Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren, nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die Tagesordnung um vier Zusatzpunkte erweitert werden. Diese Punkte sind in der Liste „Weitere Zusatzpunkte zur Tagesordnung" aufgeführt, die Ihnen vorliegt..
3. a) Beratung der Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zum Entschließungsantrag der Fraktion der SPD zur Erklärung der Bundesregierung zum Ergebnis der NATO-Konferenz am 9./10. Juni 1983
— Drucksachen 10/152, 10/190 —
Berichterstatter:
Abgeordneter Dr. Todenhöfer
Voigt
in Verbindung mit
b) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Entscheidung des Deutschen Bundestages zur Frage einer etwaigen Stationierung von nuklearen Mittelstreckenwaffen
— Drucksache 10/191 —
und
c) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP
Verhandlungsergebnis in Genf
— Drucksache 10/200 —4. Beratung der Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zum Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP zur Erklärung der Bundesregierung zum Ergebnis der NATO-Konferenz am 9./10. Juni 1983
— Drucksachen 10/155, 10/196 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Voigt
Dr. Todenhöfer
Ich sehe, der Bundestag ist damit einverstanden. Widerspruch erhebt sich nicht. Es ist so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 und 7 auf: Bericht zur Lage der Nation
Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Transitwege von und nach Berlin
— Drucksache 10/117 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen Ausschuß für Verkehr
Im Ältestenrat sind eine gemeinsame Beratung dieser beiden Tagesordnungspunkte und eine Beratungsdauer von 5 1/2 Stunden vereinbart worden. — Ich höre keinen Widerspruch. Auch heute wollen wir uns an das strenge Verfahren halten. Es ist so beschlossen.
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit diesem Bericht zur Lage der Nation kehrt die Bundesregierung zum ursprünglichen Auftrag des Deutschen Bundestages zurück, alljährlich einen Bericht zur Lage der Nation im gespaltenen, im geteilten Deutschland vorzulegen.
In den 70er Jahren hatte der Bericht nur noch den Titel „Bericht zur Lage der Nation" getragen; der Hinweis auf das geteilte Deutschland war unterblieben. Der Schwerpunkt der Berichterstattung und damit auch der Diskussion hatte sich zunehmend auf die politische Lage der Bundesrepublik Deutschland verlagert.Heute wenden wir uns wieder dem eigentlichen Zweck dieser Berichterstattung zu: Es geht um Deutschland, es geht um Selbstbestimmung, um Menschenrechte, und es geht um die Einheit unserer geteilten Nation. Wir finden uns nicht damit ab, daß deutschen Landsleuten das Recht auf Selbstbestimmung vorenthalten und daß ihre Menschenrechte verletzt werden.
Wir Deutsche finden uns mit der Teilung unseres Vaterlandes nicht ab.
Wir werden den Auftrag des Grundgesetzes zielstrebig und beharrlich weiterverfolgen, „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden". Wir resignieren nicht,
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988 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983
Bundeskanzler Dr. Kohldenn wir wissen die Geschichte auf unserer Seite.Der gegenwärtige Zustand ist nicht unabänderlich.
Aus geschichtlicher Erfahrung sind wir uns bewußt, daß die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands in Frieden und Freiheit nur im Rahmen einer gesamteuropäischen Friedensordnung zu verwirklichen ist.Meine Damen und Herren, die Teilung Deutschlands ist immer zugleich die Teilung Europas. Deutschlandpolitik muß sich deshalb immer auch als Beitrag zum europäischen Einigungswerk und damit als europäische Friedenspolitik verstehen. Die ersten, die nach dieser Einsicht gehandelt haben, waren die Vertriebenen und Flüchtlinge, die als Folge des Zweiten Weltkrieges ihre Heimat verloren hatten. Sie haben damals mit großem Lebensmut die Bundesrepublik Deutschland als ihre neue Heimat angenommen und mit aufgebaut.Für die Überwindung der deutschen Teilung brauchen wir den Rückhalt im Atlantischen Bündnis und in der Europäischen Gemeinschaft. Das Bündnis und das geeinte Europa, wir brauchen sie mehr als andere.
Es gibt zwei Staaten in Deutschland, aber es gibt nur eine deutsche Nation. Ihre Existenz steht nicht in der Verfügung von Regierungen und Mehrheitsentscheidungen. Sie ist geschichtlich gewachsen, ein Teil der christlichen, der europäischen Kultur, geprägt durch ihre Lage in der Mitte des Kontinents. Die deutsche Nation war vor dem Nationalstaat da, und sie hat ihn auch überdauert; das ist für unsere Zukunft wichtig.Die Bundesrepublik Deutschland, meine Damen und Herren, gehört zum Westen. In der Auffassung der westlichen Welt von der Würde und Freiheit des Menschen hat unsere Verfassung ihr Fundament. In allen Parlamentswahlen seit 1949 haben unsere Bürger die Grundentscheidung für das freie Europa und für das Werk der Europäischen Einigung bestätigt.Wir haben eine Idee von der deutschen Nation, die unvereinbar ist mit dem Bild von Deutschland, das sich die amtliche DDR heute noch macht. Wir wollen die Nation freier Bürger, die Nation, die Klassengegensätze überwindet, widerstreitende Interessen versöhnt und Gemeinschaft stiftet im Bekenntnis zum geschichtlichen Erbe und zu den Werten und Tugenden, die allen Deutschen eigen und verpflichtend sind.
In dem freiheitlichen Menschenbild des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland erkennen sich die Deutschen — ich meine, alle Deutschen — wieder.Meine Damen und Herren, 1983 jähren sich wichtige Gedenktage, wichtig, weil unübersehbar in ihrer fortwirkenden Bedeutung für unsere Gegenwart. Übermorgen, am 25. Juni, erinnern wir uns in Krefeld an die Auswanderung der ersten deutschenFamilien nach Amerika vor 300 Jahren. In diesen 300 Jahren wuchs ein großes Band, eine gewaltige Verbindung von Menschen im Auf und Ab der Geschichte.Vor sechs Tagen hat der Herr Bundespräsident hier von dieser Stelle aus den 30. Jahrestag des 17. Juni 1953 gewürdigt. Er hat aus diesem Anlaß betont, daß das deutsche Volk an seinem Willen zur Einheit in Freiheit auch nach 30 Jahren geduldig festhält. Denn, so sagte der Bundespräsident:Die Deutschen in der Bundesrepublik Deutschland und die Deutschen in der DDR sehen nicht die Bundesrepublik und nicht die DDR, sondern Deutschland als ihr Vaterland an.
Meine Damen und Herren, der 17. Juni wirkt politisch weiter. Die Bundesrepublik Deutschland hat dieses Datum zum Tag der deutschen Einheit, zum nationalen Gedenktag des deutschen Volkes gemacht. Ich möchte feststellen: Dabei bleibt es!
Wenn wir in der Bundesrepublik Deutschland das Andenken an den Aufstand von 1953 bewahren, dann tun wir das für alle Deutschen — auch für unsere Landsleute in der DDR. „Wir wollen freie Menschen sein", riefen bereits am Vormittag des 16. Juni die Bauarbeiter der Stalinallee. Wir wollen freie Menschen sein — meine Damen und Herren, bündiger und präziser kann der Wille der Nation nach der gemeinsamen Erfahrung mit der totalitären NS-Diktatur nicht ausgedrückt werden.
Wir alle wissen, daß Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung höchste Werte sind; sie sind auf Dauer nicht teilbar. Darin liegt für uns, für unser Volk — im Sinne der Präambel unseres Grundgesetzes — große Hoffnung.In diesem Jahr, meine Damen und Herren, erinnert sich unsere Nation aber auch des Aufstiegs der deutschen Diktatur durch Hitlers Machtergreifung vor 50 Jahren. Auch das gehört zur gemeinsamen Geschichte der Deutschen. Aber der totalitäre Staat, die Diktatur, ist nicht das Ziel der deutschen Geschichte gewesen und nicht ihr letztes Wort geblieben. Er ist Vergangenheit, widerlegt durch seine Taten und überwunden durch die Entscheidung der Deutschen für die Freiheit und die Würde des Menschen.Ich denke, wirkungsmächtiger vor der Geschichte sind der Glaube und die Ideen, die Martin Luther den Deutschen und der Welt hinterlassen hat. Die Erinnerung an Martin Luther und die Frage, was er für Zeit und Zukunft bedeutet, führen die Deutschen in diesem Jahr zusammen.
Martin Luther ist eine Gestalt der deutschen Geschichte und der Geistesgeschichte der Welt. Vor 500 Jahren in Eisleben geboren, stand er an der Schwelle vorn Mittelalter zur Neuzeit. Er war kein Mensch der Renaissance, und ihm ging es nicht um Revolution. Er wollte die Kirche erneuern. Seine
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983 989
Bundeskanzler Dr. KohlBibelübersetzung und seine zahlreichen Schriften haben die deutsche Sprache, haben unsere Sprache lebendig und kraftvoll geformt.Meine Damen und Herren, Martin Luther steht an den Anfängen der deutschen Kultur der Neuzeit. Wir Deutschen sind so, wie wir sind ohne die Gestalt des Reformators nicht zu denken. Zu Martin Luthers Gedenken gibt es in beiden Teilen Deutschlands eine Vielzahl wichtiger Veranstaltungen. Bei uns in der Bundesrepublik werden sie vor allem von der Kirche gestaltet. In der DDR dagegen zeigt das Luther-Jubiläum besonders deutlich das Bemühen um eine parteiische, vom Staat diktierte Aneignung der Geschichte.Die staatliche Sicht auf Luther in der DDR will den Reformator als Vorläufer der sozialistischen Gesellschaft vereinnahmen. Das Luther-Komitee der Evangelischen Kirche in der DDR sagt aber ganz einfach: Luther ist ohne die Kirche nicht zu denken.Die großen Gedenktage dieses Jahres — dazu gehört auch der hundertste Todestag von Karl Marx — zeigen die Einheit der Nation in ihrer ganzen, in ihrer vieldeutigen Geschichte. Die SED hat seit ihrer Entstehung stets auf das sozialistische Deutschland gepocht. Das ist ihr Ziel bis heute geblieben. Geändert haben sich in den letzten Jahren historische Begründungen. Früher hat sich die DDR nur mit parteiisch ausgewählten Epochen und Gestalten unserer Geschichte identifiziert; alles andere hat sie abgewiesen und verdammt, Preußen nicht anders als Friedrich den Großen, den Aufstieg des Bürgertums nicht anders als Martin Luther.Wer sich — wie die DDR — der deutschen Geschichte bemächtigen will, um daraus nationale Ansprüche abzuleiten, der muß sich der ganzen deutschen Geschichte stellen. Wir müssen, um die Zukunft zu meistern, mit unserer Geschichte leben, wie sie nun einmal war, und wir müssen versuchen, daraus zu lernen.Ich finde, es ist gut, daß in den beiden Staaten in Deutschland der Blick wieder mehr auf die gemeinsame Geschichte gerichtet wird;
denn in ihrer Geschichte, in ihrer Sprache und in ihren Werten ist die Einheit der Nation unverlierbar. Ein Regime, meine Damen und Herren, das sich mit Mauer und Stacheldraht umgibt, mag die Geschichte umschreiben wollen. Bestehen wird es vor der Geschichte nicht. Solche Regime — das zeigt die Geschichte — werden vom Freiheitswillen der Menschen und Völker überlebt.Dieses Wissen begründet auch unsere Zuversicht und begründet den Lebensmut der Menschen im freien Teil Berlins. Die Lage unserer Nation spiegelt sich im Schicksal der Stadt Berlin. Seit Kriegsende geteilt, gehört die Stadt zwei verschiedenen politischen Welten an, die sich hier auf engstem Raum gegeneinander darstellen und abgrenzen. Die Mauer in Berlin ist zum weltweit bekannten Symbol der gewaltsamen Teilung Deutschlands geworden.1987 wird Berlin 750 Jahre alt. Dieses Jubiläum wird an die in einer langen Stadtgeschichte gewachsenen Bindungen mitten in Deutschland erinnern. Ich hoffe, daß unser gemeinsames Ziel, zu diesem Zeitpunkt das deutsche historische Museum in Berlin zu eröffnen, erreichbar sein wird.
Meine Damen und Herren, Berlin bleibt Gradmesser für die Ost-West-Beziehungen, Berlin bleibt das Symbol für die offene deutsche Frage. Deshalb wollen wie die Lebensfähigkeit der Stadt sichern, ihre Attraktivität wirtschaftlich, kulturell und politisch fördern. Die Festigung und Weiterentwicklung der Bindungen Berlins an den Bund bleibt eine Aufgabe von nationalem Rang.Unser besonderes Anliegen ist die Aufrechterhaltung einer stabilen Lage in und um Berlin. Dazu gehört vor allem der ungehinderte Verkehr auf den Zugangswegen. Die strikte Einhaltung und volle Anwendung des Viermächteabkommens über Berlin ist von entscheidender Bedeutung für die Qualität der Ost-West-Beziehungen.
Wir stellen dankbar fest, daß das Schlußkommuniqué der NATO-Ministerratstagung, die am 9. und 10. Juni, also vor wenigen Tagen in Paris stattfand, erneut zeigt, daß diese Haltung von unseren Verbündeten ohne jeden Vorbehalt geteilt wird.Die wirtschaftliche Lage Berlins, die seit Jahren Anlaß zu Besorgnis gibt, zeigt erstmals wieder leicht positive Ansätze. Die Bundesregierung und der Berliner Senat — ich sage ganz bewußt: ich folge hier auch jenen Anregungen, die mein Amtsvorgänger gegeben hat — haben in vertrauensvollem Zusammenwirken verbesserte Rahmenbedingungen geschaffen. Ich gehe deshalb davon aus, daß die deutsche, aber auch die ausländische Wirtschaft Berlin als attraktiven Industriestandort wieder stärker in ihre Unternehmensplanungen einbezieht. Die Berliner Wirtschaftskonferenz Ende 1982, die erste in meiner Amtszeit, hat diese Erwartungen bereits bestätigt, und ich freue mich darüber, daß die von der deutschen Industrie angekündigten Investitionsvorhaben schneller umgesetzt werden konnten, als seinerzeit zu erwarten war.Aber, meine Damen und Herren, es gibt auch Bereiche, die uns weiterhin Sorgen bereiten, so der überproportionale Abbau von Arbeitsplätzen insbesondere in der gewerblichen Wirtschaft Berlins, die hohe Arbeitslosenquote, die mit 11,6 % im Mai deutlich über dem Bundesdurchschnitt lag, und die rückläufige Zuwanderung westdeutscher Arbeitnehmer in die Stadt.Die Bundesregierung und der Berliner Senat haben eine Reihe von Maßnahmen getroffen, um die Lebensfähigkeit der Stadt durch neue, zukunftsorientierte Arbeitsplätze zu sichern. Hier möchte ich nur die zum 1. Januar 1983 in Kraft getretene Novellierung des Berlinförderungsgesetzes und das vom Berliner Senat beschlossene Struktur- und
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990 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983
Bundeskanzler Dr. KohlAusbildungsprogramm nennen. Damit sind Weichen für Erneuerung und Modernisierung der Berliner Wirtschaft gestellt.Meine Damen und Herren, ein wichtiges Ereignis für Berlin war die Unterzeichnung der kommerziellen Verträge über die Lieferung von Erdgas aus der Sowjetunion. Sie schaffen weitere Grundlagen für die langfristige und kostengünstige Energieversorgung der Berliner Wirtschaft. Diese Vereinbarungen tragen dazu bei, im Rahmen der innerdeutschen Beziehungen die Situation von Berlin zu erleichtern und zu verbessern.In diesen Zusammenhang gehört auch die Einbeziehung der S-Bahn in das Berliner Nahverkehrssystem. Das Bundeskabinett hat — in Übereinstimmung mit dem Berliner Senat — am 1. Juni dem dazu erarbeiteten Konzept zugestimmt.Herr Präsident, meine Damen und Herren, die Bundesregierung wird sich auch in Zukunft im Rahmen der Berlin-Hilfe an der Finanzierung des Berliner Haushalts beteiligen. Diese Hilfe ist für uns ein selbstverständlicher Akt unserer Solidarität mit den Menschen einer Stadt, die in ihrer geographischen Lage von den Auswirkungen der Teilung Deutschlands in besonderem Maße betroffen ist.Meine Damen und Herren, zehn Jahre nach Inkrafttreten des Grundlagenvertrages mit der DDR sind die beiden Staaten in Deutschland von dem dort formulierten Ziel normaler gutnachbarlicher Beziehungen nach wie vor weit entfernt.
Normalität kann nicht entstehen, solange es an der Grenze mitten durch Deutschland Mauer, Stacheldraht, Schießbefehl und Schikanen gibt.
Gutnachbarliche Beziehungen kann es nicht geben, solange Landsleute aus der DDR immer wieder Leben und persönliche Freiheit aufs Spiel setzen, weil ihnen elementare Menschenrechte vorenthalten werden. Dazu können und dazu werden wir nicht schweigen;
denn Friede kann nicht gedeihen, wo Menschenrechte mißachtet werden. Auch die Schlußakte der KSZE von Helsinki und die Menschenrechtsdokumente in allen anderen Bereichen stellen diesen Zusammenhang immer wieder eindeutig her.Das Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen ist trotz nunmehr 38 Jahre währender Teilung unseres Vaterlandes unverändert lebendig. Dies zeigen die vielfältigen Verbindungen, die nicht-staatliche Organisationen auf ihren Ebenen in die DDR aufgebaut haben und unterhalten. Ich möchte hier ganz besonders die grenzüberschreitende Partnerschaft der Kirchen innerhalb Deutschlands dankbar würdigen. Bis hin zu den Gemeindemitgliedern werden hier nicht nur Kontakte gepflegt, sondern wird zusammengearbeitet und tatkräftige Hilfe geleistet.Meine Damen und Herren, aus all dem ergibt sich: Praktische Deutschlandpolitik kann nur alsPolitik des Dialogs, des Ausgleichs und der Zusammenarbeit erfolgreich sein. Den Zustand, wie er heute ist, wollen wir nicht bloß verwalten. Mit konkreten Schritten wollen wir die Teilung erträglicher machen und vor allem weniger gefährlich.
Wir wollen dies tun in mitmenschlicher Verantwortung für die Deutschen in der DDR, die unsere Nächsten, also mehr als unsere Nachbarn sind.Über ein geregeltes Nebeneinander hinaus erstreben wir einen Zustand des Zusammenlebens in Deutschland, in dem das gewachsene Geflecht der Beziehungen sich verdichtet und weiter verfestigt, einen Zustand, in dem beide Seiten durch ausgewogenes Geben und Nehmen ihrer Verantworung für die Menschen gerecht werden, einen Zustand, der für beide Seiten Verpflichtungen enthält, auf die sie sich verlassen können.Meine Damen und Herren, wer sich zum Erbe der gemeinsamen deutschen Geschichte bekennt, kann sich dem nicht verschließen. Auch das gehört zur historischen Kontinuität.
In den Regierungserklärungen vom Oktober 1982 und Mai 1983 habe ich die Grundsätze bezeichnet, die für unsere Deutschlandpolitik bestimmend sind. Die Bundesregierung wird die Verträge mit der DDR als Instrument aktiver Friedenspolitik im Interesse der Menschen im geteilten Deutschland nutzen. Deutschlandpolitik muß ausgehen von den realen Machtverhältnissen in unserer Zeit. Aber, meine Damen und Herren, zu der Macht der Tatsachen zählen nicht nur die Politik der Regierungen und die Stärke der Waffen, sondern auch der Wille der deutschen Nation zur Einheit.
Nicht nur die Rechtslage, sondern auch die geschichtliche Kraft dieses Willens unseres Volkes hält die deutsche Frage offen.
Wer anders spricht, kann weder für unsere Freunde im Westen noch für unsere Nachbarn im Osten glaubwürdig sein.Generalsekretär Honecker hat sich auf der Leipziger Frühjahrsmesse 1983 dafür ausgesprochen, diejenigen Fragen in Angriff zu nehmen, die jetzt lösbar sind, und andere zurückzustellen. Ich halte es in der Tat für richtig, daß wir uns auf diejenigen Fragen konzentrieren, die ohne Preisgabe unserer elementaren Grundsätze mit Kompromissen lösbar sind. Zusammenarbeit, meine Damen und Herren, liegt — wo immer sie möglich ist — im wohlverstandenen Interesse beider Staaten in Deutschland.
Die politische Führung der DDR muß wissen: Die Bundesregierung hält sich strikt an das Grundgesetz und an Geist und Buchstaben des Grundlagenvertrages und der übrigen rechtsverbindlichen Ver-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983 991
Bundeskanzler Dr. Kohleinbarungen. Aber Vertragstreue erwarten wir selbstverständlich auch von der DDR.
Seit dem letzten Bericht zur Lage der Nation gab es keinen Stillstand — trotz fortbestehender Belastungen und trotz neuer Beeinträchtigungen des Klimas. Wir setzen uns auch in Zukunft intensiv für die Familienzusammenführung ein.Die DDR hat in jüngster Zeit wiederholt Mitbürger ausgebürgert und zwangsweise in die Bundesrepublik Deutschland abgeschoben, die sich in der Friedensbewegung in der DDR engagiert haben. Wir werden diesen Vorgang immer wieder klar und deutlich auch gegenüber der DDR ansprechen.Auch im vergangenen Jahr sind wieder weniger Menschen aus der Bundesrepublik Deutschland in die DDR gereist: 1982 nur noch 5 Millionen gegenüber früher 8 Millionen. Hier wirkt sich immer noch die Erhöhung und Ausweitung des Mindestumtausches vom Oktober 1980 aus. Sie trifft gerade Menschen mit geringem Einkommen und Kinderreiche besonders hart. Wir bestehen mit Nachdruck auf der Senkung der Mindestumtauschsätze.
In diesem Jahr kam es zu schwerwiegenden Vorfällen im Berlin-Transitverkehr und im Reiseverkehr in die DDR. Der Tod von zwei Menschen hat uns alle tief betroffen gemacht. Er hat die Probleme harter Grenzkontrollen erneut in das Bewußtsein der Öffentlichkeit gerückt. Die Entwicklung im Reiseverkehr in die DDR kann uns nicht zufriedenstellen. Zwar hat die DDR im vergangenen Jahr einige kleine Erleichterungen eingeführt. Einen nennenswerten Zuwachs im Reiseverkehr haben diese Maßnahmen indes nicht bewirkt. Im Reiseverkehr in die DDR haben Klagen über Schikanen, über hohe Zollstrafen seit einiger Zeit erheblich zugenommen. Die Bundesregierung hat dieses Thema aus Anlaß der jüngsten Fälle auf politischer Ebene gegenüber der DDR zur Sprache gebracht. Wir werden das immer wieder und entschieden tun, bis diese Vorkommnisse abgestellt sind.
Ich füge aber auch hinzu, daß die ersten Anzeichen für Verbesserungen, die wir beobachten, auf eine dauerhafte Entwicklung hinweisen.Im Transitverkehr mit Berlin macht uns vor allem die starke Zunahme der Verdachtskontrollen Sorge. Die Bundesregierung hat sich mit großem Nachdruck in der Transitkommission und auf politischer Ebene gegenüber der DDR-Regierung gegen diese Praxis gewandt. Die Belastungen — auch das gehört in diesen Bericht — im Transitverkehr unterstreichen vor allem auch die Bedeutung des Luftweges als des einzigen freien und unkontrollierten Zugangs von und nach Berlin. Die Bundesregierung hat den von der Vorgängerregierung beschlossenenstufenweisen Abbau der Subventionen für Flüge von und nach Berlin rückgängig gemacht.
Sie hat dafür im Bundeshaushalt 1983 einen Betrag von 95 Millionen DM bereitgestellt.Der Reiseverkehr aus der DDR in das Bundesgebiet hat seit Anfang der 70er Jahre nicht wesentlich zugenommen. Die weitaus meisten Reisenden sind ältere Menschen, überwiegend Rentner; sie sind uns herzlich willkommen. Eine erfreuliche Entwicklung können wir bei Reisen jüngerer Menschen in dringenden Familienangelegenheiten feststellen. In manchen Fällen genehmigt die DDR Reisen jüngerer Menschen inzwischen etwas großzügiger als bisher. In den ersten Monaten dieses Jahres waren es doppelt so viele wie im gleichen Zeitraum 1982. Gleichwohl bleibt die Zahl bei nur 46 000 Reisen im vergangenen Jahr auch weiterhin unzureichend.
Wichtigstes Ziel — und ich unterstreiche das auch sehr persönlich — unserer Politik im Ost-West-Reiseverkehr bleibt deshalb die Erweiterung der Reisemöglichkeiten auch für jüngere Menschen.Solange die persönliche Begegnung der Menschen im geteilten Deutschland nur unter Schwierigkeiten möglich ist, könnte der innerdeutsche Post- und Fernmeldeverkehr die Grenze durch Deutschland wenigstens etwas durchlässiger machen. Aber trotz einiger Verbesserungen ist z. B. die Zahl der Fernsprechleitungen für einen reibungslosen Telefonverkehr noch immer nicht ausreichend. Die Bundesregierung wird sich daher bemühen, auch auf diesem Gebiet Fortschritte im Interesse der Menschen zu erreichen.Meine Damen und Herren, um es noch einmal deutlich zu sagen: Alle Fortschritte bei den Bemühungen, über die Grenze in Deutschland hinweg Verbindungen und Kommunikation zwischen den Menschen zu vermehren und zu erleichtern, ändern nichts daran, daß diese Grenze unerträglich bleibt.
Das gilt nicht nur für die Menschen in Deutschland, das gilt in zunehmendem Maß auch für die natürlichen Lebensgrundlagen unseres Landes. Sie pfleglich zu behandeln, sie zu erhalten und unversehrt an die nachwachsenden Generationen weiterzugeben, muß der gemeinsame Auftrag der Verantwortlichen in beiden Teilen Deutschlands sein. Hier geht es um ein gemeinsames, ein gesamtdeutsches Lebensinteresse, das nicht notleidend werden darf.Alle Staaten in Europa — in Ost und West — werden mehr und mehr mit Umweltschutzproblemen konfrontiert, die kein Staat für sich allein lösen kann. Umweltbelastungen machen nicht an Grenzen halt. Die großräumige Luftverunreinigung und die alarmierenden Waldschäden bereiten nicht nur uns schwere Sorgen.992 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983Bundeskanzler Dr. KohlBei gutem Willen, so denke ich, können die beiden Staaten in Deutschland ein Beispiel dafür geben, was Zusammenarbeit beim Umweltschutz zum Wohl der Bürger zu leisten vermag.
Deshalb muß das im Grundlagenvertrag vorgesehene Umweltabkommen mit der DDR endlich zustandekommen. Bis dahin wird die Bundesregierung jede Gelegenheit nützen, um mit der DDR bei besonders dringlichen Problemen konkrete Verbesserungen zu erzielen. Ich verweise auf die Gespräche über die Schadstoffbelastung von Elbe und Werra.Gestern konnte in Leipzig ein erstes Fachgespräch über Fragen der Rauchgasentschwefelung geführt werden. Ein weiteres soll im Juli 1983 in Bonn folgen. Ich habe die Hoffnung und vor allem den Wunsch, daß diese Gespräche dazu beitragen werden, die Luftreinhaltung auf beiden Seiten der Grenze zu verbessern.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, unsere Bereitschaft zu langfristigen Abmachungen gilt auch für Umweltprobleme im Energiebereich. Die Bundesregierung sucht deshalb weiterhin das Gespräch über die Sicherheit kerntechnischer Anlagen sowie über Fragen des Strahlen- und des Katastrophenschutzes.Möglichst vielfältige Kontakte und Zusammenarbeit im Bereich von Kultur, Bildung, Wissenschaft und Technik und nicht zuletzt des Sports tragen zum besseren Verständnis zwischen den Menschen bei.Die DDR hat sich im September 1982 bereit erklärt, die 1975 unterbrochenen Verhandlungen über ein Kulturabkommen wieder aufzunehmen. Wir wissen, daß diese Gespräche ganz besonders schwierig sein werden. Aber wir wünschen, daß die Verhandlungen jetzt endlich beginnen.Die Beziehungen auf dem Gebiet des Sports hält der Deutsche Sportbund — und ich stimme ihm zu — für noch nicht befriedigend. Wir wünschen dringend, daß möglichst viele Sportler, möglichst viele junge Leute aus beiden Teilen Deutschlands Gelegenheit haben, sich im sportlichen Vergleich zu begegnen.
In den Rechtshilfeverhandlungen mit der DDR hat die Bundesregierung Vorschläge unterbreitet, die sich auf die derzeit lösbaren Fragen konzentrieren und für beide Seiten praktikable Lösungen anbieten.Der innerdeutsche Handel bietet Chancen für beide Seiten. Er ist ein wichtiges Element der Beziehungen zur DDR und bringt gerade auch der DDR vielfältigen Nutzen. 1982 wurde mit einem Handelsumsatz von über 14 Milliarden DM eine Zuwachsrate von 13% erreicht. Das kann günstige Aussichten für die Zukunft eröffnen.Die Bundesregierung ist bereit, die innerdeutschen Wirtschaftsbeziehungen auf der Grundlageder bestehenden Abkommen auszubauen und ihre kontinuierliche Entwicklung zum beiderseitigen Vorteil zu fördern. Diese Beziehungen sind über alle Veränderungen der internationalen Lage hinweg ein Element der Stetigkeit und der Berechenbarkeit für beide Staaten.Meine Damen und Herren, wir wissen, daß die DDR bei der Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik andere politische Ziele verfolgt als wir. Abgrenzung steht gegen mehr Freizügigkeit, und wir wollen mehr Freizügigkeit für Menschen, für Informationen, für Gedanken, für Meinungen.
Freizügigkeit, in diesem umfassenden Sinne verstanden, dient dem Frieden. Je mehr die Menschen voneinander wissen, desto besser können sie sich verstehen und desto lebendiger bleibt das Gefühl der Verbundenheit, desto schwerer ist es, sie durch Feindbilder zu manipulieren.Aber auch an uns hier in der Bundesrepublik liegt es, die DDR, diesen anderen Teil deutscher Wirklichkeit, nicht hinter einer Mauer des Vergessens sich selbst zu überlassen. Was in der DDR geschieht, wie die Menschen dort leben, was sie denken und empfinden — das alles ist Teil der deutschen Gegenwart.Ich möchte hier ausdrücklich ein Wort des Dankes an die Korrespondenten aus der Bundesrepublik Deutschland sagen, die sich trotz mancher Einschränkungen durch die Behörden der DDR tatkräftig bemühen, die Öffentlichkeit über die DDR zu informieren.
Die Bundesregierung wird sich dementsprechend auch weiterhin für eine Verbesserung der Arbeitsmöglichkeiten von Journalisten einsetzen.Meine Damen und Herren, jeder von uns macht die Erfahrung bei Begegnungen mit Mitbürgern aus der jüngeren und mittleren Generation, daß es eine erhebliche Unkenntnis über die Verhältnisse in der DDR gibt. Politische Bildung in den Schulen, Medien und nicht zuletzt die Parteien und die Politiker sollten das Ihrige dazu beitragen, um diesen Mangel zu beheben. Vor allem sollten Schulen und Lehrer mehr als bisher die Gelegenheit zu Schülerreisen in die DDR und zu persönlichem Kontakt mit Jugendlichen dort nutzen.
Damit das klar ist: Ich spreche hier nicht nur die Lehrer und die Eltern und die Schüler an, ich spreche hier auch ganz bewußt die Kultusministerien und die Kultusminister der deutschen Bundesländer an.
Ich glaube, wenn in all diesen Bereichen wieder dieÜberzeugung wächst, daß es wichtig ist, daß jungeLeute hinausfahren in die Welt, daß sie Paris, Rom,
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983 993
Bundeskanzler Dr. Kohldaß sie Stockholm, daß sie London kennenlernen, daß es aber noch wichtiger ist, daß sie einmal in ihrem jungen Leben in Dresden, in Leipzig und auf der Wartburg waren, dann haben wir einen wichtigen Beitrag zur Einheit der Nation geleistet.
Wir alle müssen die Bereitschaft fördern, die Realität der DDR als alltägliche Lebenswirklichkeit unserer Landsleute kennenzulernen, die Alltagssorgen, die die Menschen dort bewegen und natürlich auch ihre Meinungen und ihre Urteile über uns. Auch dies, meine Damen und Herren, gehört zum gesamtdeutschen Bewußtsein. Unsere Landsleute in der DDR sind Deutsche so gut wie wir. Ihr Schicksal, ihr Leben, ihr Denken geht uns etwas an.Die Möglichkeiten der Zusammenarbeit, die der Grundlagenvertrag eröffnet, sind noch längst nicht ausgeschöpft. In der Regierungserklärung vom Mai habe ich festgestellt, das Gespräche auf allen Ebenen nützlich sein können. Die Bundesregierung hat deshalb jede Gelegenheit zum Dialog mit der Regierung der DDR wahrgenommen. Ich erinnere auch in diesem Zusammenhang an meine Kontakte mit Generalsekretär Honecker vor und nach dem Aufschub seines Besuchs in der Bundesrepublik Deutschland. Ich erinnere an die Begegnungen, die Mitglieder dieser Bundesregierung mit hochrangigen Gesprächspartnern aus der DDR-Führung hatten.Deutschlandpolitik ist europäische Friedenspolitik. Sie ist eine Politik für das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen, für die Überwindung der Teilung Deutschlands und der Spaltung Europas.
