Gesamtes Protokol
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet.
Wir setzen die
Fragestunde
— Drucksache 10/2914 —
fort.
Die Fragen 48 und 49 des Abgeordneten Dr. Olderog, die Frage 50 des Abgeordneten Broll, die Frage 51 des Abgeordneten Dr. Laufs und die Frage 52 des Abgeordneten Fellner, sämtlich aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern, werden auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz auf. Zur Beantwortung der Fragen ist der Parlamentarische Staatssekretär Erhard anwesend.
Die Frage 53 des Abgeordneten Fellner, die Frage 54 des Abgeordneten Kalisch, die Frage 55 des Abgeordneten Weirich sowie die Frage 56 des Abgeordneten Dr. Lammert werden auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 57 der Abgeordneten Frau Zutt auf:
Was hat die Bundesregierung nach dem Mengele Tribunal in Jerusalem unternommen, um den „Todesengel von Auschwitz", Josef Mengele, zu verhaften und den Gerichten zu überstellen?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Frau Kollegin, die Bundesregierung, der nach der Aufgabenverteilung des Grundgesetzes eine Zuständigkeit zur Einleitung von Strafverfolgungsmaßnahmen nicht zukommt, hat gegenüber den Regierungen von zwölf Staaten, in denen ein Aufenthalt des gesuchten Mengele am ehesten denkbar erscheint, das nachhaltige deutsche Interesse an einer erfolgreichen Erledigung der gestellten Fahndungs- und Auslieferungsersuchen erneut zum Ausdruck gebracht. Die Bundesregierung hat mit den zuständigen israelischen Stellen vereinbart, daß der zuständigen deutschen Staatsanwaltschaft die Tonbandprotokolle des Mengele-Tribunals in Jerusalem zur Auswertung überlassen werden. Es ist nach wie vor nicht gelungen, den derzeitigen Aufenthaltsort Mengeles festzustellen. Die Auswertung der nach Erhöhung der Auslobungssumme auf eine Million Deutsche Mark eingegangenen zahlreichen Hinweise durch die Staatsanwaltschaft dauert an. Die zuständige Staatsanwaltschaft geht allen Spuren und Hinweisen zur Ergreifung Mengeles in geeigneter Weise nach. Es ist nach unseren Feststellungen gewährleistet, daß im Falle des Vorliegens konkreter Ermittlungsergebnisse über einen Aufenthaltsort Mengeles im Ausland die für eine eventuelle Überstellung erforderlichen Maßnahmen getroffen werden.
Eine Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Zutt.
Herr Staatssekretär, wie erklärt sich dann die Bundesregierung — mir ist sehr wohl bewußt, daß sie nicht direkt fahnden kann — den Vorwurf des Rabbiners Marvon Hier vom SimonWiesenthal-Zentrum aus San Francisco, daß sie nicht alles in ihrer Macht Stehende getan hat, um Herrn Mengele alias Menke vor Gericht zu bringen, und daß der Einsatz der Bundesregierung im Falle Mengele in keinem Verhältnis zu dem gegenüber mutmaßlichen Terroristen stehe?
Erhard, Parl. Staatssekretär: Gnädige Frau, es ist außerordentlich schwierig, die inneren Beweggründe und die Urteilsfindung eines Menschen von Amts wegen richtig zu erkennen, insbesondere dann, wenn eine große räumliche Entfernung zwischen dem, der solche Behauptungen aufstellt, und der Bundesrepublik festzustellen ist.
Eine weitere Zusatzfrage, Frau Zutt, bitte.
Herr Staatssekretär, mit dieser Antwort kann ich mich nicht zufriedengeben. Aus den Antworten, die Sie zu der Fragestunde am 7. Februar schriftlich nachgereicht haben, geht hervor, daß Sie bereit sind, über die Auslandsvertretungen auch weiterhin jeglichen Hinweis auf den Aufenthaltsort Mengeles sorgfältig zu prüfen.
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9124 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 124. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. März 1985
Frau Kollegin, Sie müssen fragen.
Dies ist eine sehr ausweichende Antwort. Sie führen an, was seit 1962 alles geschehen ist. Haben Sie das Mengele-Tribunal — von dem Sie jetzt sagen, daß Sie es noch nicht auswerten können, weil Sie das Protokoll nicht haben — und die öffentlichen Meldungen und Presseverlautbarungen darüber nicht zum Anlaß genommen, hier verstärkt nachzuforschen?
Erhard, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, ich habe Ihnen in der Antwort, die ich Ihnen eben gegeben habe, gesagt, daß wir sämtliche in Frage kommenden Länder und deutschen Stellen aufgefordert haben, verstärkt nach dem Aufenthaltsort von Men-gele zu forschen.
Ich rufe die Frage 58 der Abgeordneten Frau Zutt auf:
Hat die Bundesregierung die Zusage der amerikanischen Regierung, sich an der Suche nach Mengele zu beteiligen, aufgegriffen und eine internationale Fahndung wie bei Terroristen eingeleitet?
Herr Staatssekretär.
Erhard, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, ich beantworte Ihre Frage wie folgt. Die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika ist ebenso wie eine Reihe anderer Staaten, in denen ein möglicher Aufenthaltsort Mengeles liegen könnte, durch den Bundesminister der Justiz um Fahndung nach Mengele zum Zweck seiner Auslieferung ersucht worden.
Auf einen möglichen Aufenthalt des Gesuchten in Paraguay angesprochen, haben amerikanische Regierungsstellen 1984 mitgeteilt, die Regierung Paraguays habe der amerikanischen Regierung die Zusicherung gegeben, daß Mengele ausgeliefert werde, wenn man seiner habhaft würde.
Die Bundesregierung ist kürzlich von US-amerikanischer Seite darüber informiert worden, daß das Office of Special Investigations — OSI — Untersuchungen eingeleitet hat, die u. a. das Ziel verfolgen, frühere Nachkriegsaufenthalte und den jetzigen Aufenthalt Mengeles zu ermitteln. Der Direktor des OSI ist mittlerweile in Begleitung weiterer Beamter seiner Behörde in Deutschland eingetroffen, um in direkten Gesprächen mit der für das Strafverfahren gegen Mengele zuständigen Staatsanwaltschaft die bisher gewonnenen Ermittlungsergebnisse zu analysieren und weitere Fahndungsmaßnahmen abzusprechen. Ich bitte um Verständnis, daß nähere Einzelheiten der Ermittlungen derzeit nicht bekanntgegeben werden können, auch nicht sollten.
Eine Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Zutt.
Wird der Herr Bundeskanzler bei dem bevorstehenden Besuch von Herrn Stroessner diesen nicht nur diplomatisch, sondern direkt ersuchen, Herrn Mengele, wenn er bis dahin noch nicht ausgeliefert sein sollte, dann endlich auszuliefern?
Erhard, Parl. Staatssekretär: Der Herr Bundeskanzler wird seinem Besucher ganz sicher mitteilen, daß wir mit aller Energie die Auslieferung Men-geles begehren.
Sie haben eine weitere Zusatzfrage, Frau Zutt.
Steht die Bundesregierung nach dem Mengele-Tribunal in direktem Kontakt mit dem Simon-Wiesenthal-Zentrum in San Francisco?
Erhard, Parl. Staatssekretär: Wir stehen in ständigem Kontakt mit dem Simon Wiesenthal Center, nicht erst seit dem Tribunal. Ich bin selber schon dort gewesen.
Dann ist Ihr Fragerecht erschöpft, Frau Kollegin.
Ich rufe Frage 59 der Abgeordneten Frau Dr. Däubler-Gmelin auf:
Wie kann künftigen Eheleuten nach Auffassung der Bundesregierung das rechte Verständnis des Gleichberechtigungsgrundsatzes des Art. 3 des Grundgesetzes mit in die Ehe gegeben werden, wenn im Zuge der staatlichen Eheschließung in das Güterrechtsregister neben der Berufsbezeichnung des Ehemannes diejenige der Ehefrau allenfalls auf besonderen Antrag eingetragen wird?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Erhard, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, ich versuche, Ihre Frage wie folgt zu beantworten. § 13 der Bestimmungen des — früheren — Bundesrates über das Vereinsregister und Güterrechtsregister vom 3. November 1898 sieht vor, daß bei Eintragungen in das Güterrechtsregister u. a. der Beruf des Ehemannes aufzunehmen ist. Die Eintragung des Berufs der Ehefrau ist nicht ausdrücklich vorgesehen. Auf Grund einer Verwaltungsübung der Länder wird die Berufsbezeichnung der Ehefrau aber jedenfalls dann in das Güterrechtsregister eingetragen, wenn dies gewünscht wird. In einigen Ländern wird der Beruf der Ehefrau auch von Amts wegen eingetragen. Diese Verwaltungsübung geht u. a. auf einen Meinungsaustausch zurück, den der Bundesminister der Justiz in den Jahren 1980 und 1981 mit den Ländern durchgeführt hat.
Eine Zusatzfrage, Frau Däubler-Gmelin.
Zunächst, Herr Staatssekretär, möchte ich mich herzlich dafür bedanken, daß Sie mir den Sachverhalt, den ich in der Frage angesprochen habe, noch einmal ausdrücklich bestätigt haben.Meine Frage war allerdings die, was Sie zu tun gedenken. Vielleicht möchten Sie das im Anschluß bei der Frage 60 beantworten.Erhard, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, Sie wissen aus einem Schriftwechsel, der vorausgegangen ist — Sie haben die Frage ja auch schon vorher aufgegriffen —, daß der Bundesminister der Justiz die Länderverwaltungen schriftlich gebeten hat, auf die Standesämter tunlichst einzuwirken, keinerlei Formalien und ähnliches mehr geltend zu machen, sondern einzutragen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 124. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. März 1985 9125
Eine weitere Zusatzfrage? — Bitte schön.
Mir ist in der Tat bekannt, daß der Herr Bundesjustizminister darum in einem Brief ersucht hat. Aber könnten Sie uns freundlicherweise noch mitteilen, wie die Reaktion der Länder gewesen ist?
Erhard, Parl. Staatssekretär: Ich habe die Reaktion der Länder noch nicht gesehen. Die Länder pflegen sich hei Reaktionen auf amtliche Schreiben etwas Zeit zu lassen.
Ich rufe die Frage 60 der Frau Abgeordneten Dr. Däubler-Gmelin auf:
Ist die Bundesregierung zu einer vorgezogenen Korrektur bereit, oder hat sie eine solche Korrektur bereits in einem Entwurf zur Neuordnung des gesamten Registerrechts eingearbeitet?
Herr Staatssekretär.
Erhard, Parl. Staatssekretär: Eine vorgezogene Korrektur hält die Bundesregierung angesichts der Verwaltungsübung der Länder nicht für erforderlich. Im Rahmen einer Gesamtüberarbeitung des Rechts der freiwilligen Gerichtsbarkeit, die allerdings noch einige Zeit in Anspruch nehmen wird, soll auch die Frage der Eintragung des Berufs ins Güterrechtsregister bereinigt werden. Mit der Vorlage eines Regierungsentwurfs, der eine Gesamtüberarbeitung des Rechts der freiwilligen Gerichtsbarkeit enthält, ist in der laufenden Legislaturperiode nicht mehr zu rechnen.
Eine Zusatzfrage.
Verehrter Herr Staatssekretär, jetzt komme ich auf meine Frage zurück: Wieviel Zeit gedenken Sie noch verstreichen zu lassen, bis Sie entweder eine verbindliche Auskunft der Länder erwirken, sich derselben nach Prüfung anschließen und sie mir mitteilen können oder den Gedanken, wie in dieser Frage 60 aufgeführt, einer vorgezogenen Teilkorrektur wenigstens erwägen?
Erhard, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, ich habe Ihnen eben gesagt, daß die Bundesregierung nicht beabsichtige, eine vorgezogene Regelung vorzunehmen.
Die mir aus dem Bereich der Bundesverwaltung — wenn ich einmal so sagen darf — zugeleiteten Auffassungen habe ich Ihnen so, wie sie mir zugeleitet worden sind, nicht mitgeteilt, weil mir das viel zu abweisend war.
Aber Fristen kann ich Ihnen nicht nennen.
Noch eine Frage? — Bitte.
Herr Staatssekretär, darf ich aus diesen etwas apokryphen Antworten entnehmen, daß Sie die Frage 60, ob Sie etwas zu tun gedenken, eingeschlossen die Reaktion der Länder, schlicht mit Nein beantworten würden?
Erhard, Parl. Staatssekretär: Eine vorgezogene Regelung ist nicht beabsichtigt. Das kann man natürlich auch als Nein auffassen.
Meine Damen und Herren, die Frage 61 ist vom Fragesteller, dem Herrn Abgeordneten Jäger , zurückgezogen worden.
Damit sind wir am Ende der Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz. Ich danke dem Herrn Staatssekretär für die Beantwortung der Fragen.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft. Zur Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Sprung zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 62 des Herrn Abgeordneten Dr. Freiherr Spies von Büllesheim auf:
Ist es auf die Dauer aufrechtzuerhalten, daß niederländische Baufirmen sich an Ausschreibungen auch öffentlicher Aufträge in der Bundesrepublik Deutschland ohne jede Beschränkung beteiligen können und als Niedrigstbietende auch anstandslos die Aufträge erhalten, wenn gleichzeitig unter sonst gleichen Voraussetzungen die Beteiligung deutscher Baufirmen an Ausschreibungen öffentlicher Aufträge in den Niederlanden auf Grund besonderer Weisung der niederländischen Regierung nicht zugelassen wird?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Spies von Büllesheim, die Vergabe öffentlicher Aufträge in der Bundesrepublik Deutschland erfolgt auf Grund nationaler und internationaler Vorschriften ohne Diskriminierung von Bewerbern auf Grund der Staatsangehörigkeit. Solche Vorschriften sind im EG-Bereich die Baukoordinierungsrichtlinie und die Lieferkoordinierungsrichtlinie sowie im nationalen Bereich die jeweiligen Haushaltsrechte der Gebietskörperschaften und die auf deren Grundlage angewendete Verdingungsordnung für Bauleistungen, VOB, sowie die Verdingungsordnung für Leistungen , VOL. Der Zuschlag wird dabei allein an Hand auftragsbezogener Maßstäbe dem annehmbarsten bwz. wirtschaftlichsten Angebot erteilt.
Der Bundesregierung sind besondere Weisungen der niederländischen Regierung, daß deutsche Baufirmen bei der Vergabe öffentlicher Aufträge dort nicht zugelassen werden sollen, nicht bekannt. Eine solche Weisung wäre mit dem Gemeinschaftsrecht, insbesondere den eben von mir genannten Richtlinien nicht vereinbar.
Eine Zusatzfrage?
— Bitte schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Staatssekretär, wie ist es dann nach Ihrer Auffassung zu erklären, daß zwar in Deutschland niederländische Baufirmen bei öffentlichen Straßenbauten im Grenzgebiet in vielen Fällen tätig sind, aber andererseits deutsche Baufirmen in den Niederlan-
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9126 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 124. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. März 1985
Dr. Freiherr Spies von Büllesheimden keine Aufträge oder so gut wie keine Aufträge erhalten?Dr. Sprung, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Spies von Büllesheim, darauf wollte ich in der Antwort auf Ihre zweite Frage eingehen. Aber ich nehme das schon vorweg: Die EG-Kommission hat das Ifo-Institut um die Erstellung einer Studie gebeten, die sich mit der Vergabe öffentlicher Bauaufträge in der EG befaßt. Das Ifo-Institut hat durch Befragung deutscher Bauunternehmen nach dieser Studie festgestellt, daß diese deutschen Bauunternehmen nach eigener Einschätzung vorrangig wegen ihrer zu hohen Angebotspreise, nicht zuletzt durch distanzabhängige Kostennachteile bedingt, Zuschläge bei Auftragsvergaben im EG-Ausland nicht erhielten.
Sie haben eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Staatssekretär, ich möchte folgende Frage anschließen: Ist es so, daß die deutsche Bauwirtschaft tatsächlich selbst erklärt hat, sie könne wegen zu hoher Preise in den Niederlanden nicht konkurrieren?
Dr. Sprung, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Spies von Büllesheim, so ist es. Die Antworten aus der deutschen Bauwirtschaft lauteten so.
Ich rufe die Frage 63 des Herrn Abgeordneten Dr. Freiherr Spies von Büllesheim auf:
Kann die Bundesregierung, bezogen auf die Jahre 1982, 1983 und 1984, angeben, wie hoch das Auftragsvolumen, das in der Bundesrepublik Deutschland an niederländische Baufirmen vergeben wurde, war, und wie hoch war das Auftragsvolumen, das in den Niederlanden an deutsche Baufirmen vergeben wurde?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Dr. Sprung, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Spies von Büllesheim, die EG-Kommission erstellt periodisch Statistiken über Bauvergaben im Rahmen der sogenannten Baukoordinierungsrichtlinie. Die letzten vorliegenden Angaben betreffen das Jahr 1982. Die Bundesrepublik Deutschland hat danach sechs Aufträge über insgesamt 22,2 Millionen DM in die Niederlande vergeben, was ein Volumen von nur 0,5% aller von den Verwaltungen der EGMitgliedstaaten nach der Baukoordinierungsrichtlinie gemeinschaftsweit ausgeschriebenen Aufträge ausmacht. Der prozentuale Anteil der Vergaben aus der Bundesrepublik Deutschland in die Niederlande beträgt, gemessen an der Gesamtzahl der niederländischen Bewerber um einschlägige deutsche öffentliche Bauaufträge, nur 7,7 %. Aussagefähige Angaben über gemeinschaftsweit ausgeschriebene Vergaben der niederländischen öffentlichen Auftraggeber liegen nicht vor. Bewerber aus der Bundesrepublik Deutschland sind jedoch auch im Rahmen dieser Vergaben zur Abgabe von Angeboten aufgefordert worden und haben solche abgegeben. Über die Gründe, aus denen deutsche Bauunternehmen in den Niederlanden nicht zum Zuge kommen, habe ich bereits etwas gesagt.
Eine Zusatzfrage.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Staatssekretär, wenn Ihnen von der deutschen Bauwirtschaft konkrete Fälle gemeldet würden, die solche Weisungen, die der Bundesregierung gemäß der Antwort auf meine erste Frage nicht bekannt sind, nachweisen oder zumindest als sehr wahrscheinlich erscheinen lassen, wäre die Bundesregierung dann bereit, in diesem Zusammenhang bei der EG etwas zu unternehmen'?
Dr. Sprung, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Spies von Büllesheim, die Bundesregierung verfolgt auch in den anderen Mitgliedstaaten aufmerksam die Vergabepraxis nach den EG-Vorschriften und wird Verstöße an geeigneter Stelle, in der EG bzw. unmittelbar bei den betroffenen Mitgliedstaaten, aufgreifen und hat dies auch schon getan. Der Bundesminister für Wirtschaft hat außerdem am 13. Februar dieses Jahres bei seinem Besuch in den Niederlanden gegenüber dem niederländischen Wirtschaftsminister Herrn van Aardenne auf die grundsätzliche Bedeutung hingewiesen, welche die Bundesregierung im Rahmen des gemeinschaftlichen Binnenmarktes der genauen Einhaltung der EGVorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge nicht zuletzt hinsichtlich der Berücksichtigung ausländischer Bieter beimißt. Die niederländische Seite hat dabei zugesagt, konkreten Verstößen nachzugehen, wenn sie ihr vorgetragen oder vorgelegt werden.
Eine weitere Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Spies von Büllesheim.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Staatssekretär, darf ich also nach dieser Antwort davon ausgehen, daß die Bundesregierung Verständnis für den Ärger arbeitsloser Bauarbeiter im deutsch-niederländischen Grenzraum hat, wenn diese arbeitslosen Bauarbeiter einerseits viele niederländische Bauschilder an öffentlichen Baustellen sehen und andererseits erfahren müssen, daß die eigene Firma in den Niederlanden, obwohl sie billigster Bieter war, nicht zum Zuge gekommen ist, und daß die Bundesregierung aus diesem Verständnis heraus tatsächlich aktiv werden wird?
Dr. Sprung, Parl. Staatssekretär: Herr Spies von Büllesheim, davon können Sie ausgehen. Ich weise noch einmal darauf hin, daß das Thema bei dem Besuch des Wirtschaftsministers in den Niederlanden grundsätzlich zur Sprache gekommen ist, daß uns aber keine Informationen darüber vorliegen, daß so verfahren worden ist, wie Sie es in Ihrer Frage zum Ausdruck gebracht haben.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Oostergetelo.
Herr Staatssekretär, kann man bei öffentlichen Aufträgen davon ausgehen, daß sich die Bundesregierung Mühe gibt, mittel-
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Oostergeteloständische Unternehmen unabhängig davon, aus welcher Nation sie kommen, zu beteiligen, und wäre es nicht denkbar, z. B. wie in den Vereinigten Staaten einen gewissen Prozentsatz für Mittel- und Kleinunternehmen zu garantieren?Dr. Sprung, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, Sie können davon ausgehen, daß die Bundesregierung entscheidenden Wert darauf legt, daß insbesondere auch mittelständische Unternehmen bei öffentlichen Ausschreibungen zum Zuge kommen. Nach welchen Regeln dabei verfahren wird, ist bekannt. Wir haben dafür die entsprechenden Verordnungen: Verdingungsordnung für Bauleistungen, Verdingungsordnung für Leistungen, ausgenommen Bauleistungen, und sonstige, aus dem Haushaltsrecht sich ergebende Vorschriften. Nach denen wird verfahren.
Ich rufe die Frage 66 des Abgeordneten Stiegler auf:
Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß auch nach Ablauf des jetzigen Welttextilabkommens Mitte 1986 der internationale Textil- und Bekleidungshandel eine besondere Ordnung und Regulierung braucht, und wird sie bei den Verhandlungen über eine Verlängerung des geltenden Welttextilabkommens dafür eintreten, daß es weiterhin bei einer Bindung der Einfuhrzuwächse an die zu erwartende Entwicklung des Textilverbrauchs in der Europäischen Gemeinschaft bleiben muß?
Dr. Sprung, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Stiegler, die Bundesregierung ist der Auffassung, daß das jetzige Welttextilabkommen Mitte 1986 nicht ersatzlos auslaufen sollte. Jede Anschlußregelung bedarf jedoch der Vereinbarung zwischen Industrie- und Entwicklungsländern. Angesichts der gegensätzlichen Interessen in beiden Lagern ist die Bundesregierung ferner der Meinung, daß ein Übergangssystem mit degressivem Schutzcharakter im Sinne einer schrittweisen Rückkehr zu den allgemeinen GATT-Regeln eine realistische und konsensfähige Lösung sein könnte. Dies ist auch im Zusammenhang mit den allgemeinen handelspolitischen Bemühungen um einen Abbau von Handelsbeschränkungen zu sehen.
Dabei sollte nicht übersehen werden, daß nach wie vor etwa zwei Drittel unserer Textil- und Bekleidungsimporte aus anderen Industrieländern stammen, vornehmlich aus dem EG- und EFTA-Raum. Die Verbrauchsentwicklung ist eines von mehreren Kriterien des Einfuhrsystems gegenüber Entwicklungsländern. Eine strikte Bindung der Einfuhrzuwachsraten an den Verbrauch ist schon im derzeit gültigen Welttextilabkommen nicht enthalten und dürfte von den Entwicklungsländern auch in Zukunft nicht akzeptiert werden.
Die EG hat in ihrem Textilabkommen die Produkte hauptsächlich nach dem Grad ihrer wirtschaftlichen Sensibilität gruppiert und die Quoten mit entsprechend gestaffelten Zuwachsraten ausgestattet.
Zusatzfrage des Abgeordneten Stiegler.
Herr Staatssekretär, wie ist der Stand der Vorbereitungsgespräche für die Verlängerung des Welttextilabkommens, und nach welchem Fahrplan wollen Sie — zunächst einmal rein zeitlich gesehen — vorgehen?
Dr. Sprung, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Stiegler, das GATT hat die Arbeiten für die nächste Runde aufgenommen. Die Arbeiten gelten zunächst der Analyse und der Prüfung möglicher Optionen für die Zukunft. Die EG will bis Juni/Juli dieses Jahres ihre Ausgangsposition erarbeiten. Die Kommission in Brüssel hat dazu eine Untersuchung über die Auswirkungen des Welttextilabkommens auf die EG-Textil- und -Bekleidungsindustrien und eine handelspolitische Wertung angekündigt. Im Frühjahr wird dann die Diskussion mit den Mitgliedstaaten aufgenommen werden.
Weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Stiegler.
Herr Staatssekretär, wenn ich Sie am Anfang richtig verstanden habe, denkt die Bundesregierung an einen degressiven Abbau des Schutzes. Ich frage Sie: Wenn Sie diese Konzeption verfolgen, sind dann bereits Überlegungen im Gange für flankierende Maßnahmen in den Standorten der Textil- und Bekleidungsindustrie, die j a in der Bundesrepublik insbesondere in strukturschwachen Gebieten konzentriert sind?
Dr. Sprung, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, was ich dazu gesagt habe, betrifft den Grundsatz. Wie im einzelnen dann verfahren wird, ist zu verhandeln. Wir befinden uns, was die Verlängerung des Abkommens anlangt, im Stadium der Exploration. Es kann daher im Detail noch nicht Zusätzliches gesagt werden.
Zusatzfrage des Abgeordneten Klejdzinski.
Herr Staatssekretär, wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann haben Sie mir vermittelt, als wenn Sie schon über die Verlängerung des Welttextilabkommens in irgendeiner Form nachdenken? Darf ich erfahren, in welcher Form, in welcher Art und Weise und mit welcher Zielrichtung Sie nachdenken?
Dr. Sprung, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich habe darauf hingewiesen, daß im GATT gearbeitet wird und daß insbesondere in der EG die Arbeiten angelaufen sind. Sie wissen ja, daß wir hier zu Regelungen kommen müssen, die von den anderen Mitgliedstaaten in der EG mitgetragen werden. Wir warten zunächst einmal ab, welche Überlegungen die EG anstellt. Ich habe auf die zeitliche Dimension und darauf hingewiesen, worum es bei den Untersuchungen der EG geht. Wenn sie vorliegen, werden wir weitere Überlegungen anstellen können.
Zusatzfrage der Frau Abgeordneten Dr. Skarpelis-Sperk.
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9128 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 124. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. März 1985
Herr Staatssekretär, wenn sich das Ministerium bisher keine Gedanken gemacht hat, welche Konsequenzen ein allmählicher Abbau des Welttextilabkommens für die Textilstandorte bedeutet: Könnten Sie sich vorstellen, daß Sie bereit sind, die Weisung zu geben, über derartige Maßnahmen nachzudenken und natürlich zuvor darüber, welche denkbaren Konsequenzen dies a) nicht nur für die deutsche Textilindustrie, sondern b) auch für die betroffenen Textilstandorte bedeuten wird?
Dr. Sprung, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, Sie unterstellen, daß das Ergebnis der Verlängerung des Welttextilabkommens sein wird, daß es zur weiteren Freisetzung von Arbeitskräften und zur Aufgabe von Arbeitsplätzen an den Textilstandorten kommt. Dies ist eine Annahme, die durch nichts gerechtfertigt ist. Die deutsche Textilindustrie hat einen Umstrukturierungsprozeß hinter sich. Sie ist heute in der Lage, im Wettbewerb zu bestehen. Ich meine, daß die Befürchtungen, die Sie geäußert haben, nicht zwingend sind.
Wir kommen zur Frage 67 des Abgeordneten Stiegler:
Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß bei der Festlegung der durchschnittlichen Steigerungsrate der Einfuhrzuwächse die industriell bereits entwickelten Länder niedrigere Zuwachsraten erhalten müssen als die tatsächlichen Entwicklungsländer, und wird sie insbesondere dafür eintreten, daß die vier Hauptlieferländer Hongkong, Südkorea, Taiwan und Macao entsprechend geringere Zuwachsraten erhalten?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Dr. Sprung, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Stiegler, die Bundesregierung teilt die Auffassung, daß bei der Bemessung der Zuwachsraten der Kontingente auch in Zukunft schwächeren Entwicklungsländern ein besserer Zugang zu den Märkten der Industrieländer eingeräumt werden sollte als den industriell bereits fortgeschrittenen Entwicklungsländern. Dabei werden auch Veränderungen in der Lieferstärke und im Entwicklungsstand im Lauf der letzten Jahre zu berücksichtigen sein.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Stiegler.
Herr Staatssekretär, zeichnet sich bei diesem Punkt ab, daß die Länder der Europäischen Gemeinschaft mit einer Zunge reden und alle das genauso sehen, oder gibt es hier noch Meinungsverschiedenheiten innerhalb der EG?
Dr. Sprung, Parl. Staatssekretär: Ich sagte bereits, Herr Stiegler, daß in der EG Überlegungen angestellt werden, wie die Verlängerung des Welttextilabkommens aussehen soll. Aber in bezug auf die Grundsätze, die ich hier vorgetragen habe, gibt es keine Meinungsverschiedenheiten.
Weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Stiegler.
Herr Staatssekretär, ist denn mit Hongkong, Südkorea, Taiwan und Macao schon die Frage der Verlängerung und der entsprechend geringeren Anpassungsrate sondiert, oder ist mit ihnen noch kein Kontakt aufgenommen?
Dr. Sprung, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Stiegler, es ist bereits ein Verhandlungsziel der EG beim Welttextilabkommen Nr. 3 gewesen, diesen vier Lieferländern zugunsten der übrigen Entwicklungsländer die Importmöglichkeiten zu kürzen. Dies ist auch erreicht worden. Es ist erreicht worden, daß bei den wichtigsten fünf Bekleidungskategorien Quotenkürzungen von insgesamt 7,6 % gegenüber diesen vier Ländern Hongkong, Südkorea, Macao und Taiwan durchgesetzt werden konnten. Es wird auch unser Bestreben für das neue Welttextilabkommen sein, auf diesem Weg zugunsten der wirklichen Entwicklungsländer weiterzugehen.
Wir kommen zur Frage 68 der Abgeordneten Frau Dr. Skarpelis-Sperk:
Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß die Überwachung der Anwendung und Einhaltung des Welttextilabkommens noch nicht durchgängig sichergestellt ist, und wird sie deshalb für ein besseres Kontroll- und Überwachungssystem eintreten?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Dr. Sprung, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, die Bundesregierung ist der Auffassung, daß die Einhaltung der bilateralen Selbstbeschränkungsvereinbarungen mit den Textillieferländern weitgehend sichergestellt ist. Ein in den Abkommen der EG festgelegtes vergleichsweise aufwendiges Verwaltungsverfahren mit Ausfuhr- und Einfuhrlizenzen, Ursprungszeugnissen, Austausch von Kontrollrechnungen usw. ist ein wirksames Mittel gegen ein Unterlaufen oder Überziehen von Textilquoten. Hinzu kommt die unmittelbare Zusammenarbeit zwischen den Verwaltungen der Exportländer und den deutschen bzw. den EG-Behörden. Ein Mehr an Überwachung ist ohne ernsthafte Behinderung kaum möglich.
Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Dr. Skarpelis-Sperk.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen — wir haben das bereits in den vergangenen Jahren auch im Ausschuß diskutiert — nicht bekannt, daß es auch illegale Einfuhren gibt, etwa die Praxis, in bestimmten Seehäfen des Mittelmeers Waren anzulanden und dort schlicht die Etiketten auszutauschen bzw. einzunähen oder mit gefälschten Ursprungszeugnissen zu arbeiten?Dr. Sprung, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, das ist bekannt. Weil das so ist, gibt es ja diesen Kontrollmechanismus, der im übrigen durch das Welttextilabkommen Nr. 3 verstärkt worden ist. Auf der Basis des Verlängerungsprotokolls von 1981 hat die Bundesregierung in Zusammenarbeit mit der EG-Kommission und den anderen Mitgliedstaaten die Kontrollmöglichkeiten weiter ausgebaut. Die EG hat die Zusammenarbeit mit den Regierungen der Lieferländer verstärkt und die rechtlichen Möglichkeiten für die Entsendung gemeinschaftlicher Prüfungskommissionen in diese Länder geschaffen. Es gibt außerdem eine spezielle Gruppe der EG für
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 124. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. März 1985 9129
Parl. Staatssekretär Dr. SprungFragen der Umgehungseinfuhren. Sie untersucht regelmäßig alle in der EG auftretenden Umgehungsfälle. Es ist ein erheblicher Apparat, der hier eingerichtet worden ist und tätig ist. Auch die Zentralstelle zur Verhinderung und Aufklärung von Umgehungseinfuhren in die Bundesrepublik im Textilbereich hat ihre Zusammenarbeit mit der Zollverwaltung und vergleichbaren Behörden in anderen EG-Ländern intensiviert. Sie geht allen Hinweisen oder Verdachtsmomenten nach, die sich z. B. aus der Beobachtung der laufenden Statistiken ergeben oder die sie anderweitig erhält.
Eine weitere Zusatzfrage, Frau Abgeordnete.
Herr Staatssekretär, wieviel Prozent der Umgehungseinfuhren glauben Sie auf diese Weise im Griff zu haben bzw. wieviel werden Ihnen auf diese Weise bekannt?
Dr. Sprung, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, Umgehungseinfuhren haben es nun einmal an sich, wenn sie stattfinden und nicht entdeckt werden, nicht quantifizierbar zu sein. So gesehen kann ich Ihnen also nicht sagen, um welche Größenordnung es sich handelt. Aber wir können doch davon ausgehen, daß diese Kontrollmaßnahmen, die ergriffen werden, die existieren, geeignet sind, Umgehungseinfuhren weitestgehend zu verhindern. Die Erfolge, die erzielt worden sind, sprechen für sich. Es sind erhebliche Erfolge.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Stiegler.
Herr Staatssekretär, würden Sie dem Wirtschaftsausschuß und eventuell auch den interessierten Abgeordneten einmal einen Bericht über die Überwachungsmaßnahmen und die dabei gewonnenen Ergebnisse zuleiten, damit wir in der Diskussion mit unseren Standortindustrien auch wirklich glaubhaft dartun können, was alles an Anstrengungen unternommen wird, um das Unterlaufen des Abkommens zu verhindern?
Dr. Sprung, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, das will ich sehr gern tun. Aber ich darf noch einmal darauf hinweisen — ich glaube, das ist auch aus dem deutlich geworden, was ich vorgetragen habe —, daß dieser Mechanismus sehr umfassend ist, daß das Kontrollsystem im Grunde kaum weiter ausgebaut werden kann. Was soll dem, was vorgetragen worden ist, noch hinzugefügt werden?
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Peter.
Herr Staatssekretär, wäre es denn vorstellbar, daß konkretisiert wird, welche Länder und auch welche Firmen an Umgehungsmaßnahmen beteiligt sind, und wäre es auch vorstellbar — das könnte auch jetzt geschehen —, einmal bekanntzugeben, was eigentlich mit ertappten Umgehern passiert?
Dr. Sprung, Parl. Staatssekretär: Ich kann gern darauf eingehen, was mit ihnen passiert.
Darf ich Sie einen Moment unterbrechen. — Herr Kollege, Sie müssen schon zuhören, wenn die Antwort gegeben wird. Wir haben dafür gewisse Regeln.
Dr. Sprung, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung hat auf eine frühere Anfrage des Herrn Kollegen Klejdzinski dazu geantwortet. Sie hat darauf hingewiesen daß es Bußgeldsanktionen in Höhe von bis zu 500 000 DM gibt, daß darüber hinausgegangen werden kann, wenn dieses Maß, das bereits erheblich ist, nicht ausreicht. In dieser Antwort ist ferner darauf hingewiesen worden, daß auch Freiheitsstrafen in Betracht kommen, wenn damit Steuerhinterziehungs- oder Urkundendelikte verbunden sind.
Es handelt sich um eine Reihe von Maßnahmen. Ich bin aber gern bereit, im Wirtschaftsausschuß, so wie das Herr Kollege Stiegler erbeten hat, dazu noch im einzelnen Stellung zu nehmen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Klejdzinski.
Herr Staatssekretär, stimmen Sie mit mir darüber überein, daß die von Ihnen genannten umfassenden Überwachungsmaßnahmen in den einzelnen europäischen Ländern sehr unterschiedlich gehandhabt werden?
Dr. Sprung, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich könnte mir dies denken.
Wir kommen zur Frage 69 der Abgeordneten Frau Dr. Skarpelis-Sperk:
Trifft es zu, daß sich neben Japan und den USA auch einige Schwellenländer gegenüber Textil- und Bekleidungseinfuhren abschotten, und welche Maßnahmen hat die Bundesregierung unternommen bzw. gedenkt sie zu unternehmen, damit diese Länder ihrerseits ihre eigenen Märkte gegenüber unseren Textilausfuhren öffnen?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Dr. Sprung, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, die USA und Japan gehören ebenso wie die EG-Staaten zu den Importländern im Sinne des Welttextilabkommens. Ihre Frage zielt auf die Export-, d. h. auf die Entwicklungs- und Schwellenländer. Es ist richtig, daß auch einige Schwellenländer, die gleichzeitig zu den großen Textil- und Bekleidungslieferanten am Weltmarkt gehören, den Zugang zu ihren eigenen Märkten stark beschränkt haben, ohne daß ihnen GATT-widriges Verhalten vorgeworfen werden könnte.
Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß der Handel gerade mit diesen Ländern keine Einbahnstraße bleiben darf. Deshalb setzt sie sich für eine Öffnung solcher Märkte ein und wird diese Forderung auch in den bevorstehenden Verhandlungen über die internationale Textilhandelspolitik nach 1986 vertreten.
Zusatzfrage? — Frau Abgeordnete, bitte.
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9130 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 124. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. März 1985
Herr Staatssekretär, ich habe nicht nur, wie in meiner Frage erläutert, die Schwellenländer, sondern natürlich auch Japan und die Vereinigten Staaten von Amerika gemeint, die Textileinfuhren aus anderen Ländern, seien es Industrieländer, seien es Schwellenländer, seien es Entwicklungsländer, mit verschiedenen Praktiken, und zwar nicht nur mit administrativen Maßnahmen, sondern auch mit Zöllen wie im Falle Japans, tatkräftig regulieren bzw. reduzieren. Was hat die Bundesregierung gerade im Falle Japans unternommen? Auch im Falle der USA kann man schließlich nicht von einem völlig liberalisierten Markt oder von unbeschränkten Importmöglichkeiten sprechen.
Dr. Sprung, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, die USA haben ihre Textilimportpolitik gegenüber den Entwicklungsländern in den letzten Jahren verschärft; dies ist richtig.
Der japanische Markt für Textilien und Bekleidung ist formell relativ offen. Trotz zusätzlicher sechs „Marktöffnungspakete" in den letzten Jahren bestehen aber de facto erhebliche Zugangsschwierigkeiten — nicht nur für den Textilsektor, wie wir wissen, sondern auch für andere Güter.
Die deutschen Exporte in die USA und Japan konnten 1984 erheblich erhöht werden. Die Zunahme der Exporte in die USA belief sich auf mehr als 60 %. Wir haben, was unsere Exporte in die Vereinigten Staaten betrifft, keine Probleme, keine Schwierigkeiten.
Weitere Zusatzfrage, Frau Abgeordnete? — Bitte.
Herr Staatssekretär, könnten Sie uns die entsprechenden Zahlen auch für Japan zur Verfügung stellen?
Dr. Sprung, Parl. Staatssekretär: Ich habe die Zahlen für Japan nicht dabei. Ich kann Ihnen den Prozentsatz im Augenblick nicht nennen, aber ich gebe Ihnen diesen Prozentsatz gern zur Kenntnis.
Zusatzfrage des Abgeordneten Stiegler.
Herr Staatssekretär, welche Sanktionsmaßnahmen haben wir bzw. die Europäischen Gemeinschaften nach den geltenden Verträgen, die hier in Rede stehen, gegenüber den Ländern, die sich gegenüber unseren Textilausfuhren, also gegenüber Importen in das eigene Land, abschotten wollen?
Dr. Sprung, Parl. Staatssekretär: Es gelten die allgemeinen Regeln des GATT, Herr Stiegler. Wenn dagegen verstoßen wird, wird nach den Regeln dagegen vorgegangen.
Wir kommen zur Frage 70 des Abgeordneten Dr. Klejdzinski:
In welcher Weise gedenkt die Bundesregierung bei einer Verlängerung des Welttextilabkommens die Einfuhrzuwächse an die zu erwartende Entwicklung des Textilverbrauchs in der europäischen Gemeinschaft zu binden, in Anbetracht der Tatsache, daß das Welttextilabkommen 1986 ausläuft?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Dr. Sprung, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die Verbrauchsentwicklung ist eines von mehreren Kriterien des Einfuhrsystems gegenüber Entwicklungsländern. Eine strikte Bindung der Einfuhrzuwachsraten an den Verbrauch ist jedoch schon im derzeitigen Welttextilabkommen nicht enthalten und dürfte von den Entwicklungsländern auch in Zukunft nicht akzeptiert werden. Die EG hat in ihren Textilabkommen die Produkte hauptsächlich nach dem Grad ihrer wirtschaftlichen Sensibilität gruppiert und die Quoten mit entsprechend gestaffelten Zuwachsraten ausgestattet.
Zusatzfrage, Herr Dr. Klejdzinski.
Herr Staatssekretär, unabhängig davon, was die Entwicklungsländer akzeptieren: Wie kann man denn die Intention der Bundesregierung diezbezüglich deuten?
Dr. Sprung, Parl. Staatssekretär: Wir sind in die EG eingebunden. Wir akzeptieren das Verfahren, das die EG praktiziert. Wir sind der Meinung, daß das der richtige Weg ist.
Weitere Zusatzfrage? — Bitte schön, Herr Abgeordneter.
