch keine gesicherten Erkenntnisse vorliegen.
Sie wollen spekulieren, dramatisieren und vorverurteilen.
Offensichtlich ist Ihnen doch fast jedes Mittel recht, um gegen unsere Verteidigungspolitik Stimmung zu machen.
Das aber ist ein unverantwortliches und leicht zu durchschauendes Manöver.
Lassen Sie mich nun auf einige als gesichert anzusehende Aspekte eingehen. Bislang ist nur bekannt, daß ein Alpha-Jet und zwei Starfighter Tiefflugübungen durchgeführt haben, die aber offensichtlich mit dem Einsturz in keinem Zusammenhang stehen.
Nach bisherigen Erfahrungen und wissenschaftlichen Erkenntnissen kann ein solcher Einsturz ursächlich durch einen verbotswidrigen Überschalltiefflug verusacht werden. Dann aber hätten auch die Fenster der Kirche und der umliegenden Gehöfte zu Bruch gehen müssen. Dies war jedoch gerade nicht der Fall.Es liegen bisher auch keine Erkenntnisse darüber vor, daß der Bauschaden durch einen Unterschallflug verschuldet wurde.
Ein entsprechend ordnungsgemäßer Flug ist j eden-falls nicht dazu geeignet, ursächlich ein solches Bauwerk zu zerstören.
Umgekehrt kann auch nicht völlig ausgeschlossen werden, daß die Kapelle — in ihrem baulichen Zustand mit freigelegten Fundamenten — eingestürzt ist, ohne daß ein Flugzeug daran beteiligt war.
— Nun hören Sie schön zu: Ich könnte Ihnen neun andere Fälle seit 1966 benennen, bei denen zunächst die Schuld für bauliche Beschädigungen bei Tieffliegern gesucht wurde; bei genauerer Untersuchung entpuppten sich diese jedoch nicht als die wahre Ursache. Wichtig ist — darauf legen wir Wert —, daß dieser Vorfall zügig und umfassend aufgeklärt wird.
Zum anderen wollen und müssen wir weiterhin alles tun, um Menschen und Kulturdenkmäler vor Schäden durch Übungsflüge zu bewahren. Genau
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Wilzaus diesem Grunde wurde bisher ein Drittel aller Tiefflüge zur Entlastung unserer Bevölkerung in wenig oder gar nicht besiedelte Gebiete im Ausland verlegt. Das ist eine richtige und gute Maßnahme ebenso wie das Übungsflugverbot für bestimmte Zeiträume in der Bundesrepublik.
Um so mehr verwundert es, daß die GRÜNEN nach Labrador reisten, um zwei Indianer ausfindig zu machen, die sich möglicherweise gestört fühlen könnten.
Was wollen Sie eigentlich: Entlastungen unserer Bevölkerung oder eine zusätzliche Belastung durch Rückverlegung der Flüge? Aber Sie sind es ja gewohnt, mit Widersprüchen als Programm zu leben.
Was allerdings Großflugübungen angeht, möchte ich dem Verteidigungsminister und der Öffentlichkeit gern einen Vorschlag unterbreiten. Ich würde es sehr begrüßen, wenn Presse, Rundfunk und regionales Fernsehen Großflugübungen zukünftig vorab ankündigten.
Damit geben wir dem Bürger die Möglichkeit, sich darauf einzustellen, zeigen ihm aber auch, daß solche Maßnahmen nur die Ausnahme und nicht die Regel sind.
Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, sich in den Zwischenrufen etwas zurückzuhalten.
Wir sollten also nicht mit ideologischen Scheuklappen an diese Problematik herangehen, sondern alles tun, um unserem Auftrag gerecht zu werden, nämlich erstens die Verteidigungsbereitschaft aufrechtzuerhalten und zweitens die Belastungen für die Bevölkerung soweit wie möglich zu beseitigen.
Genau hierüber werden wir im Verteidigungsausschuß diskutieren. Wer allerdings — und dies mit voller Absicht — Vorverurteilungen vornimmt, der muß sich vorhalten lassen, daß es ihm nicht um die Sache, sondern um etwas ganz anderes geht,
nämlich um die Aushöhlung der westlichen Verteidigungsfähigkeit. Bei uns dagegen — da dürfen Sie sicher sein — sind die Probleme in besten Händen.
Ich bedanke mich.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Heistermann.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Wegen des Flug- und Schießlärms hat sich dieses Parlament mit der jeweiligen Bundesregierung des öfteren auseinandergesetzt.
Immer wieder haben Bürger und Parlamentarier die Forderung an die Regierung herangetragen, den Abbau von vermeidbarem Lärm zu veranlassen,
um so Gesundheits- und auch Gebäudeschäden zu vermeiden oder zumindest zu vermindern.An dieser Debatte stört mich, daß die Regierung so tut, als sei grundsätzlich auszuschließen, daß Flugzeuge an Schäden beteiligt seien.
Das ist falsch. Die Regierung weiß doch aus eigener Erfahrung, daß bei Fokussierung und bei entsprechenden meteorologischen Voraussetzungen Schäden entstehen können.
Ich meine, das sollte man offen zugeben und nicht von vornherein sagen, das alles habe damit nichts zu tun.
— Hören Sie zu, dann wissen Sie nachher vielleicht auch die Antwort, die Sie der Kirchengemeinde in Bayern geben können, was Sie nämlich zu tun gedenken, um Aufklärung zu geben, damit solche Schäden erstens wieder repariert und zweitens künftig vermieden werden.Es waren aber nicht nur Bürger, sondern es waren auch Gebietskörperschaften, die sich an das Parlament, den Petitionsausschuß gewandt haben.
Es kann doch nicht so sein, daß das alles an unseren Ohren vorübergeht.
Es kann auch nicht so sein, daß sich die Regierung nur im Abwarten und Hinhalten übt. Hier sind konkrete Antworten gefordert.
Nun bitte ich, einmal zur Kenntnis zu nehmen, daß bereits 1981 ein Unterausschuß des Verteidigungsausschusses gebildet wurde, um sich das vor Ort und Stelle anzugucken.
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HeistermannSie von den GRÜNEN sind ja seit 1983 auch dabei, nur haben Sie nicht immer an allen Bereisungen teilgenommen.
Auch haben Sie nicht am Abschlußbericht mitgewirkt. Aber das ist Ihr Problem, das ist nicht das Problem dieses Parlaments.
Aber hier geht es ja nicht nur symbolhaft um diese Kirche, sondern es geht auch um den Menschen, der in anderen Räumen lebt und wohnt, der gleiche oder noch schwerere Belastungen auszuhalten hat.
Ich kann das auf meinen eigenen Wahlkreis übertragen, auf den Raum Höxter-Lippe oder Ostwestfalen, wo ähnliche Belästigungen dadurch entstehen, daß vermehrter Übungsbetrieb stattfindet.Ich will Ihnen einmal schildern, was Anrufer mir in den letzten Wochen mitgeteilt haben. Da war eine Frau, die angerufen und mir gesagt hat, sie wolle ihren Wohnsitz verlegen, weil sie den Tieffluglärm nicht mehr aushalte. Sie ist sogar bereit, eine Umbettung ihrer verstorbenen Mutter und ihres verstorbenen Mannes vornehmen zu lassen.
— Ihren makabren Zuruf möchte ich im Protokoll doch festgehalten haben. Ich finde es sehr bemerkenswert, wie Sie mit dem persönlichen Schicksal von Menschen hier umgehen. Mich jedenfalls hat tief berührt, daß diese Frau einem Mitglied dieses Hauses die Frage gestellt hat: Was kann ein Abgeordneter tun?Nun, dieser Unterausschuß, von dem ich vorhin sprach, hat sich bemüht, die Regierung auf Aufgaben hinzuweisen und Lösungen zu erreichen. Wir erwarten von dieser Regierung, daß auf den einstimmig beschlossenen Bericht des Unterausschusses hin nun konkrete Maßnahmen ergriffen werden, damit der Bürger erkennt, was auf dem Gebiet der Lärmvermeidung oder mit Hilfe anderer Regelungen getan werden kann. Ich sage hier ganz deutlich, daß es nicht hingenommen werden kann, daß europäische NATO-Partner über dem Territorium der Bundesrepublik mehr und tiefer fliegen als im eigenen Land. Es kann auch nicht hingenommen werden, daß die Mindestflughöhen innerhalb der NATO-Staaten unterschiedlich geregelt sind.
Es war ein Antrag der SPD-Bundestagsfraktion, die Skyguard-Geräte anzuschaffen. Ich kündige hier an: Wenn wir in anderen Gebieten keine Kontrollmöglichkeiten haben, dann werden wir im Haushalt 1986 mehr Geräte beantragen, um die Kontrollmöglichkeiten innerhalb der Bundesrepublik noch weiter zu verbessern. Es gilt, nicht nur zu reden, sondern auch entsprechende Anträge zu stellen.Ich möchte zum Schluß kommen und den Kollegen Carl-Dieter Spranger — da war er noch Obmann seiner Fraktion im Innenausschuß — zitieren. Er hat einen Artikel geschrieben: „Bonn ohne Initiativen gegen Fluglärm". Er forderte, man möge das Fluglärmgesetz ändern. Da schreibt er an einer Stelle dieses Artikels, wenn diese Regierung — die sozialliberale — nicht Lösungen erreiche, sei das eine der vordringlichen Aufgaben der nächsten, von der Union gestellten Regierung. Nun sind Sie zweieinhalb Jahre dran. Herr Staatssekretär, Sie sind j a Mitglied der Bundesregierung. Nun warten wir auf dieses Gesetz, damit nicht draußen wiederum der Eindruck entsteht, daß damals nur geredet wurde, warten wir darauf, daß diese Regierung diese Forderung, die Sie damals selbst aufgestellt haben, auch erfüllt.
Vielen Dank.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Hirsch.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eigentlich hat mein verehrter Kollege Ronneburger schon alles Notwendige gesagt, was zu diesem Vorgang zu sagen ist.Ich möchte nur drei Ergänzungen anbringen.
— Ich möchte drei Ergänzungen anbringen, verehrter Herr Kollege.Das erste ist folgendes: Ich finde es als Nichtmitglied des Verteidigungsausschusses ganz erstaunlich, welche Schwierigkeiten es offenbar bereitet, die Identität der Maschinen festzustellen,
die möglicherweise an dem Vorgang beteiligt waren.
Wenn man sich einmal Rechenschaft darüber ablegt, was man als normaler Sportflieger oder harmloser Ballonfahrer tun muß, um sich mit den Flugsicherungen in Verbindung zu setzen, wie dicht die Kontrollen sind, muß ich sagen, daß das ein erstaunlicher Vorgang ist. Es wäre unter vielen Gesichtspunkten richtig, diese Frage im Verteidigungsausschuß einmal näher zu erörtern, wie das möglich ist.
Ich glaube, Herr Kollege Wilz, es ist nicht entscheidend, ob die Kapelle St. Koloman bei Wolfratshausen tatsächlich durch diese drei Maschinen zum Einsturz gebracht worden ist oder nicht; denn wir befinden uns ja hier nicht vor dem Landgericht
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Dr. HirschMünchen I. Das mögen die Anwälte mit den Eigentümern dieser Einrichtung ausmachen.
Im Grunde genommen dient doch diese Kapelle St. Koloman sozusagen nur als gefundenes Fressen dafür, um ein Thema in mehr oder weniger polemische Art aufzuarbeiten.
Wir müssen uns doch darum bemühen, einmal zu fragen, was denn allgemein gesagt werden kann oder was eigentlich dahintersteckt: Das ist, was wir allgemein und offenbar gemeinsam beklagen, die Belastung, die die Bevölkerung seit geraumer Zeit durch Tiefflüge aus aller Herren Länder auszuhalten hat. Es ist keine schichtenspezifische Belastung, wie ein Kollege von den GRÜNEN andeuten wollte, daß nämlich der Fluglärm einzelne Mitglieder dieses Hauses ausnimmt. Das ist j a nicht der Fall. Jeder von uns hat eigentlich im Laufe seiner Tätigkeit als Abgeordneter immer wieder mit Beschwerden aus vielen Teilen der Bevölkerung zu tun, nicht nur aus Süddeutschland und Westfalen. Wir haben in großem Umfang eine hohe Belastung durch Tiefflieger.Wir fragen uns häufig, ob die Reaktionen der Bundeswehr und der Alliierten diesem Tatbestand wirklich Rechnung tragen. Wir wünschen uns etwas mehr Flexibilität. Wir sind nicht grundsätzlich gegen Tiefflüge. Wir wissen, daß sie notwendig sind, um die Verteidigungsfähigkeit aufrechtzuerhalten. Ich glaube auch nicht, daß man Tiefflüge nur auf irgendwelche Wüsten verlagern kann, sondern daß es notwendig ist, sie in einer Geländestruktur, wie sie in der Bundesrepublik besteht, auch bei dichter Besiedlung zu üben. Daran kommt man nicht vorbei.Aber wir haben den Eindruck, daß die Bundeswehr gegenüber den berechtigten Beschwerden nicht immer die notwendige Flexibilität aufbringt, was den Schutz bestimmter Baudenkmäler, was die Belastung von Kurorten oder Gemeinden ländlicher Art angeht. Ich denke, daß die Bundeswehr gut daran täte, nicht nur bei den Alliierten mit Entschlossenheit darauf zu drängen, daß die deutschen Flugbestimmungen auch von den Alliierten exakt eingehalten werden. Ich denke, daß es notwendig ist, Verstöße gegen Regeln, die es immer geben wird, wirklich spürbar mit Sanktionen gegenüber den Flugzeugführern zu bedenken, das auch deutlich zu machen. Ich möchte gerne hören, erfahren, daß ein Pilot, der sich nicht an die Flugregeln gehalten hat, dafür auch wirklich mit spürbaren Sanktionen belegt wird, damit das einmal aufhört.
Ich denke, daß bei der Festlegung der Gebiete und Flugschneisen richtiger und sensibler auf die Belastung der Bevölkerung Rücksicht genommen werden müßte.Vielen Dank.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Kansy.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin dem Kollegen Hirsch sehr dankbar, daß er die Diskussion wieder auf die Kapelle zurückgeführt hat. Wer glaubt, man könnte Gebäudeschäden mit Demonstrationen lösen, verweigert sich wie üblich der Sacharbeit und beteiligt sich nicht an der Erarbeitung von Lösungsvorschlägen.
Der Kollege Duve hat gesagt, die Position des Verteidigungsministers sei wissenschaftlich nicht haltbar. Das ist falsch, Herr Kollege. Es gibt über die Vielzahl von Gebäudeschäden eben viel zuwenig Unterlagen, Kenntnisse.
— Sie müssen mir schon überlassen, was ich hier sage.Frau Kollegin Geiger hat zu Recht ausgeführt, daß unabhängig vom Thema Fluglärm ein Fragezeichen zu setzen ist, ob nicht auch bei Unterhaltungsarbeiten gesündigt worden sei. Ich will mit diesem Hinweis nicht das Thema Fluglärm aus der Diskussion nehmen, aber ich meine doch, daß wir uns auch seitens des Parlaments unabhängig von diesem aktuellen Schadensfall
— Herr Kollege Duve, Sie werden mir nachher noch Beifall klatschen — und unabhängig von der Tiefflugproblematik
— ich kann das voraussehen — wesentlich stärker mit der generellen Thematik Bauschäden an Denkmälern vertraut machen müssen, als wir das bisher gemacht haben.
Es steht doch wohl außer Frage — er lacht schon —, daß wir seit der Industrialisierung, seit zunehmender Verschmutzung der Atmosphäre, seit zunehmender Erschütterung nicht nur durch Flugzeuge, sondern auch durch Verkehrslärm, durch die Eisenbahn, durch Grundwasserabsenkung und ähnliches einen Anstieg der Schadensfälle an historischen Gebäuden festzustellen haben. Das gab es über Jahrhunderte nicht, obwohl das auch kein ganz neues Thema ist; denn die Bauhütten im Mittelalter
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10436 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 141. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Mai 1985
Dr.-Ing. Kansyhaben nicht nur Neues gebaut, sondern oft auch Gebäude repariert.
Ich komme jetzt tatsächlich auf ein Thema zu sprechen, mit dem sich der Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau unabhängig von der aktuellen Diskussion beschäftigt. Dazu hat er auch ein breit angelegtes Hearing über Gebäudeschäden durchgeführt. Im Rahmen dieser Beratungen haben alle Fraktionen Anträge eingebracht, auch DIE GRÜNEN. Aber keine Fraktion hat das Thema unter dem Gesichtspunkt behandelt — das ist mir gestern aufgefallen, als ich die Anträge aller Fraktionen zum Thema Kulturdenkmäler und Bauschäden noch einmal durchgesehen habe —: Lärmbelästigung, Verkehrserschütterung usw. im Hinblick auf Kulturdenkmäler. Keine Fraktion! Lesen Sie sich bitte Ihre Anträge durch.Ich meine, wir sollten jetzt nicht nur zurückschauen. Wir sollten versuchen, in dieser Angelegenheit weiterzukommen.
Ich kündige an, daß zumindest die CDU/CSU-Fraktion in der anstehenden Beratung darüber, wie wir Kulturdenkmäler besser schützen können,
nicht nur das Thema Luftverschmutzung, nicht nur das Theme der teilweise festzustellenden mangelnden Unterhaltung von Gebäuden aufnehmen wird, sondern auch das Thema Fluglärm.Es geht in diesem Fall — das ist wohl unbestritten — j a nicht nur um materielle Verluste — die sind eventuell zu ersetzen —, sondern es geht darum, daß wir Kulturdenkmäler von einem Wert verlieren, den heute noch keiner abschätzen kann. Ich möchte alle Fraktionen herzlich bitten, insbesondere die Sozialdemokraten,
sich unabhängig von dem aktuellen Anlaß im Zusammenhang mit diesem Thema nicht ausschließlich auf Tiefflüge zu kaprizieren. Vielmehr sollten wir das zum Anlaß nehmen, uns in seriöser Weise im Parlament mit Baudenkmälern und ihrer Gefährdung zu beschäftigen und ein Programm zu entwickeln — auch im Forschungsbereich —, das sicherstellt, daß keine Fragen unbeantwortet bleiben — es reicht eben nicht, unbewiesene Behauptungen aufzustellen —, wenn wir über dieses Thema diskutieren, wie wir das heute morgen machen.
Ich erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister der Verteidigung, Herrn Würzbach.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch unsere Bundeswehr bedauert, daß es durch die Übung und die Ausbildung zu Beeinträchtigung und Belästigung und zuweilen durch Flugzeuge und Fahrzeuge auch zu Beschädigungen kommt. Jeder Soldat weiß: Es ist sein Land, es ist unser Land, es ist seine, es ist unsere Bevölkerung,
es sind seine, es sind unsere Bauwerke, Kirchen, Kapellen und ähnliches. Jeder ist, wie Frau Geiger hier sagte, bemüht, es zu erhalten, weil er seine Heimat liebt. Da steht jeder Soldat, jeder Pilot, jeder Fahrzeugführer genau so mit in dieser Reihe.Deshalb hat die Bundeswehrführung, verschärft in letzter Zeit, eine ganze Reihe von sehr flexiblen, Kollege Hirsch, Regelungen erlassen,
um besonders beim Tiefflug weitestgehend, soweit wie irgend möglich Schäden zu vermeiden.Ich zähle einige im Stenogramm — dies hat uns oft hier beschäftigt — auf. Die Bundeswehrpiloten fliegen weit weniger als alle anderen in der NATO, weit weniger.
30 % der Ausbildung betreiben wir im Ausland. Wir sind dabei, dies auszubauen. Wir verlagern viele, viele Flüge über die Nordsee, über die Ostsee. Wir haben uns im Interesse der Bevölkerung Beschränkungen bezüglich der Zeit auferlegt. An Wochenenden, an Feiertagen — außer bei wenigen Nachtübungen — und ab 17 Uhr wird nicht mehr geflogen.
Die Geschwindigkeiten sind erheblich gedrosselt. Es wird mit niedrigeren Geschwindigkeiten geflogen. Das Einschalten des Nachbrenners ist bei uns untersagt. Die Schallgrenze darf nur in einer Höhe von mehr als 11 000 Metern überschritten werden.
Großstädte ab 100 000 Einwohner im Kern sollen umflogen werden, möglichst auch Ortschaften.
Herr Kollege Hirsch, ich nehme Ihren Beitrag auf, weil ich weiß, daß er mit großem Ernst und dem Bemühen um einen Kompromiß vorgetragen wurde. Wenn wir die Kurorte, die Krankenhäuser, die Bauwerke, die wir alle schützen wollen, herausnehmen, dann bauen wir automatisch Schneisen, Kollege Ronneburger, die es nicht mehr gibt, die wir entzerrt haben, so daß eben kein Flugzeug mehr nur einen Weg hin und zurück und auch die anderen so fliegen müssen. Wir haben dies entzerrt, indem wir viele Verbotszonen aufgehoben haben.Dies ist auch der Grund, warum wir nicht am Abend und auch nicht nach zehn Tagen sagen können: Dieses Flugzeug ist zu dieser Zeit auf diesem
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 141. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Mai 1985 10437
Parl. Staatssekretär WürzbachWeg geflogen. Denn nur der Startpunkt und der Wendepunkt sind klar. Dazwischen ist der Pilot frei in der Bewegung. Wir können nicht an irgendeinem Diagramm ablesen: Welches Flugzeug ist zu welcher Uhrzeit wo gewesen?
Durch dieses Entzerren sind Erleichterungen für die betroffene Bevölkerung in dem Gebiet und auf dem An- und Abmarschweg entstanden.Wir überprüfen das durch die Skyguard-Geräte. Wenn aus dem Parlament der Antrag kommt, dem einen Gerät ein zweites oder drittes hinzuzufügen, so begrüßen wir dies.Etwa 1% der überwachten Flüge gab Anlaß zu Beanstandungen. Sie können sicher sein, daß die erwischten Piloten, unsere wie die der Alliierten, hier sehr hart zur Rechenschaft gezogen wurden. Mit drastischen Entzügen der Flugerlaubnisscheine und ähnlichen Dingen wird hier vorgegangen. 1% Verstöße! Wir werden dies weiter ahnden.
Ich freue mich, daß bei dieser Debatte bei aller zeitweilig auftretenden Aufgeregtheit und allem Aufgreifen anderer Themen der Konsens bei SPD, FDP, CDU und CSU festzustellen war, daß die Luftwaffe fliegen muß, daß die Luftwaffe Tiefflug üben muß. Ich bin sehr befriedigt, daß hier Übereinstimmung,
ein Grundkonsens im Zusammenhang mit der Verteidigungsfähigkeit unserer Luftwaffe besteht.Ich möchte hier dem Parlament einen Vorschlag machen, den wir sehr ernst miteinander prüfen können, nämlich noch mehr Geld zur Verfügung zu stellen — Hoheit des Parlaments —, um noch mehr Ausbildung im Ausland durchführen zu können.
Das hieße, daß wir in verschiedenen Ländern — da, wo wir schon heute fliegen, oder noch in weiteren Ländern — Fluganlagen und Unterkünfte bauen müßten. Wer das will, muß allerdings auch die deutschen Vorschriften, die sehr eng sind, lockern, um die Familien, die Angehörigen dieser Piloten, die dann ein Viertel- oder ein halbes Jahr im Ausland sind, dort hinzubringen, dort zu betreuen und ähnliches. Eine weitere Grenze ist die der Präsenz der vorhandenen Flugzeuge, der einsatzfähigen Piloten hier, gemessen an dem, was uns gegenübersteht.Die Flexibilität der Führung, die ein paarmal angesprochen wurde, zeigt sich nicht nur durch den Katalog, von dem ich einige Punkte nannte, sondern auch, Frau Kollegin, durch unser Verhalten bei der Wieskirche. Als bekannt wurde, daß dortRestaurierungsarbeiten durchgeführt werden mußten,
haben wir ein Verbot des Überfliegens dieser unbedingt erhaltenswürdigen Kirche — ich teile Ihre Meinung — erlassen, für uns und für die Alliierten.
Das wird hart überprüft. Ich höre, daß es hier und da Meldungen gibt, daß wir die Einhaltung dieses Verbots etwas schärfer überprüfen sollten. Das sage ich Ihnen zu.Ich will nur kurz etwas zu dem sagen, was die sogenannten Aktionswochen darstellen. Da dort Gruppen — im Augenblick um Darmstadt herum — Fesselballons in die Höhe lassen,
werden wir den Verkehrsminister bitten zu prüfen, inwieweit das den allgemeinen Luftverkehr, auch den unseren, bezüglich der Sicherheit in einer Form gefährdet, die wir nicht hinnehmen können.
Reden, demonstrieren, diskutieren — aber nicht auf diese Art und Weise Menschen gefährden!
Meine Damen und Herren, der konkrete Grund im Falle der Kapelle kann noch nicht abschließend beurteilt werden.
Polizei und Staatsanwaltschaft untersuchen die Dinge dort unten vor Ort. Von uns waren Offiziere da. Ich schildere nur den ersten Eindruck, den wir hatten. Klar ist, daß kein Überschallflug die Ursache war. Das ist eindeutig. Wäre dies der Fall gewesen, dann wäre — das ist jedem einleuchtend — diese Kapelle mit vier Wänden in eine Richtung weggewischt worden. Erstaunlich ist, daß die vier Wände dieser Kapelle jeweils nach außen klappten und das Dach von oben hineinfiel. Das kann durch Überschallknall nicht geschehen. Wir haben leider ähnliche Erfahrungen bei Verstößen woanders gemacht. Auch sind die Ziegel auf dem heruntergefallenen Dach und die Scheiben heil. Bei einem Überschallknall wäre das alles nicht so. Auch der Kreisdenkmalpfleger dort sagt, er sieht keine Verbindung zu den Flugzeugen. Wir werden diesen Vorgang untersuchen. Bisher sind seit 1966 elfmal Schäden mit Flügen unserer Luftwaffe in Verbindung gebracht worden. Nach baufachlichen Gutachten ist in allen elf Fällen abschließend festgestellt worden, daß es nicht die Luftwaffe war, die Verursacher oder Auslöser dieser Schäden gewesen ist.
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10438 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 141. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Mai 1985
Parl. Staatssekretär WürzbachWir werden uns bemühen, jeden Schaden durch flexible Regelungen vermeiden zu helfen.
Das ist Anliegen jedes Mannes und der Führung in der Bundeswehr.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Gerstl.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Thema „militärischer Fluglärm" ist nicht neu. Ein vom Verteidigungsausschuß eingesetzter Unterausschuß hat sich vier Jahre lang damit eingehend vor Ort beschäftigt. Wir haben uns die Bürger angehört, haben uns die Bürgermeister, die Kreisräte, die Landräte, die Regierungspräsidenten und alle diejenigen angehört, die darunter zu leiden haben, und haben einen Bericht verfaßt.
Herr Lange war heute der Meinung, dieser Bericht sei unzureichend.Nun müßte ich aber folgende Frage in den Raum stellen. Die Fraktion der GRÜNEN war an diesem Unterausschuß beteiligt. Ich erinnere mich noch gut an den Kollegen Roland Vogt, der leider Gottes nicht immer anwesend war, wenn diese Reisen stattgefunden haben, und der bei der Abfassung des Berichts keine einzige Silbe zu diesem Bericht beigetragen hat.
Er hätte die große Chance gehabt, die Auffassungen der GRÜNEN in diesem Bericht niederlegen zu lassen.
Aber es war immer nur die Rede davon: Wir brauchen überhaupt keine Bundeswehr, wir brauchen überhaupt keine Verteidigung. — Das sind doch keine sachlichen Beiträge für die Bewältigung eines schwierigen Problems.
— Sie müssen sich anlasten lassen, daß hier jedenfalls Ihre Aktivitäten nicht feststellbar waren.Nun aber ein paar Worte zu dem, was Anlaß dieser Aktuellen Stunde ist: Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich meine, wir alle miteinander haben Grund, alles zu unternehmen, um unsereKulturdenkmäler vor Zerstörung oder Beschädigung zu schützen. Aber ich glaube, ein noch größeres Anliegen muß sein, daß wir unsere Menschen schützen, soweit das irgend möglich ist,
wobei ich auch den persönlichen Besitz unserer Bürger nicht unter den Tisch kehren will; denn sie haben sich manchmal nur unter persönlichen Opfern ihre Häuser erbauen können.Ich meine, daß diese heutige Aktuelle Stunde für die Regierung Anlaß sein muß, den Bericht, den wir erstellt haben, ernst zu nehmen und die Versprechen, die auch heute von dieser Stelle vom Herrn Würzbach wieder abgegeben worden sind, wirklich einzuhalten.
Wenn ich mir ansehe, Herr Würzbach, was Ihre Ministerialbürokratie auf Bürgeranfragen und Bürgerbeschwerden für Antworten gibt, muß ich feststellen, daß das nur Beschwichtigungen und Verniedlichungen sind.
Bedauerlicherweise übernimmt sogar der Herr Ministerpräsident in Bayern den Blödsinn, der hier niedergeschrieben worden ist. Damit kann man die Bürger nicht befriedigen, damit kann man sie nicht beruhigen. Ihre Anliegen sind nämlich berechtigt, und auf diese berechtigten Anliegen muß man eingehen und nach Abhilfe suchen. Das muß unser Anliegen sein,
nicht, irgendwelche Briefe zu schreiben. Wenn ich mir ansehe, was da so alles geschrieben worden ist, sträuben sich mir wirklich die Haare.Ich meine, daß auch endgültig damit Schluß sein muß, daß die Einschränkung von Straßenlärm oder Verkehrslärm an sich höhere Priorität hat. Während in dieser Hinsicht Gesetzesvorlagen gemacht werden oder schon Gesetze bestehen, gibt es bis jetzt kein einziges Gesetz, das in irgendeiner Form Einschränkungen des Fluglärms zur Folge hätte. Die Schutzmaßnahmen, die heute möglich und notwendig sind, müßten auch im Hinblick auf militärischen Fluglärm Anwendung finden, damit wir unsere Bürger, soweit das irgendwie denkbar ist, schützen können.
— Leider nicht.Sie dürfen davon ausgehen, daß das Thema sehr gründlich von uns untersucht und überlegt worden ist. Daß ich heute noch einmal darauf hinweise, hat seinen Anlaß darin, daß ich auch neuerdings feststellen mußte, daß in diesem Bereich nichts getan worden ist.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 141. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Mai 1985 10439
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Bitte kommen Sie zum Schluß.
Einen Satz noch.
Wir sind uns des Ernstes dieses Problems bewußt, und wir fordern noch einmal in aller Eindringlichkeit die Regierung und die Verantwortlichen auf, alles Erdenkliche zu tun, damit diese Probleme besser gelöst werden können.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Weirich.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn es in dieser Tiefflieger-Debatte einen begrenzten Höhenflug gab, dann dadurch, daß der Kollege Duve eine gewisse Bibelkenntnis durchschimmern ließ.
Aber ansonsten war diese Debatte von den Antragstellern, den GRÜNEN, her eine Mischung aus geistigem Tiefflug und ideologischem Blindflug;
sie hat wenigstens nichts Neues gebracht.
Ich glaube, daß mit dieser Debatte von den eigentlichen Problemen abgelenkt wird, und möchte von vornherein deutlich machen, daß für die CDU/CSUBundestagsfraktion die Erhaltung unseres Kulturerbes allerhöchsten Stellenwert hat
und daß die von der Union getragene Bundesregierung alles tun wird, um Kulturdenkmäler, Baudenkmäler, zu schützen.
Wir liegen übrigens an der Spitze. Die christlichdemokratisch regierten Bundesländer Bayern und Baden-Württemberg liegen in Fragen des Denkmalschutzes in der Bundesrepublik Deutschland einsam an der Spitze, während beispielsweise im grünroten Hessen Kulturgüter im Werte von mehr als 2 Milliarden DM in vermoderten Kellern und Arsenalen vergammeln.
Das ist die wirkliche Situation von Denkmalschutz und Denkmalpflege in der Bundesrepublik Deutschland!
Um das beunruhigende Steinsterben an Domen und Denkmälern, das im wesentlichen durch Schwefeldioxid verursacht wird, einzudämmen, bemüht sich die Bundesregierung — und wir müssen unsere Bemühungen noch entschiedener als bisher fortsetzen — um eine deutliche Begrenzung von Schadstoffen. Der Bundesminister für Forschung und Technologie hat zur Bekämpfung der Chloride und des Schwefeldioxids und zur Beseitigung der an Baudenkmälern entstandenen Schäden deswegen einen Forschungsauftrag zur Entwicklung und zur Erprobung von Konservierungsmitteln für Natursteine vergeben. Das sind die eigentlichen Probleme.Zur aktuellen Diskussion über die Frage der Tiefflüge füge ich hinzu: Was militärische Tiefflüge angeht, so kann ein Zielkonflikt zwischen der für unsere Freiheit notwendigen Sicherheit und dem Schutzbedürfnis von Baudenkmälern, die in ihrer Substanz ganz wesentlich angegriffen sind, allerdings bestehen. An ordnungsgemäß erstellten Bauten und erhaltenen Bauwerken sind direkte Folgeschäden auf keinen Fall zu befürchten, und deswegen stimmt auch die Argumentation der GRÜNEN in diesem Zusammenhang nicht.Aber ich mache auch deutlich, daß die Sicherheit es gebietet, daß die Soldaten im Interesse ihrer Ausbildung zur vollen Flugtüchtigkeit auch Tiefflüge und Tiefstflüge absolvieren müssen. Nur so kann das Unterfliegen von Radar geübt werden.Wenn wir uns die einzelnen wissenschaftlichen Gutachten und Untersuchungen ansehen, so stellen wir fest, daß nach den Untersuchungen eines Instituts für Schwingungs- und Meßtechnik in Hannover ein Überschallknall bei historischen Bauten durchaus Schäden auslösen kann
und auch Verschleißprozesse beschleunigen kann.
Die Auswirkungen von Tiefflügen mit Unterschallgeschwindigkeit sind aber bisher unerforscht und wären im Rahmen einer eindeutigen Untersuchung noch zu klären. In diesem Zusammenhang begrüßten wir — das ist in dieser Debatte mehrfach angesprochen worden —, daß der Bundesverteidigungsminister zur Prüfung dieser Fragen die Skyguards einsetzt.Lassen Sie mich zum Schluß noch drei Punkte ansprechen: Erstens bin ich der Auffassung, daß die hier in der Debatte teilweise zu Recht gestellten Fragen nur dann ganz seriös beantwortet werden können, wenn die Bauschadenforschung in der Bundesrepublik Deutschland erheblich verstärkt wird.
Zweitens muß völlig klar sein, daß die Tiefflugübungen auf das notwendige Maß zu beschränken sind. Ich glaube, dies ist auch die erklärte Politik des Verteidigungsministers.Drittens sind in angegriffenen Gebieten, in denen Baudenkmäler stehen, die in ihrer Substanz gefährdet sind, diese zu ermitteln und bei der Tiefflugstrategie des Verteidigungsministeriums auch entsprechend zu berücksichtigen.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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10440 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 141. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Mai 1985
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Klejdzinski.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Geiger hat die Debatte heute morgen mit dem Hinweis begonnen, sie liebe ihre oberbayerische Heimat, weil dort so hübsche Barockkirchen stehen.
Ich liebe mein Westmünsterland — nicht der Wasserburgen wegen, sondern der Menschen wegen, die dort wohnen, und insbesondere deshalb, weil ich weiß, daß diese Menschen Sorgen haben, weil dort seit Jahrzehnten Tieffluggebiete eingerichtet sind. Ich möchte einmal in aller Deutlichkeit darauf verweisen, daß dies die Problemlage ist.