Zu dieser Politik gibt es keine Alternative. Die Erfahrungen unseres Volkes mit den Schrecken des Zweiten Weltkrieges haben uns zu überzeugten Anhängern einer strikten Politik des Gewaltverzichts und der Friedenssicherung gemacht. Wir, die Deutschen, haben die Lektion der Geschichte gelernt. Unser oberstes Ziel ist und bleibt die Wahrung von Frieden und Freiheit.
Wir wissen um die tiefe Friedenssehnsucht der Menschen in beiden Staaten in Deutschland. Ich begrüße dankbar, daß sich die Kirchen über Konfessionen und Grenze hinweg in sehr grundsätzlicher Weise dieses Themas annehmen und damit auch die Sorgen und Ängste vieler, nicht zuletzt aus der jungen Generation, zum Ausdruck bringen. Auch das ist ein wichtiger Beitrag für Deutschland.Frieden in Freiheit ist Voraussetzung für Fortschritte in allen Bereichen. Gewalt, Erpressung und Drohung dürfen niemals mehr ein Mittel deutscher Politik sein.
Die Bundesrepublik Deutschland hat auf Gewalt als Mittel der Politik verzichtet. Krieg ist für uns kein Mittel der Politik.
Wir wünschen uns, daß die Jugend in diesem Geiste in beiden Teilen Deutschlands heranwächst. Wir wünschen uns vor allem, daß die DDR damit aufhört, junge Menschen zum Haß auf den „Klassenfeind" zu erziehen.
Dabei erinnere ich daran: Die beiden Staaten in Deutschland tragen eine große Verantwortung für die Sicherung des Friedens in Europa und in der Welt. Unsere Rolle in Europa, aber auch die Lage des geteilten Deutschlands erfordern historische Einsicht, damit sich die politische Gestaltung von der Wirklichkeit nicht trennt. Sie erfordert einen zuverlässigen Kompaß für den hindernisreichen Weg, bis sich Deutschlands Einheit in einer europäischen Friedensordnung vollenden kann.Es sind die Ideen, es sind die Ideale, die ein Volk bewegen, die Geschichte bewegen. Unsere Nation schöpft Kraft aus den gemeinsamen Werten, die ihre Identität mitbestimmen.Deutschland ist immer ein Land der Mitte gewesen, über Jahrhunderte hindurch allen Einflüssen offen, in alle Richtungen wirkend und stets eingebunden in einen größeren europäischen Rahmen. Die deutsche Frage war zu jeder Zeit auch eine existenzielle Frage des europäischen Gleichgewichts. Dies wird immer so sein. Wer dies verkennt, wer einen neutralistischen deutschen Sonderweg in der Mitte Europas für möglich hält, der steigt aus geschichtlicher Erfahrung aus. Er erliegt einem unseligen nationalistischen Irrtum.
Wir brauchen die Einigung Europas, wie die Völker Europas die Überwindung der deutschen Teilung nötig haben. Unsere Nachbarn, unsere Verbündeten und unsere Partner wissen, daß die Lösung der deutschen Frage auch in ihrem Interesse liegt. Zu den Grundlagen der Bundesrepublik Deutschland gehört die Idee der europäischen Einigung. Dieses Ziel gilt unverändert. Indem sie aufeinander zugehen und indem sie ihre Möglichkeiten einer Zusammenarbeit nutzen, schaffen beide Staaten in Deutschland eine notwendige Voraussetzung für die europäische Friedensordnung.Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir brauchen heute in unserer Generation den Mut und die Kraft, über den Tag, über die Gegenwart hinauszudenken. Die geschichtliche Leistung unserer Generation wird später daran gemessen werden, ob es uns gelingt, die politische Einigung Europas, die Freiheit der Menschen in der Bundesrepublik Deutschland und den Fortbestand der deutschen Nation zusammenzudenken und in die politische Wirklichkeit unseres Volkes umzusetzen.
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994 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983
Meine Damen und Herren, es ist die gemeinsame Beratung der Punkte 6 und 7 der Tagesordnung beschlossen worden. Ich gehe davon aus, daß der Antrag Drucksache 10/117 nicht gesondert begründet wird. — Es ist so.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Dr. Vogel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Herr Bundeskanzler ist mit der Ankündigung an dieses Pult getreten, daß er einen Bericht zur Lage der Nation geben werde. Was er vorgetragen hat, ist seiner eigenen Ankündigung nicht gerecht geworden.
Der Bericht hat zu wichtigen Punkten formelhafte Wendungen wiederholt oder auch gänzlich geschwiegen,
zu denen wir eine nüchterne Darstellung der Probleme, der Sorgen und der Hoffnungen,
eine nüchterne Darstellung der Herausforderungen und der Gefahren, vor denen unser Volk steht, aber auch der geistigen und der materiellen Kräfte, über die wir verfügen, erwartet hätten.
Herr Bundeskanzler, Sie haben über die deutschdeutschen Beziehungen gesprochen. Sie haben dabei eindrucksvolle Worte gefunden. Es war zu Recht von Freiheit, von Selbstbestimmung, von den Rechten des Individuums die Rede. Das sehen wir in der Sache nicht anders.Aber es besteht Anlaß, sich an die Mahnung zu erinnern, daß es nicht schwer ist, die Stimme der Freiheit zu erheben, wenn man selbst in einem freien Gemeinwesen lebt.
Es ist auch nicht schwer, auf Kosten anderer tapfer zu sein.Aber warum, Herr Bundeskanzler, schweigen Sie dann eigentlich gleichzeitig dazu, daß Herr Strauß und seine Scharfmacher einer vernünftigen Deutschlandpolitik fast täglich den Kampf ansagen? Wo bleiben da die klaren Worte?
Warum schweigen Sie dazu, daß Herr Strauß in diesem Kampf so weit geht, selbst Herr Löwenthal und seiner konservativen Aktion in Berlin Grußworte zu übermitteln, einer Aktion, von der sich der Regierende Bürgermeister von Berlin ausdrücklich distanziert
und von dem Ihr eigener Pressedienst schreibt, daß dem Zuhörer angesichts mancher Gedanken und Formulierungen das Frösteln kommen könnte? Warum fehlt hier die deutliche Sprache? Warum rangiert hier auf einmal Vorsicht vor Klarheit? Spüren Sie nicht, daß das eine die Wirkung des anderen schwächt und beeinträchtigt?
Sie schildern die Lage der Nation, Herr Bundeskanzler. Sie sprechen von Friedenssicherung und erwähnen dabei die Gefahren, die gerade den beiden deutschen Staaten aus dem atomaren Rüstungswettlauf erwachsen, noch nicht einmal mit einem Wort.
Sie gehen auf wirtschaftliche Gesichtspunkte ein, aber einen Hinweis auf die Massenarbeitslosigkeit, die entgegen all Ihren Ankündigungen nicht sinkt, sondern von Monat zu Monat steigt, sucht man in dem ganzen Bericht vergebens.
Schließlich haben Sie auch bei dieser Gelegenheit die Kraft der Ideen und den Fundus der Werte beschworen. Sie sagen auch, daß Sie die Lektion der Geschichte gelernt hätten. Aber warum, Herr Bundeskanzler, verwenden Sie dann in diesem Zusammenhang nicht einen einzigen Satz auf die empörende Entgleisung Ihres Jugendministers, der es in diesem Saal gewagt hat, den Pazifismus als Ursache zu bezeichnen, die Auschwitz erst ermöglicht habe?
Ist das wirklich eine Lehre unserer Geschichte, und verdient diese Äußerung unter dem Aspekt Ihres Wertefundus nicht eine einzige Bemerkung?
Wir akzeptieren diese Einschränkungen des Themas, das heute auf der Tagesordnung steht, nicht. Das alles gehört ebenfalls zur Lage der Nation. Wir werden deshalb in der heutigen Aussprache auch diese Fragen behandeln.Über Wesen und Substanz dessen, was Nation ausmacht, ist in den letzten Jahren viel gestritten worden. Wir halten einen Streit, der sich auf begriffliche Fragen beschränkt, für müßig. Gewiß, es ist leider wahr — Sie haben es selbst betont —, die Deutschen leben in zwei Staaten. An der im Grundlagenvertrag vollzogenen Anerkennung der Staatlichkeit der DDR sollte niemand rütteln, der es im Interesse der Menschen mit der Verbesserung der Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten ernst meint.
Aber nicht erst die staatliche Einheit — so schmerzlich wir sie auch vermissen — läßt Menschen zu einer Nation werden. Entscheidend ist vielmehr, ob sie sich als eine Gemeinschaft verstehen und fühlen, die durch ihre Geschichte, ihreDeutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983 995Dr. VogelSprache, ihre Kultur und ein enges Geflecht wechselseitiger Beziehungen und Begegnungen miteinander verbunden sind. Diese Gemeinschaft besteht, ja sie ist durch unsere Politik, durch die Politik Willy Brandts und Helmut Schmidts nach Jahren, in denen sich diese Gemeinschaft zu lockern, in denen vor allem das Geflecht der wechselseitigen Beziehungen zu zerreißen drohte, belebt und gefestigt worden.
Diese Politik — das kann ich Ihnen nicht ersparen — haben wir Schritt für Schritt gegen Ihren Widerstand und gegen Ihr Nein durchsetzen müssen.
Natürlich — hier stimmen wir überein; ich leugne das nicht — gibt es in wesentlichen Fragen, in solchen der Gesellschaftsordnung und der Rechte des Individuums, nach wie vor fundamentale Gegensätze. Und natürlich stehen die Mauer, die Grenzanlagen und der Schußwaffengebrauch an der Grenze noch immer als bedrückende Hindernisse der Freizügigkeit aller Deutschen im Wege.
Aber darüber dürfen doch die Fortschritte, die seit 1969 erzielt worden sind und zu denen beide Seiten, auch die DDR-Führung, ihren Beitrag geleistet haben, nicht übersehen werden.Wer hätte denn vor knapp zehn Jahren für möglich gehalten, daß in einem einzigen Jahr über 6 Millionen Bundesbürger in die DDR und umgekehrt fast 2 Millionen Bürger der DDR in die Bundesrepublik reisen, daß Millionen Menschen jährlich miteinander telefonieren und daß dafür heute 1 500 Leitungen zur Verfügung stehen, während es 1969 ganze 34 Leitungen waren? In diesen Tagen sind 42 weitere Ortsnetze in der DDR an den Selbstwählfernverkehr angeschlossen worden. Wir begrüßen das, weil Dessau, Meißen, Wittenberg, Zittau und andere Städte uns wieder ein ganzes Stück nähergerückt sind.
Wer hätte geglaubt, daß in einem einzigen Jahr 19 Millionen Menschen die Transitstrecken von und nach Berlin in der Weise benützen können, in der das heute möglich ist?Wer hätte vor zehn Jahren ernsthaft damit gerechnet, daß Martin Luther 1983 hüben wie drüben aus Anlaß seines 500. Geburtstags als einer der größten Söhne unseres Volkes gefeiert wird? Diese Tatsache wirkt für mich schwerer als die Tatsache, daß er aus unterschiedlichen Richtungen in Anspruch genommen wird.
Wer hätte gedacht, daß an den Veranstaltungen zum 100. Todestag von Karl Marx wechselseitig Delegationen aus dem anderen Staat teilnehmen und diese Delegationen ihre Standpunkte eben nicht nur bei uns frei vortragen können und daß dann darüber berichtet wird?Wer hätte es 1953, 1961 oder noch 1970 für denkbar gehalten, daß der Bundespräsident in einer Ansprache zum 30. Jahrestag des 17. Juni 1953 Berlin als einen Beweis dafür bezeichnen kann, daß sachlich begrenzte, aber wichtige Vereinbarungen zum Wohle der Menschen möglich sind, und daß er in derselben Rede — einer Rede, die hohen Respekt verdient — den Staatsratsvorsitzenden der DDR nicht nur zitiert, sondern daß der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland ausdrücklich feststellt, in seinen beiden langen Gesprächen mit dem Staatsratsvorsitzenden habe sich neben sehr unterschiedlichen Auffassungen auch Gemeinsames gezeigt? Ist das alles selbstverständlich?
Ist es selbstverständlich, daß der Regierende Bürgermeister von Berlin, Herr Kollege von Weizsäcker, bei der Feier zur Eröffnung des Luther-Jahres auf der Wartburg neben dem Präsidenten der Volkskammer, Herrn Sindermann, sitzt und mit ihm im Anschluß daran ein intensives und offenes Gespräch führt?Ist es selbstverständlich, daß der Vorsitzende der stärksten Oppositionsfraktion mit dem Staatsratsvorsitzenden zu einem mehrstündigen Gespräch zusammentrifft und die Medien der DDR dann auch über die kritischen und kontroversen Punkte des Gesprächs eingehend berichten und dazu tagelang westdeutsche Zeitungen zitieren, etwa zu der von mir bei dieser Gelegenheit erneut erhobenen Forderung nach Korrektur des Mindestumtauschs?
Ist es selbstverständlich, so frage ich weiter, daß die Generalsynode der evangelisch-lutherischen Kirche in der DDR dieser Tage in einer Entschließung die Staatsführung der DDR öffentlich mahnen kann, für junge Menschen, die über die Erhaltung des Friedens und die Zukunft ihres Lebens besorgt sind, mehr Verständnis aufzubringen? Der Staat so heißt es in dieser Entschließung wörtlich, darf sie nicht durch harte Gegenmaßnahmen in die Konfrontation treiben oder darin bestärken — eine Mahnung, die übrigens auch wir uns ruhig zu Herzen nehmen sollten und die zeigt, daß mehr und mehr auch Probleme und Fragestellungen auftauchen, die quer zu den herkömmlichen Formationen und Auffassungen laufen.
Sie können sagen: Das und noch viel mehr sollte selbstverständlich sein. Aber es war eben nicht selbstverständlich. Nein, das alles war vor nicht allzu langer Zeit geradezu undenkbar. Es ist nicht vom Himmel gefallen, und es ist erst recht nicht durch starke Worte herbeigeredet worden. Es ist durch unsere Deutschlandpolitik der Beharrlichkeit und der zähen Geduld möglich geworden;
durch eine Politik — ich freue mich, daß in IhremBericht Anklänge an diese Gedanken zu findensind —, die auch die Interessen der anderen Seite
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996 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983
Dr. Vogelmit in die eigenen Überlegungen aufnahm; durch eine Deutschlandpolitik, die wir als Mitglied des westlichen Bündnisses im Einvernehmen mit unseren Bündnispartnern getrieben haben, aber in der wir die Initiative hatten und zu der Sie — ich muß es noch einmal wiederholen — so gut wie nichts beigesteuert haben und deren Ergebnisse heute aus Ihren Reihen gefährdet werden.
Daraus ergeben sich für uns vier Folgerungen.Erstens. Wir müssen — ich wähle mit Bedacht eine Formulierung, die auch die andere Seite ständig verwendet — mit dem Erreichten pfleglich umgehen und bei Rückschlägen besonnen reagieren; pfleglich umgehen und besonnen reagieren.Herr von Weizsäcker ist da derselben Meinung. Er hat erst vor kurzem gesagt, es gehe nicht um selbstgerechte Anklagen oder den lautstarken Streit darüber, wer von uns am lautesten Mauern und Stacheldraht anprangern kann — eine Mahnung, mit der er wohl kaum uns Sozialdemokraten gemeint hat.Er hat auch nicht ohne Grund am 28. April vor dem Berliner Abgeordnetenhaus erklärt, wer von einer notwendigen Wende in der Deutschlandpolitik spreche, der gefährde mehr, als er wahrhaben möchte, oder er greife weiter, als man in Berlin überhaupt akzeptieren könne.Das ist zwar höflich, aber deutlich. Es geht doch unmittelbar an die Adresse der Herren Strauß und seiner Freunde. Warum, Herr Bundeskanzler, scheuen Sie sich eigentlich davor, ähnliches zu sagen? Sie haben sich heute ja noch nicht einmal von den Umtrieben der Konservativen Aktion distanziert, an denen sich dieser Tage in Berlin leider außer notorisch kalten Kriegern auch Mitglieder der CDU/CSU-Bundestagsfraktion beteiligt haben, an der sie teilgenommen haben.
Zweitens. Wir Sozialdemokraten sind zur Unterstützung einer Deutschland- und Berlin-Politik bereit, die diesen Grundsätzen entspricht.
Herr Kollege Dr. Vogel, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Werner?
Nein, ich möchte meine Gedankengänge ebenso wie der Herr Bundeskanzler im Zusammenhang vortragen.
Wir sind also zur Unterstützung einer Politik bereit, die Gegensätze und Unterschiede nicht verwischt, die sich aber beharrlich um Fortschritte bemüht. Solche Fortschritte sind möglich. Wichtige Themen haben Sie schon genannt. Ich füge das Thema „Elektrifizierung einer Eisenbahnstrecke nach Berlin" hinzu. Und das Thema „Mindestumtausch" — da stimme ich Ihnen zu, Herr Bundeskanzler - ist noch nicht am Ende; hier ist weiterhin zähe Beharrlichkeit notwendig.Fortschritte werden wir erzielen, wenn wir Leistungen und Gegenleistungen nicht buchhalterisch nach Art einer Handelsfirma gegeneinanderstellen. Gegenposten für unsere finanziellen Anstrengungen sind vielmehr auch das Mehr an menschlichen Erleichterungen und Verbindungen, das Mehr an Gemeinschaft, das wir bewirken.
Dazu gehört auch, daß wir Zumutungen der DDR abwehren, daß wir erwägenswerte Anliegen der DDR aber nicht einfach vom Tisch wischen. So ist es beispielsweise vernünftig, in der Frage der Elbegrenze zwischen Schnackenburg und Lauenburg einen neuen Anlauf zu unternehmen und gemeinsam herauszufinden zu versuchen, wo diese Grenze wirklich verläuft. Es geht nicht um Änderung einer vorhandenen Grenze — das ist nicht akzeptabel —, aber es geht um die sorgfältige Untersuchung, wo sie tatsächlich liegt.Es ist auch vernünftig, die Staatsbürgerschaft der DDR-Angehörigen in allen praktischen Belangen unterhalb der Grenze zu respektieren, die unser Grundgesetz hinsichtlich der fortdauernden deutschen Staatsangehörigkeit zieht. Wir wollen niemanden ausbürgern. Wir wollen aber die Rechte und Pflichten aus der deutschen Staatsangehörigkeit auch niemandem gegen seinen Willen aufdrängen.
Das ist die Linie des Grundgesetzes.
Drittens. Helfen wir Berlin, wo immer es möglich ist! Für die Aufrechterhaltung und Stärkung der Gemeinschaft, von der ich sprach, für die deutsche Perspektive spielt diese Stadt im Herzen Europas eine entscheidende Rolle. Es hat nicht nur geographische Bedeutung, daß Berlin von Braunschweig und von Dresden, von Lüneburg und von Rostock, von Göttingen und von Erfurt gleich weit entfernt ist, nein, daß es diesen Städten gleich nahe ist.Unser Entschließungsantrag zum Transitverkehr unterstreicht diese Bedeutung Berlins.Wir werden im übrigen auch bei den Haushaltsberatungen auf die Belange Berlins achten. Das gilt vor allem für die S-Bahn-Probleme, die mit dem Blick schon auf das Jahr 2000 großzügig gelöst werden sollten. Es gilt für den Übergang zur Erdgasversorgung, bei dem der Stadt die Berlin-spezifischen Belastungen, die Belastungen, die aus der besonderen Lage Berlins erwachsen, abgenommen werden müssen.
Das alles ist nämlich für die Lebensfähigkeit undden Lebenswillen der Stadt noch wichtiger als mar-Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983 997Dr. Vogelkige Worte, an denen die Stadt wahrlich keinen Mangel hat.
Ihre Aussagen über die wirtschaftliche Situation Berlins werden übrigens der Realität nicht in vollem Umfang gerecht. Im Gegenteil, die Arbeitslosigkeit steigt dort überproportional. Ich wiederhole: Die Arbeitslosigkeit in Berlin stellt heute für die Stadt eine innere Bedrohung dar, die der äußeren Bedrohung früherer Jahrzehnte an Gewicht kaum nachsteht.
Viertens. Gerade weil wir die Gemeinschaft mit den Menschen in der DDR für so wichtig halten, sollten wir sehr sorgfältig darauf hören, was eigentlich diese Menschen in der DDR von uns erwarten, welche Entscheidungen in den auch sie betreffenden Fragen sie befürworten. Wir müssen uns wieder und wieder die ganz einfache Frage stellen: Hilft das, was wir im Verhältnis zu Ost-Berlin und der DDR tun und sagen, den Menschen, die drüben leben? Die millionenfachen Begegnungen hüben wie drüben erlauben es uns doch, nicht nur die offiziellen Äußerungen zur Kenntnis zu nehmen, sondern auch das, was die Menschen in der DDR selber bewegt. Und die wollen in ihrer ganz überwältigenden Mehrheit keine Wende, sie wollen erst recht keine neue Konfrontation.
Sie, die Menschen in der DDR, wollen Kontinuität und Fortschritt. Lassen Sie mich hinzufügen: Die, die ihrem eigenen Staat und seiner Gesellschaftsordnung kritisch gegenüberstehen, wollen Kontinuität und Fortschritt eher noch entscheidend als andere, die eher an Abgrenzung und Konfrontation interessiert sind.
Die wissen nämlich — im Gegensatz zu manchem, der hier markige Sprüche abgibt —, was auf dem Spiele steht. Sie wissen auch, wer die Zeche zu zahlen hätte.
An die Menschen in der DDR und ihre Wünsche sollten wir auch bei unseren Anstrengungen zur Friedenssicherung, insbesondere bei den Anstrengungen zur Beendigung des atomaren Rüstungswettlaufs, denken. Es ist doch kein Zufall, daß die dringendsten Aufforderungen, dem wahnsinnigen Wettrüsten ein Ende zu machen, gerade von dort, aus der DDR, kommen, und zwar von den legitimierten Sprechern der evangelischen und katholischen Christen, von Männern und Frauen, die der politischen Führung der DDR weiß Gott nicht nach dem Munde reden.
Was immer wir im Herbst in der Frage der Stationierung entscheiden — wir werden es auch gegenüber den Deutschen in der DDR zu verantworten haben.
Wir sind auch ihnen Rechenschaft schuldig. Ich möchte von dieser Stelle aus all denen, denen ich in den letzten Jahren in der DDR begegnet bin, und all denen, die uns in der DDR zusehen oder zuhören, sagen, daß meine Freunde und ich — und nicht nur wir —, uns dieser Verantwortung wohl bewußt sind.
Aus dieser Verantwortung ermuntere ich alle Bürgerinnen und Bürger in der Bundesrepublik: Reisen Sie in die DDR, halten Sie Kontakt zu alten Freunden und Verwandten, knüpfen Sie neue Kontakte für den Zusammenhalt der Gemeinschaft, ohne deren reale Existenz die Nation zu einem blutleeren Schemen werden würde!
Übrigens: Die Verantwortung — da stimme ich Ihnen zu —, wie sie aus unserer Geschichte herrührt, tragen wir in einem Sinne, der noch viel weiterreicht. Der Leitartikler einer großen deutschen Tageszeitung hat dieser Tage geschrieben:Das Gewohnheitsrecht des Politikers, seinen Wählern nach dem Munde zu reden, findet seine Grenze, wo die Täuschung der Klientel oder die Selbsttäuschung Schaden anrichtet.Diese Grenze ist überschritten, wenn Ihre Parteifreunde, Herr Bundeskanzler, ein ums andere Mal vor Menschen, deren Heimatgefühl wir verstehen und teilen, die Frage der Oder-Neiße-Grenze erneut auf die politische Tagesordnung setzen und — mehr oder weniger verblümt — vom Reich in den Grenzen des Jahres 1937 reden.
Haben die, die so sprechen, eigentlich bedacht, wem sie damit in Polen helfen und wem sie damit in Polen schaden?
Ist Ihnen aufgefallen, wer diese Sätze geradezu genüßlich aufgreift?
Wen oder was hat Papst Johannes Paul II. vorgestern wohl gemeint, als er in Breslau zur Versöhnung mahnte und sagte, die Idee des gegenseitigen Verständnisses und der Versöhnung habe auch auf deutscher Seite viele Bekenner, und dabei das Wort „Versöhnung" in seiner polnischen Ansprache auf deutsch wiederholte? Auch zu diesen Fragen, Herr Bundeskanzler, haben Sie geschwiegen. Warum eigentlich? Wo stehen Sie: bei Herrn Hupka, bei
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998 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983
Dr. VogelHerrn Zimmermann oder bei den Bekennern der Versöhnung, von denen der Papst gesprochen hat?
Die Kritiker in Ihren Reihen, die Herren mit der unerschütterlichen Selbstgewißheit, die durch nichts anzurühren ist, werfen uns vor, solche Gedankengänge, wie ich sie da entwickelt habe, verrieten das Vermächtnis des 17. Juni 1953, sie seien unvereinbar mit dem Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes. Besonders primitive Polemiker versteigen sich dann sogar zu der Behauptung, das Programm der SPD sei es, die Teilung Deutschlands zu vollenden. Das ist ebenso bösartig wie absurd. Ich weise es zurück.
In Wahrheit bewahren und pflegen wir das, was uns die Präambel des Grundgesetzes im Hinblick auf die Einheit der Deutschen hier und heute zu wahren und zu pflegen aufgegeben hat, nämlich die reale Substanz unserer Gemeinschaft. Ohne die Bewahrung dieser Substanz wird es auch in einem künftigen Europa keine Einheit der Deutschen geben. Diese Substanz lebt nicht von Trennung, sondern von Begegnung, nicht von Konfrontation, sondern von der Verflechtung wechselseitiger Interessen, nicht von der gegenseitigen Aussperrung aus der gemeinsamen Geschichte, sondern von der, wenn auch kontroversen, so doch gemeinsamen Beschäftigung mit den Höhen und Tiefen unserer nationalen Existenz und nicht von gegenseitiger Beschimpfung, sondern von immer erneuten Versuchen des Dialogs und des Redens miteinander.
Herr Bundeskanzler, ich habe Ihnen mehr als einmal die Unterstützung der Sozialdemokraten für eine Deutschlandpolitik der Kontinuität angeboten.
Ob Ihre Bundesregierung, wie Sie das meinen, befreit von Erfolgszwängen, eine solche Deutschlandpolitik mit größeren Chancen betreiben kann als ihre Vorgängerinnen, das kann heute dahingestellt bleiben. Nach Ihrer heutigen Erklärung ist die Gewißheit in diese Richtung jedenfalls nicht gestiegen. Aber Ihnen steht eine Opposition gegenüber, von der Sie bei allen Bemühungen um Verständigung und Verdichtung der Beziehungen rückhaltlose Unterstützung erwarten können. Zänkischen Streit um Positionen, die zu Unrecht als Rechtspositionen ausgegeben werden, oder gar Verratsvorwürfe wird es von seiten dieser Opposition bei einer solchen Deutschlandpolitik der Vernunft nicht geben.
Aber wir werden immer dann harten Widerstandleisten, Herr Bundeskanzler, wenn Sie die Kontinuität preisgeben und wenn sie durch Konfrontation ersetzt wird.Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, die Lage der Nation ist durch die Existenz zweier Staaten gekennzeichnet. Sie ist aber auch durch zwei weitere zentrale Herausforderungen gekennzeichnet, durch die Arbeitslosigkeit und die Friedenssicherung. Unser Volk hat nicht vergessen: Sie haben vor dem 1. Oktober 1982 erklärt, der Regierungswechsel sei das beste Beschäftigungsprogramm, und Sie haben am 6. März vor allem mit der Parole Erfolg gehabt, wer Sie wähle, wähle den Aufschwung. Heute waren Sie zu diesem Thema wortkarg.
Wir werden uns mit diesem Thema noch eingehend auseinandersetzen.Zur Friedenssicherung haben die Sprecher meiner Fraktion in der Debatte der letzten Woche ausführlich Stellung genommen. Unser Entschließungsantrag zu den Genfer Verhandlungen enthält in seinem Kern das, was im gegenwärtigen Stadium im Mittelpunkt steht und was deshalb eigentlich allgemeine Zustimmung finden müßte, nämlich den Appell an die beiden Weltmächte, jetzt eine äußerste Anstrengung zu unternehmen, um ein Abkommen zu erreichen, das durch eine substantielle Reduzierung der nuklearen Mittelstreckenwaffen der Sowjetunion eine Reaktion der NATO auf die sowjetische Rüstung in diesem Bereich überflüssig macht. Das ist das Zentrum unseres Appells. Mir ist unverständlich, warum Sie dies gestern im Auswärtigen Ausschuß abgelehnt haben.Noch in einem weiteren Punkt verstehe ich Ihr Verhalten nicht, wenn ich auch einräume, daß Sie sich allmählich unserem Standpunkt nähern.
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Wir haben in einem Entschließungsantrag gefordert, erstens daß der Deutsche Bundestag nach Abschluß der für die Zeit vom 15. September bis 15. November 1983 vorgesehenen Verhandlungsrunde in Genf das Verhandlungsergebnis prüft und über die daraus zu ziehenden Konsequenzen entscheidet und zweitens daß vor einer solchen Entscheidung Pershing-II-Raketen oder Marschflugkörper oder Teile dieser Waffensysteme nicht in die Bundesrepublik Deutschland gebracht werden dürfen. Beides ist eine bare Selbstverständlichkeit.Die abschließende Befassung des Deutschen Bundestages, der zunächst insbesondere Herr Kollege Genscher vehement widersprochen hat, haben Sie alle inzwischen offenbar akzeptiert. Das ist gut so. Es wäre ja wohl auch eine Groteske, nein, ein Schlag gegen das parlamentarische Prinzip, wenn der Bundestag daran gehindert würde, seiner Verantwortung in einer Frage von solch existentieller Bedeutung zeitnah und in Kenntnis des Verhandlungsstandes gerecht zu werden.
Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983 999Dr. VogelDie Berufung auf den Grundsatzbeschluß des Jahres 1981 ersetzt doch nicht die konkrete Prüfung im Lichte der bis dahin geführten Verhandlungen. Das ergibt sich doch schon aus dem letzten Satz des Doppelbeschlusses; da steht das wörtlich.Ebenso grotesk und mit dem parlamentarischen Prinzip unvereinbar wäre es, wenn der Bundestag seine Entscheidung in einem Zeitpunkt treffen würde, zu dem die letzte Verhandlungsrunde dieses Jahres noch läuft oder aber die Stationierung schon begonnen hat. Weite Teile der Öffentlichkeit, nicht nur wir Sozialdemokraten, müßten ein solches Vorgehen als Täuschung empfinden. Die innenpolitische Belastungsprobe, die uns im Herbst ohnehin bevorsteht, würde dadurch verschärft.Die Äußerungen der Bundesregierung zu dieser Frage entbehrten bisher der notwendigen Klarheit. Auch Ihr Brief vom 22. Juni läßt verschiedene Deutungen zu. Der heute von Ihrer Seite vorgelegte Entschließungsantrag bewegt sich ein Stück mehr in Richtung auf eine Klärung, aber er enthält — das wird auszutragen sein — noch immer eine Stelle, die mehrfacher Deutung zugänglich ist. Ich appelliere deshalb noch einmal an Sie: Schaffen Sie die notwendige Klarheit, stimmen Sie der Entschließung zu, die wir heute erneut zu dieser Frage eingebracht haben!
Zur Lage der Nation gehört auch ihr geistig-moralischer Zustand, gehört der Zustand ihrer politischen Kultur.
Sie widmen diesem Thema gerne und häufig Betrachtungen und haben es ja auch heute an Wendungen über die Kraft der Ideen, über den Wertefundus, über das Deutschlandbild und über die Lehren der Geschichte nicht fehlen lassen.In diesem Zusammenhang frage ich: Warum bleiben Sie, Herr Bundeskanzler, eigentlich auf alle Fragen, die wir seit der Aussprache über Ihre Regierungserklärung gestellt haben, die Antwort schuldig? Sie sprechen von Ihrem Bild der Gesellschaft, und Sie tun das wortreich. Aber gibt es Ihnen eigentlich nicht zu denken, daß die „Herder-Korrespondenz", deren unabhängige Position — um das mindeste zu sagen — völlig unstreitig ist, über Ihre Regierungserklärung vom Mai 1983 wörtlich schreibt:Der Kanzler entwickelt kein — und sei es auch nur in groben Umrissen erkennbares — Bild der Gesellschaft, in der die Regierung und für die sie Politik machen will.
An derselben Stelle attestiert man Ihnen, es fehle gerade Ihrer Regierung an sozialer Vorstellungskraft. Die Korrespondenz fährt fort, Sie würden sich über den Werte- und Verhaltenswandel gar keine Rechenschaft geben, Sie blieben dazu jede Antwort schuldig, und Ihr vorrationales Verhältnis zur Technik — so heißt es dort — zeige einen erschreckenden Mangel an Perspektive.Mit der Redewendung von der Gesellschaft mit menschlichem Gesicht, zu der das Tor weit offensteht, werden Sie vielen Gesprächspartnern auf die Dauer nicht die notwendige Auseinandersetzung im Dialog bieten können, die unser Volk braucht, um zu besseren Einsichten zu kommen.