Herr Staatssekretär, können Sie sich vorstellen, daß es außer der Einbindung in die EG durchaus einen eigenen Weg der Bundesrepublik Deutschland geben könnte?
Dr. Sprung, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich sehe nicht, was dagegen spricht, so zu verfahren, wie es die EG im Hinblick auf den Abschluß ihrer Abkommen praktiziert, nämlich den besonderen Problemen Rechnung zu tragen, die die Exportländer haben, d. h. den eigentlichen Entwicklungsländern besonders zu helfen, auf der anderen Seite aber auch den Problemen der europäischen Textilindustrie Rechnung zu tragen, was dadurch geschieht, daß nicht nur an die Verbrauchsentwicklung angeknüpft wird, sondern auch der Grad der wirtschaftlichen Sensibilität eine Rolle spielt.
Wir kommen zur Frage 71 des Abgeordneten Dr. Klejdzinski.Was gedenkt die Bundesregierung zu veranlassen, um die Forderung u. a. der Gewerkschaft Textilbekleidung nach Einbau von sozialen Mindestbedingungen nach den Normen der internationalen Arbeitsorganisation in Genf zur Vermeidung eines Sozialdumpings durch die Textilien produzierenden Entwicklungsländer zu unterstützen?Bitte schön, Herr Staatssekretär.Dr. Sprung, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Klejdzinski, die Bundesregierung unterstützt die Bemühungen im Rahmen der Internationalen Arbeitsorganisation um eine Verbesserung der sozia-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 124. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. März 1985 9131
Parl. Staatssekretär Dr. Sprunglen Bedingungen in den Entwicklungsländern. Diese Länder haben es jedoch bisher abgelehnt, in multilateralen Handelsabkommen konkrete Verpflichtungen zur Einhaltung sozialer Mindestnormen zu übernehmen. Sie betrachten solche Forderungen als Einmischung der Industrieländer in ihre inneren Angelegenheiten und als Vorwand zur Durchsetzung protektionistischer Ziele. Deshalb werden auch in den künftigen Verhandlungen über die internationale Textilhandelspolitik unseren Bemühungen, die sozialen Bedingungen in den Entwicklungs- und Schwellenländern zu verbessern, Grenzen gesetzt sein. Gleichwohl wird sich die Bundesregierung weiterhin für dieses Ziel einsetzen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Klejdzinski.
Herr Staatssekretär, unabhängig davon, daß nach Ihrer Ansicht Grenzen bestehen: Ist es nicht durchaus vorstellbar, daß die Bundesregierung grundsätzlich davon ausgeht, daß die in meiner Frage angesprochenen Bedingungen Voraussetzungen sein müssen, um weitere Abkommen auf eine, wenn man so will, vergleichbare und realistische Grundlage im Wettbewerb der Staaten untereinander zu stellen?
Dr. Sprung, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Klejdzinski, wir würden dies gern tun. Nur: Es handelt sich um Vereinbarungen. Diese Vereinbarungen haben bisher immer zwei Unterschriften getragen und werden sie auch künftig tragen müssen, nämlich die Unterschrift der Exportländer und unsere Unterschrift. Wir können dies alles nicht erzwingen. Ich weise noch einmal auf das entscheidende Argument der Exportländer hin: Sie betrachten solche Forderungen als Einmischung der Industrieländer in ihre inneren Angelegenheiten und als Vorwand zur Durchsetzung proktektionistischer Ziele. Damit haben wir uns auseinanderzusetzen; dies tun wir auch. Nur: Wir können es — ich wiederhole dies — nicht erzwingen.
Weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Klejdzinski.
Herr Staatssekretär, mir ist natürlich bekannt, daß man dieses nicht erzwingen kann. Es ist sicherlich auch nicht Aufgabe der Bundesregierung, sich in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates einzumischen. Aber in dieser Frage geht es ja kaum um die Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates, sondern hier geht es, wenn man so will, um ein Wirtschaftsabkommen.
Wenn es um ein Wirtschaftsabkommen geht, dann gibt es durchaus Möglichkeiten für die Bundesregierung — auch durch ihr Einwirken auf die EG — solche Verzerrungen grundsätzlich auszuschließen bzw. zu sagen: So kann man nicht miteinander reden.
Dr. Sprung, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die Bundesregierung und auch die anderen EG-Staaten haben das Mögliche getan. Sie haben sich bemüht, diesen Gesichtspunkten Rechnung zu tragen, sie in die Verträge aufzunehmen. Es ist ihnen nicht gelungen.
Zusatzfrage, Frau
Blunck.
Herr Staatssekretär, Sie haben bei der Beantwortung der Frage von Herrn Klejdzinski gesagt, daß sich die Bundesregierung für den Einbau von sozialen Mindestbedingungen einsetzt. Können Sie mir das Wie an einem praktischen Beispiel erläutern?
Dr. Sprung, Parl. Staatssekretär: Ich verstehe Ihre Frage nicht, Frau Kollegin.
Ich versuche es noch einmal. Als Worthülse haben Sie mir erklärt, Sie würden sich dafür einsetzen. Ich setze mich auch für ganz viel ein. Ich möchte von Ihnen an Hand eines praktischen Beispiels wissen: Wie setzen Sie sich dafür ein? Belassen Sie es dabei, daß Sie auf die Frage von Herrn Klejdzinski antworten: „Jawohl, dafür setzen wir uns ein"? Wie machen Sie das?
Dr. Sprung, Parl. Staatssekretär: Wir verhandeln mit den Entwicklungsländern über Textilexporte. Das Welttextilabkommen wird verlängert, es wird geändert, und im Rahmen dieser Verhandlungen wird gefordert, daß den Forderungen der Internationalen Arbeitsorganisation entsprochen wird.
Wir kommen zu Frage 72 des Abgeordneten Peter :
Welche Gründe haben die Bundesregierung veranlaßt, die Zuschußfähigkeit der Rauchgasreinigung der Müllverbrennungsanlage Kassel aus Mitteln des „Gemeinschaftsprogramms Kohle/Heizkraftwerk-Fernwärmeausbau" abzulehnen'?
Bitte.
Dr. Sprung, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Peter, ich möchte Sie bitten, daß ich Ihre beiden Fragen gemeinsam beantworten kann.
Der Abgeordnete ist einverstanden; dann rufe ich zusätzlich Frage 73 auf:Sieht die Bundesregierung Möglichkeiten, ihre ablehnende Stellungnahme zu revidieren und das Projekt doch noch zu fördern?Bitte schön, Herr Staatssekretär.Dr. Sprung, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, mit dem Kohleheizkraftwerks- und Fernwärmeausbauprogramm fördern Bund und Länder den Ausbau der Fernwärme, wobei die förderfähigen Vorhaben in einer gemeinsam mit den Ländern verabschiedeten Verwaltungsvereinbarung abschließend aufgezählt sind. Gefördert werden sowohl Anlagen zur Fernwärmeerzeugung als auch Anlagen zur Fernwärmeverteilung. Dabei obliegen die Auswahl unter den bei den Ländern eingehenden Förderungsanträgen und die Bewilligung der Förderung den Ländern. Der Bund kann Projekte von der Förderung mit Bundesmitteln ausschließen, wenn ein
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9132 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 124. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. März 1985
Parl. Staatssekretär Dr. SprungProjekt dem gemeinsam vereinbarten Förderkatalog nicht entspricht.Im Falle des Müllheizkraftwerks Kassel haben der Bund und das Land Hessen im Rahmen des eben genannten Programms im Jahre 1982 für den Umbau des Müllkraftwerks in eine Kraft-WärmeKopplungs-Anlage, also in ein Müllheizkraftwerk, sowie für den Ausbau der Fernwärmeverteilungsanlagen insgesamt 7,7 Millionen DM bewilligt. Der 1984 beantragten Förderung des nachträglichen Einbaus einer Rauchgasreinigungsanlage mußte — wie auch in anderen Fällen eines nachträglichen Einbaus — die Zustimmung verweigert werden, weil der nachträgliche Einbau von Rauchgasreinigungsanlagen als Nachrüstungsmaßnahme nicht zum Ausbau der Fernwärme beiträgt und dementsprechend auch nicht in den Förderkatalog aufgenommen worden ist. Die Bundesregierung sieht auch unter dem Präjudizaspekt keine Möglichkeit, diese Entscheidung zu revidieren.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Peter.
Herr Staatssekretär, da das Land Hessen die Möglichkeit der Aufnahme in das Programm gesehen hat, frage ich Sie: Hat es zwischen der Bundesregierung und dem Antragsteller Kassel über mögliche Modalitäten, in das Förderungsprogramm doch noch hineinzukommen, Verhandlungen gegeben?
Dr. Sprung, Parl. Staatssekretär: Der Antrag ist gestellt worden, und er ist, wie ich Ihnen schon mitgeteilt habe, abschlägig beschieden worden, weil das Projekt, um das es sich handelt, nicht in den Förderkatalog, der gemeinsam mit den Ländern vereinbart worden ist, aufgenommen worden ist. Dies ist der Grund dafür gewesen, daß sich der Bund nicht in der Lage gesehen hat, die Rauchgasreinigungsanlage mitzufinanzieren.
Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Peter.
Da das Land Hessen seine Zustimmung gegeben hat, ist die nachträgliche Ausrüstung mit einer Rauchgasentschwefelungsanlage ja offensichtlich auch im öffentlichen Interesse. Sehen Sie von daher Möglichkeiten, in anderer Form — in bezug auf andere Programme — mit dem Antragsteller die Frage, ob eine Förderung möglich ist, zu erörtern?
Dr. Sprung, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, es geht nicht nur um das öffentliche Interesse. Es geht darum, daß diese Maßnahme unter die Zielsetzung des Programms, nämlich zusätzliches Fernwärmepotential zu erschließen, fallen muß. Das geschieht mit dieser Anlage nicht.
Im übrigen darf ich darauf hinweisen, daß das Land Hessen trotz einer ablehnenden Entscheidung des Bundes zu diesem Projekt durchaus die Möglichkeit gehabt hätte oder hat, an der Förderung festzuhalten; nur müßte Hessen dann allein finanzieren.
Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Peter.
Meine Frage richtete sich auf andere Förderungsmöglichkeiten und die Bereitschaft der Bundesregierung, mit dem Antragsteller andere Förderungsmöglichkeiten zu erörtern. Darauf ist noch keine Antwort erfolgt.
Dr. Sprung, Parl. Staatssekretär: Ich kann Ihnen jetzt nicht sagen, welche anderen Förderungsmöglichkeiten dafür in Frage kämen. Ich könnte mir denken, daß Mittel dafür aus dem ERP-Haushalt bereitgestellt werden könnten, aber das müßte im einzelnen geprüft werden. Ich will das aufnehmen, und ich werde Ihnen dann dazu noch eine entsprechende Antwort geben.
Eine weitere Frage.
Herr Staatssekretär, kann ich dann Ihre Antwort so verstehen, daß Sie bereit sind, sich über weitere Förderungsmöglichkeiten mit der Stadt Kassel zu unterhalten?
Dr. Sprung, Parl. Staatssekretär: Das können Sie so nicht. Sie können daraus nur entnehmen, daß wir bereit sind, zu prüfen, ob es andere Förderungsmöglichkeiten gibt. Nur im Rahmen bestehender Möglichkeiten würde so etwas in Frage kommen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Pfuhl.
Herr Staatssekretär, sind Sie denn wenigstens davon überzeugt, daß in Kassel die Notwendigkeit besteht, diese Anlage einzubauen?
Dr. Sprung, Parl. Staatssekretär: Es ist sicher eine vernünftige Maßnahme, solch eine Rauchgasreinigungsanlage zu errichten und damit zur Luftverbesserung beizutragen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Stiegler.
Herr Staatssekretär, sehen Sie denn im Hinblick auf das verschärfte Umweltbewußtsein seit Verabschiedung dieses Gemeinschaftsprogramms nicht die Möglichkeit, das Programm auszuweiten und unter die förderungsfähigen Kosten auch die Kosten einer Rauchgasreinigungsanlage zu subsumieren?
Dr. Sprung, Parl. Staatssekretär: Herr Stiegler, wir haben die bekannten Programme. Für die Bereitstellung von Mitteln aus diesen Programmen gelten entsprechende Vereinbarungen. Sie liegen den Entscheidungen der Bundesregierung zugrunde, und das gilt auch für diese Anlage.
Sie können noch eine weitere Zusatzfrage stellen, Herr Stiegler.
Herr Staatssekretär, es ist mir klar, daß sich die Bundesregierung nach den gegenwärtigen Programmen richtet, aber es könnte ja sein, daß die Bundesregierung auf die Idee käme, mit den Ländern darüber zu reden, ob man nicht
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 124. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. März 1985 9133
Stieglerdie Liste der förderungsfähigen Kosten erweitern könnte. Wäre es denn denkbar, daß die Bundesregierung auf die Länder zugeht und insofern initiativ wird?Dr. Sprung, Parl. Staatssekretär: Dies ist natürlich auch eine Frage der Finanzierungsmöglichkeiten, Herr Kollege, und denen ist ebenfalls Rechnung zu tragen. Das Programm, das wir jetzt vorliegen haben und über das wir diskutieren, ist weitestgehend ausgebucht.
Zusatzfrage des Abgeordneten Sielaff.
Herr Staatssekretär, darf ich Ihre Antwort so verstehen, daß die Bundesregierung nicht bereit ist, die Nachrüstung dieser wichtigen Einrichtung in das Gemeinschaftsprogramm „Kohle/Heizkraftwerk-Fernwärmeausbau" aufzunehmen, daß also keinerlei Bereitschaft bei der Bundesregierung besteht?
Dr. Sprung, Parl. Staatssekretär: Die Antwort dürfen Sie so nicht interpretieren. Dies habe ich nicht gesagt, und dies kann aus allem, was gesagt worden ist, auch nicht geschlossen werden. Wir haben ein Programm, das gemeinsam mit den Ländern vereinbart worden ist. Ich meine, daß es nötig und erforderlich ist, sich an die Grundsätze dieses Programms zu halten. Noch einmal: das Land Hessen ist ohne weiteres in der Lage, die Anlage zu finanzieren, wenn das Land dies will.
Zusatzfrage des Abgeordneten Sielaff.
Herr Staatssekretär, wie ist denn Ihr guter Wille, den Sie jetzt zu vermitteln versuchen, praktisch erkennbar, daß Sie diese Nachrüstung vielleicht doch noch in den Förderungskatalog aufnehmen werden?
Dr. Sprung, Parl. Staatssekretär: Ich habe Ihnen schon gesagt, daß das Programm ausgebucht ist, daß das Programm gemeinsam mit den Ländern festgelegt worden ist und daß sich die Beschränkungen aus dem Programm ergeben. Sie gelten auch für diese Anlage.
Zusatzfrage des Abgeordneten Fischer .
Herr Staatssekretär, gehe ich recht in der Annahme, daß die Bundesregierung zusammen mit den Fraktionen der CDU/ CSU und der FDP hinter den Vorschlägen, die der Bundesrat gemacht hat, im Wirtschaftsausschuß zurückgeblieben ist?
Dr. Sprung, Parl. Staatssekretär: Sie gehen nicht recht in der Annahme.
Zusatzfrage des Abgeordneten Böhm.
Herr Staatssekretär, da die hessische Landesregierung erst kürzlich 8 Millionen DM aus der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur", z. B. auch der Zonenrandförderung, gestrichen hat und weitere 8 Millionen DM vom Bund nicht annehmen will, wären Sie bereit, der hessischen Landesregierung die Anregung zu geben, diese Mittel, die für alternative Entwicklungsprogramme verwendet werden sollen oder zu einem Teil nach Nicaragua gehen sollen, in Anspruch zu nehmen, um diese wichtige Aufgabe in Hessen zu erfüllen?
Dr. Sprung, Pari. Staatssekretär: Herr Kollege Böhm, dies wollen wir gern tun. Ich darf noch einmal darauf hinweisen — ich habe es schon zweimal getan —: Das Land Hessen ist nicht gehindert, diese Anlage zu finanzieren.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Klejdzinski.
Herr Staatssekretär, mir und Ihnen ist bekannt, daß die Bundesregierung generell und in jeder Hinsicht konsequent für Nachrüstung ist. Kann man denn nicht davon ausgehen, daß sie auch in diesem Fall für Nachrüstung sein könnte?
Dr. Sprung, Parl. Staatssekretär: Ich darf wiederholen, daß wir gemeinsam mit den Ländern ein Programm beschlossen haben. Es ist doch wohl nicht zuviel verlangt, wenn auch die Länder gebeten werden, sich an dieses Programm zu halten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Frage 74 des Abgeordneten Dr. Kübler wird auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Damit sind die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft abgeschlossen. Ich danke dem Staatssekretär für die Beantwortung dieser Fragen.
Für die letzten fünf Minuten, die uns noch zur Verfügung stehen, rufe ich den Geschäftsbereich des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten auf. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Dr. von Geldern zur Verfügung.
Wir kommen zur Frage 75 der Abgeordneten Frau Weyel:
Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, bei der Brüsseler Preisrunde ein weiteres Absinken der landwirtschaftlichen Einkommen wie in den letzten beiden Jahren besonders für Klein- und Mittelbetriebe zu verhindern, und denkt sie in diesem Zusammenhang an gestaffelte Erzeugerpreise?
Frau Kollegin Weyel, die Bundesregierung wird sich in Brüssel mit Nachdruck gegen Preisbeschlüsse einsetzen, die ein Absinken der landwirtschaftlichen Einkommen bewirken. An Erzeugerpreisen, die nach der Größe der landwirtschaftlichen Betriebe gestaffelt sind, denkt sie dabei nicht.
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9134 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 124. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. März 1985
Parl. Staatssekretär Dr. von GeldernZur Unterstützung der Einkommensentwicklung in den Klein-und Mittelbetrieben sind gezielte Maßnahmen, wie die in diesem Jahr ausgeweitete Ausleichszulage in benachteiligten Gebieten, besser geeignet. Außerdem werden Klein- und Mittelbetriebe bereits durch niedrigere Abschläge im Rahmen der Garantiemengenregelung und geringere Mitverantwortungsabgaben bei der Milch sowie Entlastungen bei der Steuer und vorgesehene höhere Bundeszuschüsse bei der Altershilfe begünstigt.
Zu einer Zusatzfrage Frau Abgeordnete Weyel.
Herr Staatssekretär, der Streit darum, was Mittelbetriebe sind, ist ja alt. Ich gehe vom Familienbetrieb aus, der nicht immer nur einen Kuhbestand unter 20 hat. Ist der Bundesregierung eigentlich bewußt, daß gerade in den Grünlandbetrieben der Abschlag durch die Milchrente oft so viel Einkommensverlust verursacht, daß damit die Aufwendungen für Kredite, die vorher zur Sanierung aufgenommen wurden, praktisch unwirksam werden und den Betrieben diese Mittel dann fehlen?
Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Weyel, die Abzüge im Rahmen der Garantiemengenregelung für Milch sind nach Betriebsgröße und Steigerungssätzen von 2 bis 12 1/2 % gestaffelt. Der Bundesregierung ist bekannt, daß dies für alle betroffenen Betriebe eine Einbuße bedeutet.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ich möchte noch einmal nachfragen. Es kommt ja darauf an, welche Rolle diese Einbuße in der gesamten Betriebsbilanz spielt. Ist die Bundesregierung bereit, hier in stärkerem Maße diejenigen Betriebe zu unterstützen, die keine Möglichkeit haben, auf andere Produktionen auszuweichen?
Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Weyel, die Frage, die Sie aufgeworfen haben, kann nur im Einzelfall beantwortet werden, weil das von der betrieblichen Situation abhängt. Die unterschiedlichen Ergebnisse, wie sie auch im Agrarbericht 1985 deutlich werden, zeigen dies. Eine Maßnahme, die allein auf den Grünlandbereich abstellt, halte ich nicht für sinnvoll. Wir haben eine ganze Reihe anderer Faktoren, die bei der Beurteilung der landwirtschaftlichen Möglichkeiten eine Rolle spielen.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Pfuhl.
Herr Staatssekretär, da man auf hoher See und vor Gericht bekanntlich nur in Gottes Hand steht und hier viele Bauern Einspruch erhoben haben und eine Verfassungsklage gegen die Milchquotenregelung läuft, frage ich: Welche Vorsorge hat die Bundesregierung im Eventualfall einer Niederlage vor Gericht getroffen, um die Dinge zu regeln?
Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Pfuhl, die Bundesregierung geht davon aus, daß die Garantiemengenregelung Milch, die in der ganzen Europäischen Gemeinschaft eingeführt ist, auch mit dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland zu vereinbaren ist.
Die Fragen 76 und 77 des Abgeordneten Immer werden auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wir haben noch eine Minute. Ich rufe die Frage 78 des Abgeordneten Oostergetelo auf:
Welche Pläne hat die Bundesregierung bezüglich der von den milchproduzierenden Bauern wegen Überlieferung der Referenzmenge gezahlten sogenannten Superabgabe, und hat die Bundesregierung in diesem Zusammenhang Kenntnis davon, in welchem Umfang in den EG-Partnerländern die Superabgabe von betroffenen Landwirten abgeführt worden ist?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Oostergetelo, die ersten beiden Quartale sind in der Bundesrepublik Deutschland nach dem Gemeinschaftsrecht abgerechnet worden. Zur Vermeidung großer Härten für die Milcherzeuger sind nach EG-Bestimmungen nur 50 % der Abgabeschuld erhoben worden. Weitergehende Stundungen wurden vorgenommen, wenn diese Abgabeschuld 50 % des Milchgeldes überschritt. Die gesamte Abgabenschuld wird zum Ende des Wirtschaftsjahres fällig. Inzwischen hat sich herausgestellt, daß die Bundesrepublik Deutschland als einziger Mitgliedstaat die Abgaben erhoben und abgeführt hat. Die EG-Kommission hat bei den übrigen Mitgliedstaaten — für Italien und Griechenland bestehen Sonderregelungen — wegen Nichterhebung der Abgabe Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet und die EG-Vorschüsse für Marktordnungsausgaben in Höhe der Abgabenschuld gekürzt.
Zusatzfrage des Abgeordneten Oostergetelo.
Herr Staatssekretär, da es ja wohl so ist, wie Sie formuliert haben, daß wir als einziger Staat abgeführt haben, darf ich Sie fragen: Was passiert mit dem Geld, und haben Sie Forschungen angestellt, wer eigentlich die Superabgabe bezahlt, ob das jene sind, die nicht als Härtefall anerkannt sind und zu den sogenannten kleinen und Kleinstquoten gehören, oder ob das die Großbetriebe sind?Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Oostergetelo, nach der Garantiemengenverordnung Milch müssen alle Betriebe, die die ihnen zugeteilte Referenzmenge bei der Milchanlieferung überschreiten, diese Abgabe zahlen. Das gilt bei uns, und das gilt auch in allen anderen Ländern der Gemeinschaft. Denn es ist klar, daß eine Garantiemengenregelung Milch, die das System der Begrenzung der garantierten Milchpreise auf bestimmte Mengen vorsieht, dann nicht mehr haltbar wäre, wenn nicht auch die Abgabe für zuviel gelieferte Milch gefordert würde.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 124. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. März 1985 9135
Ich lasse noch die eine Zusatzfrage zu. Dann muß ich aus Zeitgründen leider abbrechen.
Herr Staatssekretär, sind Sie, was die Einkommen der Kleinst- bis Mittelbetriebe betrifft, der Meinung, daß die deutschen Bauern auf jeden Fall zu zahlen haben, während andere in der EG bisher ohne Zahlung davongekommen sind, und wollen Sie mir nicht sagen, was mit dem Geld passiert?
Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Oostergetelo, ich gehe davon aus — auch nach den Agrarministerberatungen dieser Woche in Brüssel —, daß in allen Ländern der Europäischen Gemeinschaft im Sinne der Garantiemengenverordnung Milch verfahren wird. Das entspricht auch den dort abgegebenen Bekundungen der Landwirtschaftsminister unserer Partnerländer.
Tut mir leid, aus Zeitgründen muß ich abbrechen. Wir sind am Ende der Fragestunde*). Ich danke dem Staatssekretär für die Beantwortung der Fragen.
Bevor ich zum nächsten Tagesordnungspunkt komme, darf ich Ihnen sagen, daß auf der Ehrentribüne eine Delegation der Enquete-Kommission für Parlamentsreform des Königreichs Schweden Platz genommen hat.
Ich habe die Ehre, Sie im Deutschen Bundestag zu begrüßen. Wir wünschen Ihnen gute Gespräche und einen angenehmen Aufenthalt in Bonn und in der Bundesrepublik Deutschland. Alles Gute für Ihren Aufenthalt!
Meine Damen und Herren, ich rufe die Punkte 14a und 14b und den Zusatzpunkt 3 der Tagesordnung auf:
14. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur leistungsfördernden Steuersenkung und zur Entlastung der Familie
— Drucksache 10/2884 —
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß
Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit Haushaltsausschuß mitberatend
und gemäß § 96 GO
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Elften Gesetzes zur Änderung des Bundeskindergeldgesetzes
— Drucksache 10/2886 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit
*) Die Fragen 88 und 89 der Abg. Frau Terborg wurden zurückgezogen. Die nicht mehr aufgerufenen Fragen werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Haushaltsausschul mitberatend
und gemäß § 96 GO
3. Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Elften Gesetzes zur Änderung des Bundeskindergeldgesetzes
— Drucksache 10/2928 —
Meine Damen und Herren, es sind eine gemeinsame Beratung der Punkte 14a und 14b der Tagesordnung und des Zusatzpunktes 3 sowie eine Aussprache von zweieinhalb Stunden vereinbart worden. — Ich sehe und höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — Der Bundesminister der Finanzen hat das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zur Halbzeit dieser Wahlperiode berät das Hohe Haus heute in erster Lesung den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur leistungsfördernden Steuersenkung und zur Entlastung der Familien.In den vergangenen beiden Jahren ging es in erster Linie darum, durch Konsolidierungspolitik die schwer erschütterten Grundlagen der öffentlichen Haushalte wieder zu festigen. Wir haben mit einem sehr niedrigen Ausgabenzuwachs, vor allem beim Bund, die Neuverschuldung erheblich zurückführen können. Sie verringerte sich von insgesamt 70 Milliarden DM bei Bund, Ländern und Gemeinden im Jahr 1982 auf rund 48 Milliarden DM 1984 und voraussichtlich auf 38 bis 40 Milliarden DM im Jahre 1985. Auch diese Nettokreditaufnahme ist immer noch viel zu hoch. So bleibt Konsolidierungspolitik als Politik für die Gesundung der öffentlichen Haushalte und Finanzen auch in Zukunft eine wichtige Aufgabe.Aber der erreichte Stand erlaubt uns jetzt, die dringend notwendige Entlastung bei der Einkommen- und Lohnsteuer für rund 20 Millionen berufstätiger Mitbürger auf den Weg zu bringen und in Verbindung damit einen besonderen Schwerpunkt der Familienpolitik ergänzend auch im Bundeshaushalt zugunsten der Eltern mit Kindern zu setzen.Konsolidierungspolitik ist kein Selbstzweck. Sie war und bleibt eine Voraussetzung für den nachhaltigen Rückgang der Inflationsrate von rund 5,5 bis 6,5% in den Jahren 1980, 1981 und 1982 auf nunmehr rund 2 %, also für einen großen stabilitätspolitischen Erfolg, der unserer Volkswirtschaft ebenso zugute kommt wie insbesondere den Bürgern mit geringem Einkommen. Konsolidierung hat auch den Spielraum geschaffen, den wir jetzt durch den Rückgang der Steuerquote und die besondere Förderung der Familie nutzen können.Wir schlagen vor, in einem Gesetz die Steuerentlastung in zwei Stufen vorzunehmen, also 1986 und 1988. So soll die nachhaltige Steuersenkung mit den Erfordernissen der künftigen Haushaltspolitik und den neuen Belastungen, die für den Bundesetat vor allem auf der Einnahmeseite durch die EG-Politik entstehen, in Einklang gebracht werden. Durch An-
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9136 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 124. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. März 1985
Bundesminister Dr. Stoltenberghebung des Grundfreibetrags, Abflachung der Steuerprogression, Erhöhung des Kinderfreibetrags und die ergänzenden familienpolitischen Schritte wollen wir Weichen für ein leistungs-, wachstums- und familienfreundliches Steuerrecht stellen.Nach dem Stand der gesamtwirtschaftlichen Vorausschätzungen, die der Steuerschätzung von 1984 zugrunde lagen, führt die Steuersenkung im Entstehungsjahr 1988 zu Steuermindereinnahmen von rund 20 Milliarden DM. Diese Zahl wird nach der nächsten Steuerschätzung vielleicht etwas nach unten zu korrigieren sein. Der erwähnte, sehr erfreuliche Rückgang der Inflationsrate wird wohl dazu führen, daß die sogenannten heimlichen Steuererhöhungen geringer ausfallen, als bei den im letzten Sommer gefaßten Grundsatzbeschlüssen angenommen werden konnte. Wie nun diese neue Schätzung auch ausgehen mag: Es bleibt dabei, daß der Staat auf rund 8 % seiner Lohn- und Einkommensteuereinnahmen verzichten wird, ohne daß zum Ausgleich Steuern erhöht werden. Je geringer die heimlichen Steuererhöhungen ausfallen, desto dauerhafter wird die Entlastung wirken.Mit der Steuersenkung verfolgen wir zwei Ziele. Erstens soll durch eine allgemeine Steuerentlastung insbesondere die Steuerprogression gemildert werden, von der heute die Mehrheit der Steuerzahler erfaßt wird. Selbständige und Arbeitnehmer, der Durchschnittsverdiener und der Facharbeiter unterliegen zunehmend der Besteuerung mit steigenden Grenzsteuersätzen. 1984 wurden gut 10,5 Millionen Steuerzahler progressiv besteuert. Das sind, meine Damen und Herren, 4 Millionen bis 5 Millionen mehr als noch vor zehn Jahren. Bis 1988 werden voraussichtlich weitere 3 Millionen in die Progression hineinwachsen, so daß dann über 13 Millionen der insgesamt 19 Millionen Steuerzahler progressiv besteuert werden.Im unteren Bereich der Steuerprogression, bei Ledigen mit Einkommen zwischen 18 000 und 60 000 DM, bei Verheirateten mit Einkommen zwischen 36 000 und 120 000 DM, steigen die Grenzsteuersätze nach geltendem Recht von 22 % auf 50 % besonders steil an. Das trifft sehr viele zur Leistung bereite Berufstätige und wirkt sich letztlich ungünstig auf Wachstum, Investitionen und Arbeitsplätze aus. Künftig soll deshalb die Grenzbelastung besonders in diesem Bereich gedämpft werden. Sie steigt dann statt um 28 nur noch um 24 Punkte an und erreicht bei Einkommen von 44 000 DM bei Ledigen bzw. 88 000 DM bei Verheirateten mit 5,5 Prozentpunkten die höchste Absenkung. Im übrigen werden die Grenzsteuersätze über die gesamte Progressionszone abgesenkt, so daß sich eine insgesamt sanfter ansteigende Belastungskurve ergibt. Damit ist der neue Tarif ein bedeutsamer Schritt in Richtung auf einen längerfristig anzustrebenden Zukunftstarif, bei dem die Grenzsteuersätze in der gesamten Progressionszone gleichmäßig ansteigen, die Progression also nicht in einer Kurve, sondern geradlinig verläuft.Unseren sozialdemokratischen Kritikern möchte ich sagen: Man darf die Wirkungen eines neuenSteuertarifs auf die verschiedenen Einkommensgruppen nicht nur in der Momentaufnahme bewerten. Man muß die zeitliche Perspektive der Entwicklung in den kommenden Jahren einbeziehen.
Durch die langgestreckte Abflachung über die gesamte Progressionszone ist der neue Einkommensteuertarif bewußt auf Dauerhaftigkeit angelegt. Von entscheidender Bedeutung ist, daß mit dem neuen Steuertarif die Grenzbelastung insbesondere bei den mittleren Einkommen — und dazu gehören heute neben den kleinen Selbständigen, den Angestellten und Beamten auch die Facharbeiter — für längere Zeit unter der Grenzbelastung nach dem heutigen Tarif bleibt.
Im übrigen: Je geringer der Preisanstieg, je erfolgreicher Stabilitätspolitik, desto dauerhafter wird die Wirkung der Steuerprogression.Das zweite wichtige Ziel des Gesetzentwurfes ist, wie schon gesagt, eine nachhaltige steuerliche Entlastung von Familien mit Kindern. Jeder, der Kinder hat, der Familien mit Kindern und Alleinerziehende in ihrer Lebenssituation kennt, weiß, daß diese — von der ideellen Leistung der Eltern einmal abgesehen — viel Geld kosten. Das verfügbare Einkommen von Eltern mit Kindern ist heute deutlich geringer als das von kinderlosen Steuerzahlern. Die Gerechtigkeit gebietet es, diese Tatsache auch steuerlich wesentlich nachhaltiger als bisher zu berücksichtigen.
Deshalb soll der von uns 1983 geschaffene Kinderfreibetrag von 432 DM auf 2 484 DM pro Kind angehoben werden. Die sogenannten Kinderadditive bei den Sonderausgaben sollen in diesen neuen Kinderfreibetrag überführt werden. Das ist wichtig. Hinzu kommen Verbesserungen beim Haushaltsfreibetrag für Alleinstehende mit mindestens einem Kind und beim Ausbildungsfreibetrag. Die Überführung der Kinderadditive in den Kinderfreibetrag ist ein bedeutender Schritt zur Steuervereinfachung. Der Kinderfreibetrag entlastet ohne den Nachweis von Aufwendungen und stellt so gegenüber dem Kinderbetreuungskostenabzug der Jahre 1980 bis 1982 eine wichtige Vereinfachung dar.Die Begrenzung der Vorsorgepauschale auf die Beitragsbemessungsgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung wird zudem überflüssig.Meine Damen und Herren, die familienpolitische Komponente der Vorlage bringt über 5 Milliarden DM Entlastung. Weitere rund 5 Milliarden DM entfallen auf die direkten Hilfen aus dem Bundeshaushalt, die Zahlung eines Zuschlags zum Kindergeld von bis zu 46 DM je Kind und Monat an Eltern mit sehr niedrigem Einkommen, die den Kinderfreibetrag im Steuerrecht nicht ausschöpfen können, die Umwandlung des Mutterschaftsurlaubsgeldes für berufstätige Mütter zu einem Erziehungsgeld für alle Mütter bzw., falls die Eltern sich dafür
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Bundesminister Dr. Stoltenbergentscheiden, für den Vater — das sollten wir nicht vergessen, Frau Kollegin —,
die Anerkennung eines Kindererziehungsjahres in der gesetzlichen Rentenversicherung und die bereits beschlossenen finanziellen Hilfen aus der Bundesstiftung „Mutter und Kind".Diese haushaltsbezogenen Entscheidungen treten zu unterschiedlichen Terminen in Kraft und sind bereits in die mittelfristige Finanzplanung eingearbeitet worden.
Ich will daran erinnern, weil es hier ein bißchen Verwirrung in der Öffentlichkeit gegeben hat, daI3 der Finanzrahmen für diese Entscheidung bereits am 3. Juli letzten Jahres einstimmig vom Bundeskabinett festgestellt wurde, was immer noch an einzelnen offenen Fragen in anderen Sektoren mit dieser Gesetzgebung verbunden ist. Ich will hier auch unterstreichen, weil es einige besorgte Anfragen gegeben hat, ob damit die Konsolidierungspolitik in Frage gestellt ist: Nein, dies ist in eine neue mittelfristige Finanzplanung unter den strengen Gesichtspunkten der Ausgabendisziplin eingearbeitet worden. Es kann vertreten werden, vor allem nachdem sich die Koalitionsfraktionen auf strenge Grundsätze der Begrenzung finanzwirksamer Ausgaben für diese Wahlperiode geeinigt haben.
Meine Damen und Herren, durch das Steuerbereinigungsgesetz 1985 wurde die Lage der alleinerziehenden Väter und Mütter verbessert. Diese können vom Veranlagungszeitraum 1984 an Kinderbetreuungskosten, die wegen Erwerbstätigkeit erforderlich sind, jährlich bis zu 4 000 DM als außergewöhnliche Belastung einkommensmindernd abziehen. Bei zwei oder mehreren Kindern erhöht sich dieser Betrag um 2 000 DM je Kind; für frühere Jahre gibt es Übergangsregelungen. Allerdings werden die Kinderbetreuungskosten für Alleinerziehende um einen zumutbaren Beitrag, eine zumutbare Belastung gekürzt, welcher um so größer ist, je höher die Einkünfte des Steuerpflichtigen sind. In allen Fällen wird aber mindestens ein Pauschbetrag von 480 DM je Kind eingeräumt.Ich erwähne dies besonders, weil in dem hier vorliegenden Gesetzentwurf die Regelung auf Ehegatten mit Kindern ausgedehnt werden soll, die wegen Behinderung oder einer länger dauernden Krankheit nicht in der Lage sind, ihre Kinder ohne fremde Hilfe zu betreuen.Wir tragen mit diesen neuen Vorschriften auch der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Rechnung. Ich will, Herr Kollege Spöri, den prinzipiellen Kritikern des Kinderfreibetrages sagen: Die Entwicklung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erlaubt es nicht, eine traditionelle dogmatische Position aufrechtzuerhalten, daß Kinderfreibeträge von Übel sind. Die Rechtsprechung des höchsten Gerichts macht klar, daß die Leistungen für Kinder im Steuerrecht stärker berücksichtigt werden müssen. Ich begrüße das ausdrücklich.
— Das ist die Schattenseite. Ich gebe Ihnen insoweit zu Ihrem Zwischenruf recht: Bestimmte Entscheidungen des höchsten Gerichtes führen auch zu einer gewissen Komplizierung im Steuerrecht, und es ist auch mein Wunsch, daß die höchsten Gerichte in künftigen Einzelfallentscheidungen den Gesichtspunkt der Handhabbarkeit und der Vereinfachung besonders berücksichtigen.Meine Damen und Herren, Berufstätige ohne Kinder werden gegenüber den Familien — ich will das offen hervorheben — 1986 zunächst relativ gering entlastet. Die Steuersenkung für diese Bürger setzt erst 1988 voll ein, wenn der Hauptteil der Tarifentlastung mit zusätzlichen 9,2 Milliarden DM wirksam wird. Ich bin fest davon überzeugt, daß diese Prioritätsentscheidung zugunsten der Berufstätigen mit Kindern von den Bürgern über alle Parteien hinweg letztlich verstanden wird.Lassen Sie mich die Entlastungsunterschiede an einigen Beispielen verdeutlichen. Die Rechnungen berücksichtigen die Tarifänderung und die Anhebung der Kinderfreibeträge unter Einbeziehung der Kinderadditive bei den Sonderausgaben. Statt noch mit 4 % jährlichem Einkommenzuwachs, wie er bei den Grundsatzbeschlüssen im letzten Jahr unterstellt wurde, ist angesichts des erheblichen Inflationsrückganges vorsichtiger für den Schnitt der kommenden Jahre mit 3,5 % gerechnet worden.Nehmen wir zunächst den Arbeitnehmer mit Durchschnittseinkommen: Wenn er ledig ist und keine Kinder hat, wird er 1986 bei einem Bruttolohn von 37 296 DM um 221 DM entlastet. Ein verheirateter Arbeitnehmer mit zwei Kindern und gleichem Lohn erfährt dagegen einen Steuernachlaß von 904 DM. Bei dem Ledigen ohne Kinder steigt die Entlastung 1988 fühlbar auf 587 DM, während der Verheiratete mit Kindern dann in gleicher Höhe wie 1986 entlastet wird.Ein zweites Beispiel bezieht sich auf einen gut verdienenden Facharbeiter in der Mineralölverarbeitung: Ist er ledig, ohne Kinder, wird er 1986 bei einem Lohn von 55 094 DM um 567 DM entlastet werden, während der Verheiratete mit zwei Kindern und gleichem Lohn dann 1 022 DM weniger Steuern zahlt. Der Ledige wird auch hier erst 1988 stärker entlastet, dann mit 1 605 DM, während der Verheiratete mit Kindern sich dann bei einer Gesamtentlastung von 1 084 DM mit einer geringfügigeren Verbesserung begnügen muß.Daß dabei die Entlastung des Ledigen in diesem Beispiel im Ergebnis stärker ausfällt, darf nicht zu falschen Schlußfolgerungen führen. Bei einem Vergleich muß die Steuerlast nach geltendem Recht herangezogen werden, die bei dem Ledigen mit gleichem Bruttolohn — fortgerechnet auf 1988 — mit 17 111 DM die Belastung des Verheirateten hier mit 9 258 DM um gut 7 800 DM übersteigt. Prozen-
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Bundesminister Dr. Stoltenbergtuai erfährt der Steuerpflichtige mit Kindern stets eine weit höhere Entlastung als der Kinderlose.
Damit wird deutlich, daß der Zwischentarif 1986 nur eine Vorstufe zu dem 1988 wirksamen neuen Tarif darstellt. Trotz der zeitlich versetzten Wirksamkeit stellt die Steuersenkung so ein Vorhaben aus einem Guß dar. Die Entlastungen 1986 und 1988 sollen — ich wiederhole es — in einem Gesetz festgeschrieben werden, so daß sich der Bürger, aber auch die steuerberatenden Berufe und die Steuerverwaltung, fest darauf verlassen können.Dieses Steuerkonzept ist leistungsfördernd und— im Gegensatz zu immer wiederholten Behauptungen der Opposition — sozial ausgewogen.
— Ich begründe das gerade. Sie haben sich ja von der Lebenswirklichkeit der meisten arbeitenden Menschen weit entfernt, wie diese Zwischenrufe zeigen.