— Ob man sieht, das ist eine andere Frage.
— Barocke Figuren, einverstanden. Ich weiß, wofür sie stehen.
Ich will aber in diesem Zusammenhang folgendes sagen, und dieses halte ich für wesentlich. Es ist sehr intensiv darüber diskutiert worden, ob Tiefflug notwendig ist oder nicht. Ich will für die SPD in diesem Zusammenhang einen Maßnahmenkatalog vorschlagen, den wir ganz gezielt verfolgen werden.
Erstens: Reduzierung des Tieffluges auf das für den Einsatzbereich Notwendige bei Anlegung eines sehr strengen Maßstabes.
Zweiter Punkt: Wir sind weiter für die Entzerrung des Tiefflugbetriebes, damit die anderen in diesem Lande auch mal spüren, was 40 Jahre lang schon bestimmte Bürger auf den Tiefflugverbindungsstrecken und in den einzelnen Tieffluggebieten haben ertragen müssen.
Drittens: Wir sind weiterhin dafür, daß der Einflug in die Tieffluggebiete nicht über Tiefflugverbindungsstrecken erfolgt, sondern daß man in das Tieffluggebiet hoch einfliegt, damit nämlich auf den Tiefflugverbindungsstrecken nicht alle fünf oder zehn Minuten jeder an einem schönen Tag erfahren muß, daß ihm ein Flugzeug über sein Anwesen braust.
Viertens: Wir sind ferner für die Beschaffung von zwei weiteren Skyguard-Anlagen, unabhängig davon, ob wir zusätzliches Personal brauchen. Wir Sozialdemokraten sagen: zwei zusätzliche Radarüberwachungsanlagen einschließlich des Personals.
Fünftens: Wir fordern den Bundesminister der Verteidigung auf, unsere NATO-Partner mit Nachdruck darauf zu verweisen, daß sie die Beschränkungen einzuhalten haben.
Sechstens: Wir haben beispielsweise kein Verständnis für die Haltung unserer niederländischen Freunde, die auf der einen Seite anerkennen, daß Tiefflug notwendig ist, aber gleichzeitig darauf verweisen, daß Tieffluggebiete in den Niederlanden nicht eingerichtet werden können, weil der Widerstand der Bevölkerung groß ist und sie deswegen in der Bundesrepublik Tiefflug üben.
Siebtens: Wir sind weiterhin für die Verlagerung von Übungstiefflügen vermehrt in befreundete Länder, auch auf die Gefahr hin, daß es mehr kostet und daß wir mehr zu bezahlen haben.
Achtens: Wir fordern eine erneute Überprüfung der Möglichkeit, ob man die Mittagspause nicht aussparen kann. Es gibt nichts Schlimmeres, gerade in der Mittagszeit jeweils gestört zu werden. Daß das kein einfach zu lösendes Problem ist, das weiß ich. Aber wir meinen, man sollte es noch einmal versuchen.
Der neunte Punkt: Wir stellen auch fest, daß beispielsweise die Luftverschmutzung auf den Tiefflugverbindungsstrecken besonders groß ist, insbesondere, wenn wir unsere alte, rauchende Phantom-Tante dort fliegen lassen, die einen regelrechten Dunstschleier hinter sich herzieht, so daß man sagen kann: man braucht sie gar nicht als Flugzeug zu sehen, man sieht den Rauchstreifen; dann weiß man, was dort im einzelnen herfliegt. Wir müssen also auch dort etwas tun, damit die diesbezügliche Luftverschmutzung durch raucharme Brennkammern abgebaut wird.
Als zehnten und letzten Punkt rege ich für die SPD-Fraktion an, daß wir ein öffentliches Hearing der zuständigen Ausschüsse über Tiefflug durchführen, damit wir einerseits die Betroffenen hören können und zusätzlich auch einmal alle, die dort betroffen sind, ihren Part einbringen können. Wenn meine Kollegen von der CDU/CSU auch bereits den Kopf schütteln und gleichzeitig an die Arbeit denken, wir sind dabei, weil wir der Meinung sind, das ist ein Problem, mit dem wir uns auseinandersetzen müssen. Ich halte das wirklich für eine Notwendigkeit. Vielleicht trägt es dazu bei, daß das Verständnis für Tiefflug in bestimmten Maßen, soweit es notwendig, ist, auch bei der Bevölkerung erhöht wird. Ich finde, es ist ganz wichtig, die Experten zu hören, z. B. die Ärzte in den Krankenhäusern und Kurkliniken, die uns sehr viel darüber sagen können, insbesondere darüber, was sich bisher an gesundheitlichen Schäden für Menschen aufzeigen läßt.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Krone-Appuhn.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Klejdzinski, ich glaube kaum, daß wir mit einem Hearing Tiefflugprobleme lösen können. Wir können uns die Klagen anhören, aber es wird sehr wenig dabei herauskommen. Ich glaube, wir müssen mehr Fluglärm exportieren, wie es hier bereits mehrfach vorgetragen wurde.Im 17. Jahrhundert waren die Menschen noch erfindungsreicher als wir. In der Pfarrchronik von Sagritz im oberen Mölltal am Großglockner gibt es
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 141. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Mai 1985 10441
Frau Krone-Appuhneine sehr lehrreiche Geschichte über die Gemeinde, die ihre Kirche nicht renovieren wollte. Zunächst war einer Frau in der Kirche ein Stein auf den Kopf gefallen. Dann wurde die Kirche geschlossen und sollte abgerissen und nicht mehr aufgebaut werden. Und dann erschienen die Wölfe aus dem Gradental. Daraufhin wurde eine schöne neue Kirche gebaut, die heute noch steht.Heute haben wir keine Wölfe mehr, aber wir haben ja zum Glück die Luftwaffe.
Wenn also jemand seine schöne Barockkirche renovieren will — jeder, der mich kennt, weiß, daß ich Barockkirchen genauso liebe wie meine Kollegin Geiger — und vergißt, das freigelegte Fundament abzustützen, dann braucht man halt die Bundesluftwaffe oder unsere Alliierten, um ohne Wölfe, aber mit dem Amt für Verteidigungslasten in München renovieren oder wieder aufbauen zu können.
Meine Damen und Herren, ich wohne selbst in einem Tieffluggebiet, genau wie die Kollegin Geiger, nämlich in Bad Feilnbach. Wenn gutes Flugwetter ist, dann sausen in schönen Formationen unsere Flieger und die Alliierten so tief über unser Haus, daß ich sie beim Unkrautjäten im Garten sehen kann, wenn sie ins Rosenheimer Becken fliegen und wieder zurückkehren.Wenn ich mich dann beim Redenschreiben oder beim Briefebeantworten einmal gestört fühle, dann denke ich immer daran, daß es sehr wesentlich ist, daß diese Flugzeuge ein deutsches oder ein alliiertes Hoheitsabzeichen tragen und nicht den roten Stern — Krasnaja Swesda.
Aus den bisherigen Untersuchungen geht hervor, daß kein Flugzeug der deutschen Luftflotte zur fraglichen Zeit im Starnberger Tieffluggebiet war. Außerdem hätten Glasschäden entstehen müssen, ehe ein Gebäude zusammenfällt. Wenn man ein Fundament nicht absichert, sind natürlich auch Druckwellen gefährlich. Ich rate dem Bundesministerium der Verteidigung, nach gründlicher Untersuchung gegen die Behauptungen und Unterstellungen des Landkreises und des Baureferenten des Erzbischöflichen Ordinariats München und Frei-sing
gegebenenfalls rechtlich vorzugehen, damit diese Hysterie, die mit System in unserem Lande verbreitet wird, nun endlich einmal ein Ende hat.
Unsere Luftwaffe muß üben, meine Damen und Herren, und dafür müssen wir uns alle einsetzen, dafür müssen wir Verständnis haben.Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
Die Aktuelle Stunde ist beendet.Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe, möchte ich einige Mitteilungen zur Verlesung bringen. Nach dem Ausscheiden von Dr. Althammer aus dem Verwaltungsrat der Lastenausgleichsbank schlägt die Fraktion der CDU/CSU vor, für die Rechtsdauer der Mitgliedschaft seines Vorgängers den Abgeordneten Glos zu bestimmen. Ist das Haus mit diesem Vorschlag einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch. Damit ist Abgeordneter Glos gemäß § 7 Abs. 4 des Gesetzes über die Lastenausgleichsbank für die Rechtsdauer der Mitgliedschaft seines Vorgängers als Mitglied des Verwaltungsrats der Lastenausgleichsbank gewählt.Nach einer Vereinbarung des Ältestenrates soll die heutige Tagesordnung um den Zusatzpunkt Beratung der Sammelübersicht 80 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen — Drucksache 10/3389 — erweitert werden. Sind Sie damit einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich rufe sodann diesen Zusatzpunkt auf:Beratung der Sammelübersicht 80 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen— Drucksache 10/3389 —Das Wort wird nicht gewünscht. Wir kommen zur Abstimmung. Wer der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf Drucksache 10/3389 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ist bei einigen Enthaltungen angenommen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21a bis 21c auf:a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur leistungsfördernden Steuersenkung und zur Entlastung der Familie
— Drucksache 10/2884 —
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses
— Drucksache 10/3350 — Berichterstatter:Abgeordnete Dr. von WartenbergDr. Spöribb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung— Drucksache 10/3394 — Berichterstatter:Abgeordnete Carstens
HoppeWieczorek
b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
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10442 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 141. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Mai 1985
Präsident Dr. JenningerElften Gesetzes zur Änderung des Bundeskindergeldgesetzes— Drucksache 10/2886 —aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit
— Drucksache 10/3369 — Berichterstatter:Abgeordnete Frau Dempwolfbb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung— Drucksache 10/3395 — Berichterstatter:Abgeordnete RossmanithWaltemathe
c) Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Elften Gesetzes zur Änderung des Bundeskindergeldgesetzes— Drucksache 10/2928 —aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit
— Drucksache 10/3369 — Berichterstatter:Abgeordnete Frau Dempwolfbb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung— Drucksache 10/3395 — Berichterstatter:Abgeordnete RossmanithWaltemathe
Zu Tagesordnungspunkt 21 a liegen Entschließungsanträge der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/3377 sowie des Abgeordneten Vogel und der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 10/3403 vor.Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind eine gemeinsame Beratung der Tagesordnungspunkte 21a bis 21c und eine Aussprache von vier Stunden vorgesehen. Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? — Das ist nicht der Fall. Ich eröffne die allgemeine Aussprache. Das Wort hat Herr Abgeordneter Apel.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die weitere Entwicklung unserer Wirtschaft sieht keineswegs so rosig aus, wie es die Berufsoptimisten in der Bundesregierung behaupten. Monat für Monat erreicht die offizielle Arbeitslosenzahl in unserem Lande Rekordhöhen, wie wir sie noch niemals seit der Währungsreform erreicht haben.
Unser Wirtschaftswachstum wird vor allem von unserer Exportwirtschaft getragen. Dieser Exportboom profitiert derzeit von der verfehlten US-Haushalts- und -Finanzpolitik und von dem sich daraus ergebenden hohen Dollar-Kurs. Das Ende dieser Entwicklung ist abzusehen. In diesen Tagen sind erste dramatische Anzeichen sichtbar geworden. Offen ist für uns, ob es in Amerika zu einer gefährlichen Bruchlandung oder zu einem Gleitflug mit nachlassenden Wirtschaftsanreizen für unsere Exportwirtschaft kommt.Wie auch immer, meine sehr geehrten Damen und Herren: Wir, die Bundesrepublik Deutschland, gehen mit einem Sockel von weit mehr als 2 Millionen Arbeitslosen in eine ungewisse wirtschaftliche Zukunft. Auch Wirtschafts- und Finanzpolitiker der Koalition sehen diese Gefahren. Sie fordern in diesen Wochen zunehmend, die für die Jahre 1986 und 1988 vorgesehene Senkung der Lohn- und Einkommensteuer in einem Schritt zu Beginn des nächsten Jahres vorzunehmen; denn auch sie erkennen, daß die binnenwirtschaftlichen Auftriebskräfte unserer Konjunktur zu schwach sind, um einen selbsttragenden Aufschwung sicherstellen zu können.Einer der einzigen, der hier noch anderer Meinung ist, ist der Bundesminister der Finanzen. Er hat erst vor kurzem erklärt, daß er zuversichtlich sei, daß der Aufschwung bereits eine Phase erreicht habe, die diesen Aufschwung dann selbst weitertrage.Meine Damen und Herren, der Finanzminister irrt. Der Finanzminister sollte, nicht zuletzt angesichts der heftigen Debatte in diesen Tagen in seiner eigenen Partei, erkennen, daß seine Finanzpolitik in einem hohen Maße Mitverantwortung dafür trägt, daß unsere Konjunktur binnenwirtschaftlich lahmt.
Das hat sich, Herr Kollege Dr. Stoltenberg, in der Koalition herumgesprochen. Hektisches Gerede ist ausgebrochen. Nur, meine Damen und Herren, mit hektischem Gerede kann den Millionen Arbeitslosen nicht geholfen werden.
Es wird höchste Zeit, meine Damen und Herren von der Koalition, daß Sie sich über die bornierte Finanzpolitik Ihres Finanzministers hinwegsetzen.
Vor allem aber fordern wir Sie auf, schnell zu handeln; denn wenn Sie uns dieses Spektakulum, das Sie derzeit bieten — die FAZ überschreibt heute einen entsprechenden Artikel mit „Der Streit in der Union gewinnt an Heftigkeit" —, über längere Zeit fortsetzen, dann wird unsere Wirtschaft, wird unsere Konjunktur geschädigt. Dann wird sich Atten-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 141. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Mai 1985 10443
Dr. Apeltismus ausbreiten, und die Gefahr der Rezession wird sich verstärken.
Wir Sozialdemokraten teilen die Sorgen über die weitere Entwicklung unserer Konjunktur. Deshalb haben wir rechtzeitig — und ich unterstreiche: solide finanziert; Herr Kollege Dr. Stoltenberg, hören Sie auf, unsere Vorschläge immer mit neuer Schuldenmacherei bezeichnen zu wollen, denn dies ist unwahr —
unsere Vorschläge für eine umfassende Beschäftigungsoffensive vorgelegt.
Wir haben in diesen Tagen durch einen Brief unseres Fraktionsvorsitzenden an den Herrn Bundeskanzler und an die Ministerpräsidenten der Länder unsere Vorschläge noch einmal präzisiert. Wir sind im Interesse von Millionen Arbeitslosen für ein gemeinsames Handeln, und wir sind zu einem gemeinsamen Handeln bereit.
Auch wir, meine Damen und Herren, sehen in der Steuerpolitik ein Instrument zur Stabilisierung unserer Wirtschaftsentwicklung und zur Bekämpfung der dramatischen Arbeitslosigkeit. Das uns von Ihnen heute zur Abstimmung vorgelegte Steuersenkungspaket wird allerdings — egal, ob in einer Stufe oder in zwei Stufen verwirklicht — keineswegs den in dieses Paket gesetzten Erwartungen gerecht.
Das ist auch der zentrale Grund dafür, meine sehr geehrten Damen und Herren, daß wir das Vorziehen der zweiten Stufe auf den 1. Januar 1986 ablehnen.
Verteilungspolitisch ist dieses Steuerpaket die Fortsetzung der unsozialen und ungerechten Wendepolitik dieser Koalition mit anderen Mitteln.
Konjunkturpolitisch werden Sie erneut viele Milliarden verplempern, ohne daß das im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit wirklich nützt
und die binnenwirtschaftliche Nachfrage nachhaltig stützt; denn ein Teil der Steuersenkung — die Bundesregierung sagt das ja selbst, Herr Kollege Dr. Stoltenberg — wird die Ersparnisbildung fördern. Die Ersparnisbildung ist in diesem Jahr bereits wieder sehr hoch. Wir leiden nicht an zuviel Ersparnis, sondern wir leiden an zu wenig binnenländischer Nachfrage. Dieses Paket wird diesem Problem überhaupt nicht gerecht.
Im übrigen kann sich niemand über diese Art der Steuerentlastung der Koalition wundern. Sie hat doch schließlich Tradition.
Sie haben bereits im Jahre 1983 allen Bürgern die Last einer Mehrwertsteuererhöhung auerlegt. Die Mehreinnahmen aus dieser Mehrwertsteuererhöhung wurden vor allem für eine drastische Senkung der Vermögensteuer für die Großbetriebe und für einen weiteren Abbau der Gewerbesteuer eingesetzt.
Wenn wir uns diese Steuererleichterungen heute in ihrer Wirkung anschauen, können wir feststellen, daß sie eben keinen meßbaren Beitrag zur Belebung unserer binnenländischen Konjunktur gebracht haben.Wir stellen fest, Herr Kollege Dr. Stoltenberg, daß sich trotz einer Gewinnexplosion in der deutschen Wirtschaft, trotz hoher Selbstfinanzierungsmöglichkeiten, wie sie die Bundesbank in diesen Tagen ausgewiesen hat, die Investitionen unserer Wirtschaft im wesentlichen auf Rationalisierungsinvestitionen mit keinen oder eher sogar negativen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt beschränken.
Natürlich — das werfen wir der deutschen Wirtschaft ja gar nicht vor — nimmt die deutsche Wirtschaft die Steuergeschenke — es werden 1986 6,5 Milliarden DM sein —
gern mit.Wenn wir heute das Fazit ziehen, stellen wir fest: Die erste Aktion des Jahres 1983 hat die Massenkaufkraft geschwächt. Alle mußten steuerlich bluten, damit einige wenige Steuervorteile in Milliardenhöhe bekamen.
Den Gemeinden wurden Investitionsmittel in Milliardenhöhe entzogen.
Wenn wir das definitive Fazit ziehen, stellen wir fest: Das war damals ein Schlag gegen die Steuergerechtigkeit, konjunkturpolitisch war es ein Flop.
1984 folgte dann der nächste Streich des Bundesfinanzministers. Während weiterhin ungeniert und ohne Bedenken bei den Einkommensschwächeren abkassiert wurde, standen nach einer nationalen Nacht-und-Nebel-Aktion, Herr Kollege Dr. Stoltenberg, die im übrigen ohne Vorbild ist, jährlich mehr als 3 Milliarden DM nationaler Steuersubventionen
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10444 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 141. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Mai 1985
Dr. Apelfür die deutsche Landwirtschaft zur Verfügung, bis Ende 1991 insgesamt mehr als 25 Milliarden DM, ohne daß das dem bäuerlichen Familienbetrieb wirklich nützt.
Das ist ein finanzpolitischer Skandal, Herr Kollege Dr. Stoltenberg.
Den werden Sie in Brüssel noch teuer bezahlen müssen.
Deswegen sage ich für die sozialdemokratische Bundestagsfraktion: Es ist unglaubwürdig, Herr Kollege Dr. Stoltenberg, wenn Sie — wie erst vor kurzem geschehen — den massiven Abbau der Subventionen fordern. Wer hat denn eigentlich dafür gesorgt, Herr Kollege Dr. Stoltenberg — das waren doch Sie —, daß das Volumen der Steuersubventionen heute um fast ein Drittel über dem Volumen liegt, das Sie bei Amtsantritt vorfanden?
Hier werden vom Bundesfinanzminister Dr. Stoltenberg die Steuermilliarden für seine Kundschaft verplempert, die uns für eine wirksame Steuer-, Wirtschafts- und Finanzpolitik fehlen.
Kurz vor Weihnachten 1984, also vor wenigen Monaten, kam das von uns erwartete und prognostizierte — ich füge hinzu: von Ihnen, meine Damen und Herren, klammheimlich erwartete — Aus durch einen entsprechenden Spruch des Bundesverfassungsgerichts zu der sogenannten Zwangsanleihe. Herr Stoltenberg hat diese Milliarden dann noch vor Weihnachten schnell zurückgegeben. Herr Kollege Dr. Stoltenberg, mit dieser Aktion und mit der Ablehnung einer Initiative der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion, eine Ersatzlösung zu finden, war der finanzpolitische Wahlbetrug des Jahres 1983 perfekt.
Hatten Sie doch damals den Wählerinnen und Wählern gesagt, jeder habe einen Teil der Lasten zu tragen.
Und nun — wenige Monate später — die größte Steuerentlastung aller Zeiten, wie sie der Herr Bundeskanzler gern bezeichnet.Meine sehr geehrten Damen und Herren von der Koalition, ich will Ihnen die traurige Vorgeschichte dieses Steuersenkungspakets ersparen. Wie war es denn, Herr Kollege Dr. Stoltenberg? Wollten Sie nicht einen Teil dieser Steuersenkungen über eine Erhöhung der Mehrwertsteuer bezahlen? Hatten Sie sich nicht dafür ausgesprochen — zumindest die CDU/CSU-Fraktion —, daß wenigstens ein Teil über den Abbau von Steuersubventionen zurückgegeben werden soll? Genau das Gegenteil ist eingetreten. Wir stellen fest: Berge kreißten von München bis Bonn, und nun ist diese kümmerliche Steuermaus geboren worden, die zum Hoffnungsträger der Konjunkturpolitik in unserem Lande werden soll.
Aber lassen wir doch die Fakten sprechen.
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat folgendes ermittelt: Von den ursprünglich vorgesehenen 15 Milliarden DM für die Tarifentlastung gehen 10 Milliarden DM — zwei Drittel — an diejenigen, die mehr als 6 000 DM im Monat verdienen.
Sie machen aber knapp ein Sechstel der Steuerzahler aus.
Mit anderen Worten: Fünf Sechstel aller Steuerzahler mit einem durchschnittlich geringeren Einkommen als 6 000 DM im Monat dürfen sich den Rest — Pfennig- und Markbeträge — teilen.
Es ist aber genau diese Gruppe, die seit 1982 durch die anhaltenden und dauernden Erhöhungen der Sozialabgaben von Ihnen in besonderem Maße zur Kasse gebeten worden ist.
Ein durchschnittlicher Arbeitnehmer mit einem Verdienst von 3 000 DM im Monat hat allein durch Ihre Erhöhungen 50 DM mehr im Monat an Sozialabgaben zu zahlen. Ihm geben Sie durch diese Steuerentlastung jetzt 12 DM zurück.
Sie können sich ja ausrechnen, was das konjunkturpolitisch bewirkt, nämlich überhaupt nichts.
Aber es sieht natürlich sehr viel besser für die sehr gut Verdienenden aus. Es gibt 12 DM für diejenigen, die als Verheiratete 3 000 DM im Monat haben. Wenn man aber ein Monatseinkommen von 20 000 DM im Monat hat, bekommt man 600 DM zurück.
Also: 12 DM Steuerrückgabe im Monat für den Normalverdiener, 600 DM Steuerrückgabe im Monat für den Spitzenverdiener. Das ist 50mal mehr, Herr Kollege Dr. Stoltenberg,
obwohl dieser Mann mit 20 000 DM Monatsgehalt nur 18mal mehr Steuern bezahlt als derjenige, der als Verheirateter 3 000 DM im Monat verdient. Da wird ja wohl klar, Herr Kollege Dr. Stoltenberg, was mit dieser Steuerreform wirklich passieren soll. Da-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 141. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Mai 1985 10445
Dr. Apelvon gehen dann keine konjunkturpolitischen Wirkungen aus. Da werden, wie ich es bereits gesagt habe, Milliarden verplempert.
Herr Kollege Stoltenberg, wir stellen fest, daß Ihnen diese Vergleiche nicht passen. Sie haben sich deswegen einen neuen Maßstab ausgesucht, den sogenannten Grenzsteuersatz. Sie führen aus — ich zitiere Sie —, es sei der Grenzsteuersatz, der entscheidend dafür sei, ob eine Steuerentlastung wachstumfördernd sei oder nicht.
Sie behaupten dann, daß die Grenzsteuerbelastung dauerhaft gesenkt wird.Herr Kollege Dr. Stoltenberg, dabei denken Sie augenscheinlich erneut an die sehr gut Verdienenden. Denn aus Ihrem Ministerium kommen da ganz andere Zahlen. Ich zitiere die Zahlen Ihres Ministeriums: Bei verheirateten Durchschnittsverdienern, z. B. bei Angestellten, wird die Grenzsteuerbelastung am Ende der Steuerreform, im Jahre 1988, bei 24,7 % liegen, während sie 1982 bei 22 % lag.
Mit anderen Worten: Trotz der größten Steuerentlastung aller Zeiten werden die Normalverdiener mehr und nicht weniger Steuern zahlen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, schauen Sie doch im übrigen in die globalen Zahlen hinein, Herr Kollege.
Wie sieht es denn wirklich aus? Nach den Berechnungen der Bundesregierung werden die Lohn- und Einkommensteuereinnahmen von 1982 bis 1988 um 70 Milliarden DM steigen. Von diesen 70 Milliarden DM geben Sie weniger als 20 Milliarden DM zurück.
Da ist dann mit dem großen Geschrei des Herrn Staatssekretärs Dr. Häfele nach Rückgabe der heimlichen Steuererhöhungen plötzlich Schluß. Da wird selbst nach den Angaben des Bundesministers der Finanzen — trotz der Steuerentlastung — die Lohnsteuerquote zunehmen, und zwar beträchtlich, allerdings im wesentlichen die Lohnsteuerquote der Normalverdiener, der Durchschnittsverdiener. Das ist das Ergebnis dieser größten Steuerreform aller Zeiten.
Das einzige, was konstant bleibt, ist die volkswirtschaftliche Steuerquote. Aber das ist nicht das Verdienst dieses Steuersenkungspakets — das hat damit überhaupt nichts zu tun —, sondern das ist die Konsequenz der vielfältigen Steuergeschenke, die Sie in den drei Jahren Ihrer Regierung gewährt haben. Wir stellen ein massives Anwachsen der Steuersubventionen fest, 3 Milliarden DM jährlich für die deutsche Landwirtschat. Herr Kollege Dr. Stoltenberg, 10 Milliarden DM haben Sie auf diese Art und Weise weggegeben.
Deswegen werden wir, wird man gesamtwirtschaftliche Impulse von diesem Steuersenkungsgesetz ganz vergeblich erwarten.
Im Gegenteil: Wir müssen sogar befürchten — Sie sind j a augenscheinlich nicht bereit, wie eine gescheiterte Verhandlungsrunde in dieser Woche gezeigt hat, den Ländern einen Ausgleich zu gewähren, obwohl es die erklärte Absicht der Bundesregierung gewesen ist, Länder und Gemeinden durch ihre Steuerpläne nicht zusätzlich zu belasten; auch hier brechen Sie eine Zusage —, daß die Steuereinnahmen der Bundesländer und insbesondere der Gemeinden weiter zurückgehen. Die Spitzenverbände haben uns vorgerechnet, daß 1988 rund 5 Milliarden DM Mindereinnahmen — direkt, durch den Anteil der Gemeinden an der Lohn- und Einkommensteuer, aber auch indirekt, über die kommunalen Finanzausgleiche — für die Gemeinden zu erwarten sind.
Herr Kollege Dr. Stoltenberg, falls diese Einnahmeverluste nicht ausgeglichen werden, wird das Konsequenzen haben. Zwar hat die Gesamtheit der Gemeinden — da stimmen wir überein — im letzten Jahr erstmals kein Finanzierungsdefizit mehr gehabt,
aber, Herr Kollege Dr. Stoltenberg, worauf ist das denn zurückzuführen? Das ist auf das massive Herunterfahren der Investitionen und auf die Verschiebung der Erledigung von dringend gebotenen öffentlichen Aufgaben der Gemeinden zurückzuführen.
Herr Kollege Dr. Stoltenberg, es kommt hinzu, daß insbesondere die finanzschwachen Gemeinden durch die verfehlte Arbeitsmarktpolitik dieser Bundesregierung weitere schwerwiegende Lasten im Bereich der Sozialhilfe zu tragen hat.
Wenn ich dies alles zusammennehme, kann ich mich im nachhinein nur wundern, Herr Kollege Dr. Stoltenberg, daß Sie im Herbst im Deutschen Bundestag zu mir gesagt haben, ich irrte mich, Sie wüßten, daß die Sachinvestitionen der Gemeinden 1984 um mindestens 1 Milliarde DM zunähmen. Heute wissen wir, daß Sie sich geirrt haben, Herr Kollege
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10446 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 141. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Mai 1985
Dr. ApelDr. Stoltenberg: Die Sachinvestitionen der Gemeinden sind im letzten Jahr weiter zurückgegangen. Sie liegen um sage und schreibe 25% unter dem Niveau von 1980.
Wenn wir uns die Bauwirtschaft anschauen, wenn wir zur Kenntnis nehmen, daß es die Gemeinden sind, die zwei Drittel der öffentlichen Investitionen vornehmen, dann erkennen wir, daß in dieser verfehlten Finanzpolitik eine zentrale Ursache dafür liegt, daß die Baukonjunktur in der tiefsten Krise seit der Währungsreform ist.
Aber es sind ja nicht nur die Lasten, die jetzt auf die Gemeinden neu zukommen. Es kommt ja noch etwas anderes hinzu. Wie soll eigentlich ein Gemeindekämmerer investieren, wenn ihm faktisch täglich mitgeteilt wird, insbesondere aus der FDP, man wolle die Gewerbesteuer abschaffen, man wolle die Unternehmensbesteuerung weiter senken, man wolle den Spitzensteuersatz auf 36 % senken.
Diese Horrormeldungen müssen doch Kämmerer, Oberstadtdirektoren und Bürgermeister davon abschrecken, in die Investitionen hineinzugehen. Sie wissen doch gar nicht, was sie morgen in der Kasse haben.
Schütteln Sie nicht den Kopf, Herr Kollege Bangemann, Sie sind ein Risiko ersten Ranges für die öffentlichen Investitionen.
Ich erwarte von der Bundesregierung, daß sie sich entscheidet.
Man kann die Gemeinden zu mehr öffentlichen Investitionen auffordern. Dann muß man aber auch klarmachen, wie die Gemeinden finanziell besser-gestellt werden sollen. Wir jedenfall, Herr Kollege Dr. Stoltenberg, haben unsere Vorschläge im Deutschen Bundestag liegen. Sie stehen bei Gelegenheit mit zur Debatte. Wir sind auch hier bereit, mit Ihnen gemeinsam etwas zu unternehmen, damit endlich die Finanznot der Gemeinden überwunden wird und ein Anstoß für die öffentlichen Investitionen passiert.
Aus den von mir dargestellten Gründen wird die SPD-Bundestagsfraktion diesen Steuerentlastungsplänen der Bundesregierung nicht zustimmen. Sie sind kein Beitrag gegen die Massenarbeitslosigkeit. Verteilungspolitisch sind sie ein Skandal: Statt das Kindergeld der Kaufkraftentwicklung anzupassen und damit die Mehrkinderfamilie zu unterstützen, legen Sie — rechnen Sie doch einmal nach — das Schwergewicht Ihrer Familienpolitik auf die sehr gut verdienende Familie mit einem Kind.
Durch die Erhöhung der Kinderfreibeträge werden Sie doch den Spitzenverdiener — davon können Sie doch nicht ablenken — zweieinhalbmal bei einem Kind stärker entlasten als den Normalverdiener mit einem Kind.Ich habe bereits darauf hingewiesen, daß die Tarifentlastung für die Spitzenverdiener 50mal so hoch ist wie die der Normalverdiener.Was sich aus den drei Komponenten Kindergeld, Zusatzkindergeld und Kinderfreibeträge an wahnsinnigen Komplikationen für die Steuerverwaltung ergibt, darüber hat neulich ein FDP-Abgeordneter zu Recht nachgedacht. Dies ist in der Tat ein Monstrum, was hier im Bereich der Familienpolitik geboren wird.
Wenn Sie, meine Damen und Herren von den Unionsparteien, sagen, wir wollten keine Steuersenkung, dann sagen Sie die Unwahrheit.
Wir wollen einen Einkommensteuertarif mit schwerpunktmäßiger Entlastung für die kleinen und mittleren Einkommen,
durch die Erhöhung des Grundfreibetrages eine Verlängerung der unteren Proportionalzone, Abflachung der Progression im unteren Bereich. Wir wollen das Kindergeld um 45 DM für jedes Kind erhöhen. Wir wollen ein zusätzliches Kindergeld für Schüler. Und — damit Sie das bitte schön zur Kenntnis nehmen — wir bleiben mit unseren Vorschlägen im finanziellen Rahmen der Steuerentlastung, den Sie vorgegeben haben.
Unsere Vorschläge sind verteilungspolitisch gerecht. Sie würden über eine starke Entlastung der kleinen und mittleren Einkommen in der Tat einen Beitrag zur Steigerung der jetzt lahmenden binnenwirtschaftlichen Nachfrage leisten. Da wird nämlich konsumiert, da ist gar keine Möglichkeit vorhanden zu sparen.
Unsere Alternative ist beschäftigungspolitisch wirksam, familienfreundlich, verteilungsgerecht und, was auch wichtig ist, weniger verwaltungsaufwendig.
Aus meinen Ausführungen ergibt sich, daß sich das Steuerpaket der Bundesregierung, das wir heute zur Beschlußfassung vorliegen haben, nahtlos an Ihre bisherigen steuerpolitischen Aktivitäten anschließt. Unter Ihrem Motto „Leistung soll sich wieder lohnen" wird denen, die viel haben, noch gegeben. Die versprochenen Effekte auf die Konjunktur und den Abbau der Arbeitslosigkeit werden nicht eintreten. Im Gegenteil: Die öffentliche Hand
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 141. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Mai 1985 10447
Dr. Apelwird durch die Verabschiedung dieses Steuerpakets auf viele Milliarden D-Mark verzichten, ohne daß sich das in einem Mehr an Beschäftigung durch Stabilisierung und Verstärkung der binnenländischen Nachfrage des Konsums bei den mittleren und niedrigen Einkommen ausgleicht.Ich stelle fest: Dieses Steuerpaket ist eine Mogelpackung, die nur dürftig die wahren Absichten ihrer Urheber kaschiert:
Umverteilung von unten nach oben auch über das Steuerrecht.Schönen Dank.
Das Wort hat Herr Angeordneter Uldall.
Herr Präsident! Meine Damen und meine Herren! Lieber Herr Kollege Apel, als ich Ihre Rede soeben hörte, erinnerte ich mich an ein Interview, das Sie im Norddeutschen Rundfunk gaben, und zwar wenige Tage nachdem die Steuerreform 1975, die Sie zu verantworten hatten, in Kraft gesetzt worden war. Damals wurden Sie nach den Wirkungen ihrer Steuerreform befragt. Der einzige Kommentar, den Sie dazu geben konnten, war: „Ich glaube, mich tritt ein Pferd."
Lieber Herr Kollege Apel, als ich Ihre Rede hörte, habe ich nur gesagt: Gott sei Dank, daß er in diesem Hause keine Mehrheit für seine Vorstellungen findet; sonst würden Sie wieder getreten werden, dieses Mal aber wahrscheinlich nicht von einem Pferd, sondern von einem Esel.
Ihr Klagen über die Wirtschaftspolitik und über die wirtschaftspolitische Situation ist ein Beklagen der Ergebnisse, die Sie zu verantworten haben, Herr Apel.
Das, was wir an schlechten Dingen bei uns in der Wirtschaft heute vorfinden, ist doch in der Zeit entstanden,
als Sie die Regierungsverantwortung trugen.