Das, was in der „Herder-Korrespondenz" steht und was ich aufgreife, hat doch auch für den Wettbewerb der Gesellschaftsordnungen der beiden deutschen Staaten seine hohe Bedeutung. Der Dialog unterscheidet uns doch gerade von der anderen Gesellschaftsordnung.Oder, Herr Bundeskanzler, geht es Ihnen — die Frage drängt sich jetzt, nach zwei Monaten, auf — gar nicht um den Dialog? Geht es eher um einen Monolog,
der von der Gesprächsbereitschaft redet, in Wahrheit aber nur die emotionale Wirkung gewisser Stichworte zur Geltung bringen will, indem er diese Stichworte mit Beschlag belegt?
Geht es also um Politik durch Annexion von Worten und Begriffen statt um Politik durch konkrete Ziele, konkrete Inhalte und konkrete Begründungen, die auch erkennen lassen, wessen Interessen im Konfliktfall jeweils den Ausschlag geben?
Ich fürchte, Herr Bundeskanzler, diese Art der Auseinandersetzung läuft auf Verhüllung und Vernebelung hinaus. Das reißt dann Scheinfronten auf, statt die wirklichen Alternativen deutlich zu machen. Wir werden uns daran nicht beteiligen. Wir werden immer wieder auf Klarheit drängen.Dann ein Wort, das ich gerne aus Ihrem Munde gehört hätte, zu der Bewährungsprobe, die uns im Herbst bevorsteht. Herr Bundeskanzler — ich dehne die Frage auf die gesamte Bundesregierung aus —, haben Sie für diese Auseinandersetzung eigentlich ein Konzept, das über die polizeiliche und juristische Seite hinausgeht?
Ich meine ein Konzept — und das gehört doch zur Lage der Nation —, das mehr zum Inhalt hat als die Erweiterung und Verschärfung von Strafdrohungen, über die Sie eine von uns mit Interesse erfolgte Auseinandersetzung führen. Ich ermutige die Kollegen von der FDP, hier ihre Sache mit Deutlichkeit zu vertreten, des inneren Friedens wegen.
Haben Sie ein Konzept, das mehr zum Inhalt hat als die Erweiterung und Verschärfung von Strafandrohungen und polizeitaktischen Fragen, deren Wichtigkeit ich nicht bestreite, wie die Koordinierung der Polizeieinsätze?Natürlich ist es wichtig — und das sage ich auch in diese Richtung —, daß wir allen Beteiligten die moralischen, politischen und rechtlichen Grenzen
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1000 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983
Dr. Vogelder Einflußnahme auf Parlament und Regierung klar vor Augen führen,
daß wir niemanden in Situationen hineinrennen lassen, der sich darüber nicht im klaren ist. Wir Sozialdemokraten haben das bei vielen Gelegenheiten getan. Wir haben deutlich gemacht, daß sich niemand auf das verfassungsmäßige Widerstandsrecht berufen kann, weil seine Voraussetzungen nicht vorliegen. Wir haben ebenso den Erörterungen über einen Generalstreik eine klare Absage erteilt.Zugleich haben wir anerkannt, daß bei den Fragen, um die es im Herbst gehen wird, bei nicht wenigen unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger der Gewissensbereich angesprochen ist. Aber ich sage es noch einmal, und ich sage es auch uns: Die juristische und die polizeiliche Betrachtung genügt nicht. Ganz gleich, wo wir in der Sache stehen, müssen wir alles tun, um ein Klima der Toleranz, der Friedfertigkeit, der Nichtaggressivität zu schaffen. Da sind wir alle gefordert; aber die Regierungspartei, die führenden Repräsentanten der Union, Sie, Herr Bundeskanzler, sind im besonderen Maße gefordert. Diesen Forderungen sind Sie bisher nicht gerecht geworden.
Der Evangelische Kirchentag war ein überzeugender Beweis dafür, daß auch die Auseinandersetzungen über die existentiellen Fragen, um die es hier geht, in voller Friedfertigkeit und ohne Aggression geführt werden können.
Herr Bundeskanzler, ich hätte aus Ihrem Munde gern den Satz gehört, den ich jetzt sage: Dieser Kirchentag war ein ermutigender Beitrag zum inneren Frieden,
und er war ein Beitrag zur Nichtausgrenzung Andersdenkender.
Wie sagte der Präsident des Evangelischen Kirchentages, wie sagte Erhard Eppler in Ihrer Gegenwart? „Keiner spreche dem anderen das Christsein ab, wo immer er auch in dieser Frage stehe." Warum greifen Sie diesen Gedanken nicht auf? Warum sagen Sie nicht, daß unsere verfassungsmäßige Ordnung beiden Raum gibt, denen, die der Stationierung zustimmen, ebenso wie denen, die sie ablehnen, und daß keiner allein deshalb dem Geist der Verfassung einen Meter nähersteht als der andere?
Sie haben diese Chance heute und auch bei anderenGelegenheiten verstreichen lassen. Statt dessen haben Ihre Repräsentanten einen ebenso vehementenwie unverständlichen Kampf gegen violette Halstücher geführt, als wenn dies das Zentraum der Auseinandersetzung wäre.
— Aber bitte, lesen Sie doch Ihre eigenen Presseerklärungen, was da in Ihren Diensten an mannhaften Worten über Mißbrauch der Farbe, über Ketzerhüte und dergleichen gesagt worden ist. Ich bin doch nicht dazu da, Ihnen Ihre eigenen Erklärungen hier vorzulesen.
Die Ablehnung einer Volksbefragung, für die es in der Tat Gründe gibt, haben Sie eine Zeitlang — —
— Es ist manchmal schade, Herr Kollege, daß diese Art von Zwischenrufen, die von dieser betonartigen Selbstgerechtigkeit zeugen, nicht dem Publikum allgemein zugänglich sind.
Diese Betrachtungen, an deren Ernst wohl keiner hier zweifeln kann, werden mit dem Zuruf „Schwätzer" quittiert. Das ist der Dialog nach Ihrem Verständnis und nach Ihrer Meinung.
Die Ablehnung einer Volksbefragung, für die es in der Tat Gründe gibt — Gründe, denen wir j a zugestimmt haben —, die verbinden Sie bis vor kurzem mit einer Haltung, die es noch immer zweifelhaft erscheinen ließ, ob Sie wenigstens das Parlament, dieses hier, das am 6. März gewählte, rechtzeitig beteiligen wollen.Herr Staatsminister Mertes, den ich sonst durchaus schätze und dem ich meine Hochachtung erweise, sprach sogar wörtlich von einem „neuen Klerikalismus". Warum eigentlich? Weil die Kirchen begonnen haben, einigen Ihrer Einschätzungen zu widersprechen? Weil die Kirchen die menschheitbedrohende Qualität des Rüstungswettlaufs klar erkannt haben? Weil die Kirchen davor warnen, den Gegner zu verteufeln oder als Inkarnation des Bösen hinzustellen?Fällt Ihnen übrigens nicht auf, meine Damen und Herren, die Sie Ihrer Sache so sicher sind, daß den Bischöfen in der DDR von den dortigen offiziellen Medien auf solche Fragen ebenfalls mit dem Vorwurf des Klerikalismus, d. h. mit dem Vorwurf der Einmischung in die Politik geantwortet wird?
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983 1001
Nein, Herr Kollege. Wir können aber gern die Diskussion über diesen Punkt auch öffentlich bei anderer Gelegenheit fortsetzen.
Mag dies immerhin noch auf der Ebene argumentativer Auseinandersetzungen liegen, andere aus Ihren Reihen lassen nicht nur Chancen ungenutzt; sie tun im Gegenteil alles, um die Atmosphäre zu vergiften und um Spannungen zu verschärfen und schon jetzt Gräben aufzureißen und zu vertiefen. Da sagt der unsägliche Herr Spranger, man müsse sich auf eine bürgerkriegsähnliche Situation vorbereiten. Da wird den Sozialdemokraten vorgeworfen — das muß man noch einmal ganz ruhig hören —, sie legten nur Lippenbekenntnisse zur Gewaltfreiheit ab, seien also in Wahrheit für die Gewaltanwendung — und keine Stimme des Widerspruchs erhebt sich aus dem Bereich der Union gegen eine solche Äußerung.
Da greifen Sie, Herr Kollege Dregger, auf einen der schlimmsten Begriffe aus der Hetzkampagne der Deutschnationalen gegen Friedrich Ebert und die deutschen Sozialdemokraten aus den Jahren nach 1918 zurück und sprechen erneut vom Dolchstoß, diesmal vom Dolchstoß führender Sozialdemokraten in den Rücken der Vereinigten Staaten.„Dolchstoß" und „November-Verbrecher", das waren die wichtigsten Kampfbegriffe der nationalistischen und dann der nationalsozialistischen Agitation gegen die Demokratie von Weimar.
Übrigens — und das ist ein Gebot geschichtlicher Gerechtigkeit —: Kampfbegriffe nicht gegen Sozialdemokraten allein, sondern ebenso gegen Männer und Frauen des Zentrums und der Deutschen Demokratischen Partei. Ich sage nicht, Herr Kollege Dregger, daß Sie sich in Ihren politischen Vorstellungen auf dieser Linie bewegen;
nein, das sage ich nicht, und ich stelle Sie und Herrn Geißler auch nicht in einen Zusammenhang mit neonazistischen Aktivitäten.
— Ich tue das nicht. Aber sind Sie sich eigentlich bewußt — —
Aber sind Sie sich eigentlich bewußt, Herr Kollege Dregger, in welche Nachbarschaft Sie da durch Ihre eigene Wortwahl geraten?
In eine Nachbarschaft, in die sich der Herr Generalsekretär der Christlich-Demokratischen Union schon im letzten Wahlkampf ohne Not begeben hat und die ihm zu Recht bittere Vorwürfe nicht nur aus dem Lager der Sozialdemokraten eingetragen hat.Aber das hat Herrn Geißler offenbar nicht genügt. In der Debatte der letzten Woche hat er wörtlich ausgeführt:Der Pazifismus der 30er Jahre, der sich in seiner gesinnungsethischen Begründung nur wenig von dem unterscheidet, was wir in der Begründung des heutigen Pazifismus zur Kenntnis zu nehmen haben, dieser Pazifismus der 30er Jahre hat Auschwitz erst möglich gemacht.Das liegt — leider muß ich das sagen — auf der gleichen Linie wie der Dolchstoß-Vorwurf. Es ist ebenso unsinnig wie jener und politisch aus dem Munde des Jugendministers noch unerträglicher wie aus dem Munde jedes anderen Politikers.
Herr Geißler, Sie sprechen von der 30er Jahren, also von den Jahren, in denen Hitler seine Gewaltherrschaft begründete. Aber wissen Sie den nicht — und Sie wissen es doch —, wie und warum Hitler an die Macht kam, welche Rolle dabei Konservative fast aller Schattierungen spielten, die Propagandisten der Dolchstoß-Legende, diejenigen, die glaubten, mit Hitlers Hilfe der Sozialdemokratie, der Arbeiterbewegung, der Demokratie zugleich den Garaus machen zu können?
Und wie kann man von Auschwitz sprechen, ohne Hitlers Rassenwahn, ohne die verbrecherische Verabsolutierung seines Machtanspruchs, die ihn Menschen wie schädliche Insekten vernichten ließ, auch nur mit einem Wort zu erwähnen? Haben wir denn die großen Verjährungsdebatten in diesem Haus wirklich umsonst geführt? Wissen Sie oder ahnen Sie wenigstens, was beispielsweise ein Mann wie Ernst Lemmer zu diesem Satz sagen würde, wenn er dem Parlament noch angehören würde?
Und, Herr Bundesminister Geißler, wie können Sie von Pazifismus sprechen, und wie können Sie einen solchen Satz zu Papier bringen und dann hier vortragen, ohne zu erwähnen — Sie haben es erst auf Zuruf nach und nach teilweise getan —, daß die deutschen Pazifisten mit am entschiedensten vor Hitler gewarnt haben und von ihm schon lange vor Auschwitz in den Lagern gequält und ermordet worden sind?
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1002 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983
Dr. VogelIch bin kein Pazifist. Und die Sozialdemokratie war in der Geschichte nie eine pazifistische Partei. Aber sie hat pazifistische Überzeugungen stets respektiert. Und deshalb nehmen wir den Pazifismus auch gegen solche Entstellungen der Wahrheit in Schutz.
Jetzt, Herr Bundesminister, reden Sie sich in länglichen Papieren darauf hinaus, Sie hätten nicht die deutschen Pazifisten, Sie hätten nicht Gerlach, Ossietzky oder Schönaich gemeint — und ich will dies abnehmen —; Sie hätten die westlichen Demokratien ansprechen wollen.
Sie sind sonst der Sprache durchaus mächtig und haben nicht eine solche Streubreite in der Ungenauigkeit Ihrer Begriffe.Aber das ist doch eine Ausflucht.
Herr Geißler, war denn Chamberlain, der konservative Premier Großbritanniens, ein Pazifist? Ist die Maginotlinie von Pazifisten gebaut worden? Und war es in Frankreich nicht gerade die ihrer Tradition nach eher nationalistische Rechte, die Hitlers Antikommunismus zunächst anziehend fand und meinte, dieser Antikommunismus sei gar nicht so uneben, auch in der inneren Situation, in der man sich damals in Frankreich befand?
Und wenn Sie schon dieses Thema aufwerfen, Herr Geißler: War Stalin, als er 1939 diesen schlimmen Vertrag mit Hitler-Deutschland unterzeichnete, vielleicht auch ein Pazifist?Außerdem — und das sage ich leise, weil es einen ganz empfindlichen Punkt berührt —: Wollen Sie, Herr Geißler, als Bundesminister die sowjetische Führung, zu der Herr Kohl demnächst reist, mit Hitler gleichsetzen? Und wollen Sie die militärische Stärke der NATO gleichsetzen mit dem Personal- und Ausrüstungsstand des britischen Berufsheers und der französischen Armee vor 1938? Das ist doch alles absurd. Das hält doch der Prüfung nicht stand.
Dann verteidigen Sie sich damit, daß andere den Hinweis auf Auschwitz ebenfalls in ungeeignetem Zusammenhang gebraucht hätten? Das ist wohl wahr, und wir kritisieren das ebenso, wie es Herr Galinski, der Vorsitzende der jüdischen Kultusgemeinde in Berlin, getan hat. Wir wenden uns auch gegen den inflationären Gebrauch des Wortes Widerstand; er ist nicht gut, und er verschiebt die Maßstäbe.Aber das alles entschuldigt Sie nicht. Herr Geißler, wollten Sie denn differenzieren? Wollten Sie eine abgewogene Darstellung geben, eine abgewogene, differenzierende, vollständige Darstellung, bei der dann — das räume ich ausdrücklich ein — auch das Stichwort „appeasement" eines von vielen Stichworten hätte sein können?
Ihr wirkliches Ziel war es, eine andere Meinung zu diskreditieren, eine Meinung, von der Sie selbst geschrieben haben, sie hätte große Wirkung, einen vernichtenden Schlag zu versetzen.Dabei haben Sie, Herr Geißler — und da spreche ich jetzt den Generalsekretär an —, nicht zum erstenmal das getan, was Kurt Schumacher zu Recht als Todsünde in einer Demokratie gebrandmarkt hat, nämlich die technokratische und geradezu kriegswissenschaftliche Handhabung der politischen Mittel in der Auseinandersetzung unter Demokraten.
Herr Geißler, Sie haben sich einmal mehr schlimm in der Wahl des Mittels vergriffen. Sie haben gefährlichen Geschichtsverfälschungen, die in unserem Volk doch schon im Umlauf sind, Ermutigung gegeben. Sie haben von den wirklichen Ursachen der Machtergreifung abgelenkt. Sie haben autoritäre demokratiefeindliche Kräfte — ob Sie das wollten oder nicht — ermutigt.Seit Ihrer Äußerung sind Sie von vielen Seiten dringend aufgefordert worden, Ihre Aussage zurückzunehmen. Sie haben das abgelehnt: Sie haben sie sogar im Kern bekräftigt. Wir haben nicht darüber zu urteilen, ob ein Mann, der sich so verhält, als Generalsekretär seiner Partei tragbar ist. Das ist nicht unsere Sache.
Als Bundesminister — da sind wir mitverantwortlich — ist er jedenfalls nicht tragbar,
und zwar auch deshalb, weil Sie es nicht fertigbringen, einen Fehler zuzugeben und durch eine mannhafte Entschuldigung aus der Welt zu schaffen. Deshalb hat meine Fraktion den Antrag eingebracht — sie wird ihn heute nachmittag noch einmal ausführlich begründen —,
den Bundeskanzler aufzufordern, dem Herrn Bundespräsidenten Ihre Entlassung vorzuschlagen.
Sie, Herr Bundeskanzler, tragen für die Entwicklung dieser Sache Mitverantwortung. Sie haben es bis jetzt versäumt, sich von der Äußerung Ihres Jugendministers zu distanzieren. Sie haben — ich sage leider — Frau Kollegin Hamm-Brücher nach ihrer eindrucksvollen persönlichen Erklärung am
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983 1003
Dr. VogelEnde jener Sitzung des Deutschen Bundestages zunächst nichts anderes und nichts Besseres zu sagen gewußt, als ihr eine Mißachtung der Geschäftsordnung vorzuwerfen.
— Vielleicht können wir dazu dann die Kollegin selbst hören; das läßt sich sofort klären.
Auf meinen Brief, in dem ich Sie eindringlich bat, den schon eingetretenen Schaden zu mindern, haben Sie noch nicht einmal geantwortet.
Sie haben auch heute in dieser Sache das getan, was Sie in kritischen Situationen gelegentlich und gerne tun, nämlich nichts.
Nach unserer Auffassung sind Sie der Bundeskanzler des ganzen Volkes. Es ist Ihre Pflicht, denen entgegenzutreten, die in einer kritischen Phase unser Volk geradezu in zwei feindliche Lager spalten, die ihre Sprache nicht zu zügeln vermögen. Daß Sie diese Pflicht in Ihrem eigenen Bereich in diesem Falle nicht wahrgenommen haben, ist auch ein Umstand, der die konkrete Lage der Nation in überaus bedenklicher Weise kennzeichnet.
In gewisser Weise sind Sie sogar für diese Art von Spaltung mitursächlich; so, wenn Sie es geschehen lassen, daß Ihre Freunde auf subtile Weise unseren Patriotismus in Zweifel ziehen. Deshalb sage ich Ihnen zum Schluß: Die Partei eines August Bebel, eines Friedrich Ebert, eines Otto Wels, eines Kurt Schumacher, eines Willy Brandt, eines Helmut Schmidt und eines Herbert Wehner muß sich von niemandem mangelnden Patriotismus vorwerfen lassen.
Gewiß, unser Patriotismus ist nicht der laute, schwülstige, protzende, pathetische, andere Völker deklassierende der wilhelminischen Zeit oder der Deutschnationalen, etwa eines Hugenberg. Aber in der Liebe zu unserem Volk, in der Pflege der nationalen Gemeinschaft, in der Bereitschaft, ihm den Frieden zu erhalten, in der Entschlossenheit, die freiheitlichen Traditionen unserer Geschichte lebendig zu erhalten und fortzuentwickeln, läßt sich die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, die ja gerade deshalb gestern vor 50 Jahren von den Machthabern des Dritten Reichs verboten wurde, von niemandem übertreffen. Das ist unser Patriotismus!
Herr Bundeskanzler, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition! In diesem Sinne werden wir auch künftig unseren selbstverantwortlichen Beitrag zum Wohlergehen unseres Volkes, zum Wohlergehen aller Deutschen leisten.
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe mich zu Wort gemeldet, weil einiges von dem, was mein Herr Vorredner gesagt hat, unmittelbar richtiggestellt, respektive den notwendigen Widerspruch erfahren muß.
Ich will versuchen, es in aller Ruhe zu tun, obwohl das, was Herr Abgeordneter Dr. Vogel gesagt hat, und noch mehr das, was er angedeutet hat, wirklich jede Empörung verdient.
Herr Abgeordneter Dr. Vogel, ich will nichts auf Ihren Beitrag als Replik zur Regierungserklärung sagen. Dazu fällt einem in der Tat nach dem, was Sie gesagt haben, nichts mehr ein.
Herr Abgeordneter Dr. Vogel, ich will Ihnen heute
abschließend, weil das für unsere Beziehungen wichtig ist, sagen, daß ich auch in Zukunft prinzipiell Briefe, die Sie an mich schicken und die ich vorher in der Zeitung lese, nicht beantworte.
Herr Abgeordneter Dr. Vogel, das mag Ihr Umgangsstil sein. Wenn Sie mir einen Brief senden, haben Sie ganz selbstverständlich einen Anspruch auf Antwort.
Wenn ich aber diesen Brief bereits vorher in der Zeitung lese, sehe ich keinen Grund, den Brief zu beantworten; denn er ist ja auch nicht abgeschickt worden, um eine Antwort von mir zu erhalten.
— Ich wiederhole das: Das, was Sie hier gegen meinen Freund und Kollegen Heiner Geißler gesagt haben,
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1004 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983
Bundeskanzler Dr. Kohlist ja in erster Linie natürlich nicht gegen ihn gerichtet, sondern — —
— Ich kann Ihnen nur sagen: Für mich ist es selbstverständlich, zu einem Freund zu stehen, in diesem Saal und draußen.
Das, was Sie gesagt haben, hat ja in erster Linie den Sinn gehabt — Herr Abgeordneter Vogel, Sie haben es ja auch jetzt in der Debatte gesagt und nicht heute mittag, um möglichst viele von diesen Gedanken über die Fernsehübertragung unter die Leute zu bringen —,
die Christlich-Demokratische und die Christlich-Soziale Union in eine rechte Ecke zu schieben.
Herr Abgeordneter Dr. Vogel — —
— Meine Damen und Herren, daß Sie unfähig sind, eine Rede zu ertragen, die eine andere Meinung darstellt, zeigt doch, wohin Sie mit Ihrem Demokratiebegriff gekommen sind.
Herr Abgeordneter Dr. Vogel, mich stören diese Versuche überhaupt nicht, denn sie erreichen uns nicht.
Wir vertrauen auf den Willen der deutschen Wähler, die uns das Mandat für dieses Haus gegeben haben.
Nur eines sollen Sie wissen: Wir sind nicht bereit, in irgendeiner Form jene Geschichtsfälschung hinzunehmen, die Sie in sehr. sublimer Weise betreiben.
Herr Abgeordneter Dr. Vogel, nehmen Sie zur Kenntnis: Als Vorsitzender der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands stehe ich hier in der Kontinuität des ersten frei gewählten Vorsitzenden. Das war Andreas Hermes. Er ist im Gefolge des 20. Juli im Januar 1945 zum Tode verurteilt worden. Es war eine glückliche Fügung, daß er die Nazizeit überlebt hat. Wir haben keinen Nachholbedarf, Ihnen beweisen zu müssen, was demokratische und was antinationalsozialistische Gesinnung bedeutet.
Herr Abgeordneter Dr. Vogel, um auch das klar zu sagen — ich werde nachher noch ein Wort mehr dazu sagen —: Weder der Vorsitzende der CDUnoch der Generalsekretär der CDU haben dies persönlich in ihrem Lebensweg nachzuweisen.
Lassen Sie mich ein Wort zu dem Thema sagen, das zu dieser Erregung beigetragen hat. Meine Damen und Herren, es ist ganz selbstverständlich, daß wir in den großen bewegenden Fragen unserer Nation — und gibt es eine bewegendere Frage als die existentielle Frage der Sicherung von Frieden und Freiheit? — unterschiedlicher Meinung sind, vielleicht sogar sein müssen. Sie haben den Kirchentag zitiert, man solle ein Wort aus diesem Kirchentag ganz besonders erwähnen.
— Meine Damen und Herren, ich muß den Kirchentag nicht dauernd zitieren. Ich habe ihn zur Kenntnis genommen. Ich war dort. Ich finde, es wird nicht überzeugender, wenn man ein Bekenntnis wie ein Plakat dauernd vor sich herträgt.
Gesinnung muß man leben und nicht proklamieren. Das ist die Erfahrung, wenn man über ethische Grundlagen spricht.
Auf diesem Kirchentag ist ein wichtiges Wort gesagt worden. Es ist gesagt worden: Wir sind uns einig über das Ziel — ich hoffe, das darf ich auch hier sagen —, den Frieden zu erhalten, den Frieden in Freiheit für unser Volk zu erhalten angesichts einer apokalyptischen Bedrohung, die jeder von uns beinahe physisch verspürt.
Und so, meine ich, kann man mit äußerster Entschiedenheit und der ganzen Leidenschaft auch des Herzens miteinander streiten um den richtigen Weg. Ich füge aber hinzu: Für mich gilt der Satz, daß ich dazu nicht eine eigene Friedensbewegung brauche. Ich unterstelle, daß alle Menschen guten Willens in unserem Vaterland Mitglieder einer großen Friedensbewegung sind.
Wenn das die Grundlage unserer Diskussion ist, wenn wir uns so weit wieder in einem Akt der Vernunft verständigen können, dann muß es möglich sein, darüber zu reden, was der richtige Weg ist, ohne daß man den anderen moralisch vernichtet.
— Meine Damen und Herren von der SPD, Sprechchöre haben uns in der deutschen Geschichte ganz gewiß nicht weitergebracht.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983 1005
Bundeskanzler Dr. KohlDie sogenannte Friedensbewegung,
die sogenannte Friedensbewegung,
— die sogenannte Friedensbewegung — denn das ist ein Begriff, den sie sich selbst verliehen hat — greift nun seit geraumer Zeit die Verteidigungspolitik der westlichen Gemeinschaft an, und zwar mit Begriffen, die die moralische Substanz und Grundlage dieser Verteidigungspolitik zerstören sollen.
Das fängt damit an, daß ständig und bei jeder Gelegenheit die Politik der Vereinigten Staaten und die Politik der Sowjetunion moralisch gleichgesetzt wird.
Das geht weiter damit, daß man in einer für mich als Christ unzulässigen Weise — das bekenne ich — die Forderung der Bergpredigt in einer Art in die Politik überführt, die jedenfalls für mich so nicht erträglich ist.
Damit sind wir beim Ausgangspunkt jener Debatte, die heute j a auch noch eine Rolle spielen wird. Es wird die Behauptung verbreitet, der Westen — das sind wir auch, die wir einen Beschluß vertreten, Herr Abgeordneter Dr. Vogel, den Sie als Regierungsmitglied mitgefaßt haben —
bereite ein atomares Auschwitz vor. Herr Abgeordneter Vogel, das ist in vielfältiger Weise gesagt worden. Ich habe nicht die Absicht, hier Mitglieder dieses Hauses zu zitieren, die nicht Ihrer Fraktion angehören, denen ich aber durch das Zitieren nicht zur Popularität verhelfen will.
Damit ist dieser Begriff des atomaren Auschwitz zu einem politisch-moralischen Kampfbegriff geworden, mit dem die Verteidigungsfähigkeit, der Verteidigungswille und die ethischen Grundlagen der Verteidigungsfähigkeit der westlichen Demokratien auf eine Stufe mit nationalsozialistischen Verbrechen gestellt werden.
Das Ziel dieser Aktion ist völlig eindeutig. Diejenigen, die um des Friedens und der Freiheit willen auch bereit sind, die notwendigen Opfer zu bringen, sollen damit moralisch — ich sage es einmal so salopp — k. o. geschlagen werden.
Diejenigen, die die westliche Position der Verteidigungspolitik vertreten — Sie haben Schumacher zitiert; natürlich auch die Schumachersche Politik indiesem Sinne —, sollen moralisch in die Defensive gedrängt werden.Aus den Ausführungen von Heiner Geißler als Ganzes im Bundestag — lesen Sie den Text doch noch einmal als Ganzes nach, Herr Dr. Vogel —
geht doch klar hervor, daß nicht der deutsche Pazifismus von Carl von Ossietzky, daß nicht irgendwelche Strömungen und irgendwelche Äußerungen, die bei uns dann etwa den, der sie vertreten hat, ins Konzentrationslager brachten, gemeint waren.
— Aber Sie werden mir doch noch zugute halten — auch wenn ich nicht dabei war —, daß ich fähig bin, das Wortprotokoll zu lesen. Oder unterstellen Sie, daß das Protokoll gefälscht ist? Das wird niemand unterstellen.
— Meine Damen und Herren, ich kann Ihnen nur sagen: Ihre Unfähigkeit, eine Rede anzuhören, zeigt eben, daß Sie überhaupt unfähig sind, Demokratie in dieser Form des Pro und Kontra zu leben.
Zur Demokratie gehört eben, eine andere Meinung zu ertragen.
Sehen Sie, beim Studium des Protokolls der Rede des Kollegen Geißler ist mir genau das aufgefallen. Ich bin ganz sicher, daß der Kollege Geißler die eine oder andere Formulierung eben nicht so gewählt hätte, wenn Sie ihm die Chance gegeben hätten, seine Gedanken in freier Rede ruhig vorzutragen.
Mich werden Sie nicht provozieren.
Der Kollege Waltemathe — ich hoffe, daß man das jetzt in Ruhe sagen kann —, der nach seinem Bekenntnis selber Pazifist ist, dessen Großvater als Pazifist in Auschwitz umkam, hat an Heiner Geißler einen nachdenklichen, einen bedenkenswerten Brief geschrieben. Heiner Geißler hat ihm geantwortet.
— Was soll das? Was soll das wirklich, wenn er ihm einen Brief schreibt, daß Sie jetzt dazwischenrufen „als Generalsekretär"? Was soll das?Heiner Geißler hat ihm geantwortet:
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1006 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983
Bundeskanzler Dr. Kohl„Es tut mir leid, wenn ich Sie und andere Pazifisten in Ihren Gefühlen verletzt haben sollte. Aber dies habe ich sicher nicht gewollt."Das ist ein wörtliches Zitat. Ich sage ausdrücklich: Ich begrüße dieses klärende Wort, das er gesprochen hat, und ich unterstütze es nachdrücklich,
weil ich denke, daß es wichtig ist, bei aller Härte der Auseinandersetzung — —
Herr Bundeskanzler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Waltemathe?
Gerne, bitte.
Herr Bundeskanzler, können Sie mir bestätigen, daß Herr Geißler — ich habe ihm ja gar nicht unterstellt, daß er irgendwelche persönlichen Verletzungen aussprechen wollte — nach diesem Satz folgendes schreibt — ich zitiere freihändig —: Er bleibe bei dem Kern seiner Aussage, verantwortlich für Auschwitz waren zwar die Nationalsozialisten und Gruppen, die ich in meinem Brief angesprochen habe, aber möglich gemacht hätten Auschwitz — dabei bleibe er — z. B. die Pazifisten, die er in seiner Bundestagsrede genannt habe.
Können Sie bestätigen, daß der Schlußsatz des Briefes lautet „Ich kann es Ihnen, der SPD und der sogenannten Friedensbewegung nicht ersparen, sich mit dem Pazifismus auseinanderzusetzen"?
Herr Kollege Waltemathe, ich komme genau auf dieses Thema jetzt zu sprechen und beantworte dabei Ihre Frage, soweit ich sie verstanden habe. Ich darf es noch einmal wiederholen, weil es sonst vielleicht untergeht.
Ich begrüße dieses klärende Wort Heiner Geißlers, und ich möchte es von mir aus nachdrücklich unterstützen, weil ich eben denke, daß wir bei aller Härte der Auseinandersetzung nichts tun sollten, was uns in unseren menschlichen Gefühlen, in dem, was für uns wesentlich und in unserer inneren Existenz wichtig ist, bedrückt.
Wenn meine Zwischenrufreaktion eben im Blick auf die SPD so verstanden wurde, daß ich Ihnen demokratische Gesinnung abgesprochen hätte, so erkläre ich ausdrücklich, daß dies natürlich nicht meine Meinung ist.
Mir liegt wirklich daran, daß wir dieses Gespräch bei aller Leidenschaft über diesen Punkt in guter Weise miteinander führen.
Aber jetzt folgendes, Herr Kollege Waltemathe. Es ist doch wahr, daß Geißler geschrieben und auch nach diesen Debatten hier mehrmals gesagt hat: Es wäre sicher falsch und ungerecht, den wirklichen Pazifisten eine subjektive Mitschuld zuzuschreiben. Ich füge hinzu, daß — wie er denkt, denken wir alle —, der Respekt vor dem persönlichen Einsatz und dem Opfer, oft genug auch dem Opfer des eigenen Lebens während der Nazi-Diktatur, jedes andere Denken von selbst verbietet.
Aber, Herr Kollege Waltemathe, es muß doch möglich sein, wenn man über geschichtliche Zusammenhänge nachdenkt und wenn der Satz gilt „wir wollen gemeinsam aus der Geschichte lernen", natürlich auch über die Folgen etwa pazifistischer Strömungen jener Jahre, etwa der AppeasementPolitik, öffentlich zu diskutieren. Das ist doch selbstverständlich auch im Deutschen Bundestag möglich.
Meine Damen und Herren, es läßt sich doch wirklich nicht bestreiten, daß die Appeasement-Politik, die etwa in Großbritannien und in Frankreich vor dem Zweiten Weltkrieg ganz wesentlich die politische Szene bestimmt hat, mit dazu beigetragen hat, daß die Münchener Konferenz mit den bekannten Ergebnissen zustande kam.
Herr Abgeordneter Dr. Vogel: Weder Geißler noch ein anderer haben dafür konkret deutsche Pazifisten verantwortlich gemacht. Aber die Wahrheit ist doch, daß Daladier, der französische Ministerpräsident, und Chamberlain, der englische Premierminister, als Ergebnis einer Politik nach München gegangen sind, die eben nicht mehr bereit war, mit letzter Kraft der Diktatur zu widerstehen.