Von den 20 Milliarden DM Entlastung — bezogen auf 1988 — entfallen 7,8 % auf die mit dem niedrigsten Steuersatz von 22 % besteuerten Bürger, obwohl diese Gruppe mit nur 5,8 % zum Steueraufkommen beiträgt. Ich sage es noch einmal: Die Bürger mit niedrigen Einkommen in der untere Proportionalzone werden überdurchschnittlich stärker entlastet als die Gesamtheit der Bürger.
Die mit dem Spitzensteuersatz von 56 % Besteuerten, also die sogenannten Reichen — es wäre ganz interessant, einmal im einzelnen darzustellen, wer soziologisch alles dazu gehört; manchmal auch in gewissen politischen Zuordnungen, wenn ich mir in diesen Wochen prominente Frühpensionäre aus Nordrhein-Westfalen betrachte —, erhalten dagegen nur einen Entlastungsanteil von 5,3 %, obwohl ihr Anteil am Steueraufkommen 16,2 % beträgt. Mit solchen Zahlen kann man sich auseinandersetzen, aber man kann sie nicht durch Phrasen aus der Welt schaffen.
Ich stelle also fest: eine Umverteilung von unten nach oben, wie sie die Opposition immer wieder behauptet, findet nicht statt. Im Gegenteil. Die Tarifgestaltung führt dazu, daß nach der Steuersenkung die Bezieher höherer Einkommen im Vergleich zu den Beziehern niedriger Einkommen relativ mehr zum Aufkommen beitragen müssen, als es gegenwärtig der Fall ist.Die Kollegen von der SPD-Bundestagsfraktion kritisieren an dem vorgelegten Steuersenkungsgesetz insbesondere, daß durch die Kinderfreibeträge Spitzenverdiener zweieinhalbmal soviel wie Normalverdiener entlastet würden und daß durch den neuen Tarif Spitzenverdiener sogar bis fünfzigmal mehr als die Normalverdiener entlastet würden.Dazu kann ich nur sagen: Bei der Beurteilung des Kinderfreibetrags unterscheiden wir uns in der Tat grundlegend. Der erhöhte Kinderfreibetrag bewirkt— zusammen mit dem Ausbildungsfreibetrag —, daß die Unterhaltslasten für Kinder erstmals seit 1975 wieder deutlich und angemessen steuermindernd berücksichtigt werden. Das ist unser Ziel. Denn wir halten es für unerträglich, wenn der Bürger alles mögliche von der Steuer absetzen kann — nach einem jetzt vorliegenden Bundesratsvorschlag auch die Beiträge für die Kleintierzucht —, aber nicht angemessen die Unterhaltsaufwendungen für seine Kinder.
— Sie können viele andere Beispiele wählen. Das ist völlig richtig. Die Liste, die man hier aufzählen kann, ist unendlich lang.Der Kinderfreibetrag bedeutet eine Abkehr von der Familienentlastung allein durch staatliche Übertragungsleistungen wie das Kindergeld. Solche Transfers — die unverzichtbar sind — können eine leistungs- und familiengerechte Besteuerung nicht ersetzen. Die Bundesregierung ist überzeugt: Steuergerechtigkeit und Sozialgerechtigkeit können nur im System eines dualen Familienlastenausgleichs zufriedenstellend erreicht werden, also gleichsam durch zwei Säulen: sozialbezogene Haushaltsleistungen und leistungsbezogene Leistungen in der Steuergesetzgebung. Kinderfreibetrag und Kindergeld müssen zusammenwirken.Die unterschiedliche Entlastungswirkung des Kinderfreibetrags ist nach unserem Verständnis sinnvoll. Aus der Steuerprogression folgt zwangsläufig, daß Ausgaben für Kinder unterschiedlich besteuert werden. Der Spitzenverdiener zahlt 56 % auf diesen anderweitig nicht verfügbaren Teil seines Einkommens, der im unteren Proportionalbereich Besteuerte hingegen nur 22 %. Die unterschiedliche Entlastung ist die einfache Konsequenz dieses Steuersystems.Im übrigen bewirkt die Kombination der neuen Kinderfreibeträge, des Kindergeldzuschlags und der von uns eingeführten Einkommensgrenze beim Kindergeld folgendes. Ein verheirateter Arbeitsloser mit zwei Kindern wird bei einem Durchschnittseinkommen um insgesamt 241 DM, ein Berufstätiger mit einem steuerpflichtigen Einkommen von 90 000 DM um 297 DM und ein Spitzenverdiener mit 280 000 DM Einkommen mit der entsprechenden Steuerbelastung um 352 DM bessergestellt. Das heißt, Leistungen aus dem Bundeshaushalt, sozialbezogen, führen zu einer Minderung, einer Milderung der reinen steuerlichen Wirkung. Man kann nicht sagen, daß diese Wirkung, an den genannten Beispielen sichtbar, sozial unerträglich wäre. Die Behauptung der sozialdemokratischen Kollegen, daß — ich zitiere — „durch die Tarifgestaltung Spitzenverdiener bis fünfzigmal stärker entlastet werden als Normalverdiener", ist irreführend. Der
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Bundesminister Dr. Stoltenbergdurchschnittlich verdienende Arbeitnehmer wird 1988 voraussichtlich etwa 40 800 DM Lohn beziehen. Nach dem Grundtarif hat ein Lediger dafür heute 8 833 DM Lohnsteuer zu zahlen. Nach dem geplanten Tarif 1988 werden es 8 202 DM sein. Die Entlastung beträgt hier also 631 DM = 7,1%. Ein Spitzenverdiener mit z. B. 500 000 DM Einkommen zahlt hingegen heute 265 155 DM Einkommensteuer, wovon er um 3 655 DM = 1,4 % entlastet werden soll. Also: Entlastung beim Durchschnittsverdiener 7,1 %, beim Spitzenverdiener 1,4 %.Offensichtlich haben die sozialdemokratischen Kollegen nicht die Normalverdiener, sondern die Bezieher der untersten Einkommen zum Vergleich ausgewählt. Die behauptete Entlastungsrelation von 1 : 50 läßt sich nämlich nur erklären, wenn man den niedrigverdienenden Mitbürger mit etwa 15 000 DM Einkommen mit dem Spitzenverdiener mit z. B. 500 000 DM Einkommen vergleicht. Tut man das, so muß man aber auch erwähnen, daß die Steuerbelastung dieses Spitzenverdieners heute das 112fache ausmacht, wenn er ledig ist, und sogar das 176fache, wenn er verheiratet ist. Man kann diese Relation nicht unterschlagen, wenn man über den Umfang der Entlastungswirkung ernsthaft miteinander reden will.
Die SPD schlägt nun vor, die Proportionalzone des Tarifs in zwei Stufen auf 21 600 DM auszudehnen und anschließend den unteren und mittleren Progressionsbereich stärker zu entlasten. Außerdem soll der Grundfreibetrag in der zweiten Stufe auf 5 022 DM angehoben werden. Diesem Vorschlag fehlt in der zeitlichen Perspektive der Wirkung auf die späteren Jahre jedes leistungsorientierte Element. Eine Verlängerung der unteren Proportional-zone des Tarifs ohne gleichzeitige Verlängerung des Progressionsbereichs brächte nach einigen Jahren eine rasche Verschärfung der Steuerprogression. Der Anstieg der schon erwähnten Grenzsteuersätze von 22 auf 56% vollzöge sich in einem entsprechend schmalen Einkommensintervall in einer unerträglich steilen Kurve. Schon nach wenigen Jahren, Herr Kollege Spöri, stünde sich die Mehrzahl der Berufstätigen in der Grenzbelastung wesentlich schlechter als nach dem Konzept der Bundesregierung.
Die zur Finanzierung einer allgemeinen Kindergelderhöhung von der SPD ebenfalls vorgesehene Streichung der Kinderadditive bei den Sonderausgaben würde ohne den Kinderfreibetrag die Familienbesteuerung erheblich verschlechtern. In Einzelfällen käme es trotz Tarifsenkung bei Steuerpflichtigen mit Kindern und niedrigem Einkommen besonders 1986 statt zu Steuersenkungen sogar zu Steuererhöhungen. Sogenannte Zahlväter wären besonders benachteiligt. Sie verlören die Kinderadditive, hätten aber keine unmittelbare Entlastungdurch die Kindergelderhöhung{Dr. Spöri [SPD]: Sie lassen die Kindergelderhöhung weg! Das ist in dem Beispielnicht seriös! Das haben Sie nicht nötig!)— Ich glaube, daß man hier alle Elemente einbeziehen muß, Herr Kollege Spöri.
— Für gute Ratschläge sind wir immer dankbar. Wir stehen ja auch am Anfang der Gesetzgebung. Heute haben wir auf Grund der Vorgabe leider wenig Zeit für die Debatte. Aber wir werden sie ja im Ausschuß fortsetzen.Meine Damen und Herren, ich habe mich bemüht, die anstehende Steuersenkung im finanz-, steuer- und familienpolitischen Zusammenhang kurz zu beschreiben. Es dürfte klargeworden sein, daß sich diese wichtigste Stufe der Steuerpolitik der jetzigen Wahlperiode harmonisch in unser finanzpolitisches Gesamtkonzept einfügt. Ebenso klar dürfte aber auch sein, daß das vorliegende Gesetz einen wichtigen reformerischen Zwischenschritt darstellt auf dem langen Weg, das Steuerrecht leistungs- und wachstumsfreundlicher zu gestalten.Das vorliegende Konzept schafft die Voraussetzung, in der nächsten Wahlperiode einen linearprogressiven Einkommensteuertarif einzuführen oder ihm zumindest nahe zu kommen. Das scheint mir auch die erste Priorität künftiger Steuergesetzgebung zu sein. Eine noch weitergehende Entlastung der Berufstätigen eröffnet dann die Möglichkeit, eine Reihe von Steuervergünstigungen und komplizierte Sonderregelungen abzubauen. Ein entlastender Tarif für alle ist besser als eine Fülle von Vergünstigungen für Einzelgruppen.
Andere Staaten der westlichen Welt haben Initiativen für die Absenkung ihres Spitzensteuersatzes eingeleitet oder vorbereitet. Dafür spricht vor allem, daß so der Tarifverlauf in der Progressionszone, also für die Mehrzahl der Steuerpflichtigen, weiter abgeflacht und die Grenzsteuerbelastung noch nachhaltiger verringert werden kann.Zweifellos ist die Unternehmensbesteuerung in der Bundesrepublik Deutschland im internationalen Vergleich zu hoch. Wir haben ja 1982 und 1983 erste gezielte, begrenzte Entlastungen für diesen Bereich beschlossen. Es wird für künftige Entscheidungen sorgfältig zu prüfen sein, ob ein weiterer Abbau, eventuell auch die völlige Abschaffung der Besteuerung des Betriebsvermögens, in Betracht kommt — ich verweise auf entsprechende Absichten in sozialistisch regierten Ländern wie Osterreich und Frankreich —, ob eine Senkung der Körperschaftsteuer Vorrang verdient oder ob anderen Maßnahmen Priorität eingeräumt werden soll.Ich begrüße es, wenn diese Diskussion in der fachlich interessierten Öffentlichkeit jetzt beginnt. Allerdings sollten sich alle, auch die Verbände, vor überzogenen Versprechungen und Forderungen hüten. Nur bei strenger Ausgabendisziplin gewinnen
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9140 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 124. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. März 1985
Bundesminister Dr. Stoltenbergwir den Spielraum für ein späteres, umfassendes Programm weiterer Steuerentlastungen. Wie groß dieser Spielraum tatsächlich ist, wird die finanzwirtschaftliche Eröffnungsbilanz einer neuen Wahlperiode zeigen. Genauso verfehlt wäre es jedoch, diese Debatte über Prioritäten der Zukunft mit dem Appell an Emotionen der Mißgunst oder des Neides schlagwortartig zu führen.
Unser Ziel bleibt es — ich möchte es abschließend bekräftigen —, mit der Staatsquote auch die Steuer- und Abgabenquote schrittweise zurückzuführen, die berufliche Leistung noch nachhaltiger anzuerkennen und die Wettbewerbsfähigkeit unserer Volkswirtschaft als Voraussetzung für mehr Beschäftigung und die Sicherung unserer Sozialsysteme zu stärken.Schönen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Spöri.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn man sich heute die Steuerbelastung des Durchschnittsbürgers betrachtet, vor allen Dingen die Steuerprogression, dann könnte man eigentlich zu dem Schluß kommen, daß die heute debattierte Steuerentlastung längst überfällig wäre. Heute zahlt ein Facharbeiter mehr Abgaben und mehr Steuern als zu irgendeinem Zeitpunkt der sozialliberalen Koalition.
Das muß man hier einfach einmal festhalten, meine Damen und Herren.Die Regierung der „Wende" war mit dem vollmundigen Anspruch angetreten, die Abgabenlast der Bürger zu senken.
— Seien Sie ruhig, Sie können hier etwas lernen. —
Die Steuerschraube, meine Damen und Herren, hat sich jedoch seit 1982 ständig weiter nach oben gedreht.
Niemals in der Regierungszeit Helmut Schmidts war die Lohnsteuerbelastung der Arbeitnehmer so hoch wie heute unter dieser Bundesregierung, die hier sitzt.
— Sie können Fakten nicht ertragen, stelle ich fest.
Hören Sie sich einmal die Statistik an: Wir haben in diesem Jahr eine Lohnsteuerquote von 17,8 %. Diese Rekordquote wird — trotz der von Ihnen vorgesehenen Steuerentlastung im Jahre 1988 — weiter auf 18,3 % steigen.
— Ach, kommen Sie doch hoch, Herr Krey. Das ist doch wirklich billig, hier immer nur zu stören, ohne daß man überhaupt hört, was Sie sagen.
Bei der Progression sieht's für den Durchschnittsbürger nicht besser aus. Im letzten Jahr der Regierung Schmidt hatte der Durchschnittsverdiener einen Grenzsteuersatz auf sein zusätzlich verdientes Einkommen von 32,2 % zu zahlen. Trotz der größten Steuerreform aller Zeiten, wie das in Ihrer Sprache oder in der Sprache des Kanzlers so schön schwülstig heißt, wird der Grenzsteuersatz für den Durchschnittsbürger 1988 auf 34,4 % steigen. Das ist ein einmaliger Rekordstand in der Geschichte der Bundesrepublik. Diese Fakten muß man sich eben anhören, wenn man über Belastung und Entlastung des Bürgers diskutiert.
Wir sollten auch nicht vergessen, meine Damen und Herren, daß sich diese Bundesregierung mit teuren, aber beschäftigungspolitisch wirkungslosen Steuergeschenken wie Vermögensteuersenkung und Begünstigung des Fremdkapitals bei der Gewerbesteuer den Spielraum für eine spürbare Entlastung bei der Lohn- und Einkommensteuer ohne Not von vornherein eingeengt hat.
Gerade deshalb warnt die SPD-Bundestagsfraktion davor, jetzt durch eine Überforderung der öffentlichen Haushalte bei der Tarifreform die Investitionstätigkeit von Bund, Ländern und Gemeinden noch stärker zu drosseln. Steuerentlastung, öffentliche Investitionskraft und haushaltspolitisches Konsolidierungsziel müssen vernünftig austariert sein.Wir werden daher Sie, Herr Bundesfinanzminister, in der Frage der Zweistufigkeit der Tarifentlastung voll unterstützen, auch wenn vielleicht Ihr Koalitionspartner in bekannter Manier in den nächsten Wochen hier noch einmal öffentliche Profilspiralen abdreht.
Meine Damen und Herren, das bedeutet aber nicht, daß wir mit der Konzeption, wie Sie, Herr Bundesfinanzminister, die 20 Milliarden DM en detail unter die Leute bringen, einverstanden sein können. Ganz im Gegenteil: Das, was die Bundesre-
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Dr. Spörigierung beim Familienlastenausgleich mit der Schwerpunktverlagerung vom Kindergeld auf Kinderfreibeträge plant, ist bei allem familienpolitischen Wortgeklingel nichts anderes als eine einseitige Weichenstellung zugunsten der besserverdienenden Familien.
Das Etikett und Ihre mühseligen Begründungen, Herr Bundesfinanzminister, für den Freibetrag können nicht darüber hinwegtäuschen, daß Kinderfreibeträge einen progressiven, d. h. mit wachsendem Einkommen steigenden Entlastungseffekt haben.Demgegenüber gilt für uns Sozialdemokraten weiterhin der 1975 gemeinsam getragene Grundsatz,
daß dem Staat jedes Kind gleich viel wert sein sollte.
Dieser Grundsatz in der Familienförderung ist nicht veraltet; er trifft heute genauso die Realitäten und die Notwendigkeiten wie 1975.
Es ist deshalb ein bedauerlicher Vorgang, ein familienpolitischer Rückfall, wenn sich heute die Koalitionsfraktionen aus der Gemeinsamkeit in dieser zentralen Grundsatzfrage sozialer Gerechtigkeit in unserem Lande verabschieden;
einer Gemeinsamkeit, meine Damen und Herren, die 1975 — übrigens auch mit Unterstützung der Kirchen — die Einführung des gleichen Kindergelds für alle erst möglich gemacht hat.
Außerdem haben Sie es als Koalition, die ja vollmundig unter dem Motto „Verwaltungsvereinfachung und Steuervereinfachung" angetreten ist, mit der vorgesehenen Neuregelung geschafft, den Familienlastenausgleich in beispiellos verwirrender Form zu komplizieren und zu bürokratisieren.
Künftig gibt es also neben dem Kindergeld mit Einkommensgrenzen die Kinderfreibeträge, mit diesen wiederum gekoppelt das Zusatzkindergeld. Dieses Zusatzkindergeld muß mühselig auf der Basis der letzten Steuerbescheide berechnet, anerkannt oder aberkannt und vielleicht zurückbezahlt werden. Das ist ein beispielloses Durcheinander. Es ist einmalig im Familienlastenausgleich.
Die Union hat in den letzten Jahren in den Debatten dieses Hauses zu jedem Steuerentlastungsgesetz auf die Wiedereinführung der Kinderfreibeträge gedrängt. Mit diesem Gesetzentwurf ist es, wie man sagen kann, vollbracht. Das wird viele in diesem Lande noch teuer zu stehen kommen. Langfristig werden mit wachsenden Einkommen und stärkeren Kinderfreibeträgen die Entlastungsvorteile einkommensstarker Familien gegenüber der Durchschnittsfamilie ständig anwachsen. Man tritt weder der Union noch der FDP zu nahe, wenn man sagt, daß dies wohl ein entscheidendes Motiv für die Wiedereinführung der Kinderfreibeträge war. Nur, Herr Bundesfinanzminister: Mit einer sozial gerechten Familienpolitik hat dieses Motiv überhaupt nichts zu tun.
Deshalb haben wir hier den Antrag eingebracht, nach dem das Kindergeld für alle auf denselben Betrag erhöht werden soll. Meine Kollegin Schmidt wird anschließend darauf eingehen.Im übrigen, wenn Sie in der Koalition immer so viel von Familienpolitik reden,
möchte ich Ihnen eine kleine Statistik über das, was getan wird, präsentieren: Das Gesamtvolumen aller familienpolitischer Maßnahmen hat sich von 1978 bis 1982, unter der alten Bundesregierung, um 26 % erhöht. Im gleich langen Zeitraum von 1982 bis 1986 wird die Zuwachsrate nach eigenen Angaben der Bundesregierung nur 15% betragen.
— Das muß man sehen, Herr Kolb, wenn man von Familienpolitik redet und wenn man den Mund so voll nimmt, wie Sie es eben tun.
Nun zu den von der Bundesregierung vorgeschlagenen Änderungen bei der Lohn- und Einkommensteuer: Wir haben hierzu eine Alternative entwikkelt, die wir in Form von Anträgen hier in der zweiten und dritten Lesung einbringen werden. Die SPD setzt im Rahmen ihrer Vorschläge in folgenden Punkten andere Akzente als die Koalition:Erstens. Der Grundfreibetrag soll doppelt so stark wie im Regierungsentwurf auf über 5 000 DM erhöht werden. Dadurch wird nicht nur die Gesamtentlastung verteilungsgerechter, weil der Grundfreibetrag ja bekanntlich unabhängig vom Einkommen alle Bürger gleich entlastet; es ist auch so, daß wir durch diese Operation weit stärker als die Bundesregierung dem verfassungsrechtlichen Gebot gerecht werden, daß mittelfristig das Existenzminimum des Bürgers steuerfrei gestellt werden muß.
Das hat ja der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Herr Zeidler, vor kurzem angemahnt.
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9142 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 124. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. März 1985
Dr. SpöriIch möchte Sie nun einmal fragen: Warum sind Sie eigentlich so zaghaft bei der Erhöhung des Grundfreibetrages? Wenn es um die Senkung des Spitzensteuersatzes geht, gehen Sie mit Ihren Forderungen immer in die vollen, beim Grundfreibetrag aber nicht.
Das ist bezeichnend für Ihre steuerpolitische Grundhaltung!
Zweitens. Wir holen durch die Verlängerung der Proportionalzone auf über 21 000 DM weit über 1 Million Steuerpflichtige wieder aus der Progression, d. h. aus der Zone steigender Steuersätze, heraus. Das ist zudem ein ganz wesentlicher Beitrag zur Steuervereinfachung.
— Sie kommen gleich dran, Herr Gattermann!Wenn Sie, Herr Stoltenberg, sagen, dadurch würde die Progression steiler, sage ich Ihnen: Bei dem von uns vorgeschlagenen Tarif ist im Eingangsbereich der Progression — dort, wo die Facharbeiter hineingerutscht sind und wo die Progression am stärksten drückt — die Progression an jedem Punkt, bei jedem Einkommen, niedriger als in Ihrem Tarif. Wenn Sie das Gegenteil behaupten, ist das einfach falsch.
Ich werde Ihnen das anschließend erklären.
Drittens. Wir wollen mit unserem Konzept im unteren Bereich der Steuerprogression — dort, wo jetzt der Facharbeiter hineingerutscht ist — weit stärker entlasten, als es im Tarif der Bundesregierung geschieht. Allerdings kommt die zusätzliche Finanzierungsmasse für diesen Schwerpunkt der Entlastung — meine Damen und Herren, das wollen wir hier überhaupt nicht unter den Teppich kehren; das bekennen wir offensiv — aus eindeutig geringeren Entlastungen im oberen Bereich der Progressionszone. Das heißt, bei den höheren Einkommen fallen die Entlastungen natürlich geringer aus. Es ist ja auch nicht gerechtfertigt, daß, wie im Regierungsentwurf vorgesehen, Bezieher von Spitzeneinkommen fünfzigmal so stark wie Durchschnittsverdiener entlastet werden.
Das ist vielleicht für Sie naturgesetzlich; für uns ist es bei einer Tarifreform nicht naturgesetzlich.
Herr Stoltenberg, ich muß Ihnen eines sagen: Ich habe hier ein Bulletin, in dem Sie Ihre Entlastungsbeispiele veröffentlicht haben. In diesem Bulletin ist genau dieses Beispiel enthalten. Wenn Sie diesesBeispiel angreifen, müssen Sie Ihr eigenes Bulletin nachträglich korrigieren.
Meine Damen und Herren, unser Konzept zeigt, daß wir nicht nur die extrem einkommensabhängigen Entlastungsunterschiede des Regierungsentwurfs kritisieren; nein, wir machen nicht, wie Sie es in der Opposition steuerpolitisch betrieben haben, Sonthofen, sondern haben eine konkrete Alternative entwickelt, die eindeutig verteilungs- und familiengerechter ist.
Nach Ihrem angeblich so familienfreundlichen Tarif, Herr Stoltenberg, wird der kinderlose Spitzenverdiener weit stärker entlastet als der kinderreiche Durchschnittsverdiener, und das ist alles andere als familienfreundlich, Herr Minister.
Daß wir nach unserem Konzept im mittleren und unteren Einkommensbereich zu nennenswert höheren Entlastungen kommen als oben, das ergibt sich auch noch aus einem anderen Gerechtigkeitsgesichtspunkt, nämlich aus dem Gesichtspunkt, daß die Bundesregierung, ja, ich muß schon sagen, in schamloser Weise im letzten Dezember auf einen Solidarbeitrag der Besserverdienenden als Ersatz für die Zwangsanleihe verzichtet hat.
Dieser Vorwurf soll Ihnen in keiner Steuerdebatte erspart werden, wenn Sie glauben, das könne man alles folgenlos aussitzen. Das war ein unglaublicher Wählerbetrug, was Sie da gemacht haben. Sie haben das nämlich vor den letzten Wahlen angekündigt.
Ich möchte aber auch noch auf einen anderen wichtigen Aspekt dieser Entlastungsoperation hinweisen. Wenn man die unterschiedlichen Konzepte betrachtet, dann zeigt sich, daß nach unseren Vorschlägen die Endnachfrage, d. h. die Konsumkraft viel nachhaltiger gestärkt wird als im Regierungskonzept. Es ist unbestritten, daß der Nachfrageeffekt einer Steuersenkung dort am größten ist, wo die Sparfähigkeit, wo die Sparquote am kleinsten ist, d. h. bei mittleren und kleineren Einkommen. Mir scheint, daß die Bundesregierung gerade diesen wirtschaftspolitischen Aspekt der Tarifkorrektur sträflich vernachlässigt. Ich möchte darauf etwas näher eingehen.Meine Damen und Herren von der Koalition, es besteht wirklich Anlaß, daß Sie einmal die bisherigen Ergebnisse Ihrer Wirtschaftspolitik nüchterner als bisher überdenken. Mit der forschen Optimismuskampagne à la Bangemann kommen Sie nicht viel weiter.
Es müßte auch dem Bundesfinanzminister zu denken geben, daß trotz eines inzwischen verringerten Zinsgefälles enorm viel Kapital aus der Bundesrepublik abfließt. Wir hatten 1981 in der Kapitalbilanz noch ein starkes Plus von 9,2 Milliarden DM, 1983
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 124. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. März 1985 9143
Dr. Spörischon ein Minus von 16,2 Milliarden DM und 1984 den unerreichten Rekordabfluß von 29,1 Milliarden DM. Herr Bundesfinanzminister, das ist alles andere als ein Vertrauensbeweis in eine Politik, die als Höhepunkt euphorischer Aufschwungslyrik eine einmalige Rekordarbeitslosigkeit produziert hat.
Auch die Steuerpolitik muß ihren Beitrag dazu leisten, daß sich die Konjunktur auf mehr stützen kann als auf extreme Verbilligung deutscher Exportwaren als Folge labiler unberechenbarer Wechselkurse.Nach den neuesten Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin wird nämlich das Sozialprodukt im ersten Quartal dieses Jahres um 0,5% abnehmen, d. h. schrumpfen. Eine kompetente konjunkturgerechte Wirtschaftspolitik kann eben nicht durch die aufgeräumte Stimmung des neuen Wirtschaftsministers und des neuen FDP-Vorsitzenden ersetzt werden.
Wenn man diese labile Konjunkturlage einmal näher betrachtet, dann macht uns heute vor allen Dingen der Bausektor enorme Sorgen, und das wissen auch Sie, Herr Bundesfinanzminister. Die Bauindustrie war ja bei Ihnen. Dafür ist neben der schlechten Lage im Wohnungsbau auch der Investitionsrückgang vor allen Dingen bei den Ländern und Gemeinden verantwortlich. Gerade deshalb, Herr Bundesfinanzminister, darf der Bund mit seiner Steuerpolitik nicht rücksichtslos über Länder und Gemeinden hinwegfahren und diese Länder und Gemeinden überfordern, die immerhin 57,5% der Steuerausfälle bei dieser Operation zu tragen haben.
Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt daher die Forderung aller Länder, daß die geplante Steuerentlastung unbedingt mit einem speziellen Finanzausgleich für die Länder gekoppelt werden muß. Vor allen Dingen die Länder mit Strukturproblemen — und hier sind es unionsregierte genauso wie sozialdemokratisch regierte — können diese Tarifkorrektur haushaltspolitisch und investitionspolitisch nicht verkraften ohne einen speziellen Ausgleich.Ich bedauere, daß Sie, Herr Finanzminister, über dieses große Problem, vor dem Sie stehen, heute kein Wort verloren haben. Ich glaube, Sie haben hier die parteiübergreifende Entschlossenheit der Länder im Bundesrat weit unterschätzt. Ihr Parteifreund Albrecht hat Ihnen im Bundesrat ja klargemacht, daß er Ihrem Gesetzentwurf nur dann zustimmen kann, wenn diese Vorbedingung erfüllt ist. Ich kann nur sagen: Herr Albrecht hat recht, zumindest in diesem Punkt. Hier haben Sie von Anfang an im Bundesrat die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Das war mehr als ein kleiner Schnitzer. Es wird Ihnen noch ganz schön Ihre Finanzplanung durcheinanderwirbeln, wenn Sie aus den Verhandlungen mit den Ländern erst einmal herauskommen.
Wer die aktuelle steuerpolitische Diskussion in diesen Tagen verfolgt, wird aber feststellen, daß der Gesetzentwurf, den wir jetzt in erster Lesung debattieren, in der öffentlichen Diskussion eigentlich schon wieder so etwas wie Schnee von gestern ist. Denn die öffentliche Diskussion um unser Steuersystem greift inzwischen weit über die Entlastungsjahre 1986 und 1988 hinaus in die Zukunft der Einkommens- und Unternehmensbesteuerung der 90er Jahre.Diese Diskussion ist notwendig. Wir sollten in dieser Debatte die Gelegenheit nutzen, auch einmal über den Tellerrand der Tarifpolitik, der Steuerdiskussion, die wir hier bisher geführt haben, hinauszuschauen. Es reicht schließlich nicht aus, wenn wir uns hier von einer Tarifkorrektur zur nächsten robben und langfristig die Orientierung verlieren. Das dies nicht eintritt, scheint mir ein gemeinsames Interesse zu sein.In den letzten Wochen haben mehrere führende Koalitionsexperten ihre bisher im Verborgenen blühenden Phantasien und Sehnsüchte, Herr Gattermann, zum Steuersystem der Zukunft offenbart. Danach soll der hier vorliegende Gesetzentwurf nur der erste Reformschritt bei einer grundlegenden Umgestaltung unseres Steuersystems des Jahres 2000 werden.
Angefangen hat Kollege Gattermann, der jetzt in seiner kleinen Fraktion so viel Beifall bekommt.
— Zumindest einer hat geklatscht, Herr Cronenberg; das finde ich ungeheuer. — Angefangen hat Herr Kollege Gattermann, der in ständigem Drang nach weiteren Steuersenkungen für die gehobenen Einkommensschichten eine dramatische, eine drastische Kürzung des Spitzensteuersatzes von 56 auf 36 % bei der Einkommen- und Körperschaftsteuer gefordert hat.Wenn man sich fragt, woher Herr Kollege Gattermann seine kühnen Utopien her hat, braucht man nur einmal einen Blick auf die Steuerreformpläne des amerikanischen Präsidenten für Amerika zu werfen. Wenn Herr Gattermann diese ansieht, bekommt er bestimmt glänzende Augen, weil Herr Reagan mit seinen Forderungen sogar um einen Prozentpunkt niedriger liegt, nämlich bei 35 Vo Höchststeuersatz.
Den einen Prozentpunkt hätten Sie sich schenken können; den hätten Sie auch noch fordern können, Herr Gattermann.
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9144 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 124. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. März 1985
Dr. SpöriWas macht die Union in dieser Situation? Nachdem man sich zunächst einmal dezenterweise, weil es anscheinend zu weit ging, etwas zurückgehalten hatte, mußte man natürlich in edlem Wettstreit um das Wählerreservoir bei Industrie- und Handelskammern hinterher etwas nachziehen, wie die letzten Reden der Herren Kollegen Häfele und Voss gezeigt haben.Eines fällt dabei auf. Während die Herren Finanzstaatssekretäre wie zwei Minenhunde das Terrain steuerpolitischer Visionen sondieren, bewegt sich der Bundesfinanzminister schön vorsichtig, behutsam hinter den Diskussionslinien und spricht lediglich davon, daß das mit dem Spitzensteuersatz alles kein Tabu sei. Aber er legt sich nicht fest. Heute morgen verwies er auf die Entwicklung in anderen Ländern.Herr Bundesfinanzminister, Sie wissen sehr gut, warum Sie so vorsichtig sein müssen. Was unserem Steuersystem da als Radikalkur verordnet werden soll, ist mehr als dubios, meine Damen und Herren.
Da sollen z. B. die enormen Steuerausfälle bei der Übertragung von Ronald Reagans Steuerplänen auf die Bundesrepublik durch den umfassenden Abbau von Steuersubventionen ausgeglichen werden. Das muß man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen: Abbau der Steuersubventionen unter dieser Regierung.Verbreiterung der Bemessungsgrundlage — so heißt die kühne Parole. Aber der Bundesfinanzminister weiß schließlich ganz genau, daß er schon bei weit bescheideneren Zielen gescheitert ist, als es nämlich darum ging, eine Reihe von Steuervergünstigungen als Deckungsvorschlag für die jetzt anstehende Steuerentlastung abzubauen. Sie haben keine einzige Steuersubvention in diesem Zusammenhang abgebaut, Herr Stoltenberg; daher wohl Ihre vornehme Zurückhaltung, wenn Ihre Herren Staatssekretäre in ihren kühnen steuerpolitischen Visionen schwelgen.
Denn das einzige, was diese Regierung unter dem Stichwort Steuersubvention tatsächlich fabriziert hat, ist ein dramatischer Ausbau der Steuersubventionen, nämlich von 29,5 Milliarden DM im Jahre 1982, dem Wende-Jahr, auf inzwischen 40 Milliarden DM in diesem Jahr. Das ist ein Zuwachs um 30 %.
Das ist Subventionsabbau nach christdemokratischer Manier. Da kann ich nur lachen.
Ich glaube, Herr Finanzminister, Sie wissen schon sehr genau, was aus den Steuermodellen Ihrer Staatssekretäre wird, wenn das jeder Wähler erlauben sollte. Die Subventionen würden dann munter weitersteigen, und die finanzielle Deckung für die radikale Kappung der Spitzensteuersätze würde durch eine Erhöhung der Verbrauchsteuern und der Umsatzsteuer erbracht. Dann müßte der kleine Mann die Zeche zahlen. Das wäre die nächste Stufe Ihrer brutalen Umverteilungspolitik. Das paßt zwar besser zu Ihrer verteilungspolitischen Ideologie. Allerdings werden Sie mit einer auch langfristig gegen die Kaufkraft des kleinen Mannes gerichteten Steuerpolitik bei Ihrem Ziel der Verstetigung der Konjunktur kläglich scheitern, Herr Bundesfinanzminister.
Doch die Koalition will bei ihren steuerpolitischen Zukunftsvisionen nicht bei einer Kappung der Spitzensteuersätze stehenbleiben. Unter der jetzt feurig einsetzenden Begleitmusik des Deutschen Industrie- und Handelstages wird zusätzlich ein drastischer Abbau der sogenannten ertragsunabhängigen Steuern gefordert, insbesondere der Vermögensteuer, wie Sie das gerade auch angedeutet haben, Herr Finanzminister. Dabei wird aus den Verbänden immer wieder auf die schwache Eigenkapitaldecke in der deutschen Wirtschaft hingewiesen. Das Grundproblem der deutschen Wirtschaft besteht jedoch nicht darin, meine Damen und Herren, daß wir zu wenig Kapital hätten. Nein wir haben reichlich Kapital, wenn schon allein 1983 die private Ersparnisbildung 130 Milliarden DM beträgt. Unser strukturelles Grundproblem besteht vielmehr darin, daß heute die produzierende Wirtschaft enorme Schwierigkeiten hat, am Kapitalmarkt mit den Kapitalanlagen in nichtproduktive Anlagen zu konkurrieren. Heute wird die Rendite von Finanzanlagen in weiten Kreisen brutto gleich netto gerechnet, d. h. ertrag- und vermögensteuerfrei. Das heißt, um mit der Bruttorendite einer Finanzanlage von 10% konkurrieren zu können, muß eine produktive Anlage im Unternehmen mehr als 25% vor Steuern erwirtschaften. Das ist eindeutig eine Fehlentwicklung. Diese Fehlsteuerung hat sich mit höheren Zinssätzen in den letzten Jahren verschärft. Ich glaube, darin gehen wir alle konform. Ich habe mit Interesse im „Handelsblatt" gelesen, daß auch die Bundesregierung die Beseitigung dieser steuerlichen Ungleichbehandlung als ihre zentrale Aufgabe ansieht, Herr Häfele. Ich gehe auch mit Ihrer Ansicht konform, daß man die Sparerfreibeträge von 300 DM bzw. 600 DM um ein Vielfaches erhöhen müßte, wenn man endlich die Finanzanlagen aus der Grau- und Schwarzzone herausholen will. Der Abbau der steuerlichen Diskriminierung produktiver Kapitalanlagen im Unternehmen, in Investitionen bedeutet aber auch, daß wir das spekulative Immobilienvermögen steuerlich nicht weiter privilegieren dürfen, wie das bisher der Fall gewesen ist.
Total falsch dagegen ist die steuerliche Begünstigung von Fremdkapital im Unternehmen, wie Sie das bei der letzten Änderung der Gewerbesteuer hier gemacht haben.Lassen Sie mich zusammenfassen. Die Herstellung eines steuerneutralen Systems in dem von der SPD vorgesehenen Sinne, daß die Kapitalanlage und Eigenkapitalbildung in produktiven und innovatorischen Unternehmen künftig nicht mehr gegenüber Finanzanlagen, die zinsträchtig sind, benachteiligt werden, ist keine leichte Aufgabe. Das
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 124. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. März 1985 9145
Dr. Spöriwissen wir. Wir werden aber noch in diesem Jahr im Deutschen Bundestag ein Konzept vorlegen, das die Unternehmensbesteuerung in der geschilderten Richtung reformieren soll.
Meine Damen und Herren, ohne eine Herstellung der Steuerneutralität zwischen produktiven Anlagen im Unternehmen einerseits und rein zinsträchtigen Anlagen in Finanzanlagen, in Rentenpapieren andererseits werden jedoch unseren Unternehmen, vor allem den mittelständischen Unternehmen, zunehmend die Mittel fehlen, um den beschäftigungspolitischen, innovatorischen und vor allen Dingen auch umweltpolitischen Anforderungen gerecht zu werden. Das will wohl keiner von uns.
— Lieber Herr Kolb, hören Sie zu! — Deshalb lassen Sie uns konstruktiv, Herr Kolb, auf diesem Gebiete um bessere Lösungen ringen; aber beenden Sie endlich Ihre leidige Spitzensteuersatzkampagne, die so unnötig wie ein Kropf ist, wenn man an Beschäftigungspolitik denkt.
Sie heizen damit unnötigerweise lediglich gesellschaftliche Konflikte emotional an — der Herr Bundesfinanzminister hat ja vorher davon gesprochen, daß man nicht emotionalisieren soll —, und Sie schaden mit dieser Konfliktanheizung der gesamten deutschen Wirtschaft.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete von Wartenberg.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ausführungen meines Vorredners, insbesondere seine Kritik an der hohen Steuerbelastung und damit an dem von der SPD geschaffenen Einkommensteuertarif,
seine Forderung nach einem neuen Beschäftigungsförderungsprogramm zeigen, daß es höchste Zeit wurde, wieder eine vertrauensbildende, langfristig angelegte soziale Steuer- und Finanzpolitik zu betreiben.
Im Gegensatz zu unseren Vorschlägen sind die Vorschläge der SPD-Politiker nach wie vor durch Kurzatmigkeit, Hektik und teure Effekthascherei gekennzeichnet. Der Beitrag von Herrn Spöri zeigt: Die SPD hat nicht dazugelernt. Sie empfehlen allen Ernstes, die zwei Grundfehler Ihrer Steuerpolitik aus Ihrer Regierungszeit fortzusetzen. Erstens. Durch die von Ihnen vorgeschlagene, wieder kurzatmige Tarifkorrektur wollen Sie den leistungshemmenden Zugriff der Steuerprogression nicht abschwächen, sondern verschärfen.
Zweitens. Sie wollen auch künftig in der Steuerpolitik keine Rücksicht darauf nehmen, ob jemand Kinder hat oder nicht.
Insgesamt sind Ihre Vorschläge ja nicht neu. Sie sind die konsequente Fortsetzung Ihrer falschen Politik seit dem Steueränderungsgesetz 1974, die mit leeren Kassen und mit riesigen Schulden geendet hat.
Zum Tarif. Die Illusion, meine Damen und Herren, möglichst viele der 19 Millionen Steuerzahler im vereinfachten Verfahren mit einem einheitlichen Steuersatz, also 22 %, zu erfassen, mußte die SPD schon zu ihrer Regierungszeit aufgeben. Trotz ständiger Basteleien am Tarif wurden immer mehr Steuerzahler progressiv besteuert. Obwohl die volkswirtschaftliche Steuerquote seit 1977 relativ stabil blieb, zeigt der wachsende Anteil der Lohnsteuer am Steueraufkommen, wen Ihre verfehlte Steuerpolitik in den vergangenen Jahren hauptsächlich traf, nämlich den Arbeitnehmer. Die direkte persönliche Belastung stieg.
— Sie ist heute noch viel höher, weil wir nach wie vor den von Ihnen geschaffenen Tarif 1981, der eben diese stark anwachsenden Progressionssätze in der unteren Progressionszone hat.