Während die SPD in den 70er Jahren durch immer wieder neu aufgelegte kurzfristige und kurzatmige Programme und Aktionen vergeblich versuchte,
den Niedergang der Wirtschaft aufzufangen, versuchen wir jetzt in einer mittelfristig angelegten Politik, die Rahmendaten neu zu ordnen. Damit schaffen wir dann den Spielraum, den wir brauchen, damit die Wirtschaft wieder belebt wird, und damit dann endlich die Arbeitslosigkeit, die in Ihrer Regierungszeit geschaffen wurde, reduziert und abgebaut werden kann.
Im finanzpolitischen Bereich gehören zu diesen Rahmendaten, die verbessert werden müssen, als erstes die Senkung der Neuverschuldung, als zweites der Abbau der Zinsen, als drittes der Abbau der Inflationsrate und als viertes der Abbau der Steuerlast.In den ersten drei Punkten sind wir schon ein großes Stück vorangekommen. Zu dem letzten Punkt wird jetzt eine Reform vorgelegt, von der 19 Millionen Steuerzahler profitieren werden. Dies ist eine auf Dauer und verläßlich angelegte Politik, der die Sozialdemokraten nichts entgegenzusetzen haben als die Rezepte, die sich bereits in der Vergangenheit als wirkungslos herausgestellt haben.
Die SPD tut sich sehr schwer mit der steuerlichen Entlastung der Bürger. Zwar hat sie jetzt einen Gegenvorschlag vorgelegt. Aber er kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Sozialdemokraten im Grund genommen überhaupt keine Steuerreform wollen. Gemäß der Vorstellung, daß der Staat zuerst möglichst hohe Steuern dem Bürger abnehmen soll, um sie in Form von Transferleistungen dem Steuerzahler zurückzugeben,
wurde der jetzige Vorschlag der Regierung von Anfang an abgelehnt.Der gleiche Kollege Apel, der vorhin noch sagte, wer heute behaupte, die Sozialdemokraten seien gegen eine Steuerentlastung sage die Unwahrheit, hat noch vor einem Jahr, am 21. Juni 1984, wie ich in einer dpa-Meldung lesen konnte, erklärt — hören Sie bitte mal zu, Herr Kollege —:Der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende, Hans Apel erklärte, seine Fraktion halte die Beschlüsse schon im Ansatz verfehlt. Die Rücksichtnahme auf die öffentlichen Haushalte müsse für die gesamte Finanzpolitik gelten.Damit stehen Sie nicht allein. Noch in der vergangene Woche hat Ihr Hamburger Kollege Gobrecht, der ja inzwischen so etwas wie der Sprecher der SPD-regierten Länder in Sachen Finanzreform geworden ist, erklärt, er wolle diese Steuerreform nicht, weil sie auf die Steuerinteressen der Länder keine Rücksicht nehme.
Das bedeutet doch so viel: Die SPD will keine Steuerentlastung der Bürger. Diese Diskussion
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10448 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 141. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Mai 1985
Uldallzeigt erneut: Die SPD ist die Partei der Steuerbelastung, und die CDU ist die Partei der Steuerentlastung.
Herr Abgeordneter Uldall, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Apel?
Bitte.
Bitte sehr, Herr Kollege.
Herr Kollege Uldall, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß dem Deutschen Bundestag ein Entschließungsantrag der SPD-Fraktion vorliegt, der das, was Sie gesagt haben, — wie soll ich das vorsichtig sagen — in die Unwahrheit bringt — Vorsicht; sonst kriege ich einen Ordnungsruf —? Denn in diesem Antrag sagen wir ausdrücklich: Wir wollen eine Steuerentlastung. Wir sagen, wie sie aussehen soll. Und wir sagen: Wir wollen genauso viel zurückgeben wie Sie. Hören Sie auf, zu polemisieren! Sagen Sie die Wahrheit!
Herr Apel, natürlich habe ich, Ihren Antrag, der hier vorliegt, gelesen. Aber den Antrag haben Sie doch erst dann eingereicht, als Sie gemerkt hatten, auf wie große positive Resonanz unsere steuerpolitischen Vorstellungen gestoßen sind.
Im übrigen muß man zu Ihrem Vorschlag sagen: Er ist weder verteilungsgerechter noch konjunkturpolitisch wirksamer.
Sie verteilen durch die Erweiterung der Proportionalzone und der Grundfreibeträge für einen Arbeitnehmer in der unteren Progressionszone 8,14 DM mehr als der Regierungsentwurf.
Durch den Gegenwert von drei Bockwürsten, Herr Apel, stellen Sie keine Verteilungsgerechtigkeit her. Sie verkleckern aber fünf Milliarden DM, die Sie eigentlich für eine Milderung der Progression brauchen. Denn das ist das eigentliche Problem, dem wir uns in der Finanzpolitik gegenübergestellt sehen.
Ihre Vorschläge sind gegen die Empfänger der mittleren Einkommen gerichtet,
die unter den heimlichen Steuererhöhung besonders zu leiden haben und deswegen einen Anspruch auf eine besondere Entlastung haben.
Wir werden in den Diskussionen der nächsten Wochen ganz deutlich sagen, daß die SPD den Facharbeitern, den kaufmännischen Angestellten, den jungen Nachwuchsakademikern nur eine geringe Entlastung gönnt, weil die SPD meint, diese Kreise verdienen schon zu viel.
— Neid, meine Damen und Herren von der SPD, ist kein guter Ratgeber für eine solide Finanzpolitik.
Trotz der schweren Vorbelastung durch die Sozialdemokraten kann die Regierung jetzt ein außerordentlich großes Programm vorlegen. Keine andere Tarifreform erreichte eine so große Entlastung für den Bürger, weder in absoluten Zahlen, noch bezogen in Prozent auf das Steueraufkommen. Seit 1953 wurden neun verschiedene Tarifreformen durchgeführt. Die meisten von ihnen waren mit einer gleichzeitigen Erhöhung anderer Steuern verbunden, um den Einnahmeausfall zu kompensieren. Die höchste Nettoentlastung in absoluten Zahlen bleibt mit weitem Abstand die Reform 1986/88 mit 19 Milliarden DM. Die zweithöchste Nettoentlastung, Herr Apel, war die Reform von 1981 mit 7,4 Milliarden DM.
Das Gesetz, über das wir jetzt zu entscheiden haben, hat also fast den dreifachen Umfang der bisher größten Tarifreform. Bezogen auf die Steuereinnahmen insgesamt macht die Nettoentlastung 1986/88 3,9 % aus.
1984, in dem Jahr mit der zweithöchsten relativen Entlastung, betrug diese nur 3,4 %. Auch wenn man die Wirkung von zwei aufeinanderfolgenden Tarifreformen zusammenzählt, findet man keine, die das Ausmaß der jetzt von der Regierung vorgelegten Tarifreform hätte.
Mit Recht kann deswegen die Bundesregirung feststellen, daß dies die größte Tarifreform in der Finanzgeschichte der Bundesrepublik ist.
Das ist natürlich eine Leistung, die der SPD nicht paßt und nicht schmeckt, aber natürlich um so mehr dem Steuerzahler und dem Wähler.
Wie groß diese Leistung ist, sieht man um so mehr, wenn man weiß, wie eng der Finanzrahmen ist, den die Sozialdemokraten uns hinterlassen haben.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 141. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Mai 1985 10449
UldallEben deswegen kann die Entlastung nur in zwei Schritten durchgeführt werden. Unsere Fraktion unterstützt in dieser Frage den Kurs der Bundesregierung.Finanzpolitik ist heute nämlich zu einer Gratwanderung zwischen Konsolidierung und Steuerentlastung geworden. Beides sind finanzpolitische Zielsetzungen, die unbedingt erreicht werden müssen, sich gegenseitig aber weitgehend ausschließen. Zu harte Konsolidierung auf der einen Seite würde die Wirtschaft strangulieren. Zu weitgehende Steuerentlastung auf der anderen Seite würde die Konsolidierung unverantwortlich verschieben und somit ebenfalls die Wirtschaft von einer erfolgreichen Entwicklung abhalten. Diesen schwierigen Pfad zwischen Konsolidierung und Steuerentlastung hat der Bundesfinanzminister mit großem Erfolg beschritten. Steuerzahler und Sparer, Arbeitnehmer und Unternehmer danken Ihnen, Herr Minister Stoltenberg, für diese hervorragende Leistung.
Die Entlastung hätte heute schon sehr viel höher ausfallen können, wenn es in den vergangenen Jahren der SPD-Regierung nicht die überzogene Verschuldungspolitik gegeben hätte.
Im Jahre 1969 betrug die Zins-Steuer-Quote, d. h. die Zinszahlungen bezogen auf die Steuereinnahmen, 2,7 %.
Heute beträgt die Zins-Steuer-Quote 11%.
Wenn die Sozialdemokraten eine Verschuldungspolitik wie die vorhergehenden CDU-Regierungen betrieben hätten und wenn sie die Schulden nicht stärker als die Steuereinnahmen gesteigert hätten, hätten wir heute ebenfalls nur 2,7 % vom Steueraufkommen an Zinsen zu zahlen. Die Differenz von 8,3 Prozentpunkten macht beim heutigen Steueraufkommen des Bundes knapp 20 Milliarden DM aus.
Das jetzt vorliegende Einsparungsvolumen von 19 Milliarden DM hätte also doppelt so hoch ausfallen können, wenn die Sozialdemokraten damals nicht so über die Verhältnisse gewirtschaftet hätten.
Jeder Steuerzahler hätte jetzt um 1 000 DM zusätzlich entlastet werden können, oder mit anderen Worten: Jeder Steuerzahler muß heute 1 000 DM pro Jahr zahlen, weil die SPD in den 70er Jahren zu hohe Schulden gemacht hat.
Das, meine Damen und Herren, sind die Erblasten, die noch heute und noch über Jahre hinaus der Bürger für die sorglose Politik der vergangenen Jahre zu zahlen hat.
— Es soll keiner sagen, Herr Spöri, das seien ungerechtfertigte Vorwürfe. Warum hätten die Kanzler Brandt und Schmidt nicht genauso solide wirtschaften können wie die Kanzler Adenauer, Erhard oder jetzt Kohl?
Was bedeutet nun dieses Gesetz für den Bürger im einzelnen?Erstens. Die Tarifreform entlastet den Bürger von überhöhten Steuern und gibt ihm die heimlichen Steuererhöhungen zurück.
Zweitens. Die Tarifreform fördert die Leistungsbereitschaft der Arbeitnehmer, verbessert so unsere Wirtschaftskraft und hilft damit die Beschäftigung zu steigern.
Drittens. Die Tarifreform stützt die Familien und verbessert deren finanzielle Basis erheblich.Ich möchte vor allen Dingen zu den beiden ersten Punkten etwas sagen, weil mein Kollege Dr. Schroeder dann die Auswirkungen für die Familien näher erläutern wird.Ca. 60% der Steuerzahler befinden sich heute in der mittleren Einkommenszone. Das sind die Jahreseinkommen zwischen 18 000 und 40 000 DM bei Ledigen bzw. zwischen 36 000 DM und 80 000 DM bei Verheirateten.
Hier wirkt sich die Progression besonders schmerzhaft aus, obwohl der Progressionsverlauf ursprünglich nur für Spitzenverdiener gedacht war. Sehen wir uns einmal das Beispiel einer alleinstehenden Sekretärin an, die 3 100 DM pro Monat zu versteuerndes Einkommen hat. Damit zählt sie sicher nicht zu den Spitzenverdienern dieser Republik, sondern gehört gerade zu den Durchschnittsverdienern. Wenn sie eine Gehaltserhöhung bekommt, verbleiben von einem Hundertmarkschein nach Abzug der Einkommensteuer und der Sozialabgaben 47 DM. Durch eine solche Steuer- und Abgabenpolitik tut man kaum etwas im Hinblick auf das berufliche Fortkommen dieser Arbeitnehmer, motiviert man sie nur wenig, z. B. durch Belegung eines Fremdsprachenkursus etwas zu tun, um beruflich weiterzukommen.
Das gleiche gilt doch für den jungen Ingenieur, der sich nach den ersten Berufsjahren spezialisieren will, oder für den Gesellen, der sich überlegt, ob er einen Meisterkurs belegen soll.
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10450 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 141. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Mai 1985
UldallZu häufig kommt es vor, daß die Arbeitnehmer erkennen, daß es sich einfach nicht lohnt, in ihre weitere berufliche Entwicklung zu investieren, weil der Mehrverdienst durch den Staat weggesteuert wird.Was unsere Volkswirtschaft braucht, ist aber die Leistungsbereitschaft der Arbeitnehmer. Nur wenn diese Leistungsbereitschaft gegeben ist, können wir als führende Exportnation die heutigen Herausforderungen bestehen und unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit behaupten.
Leistungsbereite Arbeitnehmer, die das Ergebnis ihres Fleißes behalten dürfen, denen dieses Ergebnis nicht weggesteuert wird, sind die beste Voraussetzung für einen guten wirtschaftlichen Aufschwung.
Meine Damen und Herren, das Verkleckern der Finanzmasse durch eine Verlängerung der Progressionszone
und durch höhere Grundfreibeträge ist ungerecht gegenüber den mittleren Einkommen, und es ist darüber hinaus auch volkswirtschaftlich falsch.Dieses Gesetz ist ein großer Beitrag für die steuerliche Entlastung. Es gibt keinen Abgeordneten der CDU/CSU-Fraktion, der den Steuerzahlern nicht noch mehr an Steuererleichterungen zukommen lassen möchte.
Wer aber als verantwortungsbewußter Politiker auch die Konsolidierung im Auge behält, weiß, daß heute nicht mehr getan werden darf.
Minister Stoltenberg hat bereits eine weitere Steuersenkung angekündigt.
Unsere Fraktion unterstützt den Finanzminister in diesem Vorhaben und fordert ihn dabei auf, konsequent Steuersenkung und Steuervereinfachung miteinander zu verbinden.Es gilt auch, das Steuerchaos zu beseitigen,
das in den letzten 13 Jahren von Ihnen geschaffen worden ist. Die CDU wird deswegen alles tun, um in der nächsten Legislaturperiode
diesen Kurs der Steuerentlastung und Steuervereinfachung konsequent fortzuführen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Vogel .
Herr Präsident! Liebe Steuerzahlerinnen und Steuerzahler!
Wir führen heute eine Debatte, die an sich alle drei Jahre selbstverständlich sein sollte, um zu prüfen, wo und wie die Lohnerhöhungen im Bereich der Progressionszone zu überdurchschnittlichen Besteuerungszuwächsen geführt haben, welche Entlastungsmaßnahmen hier zu treffen sind und ob unter den geänderten politischen Rahmenbedingungen Veränderungen am Einkommensteuertarif erforderlich sind. Ein Gesetzentwurf, der Mindereinnahmen von fast 20 Milliarden DM bedeutet, muß jedoch auch im Rahmen der Gesamtpolitik der Bundesregierung betrachtet werden,
und da sieht es in unseren Augen übel aus.
Zu den hervorragendsten Merkmalen der Politik dieser Regierung gehört doch der Sozialabbau, 70 Milliarden DM allein in den letzten drei Jahren, vorwiegend auf Kosten der Arbeitslosen, der Rentner und der Familien! Das Ganze heißt dann „Konsolidierungserfolg", und dieser „Konsolidierungserfolg" soll nun an die „Leistungsträger" der Wirtschaft weitergegeben werden,
wobei übrigens, Herr Stoltenberg, die sogenannte Haushaltskonsolidierung, wenn es um die Interessen der eigenen Klientel geht, zum reinsten Blabla gerinnt; ich erinnere hier an die Umsatzsteuerdurchschnittssätze für die Landwirtschaft.Sie, Herr Stoltenberg, verstehen es ja in unnachahmlicher Weise, immer vom Schuldenabbau zu reden, während jedoch die Schulden des Bundes vom 1. Januar 1983 bis zum Ende dieses Jahres von 309,1 auf 395,5 Milliarden DM steigen.
Wenn die Bundesbank Ihnen nicht einen Gewinn von 13 Milliarden DM überwiesen hätte, hätten Sie Ende letzten Jahres mit einem Defizit von 41,6 Milliarden DM abgeschlossen, das weit über der höchsten Neuverschuldung des Bundes unter der sozialliberalen Regierung — 37,4 Milliarden DM im Jahre 1981 — gelegen hätte.Wenn sich nun der Bundestag zu einer Senkung der Steuereinnahmen entschließt, so bedeutet das bei gleichbleibenden Ausgaben, daß es in Zukunft eine jährlich 1,4 Milliarden DM höhere Zinsbelastung geben wird. Damit wird der Haushaltsposten der Zinsaufwendungen, der zu Beginn von Kohls Kanzlerschaft bei 8% lag und jetzt bei 10% liegt, zur klammheimlichen Freude der Banken weiter ansteigen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 141. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Mai 1985 10451
Vogel
Da wir GRÜNEN — ich erinnere an unser Plakat: Wir haben die Zukunft von unseren Kindern nur geborgt — für eine solide Haushaltspolitik eintreten, lehnen wir diese unseriöse Amerikanisierung der Steuerpolitik ab, die Steuergeschenke an die Reichen, verbunden mit gigantischen Aufrüstungsprogrammen, durch Ausweitung der Staatsschulden und Raubbau bei den Sozialausgaben finanziert.
Das Perfide an der Haushaltspolitik der USA ist ja, daß die Ausweitung der Neuverschuldung zugunsten der Rüstungsindustrie immer wieder zur Legitimierung von Kürzungen im Sozialhaushalt mißbraucht wird.
Wenn ich mir Ihre Rede vor dem Steuerberaterkongreß ansehe, Herr Stoltenberg, so deutet sich ja bei uns genau dasselbe an: Ausgabenausweitung des Staates in puncto Rüstung, neue Technologien, SDI, EG, verbunden mit der Androhung weiterer Steuersenkungsmaßnahmen für Unternehmen und Unternehmer. Dies wird wiederum — das ist doch absehbar — zu weiterem Sozialabbau — Stichwort: Gürtel enger schnallen — führen.
Was bietet nun die SPD? Da sollen auch 20 Milliarden an die Einkommensbezieher verteilt werden, allerdings sozialer. Da steht dann statt SDI: Europa der Technologie, Großcomputer, künstliche Intelligenz und europäische Weltraumfahrt; statt allgemeiner Unternehmenssteuersenkung heißt es: Steuersenkung für nicht entnommene Gewinne zur Förderung der Investitionen. Als ob bei den Supergewinnen der deutschen Unternehmen in den letzten zwei Jahren die Gewinnbesteuerung ein Problem gewesen wäre! Dies ist doch nur eine schaumgebremste Variante der CDU-Politik und hat keine oppositionelle Qualität!
Diesem SPD-Spagat, der es wieder allen recht machen will, vom Steuerzahlerbund bis zur technokratischen Intelligenz,
folgen wir jedenfalls nicht. Wir GRÜNEN nehmen es auf uns, uns bei den 0,6% der Steuerzahler, die vom Spitzensteuersatz betroffen sind,
unbeliebt zu machen.Wir fordern ein verteilungsgerechtes Steuerentlastungsprogramm, das aufkommensneutral ist
und sich aus der Umverteilung innerhalb des Lohn- und Einkommensteuersystems zugunsten der unteren Einkommensgruppen und zugunsten der Arbeitnehmer finanziert.Wir haben in den letzten Jahren — Herr Apel hat es angesprochen — ein starkes Ansteigen des Steueraufkommens aus der Lohnsteuer — bei fast konstanter Steuerquote — gehabt. Dieses Aufkommen hat sich seit 1960, als es 11,4 % betrug, verdreifacht. Ein Drittel des Steueraufkommens wird inzwischen durch die Lohnsteuerzahler erbracht.
Erhöht hat sich auch die Umsatzsteuer, die letztendlich den Endverbraucher belastet. Abgenommen haben: die Gewerbesteuer um ein Drittel, die Körperschaftsteuer um ein Drittel, die veranlagte Einkommensteuer um fast die Hälfte. Daß Sie da die Stirn haben, immer wieder die Höhe der Unternehmensbesteuerung anzuprangern und hier eine weitere Entlastung zu fordern, ist einfach bodenlos!Wenn die derzeitige Höhe der Unternehmenssteuern zu hoch sein soll, dann müßten doch nach Ihrer Meinung und nach Ihrer Logik Adenauer und Erhard die größten Unternehmerfeinde in der Geschichte der Bundesrepublik gewesen sein.Wir GRÜNEN wollen diesen Marsch in den Lohnsteuerstaat, der durch den vorliegenden Gesetzentwurf nicht beendet, sondern im Gegenteil beschleunigt wird, stoppen.
Ein hier anzusprechender Punkt ist auch die von Ihnen propagierte Senkung des Staatsanteils.
Zunächst einmal ist es so, daß die Steuerquote in der Bundesrepublik seit Jahrzehnten zwischen 22 % und 25% schwankt und mit derzeit 23,7 % im allgemeinen Mittel bleibt. Was in der Tat angestiegen ist, ist die Sozialbeitragsquote von 9,6 % 1960 auf inzwischen 16,1 %. Damit wird man sich auch befassen müssen.Die Regierung versucht nun, die abstrakte Zielsetzung, den Staatsanteil zu senken, ohne nähere Erläuterung als positiv zu verkaufen. Wir sehen dies anders. Den Staatsanteil am Bruttosozialprodukt abzubauen ist nichts anderes als die verbrämte Umschreibung einer Sparpolitik auf Kosten des kleinen Mannes.
Was hat Otto Normalverbraucher z. B. von einer Senkung der Rentenausgaben, was hat er von einem Abbau der Krankenversicherungsleistungen? Diese Ideologie vom zurückzuführenden Staatsanteil widerspricht den Interessen der große Mehrheit der bundesdeutschen Bevölkerung. Viel wichtiger wäre es doch, solche Anteile am Bruttosozialprodukt zu reduzieren, die bei der Gesamtheit der Bevölkerung negativ zu Buche schlagen, z. B. die Unfälle im Straßenverkehr. Wenn ich da mal vom menschlichen Leid ganz absehe, dann entstehen dadurch Kosten von 30 Milliarden DM. Hier könnten
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schädliche Anteile am Bruttosozialprodukt gesenkt werden.
Aber da ist natürlich von dieser Bundesregierung — Stichwort: Tempo 100 — nichts zu erwarten.Aber gehen wir die Zielsetzung der Bundesregierung im einzelnen durch. Da heißt es zunächst einmal: Leistung soll sich wieder lohnen.
Neben der Haltlosigkeit eines Leistungsbegriffs, der Leistung allein an der Höhe des verdienten Geldes oder des auch nicht verdienten Geldes mißt, ist doch folgendes festzustellen.
Wenn der Begriff leistungsgerechte Besteuerung überhaupt einen Sinn haben soll, dann muß doch in erster Linie mal das leistungslose Einkommen besteuert werden. Hiervon ist jedoch bei dieser Bundesregierung nichts zu sehen. Wo bleibt z. B. die Besteuerung der Zinseinkünfte. Jährlich werden nach bekannten Berechnungen bis zu 6 Milliarden DM an Steuern aus Zinseinkünften nicht an den Fiskus abgeführt. Aber hier wagt es die Bundesregierung nicht, härter durchzugreifen, beispielsweise durch Einführung einer Quellenbesteuerung. Leistungsloses Einkommen ist z. B. die Erbschaft. Was kann der Erbe dafür, was hat er denn geleistet, daß ihm sein Anverwandter ein großes Vermögen hinterläßt? Hier sind doch die niedrigen Erbschaftsteuern völlig fehl am Platze. Wie schaut es denn mit dem Gewinn aus Spekulationsgeschäften mit Grund und Boden aus, der von der Einkommensteuer nicht erfaßt wird? Auch hier hätten wir einen Ansatzpunkt, leistungslose Einkommen zu besteuern und damit auch den Lohnsteueranteil zurückzudrängen.
Statt dessen besteuert der Fiskus Arbeitseinkommen auch dann, wenn sie unter dem Existenzminimum liegen. So ist es ein Skandal, daß der Grundfreibetrag lediglich um 324 DM auf nunmehr insgesamt 4 536 DM anwachsen wird. Dieser Betrag gleicht nicht einmal die Inflationsverluste der letzten Jahre aus, geschweige denn ist er dazu geeignet, ein existenzsicherndes Grundeinkommen steuerfrei zu stellen. So kommt es, daß Personen mit einem Einkommen unterhalb der Sozialhilfe — die dafür auch arbeiten — Steuern zahlen müssen.Im übrigen sind Sie wohl der Meinung, daß die Mehrheit der Arbeinehmer sehr wenig leistet und deshalb auch nur sehr wenig entlastet werden darf. So entfallen von dem gesamten Entlastungsvolumen aus der Tarifänderung über 70 % auf Bruttoeinkommen von über 75 000 DM im Jahr. Darunter fallen nur 14 % der Lohnsteuerpflichtigen. Die große Masse der Arbeitnehmer leistet nach Ihrer Logik also zuwenig, entsprechend muß der große Rest sich mit weniger als 30 % des Entlastungsvolumens zufrieden geben.
Der Durchschnittsverdiener wird sowieso noch höher belastet werden. Von dem zweiten Schritt der Tarifentlastung — und darauf entfällt der Hauptbatzen des Entlastungsvolumens — kriegt der Durchschnittsverdiener ohnehin nichts ab. Um in den Genuß zu kommen, an der zweiten Stufe der Tarifänderung teilzuhaben, muß nämlich das Einkommen mindestens 3 727 DM brutto im Monat betragen, während der Durchschnittsverdiener nach Schätzungen der Bundesregierung 1988 nur 3 400 DM verdienen wird.
Insgesamt wird das Lohnsteueraufkommen folglich in diesem Sechsjahreszeitraum — trotz der Steuersenkung — um 46 % gestiegen sein. Dagegen wird das Aufkommen aus der veranlagten Einkommensteuer, also im wesentlichen aus Unternehmensgewinnen, nur um 20 % steigen, so daß an der bestehenden Entwicklung nichts geändert wird.Die Umverteilung, die hier erfolgt, wird aber auch deutlich, wenn man sich vor Augen hält, daß ein Ehepaar ohne Kinder mit einem Einkommen von 40 000 DM eine monatliche Entlastung bis 1988 von 12,66 DM und danach von 13,50 DM erhält, bei einem Einkommen von 200 000 DM jedoch zunächst 219,33 DM, später 537,16 DM im Monat, also bei einem fünffach so hohen Einkommen eine vierzigfache Entlastungswirkung.
Der in den letzten Jahren durchgeführte Sozialabbau findet nun seine zwangsläufige Ergänzung in der Weitergabe der Gelder an die Bezieher hoher Einkommen. Wir GRÜNEN im Bundestag fordern in unserem Entschließungsantrag jedenfalls, daß als ein erster Schritt der Grundfreibetrag, der Haushaltsfreibetrag und die Bedürftigkeitsgrenze des § 33 a wenigstens soweit angehoben werden, daß wenigstens 650 DM im Monat steuerfrei bleiben.
Hierzu ist es erforderlich, daß der Grundfreibetrag auf 6 750 DM angehoben wird. Dies ist allerdings nur ein erster Schritt.
Eine solche Anhebung würde ca. 16 Milliarden DM Steuerausfall bedeuten. Diese Mindereinnahmen sollen nach unseren Vorstellungen durch die höhere Besteuerung oberer Einkommen kompensiert werden.
Deshalb soll im Tarif der Spitzensteuersatz von 56 % bereits früher greifen und somit insgesamt die Progression im oberen Bereich verschärft werden. Wir halten eine erhöhte Progression in diesen obe-
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ren Bereichen nicht für leistungsfeindlich. Wir halten es für leistungsfeindlich, wenn über 2,5 Millionen Menschen in dieser Bundesrepublik keinen Arbeitsplatz zur Verfügung haben, obwohl sie leistungsbereit und leistungswillig sind.
Wir GRÜNEN schlagen eine aufkommensneutrale Änderung des Tarifs vor.
— Wenn es mir nicht abgezogen wird, kann er fragen.
Eine Frage kann er stellen, aber bei so langen Redezeiten wird hier zwischendurch nicht gestoppt. Das geschieht bei den kurzen Zeiten. — Also bitte, Herr Uldall.
Herr Kollege, ist Ihnen klar, daß Sie einen Betrag von 16 Milliarden DM nur dann zusammenbekommen, wenn Sie alle Facharbeiter, alle Bezieher mittlerer Einkommen, wie z. B. die kaufmännischen Angestellten, zusätzlich belasten, so daß Sie hier die mittleren Einkommen wieder ganz kräftig zur Kasse bitten müssen, um Ihre Entlastungen in der unteren Zone durchführen zu können?
Nein, wir wollen die oberen Einkommen belasten. Falls es sich herausstellen sollte, daß diese Gefahr in der Tat bestehen würde, dann müßte man selbstverständlich auch an den Spitzensteuersatz herangehen und nicht bei 56 % stehenbleiben.
Lassen Sie mich aber nun zum sogenannten Familienlastenausgleich kommen; ich sage sogenannter Familienlastenausgleich, weil darunter als Hauptposten das Ehegattensplitting erfaßt ist. Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Zeidler, hat darauf hingewiesen, daß das Ehegattensplitting zu einem Zeitpunkt eingeführt wurde, als mit der Eheschließung allgemein auch der Kinderwunsch verbunden war.
Dies hat sich heute wesentlich verändert, einerseits, weil viele kinderlose Familien existieren, andererseits, weil sich der Anteil der sogenannten Halbfamilien — alleinstehende Mütter und Väter — sehr erhöht hat.
Aus diesem Grunde ist das Ehegattensplittingheute nicht mehr zeitgemäß. Durch das Ehegatten-splitting wird nicht die Familie gefördert, sonderndie Institution der Ehe an sich, also eine ganz bestimmte Zusammenlebensform von Mann und Frau.Wir GRÜNE sind dagegen der Meinung, daß nicht der Familienstand — mit dem es jeder gerne so halten kann, wie er will —, sondern das Vorhandensein von Kindern der ausschlaggebende Faktor für die Familienförderung sein muß.
Deshalb fordern wir, das Ehegattensplitting in seiner heutigen Form abzuschaffen und statt dessen eine Verdoppelung des Grundfreibetrages einzuführen, um damit der realen Unterhaltsverpflichtung Genüge zu leisten.
Die durch diese Maßnahmen frei werdenden Gelder könnten sinnvoll zur Förderung der sogenannten Halbfamilien und kinderreicher Familien verwendet werden.Nach den Vorstellungen der GRÜNEN müssen die Einkommensleistungen für Kinder viel stärker bedarfsdeckend sein, als es jetzt der Fall ist. Diesem Ziel widersprechen die Kinderfreibeträge, bei denen die steuerliche Entlastung mit dem Einkommen der Eltern steigt und vom Familienstand der Eltern abhängt. Deshalb fordern wir eine Streichung der Kinderfreibeträge und eine Streichung der Kinderadditive bei den Sonderausgaben. Das Kindergeld darf auch nicht nach der Ordnungszahl der Kinder gestaffelt sein. Diese Staffelung ist allein bevölkerungspolitisch begründet und es hat die Funktion, einen Gebäranreiz zu bieten, wenn für das zweite und dritte Kind mehr gezahlt wird als für das erste.
Der Gesetzentwurf der SPD zum Kindergeld behält diese Staffelung aber bei. Aus diesem Grunde lehnen wir den Entwurf ab. Ein an dem Bedarf des Kindes für seinen Lebensunterhalt orientiertes Kindergeld ist dagegen nach dem Alter der Kinder zu differenzieren, wie es z. B. auch die Regelsätze nach dem Bundessozialhilfegesetz vorsehen.Inzwischen gibt es über eine Million Alleinstehende mit Kindern. Wenn man nun berücksichtigt, daß nach einer Untersuchung des Hamburger Instituts für Sozialforschung in dem Zeitraum von 1978 bis 1983 die Zahl der Haushalte mit einem Pro-Kopf-Einkommen unter 700 DM im Monat um 500 000 auf nunmehr 1,4 Millionen zugenommen hat,
kann man davon ausgehen, daß ein großer Teil dieser Armen alleinstehende Frauen mit Kindern sind. Gerade diese Gruppe wird durch die Neuregelung im Steuersenkungsgesetz wieder einmal massiv benachteiligt. Der Kinderbetreuungsbetrag, der im Steuerbereinigungsgesetz 1985 bewilligt wurde und für die meisten berufstätigen Alleinerziehenden eine monatliche Entlastung von — sage und
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schreibe — 8,80 DM gebracht hat, ändert an dieser Tatsache nichts.Zu diesem Punkt möchte ich einmal auf ein besonders fieses Verhalten des Finanzministers aufmerksam machen.
Der Kinderbetreuungsbetrag kann nämlich laut Steuerbereinigungsgesetz auch rückwirkend in Anspruch genommen werden. Davon wissen die meisten Alleinerziehenden aber nichts. Wie sollten sie auch, wenn nicht einmal die Finanzämter ausreichend unterrichtet sind! So wurde vom Finanzamt Bonn im Frühjahr die Auskunft erteilt, daß für bestandskräftig gewordene Steuerfestsetzungen eine Rückwirkung nicht möglich sei. Dies genau ist aber im Gesetz festgelegt. Auf unsere Anfrage, wie der Bundesfinanzminister die Alleinerziehenden auf diese Möglichkeit aufmerksam machen will, wurde geantwortet, daß vor Ablauf der Frist noch eine Pressemitteilung zu dem Thema erscheinen solle.An dem Verhalten wird sehr deutlich, daß dem Finanzminister die steuerliche Entlastung der Alleinerziehenden wahrlich nicht am Herzen liegt und daß er es unter Mißachtung seiner Dienstpflichten versäumt, die Verwaltung und die Betroffenen zu informieren.
Alleinerziehende, die nicht die Zeit haben, das Steuerbereinigungsgesetz 1985 genau zu studieren — und wer kann das schon? —, werden schlichtweg die Entlastung nicht wahrnehmen können. Das werden wohl die meisten sein.
So wird die durch die Urteile des Verfassungsgerichts notwendig gewordene Rückwirkung zwar de jure erfüllt, de facto aber durch das Nichtstun des Finanzministers hintertrieben.Mit diesem Steuersenkungsgesetz jedenfalls wird den alleinstehenden Frauen mit Kindern nicht geholfen, und kinderreiche Familien mit niedrigen Einkommen erhalten geringere Verbesserungen als kinderlose Ehepaare mit hohen Einkommen. Durch dieses Gesetz wird der maximale Vorteil aus dem Ehegattensplitting von nunmehr 14 837 DM auf 18 502 DM angehoben.Dann wird für die nichterwerbstätige Ehefrau eines Spitzenverdieners ein monatliches Ehegeld von sage und schreibe 1 541 DM gezahlt werden. Allein die Erhöhung auf Grund des Steuersenkungsgesetzes macht 305 DM im Monat aus. Dagegen ist der Kindergeldzuschlag von 46 DM schon nicht mehr lächerlich, sondern beschämend.
Warum — so ist doch zu fragen — ist die Ehe eines Spitzenverdieners der Gesellschaft 1 541 DM im Monat wert, ein Kind dagegen nur 96 DM?
Ich glaube nicht, daß hier jemand im Saal ernsthaft behaupten will, daß diese Relation dem gesellschaftlichen Nutzen und der bestehenden gesellschaftlichen Verantwortung entspricht.
Diese Förderung der Ehe entspricht auch nicht den Interessen der Frauen. Sie entspricht dem Interesse einer patriarchalischen Gesellschaft. Das kann ja auch nicht anders sein, wenn in diesem Bundestag die Gesetze von reichen Männern für reiche Männer gemacht werden.