Herr Bundeskanzler, erlauben Sie noch eine Zwischenfrage?
Nein.Ich habe weder die Zeit noch die Möglichkeit, in der Kürze dieses Beitrages zu diesem Thema mehr zu sagen. Ich bringe ein Zitat, Herr Abgeordneter Dr. Vogel, eines Mannes, der, wie ich hoffe, ganz unverdächtigt ist. Winston Churchill hat im Rückblick auf jene Tage später in seinen Erinnerungen geschrieben — ich zitiere wörtlich —:Die Freude an schön klingenden Phrasen, das Zurückschrecken vor unerfreulichen Tatsachen, der Wunsch nach Popularität und Wahlerfolgen ohne Rücksicht auf lebenswichtige Staatsinteressen; ehrliche Friedensliebe und rührender Glaube, daß die Liebe als einzige Grundlage für den Frieden genüge; offensichtlicher Mangel an Denkkraft bei beiden Führern der britischen Koalitionsregierung ...: das alles ergab ein Bild der aufgeblasenen Dummheit und Schwäche in England, die zwar frei von Arglist war, aber nicht frei von Schuld und — obwohl sie nichts Böses beabsichtigte — entscheidend dazu beitrug, über unsere Welt die Schrecken und Verhängnisse hereinbrechen zu lassen, die schon in dem bisher erreichten Grad
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983 1007
Bundeskanzler Dr. Kohlüber jeden Vergleich mit allem von Menschen Erlebten hinausgehen.
Meine Damen und Herren, das ist das Urteil eines der großen Staatsmänner dieses Jahrhunderts, eines der Akteure, eines Mannes, der jene Zeit leidvoll erlebt hat.
Er ist ein Mann, der durchaus urteilsfähig ist.
— Lesen Sie die Rede Geißlers nach! Genau diesen Vergleich hat er im Blick auf neutralistische Tendenzen gebracht, die oft genug voll guten Willens sind.Ich denke doch nicht daran, jene, die für den Frieden demonstrieren und eintreten, sozusagen pauschal abzuqualifizieren. Ich sage klar und deutlich: Da gibt es vieles, was nicht nur vertretenswert ist, sondern was wir auch würdigen. Aber das Ergebnis einer solchen politischen Überzeugung — Herr Abgeordneter Vogel, in diesem Punkt sollten wir doch nicht weit voneinander entfernt sein — —
Herr Bundeskanzler, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Westphal?
Nein, danke schön. Ich kann jetzt wirklich keine Fragen mehr beantworten, weil ich meinen Beitrag in der Kürze der Zeit zu Ende bringen möchte.Meine Damen und Herren, ich kann nur sagen: Was Churchill hier dargelegt hat, bedeutet doch eine Mahnung an die Heutigen. Wenn wir aus der Geschichte lernen wollen, müssen wir doch wissen, daß uns einseitige Abrüstung in der Auseinandersetzung in der Welt nicht weiterbringt.
Zuletzt eine kurzes Wort zur Person, zur Persönlichkeit des Mannes, den Sie hier in dieser Weise in eine bestimmte Ecke abzudrängen versuchen.
Ich sage diese, meine Damen und Herren von der SPD, weil ich mit Heiner Geißler seit über 25 Jahren freundschaftlich verbunden bin und weil ich bei diesem Mann kennengelernt habe, daß er in jeder Auseinandersetzung mit Extremen von links und von rechts die politische Mitte und unsere demokratische Überzeugung vertreten hat.
Herr Abgeordneter Dr. Vogel, ich füge hinzu — ich hoffe, Ihr Nachbar hat Verständnis dafür, daß ich das jetzt so sage —: Geißler ist natürlich ein Mann, der leidenschaftlich kämpft, der leidenschaftlich ficht und der im täglichen Umgang mit den eigenen Freunden sich und anderen auch nichtimmer alles erspart. Wir sind lange genug ein Gespann als Parteivorsitzender und Generalsekretär. Wie Sie wissen, gab es da nicht nur Sonnenschein, sondern gelegentlich auch. Donner und Auseinandersetzungen.
Ich finde also, Herr Abgeordneter Dr. Vogel, wenn Sie einen Mann mit diesen Charakterstärken, aber auch mit gelegentlichen Ecken, betrachten, dann sollten Sie das Bild als Ganzes nehmen und nicht ein Bild zeichnen, wie Sie es hier versucht haben, das mit der Wirklichkeit überhaupt nicht übereinstimmt.
Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, daß dieser Heiner Geißler ein Mann ist, der sich aus seinen Ursprüngen, so, wie er von seinem Elternhaus her geprägt ist, ganz und gar nicht dazu eignet, in die Nähe des Nationalsozialismus, des Rechtskonersvatismus oder des Neofaschismus gerückt zu werden.
Ich habe interessante Töne dieser Art in den letzten Tagen aus Ihren Kreisen gehört. Diese Versuche werden scheitern. Heiner Geißler ist geprägt durch ein Elternhaus, das bitterste Erfahrungen im Dritten Reich gemacht hat. Wenn Sie, meine Damen und Herren — ich finde, daß das ganz konkret bei einzelnen, die das tun, in Ordnung ist —, dann aufstehen und sagen: Meine persönlichen Erfahrungen mit meinen Eltern, mit meinem Großvater oder meine persönliche Erfahrung in einem Konzentrationslager bringen mich dazu, leidenschaftlich zu protestieren,
dann übernehmen Sie bitte auch jetzt diese Argumentation, und räumen Sie ein, daß auch Heiner Geißler aus seiner Erfahrung, aus seinem Lebensweg, geprägt durch sein Elternhaus, das Recht hat, leidenschaftlich sein Wort für die Sache des Friedens und der Freiheit, wie wir sie verstehen, zu machen.
Meine Damen und Herren, ich habe versucht, soweit mir dies möglich war, unsere Position noch einmal zu erläutern. Sie wissen natürlich — das ergibt sich aus dem, was ich gesagt habe —, daß wir den Antrag, den Sie stellen, ablehnen werden — ich als der für die Belange der CDU Verantwortliche ohnehin. Mein Vertrauen hat der Bundesminister Dr. Heinrich Geißler als ein Mann,
der sich in diesen Jahren als Demokrat bewährt hat und das auch in Zukunft tun wird.
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1008 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983
Das Wort hat der Kollege Brandt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich verstehe gut das, womit der Bundeskanzler seine Rede soeben abgeschlossen hat. Mir hat leid getan — des Amtes wegen —, daß die Rede in Teilen — zumal der erste Teil, Herr Bundeskanzler — unter dem Niveau eines Bundeskanzlers war.
Ich will jetzt nicht auf die Sache mit dem Brief von Herrn Vogel eingehen; das ist im Grunde nicht so wichtig. Aber hier haben Sie eine Chance gehabt, die Sache in Ordnung zu bringen. Sie haben sich die Chance entgehen lassen, Herr Bundeskanzler.
Warum eigentlich? Warum reden Sie in dieser Sache in weiten Passagen um den Brei herum? Die Leute, die uns zuhören, haben doch gemerkt, daß Sie um die Sache herumreden, die dabei ist, dieses Haus und unser Volk tief zu spalten.
Herr Bundeskanzler, warum nehmen wir das so ernst? Der Sache wegen, auf die ich gleich komme, aber auch des Mannes wegen, der nicht zum erstenmal Stichworte für die innenpolitischen Auseinandersetzungen in dieser Republik ausgegeben hat.
Insofern ist dies nicht allein eine Auseinandersetzung über eine Formulierung, so schlimm sie ist.
Dies löst gleichzeitig und sofort die Frage aus,
ob damit Art und Inhalt der Diskussionen im Herbst über die Sicherheit der Deutschen und, wie viele empfinden, das Überleben der Menschheit
in der erwähnten Form, der Form der Brandmarkung abgesteckt werden sollen.
Dies ist die Frage: wohin unser Volk getrieben und wo es möglicherweise hineingerissen werden soll.
Wer hat Sie, Herr Bundeskanzler, heute früh — der Vorsitzende der sozialdemokratischen Fraktion war es nicht — in eine rechte Ecke stellen wollen? Warum verteidigen Sie sich gegen etwas, was weder
Herr Vogel noch ich je an Ihre Adresse vorzubringen im Sinne gehabt haben?
Warum reden Sie von Geschichtsfälschung, statt Ihren bescheidenen Beitrag zur Klärung der Begriffe zu leisten?
Das Jahr 1983, in dem uns der 50. Jahrestag des 30. Januar 1933 begleitet, geradezu verfolgt, gebietet doch, den Jüngeren, den Jungen, so gut wir es können, zu vermitteln, und zwar unabhängig von unserer Parteizugehörigkeit, wie Hitler an die Macht gekommen ist, damit so etwas nie mehr vorkommen kann
— das wäre die Aufgabe —, und wie es zum Krieg und dann im Krieg zur Massenvernichtung auf diese immer noch unvorstellbare Weise, kulminierend in der millionenfachen Vernichtung der Menschen jüdischer Herkunft in Auschwitz, gekommen ist.
Nun bringen Sie alles durcheinander. Lieber Herr Bundeskanzler, eine Sache ist, daß zu der Hauptverantwortung der Deutschen dafür, daß Hitler an die Macht kam — diese Verantwortung kann unserem Volk niemand abnehmen, und es selbst kann sich ihr auch nicht entziehen —, die Verantwortung in der Tat starker Kräfte der Westmächte kam, die dann Hitler die Machtentfaltung ermöglicht haben. Was hat das aber mit Pazifismus zu tun?
War der Marschall Pétain ein Pazifist, war es Chamberlain? Die damalige englische Regierung wollte, was man interessenmäßig verstehen kann, Deutschland und Rußland in den Krieg gegeneinander bringen und ziehen lassen. Mit Pazifismus hatte das nichts zu tun. Appeasement war eine durchaus machtbesessene Politik. Mit Pazifismus hat das überhaupt nichts zu tun; sonst haben Sie das Thema nicht erkannt.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Dr. Hamm-Brücher?
Bitte, ja.
Bitte, Frau Abgeordnete.
Herr Kollege Brandt, glauben Sie nicht auch, daß wir in der Klärung dieser Angelegenheit, an der uns allen wohl gelegen sein muß, weiterkommen würden, wenn wir einmal eine klare Antwort des Herrn Bundesjugendministers darüber erhielten, ob er nicht der Meinung ist, daß an Auschwitz nur der Antisemitismus in Deutschland, der eine alte — übrigens eine
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Frau Dr. Hamm-Brücher
traurige — Tradition gewesen ist, in keiner Weise aber der Pazifismus schuld gewesen ist?
Herr Kollege Brandt, glauben Sie nicht auch, daß wir ein gutes Stück dieser Auseinandersetzung aus der Welt geschaffen hätten, wenn das geklärt würde?
Frau Kollegin, ich würde es sehr begrüßen, wenn auch zu diesem Punkt eine Klärung durch den angesprochenen Bundesminister erfolgte. Ich würde es gelten lassen, wenn er auch hier hinzufügte, daß es neben der Quelle, auf die Sie in unserem eigenen Volk hinweisen, natürlich auch solche in anderen Ländern gegeben hat, in Polen und anderswo. Aber das macht die eigene Verantwortung unseres Volkes nicht geringer. Ich halte solche Klärungen in der Tat für nützlich.
Herr Bundeskanzler, was soll jetzt das Zusammenrühren von Pazifismus und Neutralismus? Es gibt bekanntlich Staaten in dieser Welt, die teils, weil sie es wollen, teils, weil es ihnen die Geographie und die Machtpolitik erlauben, neutral sind, sich sogar neutralistisch gebärden und dabei durchaus militant sind, dabei durchaus viel Kraft und Geld auf ihre Verteidigung verwenden. Warum wollen Sie alles zusammenrühren, statt endlich die Begriffe zu klären?
Sie haben gesagt, Herr Bundeskanzler, Sie meinten, eigentlich gehörten wir alle zur Friedensbewegung. Ich möchte das auch glauben wollen. Jedenfalls sage ich von meiner Partei: Sie hat nie gemeint, dies allein sein zu können; sie hat sich häufig bemüht, ihren Beitrag zu leisten. Man kann einander aber nur abnehmen, daß man dies will, wenn man auf die Form von moralischer Vernichtung verzichtet, auf die es der Herr Geißler immer wieder anlegt.
Da gibt es keine Brücke; da gibt es nur das Entweder-Oder. Wenn das nicht heute nachmittag in Ordnung gebracht wird, dann mögen Ihre Stimmen aussehen, wie sie wollen; dann gibt es von uns aus und von vielen außer uns und von der Jugend aus keinen Respekt vor einem Bundesminister, der nicht den Mumm hat, das in Ordnung zu bringen, was in Ordnung gebracht werden muß.
Herr Abgeordneter, Ich muß Sie fragen, ob Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Ertl zulassen.
Bitte, Herr Kollege Ertl.
Herr Kollege Brandt, wenn ich Sie richtig verstehe, suchen Sie — ich begrüße das sehr — nach den geistigen Ursachen. Wäre es nicht vielleicht an der Zeit, daß wir alle uns dahin gehend prüfen, daß die geistige Ursache sowohl in Haß als
auch in Fanatismus liegt und daß Frieden nur ohne Haß und Fanatismus mögich ist? Deshalb sollten wir eine vordergründige Diskussion beenden.
Ich kann Ihnen nicht widersprechen, Herr Kollege Ertl. Trotzdem
führt nichts davon weg, daß wir versuchen müssen, das, wozu der Bundeskanzler eben relativ ausführlich gesprochen hat, noch ein bißchen zu beleuchten.
Herr Bundeskanzler und meine Kollegen von der Union, ich habe gesagt, wir nehmen für uns nicht in Anspruch, allein Friedensbewegung gewesen zu sein und zu sein, obwohl es August Bebel schon im Kriege 1870/71 abgelehnt hat, die Kredite für den Krieg gegen Frankreich zu bewilligen. Wir haben da — auch im Verhältnis von Deutschland zu Frankreich — eine alte Tradition. Wir haben zusammen mit dem Zentrum und den Liberalen während des Ersten Weltkrieges im Reichstag versucht, mit der Friedensresolution einen erträglicheren Frieden zustande zu bringen, als es der dann wurde, den man Deutschland zum Ausgang des Ersten Weltkrieges diktiert hat. Und es waren nicht zuletzt Sozialdemokraten, die in den Jahren vor 1933 gesagt haben — und damit sogar 1932 in Wahlkämpfe gegangen sind —, daß Hitler Krieg bedeutet. Da sind wir also keines Nachhilfeunterrichts bedürftig.Herr Bundeskanzler, mich würde wundern, wenn Ihnen nicht auch aufgefallen wäre, daß heute der Herr Geißler im bisherigen Vorfeld Ihrer Partei oder beider Parteien nicht nur Warntafeln errichten, sondern auch Abschreckungseffekte erzielen und mit der Art seiner Präsentation in das hineinwirken will, was in den Kirchen und um die Kirchen vor sich geht. Das, was Sie über die Friedensbewegung gesagt haben, können Sie nicht aufrechterhalten, wenn Sie an die Bischöfe in den Vereinigten Staaten und an andere in den Vereinigten Staaten — nicht nur Junge, aber, wie hier und in England und anderswo, gerade Junge —, an Fachleute, Abgeordnete und hohe Offiziere denken.Das heißt, es gibt — ob uns das Spaß macht oder nicht — über diejenigen hinaus, die sich in den Parteien bemühen, viele, denen das nicht genug ist, die sich auf ihre Weise zusätzlich engagieren. Da sagen wir Sozialdemokraten: Die darf man nicht diffamieren. Wenn man der Meinung ist, sie sind auf dem falschen Weg, muß man sich darüber auseinandersetzen und muß um den jeweils richtigen Weg ringen. Aber man darf keine Gräben aufreißen, ganz abgesehen davon, daß ich natürlich junge Leute in Deutschland schon für Schlimmeres als für Frieden habe in Massen auftreten sehen.
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1010 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983
BrandtWir erleben heute in den Vereinigten Staaten, in Skandinavien, in England, bei uns in Deutschland — im anderen deutschen Staat leider sehr verdeckt und kaum zugelassen — einen Pazifismus.
Es gibt Tendenzen, diesen Pazifismus zu diffamieren und zu verteufeln. Sie sagen, nicht Ossietzky sei gemeint gewesen, sondern die Westmächte. Die können doch gar nicht gemeint sein! Es ist doch eine faule Ausrede von Herrn Geißler, die Sie jetzt aufgegriffen haben, weil Sie, wie ich schon sagte, uns Chamberlain oder Pétain nicht ernsthaft als Pazifisten vorführen können. In den Ländern, um die es sich handelt, würden Sie ausgelacht werden, wenn Sie eine solche Geschichtsdeutung vorbrächten!
Dies ist ernst. Es ist nicht das erste Mal. Dies ist besonders schlimm.
Das klärende Wort fehlt. Es gibt immer noch die Chance, das heute nachmittag in Ordnung zu bringen. Sonst stimmen wir ab, und wir geben danach keine Ruhe. Darauf können Sie sich verlassen!
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Dregger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es kennzeichnet die Lage der Nation — dies ist eine bestürzende Erkenntnis —, daß es in dieser Debatte, die den Grundfragen der Nation gewidmet werden soll, seit Jahren nicht mehr möglich ist, sie wirklich angemessen zu erörtern.
Unter Grundfragen verstehe ich die Fragen nach dem Stand der historischen Entwicklung der deutschen Nation, nach ihrer politischen Zukunft, nach ihrer geistigen Verfassung, wovon ihre Fähigkeit zur Selbstbehauptung letztlich abhängt.
Meine Damen und Herren, in den vergangenen Jahren konnte diese Debatte nicht geführt werden, weil der Vorgänger des jetzigen Bundeskanzlers regelmäßig das Thema verfehlt hat.
Er hat das Parlament über die Lage der Welt im allgemeinen und über die Lage der Bundesregierung im besonderen belehrt. Über die Probleme, die sich aus der Teilung der deutschen Nation ergeben, wurde nicht gesprochen.
Heute hat der Oppositionsführer seinen Beitrag in dieser Debatte mißbraucht, um, Herr KollegeVogel, einen sehr unfairen Angriff gegen meinen Kollegen Geißler zu fahren.
Es war von vornherein nicht sehr leicht, den verkürzten Satz des Kollegen Geißler im Rahmen seiner Gesamtausführungen mißzuverstehen. Es war vielleicht möglich, aber es war nicht sehr leicht. Ich meine, nach meiner Intervention in dieser Debatte und nach dem Brief des Kollegen Geißler an den Kollegen Waltemathe, der Ihnen, Herr Vogel, ja nicht unbekannt geblieben sein kann, sind Mißverständnisse nicht mehr möglich.
Meine Damen und Herren, wenn Sie, Herr Kollege Vogel, dieses Thema trotzdem immer wieder auf den Tisch bringen und nicht einmal auf heute nachmittag warten können, da Sie Ihren Anti-GeißlerAntrag begründen wollen, dann fragt man sich doch: Warum geschieht das? Ich habe den Eindruck — es tut mir leid, das sagen zu müssen —: Sie brauchen Feindbilder,
um Ihre zerstrittene Partei auf diese Weise zusammenhalten zu können.
Wenn Sie dann noch versuchen, den Kollegen Geißler, aber auch mich, mit neonazistischen Aktivitäten in Verbindung zu bringen, und gleichzeitig sagen, Sie wollten das nicht,
dann erreichen Sie, Herr Kollege Vogel, damit den Tiefpunkt der Diskussion; dann stellen Sie sich als ein Muster von Selbstgerechtigkeit dar.
Ich möchte gerne zum eigentlichen Thema der Debatte sprechen,
zur Lage der deutschen Nation im geteilten Deutschland. Zunächst möchte ich der Bundesregierung meinen Dank sagen, daß sie nicht das Thema verfehlt hat, sondern daß sie sich dieses Themas — seit Jahren zum erstenmal — wieder angenommen hat.
Das zweite, was ich hervorheben möchte, ist folgendes: Viele bei uns haben sich angewöhnt, die Lage der Nation als das Ergebnis von Schicksal, als zwangsläufige Folge fataler Vergangenheit zu sehen. Das ist nur zum Teil richtig.
Die nahezu 40 Jahre seit dem Zweiten Weltkrieg haben wir nicht nur erlitten; wir haben sie mitgestaltet.Dr. DreggerDie Lage der Nation heute ist nicht nur das Produkt fremder, unseren Wünschen vorgeordneter Absichten. Sie ist vielmehr das Ergebnis unserer eigenen Entscheidungen. Jeder von uns — auch jede Fraktion — hat sich daher vor der Geschichte für das zu verantworten, was wir für die Freiheit und die Einheit der deutschen Nation getan haben und was wir versäumt haben.Auch andere Nationen in Ost und West sollten begreifen, daß die Deutschen in der Bundesrepublik Deutschland ihre Landsleute in Mittel- und Ostdeutschland nicht im Stich lassen können. Das wäre schändlich. Daß wir in Freiheit, die anderen aber in einer Republik leben müssen, die sich durch Mauer und Stacheldraht gegen die Republikflucht schützen muß, und daß unsere Landsleute in Ostdeutschland nicht nur einem ungeliebten Zwangsregime, sondern auch einem brutalen Prozeß der Entnationalisierung unterworfen sind — diese Verschiedenheit des deutschen Schicksals in West, in der Mitte und in Ost ist nicht das Ergebnis unterschiedlicher Verdienste oder Missetaten. Es ist allein die Folge der Geographie und der Entscheidung der Siegermächte. Es ist daher, meine ich, ganz einfach unsere sittliche Pflicht — ich rede gar nicht von nationaler Solidarität —, daß wir uns nicht von jenen abwenden, die für die gemeinsame Niederlage weit härter zu zahlen hatten und noch zahlen müssen als wir. Nur ein menschenverachtender Imperialist kann diese selbstverständliche sittliche Haltung als Revanchismus denunzieren.
Eine solche Polemik trifft uns nicht. Wir wollen niemanden an der deutschen Nation festhalten, der sie selbst aufzugeben bereit ist. Aber wir hier im Westen haben nicht das mindeste Recht, diejenigen aus der deutschen Nation auszuschließen, denen das Recht vorenthalten wird, über sich selbst zu entscheiden.
Wer die Teilung der Nation überwinden will, muß zunächst die Ursachen der Teilung erkennen. Das ist in den letzten Jahren zuwenig beachtet worden. Parolen schwirrten umher, daß es möglich sei, in einer Transformation des Ost-West-Konfliktes bestehende Gegensätze zu einer ideologischen Synthese zusammenzufassen, um darauf dann die Einheit Deutschlands gründen zu können. „Wandel durch Annäherung" lautete die eingängige Parole, die nicht einmal ohne teilweise Erfüllung geblieben ist. Wir haben uns ja der anderen Seite angenähert und uns dabei vielleicht auch in manchem gewandelt. Von einem reziproken Prozeß allerdings kann beim besten Willen nicht gesprochen werden.Die Sowjetunion hat sich uns mit den Spitzen ihrer Raketen genähert und will uns durch diese Drohung zu einem weiteren Wandel in die pax sowjetica hineindrängen. In ihrem eigenen Lager aber läßt sie Wandel durch Annäherung nicht einen Millimeter breit zu.
Darin liegt auch die wahre Ursache der deutschenTeilung. Sie wäre zwar ohne den durch Hitler vomZaun gebrochenen Krieg mit seinen schlimmen Verbrechen nicht möglich gewesen. Aber die Kapitulation Hitler-Deutschlands ist nur der historische Hintergrund, keinesfalls die Erklärung für die deutsche Teilung. Auch das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland war nach 1945 in Zonen aufgeteilt, die indessen bald wieder zu einem neuen, größeren Gebilde zusammengefügt wurden. In Potsdam war noch nicht die Rede davon, Deutschland staatlich zu teilen. Es sollte lediglich für Besatzungszwecke aufgeteilt werden. Erst der sich immer mehr verschärfende Ost-West-Gegensatz hat Deutschland geteilt. In diesem Konflikt stehen wir Deutsche auf der Seite des Westens, weil wir frei sein wollen, weil wir nach unseren Erfahrungen totalitäre Regime verabscheuen, gleichgültig, ob sie braun oder rot angestrichen sind.
Das gilt nach meiner Überzeugung auch für unsere Landsleute in der DDR in einer Mehrheit, die gewiß nicht geringer ist als bei uns. Wäre es anders, so wären Mauer und Stacheldraht nicht errichtet worden.Das, was Deutschland teilt, teilt auch Europa. Schon aus diesem Grund kann es einen Konflikt zwischen unseren beiden Staatszielen — deutsche Einheit und Vereinigung Europas — nicht geben. Nur wenn wir bereit wären, um der Einheit Deutschlands willen auf die Freiheit zu verzichten, könnte es einen Widerspruch zwischen diesen beiden Zielen deutsche Einheit und Vereinigung Europas geben.Wir aber halten am Vorrang der Freiheit vor der Einheit fest — nicht nur im eigenen Interesse, sondern auch im Interesse der Deutschen und der Europäer jenseits des Stacheldrahts. Nur unsere gesicherte Freiheit hält auch ihnen die Option für künftige Freiheit offen.
Wie die Freiheit der Bundesrepublik Deutschland ein Modell für ganz Deutschland ist, so ist die Einheit Westeuropas ein Modell für Gesamteuropa. Je mehr die westeuropäische Einigung voranschreitet, um so größer wird ihre Anziehungskraft auf die Völker Mittel- und Osteuropas.Im Zeichen der Einheit Europas werden — das ist meine Überzeugung — auch die Probleme lösbar werden, die am Ende des Krieges bewußt geschaffen wurden. Die Westverschiebung Polens zu Lasten Deutschlands hatte aus der Sicht der Sowjetunion den Sinn, ewige Feindschaft zwischen Deutschen und Polen zu begründen, um sie beide besser beherrschen zu können.Meine Damen und Herren, diese Rechnung Stalins darf und wird nicht aufgehen.
Freiheit und Selbstbestimmung sind für Polen und für Deutsche noch wichtiger als noch so wichtige Grenzfragen.
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1012 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983
Dr. DreggerIch bin sicher: Ein freies Polen und ein freies Deutschland werden zueinander finden, wie nach dem Krieg Deutschland und Frankreich zueinander gefunden haben: im Zeichen Europas.Im Zeichen der Einheit Europas werden die tragischen Konflikte zwischen den Nationen Europas ihr Ende finden. Das ist unsere europäische Vision, für die zu arbeiten es sich lohnt.
Den Kirchen danke ich, daß sie insbesondere der schwierigen Versöhnung zwischen Polen und Deutschland aus christlicher und europäischer Sicht so wirksam vorgearbeitet haben.Gern nehme ich das Wort des polnischen Papstes auf, das er in Erinnerung an den gemeinsamen Sieg der deutschen und der polnischen Heere vor 300 Jahren vor Wien gesprochen hat. Der Papst sagte seinen polnischen Zuhörern — ich zitiere ihn —:Der Sieg von Wien einigt uns alle, die Polen und auch unsere Nachbarn im Süden und Westen, nah und fern. Vor 300 Jahren einigte uns die gemeinsame Bedrohung. Jetzt einigt uns der Jahrestag der Schlacht und des Sieges.Es ist beeindruckend, wie dieser Papst sich unbeschadet seiner übernationalen Aufgabe zu seiner nationalen Herkunft bekennt.In seinem Abschlußgebet in Tschenstochau sagte er, an die Gottesmutter gewandt — ich zitiere ihn —:Ich möchte, vereint mit allen, Dir noch einmal meine Nation anvertrauen. Ich bin ihr Sohn. Ich trage in mir das gesamte Erbe ihrer Kultur, ihrer Geschichte, die Erbschaft der Siege, aber auch die Erbschaft der Niederlagen.Mit dieser Haltung, meine Damen und Herren, gibt der Papst uns allen ein Beispiel.
Auch wir haben ein Vaterland; es heißt nicht BRD oder DDR, sondern Deutschland, nur ganz schlicht und einfach Deutschland.
Da wir uns zu Europa bekennen, bekennen wir uns zur Solidarität mit dem polnischen Volk, und wir handeln danach. Kein Volk hat in den letzten Jahren so große Hilfeleistungen für Polen erbracht wie das deutsche Volk. Da wir uns zugleich zu Deutschland bekennen, bekennen wir uns auch zur Solidarität mit dem Teil der deutschen Nation, der nach dem Kriege aus der angestammten Heimat vertrieben worden ist.
Leider, Herr Kollege Vogel, haben Ihre Freunde das in den letzten Jahren allzusehr vergessen.
Bei dem Schlesier-Treffen jetzt in Hannover war wieder ein Bundesminister vertreten, seit 15 Jahren der erste Bundesminister.
Meine Damen und Herren, man kann über 12 Millionen Menschen, die vertrieben worden sind und die trotz der Vertreibung als erste auf Rache und Vergeltung verzichtet haben, nicht in dieser Weise hinweggehen.
Wir bekennen uns auch zur Solidarität mit denen, die in den abgetrennten Ostgebieten ausharren. Wir verbinden das mit der Hoffnung und der Bitte, daß die Kirche in Schlesien und anderswo jede Möglichkeit nutzt, den Gläubigen deutscher Nationalität ebenso zu dienen wie den Gläubigen polnischer Nationalität.
Es sind eine Million Menschen. Diese Bitte entspricht dem Geist der Heiligen Hedwig, die der Papst in Breslau so eindrucksvoll beschworen hat.Meine Damen und Herren, zur Lage der Nation gehört auch eine Bilanz unserer demokratischen Verteidigungsbereitschaft mit militärischen, vor allem aber mit den Mitteln des Geistes. Die militärische Abwehrbereitschaft der Bundeswehr verdient unsere Anerkennung. Unsere jungen Soldaten stehen für den Frieden und für die Freiheit unserer Republik, die ein Modell für Gesamtdeutschland ist.Für die geistige Abwehrbereitschaft kann nicht allen, die dafür besondere Verantwortung tragen — dazu gehören auch wir —, das gleiche Kompliment gemacht werden. Hier ist allzuviel geschehen, was nicht zur Klärung, sondern zur Verwirrung der Geister beigetragen hat. Auch diejenigen, die es in guter Absicht versucht haben, sollten erkennen, daß alle Experimente gescheitert sind, durch eine Abflachung unseres westlichen Profils in der Frage der Einheit weiterzukommen. Wir müssen den einzigen Weg aufnehmen und gehen, der mit der Würde und dem Anspruch freier Menschen vereinbar ist: in Festigkeit unsere freiheitliche Verfassung zu behaupten und auszubauen und sie als ein Angebot humaner Staatlichkeit an diejenigen zu betrachten, die noch von ihr ausgeschlossen sind.
Nur so werden wir den Wettbewerb der Systeme geistig und politisch bestehen.Der Versuch der DDR-Führung, den von ihr beherrschten Teilstaat von der deutschen Gemeinsamkeit abzukoppeln und eine eigene sozialistische Identität deutscher Nation zu schaffen, ist rundum gescheitert. Jeder Kontakt mit unseren Mitbürgern auf der anderen Seite des sozialistischen Verhaus macht das deutlich. Der Wille zur Gemeinsamkeit ist ungebrochen. Vielleicht ist er drüben noch stärker vorhanden als hier bei uns.Vor Jahren glaubten Sprachforscher, Anzeichen für eine Auseinanderentwicklung der deutschen Sprache entdeckt zu haben. Das Gemeindeutsch
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983 1013
Dr. Dreggerschien sich in ein DDR-Deutsch und in ein bundesrepublikanisches Deutsch aufzulösen. Dieses Auseinanderdriften hat aufgehört; es hat sich nach meinem Eindruck sogar zurückentwickelt. Der gemeinsame Fernsehkonsum mag dazu ebenso beigetragen haben wie die verstärkten Besucherkontakte.Ein Weiteres kommt hinzu: die Ausweisung mitteldeutscher Schriftsteller in die Bundesrepublik Deutschland. Die restriktive Veröffentlichungspraxis in der DDR hat dazu geführt, daß viele große litarische Werke von Schriftstellern aus der DDR zuerst in der Bundesrepublik Deutschland erscheinen. So ist ein Gutteil auch unserer neuen deutschen Literatursprache aus dem poetischen Fundus der DDR hervorgegangen. Es spricht für die Lebenskraft des gemeinsamen nationalen Willens, daß selbst die auf Trennung bedachten Maßnahmen der Abgrenzungspolitik drüben ungewollt zur Einheit der Nation beitragen.Wir Deutschen in der Bundesrepublik Deutschland fühlen uns nicht nur für die Deutschen verantwortlich, die wie die Deutschen in der DDR und in den abgetrennten deutschen Ostgebieten mit uns die fortbestehende deutsche Staatsangehörigkeit teilen. Wir stehen auch den Deutschen bei, die loyale Glieder anderer Staatsvölker sind, die aber um ihre deutsche Sprache und Kultur kämpfen müssen. Das gilt insbesondere für die Deutschen in Ost- und Südosteuropa. Es galt zeitweise auch für die Südtiroler, deren Autonomie inzwischen gesichert scheint, wofür wir der Republik Italien dankbar sind.