Betroffen davon ist der, um dessen Wählerstimme Sie sich bemühen, der normale Facharbeiter.Meine Damen und Herren, wer Ihren Vorschlägen folgt, die Proportionalzone jetzt wieder zu verlängern, läuft der dynamischen Einkommensentwicklung ständig hinterher. Er ist zu ewigem Aktionismus verdammt. Von Stetigkeit, die not tut, wäre überhaupt keine Rede mehr.Die SPD fordert aber nicht nur eine Verlängerung der Proportionalzone, sondern beschränkt ihre tarifliche Entlastung auf den unteren Eingangsbereich der Progressionszone. Diese Entlastung verschafft nur vorübergehend Luft. Nach ein oder zwei Lohnrunden wären die Facharbeiter wieder von den heimlichen Steuererhöhungen eingeholt, von der leistungshemmenden Progression erfaßt — und dies viel stärker als früher.
Sie können froh sein, daß die Inflationsraten nichtmehr so hoch sind wie zu Ihren Regierungszeiten.
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9146 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 124. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. März 1985
Dr. von WartenbergSonst würde die Belastung noch offensichtlicher werden.
— Meine Damen und Herren, wer eine Leiter an ihrem oberen Ende festhält und unten immer weiter heranschiebt, soll sich nicht wundern, wenn der Anstieg steiler wird.Wir wollen mit unseren Vorschlägen den leistungsfeindlichen Mittelstandsbauch abbauen. durch Ihre Vorschläge schaffen Sie einen das Wachstum hemmenden Spitzbauch in der Einkommensteuertarifgestaltung.
Durch Ihre Vorschläge verstärken Sie die Steuerprogression schon vom Facharbeiter an. Der von der SPD vorgeschlagene Tarif müßte ständig korrigiert werden; unser Tarif dagegen ist auf längere Zeit angelegt und somit eine Option auf die Zukunft.
Zweitens zur Familienbesteuerung: Der Schwerpunkt unserer Vorschläge ist eine nachhaltige steuerliche Entlastung von Familien mit Kindern. Die Betonung liegt hier auf „steuerliche Entlastung". Mit der deutlichen Verbesserung des Kinderfreibetrages bekennen wir uns zum dualen System von Kindergeld und Kinderfreibetrag. Das duale System beruht auf dem Grundsatz der Eigenverantwortlichkeit. Jede Familie muß sich zuerst einmal selbst zu helfen versuchen, und, meine Damen und Herren, sie will das auch. Kinder sind ja nicht in erster Linie eine Bürde oder eine Belastung, sondern für die Eltern von höchster Bedeutung für die eigene Lebenserfüllung.
Der Staat muß den Familien nur die Chance geben, für die Kinder selbst zu sorgen. Er muß erst dort unterstützen, wo es not tut.
Das heißt für die Steuerpolitik: Wenn fünf Personen von einem Einkommen leben müssen, dann darf der Staat nicht so viel Steuern nehmen wie dann, wenn davon nur zwei oder drei Personen leben müssen.
Ehepaare mit Kindern sollen weniger Steuern zahlen als Ehepaare ohne Kinder.
Diese steuerpolitische Konzeption lehnt die SPD total ab. Sie will vom Ansatz her alles über direkte Zahlungen abgelten. Meine Damen und Herren, alles Mögliche ist von der Steuer absetzbar, nur nicht die Kinder? Die SPD behandelt die Kinder als Schadensfall, für den es einen pauschalierten Ersatz aus steuerlichen Kassen gibt.
Sie akzeptieren, daß das Vorstandsmitglied bei den Stadtwerken durch den Weihnachtsfreibetrag mehr als doppelt so stark entlastet wird wie der Gasableser in der unteren Proportionalzone.
Meine Damen und Herren von der SPD, Sie akzeptieren, daß der sogenannte Spitzenverdiener von den Unterhaltsleistungen, die er an seine Großmutter zahlt, 56 % spart und der sogenannte Wenigerverdienende nur 22 % oder gar nichts. Warum sagen Sie nicht auch: Jede Großmutter ist dem Staat gleichviel wert? Lassen Sie uns den Abzug der Unterstützungsleistungen streichen und für alle ein gleiches Großmuttergeld einführen.
Unser Vorschlag sieht einen steuerlichen Freibetrag von fast 2 500 DM und einen Kindergeldzuschlag
für die vor, die nicht von der steuerlichen Entlastung profitieren. Deshalb steht unser Vorschlag auf zwei Beinen: dem Kinderfreibetrag als Anerkennung des Prinzips der Subsidiarität und dem Kindergeld als Anerkennung der Gemeinschaft der Steuerzahler aus Solidarität.
Sie sehen, meine Damen und Herren von der Opposition, Ihre Vorschläge sind ungerecht und kurzatmig. Ihre Vorschläge sind schon überholt, bevor sie überhaupt in Kraft träten. Ihre Vorschläge sind ohne langfristige Perspektive und werden den gesellschaftlichen Herausforderungen überhaupt nicht gerecht.
Meine Damen und Herren, wir liegen dagegen mit unserer Konzeption richtig. Das vorliegende Steuersenkungsgesetz ist das erste Gesetz in der Geschichte der Steuerentlastungsgesetze, das seinen Namen wirklich verdient. Im Kontrast zu den Steuergesetzen der sozialdemokratischen Regierungszeit — 1974, 1978, 1979 und 1981 — ist es das erste Steuersenkungsgesetz, welches nicht durch gleichzeitige Mehreinnahmen bei irgendeiner anderen Steuer, der Branntwein-, Tabak-, Mineralöl-oder Mehrwertsteuer, also kompensiert durch andere Steuererhöhungen, in Kraft treten wird.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 124. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. März 1985 9147
Dr. von WartenbergDas ist angesichts der desolaten Finanzlage, die wir vor zweieinhalb Jahren vorgefunden haben, ein großartiger Erfolg.
Das ist trotz der schmerzhaften Eingriffe in die Haushalte der vergangenen Jahre eine Bestätigung unseres Konsolidierungskurses. Das ist erstmalig ein Steuergesetz, von dem jeder einzelne Bürger ohne jede Einschränkung profitiert. Insoweit ist die Äußerung des Bundeskanzlers zutreffend: Es ist die größte Steuersenkung in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.
Angesichts der durchgehenden Steuersenkungen über alle Einkommenshöhen hinweg ist es kleinkariert und irreführend, darauf zu verweisen: Der dort spart 181 DM, der andere aber nur 77 DM,
wenn es bei dem ersten 9,2 %, bei dem zweiten aber 25,2 % der bisherigen Lohnsteuer sind.
Wer Vergleiche anstellt, Frau Timm, sollte dies seriös tun. Man kann nur gleiches mit gleichem vergleichen.
Meine Damen und Herren, unser Steuergesetz ist dagegen sozial ausgewogen. Es ist bedauerlicherweise nicht möglich, die gesamte Entlastung zu einem Stichtag in Kraft treten zu lassen.
Die nach wie vor angespannte Haushaltslage des Bundes und einiger Länder läßt dies nicht zu. Deshalb sind für 1986 und für 1988 zwei Entlastungsschritte vorgesehen.
Die erste Entlastung 1986 konzentriert sich im wesentlichen auf die Familie und auf eine Verbesserung des Grundfreibetrages. Wir haben diese beiden Komponenten bewußt vorgezogen. Die Erhöhung unseres Grundfreibetrages um 300 DM ist im Verhältnis zur insgesamt zur Verfügung stehenden Entlastungsmasse ausgewogen. Sie müssen sich doch klarmachen: Wenn 20 Milliarden DM insgesamt an Steuervolumen zurückgegeben werden können und eine gleichmäßige Entlastung angestrebt wird, dann kann man nicht beliebig ein Viertel der Gesamtmasse hierhin oder dorthin schieben, sondern man muß versuchen, es gleichmäßig zu verteilen.300 DM Grundfreibetrag im Gegensatz zum Vorschlag der SPD mit 800 DM Grundfreibetrag heißt: Die SPD gibt 3,5 Milliarden DM mehr für diese Entlastung unten aus, und im Endeffekt sind es im Portemonnaie unseres Steuerzahlers 14,60 DM pro Monat, d. h. eine Lokalrunde Bier pro Monat für über 5,5 Milliarden DM. Haben wir wirklich soviel Geld, um so gleichmäßig nivellierend tätig zu sein?
Erst mit der zweiten Stufe wird die Progression deutlich abgeflacht. Die vom Finanzminister dargestellte Entlastungsstruktur und das Inkrafttreten der Entlastungen im oberen Tarifbereich erst im Jahre 1988 verlangen von dem, der mehr Steuern zahlt, für zwei zusätzliche Jahre Verzicht auf die Steuerentlastung. Das sind zwei Jahre Geduld, die, in Geld ausgedrückt, mindestens dem Zinsverlust bei der Investitionshilfeabgabe entspricht.Wer also behauptet, unser Steuerpaket sei sozial unausgewogen, sollte unsere Argumente noch einmal unvoreingenommen überprüfen und auch die Zielsetzung dieses Gesetzes beachten.
Denn unser Gesetz ist eine Option auf die Zukunft. Unser Gesetz hat Perspektive. Würden wir den Vorschlägen der SPD zur Tarifkorrektur folgen, müßten wir schon bald über neue Korrekturen reden.
Folgen wir dem Weg der Koalition, so können wir über eine sinnvolle Fortentwicklung nachdenken.Die vorgesehene Progressionsabflachung und der erhöhte Kinderfreibetrag bedeuten eine Kursänderung in Richtung eines dauerhaft leistungsfreundlichen, wachstumsfördernden, familienbejahenden Einkommen- und Lohnsteuersystems.Die jetzt vorgeschlagene Steuersenkung ist so angelegt, daß sie in der nächsten Legislaturperiode in eine wirkliche Tarifreform einmünden kann. Diese baldige Annäherung an einen gleichmäßig ansteigenden Tarif gelingt nur, wenn wir uns bei der Fortsetzung sparsamer Haushaltsführung, bei weiterer wirtschaftlicher Erholung und bei den steuerpolitischen Vorhaben im wesentlichen auf dieses Ziel konzentrieren.Vergessen wir nicht, daß mit der Senkung der Einkommensteuer auch die bedeutendste Unternehmensteuer gesenkt wird. Wer mit guten Gründen auf die steuerliche Entlastung der Unternehmen drängt, kommt um die Senkung der Einkommensteuer nicht herum. Der Handwerksbetrieb in München, der Kaufmann in Bochum, der Handelsvertreter zwischen Hannover und Hamburg, kleine bis große Firmen zahlen alle Einkommensteuer. Frühestens im Zusammenhang mit dieser angestrebten Tarifreform sollte über Möglichkeiten der Entlastung von ertragsunabhängigen Steuern, der Entlastung bei der Körperschaftsteuer und über Höhe oder den Beginn der oberen Proportionalzone entschieden werden.Wer bei dieser Zielsetzung murrt, möge einen Moment innehalten. Wer jetzt kurzfristige Entlastungen bei der Unternehmensbesteuerung fordert,
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9148 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 124. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. März 1985
Dr. von Wartenbergsollte bedenken: Für die investitionsbezogene Steuerpolitik ist nichts wichtiger als das Vertrauen des Investors. Das bedeutet: Stetigkeit, Kalkulierbarkeit und Realisierbarkeit der steuerlichen Rahmenbedingungen.
Wem die Entlastung bei der Unternehmensbesteuerung oder die Diskussion über den Spitzensteuersatz unsozial erscheint, sollte bedenken, welche Wirkungen von der Steuerpolitik auf unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit und damit auch auf die Sicherheit unserer Arbeitsplätze ausgeht. Wir haben es zur Zeit eben nicht nur mit dem Wettbewerb von Gütern zu tun, sondern wir haben auch einen Wettbewerb der Steuersysteme zusammen mit unseren wichtigsten Handelspartnern.So wichtig es ist, in der gegenwärtigen Diskussion um die Steuerpolitik sehr genau die binnenwirtschaftlichen, innenpolitischen und familienpolitischen Auswirkungen bei uns zu beachten, so wichtig ist es aber auch, mittel- und langfristig den Blick auf die außenwirtschaftliche Komponente zu richten. Wir haben, Herr Kollege Spöri, von Ihnen ja nicht eine Konjunkturkrise, sondern eine Strukturkrise geerbt, mit der wir langfristig zu tun haben. Deshalb wird die Frage, ob der Industriestandort Bundesrepublik Deutschland für unsere Unternehmen und für ausländische Investoren interessant bleibt, auch von unserer Steuerpolitik abhängen,
natürlich auch davon, ob rot-grüne Regierungsbündnisse mit einer industriefeindlichen Grundausrichtung in der Bundesrepublik eine Chance haben. Das wird sich sehr schnell in der Statistik und — täuschen Sie sich nicht — natürlich auch in der Zahl der Arbeitsplätze niederschlagen.
— Herr Spöri, Sie haben in Ihrem Beitrag gerade versucht, über den Tellerrand hinwegzugucken — wahrscheinlich, weil Ihr Teller leer ist.
Wir müssen aber versuchen, in der Steuerpolitik zu beachten, daß wir eben nicht klug beraten wären, wenn wir eine isolierte Steuerdiskussion des Neids bei uns führten,
da wir unsere Arbeitsplätze bei einer starken wirtschaftlichen Interdependenz international konkurrenzfähig halten müssen; und ausschlaggebend für die Konkurrenzfähigkeit ist im wesentlichen auch, wie wir unsere Steuerpolitik gestalten.
Fleiß, Intelligenz und Disziplin der deutschen Arbeitnehmer und Unternehmer reichen auf Dauer nicht aus, finanzielle Standortvorteile unserer Konkurrenten zu überspielen.
In den anderen Industriestaaten, allen voran Großbritannien und die USA, aber auch im sozialistischen Frankreich, im sozialistisch regierten Frankreich — muß man sagen —
sind — etwa über die Parteigrenzen von Demokraten zu Republikanern hinweg — die Dinge auf dem Gebiet der Unternehmensbesteuerung in Bewegung geraten. Sie sind in Europa unter den sozialdemokratischen Parteien die einzigen, die sich sperren, einen konstruktiven Beitrag zu leisten.
Die Steuerpolitik muß daher auch mittelfristig ausgerichtet sein und dafür sorgen, daß unser Standort Bundesrepublik Deutschland interessant bleibt. Wir dürfen in der Steuerpolitik deshalb den Anschluß an weltwirtschaftliche Entwicklungen nicht verpassen.Mit der Ansiedlung von zukunftsorientierten Industrien bei uns oder im Ausland fallen heute langfristig wirksame Entscheidungen, die die Investitionspolitik auf Jahrzehnte bestimmen werden. Unsere Entscheidungen von heute sichern die Arbeitsplätze von morgen. Deshalb ist die Entscheidung über diesen großen Schritt der Steuerentlastung von so großer Bedeutung, weil sie ein deutlicher Schritt in die richtige Richtung ist.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Krizsan.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nun liegt sie also vor uns, die größte Steuerreform in der Geschichte der Republik, die größte Steuerreform aller Zeiten, auch Gröstaz genannt.
Als ich diese großen Worte hörte, fielen mir zwei Zeilen aus einem deutschen Rocklied ein. Da heißt es:Solange wie ich denken kann, sind große hohle Sprüche das Evangelium für uns und sie, die kleinen Leute.
— Doch, wenn Sie genau zugehört haben, Herr Kollege.Solche großen hohlen Sprüche hat es in diesem Haus seit Beginn dieser Republik gegeben. Ich möchte einige von ihnen einmal zitieren, von rechts beginnend nach links. Ein Herr Ralf Dahlgrün, der einmal ein Finanzminister von der FDP gewesen sein muß, sagte:Es geht um eine gerechte Verteilung der Steuerlast. Das Steuerrecht muß auf überflüssige Begünstigungen hin untersucht werden.
Wie wahr!
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 124. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. März 1985 9149
KrizsanEin Herr Franz Josef Strauß von der CSU, auch einmal Finanzminister, sagte:Eine wichtige und dringende Aufgabe dieser Legislaturperiode ist die umfassende Finanzreform.
Ein Herr Franz Etzel von der CDU — und gleich können Sie auch klatschen — sagte:Wir werden für eine echte Steuer- und Finanzreform sorgen.Große hohle Sprüche.Und ein Herr Hans Matthöfer — leider ist er nicht mehr im Saal — sagte: „Ich werde mich in besonderem Maße dafür einsetzen, das Steuersystem zu vereinfachen und zu entbürokratisieren."Welch schöne Sprüche, welch gute Vorsätze! Doch keiner von den zitierten Herren hat seine Vorsätze auch nur ansatzweise durchgeführt. Im Gegenteil: Das Steuerrecht ist heute derart kompliziert, unüberschaubar, verwickelt und umfangreich, daß es ganze Berufsstände beschäftigt, das Steuerrecht zu deuten und durchzusetzen. Der, der Steuern zahlt, blickt schon lange nicht mehr durch.
Ich halte das für höchst undemokratisch; denn der Bürger sollte die Steuergesetze begreifen und seine Steuererklärung selbst ausfüllen können ohne die Hilfe von Vereinen, Beratern und dicken Handbüchern. Ich möchte gerne einmal wissen, ob Herr Häfele z. B. seine Steuererklärung noch selbst ausfüllen kann oder ob er dazu auch schon einen Helfer braucht.Heute beginnt mit diesem Steuersenkungsgesetz ein weiteres trauriges Kapitel des deutschen Steuerrechts. Dieses Kapitel steht unter der Überschrift — hier möchte ich Herrn Lambsdorff, der leider nicht anwesend ist, sinngemäß zitieren —: Abschied von der Umverteilungsmentalität. Nebenher bemerkt: Herr Lambsdorff hat sich durch seine Polemik gegen Mutterschaftsurlaub, Erziehungsgeld, Erziehungszeiten im Rentenrecht, die er letzte Woche in dem „Handelsblatt"-Interview von sich gegeben hat, gute Chancen erworben, zum „Pascha des Monats" gewählt zu werden.
Mit der tatsächlichen Umverteilungswirkung der Besteuerung ist es aber leider ohnehin nicht weit her. Die im Tarif vorgesehene Progression wird ausgehöhlt, zum Teil sogar in das Gegenteil verkehrt durch die Tatsache, die verharmlosend „Erosion der Bemessungsgrundlage" genannt wird. Mit „Erosion der Bemessungsgrundlage" ist der meist mit zunehmendem Einkommen steigende Unterschied zwischen dem tatsächlichen Bruttoeinkommen und dem versteuerten Einkommen gemeint. Ursächlich für diesen Unterschied sind einmal die Steuervergünstigungen — Herr Spöri hat schon davon gesprochen, daß hier kaum etwas abgebaut wird —; aber unserer Meinung nach ist viel bedeutsamer die Nichterfassung von Einkünften.Es gibt Schätzungen — ich halte mich hier an einen Aufsatz im „Wirtschaftsdienst" —, wonach zirka zwei Drittel der Einkünfte aus selbständiger Arbeit — zwei Drittel! —, 70 % der Zinseinkünfte und die Hälfte der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung dem Finanzamt verschwiegen, überhaupt nicht angegeben werden.
— Keine Sorge, Herr Kollege, es kommt auch noch etwas anderes; nicht nur Zitate. — Das zu ändern müßte unseres Erachtens vorrangiges Ziel der Steuerpolitik sein, und zwar nicht nur deshalb, weil wir einer totalen Erfassung durch den Staat oder einer Anhebung der Abgabequote das Wort reden, sondern deshalb, weil wir die Ungleichbehandlung im Einkommensteuerrecht für die Arbeitnehmer mit unteren Einkommen, die die höchsten effektiven Abgabequoten haben, als untragbaren Zustand ansehen.Statt dessen steht jetzt das Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit auf der Abschuß-liste der christlich-liberalen Politik. Wer ein hohes Einkommen hat, soll nicht stärker belastet, sondern stärker entlastet werden.
So werden von den 15 Milliarden DM Steuerausfall durch die geplante Tarifänderung zwei Drittel den Steuerpflichtigen zugute kommen, die mehr als 75 000 DM Bruttoeinkommen pro Jahr haben. Das sind 16 % der Steuerpflichtigen. Diese 16 % verfügen über 40 % des gesamten Bruttoeinkommens. Allein diese wenigen Zahlen zeigen, daß von einer Ausgewogenheit der Entlastung keine Rede sein kann.Die anderen 5 Milliarden DM, die das Steuersenkungsgesetz kostet, entfallen auf die Erhöhung der Kinderfreibeträge. Dabei erhalten Eltern, die einen Grenzsteuersatz von 56 % haben, die zweieinhalbfache Entlastung derjenigen, die ein zu versteuerndes Einkommen von weniger als 36 000 DM im Jahr haben, also der weniger Verdienenden. Auch hier geht es hauptsächlich um die Entlastung hoher Einkommen, weniger um Familienfreundlichkeit.Typisch für die „Familienfreundlichkeit" des Steuersenkungsgesetzes ist folgende Vergleichsrechnung: Durch die Tarifreform spart ein alleinstehender Spitzenverdiener 3 665 DM im Jahr an Steuern. Um eine solche Einkommensverbesserung durch das Gesetz zu bekommen, muß eine Familie mit niedrigem Einkommen sieben Kinder haben; vielleicht ist das die neue Form der Familienpolitik der Koalition.Noch deutlicher wird die Familienfreundlichkeit in Frage gestellt, wenn die Steuerersparnis herangezogen wird, die zusammenveranlagte kinderlose Ehepaare durch die Tarifreform erhalten. Hier beträgt die maximale Steuerersparnis für Spitzenverdiener 7 330 DM. Das ist mehr, als eine Familie mit niedrigem Einkommen an zusätzlichen Leistungen erhält, wenn sie 13 — ich wiederhole: 13 — Kinder hat — die neue Form der Familienpolitik.
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9150 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 124. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. März 1985
Noch ein weiteres Wort zu der Propaganda, daß die Familie jetzt stark gefördert werde: Durch die Tarifänderung wird die Ehe in massiver Weise stärker gefördert. Der Splittingvorteil steigt von bisher maximal 14 837 DM auf dann maximal 18 502 DM an. Für untere Einkommen beträgt die Steigerung des Splittingvorteils allerdings nur 72 DM im Jahr. Das sind die Unterschiede. Das heißt: Hier wird erstens die Begünstigung der Ehe noch ausgebaut anstatt zugunsten einer direkten Förderung der Familie abgebaut; zweitens steigt die unsoziale Verteilungswirkung des Ehegattensplittings — wahrlich ein Steuergesetz der reichen Patriarchen!
Patriarchalische Züge trägt der Gesetzentwurf insbesondere auch in dem Punkt der Besteuerung von Alleinerziehenden. Nach dem Entwurf sollen nämlich — entsprechend dem Halbverteilungsgrundsatz — der Kinderfreibetrag und der Ausbildungsfreibetrag zwischen dem Unterhaltszahlenden und dem Erziehenden aufgeteilt werden. Das hat zur Folge, daß die Zahlväter gegenüber heutigem Recht entlastet und die Erziehenden — das sind j a in aller Regel die Mütter — höher besteuert werden als heute.
— Das stimmt, Frau Kollegin. — Das ist eine ungeheure Beleidigung aller Alleinerziehenden, also hauptsächlich der Mütter, der Frauen.
Das ist Ausdruck dessen, daß sich die Lobby der unterhaltsleistenden Väter gegenüber den Müttern durchgesetzt hat, die die Erziehungsleistung erbringen
— richtig, Sie sagen es, Herr von Wartenberg; auch hier kam der Pascha wieder einmal voll durch —
und wegen der Doppelbelastung gar nicht die Zeit haben, in Bonn als Lobby aufzutreten.
Das ist wirklich ein weiterer Coup des Patriarchats. Es ist zu erwarten, Herr von Wartenberg, daß wegen der vorhandenen Ungerechtigkeit auch hier weitere Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht anstehen.
Meine Damen und Herren, eine Senkung der Lohn- und Einkommensteuer insgesamt ist meines und unseres Erachtens nicht das brennendste Problem. Viel dringender sind nach Meinung der GRÜNEN die Bekämpfung der Armut
und Maßnahmen zur Verbesserung unserer ökologischen Lebensbedingungen. Dennoch sind wir nicht der Meinung, daß das Einkommensteuergesetz und insbesondere der Einkommensteuertarif so bleiben sollten, wie sie sind. Wir haben deshalb den Vorschlag einer aufkommensneutralen Tarifänderung gemacht.Dieser Vorschlag sieht eine wesentliche Erhöhung des Grundfreibetrages vor. Wir sind mit dem Präsidenten des Verfassungsgerichts, Herrn Zeidler — Herr Spöri hat darauf auch schon hingewiesen —, einer Meinung, daß es notwendig ist, Sozialrecht und Steuerrecht aufeinander abzustimmen. Dies heißt, ein Existenzminimum in Höhe der Sozialhilfezahlungen für einen Alleinstehenden steuerfrei zu belassen. Heute beginnt die Besteuerung in Steuerklasse I bei einem Bruttoeinkommen von 7 368 DM. Um diesen Steuerbeginn in etwa dem Betrag anzugleichen, den ein Lediger an Sozialhilfeleistungen bekommt, müßte der Grundfreibetrag um etwa 3 000 DM angehoben werden. Hebt man ihn in einem ersten Schritt um 2 000 DM an, so beträgt der Steuerausfall ca. 13 Milliarden DM.
Außer einer massiven Anhebung des Grundfreibetrages sehen wir auch eine Verlängerung der unteren Proportionalzone als wünschenswert an. Kompensiert werden soll diese Entlastung im unteren Bereich nach unserem Vorschlag durch den vorgezogenen Beginn der oberen Proportionalzone, d. h. der Spitzensteuersatz soll bereits früher zum Tragen kommen, und der Anstieg des Steuersatzes zwischen diesen Bereichen soll linear progressiv sein, d. h. in jedem Bereich der Progressionszone gleich groß.
Wenn Sie von der Koalitionsseite diesem Vorschlag jetzt vorwerfen werden, er würde im Gegensatz zu dem, was Sie als wirtschaftspolitisch notwendig erachten, nämlich eine Senkung der Belastung, die Belastung erhöhen, muß ich Ihnen darauf antworten, daß Sie mit zweierlei Maß messen.
Am 1. Juni dieses Jahres nämlich, so wird es hier jetzt beraten, steigt die Abgabebelastung für alle Arbeitnehmer mit Einkommen unterhalb der Beitragsbemessungsgrenze der Rentenversicherung. Sie steigt deshalb, weil Sie nicht bereit sind, den Bundeszuschuß angemessen zu erhöhen.
Dies machen Sie deshalb nicht, weil Sie hohe Einkommen entlasten wollen.Ihre Politik ist also ganz klar die: höhere Belastung unterer und mittlerer Einkommen und hohe Entlastung hoher Einkommen. Wir wollen das Gegenteil.
Wohin Sie mit diesem Steuersenkungsgesetz die Weichen stellen wollen, darüber haben Sie j a in den vergangenen Wochen die Öffentlichkeit ausrei-
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Krizsanchend informiert, nämlich zu einer radikalen Senkung des Spitzensteuersatzes. Diese ganze Diskussion um eine Senkung des Spitzensteuersatzes ist eine unglaubliche Beleidigung der vielen Menschen, die von dieser Regierung in einem Leben in Armut belassen oder von dieser Regierung sogar neu in die Armut hineingezwungen werden.
Die gesamte Koalition handelt nun entsprechend ihrer Aufgabe, die Wünsche der Industrieverbände umzusetzen, den Spitzensteuersatz und den Körperschaftsteuersatz radikal abzusenken. Diese Absicht können Sie, Herr Häfele, auch nicht mit einem so einfältigen Satz rechtfertigen, wie Sie ihn in einem Interview mit dem „Handelsblatt" geäußert haben. Das muß man sich wirklich einmal anhören. Dort hat Herr Häfele gesagt: „Ein Steuersatz von über 50 % verstößt gegen die Natur des Menschen."
Demnach müßte es so sein, daß in einigen europäischen Nachbarländern gegen die Natur des Menschen verstoßen wird.
Herr Häfele, statt darüber zu sinnieren, was gegen die Natur des Menschen verstößt, sollten Sie getreu dem Motto „Schuster, bleib bei deinen Leisten" lieber darüber nachdenken, wer gegen das Steuerrecht verstößt, und endlich dagegen etwas unternehmen.Schönen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Gattermann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Krizsan, Sie haben von Paschas und von Patriarchen gesprochen. Der Geist Ihrer Rede zur Gesamtbewertung unseres Steuerkonzepts erinnerte mich sehr intensiv an den Polizeipräsidenten von Berlin, als er weiland die „Weber" von Gerhart Hauptmann zu zensieren hatte. Man kann nämlich sagen: „Die janze Richtung paßt mir nicht!" Das war der Tenor Ihrer Rede.
Bei dem, was Sie an Wirkungen errechnet haben, hatte ich den Eindruck: Dies muß Ihnen ein Assistent der Bremer Universität ausgerechnet haben, der nicht einmal mit dem Rechenschieber umgehen kann
Sie haben beklagt, daß die Kollegen Lambsdorff und Matthöfer nicht hier sind. Dann will ich beklagen, daß die Fraktion der GRÜNEN heute hier relativ und absolut am geringsten vertreten ist.
Mit dem Steuersenkungsgesetz realisieren wir, die Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung, die zweite Phase der für diese Legislaturperiode konzipierten Steuerpolitik. Sie erinnern sich: In der ersten Phase — von Ihnen heftig attackiert — kam es auf die Wiederbelebung der Wirtschaft an. Wir haben die ertragsunabhängigen Steuern gesenkt; noch nicht in ausreichendem Umfang. Wir haben durch Sonderabschreibungen, durch die Verbesserung des Verlustrücktrages und durch andere Maßnahmen vom Steuerrecht her mitgeholfen, die Wirtschaft wieder auf einen soliden Wachstumspfad zu führen, auf dem wir überhaupt erst die Chance und die Möglichkeit haben, über das zu sprechen, was hier heute als Gesetz eingebracht worden ist.
Jetzt, meine Damen und Herren, sind die Lohn-und Einkommensteuer zahlenden Bürger, die Arbeitnehmer und die Selbständigen, an der Reihe.
Die Lohn- und Einkommensteuerzahler haben über Jahre hinweg — der Herr Kollege Spöri hat es ausgerechnet und beklagt — und werden weiter bis zum Jahre 1988 Jahr für Jahr durch die Nichtrückgabe heimlicher Steuererhöhungen einen erheblichen Solidarbeitrag zur Konsolidierung der öffentlichen Finanzen geleistet haben und leisten. Es ist deshalb wirklich verfehlt, wenn Sie, Herr Kollege Spöri, hier von „schamlosen Entscheidungen" sprechen, wenn wir uns weigern, über diese Solidaropfer hinaus noch einen draufzusatteln, wie Sie es damals gewollt haben und weiterhin wollen und vorschlagen.Das Steuersenkungsgesetz ist ein nach langer, inhaltlich fruchtbarer, allgemeinpolitisch nicht immer positiver Debatte gefundener Kompromiß. Die Debatte über den Zeitpunkt der Steuerentlastung, die unter konjunktur- und haushaltspolitischen Gesichtspunkten geführt wurde und bei der die Länder, wie sie uns in ihre Stellungnahme hineingeschrieben haben, ein gewichtiges Wort mitzureden hatten und haben, hat zeitweilig das Hauptziel des Gesetzes, eben die Steuersenkung, in den Hintergrund treten lassen. Im Einklang mit vielen Wirtschaftsforschungsinstituten und mit vielen Verbänden haben wir, wie Sie wissen, vielfach erklärt, daß uns das Inkraftsetzen zu einem Zeitpunkt, nämlich 1986, lieber gewesen wäre. Aber diese Diskussion ist ein für allemal beendet, und das gilt auch für das Verhältnis zwischen der Tarifentlastungskomponente und der Familienkomponente dieses Gesetzes.
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GattermannFast zwei Drittel der Gesamtentlastung von 20,2 Milliarden DM, nämlich 12,9 Milliarden DM in beiden Stufen, entfallen auf die reine Tarifentlastung. Das Schwergewicht der Steuersenkung liegt damit auf der absoluten Notwendigkeit, den Steuerzugriff spürbar zu verringern. Die Steuerprogression gefährdet zunehmend die Leistungsbereitschaft der Arbeitnehmer und der Selbständigen. Eine leistungsbezogene Tarifgestaltung ist Wachstumspolitik im wahrsten Sinne des Wortes.Der Sachverständigenrat hat dies in seinem letzten Jahresgutachten wie folgt formuliert:Vor allem aber sollten die Grenzsteuersätze gesenkt werden. Sie sind es in erster Linie, die gerade den Antriebskräften entgegenwirken, deren Freisetzen die einzige Chance bietet, daß so viele neue Arbeitsplätze entstehen oder erhalten bleiben, wie nötig sind, damit alle, die arbeiten wollen, auch arbeiten können.Meine Damen und Herren, die populistische Verlockung oder die sozialdemokratische Alternative, Herr Kollege Spöri, die Proportionalzone zu verlängern und die Progression im unteren Sektor abzuflachen, muß zwangsläufig schon nach wenigen Jahren zu einer Progressionsverschärfung bei den zunächst begünstigten Einkommensgruppen führen. Diese Alternative macht die Tarifkurve prinzipiell steiler; ich glaube, das können Sie nicht bestreiten.
Denn der Progressionsanstieg bis zum Spitzensteuersatz vollzieht sich ja in einem sehr engen Einkommensrahmen.Viele der von Ihnen anfänglich und kurzfristig Beglückten werden sich schon sehr, sehr bald von der Steilwand einer noch steiler gewordenen Progressionskurve wiederfinden.
Demgegenüber ist unser Konzept perspektivisch angelegt; es bietet über längere Zeiträume die Chance, diese Wirkungen zu vermeiden. Je erfolgreicher wir bei unserer Stabilitätspolitik sind, um so länger wird dieser Zeitraum sein, in dem unsere perspektivische Lösung wirkt.
Wenn Sie hier Zahlenbeispiele mit dem Verhältnis von 1 : 50 bilden und daran soziale Erwägungen anknüpfen,
muß man, Herr Kollege Spöri, über das, was der Bundesfinanzminister heute morgen schon vorgerechnet hat, hinaus noch stärker verdeutlichen, was für eine Milchmädchenrechnung das ist. Die Entlastung der Besserverdienenden ist unendlich, sie ist unendlich gegenüber denen, die nämlich überhaupt keine Steuer bezahlen.
Die Bundesratsmehrheit ist dem Antrag der sozialdemokratisch regierten Bundesländer, einen ihrem Vorschlag entsprechenden Tarif einzuführen, aus guten Gründen nicht gefolgt. Am meisten gewundert hat mich dabei das Verhalten des Landes Nordrhein-Westfalen, denn bis in die jüngste Zeit hatte ich es von Herrn Posser so gehört, als ob überhaupt keine Steuerentlastung in Frage kommen solle. Aber wahrscheinlich wirkt der 12. Mai dahin gehend, daß man sich eine solche Position nicht mehr leisten kann, und nun sattelt man noch drauf. Nun will man auch noch die Einkommensgrenzen bei der Arbeitnehmersparzulage streichen, ohne auch nur ein Wort darüber zu verlieren, wo denn nun die halbe Milliarde wieder herkommen soll, die das kostet.Meine Damen und Herren, mit unserem Tarif la haben wir einen ersten wichtigen Schritt in Richtung eines leistungsgerechten Einkommensteuertarifes gemacht. Wir haben damit die Weichen gestellt für den hier heute morgen schon mehrfach angesprochenen linear-progressiven Tarif, den wir in der nächsten Legislaturperiode, so es die Haushaltskonsolidierung erlaubt, auf jeden Fall verwirklichen wollen.
Ich bin eigentlich sehr dankbar, daß gewisse Anstöße, die möglicherweise von mir gekommen sein könnten, Herr Kollege Spöri, dazu führen, daß wir Steuerpolitik ein bißchen perspektivischer diskutieren — über den Tellerrand dieser Legislaturperiode und des Heute hinaus. Wir wollen in der Tat in der nächsten Legislaturperiode eine Tarifgestaltung — —
— Herr Wolfram, lassen Sie doch diese dummen, dümmlichen Zwischenrufe.Meine Damen und Herren, wir wollen eine Tarifkorrektur, die das Wort Steuerreform dann auch wirklich verdient. Angesichts der Situation, wie wir sie um uns herum vorfinden, wenn wir die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft angesichts massiver Steuersenkungstendenzen im konkurrierenden Ausland erhalten wollen, wenn wir Leistungskräfte bei Arbeitnehmern und Selbständigen freilegen wollen, wenn wir den ordnungspolitisch fragwürdigen Subventionen zuleibe rücken wollen, wenn wir eine durchgreifende Steuervereinfachung wollen, dann müssen wir die Kombination von drastischer Steuersatzsenkung und ebenso drastischem Subventionsabbau in Angriff nehmen.Der von der Opposition liebevoll gepflegte Vorwurf, drastische Steuersatzsenkungen würden wieder einmal nur den Reichen Vorteile zuschanzen, geht ins Leere. Bei einem Steuertarif mit drastisch abgesenktem Spitzensteuersatz ist es beinahe zwangsläufig in der gesamten Progressionszone, nicht nur an deren Ende, abzuflachen. Von einem solchermaßen verbesserten Steuertarif profitieren alle progressiv besteuerten Bürger dieses Landes. Der überwiegende Teil der Ausfälle und der Rück-
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Gattermanngaben wird sich in jenen Bereichen vollziehen, die nichts mit Spitzensteuersatz zu tun haben.
Meine Damen und Herren, für die politischen Realisierungschancen steht eines fest, je behutsamer man an die Steuersätze herangeht, desto eher is man zum Scheitern verurteilt.
Es besteht nur dann eine Chance, die gewaltigen Widerstände der diversen Gruppen beim Subventionsabbau zu überwinden, wenn der Gegenwert dafür, die Steuersatzsenkung, groß genug ist.Ich freue mich außerordentlich, daß nach den heutigen Ausführungen des Bundesfinanzministers jedenfalls die konzeptionellen Grundgedanken der FDP zu diesem Thema im Grundsatz bei der Bundesregierung und bei der Unionsfraktion gutgeheißen werden. Wir stimmen mit dem Bundesfinanzminister auch darin überein, daß bei einer solchen Steuerreform in der nächsten Legislaturperiode das Konsolidierungsziel nicht gefährdet werden darf.
Herr Abgeordneter, ich muß Sie bitten, zum Schluß zu kommen.
Ich weiß nicht, ob beachtet worden ist, daß wir uns inzwischen darauf verständigt haben, daß ich der einzige Redner meiner Fraktion sein werde, so daß noch ein gewisses Kontingent meiner Fraktion zur Verfügung steht.
Lassen Sie mich trotz der zeitlichen Enge dies jetzt sagen: Es kann nicht angehen, daß die Weisheit des Ältestenrats für eines der zentralen Gesetzgebungswerke dieser Legislaturperiode einen zeitlichen Rahmen vorgibt, der es einer Fraktion nicht einmal ermöglicht, zu den wesentlichen Grundlagen das Entscheidende zu sagen, ganz zu schweigen von allen möglichen Details.
Herr Bundesfinanzminister, das Konsolidierungsziel darf bei unseren Plänen in der nächsten Legislaturperiode nicht gefährdet werden. Sie werden in der FDP den treuesten Bundesgenossen bei der Abwehr der Begehrlichkeiten derer mit den Spendierhosen haben.
Schließlich stimmen wir Ihnen, Herr Bundesfinanzminister, auch zu, wenn Sie davor warnen, mit diesen öffentlichen Diskussionen falsche Hoffnungen zu wecken. Ich sage dazu: Das hat nichts damit zu tun, wo man die Zielmarke für die vorgesehenen Steuersatzsenkungen festmacht. Denn jedermann muß klar sein — ich sage das jetzt mit allem Nachdruck —, daß eine solche Reform nicht durch Absenkung der Steuerlastquote zu finanzieren ist, sondern sie muß ganz überwiegend mit dem Abschied-nehmen von liebgewordenen Finanzhilfen, Steuersubventionen und anderen Steuervergünstigungen erkauft werden. Meine Damen und Herren, das ist marktwirtschaftliche Steuerpolitik. Eine Hoffnung auf marktwirtschaftliche Steuerpolitik wollen wir den Bürgern allerdings machen.
Ein letztes Wort zu den Kinderfreibeträgen. Dem Staat ist jedes Kind gleich lieb und teuer. Dieses Schlagwort ist hier heute wieder mehrfach verwendet worden. Dahinter steckt ein fundamentales Mißverständnis von den Aufgaben der Eltern in dieser Gesellschaft. Nach unserer Auffassung sind Zeugung, Geburt, Erziehung und Unterhalt der Kinder Sache der Eltern und nicht, wie Sie wissen, Sache des Staates. Der Staat hat die sich aus diesem Tatbestand ergebenden Belastungen gefälligst zu berücksichtigen, bevor er mit der Steuer zuschlägt und zugreift.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat Herr Senator Gobrecht.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Stoltenberg, ich möchte damit beginnen, Sie in einer Sache ausdrücklich zu unterstützen. Ich finde es gut, daß dies im Deutschen Bundestag auch einmal so zum Ausdruck gebracht worden ist, nämlich in der Adresse an das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, das in den vergangenen Jahren eine zunehmende Tendenz gezeigt hat, sich mit überdeutscher Gründlichkeit — und das will etwas heißen — bis in die letzten Verästelungen des Steuerrechts zu bewegen und zum Teil seitens der dritten Gewalt dem Deutschen Bundestag und dem Bundesrat Vorgaben zu machen, die überhaupt nicht mehr zu verwirklichen sind. Ich unterstütze ausdrücklich diese zwar sehr dezente, aber doch notwendige Kritik, daß man sich auch dort auf das wirklich Mögliche und Umsetzbare konzentrieren sollte.