Das Steuersenkungsgesetz ist deshalb auch nicht familienfreundlich, sondern patriarchenfreundlich. Im Interesse der Frauen ist es, daß die staatlichen Leistungen zum Lebensunterhalt der Kinder steigen. Das ist auch das Interesse der GRÜNEN im Bundestag.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Gattermann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn heute das Steuersenkungsgesetz in zweiter und dritter Lesung verabschiedet wird,
dann vollziehen die Koalitionsfraktionen, Herr Kollege Huonker, einen vereinbarten und einen wichtigen Schritt zur Verwirklichung der zweiten Phase ihrer Steuerpolitik.
In der ersten Phase haben wir mit der Steuerentlastung der Unternehmen die Wirtschaft wieder auf einen soliden Wachstumspfad gebracht, oder — besser gesagt — im Zuge unserer Gesamtpolitik war dies ein wichtiger Mosaikstein,
um wieder den Wachstumspfad zu erreichen.
Zuvor — in den Jahren 1981 und 1982 — war die gesamtwirtschaftliche Leistung in der Bundesrepublik Deutschland real zurückgegangen. Die Konsequenz waren drastische Verschlechterungen am Ar-
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Gattermannbeitsmarkt. Die Arbeitslosenziffern stiegen in 1981 um 380 000, in 1982 um 560 000. In 1983, als das Bruttosozialprodukt erstmals wieder leicht stieg, kamen noch einmal 425 000 hinzu.
Im Jahre 1984 ist dann der Anstieg der Arbeitslosenzahlen fast zum Stillstand gekommen. Die bisherige Entwicklung im Jahre 1985
macht uns Sorgen, Herr Kollege Huonker.
Es macht nun überhaupt keinen Sinn, bei unseren 2,3 Millionen Arbeitslosen aufzuteilen: Sind dies nun die Arbeitslosen von Helmut Schmidt, oder sind dies die Arbeitslosen von Helmut Kohl?
Dies hilft den Arbeitslosen überhaupt nicht.Meine Damen und Herren, man muß wohl Erbe und Erblasser zugleich sein, um weder der Totalverdrängung zu unterliegen, Herr Kollege Vogel, noch es sich zu leicht zu machen, wenn man Fehler bei seiner eigenen Arbeit entdeckt. Es kann heute keinen ernsthaften Zweifel daran geben, Herr Kollege Apel, daß die Wiedergewinnung des Wirtschaftswachstums und der Stopp oder wenigstens das Bremsen des rapiden Anstiegs der Arbeitslosigkeit auch von den Unternehmensteuerentlastungen unterstützt worden sind, die wir vorgenommen haben.
Sie haben gesagt: Es gibt keinen empirischen Beweis dafür. Ein empirischer Beweis ist in der Tat nicht zu führen. Aber alle Fachleute bestätigen uns, daß diese Unternehmensentlastungen, die ja im Volumen begrenzt waren, in ihrer psychologischen Wirkung für die Investitionsbereitschaft der Unternehmen unverzichtbar gewesen sind.
Jetzt, in der zweiten Phase unserer Steuerpolitik, sollen jene zurückgekehrten wirtschaftlichen Auftriebskräfte durch eine Steuerentlastung der Bürger abgesichert werden. Die Steuerlast der Arbeitnehmer und der Selbständigen wird deshalb um insgesamt rund 19,5 Milliarden DM verringert. Schon die bloße Tatsache, daß wir den Entwurf des Steuersenkungsgesetzes überhaupt vorlegen konnten, kann als beachtlicher Erfolg gewertet werden. Wir sollten uns daran erinnern, daß die jetzt die letzten parlamentarischen Hürden nehmende Steuerentlastung bei der Regierungserklärung am 4. Mai 1983 noch unter einem deutlichen Finanzierungsvorbehalt gestanden hat. Es gehörte schon eine gehörige Portion Optimismus dazu, damals vorherzusagen, daß die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte in der Mitte der Legislaturperiode soweit fortgeschritten sein würde, daß wir dieses Steuerentlastungsgesetz überhaupt vorlegen und beschließen können.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich einmal an diese Seite des Hauses sagen: Wir sollten überhaupt ein bißchen mehr darauf hinweisen, daß wir mit unserer Arbeit unser Licht nicht unter den Scheffel zu stellen brauchen.
Die Fortschritte in der Haushaltspolitik haben überhaupt erst Zinssenkungen möglich gemacht. Was bedeutet denn ein Zinsabstand von 3 % z. B. zu den Vereinigten Staaten? Jeder Prozentpunkt sind mindestens 8 Milliarden DM Entlastung für Bürger und Wirtschaft.
Die wiedererlangte Preisstabilität: Ist sie nicht auch eine ganz erhebliche sozialpolitische Tat?
Die Exporterfolge unserer Wirtschaft nicht nur im Dollarraum und vieles andere mehr sind Leistungen, die wir mit Genugtuung vorzeigen sollten.
Aber — so ungerecht das sein mag — die öffentliche Bewertung der Arbeit dieser Regierung und der Regierungskoalition vollzieht sich offenbar ausschließlich an der in der Tat bedrückenden Zahl der Arbeitslosen.
— Es ist überhaupt nicht zu bestreiten: Das ist ein wichtiger, ganz wichtiger Punkt, der unsere Anstrengungen erfordert.
Aber das kann doch nicht bedeuten, daß diese wesentlichen Leistungen, die überhaupt erst die Voraussetzung dafür sind, daß man sich der Aufgabe des Abbaus der Arbeitslosigkeit widmen kann, in der öffentlichen Diskussion verschwiegen werden.Die Freien Demokraten werden jedenfalls versuchen, für die entscheidende Aufgabe das ihre beizutragen. Den Forderungen nach Beschäftigungsprogrammen erteilen wir allerdings eine klare und unmißverständliche Absage.
— Herr Kollege Spöri, Herr Kollege Apel, Herr Kollege Vogel, wir haben in den siebziger Jahren gemeinsam eine Unzahl von Beschäftigungsprogrammen gefahren.
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GattermannAber, meine Damen und Herren, wir wissen, was dabei herausgekommen ist.
Es bleibt Ihr Geheimnis, warum Sie darauf bestehen, daß wir Fehler, die wir gemeinsam gemacht haben,
wiederholen sollen.
Ich erinnere mich sehr deutlich an die Zeit nach dem Weltwirtschaftsgipfel 1978 in Bonn, Herr Kollege Apel, als wir gesucht haben, wo wir denn nun noch Milliarden unterbringen könnten. Hat uns das vor dem Anstieg der Arbeitslosigkeit in den Jahren 1981 und 1982 bewahrt? Hat es dauerhafte Arbeitsplätze gegeben?
Natürlich nicht, meine Damen und Herren.Ich sage: Wir haben unsere Lektion gelernt. Beschäftigungsprogramme, ob sie nun durch höhere Kredite oder durch höhere Steuern oder durch Abgaben auf Wasser oder auf Strom oder auf was auch immer finanziert werden, bringen keine Lösung des Problems. Sie packen nicht die strukturellen Ursachen an, sondern sie konservieren im Gegenteil die Strukturprobleme
und hemmen den Strukturwandel. Sind sie ausgelaufen, wird der Sturz nur um so tiefer.
Die Schlußfolgerung kann für uns nur sein, auf Strohfeueraktionen zu verzichten und mit der Beseitigung der steuerlichen und übrigens auch der nichtsteuerlichen Hindernisse für mehr Beschäftigung fortzufahren. Das Steuersenkungsgesetz soll einen Beitrag hierzu leisten.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Roth?
Gern, Herr Kollege Roth. Vizepräsident Westphal: Bitte schön, Herr Roth.
Herr Gattermann, bezweifeln Sie wirklich die tiefgreifenden strukturellen Änderungen in unserer Gesamtwirtschaft durch das Heizenergiespargesetz, das sowohl zu einer erheblichen Einsparung des Energieverbrauchs in der Bundesrepublik beigetragen als auch Arbeitsplätze geschaffen hat?
Herr Kollege Roth, ich bestreite überhaupt nicht, daß die damals unter der energiepolitischen Zielsetzung Energiesparen getroffenen strukturverändernden Maßnahmen auch positive Erfolge gehabt haben. Aber wir sprechen im Moment über die Probleme des Arbeitsmarktes. Jene Maßnahmen haben uns — wie die Zahlen ausweisen — offensichtlich nicht davor bewahrt, jene Arbeitslosenzahlen beklagen zu müssen, die wir im Augenblick beklagen.
Meine Damen und Herren, es wird niemandem verborgen geblieben sein, daß angesichts dieser drückenden Arbeitslosenzahlen und auch unter dem Eindruck unerfreulicher Wahlergebnisse nun auch in den Reihen der Regierungsfraktionen hier und da gewisse Zweifel an der Richtigkeit der einzig wirksamen Strategie zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit aufgetaucht sind, nämlich an der Strategie, Herr Kollege Spöri, die Ursachen und bitteschön nicht die Symptome zu bekämpfen.
Ich will deshalb für meine Fraktion an die Bundesregierung und auch an uns alle appellieren, nun nicht in irgendwelchen blinden Aktionismus zu verfallen. Nichts wäre gefährlicher und schlechter. Wenn dann Entscheidungen zu treffen sein werden, dann müssen sie ordnungspolitisch richtig sein, und sie müssen zum richtigen Zeitpunkt getroffen werden.
Für die FDP-Fraktion gilt dabei — Herr KollegeSpöri, hören Sie gut zu, wie wir angeblich streiten—: Eine Preisgabe der Konsolidierungspolitik, eine Umkehr in der Finanzpolitik kann und darf nicht in Frage kommen.
— Herr Kollege Spöri, dies schließt gewisse maßvolle Modifizierungen im Konsolidierungstempo nicht aus,
wenn sich daraus bei ordnungspolitisch richtigen Maßnahmen keine Ausweitung der Staatsquote ergibt.
Meine Damen und Herren, dabei macht es natürlich überhaupt keinen Sinn, wenn in der öffentlichen Diskussion dieser Tage nebeneinander sowohl das Vorziehen der Steuerentlastungsstufe 1988 auf 1986 als auch eine Fülle unterschiedlichster gezielter Steuerentlastungsmaßnahmen und Ausgabenprogramme gefordert wird. Wenn überhaupt, dann kann nur eines von beiden gehen, aber nicht beides nebeneinander, wenn man den Kurs der Finanzpolitik nicht preisgeben will.Meine Damen und Herren, es wird Sie überhaupt nicht verwundern, wenn ich an dieser Stelle sage, daß die FDP an ihrer von Anfang an geäußerten Auffassung festhält, eine Steuerentlastung in einem Schritt schon 1986 wäre das richtige gewesen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 141. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Mai 1985 10457
GattermannAber, Herr Spöri, wir haben Vereinbarungen getroffen, und es gibt sehr viele gute Argumente dafür, diese Zweistufigkeit aufrechtzuerhalten.Ein ganz wesentliches Argument will ich Ihnen sagen: In dieser Frage sprechen die Bundesländer ein ganz entscheidendes Wort mit. Nach dem „Bayernkurier" von morgen, den ich soeben gelesen habe, kenne ich erst einen einzigen Ministerpräsidenten, der bereit wäre, eine solche Entscheidung mitzutragen. Das ist aber für entsprechende Mehrheitsentscheidungen leider überhaupt nicht ausreichend.Meine Damen und Herren, auch das muß man einmal in diesem Zusammenhang sagen: Wenn eine Regierung und Koalitionsfraktionen so mutig sind, Steuerentlastungen zu einem sehr frühen Zeitpunkt zu beschließen, nämlich im Sommer vorigen Jahres, die erst in dreieinhalb bis vier Jahren zum Tragen kommen, dann ist es absolut seriös und kein Hickhack,
in bestimmten Situationen möglicherweise etwas zu revidieren,
wenn die zugrunde gelegten Wachstums- und Arbeitsmarktdaten nicht dem entsprechen, was man erwartet hat.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zu dem eigentlichen Gesetz kommen, dem wir uneingeschränkt unsere Zustimmung geben werden. Mit den Hauptkomponenten des Steuersenkungsgesetzes, dem Neuschnitt des Steuertarifs und der massiven Aufstockung des Kinderfreibetrages bei gleichzeitigem Wegfall der Kinderadditive zu den Sonderausgaben, befinden wir uns auf dem richtigen Weg zu einer leistungshonorierenden Einkommensbesteuerung, die auf die finanzielle Leistungsfähigkeit der Familien angemessen Rücksicht nimmt. Herr Kollege Vogel, wenn Sie sich bei Ihren etwas abwegigen Forderungen nach Abschaffung des Ehegattensplittings auf den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Zeidler, berufen
— Entschuldigung! Vogel , sage ich jetzt einmal, weil mir der Heimatort des Kollegen Vogel im Moment nicht geläufig ist
— auch München, hilft auch nicht weiter; also, Herr Kollege Vogel, Sie haben jetzt den Namen Vogel von mir bekommen —,
dann muß ich Ihnen sagen: Lesen Sie doch einmaldie Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtszur Frage des Ehegattensplittings! Bis auf einen ganz, ganz winzigen Bewegungsspielraum, der aus einem Nebensatz zu folgern wäre, ist das Ehegattensplitting als die der Ehe angemessene Besteuerungsform mit Verfassungsrang festgeschrieben.
— Bis auf einen winzigen Bewegungsspielraum, den man aus einem Nebensatz herauslesen könnte, ist das so. —Meine Damen und Herren, bei der Gestaltung dieser Steuerentlastung haben wir den populistischen Möglichkeiten, wie sie sich in Ihrem Vorschlag finden, widerstanden, die Proportionalzone zu verlängern und die Progressionskurve nur im unteren und mittleren Bereich abzuflachen. Der Progressionsanstieg wäre dadurch in weiten Bereichen nur noch steiler geworden. Das aber wäre exakt das Gegenteil dessen, was wir brauchen, nämlich eine durchgehende und spürbare Progressionsentlastung für alle progressiv belasteten Bürger.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Mann?
Ja, bitte schön.
Vielen Dank. — Herr Kollege Gattermann, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß der Kollege Vogel vor allen Dingen darauf hingewiesen hat, daß das Ehegattensplitting auf dem Gedanken beruht, daß eine Ehe Kinder hat,
und nehmen Sie weiter zur Kenntnis, daß inzwischen ein großer Teil der Ehen keine Kinder hat, so daß hier insofern tatsächlich neue, grundsätzliche Bedingungen bestehen, auf Grund derer man überprüfen muß, ob so eine grundsätzliche Maßnahme mit erheblichen steuerlichen Auswirkungen heute noch zeitgemäß ist, vor allen Dingen dann, wenn Sie sagen, daß Sie sich Sorgen hinsichtlich der Bevölkerungsentwicklung dieser Republik machen, die langfristig sicherlich auch für Steuern und ähnliches von großer Bedeutung ist?
Also, Herr Kollege, ich bin immer bereit, irgendwelche Meinungsäußerungen zur Kenntnis zu nehmen, wenn sie mir etwas bringen und von ihrem Inhalt her irgendwie geeignet sein könnten, zu vernünftigen, positiven Lösungen zu kommen.Was das Ehegattensplitting betrifft, lassen Sie mich einmal eines sehr klar sagen: Natürlich beruht die Idee der Ehe in erster Linie darauf, daß aus einer solchen Verbindung Kinder hervorgehen. Genauso klar ist es aber auch, daß die Gestaltung über die Zahl der Familienmitglieder die freie Entscheidung der Ehepartner ist. Unser gesamtes Eherecht, Herr Kollege, angefangen vom Zugewinnausgleich über Unterhaltspflichten bis hin zum Versorgungs-
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Gattermannausgleich im Falle der Scheidung, basiert auf einer echten partnerschaftlichen Wirtschafts- und Lebensgemeinschaft. Das ist die Teilung der Einkünfte und damit auch die Teilung bei der Besteuerung.
Ich persönlich und viele meiner persönlichen und meiner politischen Freunde sind der Auffassung, daß das Ehegattensplitting auf der Grundlage des partnerschaftlichen Grundgedankens der Ehe die einzig gemäße Besteuerungsform ist.
Ich sagte, der Progressionsanstieg wäre bei Ihren Vorstellungen nur noch steiler geworden. Es ist die schlimme Steilwand, die so leistungsdemotivierend für diejenigen wirkt, die plötzlich von ihren verdienten 100 DM nur noch 30 oder 35 DM auf ihrem Konto vorfinden. Wir brauchen die Steuerentlastung aller progressiv besteuerten Bürger.Herr Kollege Apel, was Sie, bezogen auf die Darlegungen des Bundesfinanzministers im Zusammenhang mit der Grenzsteuerbelastung, gemacht haben, ist — entschuldigen Sie, wenn ich das sage, weil ich weiß, daß sie es besser wissen und daß Sie ein hochintelligenter Finanzminister waren —,
lieber Herr Apel, primitive Polemik gewesen. Sie schmeißen Grenzsteuersätze mit Durchschnittssätzen lustig durcheinander,
Sie vergleichen absolute Zahlen mit relativen Zahlen. Sorry, das ist eine Form von Politik, wie sie leider in der Bundesrepublik Deutschland nicht unüblich ist, nämlich eine Politik, die an Neidinstinkte appelliert.
Mit der Entscheidung, den Kinderfreibetrag wieder zu einem Hauptpfeiler der Familienentlastung zu machen, nehmen wir Abschied von der Idee des einheitlichen einkommenunabhängigen Kindergeldes. Das einheitliche Kindergeld mit Wirkung ab 1975 von allen damals im Bundestag vertretenen Parteien beschlossen, hat sich nach unserer Überzeugung nicht bewährt. Es beinhaltet nichts anderes als die Vorstellung, den am häufigsten vorkommenden Faktor für die Minderung der finanziellen Leistungsfähigkeit, nämlich das Kind, bei der Einkommen- und Lohnsteuer zu negieren und die finanzielle Belastung durch das Kind allein über direkte staatliche Transferleistungen zu berücksichtigen.Dabei war nicht vorauszusehen, daß so die Kinderentlastung in die jeweiligen aktuellen Haushaltszwänge gerät mit der Folge, daß wir das seit zehn Jahren unveränderte Erstkindergeld von 50 DM heute noch zahlen, obwohl sich die Kaufkraft in dieser Zeit um rund 50 % vermindert hat. Wer dieKinderentlastung in die jeweiligen Haushaltsdiskussionen hineinbringen will, der muß beim einheitlichen Kindergeld bleiben, und er wird sehen, was dabei herauskommt.Vor allen Dingen aber müssen die Verfechter des einheitlichen Kindergeldes die jüngere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes zur Kenntnis nehmen.
— Sie sollten das gelegentlich einmal lesen. Wir leben nämlich in einem Verfassungsstaat, Herr Kollege,
in dem der Gesetzgeber sich in den Grenzen und auf der Grundlage der Verfassung zu bewegen hat. Sie scheinen das gelegentlich zu vergessen.
Das Verfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 22. April 1984, deren Tragweite vielleicht nicht überall registriert worden ist, folgendes ausgeführt — ich zitiere mit der gütigen Erlaubnis des Herrn Präsidenten —:Es ist ein grundsätzliches Gebot der Steuergerechtigkeit, daß die Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ausgerichtet wird.Und weiter:Aus der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit ergibt sich, daß auch solche Ausgaben einkommensteuerlich von Bedeutung sind, die außerhalb der Sphäre der Einkommenserzielung, also im privaten Bereich anfallen und für den Steuerpflichtigen unvermeidbar sind.Und weiter:Diese unabweisbare Sonderbelastung darf der Gesetzgeber nicht ohne Verstoß gegen die Steuergerechtigkeit außer acht lassen. Daraus folgt, daß er für die steuerliche Berücksichtigung— ich wiederhole: steuerliche Berücksichtigung —zwingender Unterhaltsverpflichtungen nicht realitätsfremde Grenzen ziehen darf.Aus dieser Verfassungsgerichtsrechtsprechung ergibt sich mit ziemlicher Sicherheit eine zentrale Aufgabenstellung steuerpolitischer Art für die nächste Legislaturperiode; denn die Aufstockung des Kinderfreibetrages von 432 DM auf 2 484 DM ist im Lichte der Haushaltslage zwar eine ganz beachtliche Leistung, die immerhin rund 5 Milliarden DM Steuerausfälle bedeutet. Aber der Kinderfreibetrag erreicht damit — mit 207 DM im Monat — vielleicht in etwa realitätsgerechte Unterhalts- und Versorgungskosten von Kleinkindern. Hier bleibt ein Nachholbedarf. Das werden wir zu korrigieren haben, sobald die Haushaltslage das erlaubt.
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GattermannDiese steuerpolitische Aufgabenstellung ist um so dringlicher, als die den Kinderfreibetrag ergänzende Kindergeldregelung, die wir heute mit einem Kindergeldzuschlag für kleine Einkommen um bis zu 46 DM monatlich um eine dritte Komponente erweitern, so unglücklich ausgestaltet ist, daß sie als Übergangsregelung akzeptabel, als Dauerlösung aber undenkbar ist. Von System kann man hier ja leider nicht mehr sprechen. Unglücklich ist die Dreiteilung des Kindergeldes in normales Kindergeld, gekürztes Kindergeld für Bezieher höherer Einkommen und Ergänzungskindergeld für Bezieher niedriger Einkommen.
Unpraktisch ist auch, daß sich zwei Behörden mit dem Kinderlastenausgleich befassen, nämlich die Finanzämter und die Arbeitsämter.Lieber Herr Kollege, wir bemühen uns seit langem — und teilweise sogar gemeinsam — um die Finanzamtslösung. Sie wissen doch genau, woran sie bisher gescheitert ist. Nicht zuletzt laufen deshalb die Untersuchungen der Bundesregierung zu diesem Themenbereich darauf hinaus, auf der Grundlage eines jetzt veranstalteten Planspiels mit den Ländern gemeinsam darauf hinzuwirken, den Kinderlastenausgleich bei der Finanzverwaltung zu vereinigen. Wie am Ende dann die Berücksichtigung des Faktors Kind durch den Staat im Rahmen der Finanzverwaltung für steuerpflichtige und nicht steuerpflichtige Bürger aussehen wird, bedarf sicher noch mancher politischer Diskussion im Detail.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß noch mit besonderer Freude für die FDPFraktion feststellen, daß es uns gelungen ist, uns mit einer alten Forderung durchzusetzen, nämlich den Höchstbetrag bei der Berücksichtigung des Realsplittings von 9 000 DM auf 18 000 DM zu erhöhen. Hier ist unter dem Gesichtspunkt der steuerlichen Gerechtigkeit ein wesentlicher Schritt vollzogen worden. Wir sind sehr froh, daß das gelungen ist.Herr Kollege Vogel (GRÜNE), wenn Sie das mit den Worten kommentiert haben „Von reichen Männern für reiche Männer gemacht", dann kann ich nur sagen: Kommentar überflüssig.
Die FDP begrüßt es auch, daß die Bundesregierung in dem Entschließungsantrag aufgefordert wird, hinsichtlich des Zustimmungserfordernisses zu prüfen, ob hier nicht wenigstens wesentliche Vereinfachungen möglich sind. Es ist mißlich, wenn Leute, deren Ehe gescheitert ist, alle Jahre wieder zueinander finden müssen für die Unterschrift unter die Anlage U zur Einkommensteuererklärung.
Das ist Zündstoff, den man vermeiden sollte. Es hilft eben nicht immer, daß uns der BGH gesagt hat, man habe einen Anspruch darauf. Diese persönlichen Beziehungen müssen uns auch am Herzen liegen.Abschließend hat die FDP-Fraktion den beteiligten Ministerien und Sekretariaten für die natürlich auch diesmal wieder vorzügliche Zusammenarbeit zu danken.Die FDP-Fraktion wird den Gesetzen zustimmen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Bundesminister der Finanzen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als erstes möchte ich gern den Kolleginnen und Kollegen aller Fraktionen sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern danken, die sich im Finanzausschuß und den mitberatenden Ausschüssen mit den außerordentlich schwierigen Fragen dieser Steuersenkungsvorlage zu befassen hatten.Als die Bundesregierung ihre Gesetzesinitiative im Dezember letzten Jahres dem Bundesrat übermittelte, hatte sie zwar die Hoffnung, aber nicht die Gewißheit, daß der Deutsche Bundestag diesen Entwurf noch vor der Sommerpause 1985 verabschieden werde.Dies ist heute möglich, vor allem dank der intensiven zügigen Beratung und der sachlichen Diskussion in den Ausschüssen. Ich hebe die sachliche Diskussion in den Ausschüssen nach dem wenig sachlichen Beitrag des Herrn Kollegen Apel heute hervor.
Ich begrüße, daß die Koalitionsfraktionen nach sorgfältiger Prüfung unser Konzept in allen wesentlichen Punkten bestätigt haben.
— Ich komme noch darauf.
Ich bin zuversichtlich, daß der Bundesrat dem Gesetzesbeschluß des Hohen Hauses zustimmt — zum Vorteil unserer steuerzahlenden Bürger und unserer Wirtschaft.Umfang, Zeitplan und Struktur des Steuerentlastungsgesetzes sind bis in diese Tage hinein immer wieder grundsätzlich erörtert worden. Die Sozialdemokratische Partei, Herr Kollege Apel, hat 1984, als die Koalitionsentscheidungen getroffen wurden, eine umfassende Senkung der Einkommen- und Lohnsteuer in dieser Wahlperiode grundsätzlich abgelehnt, am eindeutigsten in wiederholten Erklärungen Ihres stellvertretenden Bundesvorsitzenden Ministerpräsident Rau und des Finanzministers Posser, ohne Widerspruch aus Ihrer Bundestagsfraktion zu finden. Das ist die Wahrheit.
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10460 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 141. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Mai 1985
Bundesminister Dr. StoltenbergIch sage das, um gleich eine der vielen Verdrehungen, die Sie hier vorgetragen haben, richtigzustellen.
— Ich komme auf den Punkt gleich zu sprechen, Herr Kollege Apel. Hören Sie mal einen Augenblick zu! Wir werden Ihnen gleich einige Texte vorlegen, aus denen klar wird, wer hier die Wahrheit und wer hier die Unwahrheit sagt.
Bestimmend waren hier offensichtlich die Auffassung, daß statt dessen neue Ausgabenprogramme beschlossen werden sollten, und die auch bei anderen erkennbare Sorge, daß die Konsolidierung bei Ländern und Gemeinden diesen Schritt noch nicht ermögliche. Man muß daran erinnern, wenn Sie heute den Eindruck erwecken wollen, Sie setzten sich für eine gerechtere Steuerentlastung ein.Herr Kollege Apel, weil ich mit solchen Zwischenrufen gerechnet habe, habe ich hier eine Sammlung von Zeitungsausschnitten und Agenturmeldungen und Presseberichten der Sozialdemokratischen Partei und Ihres bekannten notleidenden Blatts „Vorwärts" mitgebracht,
woraus Punkt für Punkt für die Zeit vom März 1984 bis zum Mai 1985 bewiesen werden kann, daß die genannten führenden Politiker Ihrer Partei mit immer neuen Variationen sich gegen eine Senkung der Einkommen- und Lohnsteuer in dieser Wahlperiode ausgesprochen haben.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Apel?
Bitte sehr.
Herr Kollege Dr. Stoltenberg, sind Sie bereit zur Kenntnis zu nehmen, daß erstens eine Reihe von Landesministern, auch Ministerpräsidenten, auch von CDU-regierten Ländern, deswegen Vorbehalte hatten, weil sie in der Tat befürchteten und weiter befürchten müssen, daß sie mit 57,5% der Belastung eine höhere Belastung als der Bund tragen? Sind Sie ferner bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß die Vielfalt Ihrer verwirrenden Aussagen noch größer ist? Sind Sie drittens bereit, endlich zur Kenntnis zu nehmen, daß es einen Entschließungsantrag gibt, Anträge im Finanzausschuß, die Ihre Bemerkung Lügen strafen?
Aber Herr Kollege Apel, Ihre Zwischenfragen unterstreichen nur die Unverfrorenheit falscher Behauptungen und massiver Polemik, nichts anderes.
Ich werde Ihnen das hier einmal vortragen.Die letzte Äußerung des stellvertretenden Bundesvorsitzenden Ihrer Partei Ministerpräsident Rau, herausgegeben in der Kommentarübersicht des Bundespresseamtes vom 10. Mai dieses Jahres, ist wenige Tage alt. Herr Rau hat im Deutschen Fernsehen erklärt — ich zitiere das — —
— Ich zitiere das schon korrekt. Ich brauche nicht Ihre Ermahnung. Solche Ermahnungen können Sie lieber Herrn Apel geben. Das brauchen Sie nicht bei mir zu machen.
Originalton Rau:
Der Anteil derer, die im Staat eine Möglichkeit der Beschäftigung bekommen, wird bei geringer werdenden Steuermitteln im Bund und in den Ländern auch entsprechend geringer. Deshalb halte ich die Steuerreform mit dieser Reduktion von 20 Milliarden DM, möglicherweise noch in einem Schritt, für ganz falsch.
Sie ist arbeitsplatzvernichtend.
Es ist eine Unverfrorenheit, Herr Kollege Apel, wie Sie hier Tatsachen auf den Kopf stellen wollen,
wie Sie in oberflächlicher Weise Landespolitiker der Christlich Demokratischen Unioin für sich in Anspruch nehmen wollen. Die Landesminister der Christlich Demokratischen Union und andere der SPD haben einen Vorbehalt in der Frage der Steuerverteilung,
die von CDU und CSU geführten Regierungen haben keinen Vorbehalt in der von uns geplanten Steuersenkung. Da gibt es aus Bayern noch weitergehende Wünsche, wie Sie wissen.Das sind die Tatsachen. Sie müssen aufhören, in dieser Mischung von Primitivität und massiver beleidigender Polemik gegen mich und Verfälschung von Tatsachen eine steuerpolitische Diskussion zu führen, verehrter Herr Kollege. Ich sage Ihnen das einmal in aller Deutlichkeit.
Nach dieser Klarstellung, die Sie provoziert haben, möchte ich zur Sache zurückkommen. In der Gewißheit, daß die eigenen Anträge abgelehnt werden, wird von Ihnen eine Scheinalternative angeboten — ich bitte, die Lärmkulisse etwas zu reduzieren —, die man im Grunde selbst — siehe Rau vom März letzten Jahres bis Mai dieses Jahres — nicht gewollt hat. Das, Herr Apel, ist nicht redlich, genauso der ständig wiederholte Vorwurf, unser Gesetz komme nur einer Minderheit der sogenannten
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 141. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Mai 1985 10461
Bundesminister Dr. StoltenbergBesserverdienenden zugute. Diese Unredlichkeit ist auch charakteristisch für Ihren vorgelegten Entschließungsentwurf. Die Sozialdemokraten haben doch, meine Damen und Herren, in ihrer eigenen Regierungszeit mehrfach Entlastungen bei der Gewerbesteuer beschlossen.
Unsere weiterführenden Entscheidungen von 1983 sollen jetzt durch den Deutschen Bundestag als „beschäftigungspolitisch ziel- und wirkungslose Milliardengeschenke" abqualifiziert werden. Sie haben es selbst getan. Wir haben einen weiteren Schritt getan. Da kann man doch nicht glaubwürdig einen solchen Antragstext vorlegen.
Sozialdemokratische Regierungen — ich habe es schon einmal hier gesagt, Herr Spöri — in Frankreich und Österreich beseitigen die Besteuerung des Betriebsvermögens aus investitions- und arbeitsmarktpolitischen Gründen. In der Bundesrepublik Deutschland soll nach Ihrem Antragstext die Einschränkung dieser Steuer nachträglich als ungerecht und verfehlt gebrandmarkt werden. Es ist auch nicht in Ordnung, Herr Kollege Apel, wenn Sie diese Einschränkung der Besteuerung des Betriebsvermögens mit einer erheblichen Erhöhung des Freibetrags für kleinere und mittlere Betriebe hier erneut im Deutschen Bundestag als ein Geschenk an Großunternehmen bezeichnen. Sie haben immer noch einen gewissen steuerpolitischen Ruf zu verlieren. Ich würde Sie wirklich bitten, ernsthafter mit solchen Tatsachen umzugehen.
Sie bieten wirklich — ich muß Ihnen das nach dieser Rede und auch nach diesen Attacken hier durch Zwischenfragen sagen — keine Alternative, sondern nur Schlagworte des Sozialneids, mit dem Sie auf die Dauer keine Wahlen gewinnen können, bei aller Euphorie nach dem 12. Mai.
Meine Damen und Herren, in der ernsthafteren Diskussion wird gefragt, ob eine umfassendere und schneller wirksame Steuerentlastung geboten ist, also das Vorziehen der sogenannten zweiten Stufe. Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, daß dieser Weg nicht beschritten werden kann. Ich sage gleich — damit es kein Mißverständnis gibt —: Dies ist nicht nur die grundsätzliche Position des Bundesfinanzministers, sondern auch der Christlich Demokratischen Union Deutschlands, die auch in Zukunft Bestand haben wird — ich sage das gleich hier. Diese Auffassung vertreten, bei allen Unterschieden, auch zehn von elf Bundesländern und die kommunalen Spitzenverbände. Dabei sind rein fiskalische Gründe nicht ausschlaggebend. Ich sage das zu einigen kritischen Anmerkungen in der öffentlichen Debatte. Haushalts- und Steuerpolitik, Geld- und Währungspolitik müssen immer wieder zu einem harmonischen Zusammenwirken gebracht werden. Wenn diese zentrale Aufgabe moderner Finanzpolitik in der Vergangenheit verfehlt wurde, entstanden sofort schwere Zielkonflikte. Nachhaltige Erschütterungen waren die Folge. Wir haben das zuletzt in der Zeit der sogenannten sozialliberalen Koalition 1980 und 1981 erlebt — mit schlimmen Folgen für die Konjunktur, den Arbeitsmarkt und die Preisentwicklung. Deshalb hat die Regierungserklärung des Bundeskanzlers für diese Wahlperiode eindeutige Prioritäten gesetzt. Wir haben auch eine Koalitionsvereinbarung zu diesen Punkten, ohne Fußnoten — nur weil gestern von dem Herrn Haussmann im Rahmen seiner regen Öffentlichkeitsarbeit von Fußnoten die Rede war. Wir haben hier eine klare Koalitionsvereinbarung ohne Fußnoten.Die erste Aufgabe ist, die bedrohlich überhöhte Neuverschuldung zurückzuführen. 1982 war die jährliche Kreditaufnahme von Bund, Ländern und Gemeinden auf über 70 Milliarden DM angestiegen. In diesem Jahr wird sie voraussichtlich immer noch fast 40 Milliarden DM erreichen.
— Sehr geehrter Herr Vogel, Sie haben vorhin einmal den Bundesbankgewinn dazugezählt, nämlich für das Jahr 1985, und ihn für das Jahr 1982 weggelassen. Ich möchte mich wirklich mit dieser Art von Argumenten nicht auseinandersetzen, will ich in aller Höflichkeit sagen.