Auch im Ostblock gibt es Unterschiede. Während die Staatsbürger Ungarns deutscher Nationalität in der ungarischen Volksrepublik weitgehend respektiert werden — sie können ausreisen und kehren in ihre ungarische Heimat zurück —, befinden sich in Rumänien die Siebenbürger Sachsen und die Banater Schwaben in einer schwierigen Lage. Sie haben durch Jahrhunderte hindurch als loyale Staatsbürger ihres Landes großartige Beiträge zu ihrem Aufblühen geleistet. Das einzige, was sie als Gegenleistung erwartet haben, waren kulturelle Autonomie und die Respektierung ihrer Volksgruppen- und Menschenrechte. Wir begrüßen es, daß die rumänische Regierung die 1982 verhängten zusätzlichen Beschränkungen ihrer Freizügigkeit aufgehoben hat. Aber auch damit ist noch kein befriedigender Zustand erreicht. Die rumänische Regierung soll wissen, daß wir auch weiterhin für die Menschen- und Volksgruppenrechte der Menschen deutscher Nationalität in Rumänien eintreten werden.
Lassen Sie mich einen Satz hinzufügen: Israel ist der Anwalt und die Heimstatt aller bedrängten Juden. Die Bundesrepublik Deutschland ist der Anwalt und die Heimstatt aller bedrängten Deutschen, ich betone: aller bedrängten Deutschen. Dabei beanspruchen wir keine Ausschließlichkeitsrolle. Was z. B. die Republik Österreich für die ihr benachbarten Deutschen in Südtirol, aber auch für die mit ihr geschichtlich eng verbundenen Sudetendeutschenin großer innerer Souveränität moralisch leistet, findet unsere volle Genugtuung.
Zum Fortbestand der Nation gehört das Bekenntnis zu ihrer Einheit und Freiheit. Das hat mit den Irrlehren des Nationalsozialismus nichts zu tun. Der Nationalsozialismus hat nationales Bewußtsein verraten und mißbraucht. Er war nicht patriotisch. Ein Patriot ist friedliebend und nicht aggressiv.
Denn wer möchte sein Volk in den Krieg stürzen, wenn er es liebt? Ein Patriot achtet den Bestand anderer Nationen, indem und weil er sich zur eigenen bekennt und ihren Bestand sichern möchte.
Ein wahrer Patriot ist daher Demokrat und nicht Faschist. Die befreundeten europäischen Nationen wissen ganz genau, daß sie von einem freien und geeinten Deutschland nichts zu befürchten haben. Im Gegenteil: Sie wissen, daß ohne die deutsche Mitte Europa keine Zukunft hat. Gegenteilige Behauptungen sind im wesentlichen Zweckpropaganda von Gegnern der deutschen Einheit. Wenn wir mit Augenmaß und — das ist allerdings entscheidend — in europäischer Gesinnung für unsere nationalen Ziele eintreten, werden wir mehr und mehr die Unterstützung der Völker Europas gewinnen.
Ich gebe die Hoffnung nicht auf, daß wir auch mit dem großen russischen Volk und den anderen Völkern der Sowjetunion schrittweise ein Vertrauensverhältnis zurückgewinnen können, das vor den beiden Weltkriegen bestanden hat.
— Nein, ich bin dafür, daß die Pershing nicht kommt und daß die SS 20 wegkommt.
Wir wollen den Frieden mit der Sowjetunion. Nur ein Irrsinniger könnte etwas anderes wollen.Wir wollen einen möglichst engen wirtschaftlichen und kulturellen Austausch und vor allem einen ständigen Gesprächskontakt mit der Führung der Sowjetunion.
Deshalb begrüßen wir so sehr den Besuch, den der Herr Bundeskanzler in Kürze in Moskau machen wird.Was für die Sowjetunion gilt, gilt auch für die anderen Staaten des Warschauer Paktes, insbesondere natürlich für den anderen Staat in Deutschland. Von dem Gespräch, das ich hier in Bonn mit Herrn Mittag führen konnte, war ich beeindruckt. Ich hoffe, daß es bald zu einem Gespräch mit Herrn Honecker kommt. Unsere Vorstellungen von der Zukunft Deutschlands und Europas sind gewiß verschieden. Lassen Sie uns in einen Wettbewerb der
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1014 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983
Dr. DreggerSysteme treten, lassen Sie uns das Wohl der uns anvertrauten Menschen dabei nicht aus dem Auge verlieren und lassen Sie uns gemeinsam für den Frieden arbeiten! Friede ist das, was alle Deutschen verbindet, in Ost und West. Ich danke dem Herrn Bundespräsidenten, daß er in seiner mich und, wie ich glaube, uns alle sehr bewegenden Rede zum 17. Juni erklärt hat, daß der Wille zum Frieden zur nationalen Identität der Deutschen gehört.
Die deutsche Nation ist zwischen Ost und West geteilt, aber sie besteht fort. Die Gefahr des Verlustes droht nicht dort, wo sie im Ost-West-Konflikt einem historischen Härtetest unterworfen wird, sie droht vielmehr bei uns hier. Zwischen 1965 und 1975 — bei aller Ungenauigkeit einer solchen zeitlichen Eingrenzung — hat ein Bruch mit der Mehrzahl der Traditionen stattgefunden, die zur Substanz unserer nationalen Identität gehört haben und gehören. Das berührt die Einheit der Nation ganz unmittelbar. Eine Nation besteht j a nicht allein aus sprachlichen und kulturellen Gemeinsamkeiten, nicht allein aus dem Schicksal gemeinsam durchlittener Geschichte, eine Nation besitzt vielmehr in ihrer Sprache und in ihren kulturellen und gesellschaftlichen Verhältnissen ein gemeinsames Welt- und Wertbild, menschliche Leitvorstellungen, die über die Generationen hinweg weitergegeben werden.In den letzten Jahren ist viel von den Tugenden des Preußentums die Rede gewesen. Sie sind, wenn man so will, sogar gesamtdeutsch wiederentdeckt worden. Der preußische Staat hat seine eigentliche Mitte in verpflichtenden Wertüberzeugungen gehabt, die nur aus Torheit oder Ahnungslosigkeit einseitig dem Militär oder dem Adel zugerechnet werden können. Pflichtgefühl, Unbestechlichkeit, Verantwortungsbewußtsein vor Gott und den Menschen und Opferbereitschaft, das sind die Tugenden, die wir mit dem Begriff Preußen verbinden.
Preußen ist äußerlich untergegangen, geistig lebt es aber fort, solange die Wertvorstellungen leben, die Teil unseres kulturellen Erbes geworden sind.Für Deutschland, meine Damen und Herren, spielt das alles eine besondere Rolle; denn der Zusammenhalt der deutschen Nation konnte über lange Strecken unserer Geschichte hinweg wie heute nicht durch strikte Staatlichkeit, sondern nur durch gemeinsame Wertvorstellungen aufrechterhalten werden. Wer beispielsweise die Debatten der Paulskirche von 1848 nachliest, stellt mit Überraschung fest, wie groß über alle Gruppen und Fraktionen hinweg damals in der doch nur sehr locker im Deutschen Bund zusammengefügten Nation die Übereinstimmung hinsichtlich der leitenden Werte gewesen ist. Die 1848 und 1849 entstandenen Verfassungsentwürfe symbolisieren gleichsam den idealen Standard deutscher Werttraditionen, wie sie sich bis in die Gegenwart, in unser Grundgesetz erhalten haben.Es ist ein bemerkenswertes Phänomen — das scheint mir wichtig zu sein —, daß das sogenannte Dritte Reich mit all seinen revolutionären Attitüden, mit seiner bewußten Umwertung der Werte und seinen totalitären Eingriffen in die geistige Substanz unseres Volkes diese deutsche Wertetradition nicht zerstören konnte. Das mag verschiedene Gründe haben, u. a. auch den, daß der Nationalsozialismus manche dieser Traditionen nicht aufhob, sondern pervertierte, daß er andere für seine Zwecke nützlich zu machen suchte, daß er schließlich anders als der Sozialismus nie eine umfassende Ideologie besaß, so daß ihm der Ersatz des alten Ideengutes schon aus diesem Grunde nicht möglich war.Das „Dritte Reich" endete nach zwölf Jahren in Niederlage und Zerstörung, vor allem in einem moralischen Schock der Deutschen. Überraschend unversehrt aber hatten sich durch diese zwölf braunen Jahre hindurch die alten deutschen Wertetraditionen,
gewissermaßen im ethischen Untergrund, erhalten.Ich habe einige dieser Werte, Tugenden und Ideale am Beispiel Preußens beim Namen genannt. Der Wiederaufstieg aus den materiellen, moralischen und politischen Trümmern nach 1945 — eine einzigartige, von der Welt mit Recht bewunderte Leistung —, die Schaffung einer Verfassung, deren Geist und Wortlaut an den Verfassungen von 1848 und 1919 anknüpfen, das Wirtschaftswunder und das noch viel größere demokratische Wunder der Bundesrepublik Deutschland wären nicht möglich gewesen, wenn ihnen nicht als Triebkräfte eben jene deutschen Wertetraditionen zur Verfügung gestanden hätten.
Erinnern wir uns: In der Zeit des Wiederaufbaus nach dem Kriege war man in Deutschland opferbereit. Man tat seine Pflicht,
man gebrauchte seine Freiheit in Verantwortung und besaß eine Vorstellung davon, wie die Kinder erzogen, zu tüchtigen Menschen und — ohne daß man sich dessen bewußt war — damit zugleich auch zu tüchtigen Staatsbürgern gemacht werden konnten. Das blieb nicht so.Das Institut für Demoskopie in Allensbach hat 1967 eine Reihe von Werten in Form von Erziehungsidealen auf ihre Geltung hin abgefragt. Fünf Jahre später wurde dieselbe Liste erneut in das demoskopische Feld gegeben. In dieser Zeit hatte ein deutlicher Wandel, ein Verfall des Wertebewußtseins stattgefunden. Die Erziehungsziele Pflichtbewußtsein, Gewissenhaftigkeit, Arbeitsfreude und Sparsamkeit — um nur einige Beispiele zu nennen — hatten radikal an Wertschätzung eingebüßt. All das betrifft geistige Grundhaltungen, die die deutsche Nation einmal ausgezeichnet haben. Ich glaube, es wird auch in Zukunft auf diese geistigen Grundhaltungen nicht verzichten können.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983 1015
Dr. DreggerElisabeth Noelle-Neumann nannte dieses Abtragen unseres Wertesystems revolutionär. Die Frage ist, wie es dazu kommen konnte. Ich glaube, dies ist die entscheidende Ursache: Nach 1945 war es unter dem Schock der zurückliegenden nationalsozialistischen Barbarei und unter dem Eindruck der vernichtenden Kriegsniederlage zu einer Verachtung und Ächtung alles dessen gekommen, was man als „typisch deutsch" glaubte kennzeichnen zu können. Damit wurde die deutsche Identität insgesamt ins Zwielicht gerückt.Mehr noch: Auch die deutsche Geschichte wurde hauptsächlich unter dem Gesichtspunkt gesehen, inwiefern sie zur nationalsozialistischen Herrschaft führen konnte. Das hatte zur Folge, daß die deutsche Geschichte insgesamt abgewertet wurde. Seitdem gibt es ein Trauma in unserer Selbsteinschätzung. Viele Deutsche wenden sich ab von der Nation und ihrer Geschichte. Das ist eine Haltung, die den Fortbestand der deutschen Nation in ihrer freiheitlichen Verfassung auf das schwerste gefährdet. Was nach 1945 einige Intellektuelle — teilweise in literarischen Formen und oft in provokativer Absicht — dargelegt hatten, wurde dank der Popularisierung durch die Frankfurter Schule und durch eine von solchen Tendenzen beeinflußte Pädagogik weitgehend Allgemeingut.
Die antiautoritäre Bewegung und die sogenannte neue Pädagogik machten den Bruch mit der deutschen Wertetradition perfekt. Es gab ja Zeiten, in denen die Aufforderung an ein Kind, seine Siebensachen zusammenzuhalten, als „Ausdruck faschistoider Gesinnung" bewertet wurde.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, gern.
Herr Dr. Dregger, ist Ihnen eigentlich bekannt und bewußt, daß das, was sich im Dritten Reich abgespielt hat, bis hin zu den Konzentrationslagern, letzten Endes auch mitverursacht war durch das Pflichtbewußtsein, das Sie uns in einer Neuschreibung der Geschichte dargestellt haben?
Sie erinnern damit an einen infamen Vorwurf, den das SPD-Vorstandsmitglied Lafontaine gegen seinen Parteifreund Helmut Schmidt gerichtet hat.
Sie können natürlich alles für gute Ziele brauchen, Sie können aber auch alles mißbrauchen.
Wenn etwas mißbraucht worden ist, was aber zumLeben und zum Bestand des einzelnen und der Nation erforderlich ist, dann kann ich doch nicht denSchluß daraus ziehen: Also muß das alles abgeschafft werden! Das ist doch unmöglich.
Inzwischen, meine Damen und Herren, hat sich das alles wieder etwas gemäßigt, ohne indessen bei einer neuen Anerkennung unserer guten Wertetraditionen angelangt zu sein. Die Wende, die wir politisch erreicht haben und durchsetzen wollen, wird ihre Bewährungsprobe nicht zuletzt darin zu bestehen haben, unsere nationale Identität in der Identität unserer Werte wiederherzustellen. Das muß gewiß kritisch geschehen. Unser Bild von diesen Werten muß auf den Prüfstand gestellt und von Schlakken gereinigt werden. Aber kritisches Denken wird generelle Verurteilungen verhindern.Diese geistige Klärung herbeizuführen ist eine Aufgabe, die in ihrer Schwierigkeit und Bedeutung für den Fortbestand der Nation und ihrer freiheitlichen Verfassung die anderen Aufgaben, die uns gestellt sind, bei weitem übertrifft.Ich rufe unsere Wissenschaftler, unsere Literaten, unsere Publizisten, das ganze geistige Deutschland auf, sich daran mit Verantwortungsbewußtsein zu beteiligen.Meine Damen und Herren, wir wollen ja nicht nur Haushalte sanieren, die Wirtschaft in Gang setzen und den Arbeitslosen das wiedergeben, was sie an Lebensinhalt verloren haben; uns geht es auch um eine geistige Erneuerung, um eine Wiederbelebung jener Tugenden und Ideale, die mit den guten Traditionen unserer Geschichte verbunden sind.
Es geht darum, daß wir uns in unserer Herkunft neu entdecken, um einen neuen Konsens für die Zukunft zu begründen.Zu diesem Konsens gehören vor allem die liberalen Werte, die nicht erst in der deutschen Klassik und dann in der Paulskirche in Erscheinung getreten sind, sondern viel ältere Wurzeln haben. Zu den Wertetraditionen gehört auch das soziale Verantwortungsbewußtsein, das, von der Kirche geprägt, viel älter ist als der Marxismus und nach dem Krieg im Geist der sozialen Partnerschaft eine neue Ausprägung gefunden hat.Es gehört dazu auch ein ehrfurchtsvolles Verhältnis zu den Zeugnissen unserer Kultur und zu unserer Umwelt, zur Natur, die vom Mittelalter bis heute in der deutschen Literatur, aber auch in der Landschaftsmalerei z. B. eines Caspar David Friedrich immer wieder ergreifend und beglückend dargestellt wurde — ein Wert, der uns heute wieder tiefer bewegt als in den Zeiten des Wiederaufbaus.
Unsere nationale Geschichte begann nicht mit Hitler und führte nichts zwangsläufig auf ihn hin. Christentum und griechisch-römische Antike sind der Wurzelgrund der Nationen Europas, auch und besonders der deutschen Nation.
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1016 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983
Dr. Dregger
— Ich lade Sie ein, sich wieder mit dem Wurzelgrund unserer Kultur zu befassen. Die letzten 20 Jahre reichen da nicht. Sie müssen da schon ein bißchen weiter zurückgehen.
Auf dieser geistigen Grundlage errichtete Karl der Große sein Reich, das zum erstenmal alle deutschen Stämme vereinte. Dieses Reich, das sich mit Otto dem Großen im Römerreich der Deutschen fortsetzte und bis 1806 bestand, war nicht auf die eigene Nation fixiert. Es war europabezogen und dem Ganzen der Christenheit verpflichtet. Es war nach dem Untergang der Staufer und insbesondere nach den schrecklichen Verheerungen des 30jährigen Krieges kein strotzendes Machtgebilde, aber es war eine europäische Friedensordnung, die allen Völkern und Stämmen, die es umschloß, volle politische und kulturelle Autonomie gewährt hat.
Diesem alten Reich verdanken Mittel- und zum Teil Osteuropa die kulturelle Blüte, von der sie noch heute zehren. Engstirniger Nationalismus dagegen ist nicht nur zerstörerisch, er verrät auch unsere besten deutschen Traditionen.Alles in allem: Was selbst Hitler nicht zu zerstören vermochte, was die Ost-West-Spaltung nicht auslöschte, das sollten wir nicht destruktiven Strömungen des Zeitgeistes anheimfallen lassen.
Unsere deutsche Nation besitzt geistig, kulturell und auch politisch ein Erbe, auf das sich eine freie und demokratische Zukunft gründen läßt. Dieses Erbe und die geistigen und ethischen Grundlagen, die es bestimmen, dürfen nicht verlorengehen. Wir sollten es erneuern, damit sich unsere Nation als Kultur- und Willensgemeinschaft im Sandsturm der Geschichte behaupten kann.
Das ist der Beitrag, den vor allem das geistige Deutschland für den Fortbestand der Nation und ihrer Freiheit zu leisten hat. — Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Mischnick.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem sich die Debatte über den Bericht zur Lage der Nation in einem entscheidenden Teil mit den Äußerungen des Kollegen Geißler auseinandergesetzt hat und dies fast zum Mittelpunkt der Debatte geworden ist, obwohl sich der Bundestag heute unter einem anderen Tagesordnungspunkt damit noch auseinandersetzen soll, will ich nur zu diesem Teil der Auseinandersetzungen
jetzt Stellung nehmen. Wenn man allerdings an die Arbeitsweie des Parlaments denkt, könnte man, nachdem diese Stellungnahmen abgegeben sind, auf die Idee kommen, gleich die Entscheidung über den Antrag vorzunehmen. Das war ja in Wahrheit eine vorgezogene Debatte.
Aber um mich nicht dem Vorwurf auszusetzen, zum falschen Tagesordnungspunkt zu sprechen, möchte ich jetzt ausschließlich zu den bisherigen Stellungnahmen, die zu den Äußerungen des Herrn Kollegen Geißler gebracht worden sind, Stellung nehmen.
Meine Damen und Herren, der Ursprung der Auseinandersetzungen war doch jene Äußerung des parlamentarischen Geschäftsführers der GRÜNEN im „Spiegel", in der er vom „atomaren Auschwitz" sprach, das vorbereitet werde. Das ist für mich eine bösartige und ungeheuerliche Unterstellung gewesen, und die bleibt es.
— Es war doch viel Wahres an der Bemerkung des Herrn Bundeskanzlers dran, daß es oft sehr schwierig wird, Gedankengängen wenigstens zuzuhören, ohne sofort so zu reagieren. Ich wäre dankbar, wenn wir gerade in dieser schwierigen Frage, bei der die Unterschiede in den Sachbeurteilungen in Wahrheit gar nicht so groß sind, wie es durch Emotionen auf allen Seiten zu sein scheint oder für den Betrachter fälschlicherweise dargestellt worden ist, zu mehr Sachlichkeit zurückkehren könnten. Für mich sind Auschwitz und Fragen des Krieges viel zu ernst, als daß man sie zu vordergründigen Analogieschlüssen benutzen oder sie mit billigen Phrasen unter die Leute bringen darf — ganz gleich, von welcher Seite das geschieht.
Wir müssen uns davor hüten, daß wir gerade mit solchen Themen leicht entflammbare Emotionen wecken, die dann die Auseinandersetzung mit der Sache in Wahrheit übertünchen und uns davon wegführen, die sachlichen Ursachen zu erkennen und zu bekämpfen, wenn Anfänge wieder sichtbar werden sollten.
Das gilt für mich ganz genauso für die Äußerung, der Pazifismus der 30er Jahre habe Auschwitz erst möglich gemacht; denn sie ist in meinen Augen genauso falsch. Da hilft kein Erläutern; lassen Sie mich das so hart und klar feststellen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Bastian?
Bitte, Herr Kollege.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983 1017
Herr Mischnick, verstehe ich Sie richtig, daß Sie dann, wenn Sie das Wort vom atomaren Auschwitz als billige Demagogie bezeichnen, auch den Erzbischof Hunthausen, der dieses Wort geprägt hat, als Demagogen betrachten?
Für mich ist jede Form dieses Vergleiches demagogisch, weil es von den wahren Punkten ablenkt und nur versucht, mit billiger Polemik davon wegzuführen, wie wenig Sachauseinandersetzung bei denen dahintersteht, die die Menschen mit dieser Polemik wild machen wollen, statt sie zum Nachdenken und zur Entscheidung zu bringen. Das steht bei mir dahinter.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, niemand bestreitet, daß viel Unheil verhindert worden wäre, wenn man sich in der Vergangenheit jeder Despotie, jeder Diktatur immer und rechtzeitig entgegengestellt hätte. Ich gehe davon aus, daß der Herr Kollege Geißler in etwa das ausdrücken wollte, was die Deutsche Bischofskonferenz am 18. April so formulierte — ich zitiere —:
Einerseits darf die Politik die Verantwortung für den Schutz grundlegender Rechtsgüter des Gemeinwesens nicht abweisen. Sie muß, wo die Bereitstellung von Verteidigungsmaßnahmen dazu erforderlich ist, entsprechende Vorsorge treffen. Andererseits ist eine solche defensive Friedenssicherung nicht genug. Eine Politik der Friedensförderung muß darauf ausgehen, daß das friedliche Zusammenleben der Menschheit immer weniger auf Waffen und Bedrohungsmechanismen und immer mehr auf die Achtung vor den Rechten aller und auf die Anerkennung des menschheitlichen Gemeinwohls in Freiheit und Gerechtigkeit gegründet wird.
Soweit das Zitat aus dem Wort der Bischofskonferenz. — Aus dieser Erkenntnis nun jedoch in irgendeiner Weise einen direkten Zusammenhang zwischen dem Pazifismus der 30er Jahre — nicht nur bei uns, sondern auch in England und Frankreich — und dem Vernichtungslager Auschwitz herzustellen, sollte doch schon die Logik verbieten.
Eine solche Gleichstellung, eine solche Parallele diskriminiert jene Pazifisten — auch wenn das gar nicht gemeint und gar nicht gewollt war —, die wegen ihrer Überzeugung in den Konzentrationslagern umgekommen sind. Ich habe mit Interesse und Befriedigung den diesbezüglichen Brief, den Sie, Herr Kollege Geißler, Herrn Kollegen Walthemathe geschrieben haben, zur Kenntnis genommen.
Ein zusätzliches Wort, Herr Kollege Geißler, und die politische Luft könnte wieder sauberer werden; dies wäre zu hoffen und zu wünschen.
— Wenn Sie mir jetzt wieder zurufen: „Schmeiß mit Dreck, wasch ab", dann sage ich dazu: Hätten Sie den Satz, den ich gesagt habe, so stehen gelassen, wäre das hilfreicher gewesen, als gleich wieder zu emotionalisieren.
Mir geht es hier nicht darum, den einen oder den anderen zu schelten, mir geht es darum, zu versuchen, daß wir, die wir uns gemeinsam Demokraten nennen, einen Weg finden, um falsche Äußerungen auszuräumen, und sie nicht dazu zu benutzen, ständig Emotionen wieder hochzupeitschen und damit dieser Demokratie zu schaden. Nichts anderes will ich.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Kelly?
Herr Mischnick, ich war zweimal in Hiroschima und Nagasaki. Ich möchte Sie fragen, ob Sie jemals dort waren und ob Sie Hiroschima und Nagasaki nicht auch mit einem weltweiten — in dem Moment japanischen — Auschwitz vergleichen könnten. Denn was sich in Hiroschima und Nagasaki eriegnet hat, steht dem in Auschwitz nicht nach.
Frau Kollegin Kelly, das können Sie nicht wissen, das ist nur eine Feststellung, kein Vorwurf: Ich habe Ende der 50er Jahre, als die Diskussion „Kampf dem Atomtod" lief, im Frankfurter Stadtparlament — es war nicht zuständig, aber dort waren die entsprechenden Anträge — über diese Fragen in einer Intensität diskutiert — wobei allerdings keine mit heute vergleichbaren Beschlüsse gefaßt wurden, damit hier kein Irrtum entsteht — und mich mit diesen Fragen auseinandergesetzt, sodaß Sie mir abnehmen können, daß mir die Folgen eines atomaren Krieges auf Grund der Berichte bewußt sind.Eine Delegation aus Frankfurt — der ich nicht selbst, aber Kollegen meiner Fraktion angehörten — war dort, um sich durch Augenschein zu überzeugen.Nur füge ich hinzu: Die Gefahren des atomaren Krieges werden Sie nicht beseitigen, wenn Sie geschichtlich falsche Zusammenhänge herstellen, sondern Sie werden sie nur beseitigen, wenn Sie das Bewußtsein in Ost und West schärfen, daß jeder Krieg, ganz gleich, ob atomar oder konventionell, am Ende mit der Vernichtung der Menschheit enden muß. Dies ist die Ausgangsbasis unserer Überlegungen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, in diesem Zusammenhang sollte man daran denken — hier ist schon darauf hingewiesen worden —, wie die Pazifisten Kurt Tucholsky und Carl von Ossietzky vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten gewarnt, mit flehenden Worten appelliert haben, um zu verhindern, daß diese Machtübernahme kam.
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1018 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983
MischnickIn diesem Zusammenhang scheint mir die Erinnerung an ein Wort von Theodor Heuss vom 25. November 1945 wichtig zu sein. Er hat damals in einer Rede im Landestheater Stuttgart gesagt:Das deutsche Volk hat es sich leicht gemacht, zu leicht gemacht, in seiner Masse, sich in die Fesseln des Nationalsozialismus zu geben. Es darf es sich nicht leicht machen, diese Fesseln, an denen es schlimm trug, von denen es sich nicht selber hatte lösen können, es darf es sich nicht leicht machen, die bösen Dinge wie einen wüsten Traum hinter sich zu werfen.So weit damals Theodor Heuss.Wenn man dies im Ohr hat, möchte ich noch einmal zitieren, weil es aus der gleichen Gesinnung sprach, was Frau Kollegin Hamm-Brücher vor wenigen Tagen hier sagte. Sie sagte wörtlich:Nur sehr mühsam begreifen wir, nur sehr schwer können wir auch der jungen Generation vermitteln, wie der Rassenhaß bei uns entstanden ist, wie der Antisemitismus geschürt wurde — übrigens bereits in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts von Hofpredigern und ähnlichen Leuten — und wohin dieser Antisemitismus und dieser Rassenhaß geführt haben.Meine Damen und Herren, ich glaube einfach, daß es hier keine Fluchtwege geben darf. Wir müssen festhalten, daß es dieser Rassenhaß, dieser Antisemitismus war, der Auschwitz schließlich möglich gemacht hat, und in gar keinem Fall, in gar keinem Fall der Pazifismus!Soweit das Zitat von Frau Kollegin Hamm-Brücher.
Wir Freien Demokraten werden uns nie einer vereinfachenden Argumentationskette anschließen, sie uns zu eigen machen, ebensowenig wie wir die Tatsachen völlig verfälschenden Äußerungen wie jene von Herrn Fischer im „Spiegel", die ich soeben zitiert habe, akzeptieren können. Ganz nebenbei, ich bin sehr froh darüber gewesen, Herr Kollege Vogel, daß Sie sich heute davon deutlich distanziert haben. Vorige Woche habe ich eine entsprechende Reaktion darauf leider vermissen müssen.Lassen Sie mich zum Abschluß noch eine kurze Bemerkung machen. Wir haben am vergangenen Mittwoch — hier sitzen eine Reihe von Kollegen, die dabei waren — hier zu dieser Frage Stellung genommen, und wir haben am vergangenen Montag mit Herrn Kardinal Höffner und anderen Vertretern der katholischen Kirche zusammengesessen. Am vorigen Mittwoch habe ich davor gewarnt, die Dinge zu vereinfachen. Wir sind ja schließlich nicht gewählt worden, um zu dramatisieren, sondern um praktische Politik zu machen.Ich möchte, nachdem so viele Kollegen den Grundsätzen des Wortes der deutschen Bischöfe „Gerechtigkeit schafft Frieden" zugestimmt haben, hier im Anschluß an das, was der Kollege Ertl in einer Zwischenfrage gesagt hat, folgendes zitieren:In den zwischenmenschlichen Beziehungen versperren oft tiefsitzende Ängste und daraus entspringender Machtwille den Weg zum Frieden. Aus der eigenen Unsicherheit entspringt ein aggressives Sicherheitsbedürfnis; aus dem Mitmenschen wird der Konkurrent, der Gegner und schließlich der Feind. Wer sich selbst und den anderen von Gott her zu sehen sucht, wird den Balken im eigenen Auge beachten. Er wird mit Mut, Geduld und Einfühlungskraft sich selbst und den anderen in den jeweiligen Möglichkeiten und Grenzen wahrnehmen — stets um Verständigung und Vergebung bemüht.Sollten wir nicht — gerade mit Blick auf die junge Generation — dies immer dann als Richtschnur unseres Handelns nehmen, wenn aus einer — natürlich hart geführten — Sachauseinandersetzung ein Freund-Feind-Denken mit allen negativen Folgen wird, und daraus eine Gefahr für diese Demokratie in Deutschland, wie wir es schon einmal erlebt haben, wird? — Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schily.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In einer Situation in Europa, in der wir möglicherweise vor Gefahren eines Ausmaßes stehen, das die Geschichte bisher nicht gekannt hat, meine ich, daß es auf der Tagesordnung stehen sollte, sich von den alten Beschwörungsformeln, von den ausgeleierten Ritualen und von der Fetischisierung mancher Begriffe der politischen Diskussion der vergangenen Jahrzehnte zu verabschieden.Wir haben es erlebt — jetzt erleben wir es im Innern des Parlaments; früher haben wir es von außen mit angesehen —, daß jahraus, jahrein Begriffe wie Wiedervereinigung und nationale Einheit und ähnliche Begriffe strapaziert wurden, und wir sind der Tatsache eingedenk, daß diese Formel noch eine Vorgängerin in den Worten von Diether Posser vom unerlösten Reichsgebiet und vom Anschluß hatte.Herr Dregger hat hier heute vormittag gemeint, es sei ein gewisser Wandel im Verhalten der Bundesregierung auch gegenüber diesen Fragen zu verzeichnen. Ich meine, ein Wandel ist in der Tat eingetreten. Die geschichtliche Dimension der deutschen Vergangenheit ist in diesem Hause wiederum nicht hörbar geworden. Die Stimmen der während des Dritten Reiches Ermordeten sind hier heute nicht hörbar geworden. Es sind aber auch nicht die Stimmen hörbar geworden der Ermordeten — möglicherweise — der Zukunft. Das ist hier nicht zum Bewußtsein gekommen. Statt dessen, meine Damen und Herren, fuchteln Herr Hupka und Herr Windelen mit den vergilbten Rechtstiteln in der Gegend herum, und das nennen Sie dann Aufbau einer neuen Politik.Zu Beginn der 70er Jahre hatte der damalige Bundeskanzler Brandt im Bericht zur Lage der Nation immerhin den Versuch einer kritischen Bestandsaufnahme der Situation der beiden deut-
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Schilyschen Staaten unternommen. Nach vielen Jahren der Selbstsuggestionen, der Alleinvertretungsansprüche vorangegangener Regierungen begab sich seinerzeit die sozialliberale Bundesregierung auf den Boden der Realität der Existenz zweier deutscher Staaten. Sie nahm aber nicht nur gegebene Fakten zur Kenntnis, sondern sie mühte sich auch, die innergeselischaftlichen Verhältnisse beider deutscher Staaten zu analysieren, nicht zuletzt unter dem Aspekt der Veränderungswürdigkeit vorhandener Strukturen.Nach der heutigen Regierungserklärung zur Lage der Nation müssen wir feststellen, daß die einstige, versuchsweise kritische Bestandsaufnahme einer selbstherrlichen Eigendarstellung, verbunden mit einer herablassenden Haltung gegenüber der DDR, gewichen ist. Der Herr Bundeskanzler nutzt den Bericht zur Lage der Nation, um das übliche, uns zum Überdruß bekannte selbstgerechte Imponiergehabe der Bundesrepublik ein weiteres Mal vorzuexerzieren. Jeder Versuch unterblieb, die politischen Verhältnisse im eigenen Land kritisch zu überprüfen. Unsere heutige Situation, die Existenz zweier deutscher Staaten jeweils als Teil der von den beiden Supermächten beherrschten rivalisierenden Militärbündnisse, ist unmittelbar das Ergebnis des Zweiten Weltkrieges und mittelbar das Resultat vorangegangener geschichtlicher Entwicklungen.Die Geschichte Deutschlands ist dabei gekennzeichnet von einer Kontinuität staatlich-administrativer Übermacht gegenüber demokratisch-republikanischen Strömungen. Von dem Sieg der etablierten Mächte über die Republikaner in den Auseinandersetzungen um die Abschaffung der absoluten Monarchie in den Jahren 1848/49 über das durch Blut und Eisen gegründete Deutsche Reich von 1871, das die Einheit gerade nicht mit der Freiheit verband, bis zur Zerschlagung der ersten deutschen Republik durch reaktionäre Kräfte 1933 führte ein direkter Weg. Die Herausbildung von Preußen-Deutschland mit seiner militaristischen und antidemokratischen Tradition, Herr Dregger, dominierte die politische Entwicklung Deutschlands und erwies sich als stärker als die demokratisch-republikanischen Kräfte.Die bitteren Erfahrungen des von deutschen Regierungen entfachten ersten und zweiten Weltkrieges ließen nach 1945 zunächst auf einen Bruch mit den alten Traditionen und einen gesellschaftlichen und politischen Neubeginn hoffen. Zwar hatten wir Deutsche die Befreiung vom Faschismus nicht aus eigener Kraft schaffen können, sondern wir verdanken die Zerschlagung der Nazidiktatur den vier Alliierten.Übrigens, Herr Dregger, wenn ich Ihren Sprachgebrauch wieder vor Augen habe: Sie sprechen von der gemeinsamen Niederlage. Ich kann nur sagen, 1945 war nicht nur die Befreiung vom Faschismus, war nicht nur ein Sieg der Alliierten, es war auch ein Sieg des deutschen antifaschistischen Widerstandes, und das ist unsere historische Anknüpfung, an der wir uns politisch zu orientieren haben.