— Herr Jäger, wenn alle so sozial empfänden wie der Präsident des Verfassungsgerichts, dann wäre mir um manches in der Bundesrepublik Deutschland sehr viel. wohler.
Zum zweiten, meine sehr verehrten Damen und Herren. Die Länder haben mit der Steuerpolitik des Bundes in den letzten zweieinhalb Jahren ihre besonderen Erfahrungen gemacht. Der Bund schickt sich auch jetzt wieder an — Frau Kollegin Will-Feld, so ist es —, hier in einer recht großzügigen Weise Steuersenkungen vorzunehmen, die zum überwiegenden Teil — zu 57 1/2 %, wie jeder weiß — von den Ländern und Gemeinden finanziert werden müssen. Das Gesamtvolumen von 20,2 Milliarden DM ist schon ein wirklich großer Batzen. Es soll nun wenigstens nicht in einem Zug, wie es in den Koalitionsparteien lange erörtert worden ist, sondern in zwei Schüben umgesetzt werden. Dieses Volumen von 20,2 Milliarden DM muß immerhin mit 11,6 Milliarden DM von den Ländern und Gemeinden finanziert werden. Das kommt zu den Lastenverlagerungen dazu, mit denen der Bund einen Teil seiner Haushaltskonsolidierung betrieben hat, in-
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Senator Gobrecht
dem er z. B. die Gemeindehaushalte, was die Sozialhilfe und viele andere Dinge in diesem Bereich anbelangt, immens belastet hat.
Ich will hier zum Ausdruck bringen, meine sehr verehrten Damen und Herren — hier kann ich für alle elf Bundesländer sprechen und unterstütze ausdrücklich das, was der niedersächsische Ministerpräsident im Bundesrat gesagt hat —, daß dieses Steuerpaket 1986/88 mit ziemlicher Sicherheit im Bundesrat keine Mehrheit finden wird, wenn nicht vorab ein vernünftiger Ausgleich zwischen dem Bund einerseits und den Ländern und Gemeinden andererseits gefunden wird. Das ist unabdingbar notwendig.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich darf mich wenigen Punkten der Steuerpolitik im Inhaltlichen, was an diesem Steuersenkungsgesetz deutlich wird, zuwenden. Die gesamtwirtschaftliche Steuerbelastung 1988 wird nach dieser Steuersenkung in etwa auf dem Niveau des Jahres 1982 liegen. Innerhalb dieses Rahmens aber — das macht die Strategie der Steuerpolitik der Koalition deutlich — haben sich ganz erhebliche Veränderungen ergeben. So haben die Lohnsteuerzahler einen immer größeren Anteil der Steuerlast zu tragen. Denn die Lohnsteuerquote wird sich am Ende der Steuersenkung 1988 auf 18,3 % belaufen, was gegenüber 1982 ein Anstieg um 2,2 Punkte ist. Allein das macht schon deutlich, wie die soziale Schlagseite der Steuerpolitik dieser Bundesregierung ist. Wenn man das noch mit den Steuersenkungen korreliert, die es in den vergangenen Jahren im Bereich der Vermögensteuer — voll zu Lasten der Länder —, im Bereich der Gewerbesteuer — voll zu Lasten der Gemeinden —, im Bereich der Körperschaftsteuer
gegeben hat, dann sieht man auch hier, daß es eine Doppelstrategie, eine unsaubere Doppelstrategie ist, zu Lasten derjenigen, die nicht zu den Großverdienern zählen, und zu Lasten der Länder und Gemeinden Steuerpolitik zu machen.
Das wird in diesem Steuerpaket 1986/88 konsequent fortgeführt. Das muß man zugeben.Nun haben Sie sich, Herr Kollege Stoltenberg, auf das Bundesverfassungsgericht berufen und haben einige Ausführungen dazu gemacht. Wenn ich es kurz zusammenfasse, haben Sie gemeint, es müßten auf Grund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wieder steuerliche Kinderfreibeträge eingeführt werden. Mitnichten! Das Bundesverfassungsgericht hat vielmehr gesagt — ich möchte es einmal untechnisch zum Ausdruck bringen —, daß Kinderlasten auch im Steuerbereich berücksichtigt werden sollten. Dies, meine Damen und Herren, könnte in gleicher Weise wie mit dem einheitlichen und gleichen und damit am gerechtesten wirkenden Kindergeld auf jeden Fall zusätzlich auch im Steuerbereich gemacht werden. Denn wer hindert uns, z. B. einheitliche Steuerabzugsbeträge einzuführen?
Das ist überhaupt kein Problem. Das wäre, wenn man soziale Politik auch innerhalb des Steuerrechts machen will, eine eindeutige Möglichkeit.Eine Nebenbemerkung. Völlig irritiert mich — auch wenn man das unter Bezug auf das Bundesverfassungsgericht sieht —: Sie erhöhen den steuerlichen Kinderfreibetrag auf 2 484 DM, erhöhen aber zugleich die abziehbaren Unterhaltsleistungen auf 4 500 DM. Das heißt also: Die Tante, die unterstützt wird, ist Ihnen mehr wert als das Kind in der Familie.
Das ist auch nach Ihrer eigenen Prämisse völlig unlogisch und unvernünftig.
Hier ist schon gesagt worden — deshalb will ich es nur noch einmal unterstreichen —, daß sich der Splittingvorteil nach dieser Steuersenkung — der höchstmögliche ist, wenn man so will, für die Millionärsgattin — erneut erhöht, und zwar von 14 800 DM auf 18 500 DM maximal. Auf den Monat umgerechnet ergibt das ein ganz schönes Taschengeld.
— Frau Kollegin Schmidt, Sie haben da recht. Das ist wirklich unsozial.
Der Kollege Spöri hat schon darauf hingewiesen, wie hier im Bereich des Familienlastenausgleichs nun wahrlich — ich wäge meine Worte eigentlich immer sehr sorgfältig — ein Durcheinander bis zum Chaos hin gestaltet wird; denn mit dem, was nun zusätzlich wieder vorgesehen ist, wird das System des Familienlastenausgleichs aus einer noch größeren Vielzahl unterschiedlicher Elemente zusammengesetzt. Es gibt weiterhin das normale Kindergeld, es gibt das Zusatzkindergeld für Geringverdiener, es wird das gekürzte Kindergeld für höhere Einkommen geben, es gibt den steuerlichen Kinderfreibetrag, und es gibt die Berücksichtigung des Kinderunterhalts nach § 33 a Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes. Ich glaube schon, daß eine solche Vielzahl von völlig unüberschauberen Komponenten, wechselseitig voneinander abhängig, ein totales Durcheinander ist, das kein Bürger mehr durchschauen und handhaben kann, weder der einzelne noch die Verwaltung noch die steuerberatenden Berufe.
Es ist wirklich das Gegenteil von Steuervereinfachung.Daß Steuervereinfachung schwierig ist, das will ich gern zugeben. Daß wir uns im Bereich des Bemühens relativ einig sind und im Bereich des Nicht-
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Senator Gobrecht
erreichens leider auch alle Sünder sind, will ich auch gern zugeben.
Das soll man ganz offen sagen. Aber man muß doch wenigstens, wenn neue Steuergesetze gemacht werden, nicht noch weitere komplizierende Komponenten hinzufügen,
sondern man müßte es wenigstens auf demselben Niveau halten, und wenn es geht, bei jedem neuen Steuergesetz einige Vorschriften herausnehmen, die das Ganze kompliziert machen.
Sie tun das Gegenteil, das finde ich überhaupt nicht vernünftig.Meine Damen und Herren, ich erinnere mich aus der Zeit, als ich die Freude und Ehre hatte, Mitglied dieses Hohen Hauses zu sein, und der größten Regierungsfraktion angehörte, noch an die vielfältigen Forderungen aus der damaligen Opposition, der CDU/CSU, zum Abbau von Steuersubventionen,
zum Abbau der Steuervergünstigungen und Finanzhilfen bis hin zu der prozentualen Absenkung, die aus Ihrer Fraktion gefordert wurde. Ich kritisiere niemanden, der einen Lernprozeß durchmacht. Diese Rasenmähermethode haben Sie j a mit dem Wechsel in die Regierung sofort vergessen. Das spricht insofern für Sie, als Sie sich in diesem Punkt als lernfähig erwiesen haben. Es spricht allerdings gegen die Solidität der politischen Forderung vorher. Aber jetzt hätten Sie die Chance, seit gut zwei Jahren haben Sie die Chance, Subventionen abzubauen. Das genaue Gegenteil ist der Fall. Ich will gar nicht noch auf die Agrarsubvention hinweisen, auf den neuen Rekordstand 1985 an Subventionen insgesamt und an Steuersubventionen. Die Zahlen hat der Kollege Spöri schon genannt. Auch dies ist ein Zeichen der Widersprüchlichkeit der Steuer- und Finanzpolitik dieser Bundesregierung.Da wundert es mich dann natürlich gar nicht, meine Damen und Herren, daß aus den Reihen der Regierungskoalition nun die Worte kommen: Also, nun müssen wir einmal über eine richtige Steuerreform nachdenken und müssen über die 90er Jahre reden. — Richtige Steuerreform, richtige Steuersenkung heißt in Ihren Augen aber ganz offensichtlich, das Terrain für weitere Steuersenkungen vorzubereiten. Denn wovon ist die Rede? Von der Absenkung des Spitzensteuersatzes, dem ja ein Lediger erst unterliegt, wenn er 1,5 Millionen DM im Jahr verdient, dem Verheiratete erst unterliegen, wenn sie 3 Millionen DM Einkommen haben, denn man muß ja Grundfreibeträge und die im übrigen abziehbaren Dinge mit berücksichtigen. Ich sehe da nun wirklich nicht den Hauptansatz.Sie bereiten das Terrain für eine Steuersenkung vor, die die Senkung der Körperschaftsteuer beinhaltet, die, wie heute vom Kollegen Stoltenberg angekündigt worden ist, eine Steuerbefreiung für Betriebsvermögen beinhaltet.Dies, meine Damen und Herren, ist in meinen Augen eine völlig falsche Tendenz, die sich hier zeigt. Wenn über die Steuerpolitik der 90er Jahre geredet werden muß, dann müßte man wirklich grundlegend darüber reden, wie die Eckdaten für ein sozial gerechtes und einfacheres Steuerrecht geschaffen werden könnten. Dann müßte man schon über bestimmte Eckdaten wenigstens den Versuch machen mit den großen gesellschaftlichen Gruppen ein Einvernehmen herzustellen. Die Einzelausgestaltung bleibt natürlich der politischen Wertung der unterschiedlichen Interessen auch hier im Hause vorbehalten.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Dempwolf.
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Viele kleine Schritte sind nötig, um der Familie den Stellenwert einzuräumen, der ihr zusteht.
Viele Wege führen nach Rom, man muß nur die Richtung kennen, und man muß das Ziel im Auge haben. Wir, die CDU/CSU, haben die Familien in den Mittelpunkt unserer Politik gestellt. Unsere Formel lautet: Erhöhung der Leistungen an die Familien, die es nötig haben. Und mit dem Entwurf des Elften Gesetzes zur Änderung des Bundeskindergeldgesetzes machen wir einen entscheidenden Anfang. Wir bringen den Beweis, daß es nicht bei Worten bleibt. Wir stellen konkrete haushalts- und steuerpolitische Entscheidungen vor.Durch die elfte Novelle des Bundeskindergeldgesetzes wird gleichzeitig mit der Erhöhung des Kinderfreibetrages auf 2 484 DM als neue Leistung des Familienlastenausgleichs ein Kindergeldzuschlag für Eltern mit niedrigem Einkommen eingeführt. Diesen Kindergeldzuschlag von bis zu 46 DM monatlich je Kind erhalten ab 1. Januar 1986 750 000 Eltern, bei denen sich wegen ihres niedrigen Einkommens der Kinderfreibetrag nicht oder nicht in vollem Umfange auswirkt. Und dies ist eine echte Hilfe, auch wenn Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, dies bestreiten.
Dieser Betrag wird zusätzlich zum bisherigen Kindergeld gezahlt. Für das Kindergeld für das erste Kind von 50 DM bedeutet dies nahezu eine Verdoppelung. Dieser Kindergeldzuschlag entspricht der Entlastung für alleinerziehende Bezieher eines Einkommens von 18 000 DM bzw. für verheiratete Bezieher eines zu versteuernden Einkommens von 36 000 DM. Natürlich gilt diese neue Regelung auch für deutsche in einem Ostblockstaat lebende Kinder, die kindergeldberechtigt sind.
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9156 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 124. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. März 1985
Frau DempwolfWir, die CDU/CSU, haben 1983 das Kindergeld nicht pauschal für alle, vom Generaldirektor bis zur arbeitslosen, alleinstehenden Mutter, gekürzt, sondern wir machten das Gegenteil. Wir haben das Kindergeld für Höherverdienende gekürzt und erhöhen es gleichzeitig für diejenigen, die ein geringes Einkommen haben und von den Steuerfreibeträgen nicht profitieren.
Wir machen keine Politik mit der Gießkanne; denn bei diesem Familienlastenausgleich ergänzen Kindergeld und Kinderfreibeträge einander.
Und das Geschrei und die Anwürfe der heutigen Opposition werden beim Bürger vor Ort nicht mehr verstanden.
Ich erlebe es bei meinen ständigen Kontakten an der Basis.
— Auch aus den Reihen der Sozialdemokraten.Ihr Entwurf, meine Damen und Herren von der Opposition, ist für mich nur ein taktischer Winkelzug; denn Sie hatten ja Zeit genug, ein funktionierendes Familienpaket durchzusetzen.
Warum in aller Welt haben Sie es denn nicht getan?
Heute kommt mir Ihr Geschrei vor wie ein Theaterstück, Überschrift: Der Zorn der Entmachteten.
Nur leider ist es kein Lustspiel, es ist ein Drama geworden.
Bei einer Bewertung der bisher erkennbaren familienpolitischen Alternativvorstellungen der SPD können wir als CDU/CSU uns des Eindrucks nicht erwehren, daß es hauptsächlich um parteipolitische Profilierung geht.
Andererseits freuen wir uns aber darüber, daß die SPD nach langen Jahren äußerster politischer Zurückhaltung gegenüber den Fragen der Familie nunmehr und hoffentlich auf Dauer in das Lager der Freunde der Familien eingezogen ist.
Wir würden uns freuen, wenn ein nun ausbrechender Wettstreit um die Verbesserung der Förderung der Familien allen Familien zugute käme. Gelegenheiten dazu bieten sich, wenn in den nächsten Monaten der Entwurf des Erziehungsgeldgesetzes zur Debatte gestellt wird. Eine Gelegenheit zu einer grundsätzlichen Aussprache über den weiteren Weg der Förderung der Familien wird sich bieten, wenn der schon lange vorliegende Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP über ein Konzept kurz-, mittel- und langfristiger sozial- und gesellschaftspolitischer Maßnahmen zur Förderung der Familien und zur Verbesserung des Schutzes des ungeborenen Lebens beraten werden wird.
Hier geht es dann auch um die dauerhafte Gewährleistung der Generationssolidarität aus familienpolitischer Sicht und die Verzahnung mit einer langfristig orientierten Politik zur Gewährleistung der Familien, zur Finanzierung in der Rentenversicherung.Nach den derzeit geltenden Bestimmungen des Bundeskindergeldgesetzes bleiben Vollwaisen, die nach dem Tod ihrer Eltern zusammen mit ihren jüngeren Geschwistern in der Familie bleiben und für die jüngeren Geschwister den elterlichen Haushalt weiterführen, ohne Kindergeld. Dies entspricht zwar der grundsätzlichen Konzeption des Kindergeldrechtes, wonach die Zahlung des Kindergeldes zur Entlastung der Eltern vorgesehen ist und deshalb nur Personen zusteht, die als Eltern oder elternähnlich mit dem Unterhalt von Kindern belastet sind. Deshalb erhalten derzeit haushaltsführende Kinder Kindergeld nur für jüngere Geschwister.Als Mitglieder des Petitionsausschusses — und in diesem Ausschuß hat es des öfteren Petitionen von jungen Petenten gegeben, die als Vollwaisen Haushaltsvorstand sind und dadurch kein eigenes Kindergeld bekommen können — haben wir diese Petitionen bearbeitet und an die Bundesregierung weitergeleitet. Ich bin natürlich über die neue Regelung hoch erfreut, Kindergeld in Zukunft auch an Vollwaisen zu zahlen,
damit zu dem persönlichen Verlust, den diese jungen Leute beim Tod der Eltern erlitten haben, nicht zusätzlich finanzielle Verschlechterungen durch den teilweisen Wegfall des Kindergeldes eintreten. Auch hier kann ich der Opposition nur sagen, daß es schon zwei Anläufe gab: In der 8. und in der 9. Periode hat der Petitionsausschuß diese Petitionen zur Erwägung überwiesen, um diese Ungerechtigkeit per Gesetz auszugleichen. Leider hat die frühere Regierung beide Male die Augen vor dieser Problematik fest verschlossen.
Lassen Sie mich noch einmal deutlich sagen: Anspruch auf Kindergeldzuschlag haben alle, die kein steuerpflichtiges Einkommen haben, z. B. Rentner,
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 124. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. März 1985 9157
Frau DempwolfArbeitslose und Studenten mit Kindern. Sie erhalten den vollen Kindergeldzuschlag, also 46 DM monatlich.Ich hoffe und ich wünsche mir sehr, und ich bin davon überzeugt, daß wir mit diesem Entwurf des Elften Gesetzes zur Änderung des Bundeskindergeldgesetzes einen Schritt in die richtige Richtung getan haben und daß die richtige Richtung der Weg hin zur Entlastung der Familie ist. Ich bin sehr froh, daß es jetzt hier ein Stück mehr Gerechtigkeit gibt; denn die letzte Regierung hat alles erhöht, nur nicht das Kindergeld.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Schmidt .
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Leistung soll sich wieder lohnen, wir haben das heute mehrfach gehört. Welches ist nun die Leistung, die beim Familienlastenausgleich und beim Kindergeld belohnt werden soll? Es ist die von uns allen unbestrittene Leistung einer Familie, Kinder großzuziehen und für sie ein Leben lang verantwortlich zu sein.
Diese Leistung muß vom Staat berücksichtigt werden; er hat für Gerechtigkeit gegenüber denen zu sorgen, die keine Kinder haben. Hierüber besteht wohl Einigkeit im Haus.Es ist nun aber die Frage, wie der Staat diese Leistung bewertet. Wessen Leistung höher zu bewerten ist, die des arbeitslosen Vaters und der Mutter, die Zeitungen austrägt, oder die des sehr gut verdienenden leitenden Angestellten und seiner Frau, die sich ganztags den Kindern widmen kann, diese Frage hat die Bundesregierung zugunsten des leitenden Angestellten entschieden.
Um es noch einmal zu verdeutlichen, damit wir es alle endlich begreifen: 92 DM gibt es mehr gegenüber heute für Arbeitslose, für Verkäufer, für Arbeiter, für Briefträger, 232 DM gibt es mehr für leitende Angestellte, Minister, Unternehmer.
Ich sage das, damit einmal mehr klarwird, in wessen Taschen die 20 Milliarden DM größtenteils fließen werden.
Herr von Wartenberg, lassen Sie sich einmal eines gesagt sein: Familien leben nicht von Prozenten. Für den Arbeiter und für den Briefträger sind die Milch, das Brot und die Schuhe genauso teuer wie für das Kind des Generaldirektors.
Wir halten das für ungerecht. Wir halten das für genauso ungerecht wie die vollkommen unzureichenden Regelungen für Alleinerziehende, die in nicht wenigen Fällen sogar Verschlechterungen hinnehmen müssen. Wir halten das für ungerecht, weil diejenigen, die den BAföG-Kahlschlag, die Kürzungen von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe, die Kürzungen des Mutterschaftsurlaubsgeldes hinnehmen mußten, mit Brosamen abgespeist werden und diejenigen, die mit der Senkung der Vermögensteuer, der ersatzlosen Rückzahlung der Investitionshilfeabgabe bereits zweimal belohnt wurden, ein drittes Mal bevorzugt werden, und die vierte Runde wird bereits eingeleitet.
— Ich kann heute keine Zwischenfragen zulassen, Herr Kroll-Schlüter. Ich habe zuwenig Zeit. Das nützt mir nichts, weil die Antwort angerechnet wird.Wir halten dieses Bundeskindergeldgesetz aber nicht nur für ungerecht, sondern auch für unbrauchbar im Hinblick auf die Notwendigkeit für Familien, ihre Finanzen und damit ihre Einnahmen zu kalkulieren. Gerade die Familien mit niedrigerem und mittlerem Einkommen, aber auch Sozialhilfeempfänger oder kleine Selbständige haben einen unsäglichen Papierwust zu bewältigen, während Höchstverdiener nichts tun müssen, um monatlich ihre 352 Mark zur Verfügung zu haben.
Aber auch in dem beabsichtigten bürokratischen Wahnwitz steckt Methode. Ihr Wunsch, Herr Stoltenberg und Herr Geißler, die Umverteilung von unten nach oben fortzusetzen unter der Überschrift eines unausgegorenen Leistungsbegriffs, war so groß, daß Sie Bürokratisches und ein familienfeindliches Verfahren in Kauf genommen haben.
Was hat die SPD dem entgegenzusetzen? Frau Dempwolf, lassen Sie mich zuerst auf das eingehen, was Sie darüber gesagt haben, was wir in den Jahren unserer Regierung getan haben. In den letzten sechs Jahren unserer Regierung sind die Leistungen für Familien — Kindergeld und Mutterschaftsgeld — um annähernd 32 % gestiegen. Das hatten wir zu verantworten. Von 1982 bis 1988 — ein vergleichsweise gleich langer Zeitraum — steigen die gleichen Leistungen von 21 auf 24 Milliarden DM, also um rund 15 %. Das haben dann Sie zu verantworten.
Wie steht es um die Dynamisierung des Kindergeldes? Auch da sagen Sie, wir hätten das Kindergeld nicht erhöht. Da kann ich j a nur lachen. Bei uns stieg das Kindergeld für eine Familie mit drei Kindern von 240 DM 1975 auf 370 DM 1982, also um 32 %. Bei Ihnen wird im mittelfristigen Finanzplan nach dem Inkrafttreten dieser Gesetze der Familienlastenausgleich um null Prozent steigen. Ihre Ankündigung, Herr Geißler — großmächtig im Dezember gemacht —, einer automatischen Dynamisierung bleibt für den Durchschnittsverdiener ein schönes Märchen.
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9158 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 124. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. März 1985
Frau Schmidt
Aber nun zu dem, was wir wollen.Erstens. Wir wollen fortsetzen, was wir 1975 begonnen haben. Nach dem Motto, das Kind des Arbeiters ist genausoviel wert wie das Kind des Generaldirektors, soll jede Familie für jedes Kind 45 DM mehr bekommen. Dabei sehen wir allerdings ein, daß in Zeiten knapper Mittel das Kindergeld für Familien, die aus eigener Kraft für ihre Kinder sorgen können, geringer ausfallen darf als für Familien, die auf Hilfe angewiesen sind. Wir belassen deshalb Grenzen beim Grundkindergeld, erhöhen diese aber, um nicht neue Ungerechtigkeiten entstehen zu lassen.Zweitens. Der BAföG-Kahlschlag soll durch einen Schülerzuschlag zum Kindergeld nach dem zehnten Schuljahr ausgeglichen werden. Er soll einkommensabhängig gezahlt werden. Damit machen wir wiederum Ihre Ankündigungen wahr. Frau Wilms hat sich offensichtlich vergeblich bemüht, die Situation von Familien mit Kindern in Ausbildung irgendwo im Familienlastenausgleich berücksichtigen zu lassen.
Drittens. Unser schon einmal eingebrachter Antrag, Kindergeld für arbeitslose Jugendliche bis zum 23. Lebensjahr zu zahlen, ist eingearbeitet.Viertens. Ungerechtigkeiten in der Behandlung von Vollwaisen werden mit diesem Entwurf beseitigt.Ich kündige aber gleichzeitig an, daß dieses Kindergeldgesetz nur einen Baustein unseres Gesamtkonzepts eines Familienlastenausgleichs darstellt. Wir werden rechtzeitig zu den Beratungen einen Entwurf zu einem Elternurlaubsgesetz einbringen, der die Umwandlung des Mutterschaftsurlaubs in einen Elternurlaub und vor allen Dingen die Wiederherstellung des Mutterschaftsurlaubsgeldes von 750 DM vorsieht und einen anschließenden einkommensabhängigen Elternurlaub. Das Wort Urlaub, Herr Geißler, bedeutet Erhalt des Arbeitsplatzes. An dieser Stelle seien Sie mal gefragt, was aus Ihrer pompösen Ankündigung hier an diesem Pult, was aus der Arbeitsplatzgarantie jetzt eigentlich wird.
Aber das ist noch nicht alles. Nach unserer Auffassung gehören zu einem Konzept des Familienlastenausgleichs Verbesserungen beim Wohngeld, beim Arbeitslosengeld, bei der Arbeitslosenhilfe. Nicht zuletzt: Auch gutverdienende Eltern mit mehreren, oftmals nach einer langwierigen Ausbildung arbeitslosen Kindern geraten an den Rand des Existenzminimums. Ohne den Familienverband und die lebenslange gegenseitige Verantwortung auflösen zu wollen, muß die Einstandspflicht der Eltern in der Sozialhilfe gegenüber ihren erwachsenen Kindern verringert werden.Zum Schluß. Um die Lust aufs Kind nicht abzuwürgen, sind Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf notwendig, wobei wir in atypischen Arbeitsverhältnissen kein Allheilmittel sehen.Wir werden zu all diesen Vorhaben Gesetzentwürfe vorlegen. Mit dem Entwurf zur Änderung des Bundeskindergeldgesetzes wollen wir denen wiedergeben, denen Sie genommen haben. Wir wollen für die Familien, für ihre Kinder Gerechtigkeit, Chancengleichheit wiederherstellen, die Sie zerstört haben.
Das Wort hat der Abgeordnete Eimer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn ich hier heute spreche, so möchte ich betonen, daß ich dies nicht als jugendpolitischer Sprecher für meine Fraktion, sondern in eigener Sache tue.Ich spreche mich gegen die vorgesehene Regelung im Familienlastenausgleich aus. Da ist zum einen ein formaler Grund. Ich möchte mich nicht von meinem Koalitionspartner Plattwalzen lassen und habe darüber hinaus, wie meine Fraktion eigentlich auch, inhaltlich andere Vorstellungen.Das vorgesehene Gesetz kann ich in dieser Form nicht tragen. Es ist kein klares, sondern ein Mischmaschsystem. Ein politischer Wille ist aus diesem Gesetz nicht herauszulesen. Es ist ein Zickzackkurs.
Der erste Grundsatz heißt: Wir zahlen Kindergeld für alle gleich. Alle sollen gleich betroffen werden.Dann kommt der Schwenk: Wir haben Einkommensgrenzen, und die richten sich gegen die höheren Einkommen.Der nächste Schwenk: Wir stocken Freibeträge kräftig auf. Die wiederum begünstigen die höheren Einkommen.Und dann die letzte Richtungsänderung dieses Zickzackkurses: Als Ausgleich soll ein Grundbetrag eingeführt werden, der wieder den kleinen Einkommen helfen soll.
Darüber hinaus ist das Gesetz leistungsfeindlich. Damit kein Irrtum entsteht: Ich verstehe unter Leistung nicht Begünstigung der Großen und Bestrafung der Kleinen, sondern daß mehr Anstrengung belohnt wird.
— Ich empfinde den Beifall der SPD als etwas peinlich. Denn als wir zusammen in der Regierungsverantwortung waren, waren Sie für meine Vorstellungen nicht aufgeschlossen.
Wir haben zur Zeit neun wesentliche Einkommensgrenzen; eine zehnte beim Erziehungsgeld soll dazukommen. Alle haben unterschiedliche Höhen
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Eimer
und unterschiedliche Einkommensbegriffe. Dies bedeutet, daß jemand, der sich mehr anstrengt, mehr Bruttolohn bekommt, aber weniger netto erhält. Das heißt: Mehranstrengung wird bestraft.Darüber hinaus bedeuten diese zehn Einkommensgrenzen mehr Bürokratie, mehr Undurchsichtigkeit für den Bürger. Sicher, die Bürokratie steigt bei jedem Gesetz nur langsam und unbemerkt und engt dadurch unsere Freiheit zunächst nur wenig ein. Aber wie ein englisches Sprichwort sagt, stirbt die Freiheit scheibchenweise.Natürlich könnte ich mich zur Ausrede selber mit dem Hinweis beruhigen: Es ist ja nicht so schlimm, und das alles ist für einen guten Zweck. Und ich könnte sagen: Ich will ja Geld für meinen politischen Bereich nicht herschenken. Aber Glaubwürdigkeit in der Politik bedeutet auch, daß nicht jedes Mittel einen guten Zweck heiligt.Zu Ihrer Information will ich Ihnen die Leistungen aufzählen, die durch Einkommensgrenzen eingeschränkt sind. Es sind: 1. Hilfen zum Lebensunterhalt und Hilfen in besonderen Lebenslagen nach dem Bundessozialhilfegesetz, 2. Arbeitslosenhilfe nach dem AFG, 3. Wohngeld nach dem Wohngeldgesetz, 4. Kindergeld, 5. Ausbildungsförderung nach dem BAföG, 6. Berufsausbildungsbeihilfen nach dem AFG, 7. Wohnungsbauprämien nach dem Wohnungsbauprämiengesetz, 8. Arbeitnehmersparzulage nach dem Vermögensbildungsgesetz, 9. wohnungswirtschaftliche Förderungsmaßnahmen nach dem 2. Wohnungsbaugesetz, 10. das vorgesehene Erziehungsgeld.Als Einkommensbegriffe werden verwendet: verfügbares Einkommen, Nettoeinkommen, modifiziertes Nettoeinkommen, modifiziertes verfügbares Einkommen, zu versteuerndes Einkommen, modifiziertes Bruttoeinkommen.Nach dieser bürokratischen Leistung lassen Sie mich noch eine amüsante Bemerkung am Rande machen. Wer einer Partei spendet, der bekommt weniger Kindergeld. Es erhöht sich nämlich wegen der Steuerabzüge formal das Nettoeinkommen, und damit bekommt man in den Grenzfällen als Dank für diese Spende weniger Kindergeld. Ich meine, gleiches Kindergeld für alle. Eine Anhebung des Erstkindergeldes und eine Besteuerung des Kindergeldes sind einfacher, unbürokratischer, leistungsgerechter und sozial gerechter. Wer ein hohes Einkommen hat, hat wenig Nettokindergeld, wer kein Einkommen hat, hat viel.Mir ist natürlich bekannt, daß es dann Probleme im Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern gibt. Aber ich frage mich: Wer soll es denn schaffen, wenn nicht diese Koalition? Wer hat denn die Mehrheit im Bundesrat? Der Bundeskanzler bestimmt nach unserem Grundgesetz die Richtlinien der Politik. Ich wende mich auch an ihn als Parteivorsitzenden der CDU, und ich wende mich an meine eigene Fraktion: Selbst wenn Sie aus politischen Gründen für eine Lösung mit Freibeträgen sind, lassen Sie es nicht zu, daß dieser handwerkliche Pfusch Gesetz wird.
Das Wort hat Bundesminister Geißler.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Erstens. Die Verwaltungskosten für das Kindergeld bei der Bundesanstalt für Arbeit liegen bei 3 %. Sie sind damit die niedrigsten Verwaltungskosten, die wir überhaupt in einer Leistungsverwaltung haben.Zweitens. Wir legen zusammen mit diesem Steuergesetz einen wesentlichen Bestandteil unserer Kindergeldgesetzgebung vor. Das, was von der Bundesregierung und vom Parlament beschlossen, beraten und letztendlich verabschiedet werden wird, ist natürlich ein wichtiger Bestandteil eines Gesamtpakets für die Familien, ein Gesamtpaket, das 10 Milliarden DM beinhaltet. Hier sind entscheidende Schritte nach vorne getan worden.Wir haben uns nicht beschränkt auf eine rein quantitative Ausweitung des bisherigen Familienlastenausgleiches, sondern in dieser Gesamtkonzeption ein neues Kapitel aufgeschlagen, erstens durch die Anerkennung der Erziehungsjahre für die Leistungen, die Frauen oder auch Väter bei der Erziehung der Kinder in ihrer Familie erbringen, und zweitens durch die Einführung eines Erziehungsgeldes. Das ist eine Entscheidung, die aufräumt mit dem Zweiklassenrecht, das bisher für die Frauen vorhanden war. Das Erziehungsgeld wird auf alle Frauen und alle Väter ausgedehnt, die sich für die Betreuung der Kinder im ersten Jahr einsetzen und die Leistungen des Erziehungsgeldes werden von jetzt sechs Monaten auf zwölf Monate ausgedehnt.Die Diskussion, die heute geführt wird, konzentriert sich auf die Frage: Wie kann der Familienlastenausgleich, Kindergeld mit einer notwendigen steuerlichen Entlastung verbunden werden? Wir gehen von dem Grundsatz aus — das ist ein tragender Bestandteil unserer Familienpolitik —, daß diejenigen, die Kinder haben, weniger Steuern zahlen sollen als diejenigen, die keine Kinder haben.
Das ist ein einfacher Grundsatz. Jeder Familienvater hat Ausgaben für seine Kinder. Wir wollen, daß ein bestimmter Betrag — man muß sogar sagen: ein Mindestbetrag; wir täten gerne mehr — dieser Ausgaben, die jede Familie hat — wir gehen von 2 484 DM pro Jahr aus —, von den Familienvätern und Müttern nicht auch noch versteuert werden muß. Das ist nämlich das Problem, das wir zu erkennen haben: daß Ausgaben für Kinder bis heute versteuert werden müssen. Das halten wir für ein grobes Unrecht.Da die Sozialdemokratische Partei gegen Freibeträge ist, darf ich offenbar davon ausgehen,
daß die Sozialdemokraten in Bälde auch einen Antrag stellen werden, den Weihnachtsfreibetrag und Arbeitnehmerfreibetrag abzuschaffen.
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9160 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 124. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. März 1985
Bundesminister Dr. Geißler— Ich muß davon ausgehen. Entschuldigung. Es ist doch ganz klar, was hier vorgetragen wird.
Wir wollen die steuerliche Belastung der Familien mit Kindern selbstverständlich vermindern. Ich darf Ihnen einmal folgendes Beispiel anführen: Heute führt der progressive Steuertarif dazu, daß die Belastung durch den Unterhalt von Kindern bei hohem, bei höchsten Einkommen fast 80% höher ist als bei durchschnittlichen und unterdurchschnittlichen Einkommen.
Das zur Argumentation hinsichtlich der Progression. — Meine sehr verehrten Damen und Herren, bei diesem Thema verbinden Sie ständig beschränkte Einsicht mit großem Widerspruchsgeist.
Sie haben die Frage der steuerlichen Entlastung offenbar noch überhaupt nicht begriffen.So muß z. B. ein Facharbeiter — nur zur Information — mit einem Bruttoeinkommen von 3 500 DM im Monat 128 DM verdienen, damit er 100 DM für seine Kinder ausgeben kann. Mit anderen Worten: Er zahlt für die 100 DM, die er für sein Kind ausgibt, auch noch 28 DM Steuern. Die Versicherungsbeiträge lasse ich hier einmal völlig außer Betracht.Bei einem Angestellten mit einem Bruttoeinkommen von 6 000 DM im Monat müssen zunächst einmal 154 DM verdient werden, damit er 100 DM für ein Kind ausgeben kann. Das heißt, er muß für 100 DM, die er für ein Kind ausgibt, 54 DM Steuern zahlen. Wir sind der Auffassung, daß dies ein grobes Unrecht ist und daß diese steuerliche Belastung zumindest reduziert werden muß.Das eine dürfen Sie nicht vergessen: Die soziale Ausgewogenheit haben wir nicht aus dem Blick verloren. Diejenigen, die kein steuerpflichtiges Einkommen haben, erhalten durch diese Beschlüsse einen Kindergeldzuschlag, so daß sie hinsichtlich der Kindergelderhöhung mindestens genauso gestellt werden wie derjenige, der Einkommen hat, das sich in der Proportionalzone des Steuerrechts befindet. Unserer Auffassung nach trägt in Zeiten knapper Kassen zur sozialen Ausgewogenheit bei, wenn wir die Mittel konzentrieren. Wir können es also durchaus verantworten, daß jemand, der im Jahr 60 000 DM brutto verdient, 30 DM weniger Kindergeld bekommt, wenn er zwei Kinder hat. Dies ist eine auch sozialpolitisch richtige Entscheidung gewesen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube, daß wir in dieser Gesamtkonzeption das getan haben, was wir für die Familien tun müssen. Gerade in Zeiten knapper Kassen muß sich die soziale Gerechtigkeit bewähren. Da können wir nicht mit der Gießkanne in der Gegend herumlaufen, sondern müssen die Mittel gezielt denen zugutekommen lassen, die sie auch wirklich brauchen. Deswegen Kindergeldzuschlag für Familien mit geringem Einkommen. Das, was Sie hier vorschlagen, bleibt — umgerechnet, pro Kind — sogar noch um 1 DM hinter dem zurück, was wir mit der Kombination von Kinderfreibetrag und Kindergeldzuschlag den Familien zugute kommen lassen wollen. Außerdem hat der Kinderfreibetrag — das wiederhole ich nachdrücklich — gegenüber jeder Nur-Kindergeldregelung den Vorteil, daß wir bei steigenden Einkommen Jahr für Jahr zu einer Dynamisierung der Familienleistungen kommen.Ich will Ihnen dies einmal an einem Beispiel darlegen: Wenn ich von einem Ehepaar mit drei Kindern mit einem Bruttoeinkommen von 3 500 DM monatlich ausgehe — das sind 42 000 DM brutto im Jahr —, wenn ich weiter einmal unterstelle, daß das monatliche Einkommen dieses Ehepaares bis zum Jahre 1992 auf etwa 4 500 DM steigt — das sind 54 000 DM brutto im Jahr — dann steigt die steuerliche Entlastung dieser Familie durch die Kinderfreibeträge nach unserer Konzeption von jetzt 1 640 DM auf 1 902 DM — zugrunde gelegt das Einkommen eines Facharbeiters.
Das ist also eine Erhöhung der steuerlichen Entlastung durch Kinderfreibeträge von rund 1 600 DM auf etwa 1 900 DM. Bei Ihrer Konzeption dagegen bleibt dieser Facharbeiter auf der Höhe des Kindergelds des Jahres 1985 sitzen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube, daß unsere Kombination von Kindergeld und Kinderfreibetrag auch unter diesem Gesichtspunkt die Lösung ist, die unsere Familien brauchen.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird für die Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 10/2884, 10/2886 und 10/2928 Überweisung an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Außerdem ist vereinbart worden, die beiden Gesetzentwürfe zur Änderung des Bundeskindergeldgesetzes — das sind der Tagesordnungspunkt 14b und der Zusatzpunkt 3 — zusätzlich auch dem Finanzausschuß zur Mitberatung zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe den Punkt 15 der Tagesordnung auf:
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 124. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. März 1985 9161
— Drucksache 10/2882 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GOMeine Damen und Herren, im Ältestenrat ist für die Aussprache ein Beitrag bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — Das ist nicht der Fall.Ich eröffne die allgemeine Aussprache. Ich erteile das Wort dem Herrn Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.
Herr Präsident, ich möchte zur Einbringung dieses Gesetzes eine kurze Begründung vortragen.
Ich erteile Ihnen das Wort zur Begründung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Beitrag, den die Kriegsopfer geleistet haben, mit dem sie ihre Ansprüche erwerben, ist kein Beitrag in Mark und Pfennig; es ist ein Beitrag an Leben und Gesundheit. Deshalb werden wir die Eigenständigkeit des Kriegsopferrechts immer bewahren müssen. Ich denke, das muß auch die große Gemeinsamkeit diese Hauses sein.
Kriegsopfer-, Rentner- und Arbeitnehmereinkommen sollen sich gleichmäßig entwickeln. Rentner und Kriegsopfer sitzen mit den Arbeitnehmern in einem Boot. Ich denke, es war das große Verdienst der Adenauerschen Rentenreform, daß sie die Rentner aus der Nähe des Almosenstatus befreit und die Rentenerhöhungen an die Lohnerhöhungen gekoppelt hat. Die Kriegsopfer wurden später in diesen Verbund eingefügt.
— Verehrte Frau Kollegin, ich bestreite doch gar nicht, daß das ein Fortschritt war. Ich bestreite ja auch gar nicht, daß wir gemeinsam — wir haben Sie unterstützt — diesen Fortschritt zustande gebracht haben. Wenn Sie alles nur schlechter gemacht hätten, was wir Ihnen übergeben haben, dann hätte der Regierungswechsel ja schon früher stattfinden müssen. Lassen Sie uns jetzt doch nicht kleinliche Parteipolitik betreiben! Es war und ist ein Fortschritt, daß die Kriegsopfer in den Anpassungsverbund einbezogen wurden. — Früher betrug der Abstand zwischen Lohnempfängern auf der einen Seite und den Kriegsopfern und den Rentnern auf der anderen Seite in ihrer Einkommensentwicklung drei Jahre. Wir haben den Abstand verkürzt: Die Renten folgen den Löhnen in einjährigem Abstand.
Ich denke, es ist wichtig, darauf hinzuweisen, daß Renten und Löhne in demselben Jahr nie deckungsgleich sein können. Das ist der Anlaß vieler Mißverständnisse. Das kann gar nicht sein; denn sonst müßte man Mitte des Jahres bei der Rentenanpassung wissen, wie die Lohnentwicklung des ganzen Jahres aussieht. Kein Mensch kann das, es sei denn, er ist Wahrsager. Deshalb können die Rentenerhöhungen immer nur der Lohnentwicklung des Vorjahres folgen. Daher kommt es, daß in dem einen Jahr die Löhne etwas höher steigen als die Renten, in einem anderen Jahr die Rentenerhöhungen etwas größer sind.