Allein beim Bund beträgt die jährliche Neuverschuldung fast 25 Milliarden DM. Immer noch steigen die Zinsausgaben zu stark an. 1982 betrugen sie 11 % der gesamten Ausgaben des Bundes. 1988 dürften es mehr als 13 % sein. Wenn wir diesen Trend nicht allmählich umkehren, verlieren wir alle jeden langfristigen Spielraum für eine Rückführung der Staatsquote und der auch nach dieser Steuersenkung immer noch zu hohen Steuerbelastung.Die wichtigsten Erfolge der letzten Jahre sind die nachhaltige Zinssenkung und der starke Rückgang der Inflationsrate. 1981 lag der Kapitalmarktzins bei uns über 11%, weil die Haushaltspolitik außer Kontrolle geraten war. Deswegen gingen die Zinsen auf über 11 % hoch.
In jüngster Zeit ist er auf knapp 7 % zurückgegangen; ein ganz wichtiges Ereignis der letzten Tage, daß nun der Durchschnittszinssatz auf weniger als 7% abgesunken ist.
Wer jetzt eine Steuersenkung von fast 20 Milliarden DM in einem Schritt fordert, nimmt unausweichlich einen drastischen Anstieg der Neuverschuldung 1986 und 1987 in Kauf. Die unvermeidbaren Folgen wären steigende Zinsen und eine massive Gefährdung der erreichten Preisstabilität.Meine Damen und Herren, der Zinsabstand zu den USA beträgt immer noch fast 4 %. Ich sage „im-10462 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 141. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Mai 1985Bundesminister Dr. Stoltenbergmer noch", weil wir dort jetzt endlich eine leichte Zinssenkung haben. Dieser Abstand ist ein kaum zu überschätzender internationaler Vertrauensbeweis für unsere Währung und für den Kurs der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Eine Schwächung, eine Erschütterung dieses Vertrauens hätte nicht nur verhängnisvolle gesamtwirtschaftliche Folgen, sondern auch schwerwiegende Konsequenzen für die öffentlichen Haushalte. Eine Halbierung des Zinsabstandes durch Anpassung nach oben würde bedeuten, daß allein der Bund im nächsten Jahr schon rund 1 Milliarde DM mehr an Zinsen aufzubringen hätte. Innerhalb von fünf bis sieben Jahren stiegen die zusätzlichen Zinsaufwendungen des Bundes allein für den Bestand an Altschulden schrittweise bis auf 7,5 Milliarden DM an, und jeder — das sage ich auch den Kollegen aus der Koalition, die nun so viele Interviews gegeben haben — wird verstehen, daß eine solche Perspektive für eine verantwortungsbewußte Finanzpolitik unannehmbar ist.
Sorge bereitet mir in der Vorausschau auf 1986 nicht so sehr die Ausgabenseite im Bundesetat. Ich werde Ende Juni einen Haushaltsentwurf für das nächste Jahr vorlegen, der den Kurs der Sparsamkeit und der prinzipiellen Ausgabenzurückhaltung bestätigt.
Dabei werden wir Vorschläge. machen, wie durch Umschichtungen gegenüber den bisherigen Planungen der Anteil der für Investitionen und für den Arbeitsmarkt wichtigen Bereiche und Mittel weiter verstärkt werden kann. Das ist unser Ziel.Ein Kurswechsel ist das nicht. Ich sage das nur zu einigen Äußerungen der letzten Tage aus der Opposition, und ich will Ihnen, Herr Kollege Jens, auch begründen, warum das kein Kurswechsel ist. Schon 1984 beispielsweise stiegen die investiven Ausgaben des Bundes um 8 % an,
und zwar bei einem Wachstum unserer Gesamtausgaben um 2 %. Herr Apel, wir haben 1984 die investiven Ausgaben des Bundes viermal so stark anwachsen lassen wie die Gesamtausgaben. Das ist die IstZahl, nicht die Soll-Zahl! Deswegen haben wir natürlich eine Legitimation, jetzt an die Kommunen — bei einer im Schnitt im Vergleich zum Bund viel besseren Finanzlage — zu appellieren, auch ihrerseits wieder die sinnvollen öffentlichen Investitionen zu erhöhen und den Arbeitsmarkt und die Bauwirtschaft zu fördern.Nein, Sorge bereitet mir die Einnahmenseite. Die jährlichen Beiträge der Bundesrepublik Deutschland an die Europäische Gemeinschaft, die aus traditionellen Einnahmen des Bundes zu leisten sind, werden bis 1989 voraussichtlich auf rund 27 Milliarden DM steigen. Das sind gut 10 Milliarden DM mehr als 1984.
— Ich beschreibe ja nur einen Sachverhalt!
— Natürlich sind wir mit daran beteiligt. Wir mußten ja auch Entscheidungen treffen, die die Finanzkrise der EG, die seit 1979 schwelte, überwanden und der EG ein Mindestmaß an Handlungsfähigkeit wiedergaben. Wir waren für die Erweiterung, und auch Sie waren dafür. Das kostet Geld. Das sind doch keine Streitpunkte. Wir haben die Weichen gestellt.
— Bei der Agrarpolitik haben Sie, Herr Apel, viele Jahre lang tatenlos das Entstehen einer Überschußsituation passiv verfolgt.
Deswegen mußten ohne Übergangsfristen harte Einschnitte erfolgen. Der Grund dafür ist, daß Sie 1979 und 1980 nicht rechtzeitig gehandelt haben.
Sie sind deshalb nicht in der Rolle dessen, der die nationalen Folge- und Ausgleichsmaßnahmen hier anklagend und polemisch als „Subventionen" hervorheben sollte.Im letzten Jahr sind — das will ich hinzufügen — die Steuereinnahmen der Gemeinden um 5,7 % gestiegen, die der Länder um 5%; beim Bund hat die Zunahme 3,6 % betragen. In diesem Jahr ist wieder erkennbar, daß unsere Einnahmen relativ verhalten steigen.Meine Damen und Herren, eine Finanzpolitik, die niedrige Preissteigerungsraten und niedrige Zinsen auch in Zukunft ermöglicht, ist unter ökonomischen und sozialen Gesichtspunkten überzeugender als beide Alternativen: überzeugender als zu schnelle Steuersenkungen und überzeugender als neue kreditfinanzierte Ausgabenprogramme. Beide Alternativen wirken zins- und preistreibend.Zu der öffentlichen Diskussion will ich nur noch sagen: Eine gemeinsame richtige Entscheidung im Bundestag wird heute die Handlungsfähigkeit der Koalition unterstreichen. Ich sage dies angesichts der erwähnten zu großen Vielfalt von Meinungen und Wünschen in Interviews der letzten Tage. Noch besser für die Zukunft ist es, wenn gemeinsame Entscheidungen im Bundestag auch von allen ohne Vorbehalt in der Öffentlichkeit vertreten werden. Das wäre ein weiterer Fortschritt.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 141. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Mai 1985 10463
Bundesminister Dr. StoltenbergInsofern ist die Öffentlichkeitsarbeit einer leistungs- und funktionsfähigen Koalition von CDU/ CSU und FDP sicher noch steigerungsfähig. Das ist in den letzten Tagen mein Eindruck gewesen.Zu den Vorbehalten sage ich aber auch: Das, was wir heute verabschieden, gilt. Der Bundesfinanzminister hat nicht die Absicht, einer Novellierung der heute getroffenen Entscheidung zuzustimmen oder eine entsprechende Ankündigung zu machen. Die Bürger müssen auch wissen, was ab 1. Januar 1986 gilt. Ich bitte, für diese Klarheit auch in der Diskussion zu sorgen.
Meine Damen und Herren, der von der SPD kritisierte Kinderfreibetrag bedeutet in der Tat eine Abkehr vom Prinzip der Familienentlastung möglichst allein durch staatliche Übertragungsleistungen wie das Kindergeld. Wir halten es für unerträglich, wenn der Steuerpflichtige alles Mögliche steuerlich absetzen kann, aber nicht die zwangsläufigen Unterhaltslasten für die Kinder. Dieses duale System, Kindergeld und Steuerfreibeträge, ist, glaube ich, eine gute Grundlage für die künftige Familienpolitik.
Diese unterschiedliche Entlastungswirkung der Kinderfreibeträge, die von der sozialdemokratischen Opposition kritisiert wird, geht im Rahmen eines Systems der Einkommenbesteuerung nach wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit in Ordnung. Aber der von der Bundesregierung vorgelegte Entwurf eines Steuersenkungsgesetzes ist nur Teil eines umfassenden Kataloges von Verbesserungen für die Familien. Wir stimmen ja heute auch über die Einführung des Kindergeldzuschlages ab. Wir haben uns entschieden für die Einführung eines Erziehungsgeldes von 600 DM pro Monat für alle Mütter für zehn Monate bzw. ab 1988 für ein Jahr. Wir haben die Wiedereinführung des Kindergeldes für junge arbeitslose Menschen bis zu 21 Jahren verwirklicht. Einer der Gründe, Herr Kollege Apel, warum man Ihren Entlastungsbeispielen mit äußerstem Mißtrauen begegnen muß, ist, daß Sie diese ergänzenden familienpolitischen Maßnahmen nicht angemessen berücksichtigen. Den Kindergeldzuschlag bis zur Höhe von 46 DM monatlich je Kind werden Kindergeldberechtigte erhalten, die den steuerlichen Kinderfreibetrag wegen der geringen Höhe ihres Einkommens nicht oder nicht in vollem Umfang nutzen. Insoweit gibt es eine Verzahnung zwischen den steuerlichen Regelungen und den sozialen Transferleistungen.Meine Damen und Herren, ein Arbeitnehmer mit Durchschnittseinkommen und zwei Kindern wird 1986 rund 1 000 DM weniger Lohnsteuer zahlen als 1985. Mitbürger mit niedrigsten Einkommen und zwei Kindern, die nicht steuerpflichtig sind, erhalten über den Kindergeldzuschlag ebenfalls ab 1. Januar 1986 eine Erhöhung ihres verfügbaren Jahreseinkommens um rund 1 000 DM. Diese beiden Beispiele widerlegen, Herr Kollege Apel, alle ständigen abwegigen Behauptungen von dem angeblich unsozialen Charakter unserer Gesetzgebung besser als jede lange Replik gegenüber dem, was Sie heute erneut gesagt haben.
Insgesamt bleibt es dabei, daß die Lohn- und Einkommensteuerzahler im Durchschnitt um rund 8 % entlastet werden. Die leistungshemmende Grenzbelastung, also die Steuer auf jede zusätzlich verdiente Mark, wird um bis zu 5,5% abgebaut, zuzüglich eines weiteren halben Prozentpunktes je Kind. Auch die soziale Ausgewogenheit bleibt natürlich in dieser weiteren Betrachtung voll erhalten. Es ist gewollt, daß die Eltern mit Kindern 1986 die Hauptentlastung bekommen und die anderen zu einem späteren Zeitpunkt.
— Ich habe j a gerade über die Verzahnungswirkung gesprochen, Herr Kollege Huonker. Sie haben das Kindergeld vor drei Jahren ohne jede Einkommensgrenze und soziale Differenzierung gekürzt, und dann reden Sie immer von den Leuten mit den hohen Einkommen.
Das ist alles vollkommen unglaubwürdig, was Sie hier auch in Zwischenrufen wieder verkünden. Sie sind mit dem Rasenmäher — da waren Sie noch Staatssekretär im Finanzministerium — über alle hinweggegangen, über den vielzitierten Bezieher großer Einkommen genauso wie über die Witwe oder die Sozialhilfeempfängerin mit Mindesteinkommen. Wir haben eine Einkommensgrenze eingeführt, wir ergänzen das um einen Kindergeldzuschlag. Das wirft administrative Probleme auf. Es ist eine soziale Politik für die Familie gegenüber Ihrer unsozialen Kürzungs- und Inflationspolitik aus der sozialdemokratischen Regierungszeit — damit das hier vollkommen klar ist.
Es bleibt auch dabei, daß die Spitzenverdiener nach Inkrafttreten des neuen Steuertarifs relativ stärker zum Steueraufkommen beitragen müssen, als das gegenwärtig der Fall ist. Die mit dem Spitzensatz von 56 % Besteuerten erhalten, bezogen auf 1988, nur einen Anteil von 5,3% des Steuerentlastungsvolumens, obwohl ihr Anteil am Steueraufkommen gegenwärtig 16,2 % beträgt. Die mit dem niedrigsten Steuersatz von 22 % besteuerten Bürger werden dagegen mit 7,8 % des Entlastungsvolumens bedacht, obwohl sie nur mit 5,8 % zum Steueraufkommen beitragen. Die Hauptentlastung bekommen — darauf haben die Kollegen Uldall und Gattermann hingewiesen — natürlich diejenigen, die als Facharbeiter, als Angestellte, als kleine Selbständige in besonderer Weise die wirtschaftliche Dynamik in unserem Lande tragen und die am härtesten von der verfehlten Tarifpolitik der SPD in früheren Jahren
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10464 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 141. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Mai 1985
Bundesminister Dr. Stoltenberggetroffen sind. Das ist der Sinn dieser Steuersenkung.
— Ich weiß natürlich, daß Ihnen das nicht gefällt, Herr Kollege Apel,
aber Sie haben — ich muß das sagen — zu diesen Kernfragen des Steuersenkungspakets auch nicht viel beigetragen.Ich will noch einen Gesichtspunkt hervorheben, der in der öffentlichen Diskussion bisher kaum aufgenommen wurde. Es ist die Tatsache, daß wir eine Reihe von Verbesserungen der steuerlichen Abziehbarkeit von zwangsläufigen Unterhaltslasten verwirklichen wie kaum wohl jemals in einem früheren Gesetz. Ich nenne nicht nur die Anhebung des Kinderfreibetrages von 432 DM auf 2 484 DM, sondern auch die Erhöhung des Ausbildungsfreibetrages für Kinder. Allein diese Maßnahme kostet jährlich 300 Millionen DM Steuerausfälle.Hinzu kommt eine Verbesserung des Haushaltsfreibetrages für Alleinstehende mit Kindern. Schließlich wird die Abziehbarkeit von Kinderbetreuungskosten, die wir auf Grund der Rechtsprechung von Karlsruhe ja schon für Alleinerziehende eingeführt haben, jetzt auf Ehegatten mit Kindern ausgedehnt, die wegen Behinderung oder einer längerdauernden Krankheit nicht in der Lage sind, ihre Kinder ohne fremde Hilfe zu betreuen. Der Grundfreibetrag für das eigene Existenzminimum wird um rund 8 % von 4 212 DM auf 4 536 DM angehoben, bei Ehegatten auf 9 072 DM. Das alleine ist ein Entlastungsvolumen von 2,1 Milliarden DM, gut 10 % des gesamten Senkungsvolumens.Eine weitere Verbesserung ist die Anhebung des abziehbaren Höchstbetrages für Unterhaltsaufwendungen an volljährige Personen, z. B. an bedürftige Angehörige. Dieser Betrag wird von 3 600 DM auf 4 500 DM jährlich angehoben; entsprechend wird auch der Betrag, bis zu dem eigene Einkünfte nicht auf den Unterstützungshöchstbetrag angerechnet werden, von 4 400 DM auf 4 500 DM erhöht.Schließlich soll — der Kollege Gattermann hat das hervorgehoben — auf Initiative des Finanzausschusses nun auch der Höchstbetrag für den Abzug von Unterhaltslasten an den geschiedenen oder dauernd getrennt lebenden Ehegatten von 9 000 DM auf 18 000 DM verdoppelt werden.Mit all diesen Verbesserungen, meine Damen und Herren, machen wir im Rahmen des heute finanziell Möglichen einen großen Schritt vorwärts, dem Grundsatz der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit wieder stärker Rechnung zu tragen. Damit folgen wir auch der jüngsten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach — ich zitiere — „auch solche Ausgaben einkommensteuerrechtlich von Bedeutung sind, die außerhalb der Sphäre der Einkommenserzielung — also im privaten Bereich — anfallen und für den Steuerpflichtigen unvermeidbar sind". Ich gehe davon aus, daß wir auch in der kommenden Wahlperiode hier weitere Entscheidungen zu treffen haben.Lassen Sie mich zum Schluß noch einmal auf die grundsätzlichen Fragen zurückkommen. Meine Damen und Herren, ein französischer Finanzminister hat im Jahr 1792 — da lebten Finanzminister noch gefährlicher als heute, vor allem in Paris in der Zeit der Revolution — folgendes festgestellt — ich zitiere —:Niemals weigert sich das Volk, vernünftige Steuern zu zahlen, vernünftig in der Verwendung und vernünftig im Maß der Belastung.Im Umkehrschluß bedeutet dies: Die Bereitschaft, Steuern zu zahlen, schwindet, wenn einerseits die Steuerlast zu groß wird, andererseits dem Bürger die Verwendung seiner Steuern für verschiedene öffentliche Aufgaben nicht mehr plausibel gemacht werden kann, wenn die Erhebung und die Verwendung nicht mehr schlüssig erscheinen.Mein schwedischer Kollege, der sozialdemokratische Finanzminister Kjell-Olof Feldt, hat in jüngster Zeit sehr bemerkenswerte grundsätzliche Aussagen zur Situation der Steuerpolitik, der Besteuerung, der Ziele der Steuergesetzgebung gemacht, die über sein Land hinaus Beachtung verdienen. Er stellt zur steuerpolitischen Situation in Schweden fest, daß eine Überbesteuerung die Bereitschaft, Steuern zu zahlen, sinken läßt — ich zitiere —, „insbesondere, wenn es so weit geht, daß es dem einzelnen unmöglich gemacht wird, seinen Lebensstandard durch eigene Arbeit zu erhöhen".Er zieht als schwedischer sozialdemokratischer Finanzminister
aus dieser Lage den Schluß, daß Reformen des Steuersystems notwendig sind — ich zitiere —, „damit wir ein einfacheres Steuersystem mit geringerer Besteuerung der höheren Einkommen bekommen".Es ist die Frage, ob Herr Walther hier auch noch sagt: Da hat er recht. Eben hat er das gesagt.
— Er führt die Diskussion von einem höheren Niveau der Besteuerung aus; da haben Sie recht. Aber das ist natürlich schon eine grundsätzliche Frage, die auch für uns von Bedeutung ist.Er sagt dann:Die Progressivität im schwedischen Steuersystem ist unverhältnismäßig geworden, und ich möchte behaupten, daß wir es hier mit dem absolut größten ökonomisch-politischen Problem unserer Tage zu tun haben ... Die Progressivität muß weiter heruntergedrückt werden, sonst wird es uns nie gelingen, eine harmo-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 141. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Mai 1985 10465
Bundesminister Dr. Stoltenbergnische Einkommens- und Lohnbildung in diesem Lande zu erreichen.
— Ja, aber das, was für Schweden aktuell ist, ist unter gewissen Aspekten Ihrer Steuerpolitik der 70er Jahre auch für uns zu einem Problem geworden.
Jedenfalls sollte man — dafür plädiere ich ja nur, Herr Huonker — vergleichbare Grundsatzdiskussionen bei uns nicht gleich mit den Totschlagsargumenten traktieren, wie wir das in letzter Zeit bei Ihnen erlebt haben. Wer bei uns sagen würde, daß es notwendig ist, ein einfacheres Steuersystem mit geringerer Besteuerung der höheren Einkommen zu bekommen, der kann ja die Antwort, auf Ihrer Seite vorprogrammiert, sozusagen schon einplanen.
Einziger Ausweg, das staatliche Defizit von rund 40 Milliarden Kronen dort abzubauen, ist nach Meinung des schwedischen Finanzministers folgerichtig nicht eine Steuererhöhung, sondern eine Senkung der öffentlichen Ausgaben im Verhältnis zum Gesamteinkommen des Landes.Das heißt doch nichts anderes, als daß hier eine sozialdemokratische Partei mit einer sehr langen Regierungserfahrung dabei ist, eine jahrzehntelange Politik der Erweiterung des öffentlichen Korridors, der Steuererhöhung und der Ausweitung öffentlicher Ausgaben zugunsten einer Politik der scharfen Ausgabenbegrenzung und einer Politik der Stabilität zu revidieren. Statt Steuererhöhungen sollen, ja müssen Steuersenkungen bis in die höheren und höchsten Einkommen erfolgen, um das Gemeinwesen noch funktionsfähig zu halten. Bei allen Unterschieden in den Einzelsätzen stellt sich das Grundproblem für uns in den nächsten Jahren in vergleichbarer Weise. Sie sollten das einmal aufnehmen, meine Damen und Herren von der SPD, und von den Parolen des Sozialneids Abschied nehmen.
Für die Bundesrepublik wird die vorgesehene Steuerentlastung günstige Wirkungen auf den gegenwärtigen konjunkturellen Erholungsprozeß haben. Aber dieses Gesetz ist auch ein ordnungspolitischer Zwischenschritt auf einem Weg zu einem Steuersystem, das wieder mehr akzeptiert wird, weil es gerechter ist, das mehr überzeugt, weil es berufliche Leistung nachhaltiger anerkennt und die Wachstumskräfte unserer Volkswirtschaft stärkt.Ziel bei der Einkommen- und Lohnsteuer muß langfristig ein Tarif sein, bei dem die steuerliche Grenzbelastung so abgesenkt wird, daß die Progression nicht in einer Kurve, sondern geradlinig ansteigt. Dies trägt dem Gedanken Rechnung, daß der persönlichen Mehrleistung bei allen Einkommensgruppen auch ein entsprechender Mehrertrag gegenüberstehen muß. Ziel einer vernünftigen Unternehmensbesteuerung muß in einem so außenwirtschaftlich verflochtenen Land wie dem unseren in erster Linie die Erhaltung und Stärkung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen sein.Trotz einzelner Entlastungsmaßnahmen, die Sie jetzt, Herr Apel, attackieren, ist die deutsche Unternehmensbesteuerung im internationalen Vergleich sehr hoch. Sie ist übrigens in Schweden unter sozialdemokratischer Federführung deutlich geringer als bei uns, um auch diesen Vergleich einmal anzuwenden. Darüber können Sie dann auch einmal mit Ihren politischen Freunden diskutieren.Je nachdem, wie in Zukunft die Gestaltung des Einkommensteuertarifs sein wird, wird sich die Frage stellen, welche Folgerungen daraus für die Körperschaftsteuersätze zu ziehen sind. Wir werden auch die Sonderbelastungen deutscher Unternehmen durch die Betriebsvermögensteuer und die Gewerbesteuer in diese Betrachtung einbeziehen.Grundsätzlich gilt auch hier: Je stärker Steuervergünstigungen abgebaut werden, desto mehr läßt sich die allgemeine Belastung zurücknehmen. Wir stehen zunehmend in einem internationalen Wettbewerb der Steuersysteme, mit direkten Folgen für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und den Arbeitsmarkt. Sorgen wir, meine Damen und Herren, als Politiker dafür, daß wir uns den Spielraum erarbeiten, um in der kommenden Wahlperiode weitere Schritte für die Senkung der Steuerlast der Bürger verwirklichen zu können.Schönen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Spöri.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das heute zur Verabschiedung anstehende Steuersenkungsgesetz soll nach den wohlklingenden Ankündigungen der Bundesregierung zur größten Steuersenkung aller Zeiten führen.
Diese bombastische Ankündigung, Herr Jung, weckt beim Bürger Erwartungen, die durch dieses Gesetz auf jeden Fall enttäuscht werden;
denn der Begriff „Steuersenkung" im Gesetzestitel ist grob irreführend, ja ein glatter Etikettenschwindel, Herr Bundesfinanzminister.
Die von Ihnen selbst vorgelegten Zahlen zeigen, daß die Grenzbelastung, d. h. die Steuerbelastung der zusätzlich verdienten Mark, beim Arbeitnehmer auch nach Verabschiedung dieses Gesetzes nicht sinken, sondern weiter steigen wird.
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10466 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 141. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Mai 1985
Dr. SpöriDiese Beispiele sind in der offiziellen Drucksache, nämlich der Antwort der Bundesregierung auf unsere Kleine Anfrage, enthalten. Ich stelle Ihnen das nachher gern zur Verfügung.
Meine Damen und Herren, die Steuerschraube wird sich in den nächsten Jahren weiter drehen, nur etwas langsamer als in den ersten drei Jahren der Wenderegierung. Trotz dieser Entlastungsmaßnahmen marschieren wir weiter zügig in den Lohnsteuerstaat, weil Sie die Lohnsteuerzahler mit diesem Gesetz kraß benachteiligen.
Das Gesetz bleibt jedoch nicht nur betragsmäßig hinter den hochgeputschten Erwartungen vieler Bürger zurück, die auf die Wahlversprechen der Bundesregierung blind vertraut haben;
dieser neue Steuertarif hat auch einen grundlegenden Konstruktionsfehler. Mehrfach hat der Bundesfinanzminister zu Recht beklagt, daß eine steigende Zahl von Bürgern mit niedrigem Einkommen in die Progressionszone hineingewachsen sind, d. h. in die Zone steigender Steuersätze.Um diese Entwicklung aufzufangen, hatte ja die sozialdemokratisch geführte Bundesregierung mehrfach die unter Proportionalzone des Tarifs kräftig ausgedehnt. Die ursprüngliche Obergrenze von 8 000 DM wurde so auf 18 000 DM erhöht.Man konnte eigentlich erwarten, daß jetzt die Bundesregierung, Herr Bundesfinanzminister, eigentlich sehr viel Interesse daran haben müßte, die Zahl der progressiv besteuerten Kleinverdiener wieder zu verringern oder doch zumindest auf den Stand des Jahres der Wende zurückzuführen.Nichts dergleichen geschieht. Die Proportionalzone des Tarifs wird durch dieses Gesetz nicht verlängert. In den Genuß der Steuerentlastung kommen statt dessen vorrangig die Bezieher hoher und höchster Einkommen. Ich wiederhole hier ganz bewußt: Nach dem Regierungsentwurf werden die Bezieher von Spitzeneinkommen fünfzigmal so stark entlastet wie Durchschnittsverdiener.
Diesen Skandal kann man in dieser Steuerdebatte nicht oft genug betonen.
Herr Bundesfinanzminister, Sie mögen sich jetzt ein paar Beispiele zusammengestupfelt haben. An diesem statistischen Vergleich läßt sich deshalb nicht rütteln, weil er aus dem von Ihnen vorgelegten amtlichen Datenmaterial stammt, nämlich aus der vorgelegten Antwort der Bundesregierung in Drucksache 10/3321. Darin können Sie es nachlesen.
Das sind Ihre eigenen Zahlen in diesem Vergleich.
Die SPD-Bundestagsfraktion schlägt daher in ihrem Entwurf eine Alternative zum Regierungsentwurf vor, daß der Tarif in drei Punkten anders konstruiert wird.Erstens. Der Grundfreibetrag soll doppelt so stark wie im Regierungsentwurf auf über 5 000 DM erhöht werden. Meine Damen und Herren, dadurch wir die Gesamtentlastung nicht nur verteilungsgerechter, weil ja der Grundfreibetrag die Bürger unabhängig vom Einkommen gleich entlastet. Wir werden dadurch auch weit stärker als die Bundesregierung dem verfassungsrechtlichen Gebot gerecht, daß bei der Besteuerung nach der persönlichen Leistungsfähigkeit das Existenzminimum des Bürgers mittelfristig steuerfrei sein sollte. Ich glaube, wir sollten in diesem Parlament, in diesem Ziel über die Parteien hinweg übereinstimmen.Bei den Forderungen nach der Erhöhung des Grundfreibetrages fällt mir auf, Herr Gattermann, daß die Koalition unheimlich zurückhaltend ist. Sie sind bei Ihren Vorschlägen unheimlich zimperlich und vorsichtig; Sie sind nicht zimperlich, wenn es darum geht, Förderungen zur Senkung des Spitzensteuersatzes aufzustellen. Genau dieser Unterschied ist bezeichnend und entlarvend für die Steuerpolitik, wie Sie sie hier machen.
Zweitens. Wir holen durch die Verlängerung der Proportionalzone des Tarifs weit über 1 Million Steuerpflichtige aus der Progression, d. h. aus der Zone der steigenden Steuersätze wieder heraus, weil sie dort nichts verloren haben. Das ist zudem ein wesentlicher Beitrag zur Steuervereinfachung.Drittens. Weil wir nach unserem Tarifkonzept im unteren Bereich der Steuerprogression — wo jetzt die Facharbeiter sitzen, Herr Stoltenberg — weit stärker entlasten als die Bundesregierung bei ihrem Tarif, muß diese zusätzliche Entlastungsmasse natürlich woanders eingespart werden. Diese Finanzmasse sparen wir in unserem Konzept durch eindeutig geringere Entlastungen im oberen Bereich der Progressionszone ein, d. h. bei den höheren Einkommen.
— Herr Uldall, es soll auch gar nicht verschwiegen werden, daß die Entlastungen dadurch oben weit geringer ausfallen als in Ihrem Konzept. Hören Sie zu: Dieser Unterschied beim Schwerpunkt der Entlastung ist von uns Sozialdemokraten gewollt. Für uns ist es eben kein steuerpolitisches Naturgesetz, daß die Bezieher von Spitzeneinkommen fünzigmal so stark wie Durchschnittsverdiener entlastet werden.
— Herr Uldall, aber bitte kurz und präzise.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 141. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Mai 1985 10467
Bitte schön, Herr Abgeordneter.
Herr Spöri, haben Sie vergessen, daß in Ihrem Antrag überhaupt nicht gesagt wird, wo Sie die Progression steigern wollen, so daß Sie nicht in der Lage sind, jeder Berufsgruppe zu sagen: Bei Euch wollen wir entlasten?
Herr Uldall, Sie haben das wieder einmal nicht gelesen. Das tut mir leid. Ich werde nachher ein Privatissimum für Sie geben.
Es ist so, daß wir in unserem Tarifkonzept im unteren Einstieg der Progession viel stärker entlasten, auch bei den Grenzsteuersätzen.
Meine Damen und Herren, unsere Tarifalternative zeigt, daß wir nicht nur die extrem einkommensabhängigen Entlastungsunterschiede kritisieren. Wir veranstalten nicht wie Sie von der CDU zu Ihrer Oppositionszeit ein steuerpolitisches Sonthofen. Ich kann mich sehr gut an die agitatorische Rolle von Herrn Häfele, dem Fachmann für heimliche Steuererhöhungen, erinnern. Man muß sich heute einmal vor Augen führen, was er hier vorgeführt hat. Wir legen neben unserer Kritik ein konstruktives Gegenkonzept vor. Bei gleicher Entlastungsmasse wäre unser Tarifkonzept zusammen mit der von uns vorgeschlagenen Erhöhung des Kindergeldes eindeutig verteilungsgerechter und familiengerechter.Herr Bundesfinanzminister, es ist doch nichts anderes als ein Etikettenschwindel, wenn nach Ihrem angeblich so familienfreundlichen Konzept der kinderlose Spitzenverdiener weit stärker als der kinderreiche Durchschnittsverdiener entlastet wird. Das ist alles andere als familienfreundlich, meine Damen und Herren.
Wenn wir dagegen nach unseren Vorschlägen im mittleren und unteren Einkommensbereich zu nennenswert höheren Entlastungseffekten und oben zu geringeren kommen, ist das auch unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten mehr als angemessen. Diese von uns angestrebte Verschiebung des Entlastungsschwerpunkts ist schon deshalb gerechtfertigt, meine Damen und Herren von der Union, weil die Bundesregierung die Besserverdienenden von einem Solidarbeitrag zur Konsolidierungspolitik als Ersatz für die gescheiterte Zwangsanleihe Ende letzten Jahres in schamloser Weise freigestellt hat.
Daran hat Hans Apel in seiner Rede vorhin zu Recht erinnert. Und dieser Vorwurf kann Ihnen in keiner Steuerdebatte erspart werden, wenn Sie glauben, das sei alles schon vergessen, das sei alles ausgesessen, Herr Bundesfinanzminister. Das war nicht nur ein finanzpolitischer Skandal, sonderndas war — auf gut schwäbisch — eine Schweinerei.
— Herr Sauer, das könnte ich auch noch übernehmen.Herr Bundesfinanzminister, was die Zweistufigkeit anlangt, so waren wir in dieser Frage immer auf Ihrer Seite; das wissen Sie. Denn wir wissen genauso gut wie Sie, daß das Vorziehen der zweiten Stufe dieser Tarifentlastung für die Investitionskraft der Länder- und Gemeindehaushalte schwere, verheerende Folgen hätte. Wer dies dennoch fordert, nimmt ganz bewußt keinerlei Rücksicht auf die Finanzsituation in Ländern und Gemeinden mit wirtschaftlichen Strukturschwächen.
Ich kann mich nach dem Ablauf der Diskussion um die Ein- oder Zweistufigkeit der Tarifkorrektur auch nicht von dem Eindruck lösen, meine Damen und Herren, daß die FDP in dieser Frage zunächst nur öffentlichen Wirbel vor der letzten Landtagswahl haben wollte und gar nicht so sehr daran geglaubt hat, daß ein sofortiges Vorziehen bei der abschließenden Beratung heute möglich ist. Aber die Herren Haussmann, Lambsdorff und Gattermann — seien Sie vorsichtig, Herr Bundesfinanzminister — spekulieren auf etwas ganz anderes: daß ein unter beschäftigungspolitischer Kompetenz- und Erfolgsnot leidender Kanzler spätestens im Herbst das FDP-Geschäft besorgt und seinen Finanzminister Stoltenberg doch noch nachträglich zum Vorziehen der zweiten Stufe nötigt.
Herr Bundesfinanzminister, ich habe Ihren Ausführungen hier zugehört, wir kennen Ihre Position. Wir erwarten in diesem endlosen Hü und Hott um die zweite Stufe endlich einmal ein wirklich klärendes Wort von Ihnen für das Gesamtkabinett. Denn dieses Affentheater um die zweite Stufe darf nicht länger laufen. Der Bürger, die Wirtschaft, die Gemeinden fordern von Ihnen endlich Ruhe und Berechenbarkeit an der Steuerfront, wenn es tatsächlich zu zusätzlichen Investitionen kommen soll.
Meine Damen und Herren, nun noch einige Anmerkungen zu den steuerpolitischen Ausflügen von Herrn Stoltenberg, die über das aktuelle Gesetz hinausreichen. — Herr Bundesfinanzminister, vielleicht gestatten Sie mir die Gnade Ihrer Aufmerksamkeit.
— Denn wir sind hier doch nicht an der Theke, Herr Kollege.
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10468 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 141. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Mai 1985
Dr. SpöriHerr Bundesfinanzminister, Sie haben auf dem Steuerberaterkongreß gesagt: Lieber niedrigere Steuersätze und weniger Ausnahmen als hohe Steuersätze und viele Ausnahmen.
So etwas hört sich natürlich gut an und wurde deshalb auch heftig beklatscht, vor allen Dingen deshalb, weil das der Losung meiner Heimat gleichkommt, die dort sehr populär ist: Lieber reich und gesund als arm und krank. Nur, die von Ihnen formulierte Bedingung, für eine derartige Politik Herr Bundesfinanzminister, wirft die Frage nach der Ernsthaftigkeit Ihrer Parolen in der Praxis auf.
Sie gehen nämlich davon aus, daß Sie Sonderregelungen zurückdrängen, um Steuersenkungen für alle durchführen zu können. Aber gerade diese Prämisse Ihrer steuerpolitischen Vision, wie Sie sie auf dem Steuerberaterkongreß vorgetragen haben, ist von Ihnen als dem verantwortlichen Minister in der Regierungspraxis bisher kraß verletzt worden: Herr Bundesfinanzminister, Sie waren es doch, der zugelassen hat, daß die steuerlichen Subventionen von 1982 bis heute von 29 auf mehr als 40 Milliarden DM angestiegen sind.