Doch gab es in der unmittelbaren Nachkriegszeit Ansätze dazu, ein anderes Deutschland auf der Basis eines antifaschistischen Selbstverständnisses aufzubauen. Die Verlautbarungen der damaligen Zeit, wie sie von Gewerkschaften und vielen Parteien, auch Teilen der CDU — es sei nur an das Ihnen vielleicht nicht mehr bekannte Ahlener Programm erinnert — —
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Sauer?
Herr Kollege, empfinden Sie nicht die Situation unserer Landsleute in Mitteldeutschland und in Ostdeutschland unter der sowjetischen Herrschaft als eine Niederlage unseres gemeinsamen Volkes?
Herr Kollege, das ist doch nicht eine Niederlage, wenn wir 1945 gemeinsam vom Faschismus befreit worden sind. Die Sowjetunion hat für die Befreiung vom Faschismus einen hohen Preis zahlen müssen, Herr Kollege, und zwar 20 Millionen Tote. Das sollten Sie sich einmal vergegenwärtigen, bevor Sie solche Fragen stellen.
— Wollen Sie jetzt noch eine zweite Frage stellen?
Die Verlautbarungen der damaligen Zeit von Gewerkschaften, vielen Parteien, auch Teilen der CDU — es sei nur an das Ahlener Programm, das Sie j a heute nicht mehr so richtig im Gedächtnis haben, erinnert: Der Kapitalismus ist den Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Er hat den Faschismus ermöglicht —, von Teilen der Kirchen deuteten auf einen neuen Anfang, der die fälligen Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen bereit war. Bald stellte sich jedoch heraus, daß ein Neubeginn verpaßt worden war. Neben der Politik der vier Alliierten, aus deren Programm der Demokratisierung Deutschlands die Instrumentalisierung der beiden Separatstaaten als Vasallen für den kalten Krieg wurde, wurden die alten Traditionen und gesellschaftlichen Strukturen wieder in Kraft gesetzt. Die Restauration begann.Aus dem anfänglich antifaschistischen Selbstverständnis der Nachkriegszeit wurde auf diese Weise ein antikommunistisches der etablierten Bundesrepublik — ein mustergültiger Separatstaat, der nach zwölf Jahren faschistischer Herrschaft seine Freiheit und nationale Identität in der antithetischen Fixierung auf den unfreien deutschen Separatstaat gefunden zu haben glaubte. Die Vorstellungen, durch Entmilitarisierung und Neutralisierung Deutschlands zu einer dauerhaften friedlichen Lösung in Mitteleuropa zu gelangen, haben sich nicht
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Schilydurchsetzen können. Daß solche Lösungsmöglichkeiten nicht einmal versucht wurden, ist vor allem der Adenauerschen Konzeption der Integration der Bundesrepublik in die NATO zuzuschreiben. Über den politischen Sinn der von ihm forciert betriebenen Politik der Wiederaufrüstung und der militärischen Integration der Bundesrepublik in die NATO sagte Adenauer am 5. März 1952:Erst wenn der Westen stark ist, ergibt sich wirklich ein Ausgangspunkt für friedliche Verhandlungen mit dem Ziel, nicht nur die Sowjetzone, sondern das ganze versklavte Europa östlich des Eisernen Vorhanges zu befreien, in Frieden zu befreien.
— Herr Mertes, ich bitte um Vergebung. Ich sehe hier: Ich habe noch sieben Minuten. Wir haben immer nur einen sehr kleinen Zeitvorrat. Ich würde gern bei anderer Gelegenheit mit Ihnen reden.Aber wohin hat diese Politik geführt? Die der Bevölkerung von Adenauer versprochene nationale Einheit war nicht das Ergebnis dieser Politik, sondern die Zementierung der Teilung Deutschlands. Wenn wir heute ein grundsätzliches Umdenken in der Verteidigungs- und Deutschlandpolitik fordern, dann wird uns von Ihnen häufig vorgehalten — wie übrigens auch denen, die in den 50er Jahren eine alternative Deutschland- und Außenpolitik befürworteten —, wir seien Utopisten und Illusionisten.Wer sind denn nun eigentlich diejenigen, die eine illusionäre Politik betrieben haben und noch betreiben? Die Wiederaufrüstung hat bekanntlich nicht zu der von Ihnen vorgeblich angestrebten Wiedervereinigung geführt. Und die Rüstung löst keine politischen Probleme. Sie schafft politische Probleme.
Durch die Hochrüstung der beiden Militärblöcke sind wir in eine Sackgasse geraten. An vorderster Front befinden sich dabei die beiden deutschen Staaten. Es ist wahrlich an der Zeit, eine neue Politik in Mitteleuropa zu beginnen, die Schluß macht mit der militärischen Bedrohung der jeweils anderen Seite und sich auf andere Formen der Nachbarschaft besinnt und einläßt.Die von uns geforderte und als nötig erachtete Neuorientierung der Deutschlandpolitik ist Teil einer alternativen Sicherheitspolitik in Europa. Die beiden deutschen Staaten, die in der Vergangenheit in erster Linie als die Musterknaben ihrer Supermächte in Erscheinung traten, müssen endlich selbst Initiativen zur Überwindung der Spannungen in Europa ergreifen.Wir haben heute viel Lob für die Kirchen und Anlehnung an sie gehört. Vielleicht sollten Sie sich einmal mit dem auseinandersetzen, was kürzlich anläßlich des Evangelischen Kirchentags
— j a, sind wir! — als Memorandum „Das Ende des Abschreckungsfriedens" von Angehörigen der evangelischen Kirche aus beiden deutschen Staaten vorgestellt wurde. Mitverfasser sind die früheren Bischöfe Albrecht Schönherr und Kurt Scharf. Die wesentlichen Gedanken dieses Vorschlags sind: Neue Waffen, geänderte Militärstrategien und die Zunahme politischer Spannungen signalisieren eine Veränderung des bisherigen Abschreckungsfriedens. In Mitteleuropa, wo die großen Bündnissysteme ihre militärischen Kräfte extrem konzentriert haben, wächst die Gefahr eines nuklearen Krieges. Den beiden deutschen Staaten obliegt wegen ihrer geographischen Lage und der deutschen Geschichte eine besondere Friedensverantwortung. An die Stelle der Abschreckung soll das Prinzip der gemeinsamen Sicherheit, die Sicherheitspartnerschaft zwischen West- und Osteuropa treten. Die Initiative der Sicherheitspartnerschaft soll von beiden deutschen Staaten ausgehen, indem sie sich u. a. über folgende konkrete Schritte verständigen: eine ausgewogene Reduzierung der konventionellen Streitkräfte und Rüstungen und der Militärausgaben in den deutschen Staaten in Abstimmung mit den jeweiligen Bündnissystemen; die Nutzung von Mitteln, die im militärischen Bereich freiwerden, für gemeinsame Wirtschaftsprojekte mit den europäischen Nachbarn, z. B. Polen, und den Ländern der Dritten und der Vierten Welt zur Stärkung gemeinsamer Sicherheit— Einleitung eines Stufenprozesses der vollen Normalisierung der Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten, von der schrittweisen Regelung einfacher Fragen bis zur Anerkennung der vollen beiderseitigen Souveränität im Sinne des Völkerrechts und der vollen Normalisierung der Kommunikationsbeziehungen— Ausschöpfung aller gegenseitig vorhandenen Möglichkeiten, das Prinzip der gemeinsamen Sicherheit für den Aufbau einer gesamteuropäischen Friedensordnung nutzbar zu machen.Auf der Grundlage einer solchen Sicherheitspartnerschaft und entsprechender praktischer und politischer Schritte besteht nach unserer festen Überzeugung die einzige Möglichkeit, die bestehende Konfrontation der Blöcke abzubauen und langfristig zu einer europäischen Friedensordnung zu gelangen, die in der Perspektive einer wirklichen Entspannung auch eine schrittweise Herauslösung der beiden deutschen Staaten aus den Militärblöcken vorsieht. Erst über einen politischen Prozeß der Blockauflösung scheint uns die Voraussetzung für eine militärische Abrüstung in Europa gegeben zu sein.Im übrigen benennen Sie ja hier häufig auch die bekannten „Brüder und Schwestern in der DDR" als Zeugen. Wir hatten jetzt mehrere DDR-Bürger bei uns in der Fraktion zu Gast. Darunter war der ausgebürgerte Roland Jahn. Wir waren sehr beeindruckt, daß gerade von den Vertretern der Jenaer Friedensbewegung unsere Vorstellungen vom Abbau der Spannungen, von Abrüstung und vom Frieden in Europa geteilt werden.
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SchilyBerufen Sie sich nicht auf Roland Jahn! Die Jenaer Friedensbewegung ist auf der Seite der Friedensbewegung im Westen. Das ist die neue Politik, die wir anstreben: die Friedensbewegung im Westen und im Osten.
Eine neue Qualität der Politik— meine Damen und Herren, so hat es Alfred Mechtersheimer, der ja früher in Ihren Reihen war, formuliert —entsteht erst dann, wenn die Menschen die Zuständigkeit für das beanspruchen, was man bisher den Regierungen überlassen hat, und zwar mit dem erkennbaren katastrophalen Ergebnis überlassen hat.Wenn wir uns aber selbst für die Fragen unserer Sicherheit zuständig erklären, müssen wir uns mit aller Entschiedenheit gegen eine Rüstung zur Wehr setzen, die uns immer stärker bedroht. Wir haben die Verpflichtung, dafür zu sorgen, daß Europa nicht zum Schlachtfeld der Supermächte, sondern zu einem Kontinent des Friedens wird. Oder — um mit dem UNO-Generalsekretär Perez de Cuellar zu sprechen —: Wir haben die Wahl zwischen einer neuen Generation von Waffen oder einer neuen Generation von Menschen. Daran sollten wir alle gemeinsam arbeiten. — Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Ich bin in den letzten Tagen außerhalb des Hauses und auch hier im Haus — zuletzt durch den Kollegen Schily — nach meiner Haltung zum deutsch-polnischen Vertrag, nach meiner Haltung zur Oder-Neiße-Grenze gefragt worden. Ich meine, daß darüber keine Unklarheit zu bestehen brauchte, weil ich mich oft genug und immer wieder schriftlich und mündlich dazu geäußert habe.
Meine Position dazu sollte also bekannt sein. Ich habe sie nicht nur hier vorgetragen, sondern auch vor Mitgliedern des außenpolitischen Ausschusses des polnischen Sejm im Jahre 1974 in Warschau. Ich habe dabei auch meine Auffassung zur deutschpolnischen Verständigung geäußert, und ich habe bei den Mitgliedern des polnischen Sejm respektvolle Zustimmung bekommen. Ich habe dort erklärt— was selbstverständlich bekannt war —, daß ich den deutsch-polnischen Vertrag damals im Parlament abgelehnt habe, daß er aber, nachdem er die Bundesrepublik Deutschland binde, in allen seinen Teilen auch mich binde.Ich habe prominente Zeugen. Frau Kollegin Renger, Sie waren damals Leiterin der Delegation als Präsidentin des Deutschen Bundestages. Ich darf mich heute noch einmal sehr herzlich bedanken fürIhre großartige Haltung, die ich nicht vergessen werde.
Ich habe damals — ich fühle mich jetzt durch den Besuch eines polnischen Papstes auch in Breslau lebhaft an jene Stunden erinnert — im außenpolitischen Ausschuß des polnischen Sejm, wie jetzt Papst Johannes Paul II. in Breslau, an das gemeinsame Erbe der Hl. Hedwig erinnert, die in Andechs in Bayern geboren, in Trebnitz in Schlesien begraben und zu meinem Schmerz als St. Jadwiga in Polen weit mehr verehrt wird als bei uns, in dem Land, in dem sie geboren ist. Ich habe damals gesagt, sie möge uns helfen, Brücken über eine schwierige, eine unselige Vergangenheit zu bauen. Ich habe meine Haltung seitdem nicht zu verändern brauchen.Ich meine, meine Damen und Herren, wir Deutschen sollten in dieser ?rage nicht polnischer sein wollen als die Polen selbst, als selbst polnische Kommunisten.
Ich habe mich damals, wie es sich wohl gehört, auch der ganzen Bitterkeit der gemeinsamen deutsch-polnischen Geschichte gestellt — in Auschwitz —, so wie ich mich jetzt in wenigen Tagen, wenn ich mit meiner Frau in die DDR reise, der Bitterkeit in Buchenwald stellen werde. Ich habe mich im vergangenen Jahr auch der Herausforderung von Hiroshima gestellt. Ich habe, Frau Präsidentin, als die amtliche Delegation des Deutschen Bundestages am letzten Tag des Oktobers im Jahre 1974 Warschau verließ, darum gebeten, auch am 1. November, am Tag der Toten, in Polen bleiben zu können.
— Herr Kollege Schily, ich möchte jetzt nicht unterbrochen werden, sondern meine Gedanken im Zusammenhang vortragen dürfen.
— Herr Kollege, Sie können gern hierher kommen und das vortragen; Sie waren damals dabei. Ich trage das so vor, wie ich es in Erinnerung habe und wie es auch dokumentiert worden ist. Ich meine, es wäre nicht sehr gut, wenn Sie hier öffentlich Zweifel daran äußern, ohne dafür Belege zu bringen.
Ich weiß auch gar nicht, was Sie daran stört, wenn ich hier diese meine Eindrücke, die dem Ausgleich dienen sollten, schildere.Ich habe damals darum gebeten, meinen Aufenthalt verlängern zu dürfen. Ich bin als einziger der Delegation am 1. November in Warschau geblieben, bin in Palmieri an das Grab des letzten demokratischen Parlamentspräsidenten, eines Mitglieds der Bauernpartei, gegangen und habe dort einen Kranz niedergelegt. Er ist im Jahre 1940 von der Gestapo ermordet worden.
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Bundesminister WindelenIch war dann auf dem Powonskij-Friedhof, an den erschütternden Denkmälern des Warschauer Aufstandes, und ich habe meine polnischen Gesprächspartner gefragt, wo denn damals die Rote Armee gestanden habe, und man hat mir bestätigt, daß sie wenige Kilomter weit entfernt Gewehr bei Fuß jenseits der Weichsel gestanden habe.
— Ich würde Ihnen empfehlen, in den Geschichtsbüchern, die es ja gibt, diesen Tatbestand noch einmal nachzulesen. Meine polnischen Partner haben diesen Tatbestand jedenfalls nicht bestritten, weil er nicht bestreitbar ist.Ich wollte nur sagen, meine Damen und Herren: Ich habe hier keinen Nachholbedarf, aber ich suche in dieser Frage auch keinen Streit.
— Bitte, Herr Kollege Schily.
Bitte, Herr Abgeordneter Schily.
Ich nehme an, daß Sie Ihren Gedankengang beendet haben.
Wenn Sie jetzt hier über die geschichtliche Bewältigung und Ihre Versöhnungsgesten berichten, meinen Sie, daß ein Ausspruch Ihres Fraktionskollegen Hupka in der gleichen Weise zu bewerten ist, wenn er gesagt hat: Aber noch heißt die Stadt Breslau, sie ist die Hauptstadt — —
Herr Kollege, ich muß Sie unterbrechen. Die Bundesregierung ist nicht dazu da, sich über die Abgeordneten hier zu äußern. Fragen müssen Sie an den Abgeordneten Hupka stellen. Tut mir leid. Die Frage ist nach der Geschäftsordnung nicht zugelassen.
Dann darf ich die Frage so formulieren: Teilen Sie die Auffassung Ihres Kollegen Hupka — —
Das können Sie gerade nicht. Sie können nicht nach einer Meinung des Kollegen Hupka fragen und eine Aussage darüber von der Bundesregierung verlangen.
— Verzeihen Sie.
— Nein. Sie können nur den Kollegen Hupka fragen, oder Sie können den Herrn Bundesminister nach seiner Meinung als Bundesminister fragen, ohne den Abgeordneten einzubeziehen.
— Nein, das tun Sie nicht. Verzeihen Sie, ich kann die Zwischenfrage nicht zulassen. Bitte fahren Sie fort, Herr Bundesminister.
Herr Kollege Schily, ich darf Ihnen dennoch auf die Frage so antworten, wie sie, wenn sie der Form entsprochen hätte, gestellt werden konnte: Die Polen haben nichts dagegen, daß wir Auschwitz Auschwitz nennen, sie haben nichts dagegen, daß wir Warschau Warschau nennen. Ich kenne keinen Tschechen, der etwas dagegen hat, daß wir Praha Prag nennen, keinen Italiener, daß wir Milano Mailand nennen.
Ich bin in Bolkenhain in Schlesien geboren worden, das heute Bolkow heißt.
Ich nehme keinen Anstand, dies hier auszusprechen.
Ich habe in meiner kurzen Dienstzeit als erstes Berlin und das Amtszimmer des ersten gesamtdeutschen Ministers und seinen Schreibtisch in Berlin übernommen und habe dort die erste Kabinettsvorlage von Jakob Kaiser vorgefunden, in der er in seinem ganz persönlichen Stil die Auffassung von der Aufgabe seines Amtes umschreibt. Ich will diesen Satz hier wiederholen. Er schrieb damals:Die Arbeit des Ministeriums soll der Pflege und Förderung einer Volksgesinnung dienen, die zu einer einheitlichen politischen Willensbildung, dem Willen zur Einheit der Nation in Freiheit führt. Es soll die Aufgabe des Ministeriums sein, diesen Willen zum geistigen Allgemeingut unseres Volkes zu machen und ihn ebenso wie die Grundfragen der Außenpolitik dem Parteistreit zu entziehen.Meine Damen und Herren, ich habe mich in der kurzen Amtszeit, in den etwas mehr als 80 Tagen, bemüht, keinen Anlaß zu Parteistreit zu geben. Ich werde es auch in Zukunft so halten. Es liegt an Ihnen, ob Sie dieses Angebot annehmen.
Lassen Sie mich zurückkommen zum Gegenstand dieses Tages, zum Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland. Ihre Not, ihre Anomalie und ihre Spannungen zu ertragen und darüber die Aufgaben der Gegenwart nicht zu versäumen, das, so scheint mir, ist der grundlegende Beitrag zum Frieden, den die Geschichte uns Deutschen abfordert. Wenn ein Volk so zerschnitten wird, wie es uns Deutschen geschieht, werden Millionen persönlicher Bindungen unterbrochen, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Beziehungen abgeschnitten. Es ist dasselbe, wie wenn einem lebenden Organismus schwerste physische Gewalt angetan wird. Er reagiert mit Schmerz. Fast schwerwiegender noch sind vielleicht die seelischen Folgen. Jeder Deutsche, wo er auch leben mag, mag er sich dessen bewußt sein oder nicht, muß damit zurechtkommen, daß sein inneres Bild von Deutschland —
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Bundesminister Windelenund das ist letztlich er selbst — beschädigt ist. Daraus erwachsen natürlicherweise Verstörungen, Verunsicherungen. Manche suchen sich zu flüchten in eine Haltung der Verweigerung; der Verweigerung gegenüber allem, was mit Nation und ihrer gegenwärtigen Not zu tun hat.Die Deutschen, die nicht in der Bundesrepublik Deutschland leben können, haben den schwersten Teil der Nachkriegsgeschichte zu bestehen. Sie sind in ihren Menschenrechten, in ihren Grundfreiheiten eingeschränkt, in ihren Entfaltungs- und Bewegungsmöglichkeiten begrenzt. Das gilt auch besonders für die Menschen am Zonenrand. Diese Bundesregierung sieht deswegen in der Zonenrandförderung mehr als nur einen materiellen Auftrag. Sie sieht darin eine deutschlandpolitische Aufgabe.
Die Menschen dort, so meinen wir, haben doch denselben Anspruch auf gleiche Lebensqualität wie im übrigen Bundesgebiet. Zonenrandförderung ist also mehr als nur regionale Wirtschaftsförderung. Sie ist solidarische Hilfe für den Teil unserer Bevölkerung, der, im Angesicht einer unmenschlichen Trennungslinie lebend, unverschuldet die Folgen des Krieges und der Sperrmaßnahmen der DDR besonders schwer zu tragen hat. Solange die Grenzen zur DDR und zur CSSR ihren jetzigen Charakter behalten, muß auch dem Zonenrandgebiet unsere besondere Fürsorge gelten.Wir haben eine Bestandsaufnahme der innerdeutschen Beziehungen gemacht. Wir haben Prioritäten festgelegt. Wir werden uns nun bemühen, auf breiter Grundlage möglichst bald alle die Themen gegenüber der DDR zur Sprache zu bringen, die drücken und über die eine Einigung mit der DDR angestrebt werden sollte, angestrebt werden muß. Wir geben uns hier keinen Illusionen über die praktischen Möglichkeiten hin, aber wir werden uns redlich bemühen, um die Wohlfahrt der Menschen zu mehren.Jede Erfahrung lehrt, daß Einvernehmen und Zusammenarbeit dort am ehesten möglich sind, wo die Interessen beiderseitig, wo die Interessen gleichgelagert sind. Es gibt eine ganze Reihe von Feldern, wo das hüben und drüben der Fall ist.Der Reiseverkehr mit der DDR hat in den letzten Jahren schwere Rückschläge hinnehmen müssen. Dazu zählt vor allem die von beiden Seiten hier schon mehrfach erwähnte und immer noch nicht revidierte Erhöhung des Mindestumtausches. Aber dazu gehören auch die schärferen und kleinlichen Abfertigungs- und Kontrollmaßnahmen. So war das Passieren der DDR-Grenze nicht nur teurer, sondern auch unangenehmer, belastender geworden. Diese vieltausendfachen Erfahrungen unserer Reisenden bildeten den Resonanzboden für die Empörung, die dann der Fall Burkert und der Fall Moldenhauer nur noch auslösten.Die DDR muß wissen, daß Kontrollen an der innerdeutschen Grenze für die davon Betroffenen stets eine psychische, in vielen Fällen aber auch eine physische, eine gesundheitliche Belastung dar-stellen, die zu schwerwiegenden Folgen führen kann.
Die DDR muß deswegen dafür Sorge tragen, daß derartige Kontrollen korrekt, maßvoll und ohne unnötige Härten für die Betroffenen durchgeführt werden.
Darüber hinaus trägt die DDR — wir können sie davon nicht entlasten — besondere Verantwortung, wenn Personen in ihrem Gewahrsam — aus welchen Gründen auch immer — zu Schaden kommen.Aber ich füge gern hinzu: Beobachtungen aus jüngster Zeit deuten darauf hin, daß sich die Abfertigungspraxis der DDR an den innerdeutschen Grenzen inzwischen verbessert hat. Heute hört man sogar von Freundlichkeiten, ja, von Hilfsbereitschaft bei der Abfertigung. Ich begrüße diese Entwicklung, und ich appelliere an die Verantwortlichen in der DDR, einer großzügigen und verständnisvollen Abfertigungspraxis an der innerdeutschen Grenze nunmehr auch Dauer zu verleihen.
Auf der anderen Seite bitten wir aber auch die Reisenden, in ihrer Aufmerksamkeit nicht nachzulassen, die geltenden Vorschriften der DDR einzuhalten und sich vor einer Reise über diese Vorschriften gründlich zu informieren.Für den Bereich der persönlichen Begegnungsmöglichkeiten der Jugend durch Reisen ist Ende 1982 ein bemerkenswerter positiver Ansatz zu verzeichnen. Der Deutsche Bundesjugendring und die Freie Deutsche Jugend haben in einer gemeinsamen Absichtserklärung Abmachungen getroffen, um in Zukunft einen gegenseitigen Jugendaustausch im Bereich des Tourismus zu ermöglichen. Das hat es für den Jugendbereich bis dahin so nicht gegeben, daß im Rahmen dieses Jugendaustauschs auch DDR-Jugendliche touristische Reisen in die Bundesrepublik Deutschland unternehmen können.Dies ist eine wichtige Ergänzung der bisher schon möglichen Jugend-Reisekontakte, insbesondere der in den letzten Jahren immer zahlreicheren Schulklassenfahrten, die bis jetzt leider fast nur in West-Ost-Richtung verlaufen sind. Inzwischen ist seit November dieses Jahres der touristische Jugendaustausch in beiden Richtungen angelaufen. Wir hoffen sehr, daß sich diese Möglichkeiten noch erweitern lassen. Wir werden das unsere dazu beitragen, daß dies geschieht. Gerade jüngeren Menschen sollten alle nur denkbaren Wege eröffnet werden, um sich zu kennen, um sich zu begegnen.Meine Damen und Herren, das Thema Frieden bewegt die Menschen in beiden Staaten in Deutschland gleichermaßen. Hier besteht so etwas wie eine gesamtdeutsche Öffentlichkeit. Die Gedanken wechseln hinüber und herüber. Frieden und Menschenrechte sind aufeinander angewiesen. Das eine kann nicht sein, wo das andere im argen liegt. So
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Bundesminister Windelenauch in Deutschland, in beiden Staaten und auch in ihrem Verhältnis zueinander.Wir begreifen den Frieden in Deutschland als praktisch Aufgabe, nicht als ein Geschenk, das uns eines Tages, wenn wir nur laut und lange genug danach rufen, in den Schoß fällt. Die DDR-Führung trägt Verantwortung für das Wohl und Wehe der Bürger ihres Landes. Wir wollen Dialog und ehrliche Zusammenarbeit im Vertrauen darauf, daß die konkrete Verantwortung, die beiden Seiten jeweils obliegt, zu einvernehmlichen Lösungen zum Wohle der Menschen führt.Es ist, meine Damen und Herren, diese friedenstiftende Einheit, die wir Deutschen in die Realität des Ost-West-Gegensatzes, in die Realität des geteilten Europa einzubringen haben. Sie bildet die Grundlage unserer Deutschlandpolitik, deren Ziel es ist, die Teilung zu überwinden und die Einheit in einem Europa des Friedens und der Menschenwürde wiederzuerlangen.
Diese Bundesregierung, meine Damen und Herren, spricht eine klare Sprache. Wir werden die Dinge, so wie sie sind, beim Namen nennen und unsere Position dazu unmißverständlich vertreten. Die Bundesregierung ist der festen Überzeugung, daß es dem Frieden in Europa dient, was wir zum Wohl der Bürger in beiden Staaten in Deutschland erreichen. Ja, der Frieden gründet im Wohl der Menschen. Ihm zu dienen ist uns Aufgabe und Verpflichtung. Ich rufe Sie auf, uns dabei zu helfen.
Meine Damen und Herren, ich unterbreche die Sitzung bis 13.30 Uhr. Wir fahren dann mit der Fragestunde fort.
Wir setzen die Sitzung fort.
Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf:
Fragestunde
— Drucksache 10/165 —
Zunächst kommen wir zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen. Zur Beantwortung steht uns Herr Parlamentarischer Staatssekretär Häfele zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 66 des Herrn Abgeordneten Becker auf:
Kann die Bundesregierung Auskunft darüber geben, warum an den Grenzen der Bundesrepublik Deutschland zu den Nachbarstaaten der übrigen Mitgliedstaaten der EG, also an den Binnengrenzen, noch Schilder — Douane-Zoll — stehen, wo doch seit mehr als zehn Jahren zwischen den auf dem Festland liegenden Mitgliedstaaten keine Zölle mehr erhoben werden?
Bitte sehr.
Herr Kollege Becker, wenn Sie gestatten, würde ich Ihre beiden Fragen zusammen beantworten.
Der Fragesteller ist einverstanden. Ich rufe also auch die Frage 67 des Abgeordneten Becker auf:
Was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um die falschen und europarechtlich rechtswidrigen Schilder durch entsprechende Schilder zu ersetzen, wie sie zwischen den Ländern Belgien und Luxemburg bestehen, die entweder auf eine Landesgrenze hinweisen oder darauf, daß dort Steuern erhoben werden?
Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Das Schild „Douane/Zoll" ist ein international gebräuchliches und auch in der Straßenverkehrs-Ordnung vorgesehenes Verkehrszeichen, das nach dem Wiener Übereinkommen über Straßenverkehrszeichen vom 8. November 1968 auf die Nähe einer Zollstelle hinweist. Die Bundesregierung hält die Verwendung des Schildes an den innergemeinschaftlichen Grenzen weder für falsch noch für rechtswidrig.
Es trifft zwar zu, daß der EWG-Vertrag die Erhebung von Zöllen beim innergemeinschaftlichen Warenaustausch verbietet. Das Wort „Zoll" wird landläufig aber in einem weiteren Sinne als dem der reinen Zollerhebung gebraucht. Als Bestandteil der Begriffe „Zollverwaltung", „Zollstelle" und dergleichen umfaßt es alle Tätigkeiten, die sich auf den grenzüberschreitenden Warenverkehr beziehen. Dazu gehören z. B. an den Binnengrenzen die Erhebung der Einfuhrumsatzsteuer und der anderen Verbrauchsteuern sowie die Überwachung der Verbote und Beschränkungen für den Warenverkehr. In diesem umfassenden Sinne wird das Wort nicht nur in nationalen Gesetzen wie dem Zollgesetz und dem Finanzverwaltungsgesetz verwendet, sondern auch von der Bevölkerung verstanden. Dies ist keine nationale Besonderheit, sondern gilt auch für andere Nachbarstaaten. Der Hinweis auf eine Zollstelle verstößt deshalb nicht gegen den EWG-Vertrag.
Im übrigen werden auch an den innergemeinschaftlichen Grenzen noch echte Zölle erhoben, wenn bei Zollstellen zollpflichtige Drittlandswaren zum freien Verkehr abgefertigt werden.
Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, würden Sie mir zustimmen, daß man — auch in Ansehung der Bemühungen auf der letzten Gipfelkonferenz — überlegen könnte, diese Schilder etwas europafreundlicher zu gestalten?
Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Ich kann nicht ausschließen, daß hier im Laufe der Zeiten ein anderer Begriff gefunden wird. Aber denken Sie bitte daran, daß es auch einige Kosten verursacht, hier plötzlich alles zu ändern.
Weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wir, die europäischen Staaten, haben uns für Europa ein Emblem ausgedacht. Es gibt eine Fahne. Vielleicht könnte man im Interesse des Zusammengehörigkeitsgefühls einmal überlegen, ob man sich in dieser Richtung nicht noch etwas Besseres einfallen lassen könnte, als bisher an den Grenzen zu finden ist.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983 1025
Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Sicherlich, Herr Kollege Becker. Aber noch wichtiger als die Veränderung des Begriffs, der nun einmal eingefahren ist, ist doch wohl, daß wir wirklich einen Freihandel ohne Beschränkungen in der Sache haben.
Noch eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ich stimme Ihnen zu. Aber nun gibt es ja Europapolitiker, die versuchen, diese Zollgrenzen oder vor allem diese Zollschranken bzw. die Zollschilder durch spektakuläre Aktionen zu beseitigen, um die Bevölkerung darauf aufmerksam zu machen. Wie stehen Sie denn dazu?
Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Ich habe Ihnen schon geantwortet, daß wir diese Schilder für rechtmäßig halten. Das praktizieren j a auch die meisten anderen Staaten, so daß jeder Akt, der dagegen unternommen wird, rechtswidrig ist.
Letzte Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, Sie würden aber doch nicht denen das Wort reden, die dann denjenigen, die für Europa eintreten und das etwas deutlich tun wollen, sagen, sie kämen mit dem Strafgesetzbuch in Konflikt?
Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Ich bin davon überzeugt: Wer wirklich für Europa eintreten will, macht das nicht auf rechtswidrige Weise.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Die Frage 68 des Abgeordneten Bohl wird auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 69 des Abgeordneten Michels auf:
Wie hoch ist das Finanzvolumen, das die öffentlichen Haushalte im Jahr 1982 für das 13. Monatsgehalt bereitgestellt haben?
Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Michels, wenn Sie einverstanden sind, beantworte ich Ihre Fragen gemeinsam.
— Danke schön.
Dann rufe ich auch die Frage 70 des Abgeordneten Michels auf:
Liegen der Bundesregierung Berechnungen vor, welches Geldvolumen eingespart werden könnte, falls das 13. Monatsgehalt bei den oben erwähnten Gruppen auf 2 000 DM begrenzt würde?
Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Erstens. Im Jahr 1982 sind bei Bund, Ländern, Gemeinden, Bahn und Post rund 16,6 Milliarden DM für das 13. Monatsgehalt ausgegeben worden.
Zweitens. Die Ausgaben für die Sonderzuwendungen würden sich bei einer Absenkung auf einen Höchstbetrag von 2 000 DM um 3,8 Milliarden DM
bei den Beamten und um 2,8 Milliarden DM bei Angestellten und Arbeitern, insgesamt also um 6,6 Milliarden DM vermindern.