Nur: Keine Lohnerhöhung geht an den Rentnern oder den Kriegsopfern vorbei. Die Rentenerhöhungen und die Erhöhungen der Versorgungsbezüge der Kriegsopfer folgen den Lohnerhöhungen in einem Abstand von einem Jahr. 1985 werden wahrscheinlich die Lohnsteigerungen etwas höher sein als die Anpassungssätze der Renten. Im Jahre 1984 — das will ich in Erinnerung rufen — waren die Rentenanpassungen höher als der Lohnanstieg. Die durchschnittliche Rentenerhöhung des Jahres 1984 betrug 2,9 %, und zwar nach Abzug des Krankenversicherungsbeitrags. Die Lohnerhöhungen betrugen rund 3 %. Allerdings müssen von diesen 3 % noch Sozialabgaben und Steuern abgezogen werden, so daß für die Lohnempfänger rund 1,8 % Steigerung übrigblieben. Ich will festhalten: 1984 lag die Anpassung der Renten um 1 % höher als der Nettozuwachs der Löhne. Ich denke, die verfügbaren Einkommen sind der Vergleichsmaßstab.
Meine Damen und Herren, diesen Verbund möchte ich in der Debatte zur Einbringung dieses Gesetzes mit allen Kräften verteidigen. Wir halten an dem Zusammenhang fest. Das unterscheidet uns von jener Renten- und Kriegsopferpolitik der SPD, die in den Jahren 1979 bis 1981 die Renten von der Lohnentwicklung abkoppelte, die Rentenerhöhungen willkürlich je nach Kassenlage festlegte. Das wird uns nicht passieren! Das Wichtigste ist, daß die Rente berechenbar bleibt, und deshalb muß sie mit der Lohnentwicklung verbunden bleiben.
Der Gesetzentwurf enthält außer der Rentenanpassung auch eine Auffächerung des Systems der Einkommensanrechnung. Die Zahl der Stufen wird verdoppelt. Das schafft mehr Gerechtigkeit; es verhindert Einkommensanrechnungen, die überproportional wären.
Im Zusammenhang mit diesem Gesetzentwurf will ich auch darauf hinweisen, daß wir mit der Schwerbehindertennovelle weitere Verbesserungen bringen werden. Ich halte es für eine Verbesserung, wenn wir den Schwerbehindertenbegriff präziser definieren. Wenn durch Definition die Zugänge klarer geregelt sind, wird uns das auch die Möglichkeit geben, einiges von den Sparmaßnahmen zurückzunehmen, die im Zusammenhang mit der Freifahrt vorgenommen wurden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Glombig?
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9162 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 124. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. März 1985
Bitte.
Warum sprechen Sie, Herr Bundesminister, in diesem Zusammenhang von Verbesserungen? Hier geht es j a nur um die neue Bezeichnung eines Tatbestandes, den Sie erwähnt haben. Und warum sprechen Sie nicht von den massiven Verschlechterungen, die Sie mit dem geplanten Schwerbehindertengesetz vorhaben?
Ich halte unsere Schwerbehindertennovelle für eine Verbesserung
und halte an diesem Begriff fest. Es kann nur im Interesse der Behinderten sein, wenn ihr Begriff klarer geregelt wird, damit sie nicht immer mehr Konkurrenten um die Schwerbehindertenarbeitsplätze bekommen.
Eine soziale Politik muß wenn sie hilfreich sein will, denen helfen, die der Hilfe bedürfen, und sie muß sie davor bewahren, daß sie sozusagen in Konkurrenz zu denen gesetzt werden, die weniger der Hilfe bedürfen.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Glombig?
Aber bitte, Herr Kollege!
Herr Bundesminister Blüm, warum machen Sie den Schwerbehinderten blauen Dunst vor? Warum sagen Sie ihnen nicht, was mit dem Schwerbehindertengesetz wirklich geplant ist?
Meinen Sie nicht auch, daß Sie die Schwerbehinderten hinters Licht führen, wenn Sie dies hier als Verbesserung herausstellen?
Herr Kollege Glombig, überlassen wir es den Schwerbehinderten, Ihre Politik zu beurteilen und unsere Politik zu beurteilen; dann können wir mit großer Gelassenheit das Urteil abwarten. Diejenigen, die den Behinderten helfen wollen, müssen dafür sorgen, daß der Behindertenbegriff präzise geformt wird. Das ist für jedermann einsehbar.
Nun möchte ich mich noch an die Generation der Kriegsopfer wenden. Sie ist j a die Generation, die die meisten Opfer dieses Jahrhunderts nicht aus Büchern gelesen, sondern erlitten hat. Das waren die Kinder der großen Inflation; das ist die Aufbaugeneration der Währungsreform. Diese Generation weiß: Der größte soziale Schaden, der sozial Schwachen zugefügt werden kann, ist die Inflation. Deshalb ist Preisstabilität, ist eine Politik, die die Preissteigerungen zurückdrängt, die beste Rentenerhöhung, die man sich denken kann. Das ist die beste Sozialpolitik, die es gibt!
Das will ich gern in Zahlen ausdrücken: Die Preissteigerung für Rentnerhaushalte und Sozialhilfehaushalte betrug zwischen 1980 und 1982 — das sind die letzten Jahre der alten Regierung — im Durchschnitt 5,73 %. Die Preissteigerungsrate für die gleichen Haushalte — Rentner und Sozialhilfeempfänger — beträgt 1983 und 1984 2,85 %. Das ist die Hälfte der Preissteigerungsrate aus den letzten SPD-Jahren! Ich denke, Inflation zu bekämpfen, Preissteigerung zurückzudrängen, das ist auch eine Wiedergutmachung für jene Generation, die die größten Opfer in diesem Jahrhundert getragen hat.
Ich eröffne die allgemeine Aussprache. Das Wort hat die Abgeordnete Frau Steinhauer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Herren und Damen! Mit dem üblichen Abstand zum Gesetzentwurf über die Anpassung der Renten in der Angestellten-, Arbeiter- und Unfallversicherung haben wir heute die erste Lesung über die 14. Anpassung der Kriegsopferversorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz. Eine Zeitlang habe ich gedacht, ich sei im falschen Saal, und hier sei eben das falsche Gesetz begründet worden.
Auch dieser Gesetzentwurf der Bundesregierung reiht sich unrühmlich in die lange Serie sozialpolitischer Missetaten dieser Bundesregierung ein.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 124. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. März 1985 9163
Viele Kriegsopfer sind hier auch noch betroffen.Wir Sozialdemokraten haben 1969 unter der Führung von Walter Arendt, Ernst Schellenberg und Alex Möller mit der Verankerung der Dynamisierung der Kriegsopferversorgung dafür gesorgt, daß die bis dahin jährlich nötigen und beschämenden Bittprozessionen — so kann man das ja wohl nur nennen — der Kriegsopfer um Erhöhung ihrer Renten überflüssig wurden. Wir koppelten die Kriegsopferrenten in ihrer Entwicklung an die Renten der Arbeiter, Angestellten und Berufsunfallopfer an. Das war praktizierte Solidarität.
Die Kriegsopfer und ihre großen Verbände haben das dankbar anerkannt und sind während unserer Regierungszeit gut damit gefahren.
Es muß an dieser Stelle gesagt werden: Es fällt den Betroffenen und uns nicht leicht, bei dieser kümmerlichen Erhöhung den bewährten Verbund nicht in Frage zu stellen.
Wir haben schon in der Debatte über die Anpassung in der Rentenversicherung zum Ausdruck gebracht, daß wir die einprozentige Erhöhung für unzumutbar halten. Das gilt uneingeschränkt auch für die Kriegsopferversorgung.
Hinzu kommt: Die Kriegsopfer zahlen überhaupt keinen Krankenversicherungsbeitrag. Warum muten Sie ihnen so große Abstriche zu? Das ist doch ein rein fiskalisches Zahlenspiel. Das Endergebnis dieser Rechenmanipulation ist, daß die Rentenerhöhung so gerade die Schamschwelle von 1% übersteigen soll,
und das bei einer Preissteigerungsrate, die 1984 im Durchschnitt über 2,4 % lag.Die knappe Zeit dieser Kurzdebatte läßt es nicht zu, den Gesetzentwurf ausreichend im einzelnen, was die anderen Bestimmungen angeht, zu durchleuchten. Wir werden das im Ausschuß nachholen. Man muß aber darauf hinweisen, daß es sehr traurig ist, daß die Beschlüsse des Bundesrates vom 8. Februar von der Bundesregierung überhaupt nicht übernommen werden.
In der Gegenäußerung der Bundesregierung ist nachzulesen, was den äußerst bescheidenen Bitten des Bundesrates um materielle Verbesserungen in ganzen vier Punkten als Antwort beschieden ist. Es heißt lapidar: „... wird nicht zugestimmt." Ich habe mir sagen lassen, daß die Mehrheit des Bundesrates doch viel näher bei Ihnen steht als bei uns. Dabei bleibt dann auch z. B. der Versuch auf der Strecke, wenigstens das Bestattungsgeld von bisher 500 oder 1 000 DM angemessen zu erhöhen. Man muß dabei wissen, daß im Durchschnitt aller Allgemeinen Ortskrankenkassen schon vor mehr als Jahresfrist für diesen Zweck 2 700 DM gezahlt wurden. Wenn also die Versuche des Bundesrates, wenigstens ganz kleine strukturelle Verbesserungen für die Kriegsopfer zu erreichen, so behandelt werden, muß man sich fragen: Warum führen eigentlich zwei der drei Koalitionsparteien das anspruchsvolle Wort „christlich" in ihrem Firmenschild?
Welch eine Irreführung der Bürger!
— Wir haben etwas weiterentwickelt. Davon können Sie sich eine Scheibe abschneiden.
Sie von der CDU/CSU-Fraktion sollten sich Ihrer Regierung schämen. Wir Sozialdemokraten werden dafür sorgen, daß der Öffentlichkeit, vor allem den Kriegsopfern, die Wahrheit über die verweigerte Fürsorge der Bundesregierung nicht vorenthalten wird.
Zusammenfassend sage ich noch einmal: Auch dieser Gesetzentwurf reiht sich ganz unrühmlich in die Reihe der sozialpolitischen Rückschritte der konservativen Regierung ein. Hier wird nicht mehr Sozialpolitik, sondern Unsozialpolitik betrieben.
Das Wort hat der Abgeordnete Jagoda.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit diesem Gesetz werden die Leistungen für die Kriegs- und Wehrdienstopfer zum 1. Juli 1985 angepaßt. Die Erhöhungen gleichen den Steigerungsbeträgen in der Rentenversicherung. Die vorgesehene Anhebung kostet den Bundeshaushalt jährlich 150 Millionen DM.
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9164 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 124. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. März 1985
JagodaIch knüpfe an die Rede der Kollegin Frau Steinhauer an, in der sie uns vorgeworfen hat, daß dieses Gesetz gerade die Schamschwelle der Erhöhung von 1 % übersteige. Ich werde darauf zu sprechen kommen. Vorher lassen Sie mich aber einige andere Anmerkungen machen.1970 legte der Bundestag fest, daß die Leistungen im Kriegsoferrecht gleichmäßig mit den Renten steigen. Dies erbrachte für die Empfänger von Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz sicherlich Vorteile. Seit wir aus finanziellen Gründen gezwungen sind, den Rentnern einen Beitrag zur Krankenversicherung abzuverlangen, und die Rentenerhöhungen auf Grund der Lohnentwicklung geringer ausfallen, wirkt sich das natürlich nachteilig auch auf die Empfänger von Leistungen nach dem Kriegsopferrecht aus.Die Kritik der Verbände verstehe ich. Daß die Pauschbeträge für Ersatz, für Kleider- und Wäscheverschleiß gemäß § 15 des Bundesversorgungsgesetzes nur um den um den KVdR-Beitrag geminderten Prozentsatz erhöht werden, ist für die Betroffenen schwer verständlich. Aber ich verschweige auch nicht, daß uns die Haushaltslage dazu zwingt, über Änderungen des § 56 nicht mehr nachzudenken.Die Kritik von VdK und Reichsbund zeigt mir aber auch, daß wir zukünftig gut überlegen sollten, ob wir es richtig anfangen, wenn wir zwei Systeme, z. B. das Versicherungs- und das Versorgungssystem, durch derartige Entwicklungen zusammenbinden. Ein Nachteil für die Kriegsopfer entsteht natürlich nicht erst jetzt bei der Erhebung des Krankenversicherungsbeitrags. Beispielsweise hat es die Koppelung auch ausgelöst, daß es 1978 überhaupt keine Erhöhungen für die Kriegsopfer gegeben hat.
Herr Abgeordneter Jagoda, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Glombig?
Ja, gerne.
Herr Kollege Jagoda, was hat der verkürzte Anpassungssatz in der Kriegsopferversorgung mit der Krankenversicherung der Rentner zu tun? Ist das nicht nur ein Beitrag zur Selbstfinanzierung der Kriegsopferversorgung durch die Kriegsopfer?
Herr Kollege, ich bin gerade dabei, und ich nehme Ihre Frage zum Anlaß fortzufahren. Ich weise zur Zeit nach, daß auch unter Ihrer Regierung die damalige Koppelung zu entscheidenden Nachteilen für die Kriegsopfer geführt hat.
— Verehrter Herr Ehrenberg, Sie trugen doch damals die Verantwortung als Minister. Wollen Sie bestreiten, daß im Jahr 1978 von Ihrer Regierung überhaupt kein Gesetz zur Erhöhung vorgelegt worden ist? Das 10. Gesetz zur Anpassung der Kriegsopferversorgung kam am 1. Januar 1979. Das ist doch die Situation.
Herr Kollege Jagoda, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Glombig?
Nein.Zweitens, Herr Kollege Glombig, hat das 21. Rentenanpassungsgesetz, mit dem Sie die bruttolohnbezogene Rentendynamik aufgegeben haben, dazu geführt, daß auch die Kriegsopfer im Jahr 1979 pauschal nur 4,5% und 1980/81 4% erhalten haben.
— Meine Damen und Herren, ich weiß gar nicht, warum Sie auf meine kurze Redezeit von zehn Minuten keine Rücksicht nehmen. Ich habe der Frau Kollegin Steinhauer in Ruhe zugehört. Daß das bei Ihnen nicht möglich ist, seit Sie in der Opposition sind, verstehe ich überhaupt nicht.
Ich glaube doch, daß zur Toleranz gehört, daß man die Ohren gebraucht, daß man zuhört und den anderen aussprechen läßt. Sie können j a anderer Meinung sein.Herr Ehrenberg, ich will noch etwas zu Ihren 4,5 % oder 4 % sagen. Wie hoch war damals die Inflationsrate? 1979 4,2 %, 1980 5,4 %, 1981 6, 3 %, immer entscheidend höher als Ihre Steigerungsraten! Das ist nun wirklich Geschichte.
Hier zitiere ich den Bericht der Deutschen Bundesbank, die nicht im Verdacht steht, unsere Politik zu betreiben.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn Sie einen solchen Vorwurf erheben, darin muß ich Ihnen sagen, daß es zu Ihrer Zeit überhaupt keine Schamgrenze gegeben hat. Wenn ich unsere heutige Erhöhung um 1,5 % nehme und mit der Inflationsrate von 2 % vergleiche, dann stelle ich fest: Es ist ein Verlust von 0,5 %. 1980 z. B. waren es 1,4 %, 1981 2,3 %.
Das zweite Ziel unseres Gesetzes, das wir hier einbringen, ist die Novellierung der Anpassungsverordnung gemäß § 33 Abs. 6 des Bundesversorgungsgesetzes. Hier gilt: Die jetzige Verordnung, die aus dem Jahre 1961 stammt, hat dazu geführt, daß sich die Abstände der einzelnen hundert Stufen von 4 DM auf 8 DM auseinanderentwickelt haben durch die Entscheidungen in der Lohnpolitik. Nach unserer Auffassung geht die Bundesregierung den richtigen Weg, indem sie jetzt ein zweihundertstufiges Raster einführt und damit die pauschalierte Anrechnung etwas verbessert.Lassen Sie mich zu den Fragen des Bundesrats kommen. Der Bundesrat übt dahin gehend Kritik, daß die Regierung das Gesetz erst dann vorlegen sollte, wenn die genauen Zahlen vom Statistischen Bundesamt festliegen. Wir ermutigen die Bundesre-
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Jagodagierung ausdrücklich, diesem Vorschlag nicht zu folgen. Wir sind der Auffassung, daß die gesetzliche Regelung beibehalten werden sollte, daß im Gesetzgebungsverfahren die richtigen Prozentpunkte eingesetzt werden.Weiterhin hat der Bundesrat einige Änderungen und Empfehlungen beschlossen. Von der Sache her kann man dafür sehr gute Gründe finden, meine Damen und Herren. Aber die Vorschläge führen zu Mehraufwendungen. Frau Kollegin Steinhauer, es sind eben nicht nur geringe Mehraufwendungen. Nehmen Sie beispielsweise die Forderung des Bundesrates, die Quote bei Berufsschadensausgleich und beim Schadensausgleich von vier Zehntel auf fünf Zehntel hochzuschrauben. Das bedeutet für den Bundeshaushalt eine Mehrbelastung von 200 Millionen DM im Jahr. Daran, daß wir für die Erhöhung nur 150 Millionen DM zur Verfügung haben, können Sie ungefähr sehen, wie groß der Finanzspielraum ist.Zweiter Punkt. Wir haben uns bei der Beratung des Dreizehnten Kriegsopfergesetzes im Ausschuß darüber unterhalten und Einvernehmen erzielt, daß die Frage Trennung von Kriegsopferfürsorge- und Bundessozialhilfegesetz zur Diskussion gestellt werden soll. Wir halten an dieser Meinung fest. Wir weisen aber darauf hin, daß die Leitlinie für unser Handeln der Bundeshaushalt bleibt. Aus dem Bundeshaushalt kommen ja 80 % der Leistungen zur Kriegsopferfürsorge, 20 % zahlen die Länder.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube, daß die Entscheidung der Koalition vor wenigen Wochen, nämlich den Krankenversicherungsbeitrag der Rentner nicht um 2,0 %, sondern nur um 1,5 % anzuheben, sich auch zum Vorteil der Kriegsopfer ausgewirkt hat.
— Wenn Sie von der Lohnsteigerung von 3,2 % ausgehen und den Krankenversicherungsbeitrag von 1,5 % abziehen, dann kommen Sie auf eine Steigerung von 1,5 %. Kalkuliert man eine Inflationsrate von 2 % ein, kommt man zu einem Verlust von 0,5 %, wohingegen das zu Ihren Zeiten zwischen 2 % und 3 % gewesen sind.
— Ja, selbstverständlich, weil damals die 2 % vorgesehen waren. Ich habe gerade gesagt, daß die Koalition das vor wenigen Wochen beschlossen hat.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ein Gesetzgebungsverfahren ist auch dazu da, daß man imLaufe des Verfahrens Änderungsanträge einbringt.
— Ich hoffe, daß Sie wenigstens hier zustimmen werden. Das ist doch eine Verbesserung für die Rentner und für die Kriegsopfer. Ich hoffe, daß das ein einstimmiger Beschluß wird.Der nächste Punkt, den ich ansprechen möchte — meine Redezeit neigt sich dem Ende zu —, ist, daß auch die Stabilitätspolitik eine entscheidende Hilfe und eine Verbesserung für die Kriegsopfer darstellt.
Ich meine sehr viel Verständnis für Leute der Opposition aufbringen zu können, die eine Regierung beschimpfen. Ich habe 15 Jahre Politik auf dem Buckel, davon 13 Jahre in der Opposition. Ich kann das also sehr gut nachfühlen. Nur, ich muß Ihnen sagen, Sie sollten Ihre Leistungen und Minderleistungen, auch große Leistungen aus dieser Zeit nicht vergessen; denn wenn Sie heute beklagen, was wir alles nicht tun können, so waren Sie — ich will es vorsichtig formulieren — nicht ganz unschuldig daran, daß wir heute im Bundeshaushalt fast 30 Milliarden DM an Zinsen zahlen. Die Zinsen bekommen nicht die Kriegsopfer, die bekommen diejenigen, die die Schuldscheine des Bundes gekauft haben, das sind weder Kriegsopfer noch Rentner.
Das ist die Auswirkung Ihrer Politik.
Sie können nicht uns die leere Kasse hinterlassen
und sich nachher hinstellen und sagen: Warum gebt ihr da nicht mehr aus?
Wir sind bereit, mit Ihnen bei den Beratungen im Ausschuß offen und ehrlich darüber zu diskutieren. Ich möchte auch nicht der Anhörung vorgreifen, die wir beschließen werden. Aber ich glaube, die Regierung hat hier kein schlechtes Werk vorgelegt, sondern das ist im Rahmen des Möglichen das Optimale, das wir für die Kriegsopfer leisten können.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Potthast.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Schülerinnen und Schüler aus Bochum! Liebe Besucherinnen und Besucher aus Gelsenkirchen! Meine Fraktion nimmt heute zum erstenmal an einer Debatte über die Anpassung der Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz, in diesem Fall der Kriegsopferversorgung, teil; zum einen, weil wir der Auffassung waren, daß die zu kritisierende Anhebung um knapp
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Frau Potthast1 % genauso wie die entsprechende Anhebung der Leistungen in der gesetzlichen Rentenversicherung einfach nur lächerlich ist und selbstverständlich einen Realeinkommensverlust zur Folge haben wird, legt man die Preissteigerungsrate von voraussichtlich 2,5% als Maßstab zugrunde.Das heißt, was für die Rentenanpassung in der gesetzlichen Rentenversicherung gilt, gilt in ähnlicher Weise für die Kriegsopferversorgung. Diejenigen, die ohnehin die niedrigsten Renten beziehen, bekommen auch nach der Anpassung am wenigsten, während diejenigen, die die höchsten Renten beziehen, auch weiterhin am meisten bekommen werden. Die Einkommensschere wird weiter auseinandergetrieben. Die Anpassung ist ein Hohn für die Betroffenen. Mit anderen Worten: Die Kriegsopfer werden genauso wie die Normalrentner und -rentnerinnen in die höchst unsoziale Kürzungspolitik der Regierungskoalition mit einbezogen.
Um uns also nicht ständig, wenngleich es hier j a echt parlamentarischer Brauch ist, zu wiederholen, haben wir bislang auf einen Debattenbeitrag zur Anpassung der Kriegsopferversorgung verzichtet.Darüber hinaus waren wir aber der Meinung, daß die Anhebung der Versorgungsleistungen für Kriegsopfer überhaupt kein Thema für Sozialpolitiker sein sollte, und haben schon bei den Haushaltsberatungen 1983 den Antrag gestellt, den Haushaltstitel „Kriegsopferversorgung und gleichartige Leistungen" aus dem Einzelplan 11, dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung, herauszunehmen und in den Einzelplan 14 einzugliedern, d. h. der Zuständigkeit des Bundesministers für Verteidigung zu unterstellen.
Wir waren nämlich der Auffassung, daß die Kriegsfolgelasten in dem für Kriegsführung zuständigen Ressort, d. h. im Verteidigungsressort angesiedelt werden sollten; denn für die Leiden der Kriegsopfer waren bislang immer Regierungsentscheidungen verantwortlich. Deshalb müssen auch die zuständigen Ressorts versuchen, diese entsetzlichen Leiden auszugleichen.Wir verknüpfen das mit der Hoffnung, daß angesichts der immer noch andauernden Leiden der Kriegsopfer die Verantwortlichen in der Regierung für die Zukunft lernen würden. Wenn Sie also schon das Kausalitätsprinzip in der Sozialversicherung favorisieren, dann sollten Sie es wenigstens konsequent anwenden. Falls Sie aber, wie wir, dem Finalitätsprinzip den Vorrang geben, dann müßten Sie konsequenterweise für alle einheitliche Sozialversicherungskriterien und angemessene Leistungen befürworten. Denn ob ein Mensch seine beiden Beine im Krieg oder während der Arbeitszeit oder bei einem Autounfall verloren hat, eine Katastrophe ist es für diesen Menschen allemal. Das heißt, jede Person, die körperlichen Schaden erlitten hat, muß unabhängig von der Ursache in die Lage versetzt werden, ihr Leben in Würde zu verbringen.
Durch die NS-Diktatur und durch die Kriege ist den Menschen ein unermeßlicher Schaden zugefügt worden. Nach 1945 ist auf verschiedene Weise versucht worden, diesen Schaden zumindest ansatzweise auch materiell auszugleichen und wiedergutzumachen. 40 Jahre nach der Befreiung kann jedoch immer noch eine ideologische Kontinuität aufgezeigt werden, die mich persönlich erschreckt, eine Ideologie, die davon ausgeht, daß sogenannte Verdienste für die Volksgemeinschaft erworben worden sind.Und Herr Louven von der CDU-Fraktion wies im letzten Jahr darauf hin, daß die alljährliche Vorlage des Anpassungsgesetzes den Kriegsopfern die Gewißheit geben soll, daß ihre Opfer nicht vergessen sind. Mal abgesehen davon, daß Ihre Würdigung der Opfer, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, konkret Beträge von 2 DM bis 9 DM ausmacht — und ich glaube, daß die Kriegsopfer diese Würdigung richtig einzuschätzen wissen, wenn sie diese paar Märker mit den Summen von ca. 600 DM vergleichen, die sich die Damen und Herren Abgeordneten der etablierten Parteien in den letzten beiden Jahren zusätzlich in die eigene Tasche gesteckt haben —, finde ich es problematisch, wenn die besondere Verantwortung gegenüber den Kriegsopfern betont wird, wie es auch heute wieder geschehen ist. Ich bin nämlich der Auffassung, daß allen Menschen, die Opfer von Gewaltverhältnissen geworden sind, eine besondere Verantwortung seitens des Sozialstaates und seiner Politiker und Politikerinnen zukommen muß.
Wenn Sie hier die besondere Verantwortung gegenüber Kriegsopfern betonen, sehe ich das in der mir sehr bedenklich erscheinenden Kontinuität einer Ideologie, die ihren Ausdruck in der gängigen Wiedergutmachungspraxis findet. Während auf der materiellen Ebene ungeheure Mittel für den Lastenausgleich und die Kriegsopferversorgung ausgegeben werden — zum Großteil —, zu Recht erhalten die Opfer der NS-Diktatur verhältnismäßig wenig. Diejenigen, die von den Nationalsozialisten verfolgt und mißhandelt worden sind, sind erheblich schlechter gestellt als diejenigen, die als Kriegsopfer anerkannt wurden. Die Benachteiligung von Opfern des Naziregimes kann an Zynismus jedoch durch die Privilegierung von NS-Richtern und anderen Helfern der NS-Diktatur kaum überboten werden.Im Einzelfall sieht das nämlich so aus: Der bis zum Kriegsende als Vorsitzender des NS-Sondergerichts beim Landgericht Prag amtierende Dr. Kurt Bellmann wurde nach dem Krieg in Prag wegen 127 Todesurteilen gegen tschechische Bürger zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt. Nachdem er 1955 als sogenannter Nichtamnestierter den Behörden der Bundesrepublik übergeben worden war, wurde zwar ein Ermittlungsverfahren gegen ihn eröffnet, doch wurde es bald wieder eingestellt. Bellmann wurde in Ruhestand geschickt. Pension: 3 000 DM monatlich, damals.Anders der Fall des Hamburger Antifaschisten Georg Lehner: 13 Jahre verbrachte er in Gefängnis-
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Frau Potthastsen und Konzentrationslagern, bis er sie 1945 als schwerkranker Mann verlassen konnte. Sämtliche Anträge auf Wiedergutmachung und auf Entschädigung für die Zerstörung seiner Gesundheit wurden in mehreren Instanzen abgelehnt. Seinen Lebensunterhalt mußte er daraufhin als Sozialhilfeempfänger bestreiten. Anstatt hier und heute also über eine lächerliche Erhöhung der Kriegsopferversorgung zu debattieren, über eine Erhöhung, die angesichts der tiefgreifenden körperlichen und seelischen Verstümmelungen sowieso ein Hohn ist, sollten Sie sich Gedanken darüber machen, wie Sie mit 40 Jahren Verspätung den bislang von einer Wiedergutmachungsleistung ausgeschlossenen Opfern des Naziterrors eine angemessene Entschädigung zukommen lassen können.Danke.
Das Wort hat die Frau Abgeordnete Dr. Adam-Schwaetzer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Potthast, was Sie gerade gemacht haben, ist offensichtlich ganz typisch für den Stil der GRÜNEN, der hier gepflegt wird: Irrtümer der Demokratie so aufzuspießen, daß damit das gesamte demokratische System in Frage gestellt wird. Das hilft uns nicht weiter.
Demokratische Systeme irren. Und ich sage: Ich bin froh, daß sie irren; denn die Alternativen dazu wären schrecklich für die Freiheit.
Meine Damen und Herren, das vorliegende Gesetz zur Anpassung der Kriegsopferbezüge kann man sicherlich kritisch betrachten, wenn man es für sich isoliert nimmt. Ich denke aber, daß wir hier noch einmal herausstellen sollten, welche Vorteile darin liegen, daß die Kriegsopferversorgung in den 70er Jahren wie auch die Anpassungssätze in anderen Versorgungssystemen nun parallel zueinander angehoben werden. Frau Steinhauer, Sie haben j a trefflich gegen den Regierungsentwurf polemisiert, aber aus Ihrer Rede ist nicht ganz klargeworden, was Sie eigentlich wollen.
Wollen Sie, daß die dynamische Anpassung wieder aufgehoben wird, wollen Sie, daß wie in der Vergangenheit jedesmal ein großes Tauziehen darum ansetzt, in welcher Weise und wie hoch die Bezüge der Kriegsopfer überhaupt angepaßt werden sollen, oder halten Sie es nach wie vor für richtig, was wir gemeinsam beschlossen haben, daß hier eine Parallelität der Anhebung in allen Versorgungssystemen gegeben sein soll und daß damit auch eine kontinuierliche Dynamisierung verbunden ist?
Nun kann man es bedauern — wir tun es auch —, daß die Anpassungssätze derzeit relativ niedrig sind.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Buschfort?
Ja, bitte.
Frau Adam-Schwaetzer, sehen Sie nicht auch, daß wir zwar die gemeinsame Anpassung beschlossen haben, aber daß der spätere Eingriff, den Sie ganz allein zu vertreten haben, nämlich daß die Berechnungsgrundlage durch die Aktualisierung erheblich beeinträchtigt worden ist, nicht von uns, sondern von der Regierungskoalition zu vertreten ist und daß allein dadurch in diesem Jahr die Anpassung bei den Kriegsopfern um 2 % niedriger liegt?
Herr Kollege Buschfort, eine solche Möglichkeit lag natürlich schon darin begründet, daß die Parallelität der Anpassung in den einzelnen Versorgungssystemen damals von uns gemeinsam beschlossen worden ist. Deshalb stelle ich Ihnen die Frage: Wollen Sie das in Frage stellen, wollen Sie wieder zu dem System zurückkehren, wie es früher gewesen ist, was dann aber beinhaltet, daß jedesmal von neuem die Diskussion darüber geführt werden muß, wie hoch in den einzelnen Systemen angepaßt wird?
Wir wollen bei dem System bleiben, das wir damals gemeinsam mit Ihnen beschlossen haben.
Meine Damen und Herren, im Bericht zur Anpassung der Kriegsopferversorgung, den wir 1984 hier verabschiedet haben, hat es den Auftrag gegeben, zu prüfen, ob eventuell eine Abkopplung der Kriegsopferversorgung von der Sozialhilfe gerechtfertigt wäre. Wir werden dieser Frage bei den Beratungen des Gesetzes sorgfältig nachgehen, und wir müssen dann in diesem Jahr auch entscheiden, was wir damit tun.Wir haben darüber hinaus 1984 einen Entschließungsantrag verabschiedet, übrigens auf Anregung der SPD, zu prüfen, ob die Versorgung vor allen Dingen der älter gewordenen Kriegsopfer mit technisch-wissenschaftlichen Hilfsmitteln ausreichend ist. Ich bin eigentlich froh, sagen zu können, daß im vergangenen Jahr in fast allen Bereichen Vereinbarungen abgeschlossen werden konnten, die sicherstellen, daß diese Frage für die älteren Kriegsopfer zufriedenstellend geregelt ist. Dies zeigt, denke ich, einmal mehr, daß nicht immer sofort gesetzliche Regelungen getroffen werden müssen, sondern daß es wichtig ist, auch als Gesetzgeber Aufforderungen an die handelnden Gruppen und Personen auszu-
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Frau Dr. Adam-Schwaetzersprechen. Wie wir gesehen haben, ist im vergangenen Jahr dieser Aufforderung auch Folge geleistet worden. Das begrüßen wir ausdrücklich.Der Bundesrat hat zum vorliegenden Gesetzentwurf eine ganze Reihe von Anregungen gegeben. Diese Anregungen sind bisher noch nicht in ihren finanziellen Auswirkungen beziffert worden. Wir werden auch das im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens noch zu beraten haben, und wir werden sehr sorgfältig prüfen, wo durch den Ablauf der Zeit Anpassungen von Leistungen notwendig sind, die im Einzelfall gewährt werden, wie es z. B. bei der Hilfe zur Bestattung der Fall ist. Wir werden prüfen, was notwendig ist, um auch die Kriegsopferversorgung den gewandelten Bedürfnissen in diesen Punkten anzupassen.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 10/2882 zu überweisen zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung und zur Mitarbeitung an den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit sowie zur Mitberatung und zur Beratung gemäß § 96 unserer Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuß. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Finanzgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung
— Drucksache 10/2889 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft und Sozialordnung
Ausschuß für Wirtschaft
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Ich eröffne die allgemeine Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete George.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Der heutigen ersten Beratung des von der Bundestagsfraktion der CDU/ CSU und der FDP vorgelegten Gesetzentwurfes zur „Stärkung der Finanzgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung" möchte ich gerne vier Bemerkungen vorausschicken.Erstens. In der Verantwortung gegenüber den Rentnern, den Beitragszahlern und unserem Rentenversicherungssystem nützt uns Vergangenheitsbewältigung wenig.
Statt Parteienstreit und Rentnerverunsicherung zu betreiben, sollten wir alle — mit dem Blick nach vorne — die rapide wachsenden Probleme in parteienübergreifender sozialpolitischer Kooperation, die Ihnen hiermit angeboten wird, so schnell wie möglich meistern.
Zweitens. Die Renten sind und bleiben sicher! Darauf können sich die Rentner heute, morgen und übermorgen verlassen.
Drittens. Die Rentenfinanzen werden mit dem heute vorgelegten Gesetzentwurf mittelfristig gesichert. Für die nächsten Jahre ist damit das schwer belastete Rentenschiff — ich rede gar nicht darüber, wer die Lasten in dieses Rentenschiff hineingesteckt hat — wieder auf solidem Kurs.Viertens. Die Strukturreform der Rentenversicherung, also eine langfristige „systemimmanente Reform an Haupt und Gliedern", ist unumgänglich. Aber wir sollten uns hierfür genügend Überlegungs- und Beratungszeit lassen.
Die „Rente 2000 oder 2035" läßt sich nicht übers Knie brechen. Die Entscheidungen zum heutigen Gesetz schaffen uns den notwendigen Zeitraum bis 1988/89.Meine Damen, meine Herren, mancher sieht das Heil in der sofortigen Anwendung einer — wie auch immer strukturierten — demographischen Rentenformel. Dem muß gesagt werden: Die aktuellen Probleme lassen sich auch mit einer neuen Rentenformel — selbst wenn wir sie heute beschließen würden — nicht erledigen.
Nun zum Gesetzvorhaben selbst. Das neue Rentenversicherungs-Finanzierungsgesetz soll sicherstellen, daß im mittelfristigen Zeitraum, d. h. von 1985 bis 1989, die Rentenfinanzen gesichert sind. Den Regierungsparteien ist bewußt, daß die bisherigen Schritte zur Sanierung der Rentenfinanzen, wie sie durch das Haushaltsbegleitgesetz 1983, das Haushaltsbegleitgesetz 1984, den Bundeshaushalt 1984 und das Arbeitsförderungs- und Rentenversicherungsänderungsgesetz erfolgt sind, sich als nicht ausreichend erwiesen haben. In dem Bemühen, die Belastung der Versicherten und ihrer Arbeitgeber möglichst gering zu halten, den Rentnern möglichst geringe Sanierungsopfer abzuverlangen und den überlasteten Bundeshaushalt möglichst zu schonen, waren die bisherigen Maßnahmen zur Sanierung und Konsolidierung — ich gebe das offen zu — unterdosiert.
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Deshalb ist das heute hier zu beratende Gesetz erforderlich. Diese Erkenntnis ist schmerzhaft. Aber wir haben uns nicht vor den Konsequenzen gedrückt, sondern schnell — schneller, als Sie dachten — und richtig gehandelt.
Dies allein zeigt schon, wie konsequent wir uns der Verantwortung stellen.Warum müssen wir handeln? Die Schwankungsreserve beider Rentenversicherungszweige lag am Ende des Jahres 1984 um rund 800 Millionen DM unter dem Betrag für eine Monatsausgabe zu Lasten der Rentenversicherungsträger, die im Kalenderjahr 1984 bei 10,6 Milliarden DM lag. In Prozenten heißt das, daß die Schwankungsreserve mit 0,9 Monatsausgaben um ein Zehntel unter der gesetzlich vorgeschriebenen Mindestschwankungsreserve liegt.
Insgesamt gesehen, lag also die Schwankungsreserve um 1,8 Milliarden DM unter der mit den Rentenversicherungsträgern vor noch nicht allzu langer Zeit abgestimmten letzten Schätzung für 1984. Sie sehen: Wir stellen uns auch dem gesetzlichen Gebot, und wir handeln.
Wo liegen die Ursachen? Ein riesiges Loch riß die über alle Erwartung in Anspruch genommene Rückkehrförderung. So positiv sie sich auf dem Arbeitsmarkt ausgewirkt hat, so negative Folgen hatte sie auf die Finanzen der Rentenversicherung. Statt der vorgesehenen 690 Millionen DM Mehrausgaben für 50 000 geschätzte Rückkehrfälle sind insgesamt 2,7 Milliarden DM — davon allein 900 Millionen DM im Jahre 1984 — für über 150 000 Rückkehrfälle angefallen.Ein weiteres Loch in den Rentenfinanzen entstand durch Beitragsmindereinnahmen infolge verringerter Lohnsteigerungen in Höhe von 1,2 Milliarden DM. Entgegen den geschätzten Lohnannahmen haben viele Tarifpartner mit der 35-Stunden-Woche-Strategie der Gewerkschaften „Lohnzuwächse in Zeitzuwächse" umgewandelt. Bisher haben wir noch keine Formel erfunden, wie auch von Freizeit Rentenversicherungsbeiträge gezahlt werden können.
— Herr Ehrenberg, bei einer Gesetzeseinführung haben wir den alten Brauch, keine Zwischenfragen zuzulassen. Ich kenne Ihre Schlagfertigkeit; Sie kennen meine Schlagfertigkeit.
Auch die ökonomischen und finanziellen Folgen der Frühjahrsstreikwelle haben eine nicht unerhebliche Rolle gespielt.Abzüglich der Einsparungen bei Reha-Maßnahmen von rund 300 Millionen DM — Sie sehen, wir legen Zahl für Zahl auf den Tisch — ergibt sich also ein Minussaldo für 1984 von insgesamt 1,8 Milliarden DM bei den Rentenversicherungsträgern.Aus dieser Finanzentwicklung in 1984 und der voraussichtlichen Entwicklung in 1985 ergibt sich der heutige gesetzliche Handlungsbedarf.
— Also „Rentenoffenbarungseidgesetz", Frau Fuchs, das hätten Ihre Arbeitsminister seit 1976 bei all Ihren Maßnahmen sagen müssen.
Was schlagen wir zur Lösung dieser Probleme vor?
Zuerst einmal — gut zuhören auf dieser Seite des Hauses, aber auch bei den Arbeitgebern draußen im Lande —: Wir sind zwei Versuchungen nicht erlegen, nämlich zum einen der Versuchung, einfach nur den Bundeszuschuß zu erhöhen. Das würde pro Jahr über 3,5 Milliarden DM kosten, und die kann der Herr Bundesfinanzminister bei dem Schuldengebirge, das er von Herrn Lahnstein übernommen hat,
und bei den Zinslasten, die Ihre Regierungszeit uns,
den Arbeitnehmern und der ganzen Bevölkerung aufgebürdet hat, beim besten Willen nicht herbeizaubern.
Wir sind auch nicht der Versuchung erlegen, unser Prinzip der Lohnersatzfunktion aufzugeben und wieder zum alten Prinzip der 70-, der 75- oder gar der 100prozentigen Beitragszahlung der Bundesanstalt für Arbeit an die Rentenversicherungsträger zurückzukehren.
— Ganz richtig, Herr Ehrenberg! Nur: ein bißchen weiter blicken! Mein nächster Satz heißt: Am Ende dieser Finanzierungsschlange stünde nämlich wieder der Bundesfinanzminister
oder ständen gar, wie es auch Sie vorgesehen haben — 70 %, 75 % damals — die Arbeitslosen mit niedrigeren Leistungsansprüchen.