Sie sind es doch, der im Bereich der Landwirtschaft durch eine ungezielte Anhebung der Vorsteuerpauschale bis 1991 noch einmal 20 Milliarden DM Subventionen oben drauflegt.
Sie sind gescheitert, Herr Bundesfinanzminister, als es darum ging, die jetzige Tarifkorrektur mit einer auch nur ganz bescheidenen, kleinen Subventionskürzung zu koppeln. Es zeigt sich ganz deutlich, Herr Stoltenberg: Der Lack der ersten Jahre als Finanzminister blättert ab. Der graue Frust des Alltags hat auch Sie eingeholt.Das merkt man auch daran, daß Sie in diesen Debatten immer nervöser werden.
Das zeigt Ihr Ausfall gegen Willy Brandt in der letzten Bundestagsdebatte. Dieser geschmacklose Ausfall ist unverzeihbar.
Wenn Sie, Herr Stoltenberg, nicht einmal eine Subventionsmilliarde kürzen können, wenn Sie nicht einmal eine Milliarde Subventionen abbauen können, wie wollen Sie dann 20 Milliarden DM Subventionen abbauen? Das kann doch niemand glauben.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Gattermann.
Aber wirklich eine ganz kurze, Herr Gattermann.
Ganz kurz, lieber Herr Kollege Spöri: Würden Sie das Verhalten Ihres Parteivorsitzenden vor den Fernsehkameras am Wahlabend als Ausfall bezeichnen und ihn für gut oder richtig halten?
Lieber Herr Gattermann, ich finde, diese Reaktion von Willy Brandt war wirklich angemessen,
nachdem Sie die SPD als fünfte Kolonne Moskaus und als neutralistisch diffamieren.
Der Subventionsabbau ist nicht der einzige Punkt, wo Theorie und Praxis bei Ihnen, Herr Bundesfinanzminister, zunehmend auseinanderklaffen. Während Sie hier in den letzten Debatten ständig unsere investitionspolitischen Vorschläge im Bereich Arbeit und Umwelt abqualifiziert und ideologisch stur abgelehnt haben, bereitet gegenwärtig Ihr Haus klammheimlich Maßnahmen vor, die ähnlich aussehen und nur ein bißchen kleiner sind. Weil Sie, Herr Bundesfinanzminister, mit Ihrer finanzpolitischen Konzeption inzwischen beschäftigungspolitisch am Ende sind, werden diese Überlegungen angestellt.
Meine Damen und Herren, Herr Gattermann, wir sind sehr gespannt auf Ihre Vorschläge, denn sie glauben ja wohl nicht, daß wir Ihnen das Geschäft abnehmen, Vorschläge zu machen. Wir sind als sozialdemokratische Bundestagsfraktion aber bereit, sozial ausgewogene Lösungen auf diesem Gebiet mitzutragen — das haben wir bewiesen —; denn ein Abbau der Steuervergünstigungen vereinfacht nicht nur das Steuerrecht und verringert nicht nur den Verwaltungsaufwand, ein einfacheres Steuerrecht ist auch für die Masse der Bürger viel gerechter, da die komplizierten Regelungen einseitig jener erlesenen Minderheit zugute kommen, die sich einen qualifizierten Steuerberater leisten kann.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schroeder.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Spöri, aller Wirbel von Ihrer Seite und alle Neidparolen können hier nicht davon ablenken, daß es sich um die größte Steuerentlastung in der Geschichte der Bundesrepublik handelt, die allen Bürgern zugute kommt.
Es sind heute morgen zu dem Thema „Förderung der Familie" und deren steuerliche Entlastung einige kuriose, ja manchmal abstruse Dinge vorgetragen worden, die in den Äußerungen des Kollegen Vogel von der Fraktion der GRÜNEN gipfelten, das
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 141. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Mai 1985 10469
Dr. Schroeder
Ehegattensplitting sei nicht mehr zeitgemäß. Diese Äußerungen aus Ihren Reihen verwundern hier ja niemanden.
Ich empfehle den GRÜNEN nur, diese jüngste Forderung genauso in der Öffentlichkeit zu publizieren
wie einige andere grüne Papiere und Erkenntnisse zur Stellung der Familie und dem Verhältnis von Eltern zu Kindern. Wir hindern hier niemanden daran, weitere Eigentore zu schießen.
Ein besonderer Schwerpunkt des Steuersenkungsgesetzes ist eine nachhaltige Entlastung von Familien mit Kindern. Hier geht es für uns nicht nur um augenblickliche quantitative Verbesserungen, sondern um eine richtungweisende Weichenstellung. Insbesondere gilt dies für die Erhöhung des Kinderfreibetrages auf 2 484 DM ab 1986.Kinderkomponente und allgemeine Tarifentlastung bringen den Familien mit Kindern in der ersten Entlastungsstufe rund 70% der gesamten Steuererleichterungen, obwohl sie nur rund 39% der Steuerzahler stellen. Dabei sind die Entlastungen für Kleinverdiener auf Grund des Kindergeldzuschlages mit veranschlagten 650 Millionen DM und dem ausgeweiteten Erziehungsgeld für alle Mütter und Väter mit 2,2 Milliarden DM jährlich nicht mitgerechnet.10 Milliarden DM mehr allein für die Familien mit Kindern ist ein Wurf, der sich sehen lassen kann und einen ersten großen Schritt zu mehr sozialer Gerechtigkeit für unsere Familien bringt. Das ist keine „kümmerliche Maus", wie Sie es, Herr Kollege Apel, vorhin genannt haben.
Es ist ein Gebot des sozialen Rechtsstaates, daß Familien mit Kindern nicht über Gebühr benachteiligt werden, aber auch ein Gebot der Vernunft in einem Land, das zum geburtenärmsten der Welt geworden ist. Kein Staat kann materiell alle Benachteiligungen von Familien mit Kindern völlig ausgleichen. Aber es ist für uns nicht länger tragbar, daß alles Mögliche bei der Steuerbemessung berücksichtigt wird, nur nicht die Erziehung von Kindern.
Es geht nicht länger an, daß Familien mit Kindern genau die gleiche Steuerlast trifft wie diejenigen ohne Kinder. Das widerspricht dem Grundsatz der Besteuerung nach der persönlichen Leistungsfähigkeit und damit dem Gebot der steuerlichen und sozialen Gerechtigkeit. Für uns gilt der Grundsatz: Familie vor Steuer, Familienpflicht vor Steuerpflicht.
Der steuerliche Kinderfreibetrag bedeutet eine Abkehr von einer einseitigen Entlastung der Familie allein durch staatliche Transferleistungen. Die Beseitigung des sogenannten dualen Systems beim Familienlastenausgleich im Jahre 1975 hat uns in eine Sackgasse gebracht, die wir jetzt verlassen werden. Damit tragen wir — Herr Kollege Gattermann hat schon darauf hingewiesen — auch der jüngsten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Rechnung. Selbst gelegentliche Anpassungen des Kindergelds haben das Zurückfallen von Familien mit Kindern im Vergleich zu kinderlosen nicht verhindern können. Kinderfreibeträge beseitigen eine von der Leistungsfähigkeit her nicht gerechtfertigte Übermaßbesteuerung unserer Familien. Kinderfreibetrag und Kindergeld müssen zusammen wirken.Ohne steuerliche Kinderfreibeträge müssen Eltern für das Geld, das sie zwangsläufig für ihre Kinder ausgeben, auch noch Steuern bezahlen, und zwar je nach der Höhe des Einkommens unterschiedlich hoch. Deshalb wird die soziale Symmetrie, Herr Kollege Spöri — ich sehe ihn im Augenblick nicht —, auch nicht verschoben, wie Sie meinen, wenn Kinderfreibeträge je nach der Höhe des Einkommens eine unterschiedliche Entlastungswirkung haben. Das ist vielmehr konsequent und entspricht steuerlicher Gerechtigkeit; denn das
— hören Sie einmal zu, Herr Mann — ist beim Weihnachtsfreibetrag so, beim Arbeitnehmerfreibetrag, beim Sparerfreibetrag, beim Parteibeitrag, beim Beitrag für die Gewerkschaften, bei der Spende für den Schachverein und Fußballverein.
— Ja, das ist überall so, Herr Kollege Apel. Aber kein sozial denkender Mensch versteht, daß das beim Kind anders sein soll.
Sie lassen es zu, Kosten für Haus und Auto bei der Steuer progressionsmindernd abzuziehen. Kinder sollen jedoch schlechter behandelt werden. Bei einer solchen Lösung machen wir jedenfalls nicht mit.
Deshalb ist auch der Grundsatz richtig: Wenn das, was für den Kindesunterhalt aufgewendet wird, progressiv belastet wird, muß es auch progressiv entlastet werden.Die Entlastungsbeispiele zeigen, daß für Familien mit Kindern ab 1986 durch Tarifsenkung und Kinderfreibeträge deutliche steuerliche Erleichterungen herauskommen. Allein aus dem Kinderfreibetrag ergibt sich eine Steuerentlastung von — in absoluten Zahlen — mindestens 546 bis höchstens 1 391 DM. Die Verzahnung ist eben der außersteuerliche Kindergeldzuschlag. Das sind echte soziale Leistungen für die Bürger und unsere Familien, von denen die Steuerzahler mehr haben als von Appel-
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Dr. Schroeder
len an Instinkte des Neids, die hier von der SPD ausgehen.
Ich möchte einmal hören, was Sie hier heute morgen alles gesprochen hätten, wenn sie den Kindergeldzuschlag unter Ihrer Regierungsverantwortung eingeführt hätten. Die Bezieher kleinerer Einkommen bekommen über den Kindergeldzuschlag 46 DM, genauso viel, wie die Bezieher höherer Einkommen bei der Einkommensteuer oder der Lohnsteuer einsparen. Die SPD hätte über einen solchen Erfolg hier den ganzen Morgen geredet.
Eine weitere Aufstockung des Kinderfreibetrags wäre angesichts der tatsächlich für die Kindererziehung anfallenden Kosten wünschenswert, kann aber wegen der von der SPD übernommenen Hypotheken derzeit nicht finanziert werden.
— Ja, wegen der hier gerade wieder in einem Zuruf erwähnten Erblast.
Herr Abgeordneter, gestatten sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Mann?
Ich habe nur noch eine Minute, Herr Mann. Leider kann ich Ihnen diese Minute nicht mehr geben.
Die zusätzliche spürbare Anhebung der Ausbildungsfreibeträge zum 1. Januar 1986 ergänzt das Konzept familienpolitischer Maßnahmen und trägt der besonderen Situation der Familien, deren Kinder in Ausbildung sind, Rechnung.
Ganz besonders begrüßt meine Fraktion, daß nach der für Alleinstehende bereits zum 1. Januar 1985 eingeführten erweiterten Abzugsfähigkeit von Kinderbetreuungskosten nun eine entsprechende Abzugsfähigkeit bei solchen Ehen vorgesehen ist, bei denen ein Ehepartner behindert oder dauernd erkrankt ist. Das ist ein großer Schritt zu mehr sozialer Gerechtigkeit.
Zusammenfassend: Das Steuersenkungsgesetz bedeutet einen wirkungsvollen Durchbruch zu einer zukunftsweisenden Verbesserung der finanziellen Situation unserer Familien. Es bedeutet einen Weg zu mehr sozialer Gerechtigkeit für die Familien, damit auch in Zukunft junge Menschen den Mut haben, eine Familie zu gründen und Kinder zu erziehen, und damit unsere Familien nicht auf die Schattenseite der Gesellschaft geraten. Diesen Weg werden wir fortsetzen.
Das Wort hat der Abgeordnete Vogel .
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Da ich vorhin ein bißchen zu schnell war, habe ich jetzt ein bißchen Zeit: drei Minuten.Herr Gattermann und auch Sie, Herr Schroeder, haben das Ehegattensplitting angesprochen. Herr Gattermann hat gesagt, dies sei verfassungsgerichtlich vorgeschrieben. Nun sagt das jüngste Urteil des Verfassungsgerichts zu diesem Thema aber etwas anderes. Es stellt klar, daß dies eine Möglichkeit der Förderung der Ehe ist, und es stellt klar, daß es auch keine Diskriminierung der Ehe geben darf.Wir GRÜNEN anerkennen, daß aus der Ehe Pflichten erwachsen, daß dahinter eine partnerschaftliche Grundidee und daß deswegen auch Unterhaltsverpflichtungen bestehen, die auch steuerrechtlich anerkannt werden müssen. Ich habe auch nicht die ersatzlose Streichung des Ehegattensplittings gefordert, sondern gesagt: Wir wollen, daß ein doppelter Grundfreibetrag eingeräumt wird. Das führt natürlich in der Tendenz dazu, daß die niedrig verdienenden Ehepaare gegenüber den hoch verdienenden bevorzugt werden. Sollte dies wirklich nicht möglich sein — es ist ja möglich, daß das Verfassungsgericht da Einwände hat —, kann man immer noch über eine wahlweise Kappung des Ehegattensplittings diskutieren.Aber — das, Herr Schroeder, zu Ihnen — ich kann es in der Öffentlichkeit vertreten, daß ich dagegen bin, daß Ehepaaren, die kinderlos sind, bis zu 1 541 DM an monatlichem Ehegeld für die arbeitslose Ehefrau eingeräumt wird. Das kann ich sehr wohl vertreten. Ich könnte es aber nicht vertreten, wenn ich einem Gesetz zustimmen würde, das Kindern lediglich ein Kindergeld von 96 DM zubilligt.
Wichtig ist doch — das ist das zentrale Element unserer Politik —, daß die Förderung beim Kind ansetzt und nicht beim Familienstand.
Herr Stoltenberg hat wieder einmal dieselbe Argumentationslinie aufgezogen. Er kündigt an: Abbau der Staatsverschuldung und Steuerlast senken. Das widerspricht sich ja nun. Wenn ich bedenke, welche Ausgabensteigerungen in der nächsten Zeit anstehen — er erwähnte auf dem Steuerberaterkongreß selber, daß bei der EG bis 1989 die Beiträge um über 10 Milliarden DM wachsen werden; die Rüstung soll weiter gesteigert werden, SDI usw. —, dann kann ich mich hier nicht wie die SPD hinstellen und sagen: Auch ich bin dafür, daß eine Steuerentlastung von 20 Milliarden DM erfolgen soll. Dann muß ich das Geld dabehalten. Sonst passiert nämlich das folgende: Die Bundesregierung wird sich hinstellen und erklären: Nun ist die Staatsverschuldung wieder so in die Höhe geschossen; jetzt müssen wir bei den Sozialleistungen einsparen und Sozialabbau betreiben. Deswegen sind wir GRÜNEN gegen eine Steuerentlastung, die Gelder ausschüttet, und für eine aufkommensneutrale Steuer-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 141. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Mai 1985 10471
Vogel
reform, die die unteren Einkommensgruppen entlastet und die oberen belastet.
Dieses Steuersenkungsgesetz ist nämlich arbeitnehmerfeindlich. Die Steuerbelastung der Arbeitnehmer wird auch nach der Tarifreform höher sein als 1982. Das ist für uns sozialpolitisch ein Skandal. Wir lehnen diesen Gesetzentwurf ab.
Das Wort hat der Abgeordnete Schlatter.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bundesfinanzminister, Sie haben in Ihrer Rede vorhin auch einige Bemerkungen zu dem Problem der Lastenverteilung innerhalb der öffentlichen Haushalte gemacht. Sie haben hier Optimismus verbreitet, daß sich Ihre Linie durchsetzen werde. Ihre Linie ist ja die, daß die Lasten aus dem Steuersenkungspaket überproportional von den Ländern und Kommunen getragen werden sollen und der Bund sich mit einer Lastenbeteiligung von 42,5 % abfinden möchte. Sie haben den Optimismus verbreitet, daß sich diese Linie durchsetzt, ohne uns hier dargelegt zu haben, wie Sie die Argumente Ihrer Gesprächspartner werten, wie sie die Probleme der Länder und Kommunen im Zusammenhang mit der Diskussion um Lastenverteilung bewerten. Deshalb trage ich nach, wie wir diese Diskussion bewerten.In der Sache geht es für uns um zweierlei. Erstens. Die Auswirkungen der Steuerentlastung müssen für Länder und Gemeinden kalkulierbar sein. Zweitens. Die Politik der Lastenverschiebung auf Länder und Gemeinden darf mit dem Steuersenkungsgesetz keine Fortsetzung finden. Das ist eine Teilantwort auf Ihre Angriffe auf den nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten, der mit seinem Hinweis auf die Folgen der Steuersenkungsdiskussion und -gesetzgebung die Sorgen um seinen Landeshaushalt artikuliert hat, Sorgen, über die Sie in Ihrem Diskussionsbeitrag mit Optimismus hinweggegangen sind. Diese Sorgen sind doch begründet, wenn etliche Bundesländer und ein großer Teil der Gemeinden befürchten, um die Früchte ihrer Konsolidierungspolitik gebracht zu werden.Die im Regierungslager nicht entschiedene Diskussion um vorgezogene Steuerentlastungstermine machen die haushaltsmäßigen Auswirkungen für die Gebietskörperschaften unkalkulierbar. Den Regierungsfraktionen muß doch klar sein, daß die in ihren Reihen geführte Diskussion ein gravierendes Investitionshemmnis ist.
Der Attentismus bei den kommunalen Investitionen hat seine Gründe. Die liegen, Herr Bundesfinanzminister, zu einem erheblichen Teil in Bonn, die liegen zu einem erheblichen Teil in Ihrer Verantwortung. Die Ausfälle durch die Steuerreformtreffen vor allem die Gemeinden völlig unterschiedlich. Insbesondere die Städte und Gemeinden in Regionen mit schwacher Wirtschaftsstruktur — darauf wurde schon hingewiesen — werden durch die Ausfallwirkung vor überdurchschnittliche Haushaltsprobleme gestellt. Deshalb gibt es für mich in einem Punkt keinen Zweifel: Wieder einmal sind die Kommunen die Gekniffenen, denen nach der Berechnung der kommunalen Spitzenverbände Mindereinnahmen durch folgende Belastungen ins Haus stehen:
aus der Steuerreform — wenn man die Folgewirkungen beim Finanzausgleich hinzurechnet — 1986 2,2 Milliarden DM, 1987 2,5 Milliarden DM und 1988 4,4 Milliarden DM. Das ist mehr, als Sie als Folgewirkungen des Steuersenkungsgesetzes in der mittelfristigen Finanzplanung ausweisen. Ich glaube, es ist begründet, daß die Kommunen zur Zeit davon ausgehen, daß sie in den nächsten drei Jahren mit rund 4 Milliarden DM mehr belastet werden, als Sie in Ihrer Klugrechnung zugeben wollen.Die Kommunen werden auch belastet — auch das haben Sie heute morgen nicht erwähnt — durch die Anhebung der Vorsteuerpauschale für die Landwirtschaft, ab 1984 mit 125 Millionen DM, ab 1985 schon mit über 200 Millionen DM.Nun will ich über die Abschaffung der Kuponsteuer und über die zusätzliche Belastung für die Haushalte der Gebietskörperschaften gar nicht weiter reden.
Aber die Kommunen rechnen das ein, und sie rechnen das zu Recht ein.Wenn ich nun von der Steuerschätzung im Juni 1985 rede, denke ich, daß auch die Zahlen, die dort zu erwarten sind, für die öffentlichen Haushalte keine Entlastungen bringen, sondern eher Verschlechterungen bedeuten werden.Wer angesichts solcher Zahlen den Kommunen ihre Investitionsunlust vorwirft, kann in der finanzpolitischen Diskussion nicht ernst genommen werden.
Die Aufforderung von Mitgliedern der Bonner Koalition, Länder, aber vor allen Dingen die Gemeinden, sollten nun stärker investieren, begleiten Sie kurioserweise mit einer massiven Verunsicherungskampagne.
Insbeondere die FDP tut sich in dieser Verunsicherungskampagne hervor. Ich kann nur sagen: Jedem Kommunalpolitiker muß die FDP durch ihr tägliches steuerpolitisches Gezeter doch zu einem personifizierten Haushaltsrisiko geworden sein.
— Ich gebe Ihnen gerne noch ein Stichwort dazu:Graf Lambsdorff hat in dieser Woche gesagt, er sei
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Schlatterzuversichtlich, daß die zweite Steuerentlastungsstufe im Bundesrat vorgezogen werde und es nur eine Entlastungsstufe geben werde. Sagen Sie mir doch einmal, wie ein kommunaler Kämmerer in seiner Finanzplanung einplanen soll, wie die Haushaltswirkungen bis 1988 aussehen und welche Spitze für die Investitionen frei bleibt. Wenn Sie darüber hinweggehen, unterstreichen Sie als FDP damit einmal mehr, daß Sie von Kommunalpolitik keine Ahnung haben oder die kommunalen Interessen in Ihrer Politik nicht ernst nehmen oder nicht wahrnehmen wollen.
Ich sage, der Bundesfinanzminister müßte besser wissen, wie die Realitäten aussehen. Der Bund greift den Ländern und Gemeinden in die Taschen, saniert sich auf deren Kosten und beschimpft dann diese auch noch, weil sie nicht investieren.Ich sehe mittelfristig sehr wohl Chancen für mehr kommunale Investitionen. Das setzt aber voraus, daß sich die staatlichen Zuweisungen verstetigen, ja erhöhen, und daß die Investitionsfähigkeit gerade bei den strukturschwachen Städten nicht durch Zusatzbelastungen geschwächt wird. Der Schlüssel für mehr öffentliche Investitionen liegt vor allem in Bonn. Nur bei Klarheit in den steuerpolitischen Zielsetzungen der Bundesregierung einerseits und bei einer Neuordnung der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern andererseits können auch die Kommunen ihre Aufgabe erfüllen.
— Auf den Länderfinanzausgleich gehe ich noch ein.Tatsache ist leider: Der Bundesfinanzminister bringt weder Ordnung in die ausufernde Steuerdiskussion — und da ändern auch seine beschwörenden Appelle an die Mitglieder der Regierungskoalition von heute morgen überhaupt nichts — noch übernimmt er die Führungsaufgabe, die Führungsrolle im Konflikt um den förderativen Finanzausgleich.Ich füge hinzu: Der Anspruch der Länder ist eindeutig und begründet. Es gibt eine nicht zu leugnende überproportionale Belastung der Länder und Gemeinden als Folge des Steuersenkungspakets. Ein Ausgleich wird gefordert, aber vom Bundesfinanzminister nicht angeboten. Das heißt, der Weg in den Vermittlungsausschuß ist vorgezeichnet, und den Abgeordneten des Deutschen Bundestages wird wieder einmal zugemutet, über ein Gesetzeswerk zu beschließen, dessen materielle Auswirkungen auch für den Bundeshaushalt unkalkulierbar sind.Gerade weil wir wissen, daß die Frage des angemessenen Ausgleichs sachlich untrennbar mit dem Schicksal des Steuersenkungsgesetzes im Bundesrat verknüpft ist, hätten Sie, Herr Bundesfinanzminister, die Pflicht, im Deutschen Bundestag nicht nur Optimismus zu verbreiten, sondern uns auch die Ungewißheit über Ausgleichsregelungen zu nehmen. Ich sage: Es ist dem Deutschen Bundestag, es ist uns nicht zuzumuten, das Steuersenkungsgesetz ohne Kenntnis der tatsächlichen Ausfallwirkungen für die Kassen des Bundes, der Länder und der Kommunen heute zu verabschieden.
Die Haltung der Länder kann den Bundesfinanzminister ja eigentlich nicht überraschen. Als er noch Sprecher der Länder war, sind auch immer wieder steuerliche Maßnahmen mit notwendigen Ausgleichsvereinbarungen verknüpft worden. Ich will nicht allzu weit in die Historie gehen, sondern erinnere nur an das Jahr 1980 und an die Kindergeldmilliarde; im Jahre 1982 wurde dann mit den Haushaltsbegleitgesetzen die Kindergeldmilliarde in einem Prozentpunkt mehr Umsatzsteueranteil für die Länder umgewandelt. Herr Bundesfinanzminister, als Speerspitze der Länder haben Sie, als Sie damals noch Sprecher der Bundesländer in Finanzsachen waren, Ihren damaligen Vorgängern in Ihrem heutigen Amt nicht ohne Erfolg manche Ausgleichsregelung abgetrotzt.Aus diesem Grunde ist Ihre heutige Position unglaubwürdig und muß unglaubwürdig bleiben, insbesondere wenn Sie darauf hinweisen, daß ein spezieller Ausgleich für die Einnahmeausfälle bei den Ländern im Zuge der Steuerreform in der Verfassung nicht vorgesehen ist.Was ist dieses „in der Verfassung nicht vorgesehen" eigentlich für ein Argument? Was vom Bundesfinanzminister zu erwarten ist, ist doch das Bemühen um ein gutes Verhältnis zwischen Bund und Ländern, zwischen der Bundesregierung und den Landesregierungen auf der Grundlage ehrlicher Zahlen. Der Pflege eines solchen guten Verhältnisses bekommt es nicht, daß der Bund, wie er es in der mittelfristigen Finanzplanung getan hat, ohne Vereinbarung mit den Ländern seinen Anteil an der Umsatzsteuer schon um einen Prozentpunkt anhebt. Das ist der falsche Weg. Erst muten Sie den Ländern zusätzliche Einnahmeverzichte durch die Senkung der Vermögensteuer und durch die Korrektur bei der Gewerbesteuerumlage zu, und dann wollen Sie den Ländern trotz verschlechterter Finanzausstattung noch zusätzlich in die Kassen greifen. Damit kommen Sie beim Bundesrat nicht durch — das wissen Sie —, und da ändert auch Ihr Optimismus nichts.Bedauernd muß ich hinzufügen: Der Bund hat seine Position bezüglich der Ausgleichszahlungen gegenüber den Ländern noch zusätzlich belastet, weil er mit Zahlen operiert, die seine eigene Finanzsituation zu negativ und die der Länder und Gemeinden viel zu günstig darstellen.Ich füge auch hinzu: Es gehört wenig Prophetie dazu, festzustellen, daß der Bundesfinanzminister es nicht schaffen wird, die Milliardenzuflüsse aus den Bundesbankgewinnen vor den Ländern zu verstecken. Das sind in der Zeit von 1982 bis 1988 Gewinne mit einer stolzen Summe von 56,4 Milliar-
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Schlatterden, also im Jahresdurchschnitt 9,4 Milliarden DM. Das sind Ihre Zahlen, zu denen ich sage, daß sie nach meiner Einschätzung geschönt sind. Rechnen Sie mal locker bis 1988/89 noch 17 Milliarden drauf; dann sind Sie ungefähr bei der Summe, die Ihnen an Bundesbankgewinnen zufließen wird.Der Bundesrat hat deshalb zu Recht gefordert, daß dies in den Deckungsquotenvergleich einbezogen werden muß. Er hat in seiner Stellungnahme zum Steuersenkungsgesetz gefordert, den Ausgleichsanspruch der Länder dem Grundsatz nach anzuerkennen, gesonderte Verhandlungen über Einzelheiten des Ausgleichs unverzüglich aufzunehmen und — dies halte ich für außerordentlich wichtig — das Ergebnis in den vorliegenden Gesetzentwurf einzufügen. Dies haben Sie versäumt, und deswegen wird der Bundesrat Ihr Steuersenkungsgesetz in den Vermittlungsausschuß bringen, und wir werden uns vermutlich im Deutschen Bundestag mit den Folgen Ihrer Versäumnisse weiter zu beschäftigen haben.Wir Sozialdemokraten unterstützen die Forderung der Bundesländer. Ja, wir gehen einen Schritt weiter und fordern den Bundesfinanzminister auf, den bundesstaatlichen Finanzausgleich in Ordnung zu bringen. Es gibt eine nicht zu leugnende verfassungswidrige Benachteiligung im Länderfinanzausgleich bei den Bundesergänzungszuweisungen. Da lassen wir Sie mit Ihrem Hinweis nicht durch, daß Sie sich bei der Regelung der Bundesergänzungszuweisungen an den Mehrheitsverhältnissen in der Länderkammer orientieren müssen. Zu diesem Argument sage ich Ihnen, Herr Bundesfinanzminister: Es ist dann an der Zeit, die Mehrheitsverhältnisse in der Länderkammer zu ändern, um ihr neue Orientierungshilfen für die Aufteilung der Mittel aus den Bundesergänzungszuweisungen zu geben.Die Erfahrungen, die wir in dieser Diskussion mit Ihnen machen, führen uns Sozialdemokraten dazu, uns in den Niedersachsen-Wahlen noch stärker zu engagieren. Das bringt uns noch mehr Motivation, damit sich die Verhältnisse im Bundesrat ändern und es in dieser Republik bei den Bundesergänzungszuweisungen endlich gerecht zugeht.
Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, einen zweiten Punkt aufgreifen. Die SPD-Fraktion hat Ihnen einen Entschließungsantrag vorgelegt, über den wir nachher abzustimmen haben. Wir fordern in diesem Entschließungsantrag die Bundesregierung auf — —
— Beruhigen Sie sich. Sie werden in Niedersachsenähnliche Probleme haben wie in Nordrhein-Westfa-len. Und das ist nur gerecht als Ergebnis und Quittung für Ihre Politik.
Ich will auf unseren Entschließungsantrag eingehen und darauf hinweisen, daß wir darin fordern, daß wir künftig umfassend und überschaubar im Parlament und für die Öffentlichkeit über Ausmaß und Entwicklung der Steuerbelastung informiert werden. Wir fordern einen Steuerbelastungsbericht, der zu mehr Sachlichkeit bei der Diskussion um weitergehende Steuersenkungen beitragen könnte. Er könnte, sage ich, zum Beispiel durch Belastungsvergleiche die Behauptung der Regierung widerlegen, wir hätten international gesehen — dieses ist ja eine Behauptung, die wir auch immer von den FDP-Finanzpolitikern hören — eine besonders hohe Steuerprogression und Spitzenbelastung. Diese Behauptung ist eine windige Propagandaformel. Wenn Sie wirklich den internationalen Vergleich anstellen, dann werden Sie sehen: Beim Spitzensteuersatz bildet die Bundesrepublik mit der Schweiz und Kanada das Schlußlicht.Beim internationalen Vergleich ist eigentlich etwas ganz anderes interessant. Vergleichen Sie bei einer internationalen Gegenüberstellung einmal die Höhe des Betrages, der als Existenzminimum freibleibt. Da greift bei uns der Fiskus bei jährlich 4 212 DM zu. Das ist im internationalen Vergleich ein skandalös hoher Betrag, eine skandalös hohe Belastung von Kleinsteinkommen. Und wenn sich, international gesehen, der Abbau von Steuerlasten anbietet, dann müßten Sie zuerst und vor allem bei den Grundfreibeträgen und den sonstigen Regelungen betreffend ein steuerfreies Existenzminimum beginnen, meine Damen und Herren.
Also der von uns geforderte Steuerbelastungsbericht könnte Auskunft geben vor allem, sage ich mal, über die nationalen Gesamtgrößen. Deshalb ist es unverständlich, daß die Regierungsmehrheit signalisiert hat, daß sie unseren Antrag ablehnen wird. Sie können sich darauf verlassen, daß wir uns mit einem Nein von Ihnen nicht abfinden werden. Wir werden unsere parlamentarischen Initiativrechte nutzen, um die Bundesregierung zu zwingen, für die gebotene Klarheit zu sorgen. Wir werden durch den ideologischen Nebel pusten, den Sie ständig über Ihre Steuerentlastungsdiskussion verbreiten.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. von Wartenberg.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, zum Ende der steuerpolitischen Runde des Gesamtpakets heute ist deutlich geworden, wo die beiden Alternativen liegen: einmal das, was wir Ihnen an Steuersenkung generell um 8 % im Schnitt vor-
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Dr. von Wartenbergschlagen — auf der anderen Seite ist das deutlich geworden, was wäre, wenn die SPD an der Regierung geblieben wäre. Wir schlagen eine Steuersenkung, einen Abbau der Progression der steuerlichen Belastung für alle Bürger vor.Es sind drei Punkte, die dieses Konzept darstellen.Einmal ist es das Ziel, zu einer wesentlichen Abflachung der relativ starken Progression im mittleren Einkommensbereich zu kommen. Diese Abflachung der Progression ist langfristig angelegt. Sie muß nicht sofort bei der nächsten Preissteigerungswelle korrigiert werden. Es ist ein Tarif, der angelegt ist auf eine lineare Progression zu einer Zeit, wo es aus Haushaltsgründen und wirtschaftlichen Gründen möglich sein wird. Insoweit ist der Tarif eine Option auf die Zukunft. Meine Damen und Herren, er korrigiert uns bei folgender Enttäuschung: Beim Weihnachtsgeld, beim 13. Gehalt oder beim Urlaubsgeld ist festzustellen, daß weit weniger als die Hälfte von dem übrigbleibt, was wir brutto erhalten. Das zu mildern ist mit Aufgabe dieses Progressionsentlastungsgesetzes.
Zweitens. Schwerpunkt dieses Steuersenkungsgesetzes ist es, zu einer steuerlichen Entlastung der Familien beizutragen. Bisher haben wir die Berücksichtigung der Kinder im Steuerrecht überhaupt nicht oder sehr minimal gehabt. Wir haben die Kinder immer als Subventionsempfänger gesehen, denn Kindergeld ist nichts weiter als eine notwendige, soziale Subvention. Den Gedanken der Berücksichtigung der Leistungsfähigkeit — Eltern mit Kindern sind steuerlich weniger leistungsfähig als Eltern ohne Kinder — ins Steuerrecht einzubringen ist mit diesem Steuergesetz gelungen.
Insoweit haben wir Kinderfreibeträge als einen Teil der steuerlichen Entlastung, die dazu führen — um Ihnen das einmal vor Augen zu führen —, daß ein lediger Arbeitnehmer ohne Kinder bei einem Einkommen von 2 800 DM brutto durch das jetzige Steuerentlastungsgesetz eine Steuerentlastung von 5 % und ein verheirateter Arbeitnehmer mit ebenfalls 2 800 DM brutto mit zwei Kindern eine Entlastung von über 25% erhält. Also: Ehepaare ohne Kinder zahlen mehr Steuern als Ehepaare mit Kindern. Lassen Sie es mich positiv formulieren: Ehepaare mit Kindern zahlen deutlich weniger Steuern als Ehepaare ohne Kinder.
Das dritte, das bei diesem Gesamtpaket wesentlich ist, ist, daß es sozial ausgewogen ist. Es ist nicht nur ausgewogen, weil wir den Teil eindeutig
1986 regeln, der insbesondere den Bereich der Familienentlastung und die unteren Einkommensschichten betrifft, sondern es ist auch sozial ausgeglichen, wenn man das an Hand der Zahlen verfolgt, die wir eben hatten. Betrachten wir den verheirateten Arbeitnehmer mit zwei Kindern, so ist die Entlastung bei einem Bruttoeinkommen von 6 000 DM 10%, beim Bruttoeinkommen von 2 800 DM 25%. 10 % Entlastung ist weniger als 25% Entlastung, und deshalb ist es ein sozialer Ausgleich, der in dem Entlastungsprogramm selbst stattfindet.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Mann?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wenn Sie Ihre Frage kürzerfassen, bitte sehr.
Herr Kollege von Wartenberg, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß drei Viertel aus der Tarifreform Steuerpflichtigen mit über 75 000 DM Jahreseinkommen zugute kommen — das sind 17 % der Steuerpflichtigen —, und sehen Sie das als sozial an?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sie haben anscheinend falsche Zahlen. Der größte Teil der gesamten Steuerentlastung — wenn ich das Paket mit rund 20 Milliarden DM betrachte — geht an die Familien mit Kindern in den mittleren Einkommensbereichen.