Es ist zu berücksichtigen, daß die Sonderzuwendung bei Angestellten und Arbeitern durch Tarifvertrag geregelt ist. Auch bei einer Kündigung der Tarifverträge würden sich Einsparungen im Tarifbereich erst in sehr weiter Zukunft auswirken, da die vorhandenen Arbeitnehmer ihren Anspruch auf die Sonderzuwendung auf Grund der sogenannten Nachwirkung zunächst behalten.
Ich weise darauf hin, daß auch außerhalb des öffentlichen Dienstes mehr als 95 % aller Arbeitnehmer ähnliche Sonderzuwendungen in Höhe von durchschnittlich mehr als einem Monatsverdienst erhalten. 60 % der Arbeitnehmer außerhalb des öffentlichen Dienstes erhalten die Sonderzuwendung auf Grund eines tarifvertraglichen Anspruchs.
Keine Zusatzfragen.Ich rufe die Frage 71 des Herrn Abgeordneten Enders auf:Teilt die Bundesregierung die öffentliche Kritik an den Methoden der Lebensversicherungen, die teilweise bei vorzeitiger Kündigung zum Nachteil der Versicherten noch nicht einmal die Hälfte der eingebrachten Beiträge zurückzahlen, und wenn ja, was kann das Bundesaufsichtsamt in diesem Sinn unternehmen?Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Enders, ich darf so antworten: Es können durchaus Umstände eintreten, daß ein Versicherungsnehmer, der seinen Lebensversicherungsvertrag vor Ablauf der vereinbarten Vertragsdauer kündigt, als Rückkaufswert weniger als die Hälfte der eingezahlten Beiträge erhält. Dies liegt in der Hauptsache daran, daß in den ersten Versicherungsjahren die Beiträge neben der Deckung des Todesfallrisikos zur Tilgung der bei Vertragsabschluß entstandenen erheblichen Kosten für Antragsbearbeitung, ärztliche Untersuchung und Abschlußprovision des Vermittlers verwendet werden. Es kann darum Sparkapital zunächst nicht oder in nur sehr geringem Umfang gebildet werden.Obwohl diese Praxis legal ist und auch kaufmännisch wie versicherungstechnisch begründet wird, ist sie in den letzten Jahren nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch innerhalb des Bundesaufsichtsamtes für das Versicherungswesen kritisiert worden. Die Bundesregierung hat diese Kritik bereits vor einiger Zeit zum Anlaß genommen, das Bundesaufsichtsamt für das Versicherungswesen zu beauftragen, gutachtlich zu dem Thema „Verbesserung der Rückkaufswerte in der Lebensversicherung" Stellung zu nehmen und Vorschläge zu unterbreiten. Sobald dieses Gutachten vorliegt — das wird möglicherweise noch in diesem Jahr der Fall sein —, wird die Bundesregierung prüfen, ob Maßnahmen im Interesse der Versicherungsnehmer zu ergreifen sind.Bei allen Lösungen muß aber darauf geachtet werden, daß Rückkaufswerte bei vorzeitiger Auflösung des Vertrages nicht zu Lasten derjenigen Versicherungsnehmer gehen, die ihren Vertrag über die vereinbarte Versicherungsdauer erfüllen.
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1026 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983
Zusatzfrage? — Bitte.
Herr Staatssekretär, wenn man auch nicht das in der Öffentlichkeit gefallene Wort vom „legalen Betrug" nimmt, so scheint es unter den gegenwärtigen Bedingungen doch so zu sein, daß manche Lebensversicherungen den Versicherten bei vorzeitiger Kündigung mehr schaden als nützen und daß unter den gegebenen Umständen vor einem Abschluß gewarnt werden müßte.
Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Deswegen haben wir diese Frage j a an das Aufsichtsamt herangetragen. Wir wollen, wenn die Empfehlungen vorliegen, prüfen, inwieweit man hier Verbesserungen vornehmen kann.
Eine weitere Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, kann man auch darauf hoffen, daß der Versicherungsmarkt von diesem Aufsichtsamt durchsichtiger gemacht wird und bessere Bedingungen für die Versicherungsnehmer geschaffen werden?
Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Genau dies ist auch eine Absicht des Gutachtens. Man muß allerdings auch die Versichertengemeinschaft sehen, also vor allem die Versicherten, die bei ihrem Vertrag bleiben. Das ist die Mehrheit.
Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Schlatter.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß eine Vielzahl von Lebensversicherungsunternehmen auf Grund einer Empfehlung des Bundesaufsichtamtes hingegangen sind und ihr Gewinnzuteilungssystem geändert haben und daß dies Auswirkungen auf den Rückkaufswert haben dürfte, und liegen Ihnen Erkenntnisse darüber vor, wie sich das auf den Rückkaufswert auswirken wird?
Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Das ist mir in Einzelheiten nicht bekannt. Wenn sich hier aber gleichsam rein marktmäßig schon Verbesserungen einspielen, ist das um so erfreulicher.
Keine weitere Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 72 des Herrn Abgeordneten Collet auf:
Welches waren die sachlichen und für den Haushalt 1983 relevanten Gründe der Bundesregierung, die am 1. Juli 1983 wirksam werdende Mehrwertsteuererhöhung sowie die Investitionssteuervorlage einzubringen?
Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Kollege Collet, ich darf Ihre Frage 72 beantworten: Die Erhöhung der Mehrwertsteuer zum 1. Juli 1983 und die Einführung der Investitionshilfeabgabe sind wesentliche Voraussetzungen für die im Bundeshaushalt 1983 und im Haushaltsbegleitgesetz 1983 enthaltenen Maßnahmen zur Wiederbelebung der Wirtschaft und Beschäftigung, denn sie ermöglichen erst die
Finanzierung dringend notwendiger zusätzlicher Investitionen. Die Mehreinnahmen aus der Mehrwertsteuererhöhung werden dazu verwandt, um Entlastungen bei direkten Steuern zu finanzieren und dadurch die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft zu stärken. Ein erster Schritt wurde im Haushaltsbegleitgesetz 1983 getan: Ich erinnere an die Erleichterungen bei der Gewerbesteuer oder die Einführung der Rücklage für stillegungsgefährdete Betriebe. Die übrigen Mehreinnahmen aus der Mehrwertsteuererhöhung werden im Rahmen des von der Bundesregierung vorgesehenen Steuerentlastungsgesetzes 1984 ebenfalls zur Stärkung der Investitions- und Innovationskraft der Unternehmen eingesetzt. Beispielhaft nenne ich die Verminderung der Vermögensbesteuerung der Betriebe und Verbesserungen von Abschreibungsmöglichkeiten.
Die Investitionshilfeabgabe, nach der Sie ebenfalls gefragt haben, wird gezielt zur Förderung des Wohnungsbaus eingesetzt, z. B. für die Aufstockung des Mietwohnungs- und Eigentumsprogramms und für die Bausparzwischenfinanzierung.
Eine Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, darf ich annehmen, daß gleiche Gründe der Haushaltssicherung und der Finanzierung anderer Maßnahmen auch für die Entnahme der Bundesbanküberschüsse und für die weiteren Kreditsteigerungen, die mit dem Haushalt 1982 verbunden waren, die Grundlage waren?
Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Leider war die Bundesregierung nicht in der Lage, die Verschuldung auf Anhieb so zurückzuführen, wie es wünschenswert wäre. Da müßten Sanierungsmaßnahmen vorgeschlagen werden, die sich einzelne noch gar nicht vorstellen können. Deshalb müssen wir auch in den Punkten, die Sie erwähnt haben, Schritt für Schritt vorgehen.
Eine weitere Zusatzfrage.
Darf ich danach fragen, Herr Staatssekretär, wie diese Erkenntnisse über diese Notwendigkeiten so plötzlich am 1. Oktober 1982 — dieser Tag fiel nicht auf Pfingsten, sonst hätte es der Heilige Geist gewesen sein können, der über Sie gekommen ist — neu auf Sie zukamen, nachdem Sie vorher, als Personen, nicht als Regierung, als Abgeordnete, diese Dinge so grundsätzlich abgelehnt und als schlimmes Teufelszeug abgetan haben?
Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Kollege Collet, Sie erinnern sich sicher, daß die Opposition und auch ich persönlich die Entwicklung in den letzten Jahren weiß Gott kritisiert und rechtzeitig vor dieser verhängnisvollen Entwicklung gewarnt haben. Jetzt bemühen wir uns, Schritt für Schritt da herauszukommen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Krizsan.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983 1027
Herr Häfele, ist Ihnen bekannt, daß diese Mehrwertsteuererhöhung in der Jahresmitte eine erhebliche Arbeitsbelastung für die Finanzämter bedeutet, und wie hoch werden die Ausgaben für diese zusätzliche Arbeit eingeschätzt?
Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, es ist sicher nicht schön, daß das in der Mitte des Jahres geschieht. Es mußte leider gemacht werden, um schon im laufenden Jahr die Investitionsmaßnahmen abzudecken und nicht noch mehr in die Neuverschuldung zu gehen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Klejdzinski.
Herr Staatssekretär, da Sie als finanzpolitischer Sprecher Ihrer Fraktion sicherlich auch vorher mit Sachverstand ausgestattet waren, nehme ich an, daß Sie gewußt haben, wie sich der Haushalt nicht nur heute, sondern auch gestern im einzelnen zusammensetzt. Es wäre schlimm, wenn es nicht so wäre. Meine Frage: Welche Konsequenzen haben Sie damals daraus gezogen, welche Initiativen haben Sie im Bundesrat oder hier im Bundestag eingebracht, um das, was Sie hier heute kritisieren, letztlich verantwortungsvoll für den Staat bereits vorher zu lösen?
Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die damalige Opposition hat die Regierung jahrelang zu einem Sparkurs geradezu nötigen wollen. Das ist uns leider nicht ausreichend gelungen. Jetzt verantworten wir das selber.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Schlatter.
Herr Staatssekretär, sind Sie in der Lage, uns mitzuteilen, mit welchen Kosten sich die von den unionsgeführten Ländern im Bundesrat eingebrachten Gesetzentwürfe der letzten 13 Jahre auch auf den Bundeshaushalt ausgewirkt haben?
Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, das ist das alte Thema, das wir seit 13 Jahren diskutieren. Ich darf darauf hinweisen, daß der Bundesrat einmal sogar vor einer Wahl Gesetze der Bundesregierung mit Kosten in Milliardenhöhe gestoppt hat.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Becker .
Herr Staatssekretär, ich will beim Text dieser Frage bleiben, muß Sie aber jetzt fragen: Was hat Sie eigentlich bewogen, die Steuer, die Sie jetzt erheben, entgegen den vor der Wahl gemachten Ankündigungen doch wieder zurückzuzahlen?
Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Meinen Sie jetzt die Mehrwertsteuer? — Herr Kollege Becker, ich empfehle Ihnen, die Reden, die ich als finanzpolitischer Sprecher gehalten habe, wirklich einmal wörtlich nachzulesen. In jeder Rede finden Sie bei
mir — ich sage ganz offen: Gott sei Dank — die Ausführung: Wir brauchen eine Mehrwertsteuererhöhung, um unser Steuerrecht auf Dauer wachstumsfreundlicher, investitionsfreundlicher und leistungsfreundlicher zu machen. Das versuchen wir jetzt. Genau dies haben wir immer gesagt.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe Frage 73 des Herrn Abgeordneten Collet auf:
Beabsichtigt die Bundesregierung, alle ausgabewirksamen Leistungsgesetze der letzten 13 Jahre, die mit Zustimmung des Bundesrats zustande kamen, aus Haushaltsgründen zu novellieren, und wie will die Bundesregierung die Haushaltsmittel wieder hereinholen, die ebenfalls mit Zustimmung des Bundesrats für Konjunkturprogramme — wie z. B. für das Zukunftsinvestitionsprogramm — verbraucht wurden?
Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Collet, Ihre Frage 73 darf ich so beantworten: Die Bundesregierung beabsichtigt nicht, alle ausgabewirksamen Gesetze der letzten 13 Jahre zu ändern. Sie ist auch nicht in der Lage, alle in der Vergangenheit ausgegebenen Mittel gleichsam wieder hereinzuholen.
Was die Bundesregierung auf der gegenwärtigen Stufe der Haushaltssanierung für notwendig hält, hat sie am 18. Mai 1983 im Grundsatz beschlossen. Am 29. Juni 1983, also in der nächsten Woche, wird das Kabinett die Einzelheiten zum Bundeshaushalt 1984 beschließen. Anschließend werden die erforderlichen Unterlagen den parlamentarischen Gremien zugeleitet werden, natürlich auch dem Deutschen Bundestag. Aus diesen Unterlagen wird auch deutlich werden, daß die Bundesregierung ihre finanzpolitischen Beschlüsse nicht davon abhängig machen kann, ob einzelne Entscheidungen in der Vergangenheit mit oder ohne Zustimmung des Bundesrates getroffen wurden.
Eine Zusatzfrage. — Bitte.
Soll man die derzeitigen Kürzungen der sozialen Leistungen auf Grund von Gesetzen, denen die derzeitigen Mitglieder der Bundesregierung als Abgeordnete zugestimmt haben — wie sie auch den Konjunkturprogrammen und den mit ihnen verbundenen Ausgaben zugestimmt haben —, als ersten Schritt zur Sanierung sehen, und soll dieser Weg so fortgesetzt werden?
Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Collet, wir wären sehr dankbar gewesen, wenn wir die Kasse in einem Zustand ohne Neuverschuldung vorgefunden hätten. Dann könnte man über all solche Dinge reden. Wir müssen aber von der gegebenen Lage ausgehen. Wir haben den Auftrag, zu sanieren, und da können wir leider nicht so vorgehen, wie wenn die Staatsverschuldung nicht vorhanden wäre.
Herr Staatssekretär, trifft es zu, daß die gleichen Personen, die jetzt die Regierung bilden, die vorher gemachten Schulden zum großen Teil mit beschlossen und noch weitergehende An-
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1028 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983
Colletträge — z. B. 300 DM monatlich für drei Jahre für jede Mutter — gestellt haben?Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Collet, wenn sich die derzeitige parlamentarische Opposition im nächsten Jahrzehnt mit Ausgabeanträgen so zurückhält wie die parlamentarische Opposition im letzten Jahrzehnt, ist ihr die Bundesregierung sehr dankbar.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Klejdzinski.
Herr Staatssekretär, ich kann verstehen, daß Sie sagen, wenn sich die jetzige parlamentarische Opposition mit Ausgabeanträgen so zurückhält wie die Ihre, sind Sie uns dankbar, weil Sie uns dann wahrscheinlich wieder eine Erblast überlassen können. Ist das richtig?
Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Wir haben nicht die Absicht, auf die vorhandene Erblast, die Sie offensichtlich akzeptieren, noch eine draufzusetzen.
Keine weiteren Zusatzfragen. Damit ist dieser Geschäftsbereich abgeschlossen.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes. Zur Beantwortung der Fragen steht uns Herr Staatssekretär Lorenz zur Verfügung.
Ich rufe Frage 1 des Herrn Abgeordneten Schily auf:
Beauftragt die Bundesregierung über das Presse- und Informationsamt Presseunternehmen mit der Erstellung von Berichten und Kommentaren zur Politik der Bundesregierung?
Herr Kollege Schily, ich beantworte Ihre Frage mit Nein.
Haben Sie eine Zusatzfrage? — Keine Zusatzfrage?
Doch, ich habe eine. Ich bin etwas verblüfft von der Antwort.
Ich habe gestern schon gesagt, das ist eigentlich die klassische Art der Beantwortung von Fragen.
Es ist alles in Ordnung, Herr Präsident.
Ist der Bundesregierung bekannt, daß ein Referat III B 1 AR im Presse- und Informationsamt existiert und Verträge der angesprochenen Art, die hier in der Frage enthalten sind, abschließt?
Lorenz, Parl. Staatssekretär: Verträge der Art, die Sie in Ihrer Frage nachfragen, werden vom Bundespresseamt nicht abgeschlossen. Es gibt, wie Sie wissen, Herr Kollege Schily, einen Titel 531 01, für den
im Jahre 1983 2,07 Millionen DM im Bundeshaushalt ausgeworfen sind. Dazu ist im Haushaltsgesetz ausdrücklich bestimmt, daß über den Titel 531 01 hier im Plenum nicht gesprochen wird, sondern nur im zuständigen Unterausschuß des Haushaltsausschusses. Natürlich bin auch ich an diese gesetzliche Regelung gebunden, Herr Kollege.
Lassen Sie mich aber hinzufügen, die soeben gegebene Antwort ist auch unter Einbeziehung dieses Haushaltstitels richtig.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe Frage 2 des Herrn Abgeordneten Dr. Hupka auf:
Werden die in der Bundesrepublik Deutschland erscheinenden türkischen Zeitungen von sprachkundigen Mitarbeitern der Bundesregierung dienstlich gelesen, und gab es bejahendenfalls Veranlassung, auf Grund der in der Bundesrepublik Deutschland zusätzlich in diese Zeitungen aufgenommenen Nachrichten, Berichte und Artikel, Protest einzulegen und Berichtigungen zu verlangen?
Lorenz, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Hupka, ich beantworte Ihre Frage in beiden Teilen mit Ja. Die in der Bundesrepublik Deutschland erscheinenden vier großen türkischen Tageszeitungen „Hürriyet", „Milliyet", „Tercüman" und „Günay-din" werden täglich von einem türkischsprachigen Lektor ausgewertet. Diese Auswertung gibt von Zeit zu Zeit Anlaß, bei den in Frankfurt ansässigen Redaktionen dieser Zeitungen vorstellig zu werden und sie auf ihre journalistischen Sorgfaltspflichten hinzuweisen. Die täglichen Auswertungen haben allerdings ergeben, daß seit November 1982 eine spürbare Versachlichung in der Berichterstattung und in der Kommentierung deutscher Themen zu verzeichnen ist.
Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, können Sie darüber Auskunft geben, wie häufig es notwendig war, mit den türkischen Redakteuren in Frankfurt am Main in Verbindung zu treten, um eine gegenteilige Meinung kundzutun?Lorenz, Parl. Staatssekretär: Ich habe jetzt keine genaue Zahl vorliegen. Ich darf aber vielleicht einzelne Themenbereiche anführen, bei denen solche Beanstandungen vorgenommen worden sind. Die Ausländerpolitik war nur selten Gegenstand objektiver Betrachtungen. Ausländerpolitische Entscheidungen des Bundes oder der Länder wurden dort prinzipiell verworfen. Kriminelle Handlungen, deren Opfer Türken waren, wurden regelmäßig ohne Betrachtung der Tatmotive als ausländerfeindliche Akte angesehen. An sich notwendige journalistische Recherchen bei den zuständigen Behörden sind leider offensichtlich weitgehend unterblieben. Durch eine überproportionale Beachtung rechtsextremistischer Vorgänge wurde der Eindruck vermittelt, als ob die demokratischen Kräfte in der Bundesrepublik Deutschland durch einen vorherrschenden Rechtsextremismus paralysiert würden. Die Tätigkeit deutscher Behörden wurde nicht selten mit dem Attribut „unmenschlich" und „unnach-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983 1029
Parl. Staatssekretär Lorenzsichtig" versehen, sofern sie die ihnen eingeräumten Ermessensspielräume nicht zugunsten antragstellender Türken ausgenutzt haben.Ich möchte allerdings noch einmal ausdrücklich darauf aufmerksam machen, daß diese Studien aus dem Jahre 1982 stammen und nicht zuletzt wegen zahlreicher Kontakte zahlreicher Vertretungen in der Türkei und des Bundespresseamts mit den Redaktionen der türkischen Zeitungen in Istanbul und Frankfurt, heute keinen aktuellen Aussagewert mehr besitzen. Die Sache ist also besser geworden.
Weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, Sie haben vorhin von Beanstandungen gesprochen. Haben die Beanstandungen auch dazu geführt, daß das für Hessen zuständige Pressegesetz in Anspruch genommen werden mußte und Korrekturen verlangt worden sind?
Lorenz, Parl. Staatssekretär: Bisher ist das Pressegesetz noch nicht in Anspruch genommen worden.
Eine weitere Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Lambinus.
Herr Staatssekretär, bezieht sich diese, gestatten Sie mir den Ausdruck, Zensur auch auf türkische Zeitungen, die in der Türkei erscheinen und in der Bundesrepublik Deutschland vertrieben werden?
Lorenz, Parl. Staatssekretär: Nein. Diese Verhaltensweise, die natürlich keine Zensur darstellt, sondern die lediglich die notwendigen Informationen und Aufklärungen beinhaltet, bezieht sich auf die hier von mir genannten Zeitungen.
Keine weiteren Zusatzfragen. — Damit ist dieser Geschäftsbereich abgeschlossen. Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen auf. Zur Beantwortung der Fragen steht uns Herr Staatsminister Möllemann zur Verfügung.
Die Fragen 35 und 36 des Abgeordneten Dr. Soell sowie die Frage 38 des Abgeordneten Dr. Steger sollen auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe Frage 37 des Herrn Abgeordneten Dr. Laufs auf:
Welche Aufgaben obliegen innerhalb der Bundesregierung dem im Auswärtigen Amt eingerichteten „Beauftragten für internationale Medienpolitik", und welche rechtliche Qualität hat diese Bezeichnung?
Bitte, Herr Staatsminister.
Herr Kollege Laufs, der Beauftragte für internationale Medienpolitik ist zuständig für medienpolitische bilaterale und multilaterale Verhandlungen und Vereinbarungen auf internationaler Ebene. Er ist Delegationsleiter bei derartigen Zusammenkünften. Die genannten Zuständigkeiten sind insbesondere von Bedeutung bei medienpolitischen Erörterungen im Rahmen der Vereinten Nationen, z. B. Im Weltraumausschuß, der sich mit dem Satelliten-Direktfernsehen befaßt, und der UNESCO, z. B. beim Thema der neuen Weltinformations- und -kommunikationsordnung, bei medienpolitischen Fragen im Europarat, in der EG und beim Europäischen Parlament und bei sämtlichen bilateralen medienpolitischen Kontakten zu anderen Staaten. Hierbei gilt als Richtschnur das Prinzip des freien grenzüberschreitenden Informationsflusses, dem die Bundesrepublik in der internationalen Medienpolitik Priorität einräumt.
Der Beauftragte hält ständigen Kontakt im Bereich der internationalen Medienpolitik mit den zuständigen Bundesressorts, insbesondere dem Bundesminister des Innern und den sonstigen zuständigen Institutionen. Zur Durchführung seiner Aufgaben steht dem Beauftragten außer dem Amt das Referat 603 zur Verfügung.
Die Bestellung eines Beauftragten für internationale Medienpolitik ist wegen der herausgehobenen Bedeutung notwendig geworden, die diesem Gebiet angesichts einer ständigen technologischen Fortentwicklung und damit einhergehend steigender internationaler Problematik zukommt. In diesem Bereich besteht das dringende Bedürfnis nach einer zentralen Koordinierungsinstanz und einem Ansprechpartner auf deutscher Seite, zumal im Hinblick auf die in der Bundesrepublik Deutschland breit gefächerten Kompetenzen und Zuständigkeiten. Diesem Bedürfnis ist mit der Bestellung des Beauftragten im Februar 1980 entsprochen worden.
Zusatzfrage? — Bitte.
Herr Staatsminister, handelt es sich bei dieser Bezeichnung „Beauftragter für internationale Medienpolitik" um einen bisher im Beamtenrecht nicht vorgesehenen, neuen Titel?
Möllemann, Staatsminister: Nein, das ist keine rechtliche Qualität, die diese Bezeichnung ausdrückt, sondern eine politische Funktion.
Eine weitere Zusatzfrage?
Herr Staatsminister, inwieweit können Mißverständnisse hinsichtlich der medienpolitischen Zuständigkeit des Bundesministers des Innern und der Geschäftsverteilung innerhalb der Bundesregierung in diesem Zusammenhang entstehen?
Möllemann, Staatsminister: Da sind bis jetzt nach Meinung der Bundesregierung keine Mißverständnisse entstanden, weil ja eben eine sehr enge Zusammenarbeit und Koordinierung der Tätigkeit erfolgt.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe Frage 39 des Herrn Abgeordneten Sielaff auf:
1030 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983
Vizepräsident Stücklen
Ist der Bundesregierung bekannt, daß es bei der US-Regierung Überlegungen gibt, chemische Sprengköpfe für die Pershing II und die Marschflugkörper zu entwickeln, und weiß die Bundesregierung, für welche Länder die Stationierung dieser chemischen Sprengköpfe vorgesehen ist?
Bitte, Herr Staatsminister.
Möllemann, Staatsminister: Herr Kollege, ich beantworte Ihre Frage mit Nein.
Haben Sie eine Zusatzfrage?
Herr Staatsminister, ist dann generell auszuschließen, daß die Mittelstreckenraketen in Zukunft mit chemischen Sprengköpfen ausgestattet werden?
Möllemann, Staatsminister: Also generell ist für die Zukunft natürlich nichts auszuschließen. Aber ich kann nur nach dem jetzigen Kenntnisstand der Bundesregierung antworten, es gibt — das besagt Ihre Frage — bei der Bundesregierung keine Erkenntnisse, daß die amerikanische Regierung Überlegungen anstellt, chemische Sprengköpfe für die Pershing II und die Marschflugkörper zu entwikkeln.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, welche gesetzlichen Garantien hätte denn die Bundesregierung, dieses zukünftig zu verhindern, daß das geschieht? Ich frage jetzt bewußt nach den gesetzlichen Garantien.
Möllemann, Staatsminister: Überhaupt keine. Es gibt kein Land dieser Erde, das eine gesetzliche Garantie dagegen hat, daß die Vereinigten Staaten von Amerika chemische Sprengköpfe entwickeln.
Hinter Ihnen stehen noch zwei Damen. — Eine Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Blunck.
Herr Staatsminister, Sie haben geantwortet: nach Ihrem bisherigen Kenntnisstand nicht. Ich erlaube mir daher die Frage: haben Sie denn schon einmal nachgefragt und versucht, Ihren Kenntnisstand auf den neuesten Stand zu bringen?
Möllemann, Staatsminister: Ja. Ich habe dieses Verfahren, das in den Regierungen wohl allgemein üblich ist, wenn sie sich auf eine Fragestunde vorbereiten, natürlich auch angewendet.
Weitere Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Schmidt .
Herr Staatssekretär, da Sie es generell für die Zukunft nicht ausschließen können — was ich einsehe —, habe ich die Frage: Wie würde sich die Bundesregierung gegenüber einem Begehren der Vereinigten Staaten nach Stationierung solcher Waffen in der Bundesrepublik verhalten; und sieht die Bundesregierung juristische Möglichkeiten, das dann gegebenenfalls zu verhindern?
Möllemann, Staatsminister: Frau Kollegin, Sie werden zugeben, daß das eine ungewöhnlich hypothetische Frage ist. Darauf zu antworten, ist natürlich nicht unproblematisch. Dennoch möchte ich Ihnen sagen, daß die Bundesregierung für den Fall der Stationierung von Waffensystemen von Drittmächten auf unserem Territorium konsultiert wird und natürlich dazu Stellung nimmt, wie wir ja gerade im Fall der Pershing II und der Cruise-Missiles im Willensbildungsverfahren der NATO festgestellt haben. Sie entsinnen sich der Tatsache, daß dieses Parlament die seinerzeitige Bundesregierung in ihrer Absicht bestärkt hat, keine Singularität bei der Stationierung dieser Systeme zuzulassen. Das heißt, Parlament und Regierung haben ihren Willen bekräftigt, die Stationierung nur dann vornehmen zu lassen, wenn sie gleichzeitig in mehreren Bündnisländern erfolgt. Das ist also ein Beleg für eine Einflußnahme, die es hier gibt. Aber, wie gesagt: Ihre Frage ist hypothetisch. Insofern gibt es keine Notwendigkeit der Einwirkung.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Waltemathe.
Herr Staatsminister, ich komme auf die ursprünglich gestellte Frage und ihre ursprüngliche Antwort „Nein" zurück. Es wurde gefragt, ob der Bundesregierung bekannt ist, daß es Überlegungen gibt. Bezieht sich Ihr „Nein" darauf, daß es der Bundesregierung nicht bekannt ist? Oder können Sie mitteilen: Es gibt keine Überlegungen der US-Regierung? Worauf bezieht sich Ihr „Nein"?
Möllemann, Staatsminister: Das „Nein" bezieht sich auf die Frage.
— So ist es. Danach ist ja gefragt worden.
Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Gansel.
Herr Staatsminister, ist die Bundesregierung bereit, sich auf Grund der Anfrage nun Gewißheit zu verschaffen?
Mölleman, Staatsminister: Ja; sicher.
— Ja.
Keine weiteren Zusatzfragen.
— Sie haben doch gerade gefragt, Herr Lambinus!
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983 1031
Vizepräsident Stücklen— Nicht?
— Na!
— Mogeln Sie nicht!
— Gut. Herr Lambinus, Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, darf ich Sie trotz der Tatsache, daß es hypothetisch sein könnte, noch einmal fragen: Gibt es juristische Mittel, die Stationierung von Pershing II oder Marschflugkörpern, mit chemischen Waffen oder chemischen Sprengköpfen bestückt, in der Bundesrepublik zu verhindern?
Möllemann, Staatsminister: Ich möchte noch mal sagen, daß ich die Beantwortung hypothetischer Fragen für nicht zweckmäßig halte.
Keine weitere Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 40 des Herrn Abgeordneten Sielaff auf:
Welche Möglichkeiten hat die Bundesregierung, darauf hinzuwirken, daß die US-Regierung das technische Knowhow der C-Waffenproduktion nicht an andere Länder weitergibt, und plant die Bundesregierung Initiativen, um im UNAbrüstungsausschuß in Genf einen Forschungsstopp fürC- und Toxinwaffen zu erreichen?
Möllemann, Staatsminister: Herr Kollege, nach Kenntnis der Bundesregierung gibt es keine Pläne der US-Regierung, Verfahren der Herstellung von chemischen Waffen an andere Staaten weiterzugeben. Die Frage nach einer Einwirkung der Bundesregierung stellt sich daher nicht.
Hinsichtlich der Toxinwaffen besteht ein Verbot der Entwicklung, Herstellung und Lagerung auf Grund des B-Waffen-Übereinkommens von 1972.
Was ein vollständiges Verbot chemischer Waffen angeht, hat die Bundesregierung wiederholt Initiativen ergriffen, die den Abschluß eines umfassenden, weltweiten und nachprüfbaren Verbotsabkommens fördern sollen.
Eine separate Abmachung lediglich über ein Verbot der Forschung wäre dagegen, da sie praktisch überhaupt nicht nachprüfbar wäre, kein wirksamer Beitrag zur Abschaffung aller chemischen Waffen, wie sie das erklärte Ziel der Bundesregierung ist, das im übrigen in einer Entschließung, die der Auswärtige Ausschuß gestern gefaßt hat, noch einmal ausdrücklich bekräftigt worden ist.
Zusatzfrage. Bitte.
Herr Staatssekretär, ist auszuschließen, daß in den Kommissionssitzungen der Westeuropäischen Union in Brüssel, in denen ja offenkundig eine engere rüstungstechnische Zusammenarbeit zwischen Westeuropa und den USA vereinbart wurde, auch die Produktion und der eventuelle Einsatz chemischer Waffen einbezogen worden sind und die Bedeutung chemischer Waffen für die westeuropäische Verteidigungsstrategie angesprochen worden ist?
Möllemann, Staatsminister: Es ist mir jedenfalls nicht bekannt. Ich kann das deswegen nicht ausschließen. Ich will dem nachgehen und Ihnen die Antwort geben.
— Ja.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, liegen in der Bundesregierung irgendwelche Informationen vor, wonach in Frankreich mit Unterstützung der USA binäre chemische Kampfstoffe produziert werden sollen?
Möllemann, Staatsminister: Auch auf diese Frage muß ich Ihnen eine schriftliche Antwort geben.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Klejdzinski.
Herr Staatsminister, Sie haben in Beantwortung der Frage verneint, daß die US-Regierung technisches Know-how weitergibt. Können Sie sich vorstellen, daß auf Grund der Tatsache, wie Rüstungsvorhaben in den USA gehandhabt werden, dieses technische Know-how bei privaten Firmen vorhanden ist und daß es durchaus möglich ist, daß es auf Grund von Lizenzabkommen weitergegeben werden kann?
Möllemann, Staatsminister: Vorstellen kann ich mir vieles, aber die Antwort auf die ursprünglich gestellte Frage schließt das aus.
Ich müßte mich hier an dieser Stelle im Blick auf die letzte Zusatzfrage korrigieren. Die Antwort auf die gestellte Frage schließt auch eine Weitergabe der entsprechenden Kenntnisse an Frankreich aus.
Keine weiteren Zusatzfragen. Ich rufe Frage 41 des Herrn Abgeordneten Dr. Czaja auf:
Handelt es sich bezüglich der Rechtsnatur des NATO-Doppelbeschlusses um eine völkerrechtliche Verpflichtung der Bundesregierung der früheren Koalition, die von der jetzigen Bundesregierung den NATO-Vertragspartnern gegenüber bestätigt wurde, oder welche andere Rechtsnatur hat der NATO-Doppelbeschluß?