Das sollten Sie auch wissen.In konsequenter Fortsetzung unseres eingeleiteten Sanierungs-, Konsolidierungs- und teilweise
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Dr. Georgeschon begonnenen Reformkurses schlagen wir daher vier Maßnahmen vor — ich komme zur Begründung —:Erstens. Für die Zeit vom 1. Juni 1985 bis 31. Dezember 1986 erhöhen wir den Beitragssatz zur Rentenversicherung von derzeit 18,7 % um 0,5 % auf 19,2 %. Diese — ich betone ausdrücklich: zeitlich befristete — Beitragssatzerhöhung bringt — ich verweise dabei auf den finanziellen Teil des Gesetzes — den Rentenversicherungsträgern insgesamt 6 Milliarden DM an Mehreinnahmen.Zweitens. Für denselben Zeitraum, also ebenfalls befristet, senken wir den Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung von derzeit 4,4 % um 0,3 % auf 4,1 %. Diese Maßnahme führt bei der Bundesanstalt für Arbeit zu Mindereinnahmen von insgesamt 3,2 Milliarden DM, die aber durch die Rücklagen der Bundesanstalt für Arbeit gedeckt sind.
Zugegeben, die Rechnung geht gerade so auf! Gesichert bleibt jedenfalls, daß die Bundesanstalt aus diesem Grunde ihre Leistungen weder zurückfahren noch strecken muß.Beide Maßnahmen zusammen, also Beitragssatzanhebung in der Rentenversicherung und Beitragssatzabsenkung in der Arbeitslosenversicherung
belasten im Saldo die Beitragszahler und die Arbeitgeber mit je 0,1 %. Das sind im Durchschnitt —das sei vor allem draußen sichtbar gemacht —3 DM pro Monat je versicherten Arbeitnehmer, im höchsten Falle 5,40 DM. Zugegeben, damit steigt die Lohnbelastung, und damit sinkt um denselben Betrag das Verfügungseinkommen der Arbeitnehmer!
Aber in dieser relativ geringen Höhe, Herr Buschfort, und für die Laufzeit von 19 Monaten
— lassen Sie mich doch zu Ende reden. Sie haben ja nachher zwei Redner, die auf mich draufschlagen können — ist diese Belastung ein zumutbares Opfer der Aktiven in der Generationensolidarität für die Rentner.Als dritte Maßnahme — das ist die berechtigte Kehrseite der Generationensolidarität — wird der Krankenversicherungsbeitrag der Rentner ab 1. Juli 1986 um 0,7 % auf 5,2 % und ab 1. Juli 1987 um weitere 0,7 % auf 5,9 % erhöht. Mit dieser Maßnahme werden die Rentenversicherungsträger einschließlichlich der Knappschaft per saldo um 3,4 Milliarden DM entlastet. Ab Juli 1987 wären damit die Rentner zur Hälfte an der Beitragslast der Rentenversicherungsträger an die Krankenversicherungsträger, die ja insgesamt 11,8 % beträgt, beteiligt. Das entspricht dem Belastungsquotienten derArbeitnehmer und ist rechtssystematisch und sozialpolitisch gerechtfertigt.Dabei — das sei ohne irgendeinen Vorbehalt gesagt — muß darauf hingewiesen werden, daß die Rentner mit ihrem Beitrag sowie dem Beitrag der Rentenversicherungsträger weit weniger als die Hälfte der von ihnen verursachten Kosten im Gesundheitswesen bezahlen.
Ordnungspolitisch muß man feststellen: Die Arbeitnehmer tragen also auch hier — im Solidaritätsverbund — nach wie vor den größeren Kostenanteil für die Krankenversicherung der Rentner.
— Ich habe doch gesagt: ohne jeden Vorbehalt. Aber in der Gesamtrechnung muß man das doch sehen.
Die vierte Maßnahme besteht darin, daß der Bund mit einem zusätzlichen Zuschuß in Höhe von bis zu 1,5 Milliarden DM im Jahr 1985 den Trägern der Rentenversicherung zur Seite steht. Das beweist überdeutlich, wie sehr sich auch der Bund und der Bundesfinanzminister in der Pflicht für Rentner und für die Rentenversicherung sehen.Rundum, meine Damen, meine Herren: Wir haben schnell gehandelt. Wir haben richtig gehandelt. Wir haben die Lasten sozialpolitisch gerecht verteilt. Wir haben die Rentenfinanzen mittelfristig gesichert. Und es gilt, was ich eingangs gesagt habe: Die Rente ist und bleibt sicher.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Glombig, oder bleibt es bei Ihrer Festlegung von vorhin?
Ich habe den größten Respekt vor Herrn Glombig.
Aber ich habe an Herrn Glombig auch die Bitte, daß er bei einer Einbringungsrede den Brauch des Hauses nicht stört. Herr Glombig, wenn am Ende Zeit bleibt, gerne. — Meine Damen und meine Herren von der Opposition, ich habe ja Verständnis dafür, daß Sie aus Ihrer Rolle heraus Kritik an der Rentenpolitik der Bundesregierung üben und besonders kritisieren, daß wieder ein neues Gesetz
zur Stärkung der Finanzgrundlagen notwendig ist. Sie werden nachher ja auch das Verleumdungswort bringen, was Sie, Frau Fuchs, ja auch schon genannt haben. Aber da die SPD-Arbeitsminister von
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Dr. George1977 bis 1982 in jedem Jahr ein Sanierungsgesetz mit erheblichen Opfern
für Versicherte und Rentner verordnen mußten--
Meine Damen und Herren, ich bitte, mit Zurufen etwas zurückhaltender zu sein.
— — und zudem die eigentlichen Verursacher der Rentenmisere sind,
sollten Sie bei der Kritik etwas zurückhaltender sein. Sie haben durch Ihre verfehlte Wirtschafts-, Finanz-, Sozial- und durch Ihre Gesellschaftspolitik
diese Situation in der Bundesrepublik Deutschland herbeigeführt.
Ich habe doch darum gebeten, daß wir nach Möglichkeit versuchen sollten, nicht Vergangenheitsbewältigung zu betreiben. Aber dort, wo es denn schon fällig ist,
muß man das sagen.Sie haben dazu beigetragen, daß die ständig wachsenden Finanz- und Liquiditätsschwierigkeiten der Rentenversicherung und der anderen Sozialversicherungsinstitutionen das Dilemma herbeigeführt haben. Sie sind damit — hören Sie einmal gut zu, Herr Ehrenberg — für die Notwendigkeit von Sanierungsgesetzen nicht nur mitverantwortlich, sondern Sie sind Hauptverursacher.
Wer im Glashaus sitzt, sollte aber möglichst nichtmit Steinen werfen. Schon gar nicht sollten Sie unsvorwerfen, daß „Renten auf Pump" gezahlt werden,
oder gar polemisieren, wie Sie das in dem berüchtigten Hessenplakat, das jetzt im Umlauf ist, tun.
Nachdem Sie bei der Bundestagswahl versucht haben, mit dem Slogan „Laßt die ,Wende' wackeln" Erfolg zu haben — eine schöne Apostrophierung -, für Sie aber nichts gewackelt hat, sondern später auch Hessen nur noch grüner, nur noch unregierbarer geworden ist,
wagen Sie es jetzt, in dem Hessenplakat zu sagen: „Jetzt wackeln auch noch die Renten";
„das ist CDU-Politik. Die Rentner sind in Sorge: Bricht das Rentensystem zusammen? Es geht viel schlechter als jemals zuvor."
Aber vielleicht hängt das mit Herrn Börner zusammen,
der vor einer Wahl falsche Angaben macht — in welcher Richtung auch immer — und nach einer Wahl etwas ganz anderes tut.
Ich stimme mit Ihnen und allen Kritikern der Entwicklung darin überein, daß an der Rentenfront Ruhe eintreten muß.
Die Verunsicherung der Rentner, die herbeizuführen Sie hier in Hessen wieder versucht haben — wenn ich mich recht entsinne, haben Sie das auch einmal vor einem Landtagswahlkampf in Nordrhein-Westfalen getan —,
ist inzwischen infolge der jährlichen Änderung der Rentengesetze, aber mehr noch infolge der Diskussion über die Situation der Rentner stark gestiegen. Die Verunsicherung ist meines Erachtens inzwischen unerträglich.
Wir sollten wirklich alles tun, um das Vertrauen in unser Rentensystem wieder zu stärken. Insbesondere sollten wir gemeinsam, und zwar über die Parteigrenzen hinweg, den Rentnern das Gefühl geben, daß die Renten pünktlich gezahlt werden.
und — abseits jeder Diskussion im politischen Bereich über die Finanzierung der Renten — sicher sind.
Ich bin überzeugt, daß mit diesem Gesetz — trotz aller Unkenrufe —, insbesondere wegen unserer vorsichtigen Lohnannahmen — Sie kennen den Streit, den wir in uns selber austragen mußten —, zumindest für einige Jahre Ruhe an der Renten-
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Dr. Georgefront oder — besser — an der Front der Finanzierung der Renten gewährleistet ist. Die Gewohnheit und Notwendigkeit jährlicher Sanierungsgesetze dürften nach Verabschiedung dieses Gesetzes durchbrochen werden.
Ich sage auch an beide Sozialpartner, daß sie einen wesentlichen Beitrag dazu leisten können, daß Ruhe an der Rentenfront einkehrt. Überstürzte Arbeitszeitverkürzungsprogramme mit entsprechenden Absenkungen der Barlohnentwicklung treffen die Rentner besonders hart und zeugen wenig von Solidarität mit ehemaligen Kollegen.Lassen Sie mich noch einige Gedanken zur notwendigen Strukturreformpolitik auf dem Gebiet der gesetzlichen Rentenversicherung vortragen. Die Notwendigkeit einer Strukturreformpolitik ergab sich schon vor Ihrer Zeit, Herr Ehrenberg. Ich möchte drei Gründe anführen.Einmal sind es demographische Ursachen. Der Pillenknick verschiebt zunehmend das Verhältnis von Beitragszahlern zu Rentenempfängern zu Lasten der Aktiven. Die längere Lebenserwartung der Bevölkerung führt zur Verlängerung des Rentenbezugszeitraums.Zum anderen ist es der ökonomische Strukturwandel. Die Arbeitslosigkeit wird nur langsam zurückgehen. Der Geburtenberg der 60er Jahre drängt zusätzlich in das Arbeitsleben. Die Arbeitszeit — vor allem die Lebensarbeitszeit — wird ständig kürzer.Als Drittes nenne ich den Finanzierungsdruck. Die Kassen der an der Sozialversicherung Beteiligten sind schwer belastet. Die Bundeskasse ist noch lange relativ leer. Die Kassen der Sozialversicherungsträger — dazu könnte ich jetzt einiges sagen — sind auch nicht gerade übervoll. Die Abgabenlast der Bürger kann nicht noch weiter strapaziert werden.
Wir müssen also unser Rentenversicherungssystem „langfristig wetterfest" machen. Das geht aber nur mit einer „Reform an Haupt und Gliedern". Damit ich nicht mißverstanden werde: Der Kernbestand und die Systemstruktur der lohnbezogenen dynamischen Rente dürfen nicht angetastet werden.
Es ist aber völlig unnötig, die Bevölkerung — insbesondere Rentner und Versicherte — dadurch zu verunsichern, daß aus den verschiedensten Richtungen Reformvorschläge gemacht werden, die zur Zeit überhaupt noch nicht umsetzbar und politisch und rechnerisch auch noch nicht so abgesichert sind, daß sie ernsthaft in die Diskussion um Strukturreformmaßnahmen einbezogen werden könnten.Was auch immer gestern bei dem Hearing herausgekommen ist: Alle Sachverständigen haben eindrucksvoll aufgezeigt, daß wir uns für die Strukturreform Zeit lassen müssen, nicht nur Zeit lassen sollen.
Ich kann daher nur vor Strukturreformdiskussionen zum jetzigen Zeitpunkt warnen. Umsetzbare Konzepte liegen nicht vor. Wir müssen uns hierfür zwei, drei Jahre Zeit nehmen. Mit dem heute eingeführten Gesetzentwurf haben wir diesen Zeitbedarf zusätzlich abgesichert.Meine Damen, meine Herren, ich will die Zukunftsprobleme der Rentenversicherung nicht herunterspielen, aber ich möchte sie relativieren. Panikmache ist unangebracht.
Übereilte Strukturreformmaßnahmen zwingen uns voraussichtlich später zu Korrekturen. Wir sollten — das ist auch für Sie ein wichtiger Satz — die Strukturreform in der nächsten Legislaturperiode als eine der Hauptaufgaben ansehen und lösen. Wir sollten inzwischen in Ruhe in den Fachgremien diskutieren. Den Versicherten und Rentnern ist mit unausgewogenen Ideen, insbesondere mit Ihrem Papier, und deren öffentlicher Diskussion nicht gedient. Sie stört auch die Fachdiskussion.Lassen Sie mich noch ein Wort zu Ihrem Rentenreformgesetz sagen.
Ich habe für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion in einer Presseerklärung vom 12. Dezember 1984 viel Positives dazu gesagt, was die Langfristigkeit angeht. Ich habe vieles gesagt, was wir auf jeden Fall nicht mitmachen können. Wir haben im Grunde genommen die Hand zu einer gemeinsamen Kooperation an Sie ausgestreckt.Soweit, so gut. Nur: Sie verfrühstücken mit Ihrem Gesetzentwurf große Teile der Strukturreform — die ohnehin übereilt ist — allein zur Finanzierung Ihres Teilhabemodells.
Dadurch haben Sie dann, wenn es wirklich darauf ankommt, nichts mehr zu bieten.
Es muß doch auch bei Ihnen gelten: Eine langfristige Sicherung der Renten ist die Aufgabe der Strukturreform. Sie kann erst nach der Sanierungs- und Konsolidierungsphase erfolgen. Die bittere Vergangenheit lehrt uns: Wir sollten nicht überreagieren! Wir dürfen beispielsweise nicht noch einmal den Fehler begehen, den der Gesetzgeber 1972 gemacht hat.
Damals hat er sich „reichgerechnet" und entsprechende Leistungsverbesserungen eingeführt. Heute darf man nicht den Fehler machen, sich auf Grund der gegenwärtigen Situation und deren Fortschrei-
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Dr. Georgebung in die Zukunft „armzurechnen". Eine Übersanierung, eine übereilte Sanierung der Rentenversicherung ist ebenso von Übel wie überzogene Leistungsverbesserungen.Meine Damen, meine Herren, ich appelliere an Sie — auch an all die GRÜNEN, die nicht hier sind —, gehen Sie mit uns auf den gemeinsamen Kurs, der da heißt: langfristige Sicherung der Renten und der Rentenfinanzen morgen, also Strukturreform in der nächsten Legislaturperiode; mittelfristige Sicherung der Rentenfinanzen heute.
Ich bitte um Zustimmung zu unserem Gesetzentwurf.
Das Wort hat der Abgeordnete Lutz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr George hat in warmen Worten um Gemeinsamkeit gebeten.
Die kann er haben, falls er bereit ist, die Probleme der Rentenversicherung jetzt zu lösen.
Damit wir sie jetzt lösen können, haben wir einen sehr umfassenden Vorschlag erarbeitet,
und wenn der noch vervollständigt werden kann, sind Sie zur Mithilfe aufgerufen.
Nur, so geht es natürlich nicht: Sie können doch nicht von uns Gemeinsamkeit erwarten, wenn Sie schmerzhafte Wahrheiten zu Verleumdungen umzudeklarieren versuchen
und wenn Sie, wie gerade eben, heimlich wie der Dieb in der Nacht versuchen, Beitragsmanipulationen im Bereich der Renten- und der Arbeitslosenversicherung
über die Bühne zu bringen. Das ist keine Politik!
Sie wollten doch keinen Gesetzentwurf, und Sie hatten dazu auch allen Grund. Schließlich galt es zu vertuschen, daß es Ihnen in der kurzen Zeit Ihrer bisherigen Regierung gelungen ist, die Rentenversicherung zugrunde zu wirtschaften,
einen Nachkriegsrekord an Massenarbeitslosigkeit zu erreichen und der Armut in Deutschland eineneue Dimension zu verleihen.
Zwei Beitragssatzanhebungen innerhalb eines Jahres, ein ständiges Herummanipulieren an den Beiträgen der Rentner zur gesetzlichen Krankenversicherung
und das erste Rentenfinanzierungssicherungsgesetz, das erste Rentenoffenbarungseid-Gesetz, das erste „ROG", in Szene zu setzen, das macht Ihnen wirklich so leicht keiner nach!
Verständlich, daß Sie das nicht gerade in erster Lesung auf offener Bühne behandelt wissen wollten!Wir haben Ihnen klarmachen müssen, daß die Normen des Gesetzgebungsverfahrens auch für Sie gelten. Deshalb mußten Sie Ihr neuestes Bubenstück heute hier vortragen.
Meine Damen und Herren, was beinhaltet Ihr jetziger Konsolidierungsversuch, von dem man heute leider schon sagen muß, daß er sein Ziel haarscharf verfehlen wird? Erstens erhöhen Sie den Beitragssatz in der Rentenversicherung vom 1. Juni an — man beachte das unorthodoxe Datum — um einen halben Prozentpunkt. Angeblich soll das nur bis Ende 1986 gelten, aber Sie schwindeln sich in die eigene Tasche, wenn Sie glauben, dies und ein zusätzlicher Finanzierungszuschuß von 1 1/2 Milliarden reichten hin, um die Rentenversicherung aus den roten Zahlen zu bringen.
Zweitens. Der Arbeitslosenversicherung, die unter der Last der größten Massenarbeitslosigkeit seit Kriegsende ächzt, muten Sie eine Beitragssenkung von 0,3% zu. Genau 3,2 Milliarden DM werden so von der Bundesanstalt für Arbeit abgezogen. Sie machen Geld flüssig, das Sie zuvor durch beispiellose Leistungskürzungen zu Lasten der Arbeitslosen und ihrer Familien erwirtschaftet haben.
Sie bringen damit — das ist fast noch schlimmer — gleichzeitig diesen Zweig des sozialen Sicherungssystems gefährlich ins Schlingern.
Drittens. Den Rentnern, denen Sie gerade eben aus optischen Gründen einen geringeren Krankenversicherungsbeitrag als von Ihnen ursprünglich geplant abknöpfen, gehen Sie mit kräftigen Beitragserhöhungen 1986 und 1987 ans Leder. Dann wird der Rentner von seinen Altersbezügen nicht 4 1/2, sondern 5,2 bzw. 5,9% Krankenversicherungsbeitrag zu zahlen haben. Es handelt sich um Geld, das keineswegs der Krankenversicherung zugute
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Lutzkommt, sondern das im Grunde nur ein weiteres finanzielles Opfer der Rentner bedeutet.
— Herr Kolb, was Sie betreiben, ist Stümperei, Flickschusterei, Augenwischerei. Wahrlich, Sie sind mir eine schöne Regierung!
— Herr Kolb, mein Vater hat einmal gesagt: „Nur die kleinsten Straßenköter bellen am lautesten."
Aber ich möchte Sie damit nicht vergleichen.
Im Vorblatt zu Ihrem Gesetzentwurf versteigen Sie sich zu der Behauptung, zu Ihrem Vorhaben gebe es keine Alternative. Das ist nun wirklich ein starkes Stück. Im letzten Jahr haben wir Ihnen einen Weg gewiesen, die Rentenversicherung wieder ins Lot zu bringen. Wir haben vorgeschlagen, die Rentenversicherung von den Risiken des Arbeitsmarktes zu befreien. Sie hätten unserem Rat folgen und wieder volle Beiträge für die Arbeitslosen an die Rentenkassen beschließen sollen. Sie haben unseren Vorschlag mißachtet. Die Folge: Die Rentenversicherung schreibt rote Zahlen, die Rente auf Pump erweist sich als Dauererscheinung. Wie Altmeister Goethe einmal prophezeite: „Das ist der Fluch der bösen Tat,
daß sie fortzeugend Böses muß gebären." Ihr erster falscher Schritt, auf dem Sie noch dazu starrsinnig beharren, zieht weitere üble Zwangsläufigkeiten nach sich.
Auch nach der beabsichtigten Notoperation — Unsicherheit war auch bei Ihnen zu bemerken, Herr George — wird die Rechnung nicht aufgehen. Sie werden weiter die Rente auf Pump zahlen müssen, und Sie werden zittern, ob die Erhöhung der Löhne und Gehälter, wie prognostiziert, eintritt.
Ich sage Ihnen, Sie haben kaum eine Chance, daß es so kommt. Auch Ihre weitere Erwartung von einem jahresdurchschnittlichen Rückgang der Arbeitslosigkeit wird sich bedauerlicherweise nicht erfüllen. Im Gegenteil, schon am kommenden Montag werden Sie Ihr arbeitsmarktpolitisches Waterloo erleben.Wie spitz Sie rechnen, zeigt der Umstand, daß Sie Ihr Gesetz schon am 1. Juni in Kraft setzen müssen, sonst würde es sich nämlich überhaupt nicht mehr rechnen lassen.
Das, meine Damen und Herren, ist sozialpolitisches Abenteurertum. Sie werden nachbessern müssen, früher als Ihnen lieb ist. Dann kommt das zweite ROG und das dritte ROG und das vierte, bis Sie selbst am Ende sind. Erwarten Sie nicht, daß wir Ihnen dazu unsere Hand reichen.Wir haben mit unserem Gesetzentwurf zur Strukturreform ein rechenbares Modell angeboten. Eine vom Manko der Beschäftigungsschwankungen befreite Rentenversicherung würde nach unseren Vorstellungen in die Lage versetzt, auch mit den Belastungen, die aus der ungünstigen Altersstruktur erwachsen, fertig zu werden, und zwar auf honorige Weise, ohne den Solidaritätspakt der Generationen überzustrapazieren. Um es kurz zu sagen. In schwierigen Situationen würden nach unseren Vorschlägen alle aufgerufen sein: Die Aktiven müßten mit einer mäßigen Beitragserhöhung rechnen, die Rentner würden mit einer etwas geringeren Erhöhung ihrer Altersbezüge bedacht, und der Bund müßte sich mit einem höheren Bundeszuschuß an dem Risiko der ungünstigen Altersstruktur der Bevölkerung beteiligen.
Wir haben eine Formel vorgeschlagen, die praktikabel in guten und in schwierigen Zeiten erscheint, eine Formel, die nicht die Rente auf Pump bringt, die keine Zwangsarbeit für Senioren über 65 hinaus einrechnen muß
und die keine Sonderopfer der Rentner benötigt.
Unsere Formel ist fair, und sie entzieht sich — das ist fast noch wichtiger — permanenten Manipulationen durch die Politik.
Eine solche Lösung läßt allerdings auch keinen Spielraum für Ihre permanenten Versuche, mit der Politik des Verschiebebahnhofs in einem Versicherungszweig aufgetauchte Probleme durch Aderlässe in einem anderen noch ungefährdeten beheben zu wollen.Wir sind, meine Damen und Herren, außerdem noch einen Schritt weitergegangen und haben uns Gedanken gemacht, welche Fragen der tiefgreifende strukturelle Wandlungsprozeß in der Wirtschaft für unser soziales Sicherungssystem aufwirft. Es ist die schrumpfende Zahl von Arbeitsplätzen, die uns Sorge macht, da unsere soziale Sicherung über das Einkommen, also über den besetzten Arbeitsplatz finanziert wird. Wenn weniger Arbeitsplätze vorhanden sind, steigen die Risiken. Unsere Antwort darauf ist die Wertschöpfungsabgabe. Andere sagen: Maschinensteuer. Das umschreibt zwar plastisch, aber nicht sehr zutreffend das, was wir wollen.Der Herr Bundesaußenminister war auf einer seiner kurzen Durchreisen in der Bundesrepublik
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Lutzsprachschöpferich tätig. Er wollte gar von einer Fortschrittsstrafsteuer reden.
Allerdings bewies er damit, daß seine Kenntnisse und Interessen sicher nicht im Feld der Sozialpolitik zu suchen sind.Was wollen wir also? Wir wollen den technischen Wandel nicht behindern. Aber wir wollen erreichen, daß die automatisierte Produktion dann wenigstens für die sozialen Folgen, die sie auslöst, finanziell geradesteht. Manche in Ihren Reihen beginnen zu begreifen, was wir vorschlagen. Komischerweise sind die ersten aus der CSU. Andere — und dazu gehört der Arbeitsminister — überschlagen sich in der naßforschen Ablehnung unserer Ideen. Wie unklug! Sie werden beim fünften ROG darauf zurückkommen müssen.
Aber der Weg dahin wird mit schlimmen finanziellen Folgen Ihres Starrsinns gepflastert sein.Zurück zum Entwurf. Sie wollen die finanziellen Grundlagen der Rentenfinanzen stärken, so sagen Sie. Ich sage: Bitte, dann tun Sie es auch! Finden Sie eine Lösung, die die Rente auf Pump beseitigt! Ihr jetziger Vorschlag reicht nicht. Sie wollen unvermeidliche Mehrbelastungen angemessen auf Beitragszahler, Rentner und den Bund verteilen, so sagen Sie. Ich sage: Bitte, tun Sie es auch! Verlangen Sie nicht von den Beitragszahlern bis Ende 1987 rund 2,8 Milliarden DM mehr, von den Rentnern bis Ende 1989 3,4 Milliarden DM mehr! Lassen Sie den Bund in einem einzigen Jahr nicht nur lächerliche 1,5 Milliarden DM zuschießen!
— Ich bin geradezu verblüfft, daß Sie Ihr sozialpolitisches Machwerk nicht auch noch als beschäftigungspolitische Großtat preisen, Herr Kolb. Sicher, Sie werden das noch schaffen. Ich nehme an, das wird dann der Arbeitsminister in seiner nächsten Büttenrede zu bewältigen haben. Irgendwie werden Sie sich durchschwindeln.So viele Pannen können Sie Gott sei Dank gar nicht machen, daß den Rentnern letztlich die Puste total ausgeht. Aber für Ihre Mißwirtschaft muß die Gemeinschaft aller Bürger haften.
Die Wendelast, meine Damen und Herren, wird von Monat zu Monat drückender.
Es ist ein haarsträubendes finanzielles Abenteuer gewesen, Sie mit der politischen Mehrheit ausgestattet zu haben.Bis zum Ende dieser Legislaturperiode wird sich für die meisten Bevölkerungsgruppen die Wende wie folgt auszahlen: Arbeitnehmer, Rentner, Arbeitslose, Schüler, Studenten und Schwerbehinderte müssen Milliarden blechen, immer nach dem gleichen Grundmuster: Je weniger einer verdient oder als Sozialleistung erhält, um so drückender muß sein Opfer sein. Dagegen werden die Hochverdiener unserer Republik mit Milliarden an Steuergeschenken und Subventionen bedacht, immer nach dem Motto: Reichtum muß sich wieder lohnen.
Allein in den letzten zwei Jahren wurden die Unternehmer um 10 Milliarden DM entlastet, während den privaten Haushalten Mehrbelastungen von 12 Milliarden aufgebürdet wurden. Wird Ihnen eigentlich nicht schlecht, wenn Sie sich vergegenwärtigen, was Sie unserem Volk bereits angetan haben und immer noch antun? Schlägt Ihnen nicht wenigstens da das Gewissen?
Sie hatten Ihre Chance, den sozialen Rechtsstaat Bundesrepublik weiterzuentwickeln. Sie haben diese Chance vertan. Sie haben Gräben vertieft und neue ausgehoben.
Sie sind noch nicht einmal sparsam mit dem Geld der Steuerzahler umgegangen. Ihre Politik des Nichtstuns hat zu passiven Finanzierungskosten bei der Arbeitslosigkeit von jeweils rund 55 Milliarden DM in den Jahren 1983 und 1984 geführt. Sie wird auch 1985 rund 55 Milliarden DM erreichen. Wir können sicher sein: Solange Sie am Ruder sind, so lange werden Sie weitere Milliarden und aber Milliarden durch beschäftigungspolitisches Nichtstun aus dem Fenster werfen. Wir sagen nein
zu Ihren Finanzmanipulationen. — Man muß schon sehr ausgekocht sein, um darüber Freude zu empfinden, Freude über die Folgen dieser Politik.
Über diese Folgen müßten Sie sich schämen
Ideologische Verklemmung — besonders bei Ihnen, Herr Kolb — macht Sie unfähig dazu, dort einzugreifen, wo Handeln geboten ist.Saubere Risikozuweisung und Finanzierung in der Sozialpolitik, aktive Beschäftigungspolitik statt passiver Finanzierung von Arbeitslosigkeit,
sorgsame und sozial gerechte Verteilung unausweichlicher Belastungen. Dafür könnten Sie unsere
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LutzStimme haben. Aber dafür erbitten Sie sie nicht. Das ist Ihr größter Fehler.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Cronenberg.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wer Verunsicherung von Rentnern betreibt, versündigt sich an den Rentnern.
Ich muß, solange ich hier zu diesem Thema zu sprechen habe, immer wieder davor warnen, Rentner zu verunsichern oder Panikmache zu betreiben. Ich wiederhole, was ich schon einmal gesagt habe: Es gibt hier eine bedauerliche Kontinuität der jeweiligen Opposition. Vertrauensbildende Maßnahmen sind nicht nur in der Sicherheitspolitik, sondern auch bei den Renten geboten. Dies ist, wie die Erfahrung im internationalen Bereich beweist, nicht einfach zu realisieren.
Der heute vorliegende Gesetzentwurf trägt sicher dazu bei, durch Stärkung der Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung das Vertrauen der Bürger in die Stabilität ihrer Altersversorgung zu sichern. Ob allerdings der eingeschlagene Weg wirklich der beste ist, daran, verehrte Kolleginnen und Kollegen, habe ich persönlich ganz erheblichen Zweifel.
Herr Abgeordneter Cronenberg, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Kirschner?
Lassen Sie mich bitte diesen Gedanken zuerst zu Ende bringen, Herr Kollege. — Ich will nicht lange darum herumreden. Es ist weniger die Einsicht, sondern es sind mehr Koalitionsraison und Fraktionsmehrheit, warum ich dieser Lösung zustimme.
Meine Kritik richtet sich nicht gegen den Krankenversicherungsbeitrag der Rentner. Das dort entwikkelte Konzept halte ich für richtig. Meine Kritik richtet sich auch nicht gegen die Erhöhung der Rentenversicherungsbeiträge um 0,3 % und die Absenkung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge um 0,3%. Die Ehrlichkeit gebietet es aber, festzustellen, daß wir mit diesem Lösungsvorschlag, wie wir ihn verabschieden werden, unserem eigenen Anspruch, Beitragsstabilität zu erreichen, nicht gerecht werden. Dies ist nicht der erste Sündenfall, den wir praktizieren. Wie Sie wissen, sind wir am Finanzminister gescheitert und müssen uns mit der zweitbesten Lösung zufriedengeben. Wir müssen in Zukunft darauf bestehen — darüber weiß ich mich einig mit nicht wenigen Kollegen der Union —, daß das Ziel höchstmöglicher Beitragsstabilität einen ebenso hohen Stellenwert hat wie das Ziel der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte. Beitragsstabilität ist kein Selbstzweck oder das ehrgeizige
Ziel einiger Kürzungsfanatiker, Beitragsstabilität ist aus unserer Sicht aktive Beschäftigungspolitik.
So, Herr Präsident, nun bin ich bereit, eine Zwischenfrage zuzulassen.
Bitte, Sie haben das Wort zu einer Zwischenfrage, Herr Abgeordneter Kirschner.
Herr Kollege Cronenberg, wenn Sie davon reden, daß man die Rentner nicht verunsichern sollte, gebe ich Ihnen recht. Wie erklären Sie es sich aber dann, daß die Bundesregierung einmal kurz vor den Bundestagswahlen und ein anderes Mal kurz vor Weihnachten große Zeitungsanzeigen geschaltet hat, in denen es hieß: Die Renten sind sicher!, wenn jetzt in dieser kurzen Amtszeit des Bundesarbeitsministers zum 1. Juni dieses Jahres praktisch die vierte Rentenversicherungsbeitragserhöhung angekündigt wird?
Hochverehrter Herr Kollege, Sie haben eben gehört, wie sehr ich die Erhöhung der Beiträge bedauere. Aber die Beitragserhöhung ist doch überhaupt kein Beweis dafür, daß die Renten unsicher sind.
Sie und ich wissen, daß die Renten ausgezahlt werden, Sie und ich wissen, daß daher kein Rentner um seine Rente fürchten muß. Die Teufelei liegt doch darin, daß der Eindruck erweckt wird, daß dem Rentner seine Rente nicht überwiesen wird. Diese Überweisung ist so sicher wie das Amen in der Kirche; das wissen Sie, das weiß ich.
Wer Arbeit verteuert — das haben wir, auch gemeinsam, schon viel zu oft getan —, gefährdet bestehende und verhindert neue Arbeitsplätze. Das ganze Hohe Haus ist j a einig, daß die Arbeitslosigkeit Problem Nummer eins ist. Die wohl größte und gröbste Verletzung der sozialen Symmetrie ist doch wohl, wenn es zuwenig Arbeitende und zuviel Nichtarbeitende, eben Arbeitslose gibt. Die Arbeitslosigkeit ist ja wohl nicht deswegen entstanden, weil die Betriebe oder die sogenannten Besserverdienenden zu wenig Steuern bezahlt haben, sondern umgekehrt. Arbeitslosigkeit ist ja nicht entstanden, weil Arbeit bei uns zu billig ist und die Lohnnebenkosten zu niedrig, sondern umgekehrt.
— Kollege Ehrenberg, wenn ich zeitlich hinkomme, gerne. Aber ich muß jetzt zunächst einmal diese grundsätzlichen Bemerkungen loswerden.Wenn wir dem Anspruch auf Beitragsstabilität durch diese Vorlage auch nicht gerecht werden, wie schon zum Ausdruck gebracht, so werden wir allerdings dem Bedürfnis, die Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung zu stärken,
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Cronenberg
gerecht. Das war in der Tat auch die Aufgabe, die es zu lösen gilt.Man muß allerdings darauf aufmerksam machen, daß dies nur kurzfristige und mittelfristige Liquiditätsprobleme lösen kann und daß durch dieses vorliegende Gesetzesvorhaben die dringend notwendige Strukturreform nicht ersetzt wird.Eine weitere vertrauensbildende Maßnahme ist aber auch, unangenehme Wahrheiten auszusprechen. Gefälligkeiten in der einen oder anderen Richtung sind ebenso gefährlich wie die eben kritisierte Panikmache.
Ich möchte darauf aufmerksam machen, daß wir uns auch früher nicht gescheut haben, unbequeme Wahrheiten zu sagen; sie sind nachzulesen in den 32 Thesen zur Alterssicherung meiner Partei. Erfreulicherweise werden ja viele dieser Thesen heute von beiden großen Fraktionen im Hause akzeptiert.Wichtig ist, darauf hinzuweisen, daß die Mackenrothsche These, daß aller sozialer Aufwand immer aus dem Volkseinkommen der laufenden Periode gedeckt werden muß, in das Bewußtsein derjenigen, die Strukturreform machen wollen, eindringt. Nur wenn man sich dessen bewußt ist, ist gewährleistet, daß auch eine melkbare Kuh, die genügend hergibt, vorhanden ist.
Die Krise der sozialen Sicherungssysteme ist keine deutsche Erscheinung. Sie findet auch in anderen Industriestaaten vergleichbarer Art statt. Wer nicht eine Taschengeldgesellschaft will, muß die strukturellen Veränderungen unseres Wirtschaftslebens berücksichtigen und die Strukturen der Sozialsysteme, insbesondere auch in der Rentenversicherung, umgestalten.Strukturreform ist kein Zauberwort, keine kurzfristige Patentlösung, sondern setzt wohlüberlegte Maßnahmen auf breiter Ebene mit konsequenter Zielrichtung voraus.
Ich stehe nicht an — wie ich das von dieser Stelle schon getan habe — festzustellen, daß im Gesetzentwurf der SPD viele Elemente sind, die in der Strukturreform auch in dieser Form realisiert werden müssen. Nur, wie schon zum Ausdruck gebracht, wäre es für den falschen Zweck, diese Einsparmöglichkeiten, diese strukturellen Veränderungen jetzt zu verfrühstücken.
Wir bekennen uns zu einer sozialen Sicherung, zur gemeinschaftlichen Sicherung gegen individuelle Not. Wir sind auch der Auffassung, daß die Undurchsichtigkeit, Unverständlichkeit und Anonymität in den sozialen Sicherungssystemen durch mehr Eigeninitiative, Eigenvorsorge aufgelockert werden müssen. Mehr Wahlmöglichkeiten, mehrAlternativen, dies gilt nicht nur in der Renten-, sondern auch in der Arbeitsmarktpolitik. Bereitschaft dazu wird aber nur dann erwachsen, wenn Steuer-und Abgabenbelastungen nicht jede Initiative in dieser Richtung konterkarieren.Das bedeutet auch — ich muß es noch einmal wiederholen —, daß ein unablässiges Drehen an der Beitragsschraube letztlich den Generationenvertrag in Frage stellt. Die künftige demographische Entwicklung, aber nicht nur diese, macht einen Ausgleich der unterschiedlichen Interessen notwendig. Rentenniveau, Beitragssatz, Bundeszuschuß und ein späterer Rentenzugang dürfen bei der Strukturreform nicht tabu sein.
Selbstverständlich müssen sich alle an den Lasten aus der demographischen Entwicklung beteiligen, und der Bundeszuschuß muß ausreichend und verläßlich sein. Er darf, meine Damen und Herren, nicht die Reservekasse des Bundesfinanzministers bilden.
Aber auch Beitragszahler und Rentner müssen ihren Beitrag dazu leisten.
— Jawohl.Strukturreform bedeutet auch Neubewertung der beitragsgeminderten und beitragslosen Zeiten
und Aufhebung des unglückseligen Prinzips der Halbbelegung.Es ist erstaunlich, daß die Opposition, die einerseits den Bundesarbeitsminister zum offenen Dialog herausfordert — meines Erachtens, nebenbei gesagt, zu Recht —, andererseits ihr nicht passende Denkanstöße zugleich wieder tabuisiert.In den USA hat man im April 1983 gesetzlich verankert, daß Versicherte, die 1938 geboren sind und 2003 das 65. Lebensjahr erreichen, nunmehr 65 Jahre und zwei Monate für den Bezug der ungekürzten Altersrente benötigen — „ungekürzten", wohlunterstrichen — und sich bei dem nachfolgenden Jahrgang die entsprechende Rentenberechtigungsgrenze um weitere zwei Monate erhöht. Man kann das natürlich Reagansche Auspowerungspolitik nennen.
Aber mit Erstaunen muß man dann vernehmen, daß die italienische Regierung unter der Führung des Sozialisten Craxi sich auf den gleichen Weg begeben hat, nämlich das Rentenalter der Versicherten zu erhöhen.
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Cronenberg
Machen wir uns nichts vor: Bei uns ist die Altersgrenze von 65 Jahren nicht mehr der Normal-, sondern der Ausnahmefall.
Nur noch jeder zehnte Neurentner tritt zu diesem Zeitpunkt in den Ruhestand. Eine Verschiebung des Rentenzugangsalters um ein Jahr — wir liegen beim Zugangsalter unter 60 Jahren — bringt 1,5 Prozentpunkte, 5 bis 6 Milliarden DM.
Gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage, Herr Abgeordneter Cronenberg?
Ich kann ihm das ja nicht verweigern.
Bitte, Herr Abgeordneter Ehrenberg.
Verehrter Herr Kollege Cronenberg, erwarten Sie im Ernst vor dem Hintergrund von 2,6 Millionen Arbeitslosen, daß eine Heraufsetzung des Rentenalters auch nur die geringste Entlastung bringt? Sie würde doch zu nichts anderem führen, als daß sich die Statistiken der beiden Rentenversicherungsträger verschieben, aber doch nicht die geringste Entlastung für die Rentenversicherung und den Arbeitsmarkt bringen. Man sollte von dieser Möglichkeit, sich reich zu rechnen, wirklich wegkommen.
Aber natürlich, Herr Kollege Ehrenberg, wissen wir, daß diese bei der gegenwärtigen Arbeitsmarktsituation nicht machbar und nicht sinnvoll ist. Wir müssen uns aber vor Augen halten, daß die oftmals erzwungene Frühverrentung ihren Preis hat. Wer davor die Augen verschließt — und das ist das, was ich deutlich machen will —, zeigt nur, daß er seine Forderungen nach Strukturreform nicht so ernst meint, wie das notwendig ist. Gelegentlich — da sind Sie j a der Vorkämpfer — erscheint als deus ex machina die Maschinensteuer, die angeblich alle Probleme löst. Sie schafft aber entgegen den Beteuerungen ihrer Anhänger keine neuen Arbeitsplätze, sondern behindert den wirtschaftlichen Fortschritt, verwickelt uns in aussichtslose Kämpfe mit Niedriglohnländern
und bringt die Beitragsbezogenheit der Rente in Gefahr. Das ist außerordentlich riskant. Dies hat zu meinem Erstaunen — es ist mir ein Genuß, darauf hinzuweisen — sogar der Superfachmann Eppler inzwischen erkannt und dem staunenden Publikum verkündet.
Weiter — auch dies ist ein Auftrag des Bundesverfassungsgerichtes — gilt es, die seit mehreren Jahren offenstehende Besteuerung der Alterseinkommen sachgerecht zu lösen. Die Kollegin Fuchs hat hier seinerzeit schon etliche Vorschläge unterbreitet. Wir müssen aus einer Sozialordnung heraus, die dem im Schweiße seines Angesichts sein Brot ehrlich und redlich Verdienenden Geld aus dem Beutel holt, um es nach dem sozialen Empfinden des jeweiligen Kräfteparallelogramms der pluralistischen Gesellschaft zu verteilen. Dies hat Wolfgang Mischnick, meine ich, zu Recht einmal festgestellt.