Die Beispiele, die Sie bringen, oder die Beispiele, die der Kollege Apel heute morgen gebracht hat, gehen immer von folgendem Rechenbeispiel aus, bei dem Sie die Folgen der Mathematik eines progressiven Systems verkennen. 5 % Steuerentlastung bei zu zahlenden Steuern von 30 000 DM ist immer mehr als 10 % bei 10 000 DM. Das eine sind 1 500 DM, das andere sind 1 000 DM. Das ist eine Folge der Mathematik; die haben wir beide, Herr Apel, nicht erfunden.Ich fasse zusammen. Unsere Ziele sind: Abbau der Progression mit einer deutlichen steuerlichen Entlastung für die Familien und eindeutige soziale Ausgewogenheit dessen, was vorgelegt worden ist.Nun habe ich mich in der Verfolgung der Vorschläge der SPD und der Beratungen, die wir im Ausschuß hatten, den ganzen Vormittag über gefragt: Was sind denn nun eigentlich die Vorstellungen der SPD? Was wäre heute, wenn wir seit zweieinhalb Jahren eine sozialdemokratisch geführte Bundesregierung gehabt hätten? Wie stünden dann die Volkswirtschaft, die Steuerpolitik und die Finanzpolitik da?Meine Damen und Herren, lassen sie mich das kurz zusammenfassen. Wir hätten erstens eine Fortsetzung der schuldenfinanzierten Strohfeuer-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 141. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Mai 1985 10475
Dr. von Wartenbergprogramme gehabt, die uns in die Misere geführt haben.
Ihr Vorschlag „Programm Arbeit und Umwelt", Ihr Vorschlag „Programm für den Stahl" sind nichts weiter als Strohfeuerprogramme.
— Herr Spöri, ich bin mit der Liste noch nicht zu Ende. — Wir hätten zweitens eine Nichtentlastung der Unternehmen gehabt; denn Sie haben gegen die Insolvenzrücklage gestimmt; sie lassen Betriebe lieber pleitegehen. Sie haben gegen den Abbau der Gewerbesteuer gestimmt. In Ihren Parteiprogrammen sind immer wieder die Schaffung der Maschinensteuer, der Schwefelabgabe, der Umweltschutzabgabe und die Erhöhung der Lohnsteuerpauschale für die Zukunftssicherung enthalten. Also insgesamt hätten wir eine höhere Belastung und nicht eine niedrigere Belastung der Unternehmen gehabt.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Spöri? — Herr Abgeordneter, bitte schön!
Herr Kollege von Wartenberg, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß das eben von Ihnen angesprochene beschäftigungspolitische Programm der SPD „Arbeit und Umwelt" völlig ohne Kredit finanziert ist und daß Sie deshalb hier die Unwahrheit gesagt haben?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Also, wissen Sie, ich habe noch nie von der SPD andere Vorschläge gesehen als solche, mit denen Sie sich wie Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen haben. Sie müssen das Geld ja irgendwo aufbringen.
Ihre Formen der Umschichtungen bedeuten im Endeffekt immer Schulden, die letztendlich der Steuerzahler zu zahlen hätte und die die Beweglichkeit der Volkswirtschaft einschränken würden.
Wenn die SPD noch regieren würde, hätten wir als drittes feststellen müssen: Wir hätten keine Hilfe für die Landwirtschaft erhalten.Viertens wäre ein Einstieg in die Investitionslenkung erfolgt.Auf Grund der Vorschläge, die Sie hier zum Tarif präsentieren, würden wir fünftens zu einer klaren — wenn auch nicht zu einer Erhöhung, Herr Spöri — Verschärfung der Progression kommen; denn Ihre Vorschläge zur Verlängerung der unteren Proportionalzone und zur Vorschiebung der oberenProportionalzone haben im Endeffekt das Ergebnis, daß die Kurve dazwischen steiler sein muß.
Das heißt eben: Derjenige, der eine Gehaltserhöhung bekommt, der Weihnachtsgeld erhält, der eine Gehaltszulage erhält, zahlt überproportional mehr Steuern. Genau das ist leistungsdemotivierend und nicht leistungsmotivierend.
Ihr Vorschlag, die Kinderfreibeträge nicht einzuführen und das Ehegattensplitting einzuschränken — wobei Ihnen nicht bewußt ist, daß Ehepaare mit gleichem Einkommen überhaupt keinen Vorteil durch das Ehegattensplitting haben
und daß das Ehegattensplitting ausgesprochen arbeitnehmerfreundlich ist; denn die Abschaffung des Ehegattensplitting könnte bei denen, die nicht Arbeitnehmer sind, ganz andere Gestaltungsmöglichkeiten eröffnen —, führt zu einer Verschärfung der Besteuerung der Familie selbst.Der Vorschlag, den Grundfreibetrag zu erhöhen, ist in Ordnung, ist populär. Nur, Herr Apel, man muß das auch im Gesamtzusammenhang dessen sehen, was finanzpolitisch zu verantworten ist. Die Erhöhung des Grundfreibetrags um 100 DM bringt den Steuerzahlern insgesamt eine Entlastung von 700 Millionen DM. Bei einer Erhöhung um 300 DM, die wir vorschlagen, ergibt sich für die Steuerzahler insgesamt eine Entlastung von 2,1 Milliarden DM. Eine Erhöhung pro 100 DM bringt für jeden 1,90 DM. Ist das der volkswirtschaftliche Push, den wir brauchen? Ist das die Konsumbelebung — 1,90 DM, eine halbe Schachtel Zigaretten —, die Sie brauchen angesichts der angespannten Haushaltslage auf 2 Milliarden DM zu verzichten?
Die Konsequenzen einer derart beschriebenen Politik wären eindeutig. Wir hätten heute nicht das relativ niedrige Zinsniveau. Im September 1981 haben wir für den Kontokorrentkredit, also für unseren Überziehungskredit, über 15% Zinsen gezahlt. Heute sind es 9,8%. Im September 1981 haben Sie festverzinsliche Papiere zu einem Zinssatz von 10,2% bekommen. Der Zinssatz liegt heute bei nur 7,6%.
Wir haben eine wesentlich niedrigere Inflationsrate als Folge der Entlastung der Schuldenpolitik.Insoweit darf ich zusammenfassen: Zu unserer Politik der sinkenden Schuldenzuwächse, der sinkenden Zinsen, der Preisstabilität und jetzt eben auch der Politik der Steuersenkung gibt es von Ihnen keine Alternative.
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10476 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 141. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Mai 1985
Das Wort hat der Abgeordnete Rapp.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was sich diese Bundesregierung an Haushaltskonsolidierung zugute hält, Herr von Wartenberg, geht auf die Vereinnahmung riesiger Bundesbankgewinne zurück. früher als unseriös gescholten,
ferner auf das jahrelange Laufenlassen der heimlichen Steuererhöhungen und im übrigen vor allen Dingen auf Kahlhiebe — —
— Wir haben zu unserer Zeit in kürzeren Abständen heimliche Steuererhöhungen zurückgegeben, als Sie es tun. Sie haben das viel länger laufen lassen.
Im übrigen geht es vor allen Dingen zurück auf Kahlhiebe im sozialen Netz bei gleichzeitiger Erhöhung der Beiträge. In nur zweieinhalb Jahren haben Sie einzig beim kleinen Mann 170 Milliarden DM abgeholt.
Die Regierung hat die Belastbarkeit des sozialen Friedens wahrlich ausgetestet.
Uns Sozialdemokraten hat das nicht überrascht. Was wir aber nicht für möglich gehalten haben, ist, daß keinerlei Bedacht darauf genommen wurde, wie all diese vielen Einzelmaßnahmen zu Lasten der Familie, zumal der Mehrkinderfamilie, kumulierten.
Die Familienverbände haben protestiert. Sie haben sich ausdrücklich auf die programmatischen Aussagen der CDU berufen. Es hat nichts genutzt.
Es ist schon wahr, meine Damen und Herren, daß die Familie im Mittelpunkt der Politik dieser Bundesregierung gestanden hat, nämlich im Mittelpunkt einer Politik des Sozialabbaus und der Umverteilung von unten nach oben. Im Mittelpunkt einer solchen Politik hat in der Tat die Familie gestanden.
Meine Damen und Herren, Schutz, Förderung und Stärkung der Familie sind Verfassungsgebote. Der politische Auftrag dazu reicht in alle Bereiche des politischen und gesellschaftlichen Lebens, insbesondere auch in das Arbeitsleben hinein. Was da befristete Arbeitsverträge für die Lebensplanung von Arbeiterfamilien bedeuten, scheint man bei denKoalitionsfraktionen überhaupt nicht mehr ermessen zu können.
Ich möchte mich jetzt dem Familienlastenausgleich als jenem Kernstück von Familienpolitik zuwenden, in dem es gilt, im Verhältnis zwischen Erwachsenen mit Kindern und solchen ohne Kinder die Kosten der Erziehung so weit wie möglich auszugleichen. Dazu, meine Damen und Herren, kündigt die Bundesregierung die größten Verbesserungen aller Zeiten an. Schon diese marktschreierische Verkaufstechnik verrät, daß da etwas weggedrückt werden soll.
Zunächst wird dies weggedrückt: Erst in Jahren werden die für den Familienlastenausgleich bereitgestellten Mittel wieder auf der Höhe sein, auf der sie schon im Jahre 1981 waren.
In jedem besseren Erziehungsbuch wird davor gewarnt, erst den Tisch abzuräumen, dann mit großer Geste das eine oder andere wieder draufzutun und dafür die Liebe und die Dankbarkeit der Kinder einzufordern. Davor wird gewarnt. Nichts anderes geschieht mit dieser Parole von den größten Verbesserungen aller Zeiten.
Schlimmer noch als dieser gewiß nicht allzu verfängliche Trick aber, meine Damen und Herren, ist es, daß mit dem Begriff vom steuerlichen Familienlastenausgleich in ein klares und stimmiges Konzept jetzt etwas hineingeschmuggelt werden soll, was mit der Forderung nach einer Besteuerung entsprechend der Leistungsfähigkeit politisch und begrifflich in einen ganz anderen Kriterien unterworfenen Zusammenhang gehört. Die Bundesregierung redet vom dualen System. Da soll unter dem Oberbegriff vom Familienlastenausgleich einerseits einheitliches Kindergeld gezahlt, andererseits und hinzutretend durch steuerliche Kinderfreibeträge dem Grundsatz der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit Rechnung getragen werden.
Will man sachlich und logisch beides miteinander verknüpfen, dann muß man wohl von der Vorstellung ausgehen, daß es auch duale Kinderlasten gibt. Es ist wichtig, der Ideologie auf den Grund zu gehen, die genau dies behauptet, nämlich es gebe duale Kinderlasten.Entschuldigen Sie: Wenn ich das tue, muß ich mich zunächst ein bißchen der steuertechnischen Fachsprache bedienen.Die Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit erfordert, daß das Existenzminimum von der Besteuerung ausgenommen bleibt.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 141. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Mai 1985 10477
Rapp
1 In unserem Steuerrecht wird dem durch den Grundfreibetrag Rechnung getragen, der für jeden Steuerpflichtigen einen im absoluten Betrag gleich hohen Fundus der materiellen Existenzsicherung gewährleistet — derzeitig gewiß unzulänglich, weshalb wir ja auch die Anhebung des Grundfreibetrags fordern.Nochmals: Der Steuergesetzgeber geht davon aus, daß der unerläßliche materielle Grundstock für jedermann etwa gleich ist. Nach meiner Überzeugung folgt dies zwingend aus dem Gleichheitsgrundsatz der Verfassung.Nun versteht es sich, daß der Staat auf die materielle Grundsicherung auch der Kinder Bedacht nehmen muß. Es ist eine Frage von lediglich technischem Rang, ob das über das Finanzamt läuft, was wünschenswert wäre, oder über ein Transferamt. Hätten wir die Finanzamtslösung, würde man einfach pro Kind den Grundfreibetrag erhöhen. Dort, wo er nicht greift, würde man mit einer Transferzahlung nachhelfen. Werden nun aber unter der Flagge der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit progressiv wirkende Kinderfreibeträge eingeführt, so heißt das nichts anderes als dies: Das Existenzminimum des Kindes des Beziehers eines hohen Einkommens ist höher anzusetzen als das des Kindes kleiner Leute.
Meine Damen und Herren, bliebe man in der Logikdieser Denkart, dann müßte man vollends auch das Existenzminimum des Steuerpflichtigen selbst zu einem steuerlichen Abzugsbetrag mit Progressionswirkung umgestalten. In der Tat, in der Anhörung des Finanzausschusses hat der wissenschaftliche Kronzeuge für die Kinderfreibeträge genau dies gefordert: Das Existenzminimum des großen Mannes hat als höher zu gelten als das des kleinen Mannes. Also weg vom Grundfreibetrag und hin zum progressionswirksamen Abzugsbetrag!
Damals bei dem Hearing, meine Damen und Herren, haben die Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen doch einigermaßen betreten aus der Wäsche geguckt. Sie haben gesagt: Das kann man nicht machen. Es würde gewiß die Sozialstrukturen in die Luft sprengen und bedeutete die totale Absage an die gesellschaftlichen Baugesetze der Solidarität und Subsidiarität, würde der Gesetzgeber das Existenzminimum je nach dem individuell unterschiedlich mit Geld ausgestatteten Anspruch auf höheren Lebensstandard bestimmen. Dies wäre wohl das Ende von Sozialstaatlichkeit.
Aber genau das geschieht partiell — auf die Kinder bezogen — mit der Einführung der steuerlichen Kinderfreibeträge. Das Kind des Großverdieners hat dem Staat deshalb zweieinhalbmal mehr wertzu sein als das Kind des Normalverdieners, weil ja auch sein Anspruch auf Lebensstandard höher ist.
Herr Kollege Rapp, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen KrollSchlüter?
Nein, im Interesse meiner Kollegin Renate Schmidt, die auch noch reden will, lasse ich Zwischenfragen nicht zu.
Ich würde Ihnen die Zeit nicht anrechnen.
Wer — wie die Koalitionsfraktionen — dieses Ergebnis will, der wird auch durch die Kritik nicht mehr zu beeindrucken sein, daß die Kindererziehungskosten steuersystematisch jetzt in die Nähe der Reproduktionskosten für verbrauchte Produktionsfaktoren geraten. Das sind tolle Perspektiven für eine Gesellschaft mit menschlichem Antlitz.
Meine Herren von der CDU, ich nehme Sie bei Ihrem Programm. Das sind tolle Perspektiven.Ich habe den Gesetzentwurf der Fraktion der CDU/CSU aus dem Jahre 1974 bei mir, den der Herr Geißler mit dem markigen Spruch begleitet hat, das Kind des reichen Mannes dürfe dem Staat nicht mehr wert sein als das Kind des kleinen Mannes.
Meine Damen und Herren, es stellt sich die Frage, was zwischenzeitlich mit einer Partei passiert ist, die ja auch einmal den Traditionen bedeutsamer Sozialbewegungen verpflichtet war. Die Antwort darauf haben viele Wähler am 12. Mai gegeben. Aus der Basis der CDU war der Aufschrei zu hören, der Wähler habe der CDU über weite Strecken den Charakter einer Volkspartei abgesprochen. Nehmen Sie das doch ernst. Der logische Gegensatz zur Volkspartei ist ja wohl die partiell auf Interessen fixierte Partei.
Meine Kollegin Renate Schmidt wird nachher ein paar Beispielfälle vortragen, die ausweisen, daß das, was ich gesagt habe, nicht nur rückblickend für die letzten zweieinhalb Jahre gilt, sondern auch für das, was heute an Gesetzesvorhaben ansteht.Ich komme noch einmal auf die Anhörung im Finanzausschuß zurück. Einer der Gutachter hat damals gesagt, beim steuerlichen Leistungsfähigkeitsprinzip sei von den tatsächlichen Unterhaltsaufwendungen auszugehen. Ich bin, wie gesagt, nicht dieser Auffassung. Meines Erachtens ist vom Existenzminimum auszugehen. Folgte man aber doch jenem Gutachter, so würde — ich zitiere diesen Gutachter — „für den Steuerabzug insoweit kein Raum sein, als Unterhaltsaufwendungen durch das Kindergeld abgedeckt sind". — Danach wären Sie,
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10478 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 141. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Mai 1985
Rapp
meine Damen und Herren von Regierung und Koalition, aufgefordert, nur den Saldo zum Abzug zuzulassen.Jener Kronzeuge für die steuerlichen Kinderfreibeträge, den ich bereits erwähnt habe, hat in seinem Plädoyer — von Ihnen überhört — immerhin dies hinzugefügt: „Soweit Kinderfreibeträge lediglich der Besteuerung nach Leistungsfähigkeit dienen, ist kein Raum, von Familienlastenausgleich zu reden." — Wenn man jedoch mogelt und gleichwohl vom steuerlichen Familienlastenausgleich redet — kommt es natürlich zu jenen unglaublichen Brüchen und Sprüngen, die Professor Oberhauser in der Anhörung aufgezeigt hat.
Loben Sie einen Preis aus für die skurrilste Ausgeburt an Bürokratie:
Es wird Ihnen nichts Abenteuerlicheres geboten werden als das, was jetzt an Verfahrensregelung für diese 46 DM vorgesehen ist.
Frau Schmidt wird nachher für die sozialdemokratische Alternative für die durchgängige Erhöhung des Kindergelds plädieren. Es ist Zeit, dringend nötig, den Familienlastenausgleich zu verbessern. Wir zeigen auf, wie das zu machen ist. Unser Vorschlag wird dem Auftrag gerecht.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Professor Männle.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Familie — Lebensform mit Zukunft", so überschreibt die CSU ihr familienpolitisches Programm, das auf dem Parteitag im Oktober 1984 verabschiedet wurde. Um diese Zukunft für Familien zu sichern, bringen wir heute in wenigen Minuten zwei wichtige Gesetze zu ihrem Abschluß, quasi Ecksteine unserer Familienpolitik.Das heute zu beschließende Familienlastenausgleichskonzept der Union beruht auf zwei Pfeilern: den Steuerfreibeträgen für Kinder und dem Kindergeld. Mit der ersten Stufe der Steuerreform werden die Kinderfreibeträge erheblich angehoben. Die Erhöhung von 432 DM auf 2 484 DM ist schließlich kein Pappenstiel. Daneben wird es für die Bezieher niedriger Einkommen, die von Steuerfreibeträgen wenig oder gar nichts haben, einen Kindergeldzuschlag bis zu 46 DM pro Monat geben. Rund 750 000 Eltern erhalten nun zusätzlich zum bisherigen Kindergeld diesen Kindergeldzuschlag. Er kommt vor allem denjenigen zugute, die ein geringes zu versteuerndes Einkommen haben. Er kommt aber auch denjenigen zugute, die quasi gar kein zu versteuerndes Einkommen haben, z. B. Arbeitslose, Frührentner und Studenten.
Für alle diese Gruppen, die ich gerade aufgezählthabe, bedeutet der Zuschlag schon beim erstenKind nahezu eine Verdoppelung des bisherigen kindergeldes.
Die Novelle zum Bundeskindergeldgesetz bringt aber noch weitere Verbesserungen. Alleinstehende, haushaltsführende Vollwaisen werden in den Kreis der Anspruchsberechtigten aufgenommen. Auch die in einem Ostblockland lebenden Kinder von kindergeldberechtigten Deutschen werden berücksichtigt. Für die Mehrkinderfamilie, die bisher auf Grund ihres höheren Einkommens eine Minderung des Kindergeldes hinzunehmen hatte, werden die Freibeträge erhöht.Dieses duale System von Steuerfreibeträgen für Kinder und von Kindergeld mit Zuschlägen stärkt unsere Familien. Dieses System — ich möchte es ausdrücklich betonen — ist sozial ausgewogen, wie die Zahlenbeispiele beweisen, die Herr Minister Stoltenberg, Herr Schroeder und auch der Herr Kollege von Wartenberg hier angeführt haben.
Ich brauche diese Beispiele nicht weiter zu erläutern.Für uns gilt grundsätzlich: Familien mit Kindern dürfen wirtschaftlich nicht so viel schlechter dastehen als Ehepaare mit vergleichbarem Einkommen ohne Kinder. Ich betone extra: mit vergleichbarem Einkommen ohne Kinder.
Ein Blick auf die tatsächlichen Entlastungen zeigt, daß die Vorwürfe, die vorhin hier gemacht worden sind, auch vom Kollegen Rapp — da ist er fast im Schulterschluß mit dem Kollegen Vogel, dem GRÜNEN-Vogel, wie vorhin gesagt worden ist —, völlig unberechtigt sind.
— Also, auch mit dem roten Vogel. Es ist sehr gut, daß man diesen Schulterschluß hier deutlich merkt.— Es wird hier von der Umverteilung geredet und gesagt: Kind sei Kind, Ehe sei Ehe. Ja, das hat der Herr Vogel von Ihnen gesagt. Meine Frage: ist Rente gleich Rente, Lohn gleich Lohn, Steuer gleich Steuer? Das ist ein sehr einfaches Strickmuster, das hier heute vormittag gestrickt worden ist. Wenn ich es einmal auf eine etwas höhere Abstraktionsebene bringe und mit einem philosophischen Satz ausdrücke, dann lautet der: Das gleiche ist nicht dasselbe.
Ausgerechnet beim Familienlastenausgleich gehen nun die SPD und auch die GRÜNEN von einer Gleichheitsideologie aus, die sie bei anderen. gesetzlichen Regelungen — bisher jedenfalls, so möchte ich betonen — mit Recht nicht praktizieren. Nach dem wenig famosen Ehescheidungsrecht z. B. zahlen Besserverdienende für ihre Kinder j a auch ei-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 141. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Mai 1985 10479
Frau Männlenen höheren Unterhalt als Niedrigverdienende. Da findet man das sicherlich ganz normal.Trotz aller Demagogie, trotz allen Schürens von Neid, den wir heute vormittag so deutlich in dieser Debatte gespürt haben,
möchten wir deutlich ausdrücken: Höhere Einkommen führen auch zu höheren Ausgaben für Kinder, und zwar nicht nur durch die Systematik des Steuerrechts. Da wird der Höherverdienende ja auch stärker zur Kasse gebeten. Soziale Gerechtigkeit ist auch keine Einbahnstraße. Wer ja sagt zur Steuerprogression, muß auch ja sagen zu Steuerfreibeträgen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch einige wenige Bemerkungen zum Steuerentlastungspaket insgesamt sagen. Natürlich — dies ist j a kein Geheimnis — waren die CSU und entsprechend die CSU-Landesgruppe von Anfang an der Meinung, die Tarifreform in einem Zuge zum 1. Januar 1986 durchzuführen. Schließlich hat sich aber — auch nach Kontaktaufnahme des Bundesfinanzministers mit den Ländern — in der Koalition die Meinung durchgesetzt, die Steuerentlastung in zwei Stufen durchzuführen. Grundlage dieser Meinungsbildungen waren die uns allen bekannten gesamtwirtschaftlichen Rahmendaten. Ob zukünftige Daten eine andere Beschlußfassung erfordern, werden wir als CSU sorgfältig beobachten. Der Lateiner würde vielleicht sagen, hier gilt terminus ad quem.Meine Damen und Herren, wir haben vor der Wahl versprochen, Nachteile von Familien mit Kindern gegenüber Ehepaaren ohne Kinder auszugleichen. Nicht länger sollen Nutzen von Kindern sozialisiert, also der gesamten Gesellschaft zugute kommen, und die Belastungen von Kindern individualisiert, auf das einzelne Ehepaar abgeschoben werden. Diese Versprechungen, die wir vor der Wahl gegeben haben, lösen wir heute ein.
Ebenso werden wir alle anderen Ankündigungen einhalten, wie das Erziehungsgeld und die Anerkennung von Erziehungszeiten in der Rentenversicherung.
Wir beweisen, daß Familienpolitik Vorrang genießt vor anderen Bereichen.
Familie, Lebensform mit Zukunft. 70% aller Jugendlichen zwischen 14 und 21 Jahren wollen heute Kinder haben und ein glückliches Familienleben führen. 20% sind noch unschlüssig. Nur 10% lehnen dies als Lebensziel ab. Ich möchte Sie alle fragen: Ermutigt uns dies eigentlich nicht, daß diese positiven Zahlen von den jungen Menschen stammen?
— Darauf komme ich gleich.Daß diese Ziele und Wünsche umgesetzt werden können, ist eine Aufgabe von Politik, so wie wir es verstehen. Der Staat — das betone ich extra — darf dem einzelnen nicht seine rein private Entscheidung abnehmen. Er darf sie ihm auch nicht vorschreiben. Aber er muß die Rahmenbedingungen schaffen, so daß seine Ziele realisiert werden können.
Ich meine, die Beschlüsse, die wir heute fassen werden, werden einen positiven Akzent setzen und die wirtschaftliche Situation der Familien verbessern.Lassen Sie mich noch einen Gedanken hinzufügen. Das Finanzielle ist wichtig und dennoch meines Erachtens nur ein Teilbereich von Politik für Familien. Die Familie braucht neben gezielten materiellen Hilfen ein neues gesellschaftliches Ansehen, Wertschätzung und ideelle Stützung von uns allen.
Bedrückt es uns eigentlich nicht, daß Tiere oft besser behandelt werden als Kinder?
Warum erkennen wir so wenig die Leistungen an, die Mütter bei der Kindererziehung erbringen? Nach dem dritten Familienbericht, der schon auf Zahlen von 1974 basiert, bringen allein die Erziehungsleistungen von Müttern 160 Milliarden DM im Jahr.
Ziehen wir nicht oft ein — ich darf es einmal in Anführungszeichen sagen — „pflegeleichtes Ehepaar mittleren Alters" einer Familie mit Kindern bei der Wohnungsvergabe vor? Fühlen wir uns durch spielende Kinder belästigt, und betrachten wir nicht jede arbeitsuchende junge Frau als ein Risiko am Arbeitsplatz, weil sie Kinder bekommen kann?
Ich meine, wir haben uns eine Welt für Erwachsene gebaut. Sorge für den anderen, Solidarität und Mitmenschlichkeit werden zwar als Wert anerkannt, aber durchgesetzt werden sie nicht. Wir grenzen mehr und mehr Kinder aus dieser Welt aus, weil sie nicht so funktionieren, wie das für eine durchrationalisierte Gesellschaft nützlich ist.
Lassen Sie mich noch einen einzigen Gedanken einbringen. Haben wir nicht auch einen sehr verkürzten Familienbegriff? Nehmen wir nur die junge Familie mit Kindern oder die Familie mit Heranwachsenden: Wo bleiben die Großeltern, Tanten usw.?
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10480 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 141. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Mai 1985
Frau MännleWir müssen, meine ich, die Bedeutung der Familie in unserer Gesellschaft umfassend neu bedenken. Dann sichert unsere Politik nicht nur die materielle Existenz der Familien, sondern auch die geistige. Nur dann hat die Familie Zukunft.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Schmidt .
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Herren! Meine Damen! Liebe Kollegen von CDU/CSU und FDP, Sie können es hinwenden, Sie können es herwenden, Sie können Zahlen manipulieren, Sie können machen, was Sie wollen, Sie können hanebüchene Beispiele zitieren, es bleibt dabei: Die größte Entlastung der Familien aller Zeiten erweist sich auf den ersten Blick als ein Reförmchen und auf den zweiten Blick als dilettantische Augenwischerei.
Es bleibt weiter festzuhalten — bitte überlegen Sie das noch einmal —: Die Familien in ihrer Gesamtheit stehen nach diesem vorgeblichen Jahrhundertwerk schlechter da als 1981, ja meistenteils sogar schlechter als 1982.
Das sind nicht nur unsere Aussagen. Als Beleg dafür will ich die Aussage des Familienbundes Deutscher Katholiken zitieren. Sein Sprecher Professor Simon
hat folgendes in der Sachverständigenanhörung gesagt:
Ich kann nicht verhehlen, daß wir von Ihren Vorschlägen herb enttäuscht sind. Zwar wird das Kindergeld für das erste Kind, wenn die Eltern zuwenig verdienen, um etwas über das Steuerrecht zu bekommen, auf gut 96 DM erhöht. Aber was haben Sie dafür am Anfang alles zusammengestrichen?Und er sagt weiter:Wir haben ausgerechnet, daß die Durchschnittsfamilie mit drei Kindern eindeutig unter dem Stand von 1981 liegt. Hier liegen keine Verbesserungen vor, sondern Verschlechterungen.
Diese Zitate der Enttäuschung aus der Anhörung könnten fortgesetzt werden.Der zweite Beleg stammt von der Regierung selber. Sie sagen, 1981 seien für den Familienlastenausgleich 23 Milliarden DM ausgegeben worden; 1988 würden es 24 Milliarden DM sein. Das ist unter Berücksichtigung der Inflationsrate ein realer Rückschritt.Nun werden Sie sagen, der Gesamtaufwand für den Familienlastenausgleich sage nichts aus, da diese Summen für weniger Kinder ausgegeben würden. Damit haben Sie selbstverständlich recht. Aber die Frage ist erlaubt: Welche Kinder oder besser: welche Familien bekommen was? Da möchte ich noch einmal ganz deutlich sagen — weil dauernd eine unzulässige Vermischung von Sachverhalten vorgenommen wird —:
Es geht hier um die Nettoentlastung. Es geht um die Frage, was die Familie im Portemonnaie hat. Und da liegt die Ungerechtigkeit bei Ihnen.
Zwei Beispiele dazu. Das erste Beispiel: Die alleinerziehende Mutter hatte 1982 nach der Geburt ihres Kindes und nach Ende der Lohnfortzahlung noch vier Monate lang 800 DM zur Verfügung. In diesen vier Monaten werden Sie ihr 696 DM geben und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch noch die Arbeitsplatzgarantie streichen. Daß dann anschließend noch Erziehungsgeld gezahlt wird, kann dieser alleinerziehenden Mutter wurscht sein, wenn ihr Arbeitsplatz weg ist.
Dafür wird der Vorteil, der aus dem Ehegattensplitting allein auf Grund der Tatsache entsteht, daß man verheiratet ist, für den Spitzenverdiener mit 260 000 DM zu versteuerndem Jahreseinkommen von 14 000 DM auf über 18 000 DM steigen.
Manche alleinerziehende Mutter würde sich wünschen, sie hätte ein Jahreseinkommen in Höhe des Steuervorteils für dieses kinderlose Ehepaar. Also Minus für alleinerziehende Mütter, Plus für kinderlose Spitzenverdiener.Das zweite Beispiel: Die Familie des gering verdienenden Arbeiters, Postbeamten, Verkäufers mit zwei Kindern, eines davon in einer weiterführenden Ausbildung, hat 1981 und auch 1982 mindestens 435 DM Familienlastenausgleich einschließlich des Schüler-BAföG gehabt. Nach dem sogenannten Reförmchen sind es für dieselbe Familie 242 DM, also beinahe 200 DM weniger. Und die 200 DM bekommt natürlich jemand, nämlich wieder unser altvertrauter Spitzenverdiener, der 232 DM mehr für zwei Kinder bekommen wird.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 141. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Mai 1985 10481
Frau Schmidt
Also Minus für Familien mit Kindern in Schulausbildung, Plus für Söhne und Töchter von Ministern und Unternehmern.
Da von Sozialneid zu sprechen, meine Damen und Herren von der CDU/CSU und der FDP, ist schon sehr kühn.
Hier geht es darum, wie Familien über den Monat kommen. Das können Sie sich wahrscheinlich gar nicht mehr vorstellen.
Wie die soziale Ausgewogenheit von den Sachverständigen bewertet wird, zeigt ein Zitat des Vertreters der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Familienfragen, der sagte:Es ist durch keine Theorie zu rechtfertigen, daß derjenige, der mehr hat, eine Steuerentlastung bekommt, die zweieinhalb mal so hoch ist wie der Betrag für denjenigen, der zu arm ist, um überhaupt Steuern zu zahlen.Mit Theorien kommt man nicht dagegen an. Auch die Regierungskoalition hat gemerkt, daß es so nicht geht; deswegen hat sie den Kindergeldzuschlag erfunden. Was dieser für ein Monstrum ist, hat der Vertreter der Bundessteuerberatungskammer— wahrhaftig keiner sozialistischen Neigungen verdächtig —eindeutig dargelegt.
— Ich will keinen Kinderzuschlag; ich will ein Kindergeld für alle, Herr Graf Waldburg-Zeil.
Nicht alle Sachverständigen haben „Monstrum" gesagt. Aber alle — —
— Ja, die stehen sogar schlechter da als nach unserer Kürzung. Sogar da sehen Sie schlechter aus.
Auch die Befürworter der steuerlichen Kinderfreibeträge haben gesagt: Was Sie mit der Kindergeldzuschlagslösung machen, ist unpraktikabel, undurchführbar und familienfeindlich.
Stellen Sie sich doch bitte mal vor:
— Beruhigen Sie sich! Ich weiß, daß es Sie am Nerv trifft. Beruhigen Sie sich!Derjenige, der wenig Steuern zahlt, also den Freibetrag nicht ausschöpfen kann, derjenige, der keine Steuern zahlt, weil er arbeitslos ist oder wird, derjenige, der ebenfalls keine Steuern zahlt, weil er Sozialhilfe bekommt, also all diejenigen in dieser Gesellschaft, die nicht zu den Wendigen, nicht zu den Alerten gehören,
all diejenigen, die ihre Angelegenheiten nicht mit einem Griff zum Telefon oder einem Ruf nach der Sekretärin erledigen können, sondern in Ämtern Schlange stehen,
all diejenigen, die es nötig haben, ihr Kindergeld jeden Monat pünktlich zu bekommen — —
Frau Abgeordnete, ich möchte versuchen, Ihnen ein wenig mehr Ruhe zu verschaffen.
Ich wäre den Kollegen dankbar, wenn Sie etwas mehr Ruhe einkehren ließen.
Ich kann zwar noch ein bißchen lauter brüllen; aber es strengt an.
Also all diejenigen, die die regelmäßige problemlose Auszahlung des Kindergelds benötigen, müssen erstens einen Antrag stellen unter Vorlage der notwendigen Bescheinigungen, um das volle GrundKindergeld zu bekommen, zweitens am Jahresende einen weiteren Antrag stellen, um den Kindergeldzuschlag zu bekommen, drittens, wenn sie das Geld monatlich wollen, weil sie es brauchen, einen Antrag stellen, um den Zuschlag monatlich, allerdings dann unter Vorbehalt, ausgezahlt zu bekommen.Schon dieser Umstand zeigt. daß Durchschaubarkeit, Kalkulierbarkeit und Bürgernähe für diesen Vorschlag Fremdwörter sind.Sozial und ausgewogen? Nein: Unsozial, unausgewogen, familienfeindlich und elitär ist dieses Kindergeldgesetz.
Der letzte Beleg für die Ungleichgewichtigkeit: Die Familie wurde von Herrn Stoltenberg gewogen und als zu leicht befunden. Durchgesetzt haben sich die kinderlos verheirateten Leistungsfähigen, wo-
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10482 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 141. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Mai 1985
Frau Schmidt
bei für diese Regierung Leistungsfähigkeit als Synonym für „Viel Geldverdienen" ist.
Die Steuerentlastung für ein kinderloses Zahnarztehepaar wird bis 1989 auf 7 330 DM steigen. Ein Arbeiter, Angestellter oder Beamter in der niedrigsten Progressionsstufe müßte 16 Kinder haben, um eine vergleichbare Entlastung zu erreichen.