Schaffen wir eine Strukturreform, die dem einzelnen bei solidarischer Absicherung mehr Freiheit und Gestaltungsspielraum bietet, so auch beim Übergang aus dem Arbeitsleben in das Rentnerleben, und sorgen wir dafür, daß durch die Summe unserer Maßnahmen die Chancen für Arbeit und damit für Beiträge nicht verschlechtert, sondern verbessert werden. Ich wiederhole noch einmal: Ich bin davon überzeugt, daß es in einem offenen Dialog zwischen den Fraktionen des Hauses durchaus möglich ist — viele gemeinsame Ansätze sind ja vorhanden —, zu einer die Fraktionen übergreifenden Lösung zu kommen. Ich halte manchen der Vorschläge, die in Ihrem Gesetzentwurf zu finden sind, für akzeptabel. Hoffentlich sind Sie dann auch bereit, später Ihre eigenen Vorschläge im Zusammenhang mit der Strukturreform auch durch Handaufheben zu unterstützen.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hoss.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich habe jetzt zwei Jahre Rentenpolitik in diesem Hause miterlebt und kann mir in gewisser Weise ein Bild machen, in welchem Zustand und in welchen Händen sich die Rentenpolitik insgesamt befindet.
Begonnen hat es damit, daß ich erleben mußte, daß der Bundesarbeitsminister Blüm verkündete, daß die Renten sicher sind, daß die Finanzierung gesichert ist und daß ihm, der CDU, der Regierungskoalition, so etwas, wie es bei der SPD vorkam, nicht passieren würde. Nach zwei Jahren ist meine Meinung diese: Wenn in der Rentenpolitik, was den Verschiebebahnhof anbetrifft, die SPD die Gesellenprüfung hatte, dann haben Sie in der Regierung die Meisterprüfung. Es geht nämlich darum, daß der Bürger das Rentensystem in einem beängstigenden Zustand sieht. Selbst Herr Blüm, der sonst keine Argumentationsschwierigkeiten hat, hat plötzlich große Schwierigkeiten, Begründungszusammenhänge für die Maßnahmen zu finden, die jetzt getroffen worden sind.
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HossEs will schon etwas heißen, wenn Herr Blüm Begründungszusammenhänge nicht findet, die er sonst schneller als eine Maus ein Mauseloch findet.Was soll der Bürger z. B. davon halten, wenn er erfährt, daß noch vor einem halben Jahr die Regierung und die Koalition den Vorruhestand, mit 58 Jahren in die Rente zu gehen, mit Vehemenz befürwortet haben, und wenn er jetzt hört, daß das Rentenalter erhöht werden soll, um zur langfristigen Finanzierung des Rentensystems beizutragen?
Wie soll sich der Bürger das zusammenreimen? Was soll der darunter verstehen, der mit den neuen Technologien arbeitet, die Sie j a wollen, der an Bildschirmarbeitsplätze und an schnelle Arbeitsmaschinen gesetzt wird und dem nun zugemutet werden soll, über das 65. Lebensjahr hinaus, bis zum 70. Lebensjahr an diesen Maschinen zu arbeiten? Was soll ein Bürger davon halten? Auch die Tatsache, daß ein vor einigen Monaten vorgelegter Gesetzentwurf, der noch nicht einmal das Anfangsstadium der Beratungen erreicht hat, schon zurückgenommen wird und ergänzt werden muß durch einen zweiten Gesetzentwurf, zeigt doch, daß Sie nicht in der Lage sind, mit Voraussicht und mit Sachkenntnis die Lage der Rentenversicherung zu beurteilen und einen Gesetzentwurf vorzulegen, der auch stichhaltig ist und bei dem man vielleicht nur noch durch den einen oder anderen kleinen Änderungsantrag etwas zu verbessern braucht. Sie sind gezwungen, einen neuen Gesetzentwurf vorzulegen. Sie brauchen sich nicht zu wundern, wenn das Vertrauen der Bürger in die Renten — das ist keine Angstmache, sondern eine Feststellung — nicht mehr so groß ist wie zu Anfang Ihrer Regierungszeit, als man Ihnen mehr geglaubt hat.
Es ist schon darauf verwiesen worden, daß Sie mit Ihren Manipulationen auf dem Verschiebebahnhof Rentenpolitik der Rentenversicherung 4,5 Milliarden DM jährlich allein dadurch vorenthalten, daß Sie einen Beschluß gefaßt haben, die Bruttobezogenheit der Beitragsablieferung der Bundesanstalt für Arbeit an die Rentenversicherung aufzuheben, von dem Arbeitslosengeld auszugehen und davon die Beiträge an die Rentenversicherung zu zahlen. 4,5 Milliarden gehen verloren. Aber das ist nur eine Rechenmanipulation. Dahinter steht der einzelne Arbeitslose, der in Kauf nehmen muß, daß seine Rentenbasis geschmälert wird und daß die Rente, die er später bekommen wird, niedriger wird.
Ich will gar nicht darauf verweisen, daß Sie mit dem Bundeszuschuß abenteuerliche Dinge machen, daß Sie den Rentenversicherungen die ordentlichen Zahlungen aus dem Bundeshaushalt vorenthalten, weil Sie das Geld für zweifelhafte Projekte benötigen, ob das jetzt der Schnelle Brüter ist
— oder der Schnelle Nichtbrüter —, ob das Wiederaufbereitungsanlagen oder andere Projekte sind, für die Sie das Geld, das Sie den Rentenversicherungen vorenthalten, verwenden.
Wir hatten gestern ein Hearing mit Sachverständigen. Es wurde schon betont, daß sich alle Sachverständigen darüber einig waren, daß man gar nicht so langfristig, sondern unmittelbar mit einer Strukturreform des gesamten Rentenversicherungssystems beginnen muß. Ich bin ja einig damit, daß man das nicht morgen schon kann, sondern daß man dazu, wenn man das sachverständig und richtig machen will, schon ein, zwei, unter Umständen drei Jahre Diskussion und genaue Erarbeitung braucht. Aber das sind nicht unsere wesentlichen Unterschiede.Unsere Unterschiede sind inhaltlicher Natur. Sie liegen in vier Bereichen.Erstens. Die zunehmende Armut der Rentner muß abgebaut werden. Die Rentenversicherung darf keine Sozialfälle schaffen.
— Herr Kolb, ich kann Ihnen das sagen. Nach dem Rentenanpassungsbericht 1984 kriegt ein durchschnittlich verdienender Arbeiter, der 35 bis 40 Versicherungsjahre hat, eine Rente von 1 198 DM. Die hinterbliebene Witwe erhält 718,80 DM, 60 % davon. Sie befindet sich auf dem Niveau der Sozialhilfe. Das müssen Sie zur Kenntnis nehmen. Das Rentensystem produziert bei dem durchschnittlich Arbeitenden — ich denke hier nicht etwa an Arbeitslose— mit 35 bis 40 Versicherungsjahren solche Fälle, was die Hinterbliebenen anbelangt, und sicher mit 1 198 DM keinen Lebensstandard, mit dem man leben kann.
Das Problem der Anpassungen führt ebenfalls diejenigen, die wenig Rente kriegen, immer mehr in den Keller. Bei einer Pension von 5 000 DM ergibt 1 % Anpassung immerhin noch 50 DM, bei einer Rente, wie ich sie beschrieben habe, er gibt sie gerade etwas mehr als 7 DM. Die Forderung von uns lautet also, daß wir zu einer Mindestabsicherung der Renten kommen müssen, die oberhalb des Sozialhilfesatzes liegt. Das ist ein Gebot gesellschaftlicher Solidarität. Darum kommen wir nicht herum.
Diejenigen, die es nicht rührt, in welcher Situation sich die Hälfte der Arbeiterrentenbezieher befindet, rührt das deshalb nicht, weil sie dem Kreis derjenigen zuzurechnen sind, die Tausende von Mark an Pensionen haben. Ich denke z. B. an Studienräte; ich sage das, obwohl die Basis der GRÜNEN vielfach bei den Studienräten und Oberstudienräten zu suchen ist; ich sage das ganz deutlich. In diesen Bereichen werden Renten gezahlt, die, auch wenn sie leistungsberechtigt sind, in keinem Verhältnis zu den Renten für Leistungen stehen, die andere an den Maschinen, in den Fabriken, in der Kinderer-
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9180 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 124. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. März 1985
Hossziehung und an sonstigen Stellen erbracht haben. Das muß bereinigt werden.
Der zweite Punkt: die eigenständige Sicherung der Frau. Es gab gestern ein Hearing, zu dem die Grauen Panther nicht eingeladen werden konnten, weil die anderen Parteien in diesem Hause es abgelehnt haben, die Panther als Sachverständige anzuerkennen. Wir haben deshalb ein eigenes Hearing gemacht. Wir haben dort eine Frau, wir sagen: eine Sachverständige ihrer sozialen Situation, gehört,
eine Frau mit elf Kindern, die alle elf in Arbeit sind und heute ihre Beiträge zur Sozialversicherung zahlen. Sie hat elf Kinder großgezogen. Ihr Mann ist weggelaufen. Durch das alte Scheidungsrecht hat sie keine genügenden Ansprüche. Sie bekommt eine Rente von knapp 300 DM. Sie ist ein Sozialhilfefall, obwohl sie mit ihrer Leistung, daß sie elf Kinder erzogen hat, einen erheblichen gesellschaftlichen Beitrag geleistet hat,
mehr als mancher Abgeordnete, mehr als mancher Beamte, der irgendwo sitzt — ohne jetzt pauschal zu werden —. Ich will nur sagen, daß hier ein wichtiger Teil unserer Gesellschaft
schlecht behandelt wird und daß das ein Problem ist, das wir angehen müssen.
Herr Abgeordneter Hoss, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Glombig?
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Es tut mir sehr leid.
Ihre Redezeit ist ohnehin abgelaufen. Bitte kommen Sie zum Schluß.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich komme zum Schluß. Es bleiben noch ein Dritter und Vierter Punkt: die Einbeziehung der gesamten Bevölkerung in die Rentenversicherung und die Finanzierungsfrage, das Problem der sogenannten Maschinensteuer.
Ich bin nach den zwei Jahren hier zu der Auffassung gekommen: Bei den Kräfteverhältnissen, die wir hier haben, werden unsere Nachrücker weiter diskutieren; sie werden aber nichts Wesentliches an den Grundfragen verändern. Die Veränderung kommt dann, wenn die Bevölkerung diese Probleme sieht und ein anderes Wahlverhalten zeigt — in Nordrhein-Westfalen, im Saarland, in Berlin und später auch woanders —, so daß hier ein Druck entsteht, damit man sich dieser wichtigen Fragen annimmt.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
Ich erteile dem Herrn Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will in aller Kürze zunächst einmal meine Verwunderung zum Ausdruck bringen. Der Kollege Hoss hat gesagt, mir würden die Worte zur Begründung fehlen. Ja, ich habe doch noch gar nicht gesprochen. Sind Sie Hellseher?Herr Kollege Hoss, eine zweite Frage. Wo und wann hat der Bundesarbeitsminister vorgeschlagen, das Rentenalter zu erhöhen? Zur Sache bitte! Nicht nur Verdächtigungen und Gerüchte! Wir haben den Vorruhestand eingeführt. Wir haben es ermöglicht, die Lebensarbeitszeitgrenze zu senken. Freilich, bei uns wird gedacht, bevor gehandelt wird.
Freilich wird man denken dürfen, rechnen müssen, wie es in den neunziger Jahren aussieht. Jetzt paßt eine Erhöhung des Rentenalters nicht in die Arbeitsmarktlage. Jetzt steht das außerhalb jeder Diskussion.
Ich denke allerdings — das wäre meine Wunschvorstellung; was haben Sie eigentlich dagegen? —, daß über ihr Rentenalter die Arbeitnehmer selber bestimmen. Wer länger arbeiten will: Laßt ihn länger arbeiten. Wer früher ausscheiden will: Laßt ihn früher ausscheiden. Das gehört zu meinen Wunschvorstellungen, die freilich finanzierbar bleiben müssen. Ich möchte nicht die Reichsversicherungsordnung als Platzanweiser der Menschen. Vielmehr mag jeder selber bestimmen, wann er in den Ruhestand eintritt. Das ist unsere freiheitliche Vorstellung von einer Sozialpolitik ohne Vormundschaft.Noch mehr gewundert habe ich mich allerdings über den Kollegen Lutz. Entweder setzt er auf meinen Gedächtnisschwund, oder er ist der Vergeßlichkeit zum Opfer gefallen. Wie kann denn ein Sozialdemokrat — und ein angesehener ist j a der Kollege Lutz —
hergehen und uns vorwerfen, die Monatsrücklage in der Rentenversicherung sei zu gering. Als sie die Rentenversicherung übernommen haben, gab es neun — soll ich es Ihnen mit Fingern vormachen: neun — Monatsrücklagen. Als wir sie übernommen haben, gab es nur noch zwei. Sollten wir die Lawine über Nacht anhalten? Das können selbst wir nicht.
Wären Sie — das als Nachhilfeunterricht — am Ruder geblieben, dann wäre die Rentenversicherung1983 illiquide gewesen. Wären Sie am Ruder geblie-
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Bundesminister Dr. Blümben, dann würden 1986 0,7 Monatsrücklagen fehlen. Wären wir nicht gekommen, hätten wir nicht gespart, wäre die Rentenversicherung zusammengebrochen. Darin liegt doch ein Widerspruch — oder Sie haben ein anderes Rechensystem; das müßte dann einmal erklärt werden —:
Erstens werfen Sie uns vor, wir hätten zuviel gespart, und zweitens werfen Sie uns vor, es sei zuwenig Geld in der Kasse. Ja, eins von beiden kann nur stimmen. Wenn wir weniger gespart hätten, wäre mit Sicherheit nicht mehr Geld in der Kasse. Sie müssen sich schon entscheiden, welchen Vorwurf Sie der Regierung machen wollen. Beide Vorwürfe gleichzeitig sollten Sie jedenfalls mit Rücksicht auf die Intelligenz Ihrer Zuhörer nicht erheben.
60 Milliarden DM mehr haben wir der Rentenversicherung in dieser Legislaturperiode beschafft. Darin sind die Maßnahmen, über die wir jetzt sprechen, noch gar nicht eingerechnet.Ich verstehe auch nicht, daß Sie nicht den Glaskasten bemerken, in dem Sie sitzen, wenn Sie uns vorwerfen, Beitragssenkung einerseits, nämlich in einer Sozialversicherung, und Beitragsanhebung in einer anderen seien — ich habe es mir aufgeschrieben — Manipulation. Das habe ich doch richtig gehört? Entsinnen Sie sich an das Jahr 1981, Herr Lutz? Da waren wir — leider — noch nicht an der Regierung. Damals haben Sie den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung um 1 % erhöht und den zur Rentenversicherung um 0,5 % gesenkt. Machen Sie doch keine Nestbeschmutzung. Das haben Sie doch gemacht. Wenn das Manipulation ist, was wir jetzt machen, haben Sie eine größere gemacht, nämlich eine Beitragsumschichtung viel größeren Ausmaßes. Die Belastung haben Sie nicht befristet, die Entlastung allerdings haben Sie befristet. Bei uns ist es umgekehrt. Bei uns wird der Entlastung immer der Vorzug gegeben, weil es um den Geldbeutel der Arbeitnehmer und weil es um die Arbeitsplätze geht.Lassen Sie mich zum Vorwurf „Verschiebebahnhof" kommen. Was ist denn eigentlich ehrlicher: die Beiträge dort zu erhöhen, wo das Geld gebraucht wird, und die Beiträge dort zu senken, wo ein Überschuß ist! Das halte ich für viel ehrlicher und offener, als hinter dem Rücken der Versicherten von einer Versicherung in die andere Versicherung Geld hin und her zu schieben; das ist der klassische Verschiebebahnhof. Sie verwechseln unsere Politik mit Ihren Übungen. Verschiebebahnhof ist aus meiner Sicht, wenn hinter den Kulissen Finanzmassen von einer Versicherung zur anderen verschoben werden. Bei uns kann jeder erkennen, wo die Probleme sind
und wo Überschuß ist.
Lassen Sie mich etwas zu unserem Lösungsvorschlag sagen. Warum müssen wir dieses Gesetz vorlegen? Erstens deshalb, weil die Lohnentwicklung hinter den Schätzungen zurückgeblieben ist. Das verdanken wir auch den Arbeitskämpfen des Jahres 1984. Ich habe doch die Arbeitskämpfe nicht initiiert. Daß die Arbeitskämpfe natürlich auch Einnahmeverluste bedeuten, weiß doch jeder.Ein zweiter Grund: Die Rückkehrförderung unserer ausländischen Mitbürger war erfolgreicher, als wir sie selber eingeschätzt hatten. Sie war dreimal erfolgreicher, als wir erwartet haben. Ich erinnere Sie daran, daß Sie selbst uns damals wegen unserer Schätzungen der Hochstapelei verdächtigt haben. Jetzt waren wir noch dreimal besser, als wir uns selber eingeschätzt haben. Freilich, das bringt der Rentenversicherung kurzfristig — kurzfristig! — Probleme, weil sie mehr Ausgaben hat, als in der Rechnung steht. Langfristig — das will ich der Ehrlichkeit halber sagen — ist das eine Entlastung. Sie entlastet sich von Risiken.Wir haben die Rückkehrförderung nicht wegen der Rentenversicherung durchgeführt, sondern erstens deshalb, damit die ausländischen Kollegen nicht mit leeren Händen in ihre Heimat zurückkehren, zweitens, um den Arbeitsmarkt zu entlasten, und drittens, um auch die Ausländerproblematik in unserem Lande zu entschärfen. Diese Politik war erfolgreich, erfolgreicher, als wir geglaubt haben. Und jetzt können wir die Rentenversicherung nicht im Stich lassen. Wir lassen sie nicht im Stich.Wir sind die erste Bundesregierung — Herr Lutz, hören Sie zu: die erste, damit Sie nicht neidisch werden —,
die den Bundeszuschuß erhöht. Soll ich Ihnen einmal vorlesen, was Sie in den 13 Jahren Ihrer Regierungszeit mit dem Bundeszuschuß gemacht haben? Das sieht wie eine Verletztenliste aus: 1973 2,5 Milliarden DM unverzinslich aufgeschoben — das bedeutete Zinsverluste in Millionenhöhe —; 1974 650 Millionen DM aufgeschoben; 1975 2,5 Milliarden aufgeschoben. Der große Hammer kam 1981: Um 3,5 Milliarden DM — das ist soviel, wie heute fehlt — haben sie den Bundeszuschuß gekürzt. Und ich habe die Pläne meiner Vorgänger übernommen, noch einmal um 1,3 Milliarden DM zu kürzen. Das haben wir auf 900 Millionen DM heruntergedrückt.
Sie, die Superkürzer, kommen heute her und machen uns Vorwürfe, uns, die wir den Bundeszuschuß zum ersten Mal erhöhen. Da verstehe ich die Welt nun wirklich nicht mehr.
Beitragserhöhungen: Dort — ich sagte es schon —, wo sie notwendig sind, werden sie vorgenommen, dort, wo wir die Beiträge senken können — jede Mark, die wir nachlassen können, wird dem Versicherten zurückgegeben —, werden wir sie senken. Der Staat und die Versicherung sind schließlich nicht der Eigentümer dieses Geldes. Laßt den Leuten ihr Geld! Die wissen mit Ihrem Geld besser umzugehen als alle Bürokraten.
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9182 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 124. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. März 1985
Bundesminister Dr. BlümIch bleibe dabei: Auch der Beitrag der Rentner zu ihrer Krankenversicherung ist ein Solidaritätsbeitrag; das können doch nicht nur die Jungen allein bezahlen. Im übrigen: Verleugnen Sie doch auch da nicht ihre Vergangenheit! Helmut Schmidt hat 1981 angekündigt — ich zitiere ihn jetzt —, die Rentner solltenschrittweise bis zur Höhe des halben Krankenversicherungsbeitrags so wie aktive Arbeitnehmer an der Finanzierung ihrer Krankenversicherung beteiligt werden.Das hat Schmidt, Ihr, unser Bundeskanzler, der sozialdemokratische Bundeskanzler, in seiner Regierungserklärung vom 24. November 1980 angekündigt. Gerade das machen wir jetzt auch, und zwar Schritt für Schritt. Dabei nennen wir sogar den Schritt, der erst nach der Bundestagswahl zum Zuge kommen wird. Wir machen — ich wiederhole mich — eine offene und ehrliche Rentenpolitik. Wir sagen den Rentnern nicht nur, was bis zur nächsten Wahl geschieht — da haben Sie meist mehr versprochen, als Sie nach der Wahl gehalten haben —, sondern wir sagen ihnen auch, wie es weitergeht.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch etwas zur Strukturreform sagen: Vor einer Strukturreform mit heißer Nadel warne ich. Wenn wir eine Strukturreform machen, wenn wir ein Haus bauen, dann muß es stehen, und zwar für mehrere Generationen. Wir machen keine Politik von der Hand in den Mund. Das, was wir an Sparmaßnahmen vorgenommen haben, waren alles Bausteine für ein renoviertes, stabiles Rentenhaus. Aktualisierung, Neuordnung der Berufs- und Erwerbsunfähigkeit, Umwandlung des Kinderzuschusses in Kindergeld, Krankenversicherungsbeitrag der Rentner, Beitragspflicht für Lohnersatz, gerechte Einbeziehung der Sonderzahlungen — alles das sind keineswegs nur Sparmaßnahmen. Da haben nicht die Buchhalter zu Rate gesessen, sondern das sind Steine für eine Strukturreform, und zwar Schritt für Schritt.Sehr verehrte Frau Fuchs, vielleicht können wir uns darauf einigen,
die Strukturreform zusammenzumachen, aber das Auto, das Sie uns abieten, haben doch die Experten gestern selber als ein Auto ohne Reifen bezeichnet.
Sie haben doch weder die Ausführungsbestimmungen noch die Anpassungsbestimmungen fertig. Tun Sie doch nicht so, als sei das morgen gesetzlich zu verwirklichen. Sie können doch ein solches Auto nicht als Formel-1-Rennwagen ausgeben.
Daran werden wir noch gemeinsam arbeiten müssen.Eines allerdings sollten Sie mir doch noch beantworten: Wie kann man in einer solchen Zeit, in der Debatten geführt werden, wie wir sie heute führen, in einer Zeit, in der jede Mark zweimal umgedreht werden muß, bevor sie einmal ausgegeben wird, ein Hinterbliebenenmodell vorlegen, das drei Milliarden DM teurer ist als das bisherige Modell — mindestens.
Nein, ich glaube, man kann nicht heute das Holz verheizen, mit dem wir uns morgen wärmen müssen.
Es geht doch — ich bin sicher, das wird auch die ältere Generation verstehen — nicht nur um die sichere Rente für Großvater und Großmutter — die Rente ist sicher, das wiederhole ich —, sondern es geht doch auch um die sichere Rente ihrer Enkel, es geht um die langfristige Sicherheit.
Da können Sie doch nicht heute das Saatgut verfüttern und sich morgen beschweren, daß nichts wächst. Wir machen eine Politik, die die Renten langfristig sichert.Zu diesem großen Dialog — das will ich doch keineswegs nur auf die Mühlen meiner Partei schaufeln —, zu dieser großen Renteneinigung sind alle eingeladen. Nur, meine Damen und Herren: nicht hastig, Schritt für Schritt! Es ist nicht so, daß wir am Null-Punkt anfangen müßten. Ich bin sicher, daß wir uns über die Punkte einigen können: Die Renten können nur so steigen wie die verfügbaren Einkommen der Arbeitnehmer; der Bundeszuschuß muß auf eine verläßliche Grundlage gestellt werden; die Rente muß lohnbezogen bleiben, damit die Rentner das Bewußtsein haben, daß ihre Rente kein Geschenk des Staates, sondern ein selbsterworbener Anspruch ist: Rente als Alterslohn für Lebensleistung.
Das Wort hat der Abgeordnete Schreiner.
Herr Präsident, ich habe noch kein Wort gesagt, und schon ist hier vorn das Panikorchester in voller Stimmung. Das ist wirklich beachtlich.Ich möchte einige Bemerkungen zum Kollegen George und einige Bemerkungen zum Bundesarbeitsminister machen. Herr Minister, Sie haben mit der Frage angefangen, wo Sie denn einer Verlänge-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 124. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. März 1985 9183
Schreinerrung der Lebensarbeitszeit das Wort geredet hätten. Sie scheinen, wenn Sie schon nicht eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit gepredigt haben,
die Fähigkeit zu besitzen, bis tief in die eigenen Reihen hinein große Mißverständnisse zu produzieren. Ihre eigene Stellvertreterin bei den christdemokratischen Sozialausschüssen hat Sie buchstäblich vor wenigen Stunden in eben dieser Frage dementiert. Ich darf zitieren, was die sehr ehrenwerte Frau Irmgard Blättel in der neuesten Ausgabe der „Welt der Arbeit" vom 28. Februar 1985 geschrieben hat.
— Das ist die Stellvertreterin Ihres Kollegen Blüm. Die sollten Sie kennen. Ich weiß nicht, zu welchem Flügel Sie gehören.
An Frau Blättel wurde die Frage gerichtet:Neuesten Pressemeldungen zufolge beabsichtigt Norbert Blüm, nach 1990 die Lebensarbeitszeit zu verlängern, und zwar über das 65. Jahr hinaus. Ist das nicht ein erneuter Affront gegen die Gewerkschaften?Darauf antwortete Frau Blättel, die Stellvertreterin von Herrn Blüm:Hierbei kann es sich wohl nur um einen weiteren unausgegorenen Plan von Herrn Blüm handeln.
Ich habe kein Verständnis dafür, daß die älteren Menschen jeden Tag mit neuen Parolen verunsichert werden.
Herr Bundesarbeitsminister, wissen Sie, was Ihre eigene Stellvertreterin Ihnen sagt? Sie sagt Ihnen, Sie seien im Grunde genommen da, wo Udo Lindenberg mehr als 20 Leute braucht, um sein Panikorchester zur Geltung zu bringen, in der Lage, das allein zu schaffen. Sie sind als einziger in der Lage, öffentlich soviel Panik und Chaos zu erzeugen, daß in der Tat die Rentnerinnen und Rentner nicht mehr wissen, woran sie sind.
Das ist der eine Punkt.Der zweite Punkt betrifft das Stichwort Verschiebebahnhof und Ihre Aussage, der Beitrag müsse dort gesenkt werden, wo Überschüsse entstehen. Ich werde darauf noch zurückkommen. Das ist in der Tat nichts anderes als blanker Zynismus; denn bei der Bundesanstalt für Arbeit sind deshalb Überschüsse entstanden, weil Hunderttausende, ja Millionen von Menschen — wenn man die Familienangehörigen einbezieht — inzwischen wohl kein menschenwürdiges Leben mehr führen können, weil der materielle Lebensstandard nicht mehr ausreicht.
Ich komme zu einem dritten Punkt. Sie haben gesagt: Die Lohnentwicklung ist hinter den Vorhersagen zurückgeblieben. Sie meinten, das sei ein Grund für die gegenwärtigen Sanierungsbemühungen.
Herr Blüm, es ist in der Tat besonders bemerkenswert, wenn Sie bedauern, die Lohnentwicklung sei hinter Ihren Wünschen zurückgeblieben. Sie waren es, der hier im Plenarsaal des Deutschen Bundestags im Oktober 1982 folgendes ausgeführt hat:Die amerikanische Automobilarbeitergewerkschaft hat mit Ford und General Motors einen Tarifvertrag abgeschlossen mit dem Verzicht auf Lohnerhöhungen für 30 Monate. Auf den Zusatzurlaub von neun Tagen, der schon vereinbart war, haben sie ebenfalls verzichtet. Sie haben sich zudem einverstanden erklärt, den Einstellungslohn um 15% zu senken.Dann weiter:Das, was amerikanische Gewerkschaften können, werden doch wohl auch die deutschen Gewerkschaften können.
Herr Abgeordneter Schreiner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Blüm?
Ich erlaube sie nach einem weiteren Satz. Herr Kollege Blüm, wären Sie in der Lage, in Ihre Zwischenfrage die Überlegung mit einzupacken, welches Arbeitslosenniveau wir heute hätten und wie groß Ihre zusätzlichen Rentensanierungsbemühungen sein müßten, wenn die deutschen Gewerkschaften vor etwas mehr als anderthalb Jahren sich an Ihre Ratschläge gehalten hätten?
Zu einer Zwischenfrage, Herr Abgeordneter Blüm.
Herr Schreiner, können Sie den Unterschied akzeptieren zwischen einer Lohnpause zu Zeiten von Minuswachstum und einem Zuwachs der Löhne bei Pluswachstum, wo ein Teil des Zuwachses in Zeit umgewandelt wird, in Freizeit, an der bekanntlich die Rentner nicht teilnehmen?
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9184 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 124. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. März 1985
Ich akzeptiere gern den eben getroffenen Unterschied; das ist überhaupt keine Frage. Der entscheidende Punkt ist ein völlig anderer. Der entscheidende Punkt ist, daß Ihre Rentensanierungsbemühungen heute vor nahezu unlösbaren Aufgaben stünden, wenn sich die deutsche Gewerkschaftsbewegung an Ihren Ratschlag aus dem Oktober 1982 gehalten hätte.
Das ist der entscheidende Punkt!
Da müßten Sie Ihre Experten bitte einmal beauftragen, nachzurechnen,
was es denn an Einnahmeausfällen für die Rentenversicherungskassen bedeuten würde, wenn nach Ihrer Empfehlung vom Oktober 1982 ab 1982 in die Tarifverträge ein Lohnerhöhungsverzicht für 30 Monate,
die Streichung des Zusatzurlaubs von 9 Tagen
und die Reduzierung des Einstellungslohns um 15 % eingearbeitet worden wären.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Blüm?
Das ist jetzt wirklich die letzte Zwischenfrage, weil Ihre Opernsänger hier keine Zwischenfragen von uns zugelassen haben. Ich finde das nicht besonders höflich von den Kollegen, aber bitte!
Herr Kollege Schreiner, ich bedanke mich bei Ihnen dafür, daß Sie ein so vorbildlicher Kollege sind!
Bleiben wir bei dem Vergleich: Würden Sie akzeptieren, daß die Einnahmen der Rentenversicherung nicht nur von der Lohnhöhe abhängig sind, sondern auch von der Zahl derjenigen, die überhaupt Lohn empfangen, also von der Zahl der Beschäftigten?
Das ist doch gar keine Frage!
Und würden Sie akzeptieren, daß eine vernünftige Lohnpolitik auch über die Zahl der Beschäftigten entscheidet?
Es ist doch überhaupt keine Frage, daß die Summe der Löhne entscheidend für das ist, was bei den Rentenversicherungen an Einnahmen da ist. Aber eine ganz andere Frage ist doch, ob für den Fall, daß Sie das Lohnniveau erheblich absenken, die Zahl der Arbeitsplätze steigen würde. Das ist Ihre These.
Da kann ich Ihnen nur sagen: Fragen Sie einmal die Industrie- und Handelskammer des Saarlandes.
— Moment, Herr Cronenberg, Sie sind noch gar nicht dran! — Fragen Sie die Industrie- und Handelskammer des Saarlandes, die mir nun wahrlich politisch nicht nahesteht. Sie hat sich gegen entsprechende Überlegungen aus anderen Kreisen mit der Aussage gewandt, daß nach ihren eigenen Berechnungen das im Saarland jetzt schon unter dem Durchschnitt des Bundes liegende Lohnniveau in der Vergangenheit nicht einen einzigen zusätzlichen Arbeitsplatz gebracht hätte.
Das sagt die Industrie- und Handelskammer des Saarlandes, und ich könnte auch den DGB Saar zitieren; da würden Sie hier sehr staunen. Sie würden nicht mehr in der IG Metall sein wollen, wenn Sie hörten, was dort zu diesen Aussagen gesagt wird.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Kirschner?
Jetzt aber wirklich die letzte!
Herr Kollege Schreiner, Sie weisen zu Recht darauf hin, daß es eben im Unterschied zu den Aussagen des Bundesarbeitsministers bei seinem Ministereinstand auch noch darauf ankommt, daß — und darauf hat der Bundesarbeitsminister ja auch hingewiesen — die Einnahmen der Rentenversicherung auch von der Zahl der Beschäftigten abhängen. Stimmen Sie mit mir darin überein, daß gerade die jüngst von der IG Metall durchgesetzten Tarifverträge beispielsweise bei Daimler-Benz zur Einstellung von 1 500 Beschäftigten führen werden
und daß dies letzten Endes zur Verbesserung der Einnahmeseite der Rentenversicherung führen wird?
Ich würde mir durchaus wünschen, daß der Bundesarbeitsminister den Argumenten, die eben in Frageform vorgetragen worden sind, zugehört hat.
— Er möchte gern Direktspiel machen; damit bin ich auch einverstanden. Herzlichen Dank, Herr Kollege Kirschner!
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SchreinerIch will dieses Zitatespiel nicht weiter fortsetzen; nur eines müssen Sie mir noch erlauben, da sich der Bundesarbeitsminister wenige Tage vor einer nicht ganz unmaßgeblichen Landtagswahl im Saarland an die Bevölkerung des Bundeslandes, aus dem ich auch komme, gewandt hat. Herr Blüm, Sie haben im Saarländischen Rundfunk vor ein paar Tagen gesagt, daß Sie die Hoffnung hätten, bis Ende 1988 mit der Massenarbeitslosigkeit endgültig fertig zu werden. Das war der Originalton Blüm vor ein paar Tagen im Saarländischen Rundfunk.
Herr Bundesarbeitsminister, diese Prophetengabe, die Sie da an den Tag legten, erinnert mich an eine andere Prophezeiung des offenkundig gleichen Bundesarbeitsministers — auch der hieß nämlich Blüm — vom 5. Juni 1983.
Das ist gar nicht lange her.
Am 5. Juni 1983 hat der gleiche Bundesarbeitsminister Blüm in der Tageszeitung „Express" gesagt, 1985 gäbe es nur noch 1 Million Arbeitslose.
Nun haben wir 1985, und wir haben einen Arbeitslosensockel von 2,6 Millionen, 2,6 Millionen statistisch registrierter Arbeitslose! Wir haben einen realen Arbeitslosensockel von 4 Millionen einschließlich der stillen Reserve.
Das heißt, Herr Blüm, wenn Sie einen Rest von Seriosität besäßen,
müßten Sie den Saarländischen Rundfunk schleunigst um ein weiteres Interview bitten, in dem Sie zugeben müßten, daß Sie leichtfertigerweise versucht haben, die wache Saarbevölkerung im letzten Moment zu einem falschen Wahlverhalten zu verleiten.
Das wäre die einzig redliche Antwort auf das, was Sie gemacht haben.Nun will ich noch einige Bemerkungen zu dem machen, was der Kollege George gesagt hat. Man soll immer versuchen, auf die Vorredner einzugehen. Der Kollege George hat gesagt, entscheidend sei die Bilanz. Entscheidend sei, was die SPD-geführte Bundesregierung Ihnen 1982 an Bilanzen übergeben habe.
— Wenn Sie mit Ihren Einwürfen jetzt so richtig ausgeräuspert haben, würde ich ganz gerne sagen. wie die Bilanz denn wirklich ist.
Sie haben 1982 im Oktober eine Rentenreserve von über 22 Milliarden DM bekommen, und Sie haben diese Rentenreserve innerhalb kürzester Zeit von mehr als 22 Milliarden DM auf unter 10 Milliarden DM heruntergewirtschaftet.
Das ist ein Punkt, wenn man über Bilanzen redet.Dann hat der Kollege George gesagt, man möge um Gottes willen keine Unruhe verbreiten.
— Herr Präsident, ich mache das ja ganz gerne mit den Kollegen, aber wenn die es übertreiben, wäre ab und zu eine kleine Maßnahme des Präsidenten hilfreich.
Ich bin Ihnen gerne behilflich, aber es trifft leider Gottes auf alle Fraktionen zu.
Ich bitte gerade auch die Fraktion der CDU/CSU, mit Zwischenrufen zurückhaltender zu sein.
Das wird wenig nützen.Dann hat der Kollege George gesagt, mit das Schlimmste sei es, Panik zu verursachen, Unruhe zu verursachen. Dies würde die Rentnerinnen und Rentner unnötigerweise belasten. Ich kann Ihnen nur sagen, auf das Stichwort Panik, auf das Stichwort Unruhe: Wer hat früher das Stichwort vom Rentenbetrug aufgebracht?
Wer rennt heute Tag und Nacht durch die Lande und verkündet geradezu jeden Tag eine neue Parole? Das ist niemand anderes als der Bundesarbeitsminister. Wer redet über Verlängerung der Lebensarbeitszeit? Wer redet über Wiedereinführung des Samstag als voller Arbeitstag?
Das sind allesamt Fragen, die offenkundig in einem Zusammenhang stehen auch mit den Problemen der Rentenversicherung.
Herr Kollege Blüm, wir als Kinder haben gesagt: Der Samstag gehört der Familie, gehört unserem Vater, der Vater gehört uns. Wenn Ihre komischen Pläne Wirklichkeit würden, würden die Väter von heute sagen: Der Opa von morgen gehört samstags
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9186 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 124. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. März 1985
Schreinerin den Betrieb. Was ist das eigentlich für eine Perspektive, die Sie den Leuten anbieten,
gerade bezogen auf die Problematik in den Rentenversicherungen? Sie sind doch derjenige, der fortgesetzt und ohne Pause zu machen — es sei denn, Sie sitzen billig in Silicon Valley in Kalifornien und entdecken dort neue, wenn ich das richtig gelesen habe, „Absturzecken" — ständig neue Schlagworte aufbringt,
j a, gewissermaßen Stinkbomben, Verwirrungsbomben, Nebelbomben, Nebelkerzen wirft mit dem Ergebnis, daß Sie als wandelndes Panikorchester nicht nur den Neid Ihres Kollegen Udo Lindenberg hervorrufen, sondern die deutschen Rentnerinnen und Rentner kollektiv in Unruhe stürzen und das fortgesetzt.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Blüm?
Bitte schön!
Herr Kollege Schreiner, ist es für Sie eine Überraschung, daß ich beim Thema Samstagarbeit voll übereinstimme mit dem stellvertretenden Vorsitzenden der IG Metall namens Steinkühler, der von Ihnen und mir sehr geschätzt wird, daß bei verkürzter Wochenarbeitszeit die Zeit auch auf andere Tage verteilt werden muß?
Das möchte ich bestreiten. Das müßten Sie mir schriftlich bringen, wo Sie den Kollegen Steinkühler für Ihre Politik beanspruchen können. Das wäre in der Tat ein mittleres Wunder, das wäre eine völlig neue Qualität der Auseinandersetzung hier. Ich möchte Sie bitten, das bei Gelegenheit etwas näher zu präzisieren.
Was ich sagen will, ist: Wenn die Bundesregierung selbst durch kurzatmige Politik, durch ständig neue Parolen, die vom zuständigen Minister in die Welt gesetzt werden, dafür sorgt, daß große Unruhe bei den Rentnerinnen und Rentnern entsteht, dann in der Tat gefährden Sie selbst mit dieser Form von Politik soziale Sicherheit. Wenn es richtig ist, daß soziale Sicherheit mehr ist als die Summe der formellen Rechtsansprüche, wenn zur sozialen Sicherheit auch das Gefühl der Betroffenen gehört, in sozialer Geborgenheit ihren Lebensabend gestalten zu können, wenn auch das ein wichtiger subjektiver Bestandteil von sozialer Sicherheit ist,
Herr Bundesarbeitsminister, dann sind Sie drauf und dran, diese wichtige Seite von sozialer Sicherheit permanent zu zerstören.
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Bitte, kommen Sie zum Schluß.
Das ist sehr schade. Ich hoffe, daß Sie mir die Zwischenfragen nicht angerechnet haben.
Ich will zum Schluß kommen.
Der zweite und wesentliche Vorwurf, der an Ihre Adresse zu richten ist, ist der Umstand, daß im Rahmen Ihrer Sparoperationen — hier geht es um überhaupt nichts anderes als um die Fortsetzung Ihrer Sparoperationen — die Arbeitslosen und die Rentnerinnen und Rentner diejenigen sind, die bis an nicht mehr erträgliche Grenzen des eigenen Lebensstandards von Ihrer Sparwalze überrollt werden. Es geht Ihnen im Prinzip nicht um Sparen, sondern darum, das Heer der von Ihnen selbst produzierten Arbeitslosen
durch weitere Senkungen ihres materiellen Lebensniveaus so hörig zu machen, daß die Kolleginnen und Kollegen bereit sind, um nahezu jeden Preis Arbeit anzunehmen. Das ist die strategische Funktion Ihrer Politik,
die gegen die Arbeitslosen und die Rentner geführt wird.
Herr Abgeordneter, kommen Sie bitte zum Schluß!
Ich darf Ihnen als letzten Satz mit auf den Weg geben: Die Art und Weise, wie Sie Politik gegen die Arbeitslosen und die Rentnerinnen und Rentner in der Vergangenheit gemacht haben — —
Herr Abgeordneter, ich muß Ihnen leider das Wort entziehen. Sie sind meinen Aufforderungen nicht gefolgt.Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Gesetzentwurf auf Drucksache 10/2889 zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung und zur Mitberatung an den Ausschuß
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 124. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. März 1985 9187
Präsident Dr. Jenningerfür Wirtschaft sowie zur Mitberatung und zur Beratung gemäß § 96 unserer Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuß zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Meine Damen und Herren, wir sind damit am Schluß unserer Tagesordnung.Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 13. März 1985, 13 Uhr ein.Die Sitzung ist geschlossen.