Das zur Wertigkeit von Familie. Das zu den Sonntagsreden, daß Leistung auch die Leistung, Kinder zu erziehen, ist. Das zu den Geißlerischen Propagandainszenierungen zur Frauen- und Familienpolitik und seinen gemütvollen Thesen.
Ich kann den Frauen und Familien nur sagen: Papier ist geduldig; an ihrem Handeln sollt ihr sie messen.
Wie wenig Sie von den wirklichen Nöten der Familien wissen, zeigt uns, daß Sie es ein weiteres Mal ablehnen, die Altersgrenze für den Kindergeldbezug für arbeitslose Jugendliche auf 23 Jahre hinaufzusetzen.
— Das haben wir gekürzt. Das geben wir zu. Das war ein Fehler.
Das wollen wir korrigieren. Wenn Sie sich allein die Verwaltungskosten für Ihren unmöglichen Kindergeldzuschlag anschauen, stellen Sie fest: Damit wäre schon die Hälfte unseres Antrags abgedeckt.
Wie wenig Sie von den Bedürfnissen von Familien verstehen und wie wenig es Ihnen darum geht, Chancengleichheit herzustellen, zeigt die Tatsache, daß Sie auch diesmal die Bildungsministerin im Regen haben stehenlassen. Nichts wurde Wirklichkeit von Ihren Versprechungen,
für eine Ausbildungskomponente im Familienlastenausgleich zu sorgen. Von der geringfügigen Anhebung der Ausbildungsfreibeträge haben gerade die Geringverdienenden nichts, die Sie mit dem BAföG-Kahlschlag bedient haben. Wenn ihnen wie in Bayern auch noch die Schulwegkostenfreiheit gestrichen wird, dann sieht man, wie es diesen Familien geht.
Sie aufzufordern, der Vernunft und den Bedenken der Sachverständigen Rechnung zu tragen und diese Form des Kindergeldlastenausgleichs aufzugeben, wird vergeblich sein, ebenso vergeblich wie die Aufforderung, zu Ihren eigenen Aussagen von 1975 zurückzukehren und dem Staat das Kind des Postboten oder der Putzfrau genausoviel wert sein zu lassen wie das Kind des Generaldirektors.
Wir stellen deshalb unsere Alternative zur Abstimmung.
Wir stellen unseren Gesetzentwurf zur Abstimmung, durchgerechnet und einschließlich der Schülerzuschläge und unseres Konzepts des Elternurlaubs, um nichts teurer als das Ihre.
Wir stellen Bürgernähe gegen Bürokratie. Wir stellen soziale Gerechtigkeit gegen die Umverteilungsorgie von Ihnen.
Das Wort hat der Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit, Herr Geißler.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das, was die Frau Kollegin Schmidt gerade gemacht hat — ich beziehe den Kollegen Rapp ein; leider Gottes muß ich ihn einbeziehen —, kann ich nur verstehen aus der verständlichen Verärgerung darüber, daß die Bundesregierung und die Koalitionsparteien mit diesem Entwurf eines Gesetzes zur Steuersenkung und dem ersten Teil ihrer Familienpolitik, aber auch mit den familienpolitischen Entscheidungen zum 1. Januar nächsten Jahres mit der jahrzehntelangen Benachteiligung der Familien, für die Sie auch die Verantwortung tragen, ein Ende machen.
Man kann es schon nicht mehr als unseriös bezeichnen, sondern ich finde es unverschämt, Frau Schmidt, wenn Sie, nachdem die sozialdemokratische Partei das Kindergeld für arbeitslose Jugendliche im Jahre 1981 gestrichen hat,
jetzt, nachdem wir es wieder eingeführt haben, bemängeln, daß es statt bis zum 23. Lebensjahr nurbis zum 21. Lebensjahr gezahlt werden soll. Dies
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 141. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Mai 1985 10483
Bundesminister Dr. Geißlerkann man nicht mehr als eine seriöse Auseinandersetzung bezeichnen.
Das haben sehr viele Leute eben gesehen und auch gehört. Sie können auch durch rabulistische Beispiele weder verdrehen noch verdrängen — selbst wenn Sie Kindergeldkürzung für hohe und höhere Einkommen einbeziehen und die Kürzung des Mutterschaftsgeldes, eine vorübergehende Kürzung, wie wir alle wissen —, daß diesem Kürzungsvolumen, das wir machen mußten, auch um eine total zerrüttete Finanzsituation, die Sie uns hinterlassen haben, wieder in Ordnung zu bringen, von maximal 1,5 Milliarden DM eine zusätzliche Ausgabe von über 10 Milliarden DM für die Familien entgegensteht, wenn ich die Maßnahmen vom 1. Januar einbeziehe. Da können Sie sagen, was Sie wollen, da können Sie noch so viele rabulistische Beispiele hier anführen: Das ist die größte familienpolitische Entlastung, die es in der Nachkriegszeit je gegeben hat.
Sie sprechen vom BAföG. Meine sehr verehrten Damen und Herren, als wir die Regierung von Ihnen übernommen haben, standen 200 000 arbeitslose Jugendliche auf der Straße, Lehrlinge, Arbeitnehmer. Da haben wir gesagt: In einer solchen Situation ist es wohl zumutbar, daß ein Gymnasiast, der seine Schule am Wohnort der Eltern hat — nur darum ging es —, bis zum Abitur bei seinen Eltern zu Hause wohnen bleibt und sich nicht auf Kosten der Steuerzahler eine Bude in der Stadt sucht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn Sie es anders wollen: Jeder Arbeiter wird verstehen, was ich hier gerade gesagt habe.
Die Studentenförderung nach dem BAföG ist nicht verändert worden, mit der Ausnahme, daß wir die Zuschüsse auf Darlehen umgestellt haben. Wir halten es angesichts der Finanzsituation, die Sie uns hinterlassen haben, für zumutbar, daß ein Akademiker, der später, nach dem fünften Berufsjahr, mehr verdient als der Durchschnitt der Lohnsteuerzahler, dieses Darlehen, das ihm das Studium ermöglicht hat, im Verlauf von 20 Jahren mit Raten von maximal 120 DM monatlich wieder an das deutsche Volk zurückzahlt.
Alle Arbeitnehmer, die mit ihren Lohnsteuern dieses Studium finanzieren, sollen genau wissen, daß die Sozialdemokraten das, was wir hier gemacht haben, offenbar ablehnen. Es ist eine richtige Entscheidung gewesen. Und wir lassen hier nicht mitgekünstelten Beispielen unsere Familienpolitik erledigen.
Was das Mutterschaftsgeld anlangt: Sie wissen ganz genau, daß ab 1. Januar nächsten Jahres, in acht Monaten, dieses Mutterschaftsgeld durch ein Erziehungsgeld ersetzt wird, das nicht sechs Monate, sondern erst zehn und ab 1. Januar 1988 zwölf Monate gezahlt werden wird und daß dieses Erziehungsgeld mit dem sozialdemokratischen Unrecht aufräumen wird, das Mutterschaftsgeld nur bestimmten Frauen zu gewähren, aber nicht den sogenannten Nur-Hausfrauen, den mithelfenden Handwerkersfrauen, den Bäuerinnen und den Winzerinnen. Alle sollen das Erziehungsgeld bekommen.
Für uns gibt es kein Zweiklassenrecht, wie das bei Ihnen der Fall war.
Und dann kommt der Kollege Rapp und zitiert meine Äußerungen von 1977 anläßlich der Abschaffung der Freibeträge. Das ist völlig richtig. Bei der Aussage bin ich bis heute geblieben. Nur wissen Sie ganz genau: Wir haben damals zur Abschaffung der Kinderfreibeträge nur unter der Bedingung ja gesagt — die habe ich im Bundesrat formuliert —, daß wir zu einer Dynamisierung des Kindergeldes kämen. Daß das Kindergeld jährlich erhöht würde, Herr Kollege Apel, war die Bedingung. Das wissen Sie ganz genau. Und Sie wissen, daß Sie als Bundesfinanzminister nicht in der Lage waren — Sie waren sogar gegen Ihre Kolleginnen, die damals mein Ressort verwaltet haben —, diese Dynamisierung zu realisieren, weil Sie die jährliche Anhebung des Kindergeldes entweder nicht wollten oder nicht finanzieren konnten. Deshalb sollten Sie solche Sprüche lassen, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Weil die Dynamisierung des Kindergeldes nicht möglich ist, haben wir uns dazu entschlossen, den Kinderfreibetrag wieder einzuführen.
— Ich komme gleich dazu.Nun wird behauptet, wegen der progressiven Wirkung des Steuertarifs würden Steuerfreibeträge dazu führen, daß dem Staat das Kind des reichen Mannes mehr wert sei als das Kind des armen.
Das haben wir doch nun heute morgen ausführlich abgehandelt: Diese Aussage ist falsch, sie ist absolut falsch;
denn Sie vergessen erstens den Kindergeldzuschlag, den wir für die Leute gewähren, bei denensich der Freibeitragszuschlag gar nicht auswirkt.
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10484 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 141. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Mai 1985
Bundesminister Dr. GeißlerZweitens — auch dies ist ein wichtiger sozialer Ausgleich —
haben wir das gemacht, was Sie in Ihrer ganzen Zeit nicht hingekriegt haben. Wir haben gesagt: Wenn einer in Zeiten knapper Kassen mehr als 62 000 DM brutto verdient, kann man ihm zumuten, daß er für eine gewisse Zeit auf 30 DM Kindergeld verzichtet. Das haben wir getan.
Dies ist ein Akt der sozialen Gerechtigkeit gewesen. — Und Ihre Kollegin Huber ist genau wegen dieser Geschichte zurückgetreten. Ich habe hier schon einmal gesagt, daß ich deswegen Achtung vor ihr habe. Ich habe aber keine Achtung vor der sozialdemokratischen Familienpolitik.
Das möchte ich hier sagen.Was passiert, wenn keine Freibeträge eingeführt würden? Es ist doch klar: Heute muß z. B. ein Facharbeiter mit einem Bruttoeinkommen von 3 500 DM im Monat 128 DM verdienen, damit er 100 DM für seine Kinder ausgeben kann. Das ist die Situation! Er muß nämlich das, war er für seine Kinder ausgibt, erst versteuern; er muß 28 DM Steuern zahlen und kann dann 100 DM ausgeben. Mit anderen Worten, er zahlt, um 100 DM für seine Kinder ausgeben zu können, erst 28 DM Steuern und hat dieses Geld eben nicht mehr. — Die Versicherungsbeiträge lasse ich einmal außer Betracht.Beim Angestellten mit einem Bruttoeinkommen von 6 000 DM im Monat müssen erst einmal 154 DM verdient werden, damit 100 DM für die Kinder zur Verfügung stehen.Herr Spöri, Sie wissen ganz genau, daß ich mit dem, was ich hier gerade vorgetragen habe, recht habe. Sie sagen immer, daß höhere Einkommen durch Freibeträge z. B. um das Zwanzigfache — oder um das Dreißigfache, je nachdem, da können Sie je nach Einkommen fast jede Zahl nehmen, aber bleiben wir einmal beim Zwanzigfachen — entlastet werden. Sie müssen dann aber hinzufügen, daß diese Leute vorher auch um das Zwanzigfache mehr belastet worden sind.
Das müssen Sie hinzufügen! Wer dies wegläßt, informiert falsch und will lediglich Neid und Mißgunst in unserem Volke schüren. Mehr ist damit nicht verbunden.
Dies paßt in Ihre Strategie des Sozialneides.
Dabei ist es eine der gröbsten Ungerechtigkeiten der vergangenen Jahrzehnte gewesen, daß Eltern mit Kindern genausoviel Steuern zahlen mußten wie Leute, die keine Kinder haben. Heute kann man — das ist hier ausführlich dargelegt worden — alles mögliche steuerlich berücksichtigen, Haftpflichtversicherungsbeiträge für Autos, Aufwendungen für die eigene Alterssicherung usw. usf.; nur die Ausgaben für die Kinder sollen nach Ihrer Auffassung steuerlich nicht berücksichtigt werden,
obwohl doch die Familie wohl die wichtigste Institution in unserer Gesellschaft ist.
Sie fördern mit einer solchen Politik eine Mentalität, bei der das Auto wichtiger ist als das Kind.
Am deutlichsten wird der Sinn des Kinderfreibetrages, wenn wir zwei Familien nehmen, die genau gleichviel verdienen. Die eine Familie hat Kinder, die andere Familie hat keine Kinder. Sollen jetzt die mit Kindern genauso viel Steuern zahlen wie die, die keine Kinder haben? Die Antwort der Christlichen Demokraten und der Freien Demokraten lautet: Nein.
Die Unaufrichtigkeit der Argumentation der SPD ergibt sich auch — darauf möchte ich hinweisen — daraus, daß das Kindergeld, also der für alle Kinder gleich hohe Betrag, ja nicht abgeschafft, sondern aufrechterhalten und ausgebaut wird.Die SPD setzt mit ihrem Antrag ausschließlich und allein auf das Kindergeld. Unsere Politik will beides, die steuerliche Entlastung und das Kindergeld. Deswegen hat unsere Politik einen Dreiklang:Sie ist sozial, weil diejenigen mit dem gerinsten Einkommen auf jeden Fall — ohne Ausnahme und ohne jeden Abstrich — wesentlich mehr bekommen, als sie bisher gehabt haben; der Kindergeldzuschlag von 46 DM für das erste Kind bedeutet nämlich praktisch eine Verdoppelung des Kindergeldes.
Gerecht ist diese Politik, weil Familien mit Kindern in der Zukunft wesentlich weniger Steuern zahlen als diejenigen, die keine Kinder haben.Kinderfreundlich ist diese Politik, weil wir mit Kindergeld, Anerkennung von Erziehungsjahren, Erziehungsgeld, Kinderfreibeträgen und Kindergeld für arbeitslose Jugendliche und für solche, die keinen Ausbildungsplatz haben, das größte Familienpaket in der Größenordnung von — ich wiederhole es — über 10 Milliarden DM in Kraft setzen, das es in der Bundesrepublik Deutschland jemals gegeben hat.Wenn Sie dies geschafft hätten — Sie haben es nicht geschafft, aber wenn Sie es geschafft hätten hätten Sie den Muttertag in HelmutSchmidt-Tag umbenannt.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 141. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Mai 1985 10485
Bundesminister Dr. GeißlerWas die Propaganda anlangt, waren Sie ja immer ganz gut. Nur, es ist Ihnen nicht gelungen.
— Ich habe nichts gegen einen Heiner-Geißler-Tag, gar nichts!
— Wenn Sie diesen Vorschlag machen, habe ich überhaupt nichts dagegen.
Sie nennen sich „soziale Demokraten", aber wenn es Ihnen wirklich um die Sache, wenn es Ihnen um die Probleme der Menschen ginge, müßten Sie dieser Politik zustimmen, statt sie so, wie Sie es heute getan haben, zu diffamieren.
Wie wollen Sie — aber darum geht es Ihnen offenbar nicht — eigentlich ein kinder- und familienfreundliches Klima erreichen, wenn Sie Mißgunst und Neid gegen die Familien schüren, die Kinder haben und deswegen jetzt weniger Steuern zahlen sollen als früher?
Wie soll dadurch ein kinderfreundliches Klima in unserem Land entstehen?Dies alles paßt in das hinein, was wir heute auch schon gehört haben, in den ganzen Bereich der neuen Armut. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich erkläre hier — ich bin jahrelang Sozialminister gewesen—: Das Schlagwort von der neuen Armut ist der größte aufgelegte sozialdemokratische Schwindel, den es je gegeben hat.
— Ich habe gar nichts dagegen, wenn die Leute so schreien.
Ich bitte das Haus, die notwendige Ruhe herzustellen, damit der Redner seine Ausführungen zu Ende bringen kann.
Ich habe den Eindruck, daß ich etwas Richtiges gesagt habe.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bestreite nicht, daß es Armut gibt; das bestreite ich überhaupt nicht. Nur, meine sehr verehrten Damen und Herren, die neue Armut — so definiert eine Studie der gewerkschaftlichen Hans-Böckler-Stiftung —, die angeblich neue Armut ist die Armut der Arbeitslosen; entstanden sei diese Gruppe der Armen durch die jahrelange Massenarbeitslosigkeit und den Abbau der Arbeitslosenunterstützung. Ja, wer, meine sehr verehrten Damen und Herren, hat denn mit dem Abbau der Arbeitslosenunterstützung angefangen? Und die Massenarbeitslosigkeit ist doch nicht das Ergebnis des Jahres 3 der Regierung Helmut Kohl; die Massenarbeitslosigkeit haben Sie uns doch hinterlassen.
Das Kölner Institut für Sozialforschung hat 1979/ 80 eine umfassende Studie über die Armut angestellt. Ich habe es im Jahre 1975/76 getan. Ich könnte Ihnen die einzelnen Bestandteile hier noch einmal zur Kenntnis geben. Es ist völlig unbestritten, daß das reale Einkommen der Sozialhilfeempfänger sich seit 1972 nicht mehr verändert hat. Ich bedaure dies. Ich sage es ausdrücklich; ich habe dies auch schon im Jahre 1975 gesagt. Ich bedaure dies genauso wie die Tatsache, daß es im Jahre 1973 1,7 Millionen Sozialhilfeempfänger gab und 1982, als Sie die Regierung abgaben, 2,3 Millionen. Ja, meine sehr verehrten Damen und Herren, 2,3 Millionen; jetzt gibt es 2,4 Millionen. Wenn ich so rechnen würde, wie Sie das tun, dann könnten Sie zwar sagen, 100 000 Sozialhilfeempfänger gehen auf die Rechnung der Christlich Demokratischen und Christlich-Sozialen Union. Aber 2,3 Millionen gehen auf Ihr Konto. Was ist das eigentlich für eine erbärmliche Argumentation?
Wann schlägt bei Ihnen eigentlich das soziale Gewissen? Hängt es von der Jahreszahl ab, hängt es davon ab, wer gerade an der Regierung ist? Ich finde es eine erbärmliche Argumentation, erst die Ursachen für die Armut und für die Massenarbeitslosigkeit zu setzen und dies dann der neuen Regierung in die Schuhe zu schieben.
Wir lassen uns nicht von denen auf die Anklagebank setzen, die diese ganze soziale und wirtschaftliche Misere herbeigeführt haben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe gesagt — ich komme zum Ende — —
— Ich begreife, daß Sie das freut, wenn ich zu Ende komme, weil ich ein paar Sachen sage, die Sie offenbar nicht gern hören wollen. Es gibt Kennzeichen neuer Armut, das ist wahr. Das war schon vor zehn Jahren so, als Sie die Regierungsverantwortung gehabt haben. Es gab Kinderreiche, Alte, Alleinstehende, Arbeitslose. Hier setzt die Politik der Bundesregierung an. Wir setzen dadurch an, daß wir die Rentenversicherung wieder sicher machen. Im letzten Jahr haben die Rentner seit langen Jahren zum erstenmal wieder eine reale Einkommenssteigerung gehabt.
Zweitens. Wir setzen durch unsere Familienpolitik an, die mit dem Paket, das ich gerade genannt habe, vor allem einkommensschwachen Familien zugute kommt. Gerade für alleinstehende Mütter
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10486 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 141. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Mai 1985
Bundesminister Dr. Geißlerist unsere Politik von einer entscheidenden Bedeutung. Ab 1. Januar nächsten Jahres wird keine Frau mehr deswegen, weil sie ein Kind auf die Welt bringt, in eine soziale Notlage geraten können. Dies erreichen wir durch eine Kombination von Sozialhilfe und Erziehungsgeld. Ab 1. Juli d. J. werden wir zusammen mit den Ländern die Regelsätze in der Sozialhilfe um 7,5 % erhöhen; es gibt Mehrbedarfszuschläge für alleinstehende Mütter mit Kindern bis zum siebten Lebensjahr von 20 % und für alte Menschen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, dies ist unsere Politik. Es ist eine solide Politik, und es ist eine soziale Politik.
Es ist eine Politik, die dem gerecht wird, was wir für richtig halten: daß nämlich die Familie die wichtigste Gemeinschaft in unserer Gesellschaft ist.
Das Wort hat der Abgeordnete Jaunich.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Herr Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit hat mehrfach das Wort „erbärmlich" in seiner Rede gebraucht. Ich finde, das war eine erbärmliche Rede, und es war eine erbärmliche Inszenierung.
Das begann doch mit der Inszenierung. Ich habe in diesem Hause noch nie erlebt, daß jemand Auftrittsapplaus bekommt. Warum hat er den aus Ihren Reihen wohl bekommen?
Weil Sie die Erwartung in ihn gesetzt haben, daß er, sich selbst treu bleibend, als größter Demagoge hier auftreten wird und daß er Nebelkerzen zu werfen in der Lage ist.
Herr Abgeordneter, ich möchte Sie bitten, einen Moment zu unterbrechen, und möchte das Haus bitten, die notwendige Ruhe herzustellen, damit wir auch den vorletzten Redner in Ruhe anhören können.
Dies wird doch wohl noch zulässig sein.
Sie haben zum Schluß Ihrer Ausführungen gesagt, das, was Sie hier vorführen, wäre solide Politik.
Meine Damen, meine Herren, von solider Politik kann doch wohl hier überhaupt nicht die Rede sein.Worüber streiten wir denn hier? Im Moment steht die Familienpolitik im Mittelpunkt unserer Auseinandersetzungen.
— Sie müssen sehr getroffen sein, Herr Waigel, daß Sie so bellen; denn getroffene Hunde bellen nun einmal. —
Wir streiten hier über Familienpolitik und deren konkrete Ausformung.Herr Bundesminister Geißler, wenn Sie sich hier mit Fehlern, die die Sozialdemokraten begangen haben, auseinandersetzen, dann dürfen Sie sich aber hier nicht hinstellen und für sich dasselbe Recht auf Fehler in Anspruch nehmen bzw. dieselben Fehler fortsetzen. Sie haben z. B. eben hier erklärt, daß Sie seinerzeit für die Dynamisierung des Kindergeldes waren und die bösen Sozialdemokraten dies nicht wollten und nicht durchgesetzt haben. Ja, wo bleibt denn Ihr Dynamisierungseffekt im Kindergeldbereich heute hier bei dieser Gesetzesberatung?
Da weiß ich mich noch der alljährlichen Haushaltsberatungen zu erinnern, wenn Sie und Ihre Freunde reklamiert haben — —
— Nun lassen Sie mal den Bürgermeister von Ahlen draußen; hier spricht der Bundestagsabgeordnete.
— Ach, wissen Sie, das ist doch zu primitiv, was Sie hier einwenden.Sie haben sich Jahr für Jahr bei den Haushaltsberatungen hier hingestellt und haben beklagt, daß der Kindergeldansatz wegen der zurückgehenden Leistungsempfängerzahl geringer wird, und haben gefordert, daß die gleiche Summe auf die geringer gewordene Zahl von Empfängern ausgeschüttet werden müßte. Wo bleiben denn all diese Ihre Vorstellungen heute, wo Sie die Kraft, die Gestaltungskraft dazu haben? Sie verfügen nicht nur über eine Mehrheit im Deutschen Bundestag, sondern darüber hinaus auch noch über eine Mehrheit im Bundesrat, meine Damen, meine Herren. Also können Sie doch nicht alles, was Sie gestern an unseren Haltungen bekrittelt haben, heute hier einfach un-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 141. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Mai 1985 10487
Jaunichbeantwortet lassen, wo Sie die Möglichkeit der Gestaltung haben.Da komme ich noch einmal auf den Punkt der Wiedergewährung des Kindergeldes an arbeitslose Jugendliche bis zum 23. Lebensjahr zurück. Wir haben uns ja dazu bekannt, daß das eine Leistung gewesen ist, die wir eingeschränkt haben. Aber es ist j a nicht so, Herr Geißler, als wenn Sie aus eigenem Antrieb diese Leistung für Empfänger bis zum 21. Lebensjahr wieder eingeführt hätten. Wir haben Sie im Plenum in einem zweifachen Anlauf dazu zwingen müssen.
Ich möchte noch einmal bitten, die notwendige Ruhe herzustellen. Ich wäre dankbar, wenn auch die Regierungsbank meiner Bitte folgen würde.
Nun geht es darum, auch den letzten Schritt der Korrektur vorzunehmen: bis zum 23. Lebensjahr hin. Der Aufwand würde maximal 50 Millionen DM betragen. Entweder war das seinerzeit kein Fehler, oder es war ein Fehler; dann muß er jetzt korrigiert werden, wo er korrigiert werden kann. Aber Sie haben weder den Mut noch die Kraft, höchstwahrscheinlich nicht einmal das Wollen dazu.
Deswegen ist alles das, was Sie hier so darlegen, Herr Minister Geißler, aus meiner Sicht in hohem Maße unredlich. Unverschämtheiten sind eher Ihnen zuzuordnen als uns. Wir haben uns hier insofern keine Vorwürfe mehr zu machen.
Den heutigen Tag zu einem Geißler-Tag zu erklären, kann mit Sicherheit — —
— Was ist eine Frage des Gewissens? Wenn man Fehler, die man erkannt hat, bekennt und zu ihnen steht! Dies ist eine Frage des Gewissens. Da haben Sie völlig recht.
Aber wenn man anderen ihre Haltung als Fehler vorwirft und selbst, nachdem man in der Lage ist, anders zu handeln, nicht anders handelt,
dann ist das nicht gerade eine Frage guten Gewissens.
Ich kann nur hoffen und wünschen, daß Sie nach der Abstimmung am heutigen Tage nicht guten Gewissens nach Hause gehen, sondern daß Sie noch
einmal alles versuchen, um zu erreichen, daß Ihr Verhalten mit Ihrem Gewissen zu vereinbaren ist.
Das Wort hat der Abgeordnete Kroll-Schlüter.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gestern haben wir mit Mehrheit eine Verbesserung und Erhöhung der Leistungen nach dem Sozialhilfegesetz beschlossen. Heute beschließen wir mit der Mehrheit des Hohen Hauses eine Besserstellung der Familien: mit zwei Kindern z. B. ab 1986 1500 DM mehr im Jahr — leider gegen den Widerstand der SPD. Eine Familie mit drei Kindern bekommt 2 000 DM mehr. Dies beschließen wir gegen den Widerstand der SPD.
Wir beschließen eine Entlastung der Bürger und Familien in Höhe von 20 Milliarden DM. 70% davon bekommen Familien mit Kindern, mit geringerem und mittlerem Einkommen.
Dies beschließen wir gegen den Widerstand der SPD.Diese Beschlüsse haben eine solide finanzielle Grundlage. Mehrleistungen für die Familien, die Sie dann und wann erbringen wollten, waren in der Regierungszeit der SPD, Herr Spöri, überhaupt nur mit höheren Schulden finanzierbar. Was nützt es aber den Kindern, wenn man ihnen mit Schulden heute mehr gibt, wenn sie diese Schulden morgen mit Zinsen und Zinseszinsen wieder zurückzahlen müssen!
Eine gute Sozialpolitik ist eine bezahlbare Sozialpolitik. Ihre war nie bezahlbar; deswegen war sie auch niemals gut.
Eine gute Familienpolitik ist eine bezahlbare Familienpolitik. Ihre war nie bezahlbar; deswegen war sie auch schlecht.
Alles wollen Sie steuerlich entlasten: den Arbeitnehmer — richtig, die Hochseefischerei — richtig, die Werften — richtig; nur die Familie mit Kindern nicht. Warum eigentlich nicht? Ich will es nur in einem Satz sagen:
Der Familie, die 300 DM für das Kind im Monatausgibt, wollen Sie diese 300 DM noch besteuern.
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10488 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 141. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Mai 1985
Kroll-SchlüterDas wollen wir nicht. Das ist schlicht und einfach der plausible Unterschied.
Es ist immer dasselbe bei Ihnen: Erst wollen Sie ihnen das Geld wegnehmen, das sie sauer verdient haben; dann stellen Sie sich hier hin und wollen Wohltaten verteilen; und Sie tun so, als wäre das alles Ihr Verdienst. Das ist nicht Ihr Verdienst. Lassen Sie den Leuten das Geld, das sie verdienen! Das ist eine verdienstvolle Politik.
Die Bundesrepublik ist seit über zehn Jahren das geburtenärmste Land der Welt. Dies läßt uns nicht gleichgültig.Wenn wir dies sagen, dann heißt das nicht, wir wollten aus der Familienpolitik eine Bevölkerungspolitik machen. Aber wir wissen, daß jede Politik auch eine demographische Bedeutung hat. Wir leugnen nicht den Zusammenhang zwischen Familien- und Rentenpolitik. Wir wollen frühzeitig darauf hinweisen. Wir wollen sagen, was es in 30 Jahren bedeutet, wenn dies so weitergeht.Wir wollen uns jetzt den Problemen stellen, weil wir wissen: Sie sind lösbar. Wir wollen sie nicht auf die lange Bank schieben, damit nicht eines Tages die jungen Menschen von heute ungebührliche Lasten infolge der Fehler in der Vergangenheit oder in der Gegenwart zu zahlen haben.
Es gibt in unserem Land neben 580 000 Geburten im Jahr 300 000 Abtreibungen. Auch dies läßt uns nicht gleichgültig. Deswegen unsere Leistung, deswegen die Bundesstiftung „Mutter und Kind", deswegen diese Form der Solidarität mit dem Leben. Das ist das, was wir wollen.Ein Drittel der jährlich geschlossenen Ehen werden wieder geschieden. Daraus entsteht viel Leid, Schmerz, Verlassenheit und auch Armut. Auch wir möchten dazu beitragen, daß sich dies nicht in dieser Weise weiterentwickelt — nicht durch Zuweisung von Schuld, sondern durch Hilfe, durch Gerechtigkeit, durch Solidarität.Es gibt viele Herausforderungen dieser Zeit: die technologische, die des Friedens in Freiheit, die Herausforderung der gesunden Umwelt. Nichts läßt die Familie unberührt. Auch in diesem größeren Zusammenhang haben die Familie und die Familienpolitik einen so hohen Stellenwert.Wir sehen in ihr die personale Gemeinschaft des Lebens und der Liebe — das sind nicht nur schöne Worte —, die sich dem Dienst am Nächsten, dem Dienst am Leben sowie der Gestaltung und Entwicklung der Gesellschaft und des Staates verpflichtet hat.Für die Union gilt und wird in Zukunft gelten, daß zu einer menschlichen Gesellschaft auch Werte gehören, die ihr Fundament auch und gerade in der Familie haben; Treue, Erziehung, Verzicht und Vorsorge für die kommende Generation.Das, was heute zur Debatte steht, hat diesen Hintergrund. Da braucht man nicht viele Worte zu machen.
Diese Begründung ist diejenige, die seit Jahren von einer guten Politik verlangt wird. Wir wollen keinen zum Glück zwingen. Aber wir möchten schlicht und bescheiden, daß junge Ehepaare ihren Kinderwunsch unter besseren Bedingungen erfüllen können, als dies z. B. in den 70er Jahren möglich war.
Sie können sich ja noch an Ihren Familienbericht erinnern: Mit unverhohlenem Bedauern wurde die fehlende Kontrollierbarkeit elterlicher Machtausübung festgestellt.Das ist das Kontrastprogramm zu unserer familienpolitischen Konzeption. Wenn wir keine Gesellschaft wollen — so sagt Erich Fromm —, die Maschinen herstellt, die wie Menschen funktionieren, und Menschen, die wie Maschinen handeln, dann müssen wir Gemeinschaften fördern, die der persönlichen Zuwendung, Begleitung und Liebe Raum geben.
Die wichtigste dieser Institutionen war, ist und bleibt die Familie, die wir heute mit einem entscheidenden, vorwärtsgerichteten Beschluß tatkräftig unterstützen möchten.Herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Vor der Abstimmung über die vorliegenden Gesetze gebe ich dem Abgeordneten Eimer Gelegenheit zu einer Erklärung nach § 31 unserer Geschäftsordnung. — Herr Abgeordneter.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich kann den vorliegenden Gesetzentwürfen nicht zustimmen. Ich habe bei vielen Gelegenheiten — u. a. auch in der ersten Lesung — auf Fehler und bürokratische Auswucherungen des Familienlastenausgleichs hingewiesen.
Meine Kritik wurde in der Anhörung voll bestätigt. Konsequenzen wurden nicht gezogen, obwohl jetzt jeder wissen muß, daß wir etwas beschließen, was in Kürze wieder novelliert werden wird.
Ich bin nicht gegen die Tarifreform, ich bin nicht gegen Familienlastenausgleich, aber ich bin gegen
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 141. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Mai 1985 10489
Eimer
eine Lösung, bei der sich zwei politische Systeme mit viel Bürokratie gegenseitig neutralisieren.
Auch 20 Milliarden DM rechtfertigen diesen Aufwand an Bürokratie nicht.Ich kann das nicht verantworten. Ich möchte auch nicht von Spott und Kritik getroffen werden, die sicher über uns ausgeschüttet werden. Meine Ablehnung darf aber nicht als Zustimmung zu den Vorstellungen der Opposition verstanden werden.
Wenn das Gesetz hier heute verabschiedet wird, bleibt meine letzte Hoffnung die auf die Einsicht des Bundesrates.
Meine Damen und Herren, wir kommen nunmehr zur Einzelberatung und Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 21a, den Entwurf eines Steuersenkungsgesetzes auf Drucksache 10/2884.
Die Fraktion der SPD hat beantragt, über Art. 1 Nr. 2 Buchstabe a der Ausschußfassung getrennt abzustimmen. — Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Ich rufe dann zuerst diese Vorschrift auf. Wer Art. 1 Nr. 2 Buchstabe a in der Ausschußfassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Gegen wenige Stimmen angenommen.
Ich rufe die übrigen Vorschriften des Art. 1 sowie die Art. 2 bis 7, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Mit Mehrheit angenommen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Damit ist das Gesetz angenommen.
Es ist noch über eine Beschlußempfehlung des Ausschusses abzustimmen. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 10/3350 unter Nr. 2 die Annahme einer Entschließung. Wer dieser Entschließung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Gegen wenige Stimmen angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die vorliegenden Entschließungsanträge.
Wer dem Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/3377 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! —Enthaltungen? — Das zweite war die Mehrheit. Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.
Wer dem Entschließungsantrag des Abgeordneten Vogel und der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 10/3403 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Antrag ist abgelehnt.
Wir kommen nunmehr zur Einzelberatung und Abstimmung über Tagesordnungspunkt 21b, den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Elften Gesetzes zur Änderung des Bundeskindergeldgesetzes auf Drucksache 10/2886.
Ich rufe die Art. 1 bis 4, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Damit sind die aufgerufenen Vorschriften angenommen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Damit ist das vorliegende Gesetz angenommen.
Wir kommen nunmehr zur Einzelberatung und Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 21c, den von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurf eines Elften Gesetzes zur Änderung des Bundeskindergeldgesetzes auf Drucksache 10/2928.
Der Ausschuß empfiehlt Ihnen, diesen Gesetzentwurf abzulehnen. Ich rufe die Art. 1 bis 4, Einleitung und Überschrift auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Damit ist der vorliegende Gesetzentwurf abgelehnt. Damit unterbleibt nach § 83 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung jede weitere Beratung.
Meine Damen und Herren, wir sind somit am Schluß der Tagesordnung angekommen.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 12. Juni 1985, 13 Uhr ein und wünsche Ihnen eine gute Heimfahrt.
Die Sitzung ist geschlossen.