Möllemann, Staatsminister: Herr Kollege Czaja, von NATO-Beschlüssen geht in der Regel nur eine politische Bindungswirkung aus. Wegen seiner außerordentlichen Bedeutung ist der NATO-Doppelbeschluß von den Außen- und Verteidigungsministern in einer gemeinsamen Sitzung getroffen worden. Aber, wie gesagt, die Wirkung, die von ihm ausgeht, ist eine politische Bindungswirkung.
Zusatzfrage, bitte.
Metadaten/Kopzeile:
1032 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983
Herr Staatsminister, bedeutet dies, daß die Verpflichtungen der früheren Regierung — bekräftigt durch die jetzige Regierung — nach dem allgemeinen Grundsatz von Treu und Glauben erfüllt werden müssen?
Möllemann, Staatsminister: Es ist natürlich eine hochpolitische Frage, ob die Bundesregierung Vereinbarungen, die sie mit ihren Bündnispartnern trifft, auch einhält, und das ist für den politischen Zusammenhalt des Bündnisses sicherlich von sehr großer Bedeutung. Aber wir sollten hier eine klare Unterscheidung gegenüber einer völkerrechtlichen Bindungswirkung treffen, die hier nicht gegeben ist. Das mindert aber die Bedeutung dieser Bindung überhaupt nicht.
Bitte sehr.
Bedeutet das, daß diese politische Zusage nach Treu und Glauben erfüllt werden muß?
Möllemann, Staatsminister: Soweit ich sehe, entspricht es dem Verhalten aller Bundesregierungen, getroffene Vereinbarungen einzuhalten, und auch diese Bundesregierung wird das tun. Dabei konzentriert sich die Zusage ja auf bestimmte Bedingungen zum Zeitpunkt der Festlegung des Beschlusses und auch auf bestimmte Einzelheiten, die zum Zeitpunkt des Wirksamwerdens des Beschlusses geprüft werden sollen. Aber ich darf Sie erneut darauf hinweisen, Herr Kollege Czaja, daß die Bundesregierung zu beiden Teilen des NATO-Doppelbeschlusses steht und sich daran gebunden fühlt.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Scheer.
Herr Staatsminister, stimmen Sie dann mit mir in der Auffassung überein, daß eine politische Bindungswirkung rechtlich gesehen eine geringere Qualität hat als eine völkerrechtliche Bindung auf Grund der Ratifizierung im Deutschen Bundestag?
Möllemann, Staatsminister: Nach meinem Eindruck ist das nicht eine rechtlich geringere, sondern eine andere Wirkung. Das eine ist eine völkerrechtliche, das andere ist eine politische Wirkung. Aber ich bitte Sie sehr herzlich, die Bedeutung des politischen Zusammenhalts etwa des westlichen Bündnisses nicht geringerzuschätzen als eine möglicherweise interessante Rechtsfrage. Ich würde im Umkehrschluß sagen: Die politische Bindungswirkung scheint mir bedeutungsvoller zu sein als eine mögliche rechtliche.
Es gibt keinen Rabatt. Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Klejdzinski.
Herr Staatsminister, stimmen Sie mit mir in der Auffassung überein, daß die Erfüllung des NATO-Doppelbeschlusses — der zwei
Teile hat, nämlich einen Verhandlungsteil und einen Nachrüstungsteil — nach Treu und Glauben nicht von vornherein einen gewissen Automatismus in bezug auf seinen zweiten Teil, nämlich die Stationierung, auslöst, wenn die Verhandlungen möglicherweise erfolgreich oder aber nicht erfolgreich sind?
Möllemann, Staatsminister: Herr Kollege, es handelt sich um eine Tatsache, die Sie erwähnen, daß der Doppelbeschluß, wie der Name unschwer erkennen läßt — —
— Ja, ja. Ich kann nur mit Ihnen nicht übereinstimmen, sondern stelle fest, daß der Doppelbeschluß zwei Teile hat und daß wir eben zu beiden Teilen stehen. Das Hochinteressante ist, daß bis vor einiger Zeit die deutsche Bundesregierung gemeinsam mit der damaligen Opposition zu beiden Teilen stand und daß sich die jetzige Bundesregierung mit dem Phänomen konfrontiert sieht, daß die jetzige Opposition nicht mehr zu beiden Teilen zu stehen scheint.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Gansel.
Herr Staatminister, stimmen Sie mit mir darin überein — trotz Ihrer Bemerkung soeben, die ich als einen Versprecher werte —, daß völkerrechtlich verpflichtende Verträge, die die Bundesregierung mit Zustimmung der parlamentarischen Gremien eingegangen ist, natürlich eine höhere moralische, rechtliche, politische Bedeutung haben als politische Verpflichtungen einer Regierung, und ziehen Sie mit mir daraus den Schluß, daß natürlich Bundesregierung und Bundestag rechtlich frei sind in ihrer politischen Entscheidung über eine Veränderung des Doppelbeschlusses, über den Zeitpunkt seiner Realisierung und über Einzelheiten seiner Realisierung?Möllemann, Staatsminister: Entschuldigen Sie bitte, Herr Kollege Gansel, aber ich finde, Ihre Frage ist so voll von pauschalen Bewertungen, daß es etwas komplex wäre, sie jetzt ausführlich zu beantworten. Aber zweifelsfrei sind völkerrechtlich wirksam gewordene Verträge von einer besonderen rechtlichen Qualität. Das habe ich versucht deutlich zu machen. Auch politische Vereinbarungen und Zusagen, die man durch den Kanzler, den Verteidigungsminister und den Außenminister gegenüber sämtichen Bündnispartnern gibt, sind, meine ich, für den Zusammenhalt eines Bündnisses von sehr großer Bedeutung. Denn wenn man sich nicht an sie hält, muß ja die Seriosität einer Bundesregierung in Frage gestellt werden.Daß im übrigen — um auf den zweiten Teil Ihrer Frage, die etwas komplex war, zu kommen — die Bundesregierung und das Parlament bei der Bewertung eines etwaigen konkreten Verhandlungsergeb-
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Staatsminister Möllemannnisses und der daraus zu ziehenden Schlußfolgerungen frei sind, ist unbestreitbar.
Eine Zusatzfrage? — Bitte schön.
Herr Möllemann, sind Sie bereit, näher zu erläutern, was in Ihren Augen die Gefährdung des Zusammenhalts des Bündnisses konkret bedeuten würde — wenn es nicht zur Einhaltung dieses NATO-Doppelbeschlusses käme?
Möllemann, Staatsminister: Frau Kollegin, mein Eindruck ist, daß, unterstellt den Fall, daß ein Verhandlungsergebnis nicht erreicht werden kann, weder ein Zwischenergebnis noch die beiderseitige Null-Lösung, und damit dann eindeutig die im Doppelbeschluß für diesen Fall auch völlig unzweideutig vorgeschriebene Konsequenz eintreten müßte, die Bundesregierung sich aber nicht an die im Beschluß selbst formulierte Konsequenz halten würde, dieses die Vertrauenswürdigkeit der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Regierung bei den übrigen Bündnispartnern sicherlich sehr in Frage stellen würde. Und ich glaube, daß in diesem westlichen Bündnis, das j a nicht auf die Befehlsgewalt eines Großen und die Verpflichtung der Kleinen zu folgen, sondern auf vertrauensvolle Zusammenarbeit gegründet ist, Vertrauen eine so wichtige Rolle spielt, daß man es nicht unnötig verspielen sollte.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Waltemathe.
Herr Staatsminister, muß ich Ihre letzte Antwort hinsichtlich der bundespolitischen Bewertung so verstehen, daß, wenn dieses Parlament der Bundesregierung eine ähnliche Empfehlung geben sollte wie das dänische Parlament der dänischen Regierung, die Bundesregierung sich eher an das hält, was Sie als „bündnispolitische Verpflichtung" bezeichnet haben, als an das, was dieses Parlament dann beschlossen haben würde?
Möllemann, Staatsminister: Herr Kollege Waltemathe, Sie können zunächst davon ausgehen, daß, im Gegensatz zur Situation beim angesprochenen Bündnispartner, die jetzt hier arbeitende Bundesregierung im Parlament eine Mehrheit für ihre Auffassungen hat
und insofern diese Situation nicht eintreten wird, dies insbesondere angesichts dessen — was nicht selbstverständlich ist —, daß die jetzige Bundesregierung einen Beschluß in beiden Teilen beibehält, der in besonders nachdrücklicher und umfänglicher Weise vom früheren Bundeskanzler, dem stellvertretenden Vorsitzenden Ihrer Partei, mit herbeigeführt worden ist.
Darf ich die Damen und Herren, die noch eine Zusatzfrage zu stellen wünschen, bitten, sich auf den Inhalt der ursprünglichen Frage zu beschränken. Gefragt ist nach der
Rechtsnatur, nicht nach den politischen Folgen, nicht nach den politischen Überlegungen, die darüber hinausgehen. Ich lasse Zusatzfragen nur exakt zur Rechtsnatur zu.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Sielaff.
Herr Staatsminister, ist es richtig, daß innerhalb der NATO vereinbart wurde, daß nur mit dem Einverständnis der Länder, in denen stationiert werden soll, stationiert wird?
Nach meiner Vorbemerkung lasse ich diese Frage nicht zu. Es geht hier um die Rechtsnatur. Es tut mir leid.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Schily.
Herr Staatsminister, wenn Sie in Ihrer Antwort von der völkerrechtlichen Verpflichtung der Bundesregierung sprechen: Haben Sie dabei auch bedacht, daß möglicherweise völkerrechtliche Gesichtspunkte gegen eine Stationierung dieser Waffensysteme auf dem Boden der Bundesrepublik sprechen könnten?
Herr Abgeordneter Schily, es geht um die Rechtsnatur des Doppelbeschlusses. Es ist nach der Wertigkeit dieser Rechtsstruktur gefragt, nicht nach dem Inhalt der Auswirkungen.
Entschuldigen Sie, hier steht:
Handelt es sich bezüglich der Rechtsnatur des NATO-Doppelbeschlusses um eine völkerrechtliche Verpflichtung der Bundesregierung ...
Und dann spielt natürlich womöglich auch das Völkerrecht eine Rolle, könnte ich mir denken. Insofern weiß ich nicht, inwiefern der Herr Präsident meint, daß diese Frage nicht in den Zusammenhang gehöre. Das ist mir nicht verständlich. Ich sehe, wenn ich die Gestik von Herrn Staatsminister Möllemann richtig einschätze, daß auch er es so sieht, daß das in den Zusammenhang gehört, Herr Präsident.
Wenn der Herr Staatsminister den Zusammenhang so sieht, kann er darauf antworten. Wir können aber mit Rücksicht auf die vielen Fragesteller, die wir in einer Fragestunde haben, nicht eine Frage über das hinaus behandeln, was von seiten der Bundesregierung, exakt auf die Frage bezogen, Als Antwort als ausreichend angesehen wird.
Aber da Sie nun der Auffassung sind, daß die Zugehörigkeit absolut gegeben ist und die Frage nach der staatsrechtlichen Wirkung eine Beantwortung erfordert, soll geantwortet werden.
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Vizepräsident Stücklen
— Ja, es ist gut, das Völkerrecht. Es soll geantwortet werden.
Möllemann, Staatsminister: Herr Kollege Schily, möglicherweise war ich bei meiner ersten Antwort nicht präzise genug. Ich hatte ausdrücklich erklärt, daß keine völkerrechtliche Bindung davon ausgehe, sondern eine politische Bindung.
Damit ist die Frage ausreichend beantwortet.
Ich rufe die Frage 42 des Herrn Abgeordneten Dr. Czaja auf:
Teilt die Bundesregierung im Sinne der westlichen Wertegemeinschaft die Auffassungen, die den Zielen der durch den US-Präsidenten Reagan proklamierten „Woche der in Unfreiheit lebenden Nationen" zugrunde liegen, z. B. was die Selbstbestimmung, die Freiheit und die notwendige Verteidigungsbereitschaft sowie die Unabhängigkeit der Völker betrifft?
Möllemann, Staatsminister: Herr Kollege, die Bundesregierung tritt für die Freiheit und das Selbstbestimmungsrecht der Völker in Mittel- und Osteuropa ein. Für die in der Deutschen Demokratischen Republik lebenden Deutschen ergibt sich dies aus dem Auftrag des Grundgesetzes.
Zur Freiheit und Selbstbestimmung der Völker Mittel- und Osteuropas hat der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung vom 4. Mai 1983 unter anderem ausgeführt:
Wir sind für das Selbstbestimmungsrecht aller Völker und für das Ende der Teilung Europas ... Unser Ziel bleibt eine gesamteuropäische Friedensordnung.
Gemeinsam mit den im Atlantischen Bündnis vereinten Demokratien bleibt die Bundesregierung entschlossen, den Frieden un Freiheit zu verteidigen. Die Bundesrepublik Deutschland leistet im Bündnis zur Verteidigung unserer Freiheit einen wesentlichen Beitrag.
Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatsminister, würden Sie zu meiner Frage dahin gehend Stellung nehmen, daß wir doch dann auch die Initiative des amerikanischen Präsidenten für diese Woche der in Unfreiheit lebenden Nationen eigentlich dankbar begrüßen sollten, da auch ein Teil unseres Volkes in Unfreiheit lebt?
Möllemann, Staatsminister: Herr Kollege Czaj a, es war, wie Sie an der Antwort mit Recht festgestellt haben, etwas schwierig, diese Frage ganz angemessen zu beantworten, weil natürlich nicht ganz klar ist, welche Auffassungen dieser „Woche" präzise zugrunde liegen. Die Absicht ist klar. Wir sind der Meinung, daß das Bemühen, das hinter dieser „Woche" steht, unsere Unterstützung verdient.
Eine weitere Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatsminister, da ich davon ausgehe, daß sich im Jahr der besonderen deutsch-amerikanischen Freundschaft möglicherweise für die Ursachen und die Auffassungen interessiert habe, frage ich noch einmal: Haben Sie der amerikanischen Administration auch genügend nüchterne Daten zur Lage des deutschen Volkes in Mitteldeutschland, in den Gebieten östlich von Oder und Neiße, Mittel- und Osteuropas zur Verfügung gestellt, damit bei dieser „Woche" in diesem besonderen Jahr auch die Not des unfreien Teiles Deutschlands berücksichtigt wird?
Möllemann, Staatsminister: Herr Kollege Czaja, zwischen der Bundesregierung und den Regierungen unserer Partnerstaaten und insbesondere auch der Regierung der Vereinigten Staaten gibt es einen sehr intensiven politischen Kontakt, der sich selbstverständlich auch auf den Austausch aller politisch relevanten Informationen und selbstverständlich auch auf den Bereich erstreckt, von dem Sie sprechen.
Ich bitte sehr darum, daß die Bundesregierung nur auf die gestellte Frage eingeht. Wenn weitere Erläuterungen erfolgen, verstehe ich durchaus, daß die Fragesteller auch auf diese erweiterten Erläuterungen der Bundesregierung eingehen. Das bedeutet natürlich wiederum, daß die zur Verfügung stehende Zeit den Abgeordneten abgeht, die ebenfalls Fragen eingereicht haben. Ja und Nein sind eine absolut korrekte Beantwortung einer Frage, wenn sie mit Ja und Nein zutreffend zu beantworten ist.
— Das ist etwas ganz anderes. Das gibt es bei uns nicht, Herr Abgeordneter Klejdzinski .
Ich rufe die Frage 43 des Herrn Abgeordneten Pauli auf:Welche Bedeutung mißt die Bundesregierung der humanitären Arbeit des Deutschen Komitees Not-Ärzte e. V. in zahlreichen Projekten in Notstandsgebieten in aller Welt bei?Möllemann, Staatsminister: Herr Kollege Pauli, die Bundesregierung vermag ein eingehendes Urteil über die Auslandsarbeit einer privaten deutschen Hilfsorganisation nur dann abzugeben, wenn diese wegen erhaltener Zuwendungen aus öffentlichen Mitteln zu Vorlage eines Verwendungsnachweises verpflichtet ist. Ansonsten ist sie auf gelegentliche, eher zufällige Kontakte und Unterrichtungen angewiesen.Die Tätigkeit des Deutschen Komitees Not-Ärzte e. V. in Notstandsgebieten der Dritten Welt ist bereits mehrfach mit öffentlichen Mitteln gefördert worden. Beim Hilfsprojekt im Norden Somalias finanzierte die Bundesregierung Hilfsflüge für den Transport dringend benötigter Güter. Die in Somalia tätigen Mitarbeiter des Komitees fanden dort uneingeschränkt Anerkennung und Dank.Weitere Zuwendungen erhielt das Komitee für seine Tätigkeit in Vietnam und Uganda, im Libanon und im Tschad. Das Vorhaben in Vietnam ist bisher jedoch noch nicht zustande gekommen. Die Zuwen-
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Staatsminister Möllemanndungen für das Projekt im Tschad betrugen 350 000 DM. Über die erhaltenen Zuwendungen für die Hilfsvorhaben in Uganda — 103 000 DM — und im Libanon — 360 000 DM — hat das Komitee bisher nicht Rechnung gelegt.
Eine Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatsminister, wie beurteilt die Bundesregierung die aktuelle Möglichkeit einer vom Komitee Not-Ärzte mit organisierten Rettungsaktion, die durch das baldige Auslaufen eines Schiffes unter französischer Flagge und unter deutscher Beteiligung eingeleitet werden soll? Ich meine die sogenannte Cap Anamur II.
Möllemann, Staatsminister: Offen gestanden muß ich Ihnen diese Frage schriftlich beantworten.
Es ist nach der Bedeutung dieser Organisation gefragt worden. Ich unterstelle, daß die Bundesregierung dieser Organisation große Bedeutung beimißt. Nun hat sie eine ganze Reihe von Einzelfragen aufgeworfen, und natürlich kommt jetzt die Frage nach der Cap Anamur. Herr Staatsminister, Sie geben darauf schriftlich eine Antwort?
Möllemann, Staatsminister: Ja.
Eine weitere Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatsminister, sind Sie bereit, in Ihre schriftliche Beantwortung auch die Erörterung der Frage einzubeziehen, weshalb die Zuschüsse zu den von Ihnen genannten Bereichen bisher noch nicht abgerechnet worden sind?
Möllemann, Staatsminister: Ja, selbstverständlich. Sie dürfen ganz nachdrücklich davon ausgehen, daß das Auswärtige Amt sehr daran interessiert ist — die zuständigen Stellen des Amtes haben sich deswegen bereits an das Komitee gewandt —, daß solche Verwendungsnachweise zeitgerecht erfolgen, damit wir die Wirksamkeit der ja aus Steuermitteln aufgebrachten Beträge überprüfen können. Das ist bereits geschehen.
Keine weitere Zusatzfragen. Ich rufe die Frage 44 des Herrn Abgeordneten Dr. Hupka auf:
Sind die Vertretungen der Bundesrepublik Deutschland im Ausland veranlaßt worden, am Tag der deutschen Einheit die Flagge der Bundesrepublik Deutschland zu hissen, und welche Gründe waren gegeben, dies in den letzten Jahren nicht zu tun?
Möllemann, Staatsminister: Herr Kollege, der 17. Juni gehört nach dem Runderlaß des Auswärtigen Amts vom 12. März 1955 zu den regelmäßigen allgemeinen Beflaggungstagen, an denen die Dienstgebäude der Vertretungen der Bundesrepublik Deutschland im Ausland zu beflaggen sind, ohne daß es einer besonderen Anordnung bedarf. Dem Auswärtigen Amt ist bisher kein Fall bekannt, in dem eine Auslandsvertretung an diesem Tag
nicht nach dem sogenannten Runderlaß verfahren wäre.
Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, gilt diese Feststellung auch für unsere Missionen im Ostblock, weil es dort in den ersten Jahren heftige Proteste wegen des Zeigens der schwarz-rot-goldenen Flagge ausgerechnet am 17. Juni gegeben hat?
Möllemann, Staatsminister: Diese Anordnung gilt für alle deutschen Vertretungen in allen Staaten, in denen wir solche haben.
Weitere Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, gehen Sie davon aus, daß, weil die Anordnung erlassen wurde, die Anordnung auch befolgt wird, oder haben Sie noch einmal durch Rückfrage da und dort geklärt, daß auch entsprechend der Anordnung verfahren worden ist?
Möllemann, Staatsminister: Herr Kollege, wie gesagt: Es ist uns kein einziger Fall bekanntgeworden, in dem nicht so verfahren wurde. Wenn es Hinweise auf Verfahrensweisen gäbe, die nicht dem entsprechenden Erlaß entsprächen, bitte ich darum, mich darauf aufmerksam zu machen. Es gibt bei uns keine Erkenntnisse.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Becker .
Herr Staatsminister, können Sie mir Auskunft darüber geben, ob nicht an jedem Tag bei jeder Vertretung der Bundesrepublik Deutschland im Ausland die Fahne ohnehin gehißt wird?
Möllemann, Staatsminister: Das ist wohl ganz offenkundig nicht so.
Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Lambinus.
Herr Staatsminister, ist die Bundesregierung bereit, ganz im Sinne der Frage des Kollegen Hupka jährlich eine Vollzugsmeldung von allen ausländischen Missionen über die Beflaggung am 17. Juni anzufordern?
Möllemann, Staatsminister: Die Bundesregierung sieht dafür kein Erfordernis.
Meine Damen und Herren — dies geht auch an die Regierungsbank —, wir haben heute die letzte Fragestunde vor den Parlamentsferien. Vielleicht brauchen mit Rücksicht auf die letzte Möglichkeit, daß die noch nicht zum Zuge gekommenen Abgeordneten ihre Fragen anbringen, die Zusatzfragen nicht mehr so intensiv zu sein.
Ich rufe die Frage 45 des Herrn Abgeordneten Toetemeyer auf:
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1036 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983
Vizepräsident StücklenWelche öffentlichen Aufgaben des Auswärtigen Amts wären — die Richtigkeit der Aussage des Vertreters des BND vor dem Verwaltungsgericht Berlin im Verwaltungsgerichtsverfahren VG 19 A 329.82 unterstellt — ernstlich gefährdet worden, wenn dem stellvertretenden Leiter des Referats 510 und dem Leiter der Unterabteilung Verwaltung im Auswärtigen Amt eine Aussagegenehmigung zu der Frage erteilt worden wäre, ob und inwieweit Informationen hinsichtlich politischer Aktivitäten türkischer Staatsangehöriger über deutsche Behörden — insbesondere aus Asylverfahrensakten — gegebenenfalls unter Mitwirkung der Nachrichtendienste türkischer Behörden zur Kenntnis gelangen können, und warum war es nicht möglich, diese Gründe gegenüber dem Verwaltungsgericht näher zu substantiieren?Möllemann, Staatsminister: Herr Kollege Toetemeyer, die als Zeugen benannten Beamten hätten zu dem Beweisthema nichts aussagen können, da das Asylverfahren in Zirndorf sich ohne Kenntnis des Auswärtigen Amts vollzieht.Um die Arbeiten der Gerichte in Asylsachen gleichwohl nach besten Möglichkeiten zu fördern, hat das Auswärtige Amt in diesem Fall — wie in allen ähnlichen Fällen — eine schriftliche Auskunftserteilung angeboten. Das Gericht ist aber auf dieses Anerbieten nicht zurückgekommen.In dem vorliegenden Fall hat das Auswärtige Amt darüber hinaus von sich aus noch die folgende Auskunft erteilt:Generell ist zu sagen, daß das Auswärtige Amt seine Stellungnahmen auf Anforderung des Bundesamts für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge ausschließlich über den Bundesinnenminister an das anfordernde Bundesamt und bei Anfragen grundsätzlicher Bedeutung auch an den Bundesjustizminister mit dem Anheimstellen der Unterrichtung der mit Asylsachen befaßten Verwaltungsgerichte gibt.
Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatsminister, wie beurteilen Sie nach dieser Aussage die Feststellung des Verwaltungsgerichts in der Begründung seines Urteils, daß die beklagte Bundesrepublik Deutschland in der Gestalt des Auswärtigen Amts jegliche nähere Aufklärung der Rolle des Auswärtigen Amts verhindert hat und deswegen diese Art und Weise außerordentlich bedenklich sei — ich zitiere aus der Begründung —, weil jede Substantiierung dieser Begründung seitens des Auswärtigen Amts gefehlt habe?
Möllemann, Staatsminister: Herr Kollege, das Urteil des Verwaltungsgerichts, von dem Sie hier sprechen, ist noch nicht rechtskräftig. Wir gehen davon aus, daß es im Rahmen des angestrebten Berufungsverfahrens möglich sein wird, diese aus unserer Sicht absolut unzutreffende Feststellung zu korrigieren.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe die Frage 46 auf:
Inwieweit beabsichtigt das Auswärtige Amt, Herrn Sternberg-Spohr gegebenenfalls durch ein gerichtliches Widerrufsverfahren zu zwingen, seine Behauptung über das Gespräch mit einem Beamten des Auswärtigen Amts entweder zu beweisen oder zu widerrufen oder wie will das Auswärtige
Amt sonst sicherstellen, daß Verwaltungsgerichte weiterhin auf Grund dieses Gesprächsvermerks davon ausgehen, daß es eine asylbegründende Zusammenarbeit zwischen deutschen und türkischen Behörden bei Asylanträgen türkischer Staatsangehöriger gibt?
Bitte sehr, Herr Staatsminister.
Möllemann, Staatsminister: Wie gesagt, Herr Kollege, das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Darüber hinaus gehen wir davon aus, daß es im Berufungsverfahren möglich sein wird, eine Widerlegung der Behauptungen des Herrn von Sternberg-Spohr herbeizuführen.
Eine Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatsminister, diese Antwort zwingt mich, zu fragen, warum sich das Auswärtige Amt gleichzeitig mit der von Ihnen geschilderten Verweigerung der Aussagegenehmigung während des Gerichtsverfahrens nicht zumindest zu einer schriftlichen Erklärung gegenüber dem Gericht in der Lage gesehen hat, daß das Gedächtnisprotokoll des Herrn von Sternberg-Spohr eine pure Erfindung sei.
Möllemann, Staatsminister: Ich sagte bereits, Herr Kollege, daß das Auswärtige Amt ausdrücklich eine schriftliche Erklärung angeboten hat. Das Problem bestand, wenn ich es an dieser Stelle einmal darlegen darf, darin, daß Herr von Sternberg-Spohr von einer anonymen Person im Auswärtigen Amt gesprochen hat.
Es ist auch für den Bundesminister des Auswärtigen ungewöhnlich schwer, solche Personen ausfindig zu machen, auf die man sich da beruft, und Sachverhalte, die solchen anonymen Personen zugeschrieben werden, zu dementieren oder zu bestätigen. Es läge an dem aussagenden Herrn von Sternberg-Spohr, Roß und Reiter zu nennen; dann könnten wir das klären.
Noch eine Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, stimmen Sie mit mir darin überein, daß den Gerichtsunterlagen, die vollständig in meinem Besitz sind, eine Bestätigung für Ihre Feststellung, daß es eine schriftliche Stellungnahme des Auswärtigen Amts gebe, nicht zu entnehmen ist?
Möllemann, Staatsminister: Ich kann mit Ihnen darin natürlich nicht übereinstimmen, da ich die Unterlagen im Gegensatz zu Ihnen hier nicht habe. Ich kann aber feststellen, daß das Auswärtige Amt dem Gericht eine schriftliche Auskunft angeboten hat.
Keine weiteren Zusatzfragen.Ich rufe die Frage 47 des Herrn Abgeordneten Reents auf:
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Möllemann, Staatsminister: Herr Kollege, der Bundesregierung sind keine Tatsachen bekannt, die die Informationen bestätigen.
Eine Zusatzfrage, bitte.
Ist es gegebenenfalls möglich, Herr Staatsminister, daß es eine solche Unterstützung nicht bei den drei hier genannten Gefängnissen, wohl aber bei anderen Gefängnissen in der Türkei gegeben hat?
Möllemann, Staatsminister: Auch darüber gibt es keinerlei bekannte Tatsachen.
Eine Zusatzfrage.
Ist der Bundesregierung denn bekannt, daß dieser Vorwurf, daß es diese Unterstützung bei der Errichtung dieser Gefängnisse gegeben hat, in der Türkei und auch ansonsten in der demokratischen Öffentlichkeit bereits häufiger erhoben worden ist, und ist von der Bundesregierung irgendwann einmal darauf reagiert worden?
Möllemann, Staatsminister: Zuletzt ist dies der Bundesregierung durch Ihre Frage noch einmal bekanntgeworden. Bei unserer Überprüfung sind keinerlei Tatsachen festgestellt worden, die einen solchen Vorwurf bestätigen würden.
Zu einer Zusatzfrage Frau Abgeordnete Dr. Hamm-Brücher.
Herr Staatsminister, ich möchte Sie fragen, ob die Sache nicht wichtig genug ist, daß sich die Bundesregierung an diese Untersuchungskommission der Fédération Internationale des Droits de l'Homme wendet, um entweder Widerruf oder Auskünfte zu verlangen? Das darf doch nicht so auf sich beruhen bleiben.
Möllemann, Staatsminister: Ich will dieser Anregung gern nachgehen.
Keine weitere Zusatzfragen.
Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft. Zur Beantwortung der Fragen steht uns Herr Parlamentarischer Staatssekretär Grüner zur Verfügung.
Die Frage 74 des Abgeordneten Dr. Steger wird auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 75 des Abgeordneten Reimann auf:
Was hat der Bundeskanzler bis jetzt nach seiner Zusage gegenüber der Belegschaft und der Firmenleitung getan, um den weiteren Erhalt des Aluminiumwerks in Ludwigshafen zu garantieren?
Herr Kollege, wenn Sie erlauben, würde ich Ihre beiden Fragen gern im Zusammenhang beantworten.
Der Fragesteller ist einverstanden. Deshalb rufe ich jetzt auch die Frage 76 des Abgeordneten Reimann auf:Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, um den Fortbestand der qualitativ hochwertigen und arbeitsplatzsichernden Aluminiumhütte für die Zukunft zu sichern, und kann die Firmenschließung zum Frühjahr 1984 verhindert werden?Grüner, Parl. Staatssekretär: Angesichts der wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Alcan-Aluminiumhütte in Ludwigshafen und der Alusuisse-Aluminiumhütte „Rheinfelden" aus Anlaß des Auslaufens ihrer bisherigen Stromlieferungsverträge erteilte im März 1983 der Bundeskanzler dem Bundesminister für Wirtschaft den Auftrag, die Energiepreisstruktur extrem stromintensiver Betriebe in der Bundesrepublik Deutschland zu untersuchen und über das Ergebnis dieser Untersuchung zum nächstmöglichen Zeitpunkt zu berichten.Die vier Primäraluminiumproduzenten Alcan, Alusuisse, Kayser und VAW, legten dazu für ihren Bereich ein Memorandum vor. Auf der Basis dieses Memorandums führte das Wirtschaftsministerium inzwischen Gespräche mit den betroffenen Unternehmen, darunter auch mit Alcan.Das bisherige Ergebnis einer Untersuchung über das Strompreisproblem stromintensiver Produktionen im Bereich der Nichteisen-Metallwirtschaft wird zur Zeit zu einem Bericht zusammengefaßt und soll dem Bundeskanzler in Kürze vorgelegt werden.Das Land Rheinland-Pfalz hat der Alcan-Aluminiumhütte im Einvernehmen mit der Bundesregierung eine auf zwölf Monate befristete Überbrükkungshilfe gewährt. Diese Überbrückungshilfe soll der Alcan-Aluminiumhütte die Gelegenheit geben, ohne Zeitdruck eine Lösung ihrer wirtschaftlichen Probleme zu finden. Der gegenwärtige Stromlieferungsvertrag der Alcan-Hütte Ludwigshafen läuft bis zum 30. September 1984.Aus der Sicht der Bundesregierung müssen die Schwierigkeiten, die für die Alcan-Aluminiumhütte im Zusammenhang mit der Verhandlung eines neuen Stromlieferungsvertrages entstanden sind, als Teil der Gesamtproblematik stromintensiver Produktionen in der Bundesrepublik gesehen werden. Der vom Bundeswirtschaftsministerium erarbeitete Bericht bezieht auch die Problematik der Alcan-Hütte Ludwigshafen mit ein. Wie jedoch der Bundeskanzler in einem Schreiben an den Betriebsrat der Alusuisse-Aluminiumhütte „Rheinfelden" bereits festgestellt hat, kommt eine Subventionierung aus öffentlichen Mitteln zur Lösung der Strompreisproblematik stromintensiver Produktionen nicht in Betracht.
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1038 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983
Eine Zusatzfrage? — Bitte.
Heißt das, Herr Staatssekretär, daß zunächst keinerlei Voraussetzungen bestehen, dem Unternehmen eine definitive Antwort darüber zukommen zu lassen, ob es die Chance hat, nächstes Jahr weiter zu produzieren oder nicht?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Das heißt, Herr Kollege, daß die zugesagte Hilfe für das Unternehmen gewährt wird.
Eine weitere Zusatzfrage.
Die dem Unternehmen zugesagte Hilfe war keine Hilfe, um aus den wirtschaftlichen Schwierigkeiten aus der Sicht des Unternehmens herauszukommen, sondern — dies ist meine konkrete Frage an Sie — eine Übergangshilfe, damit die Bundesregierung oder das zuständige Wirtschaftsministerium Maßnahmen erarbeitet, die die Existenz des Unternehmens im nächsten Jahr gewährleisten.
Grüner, Pari. Staatssekretär: Herr Kollege, das ist nicht richtig. Diese Hilfe war eine Überbrückungshilfe, um dem Unternehmen Gelegenheit zu geben, seine Probleme zu lösen. In diese Überlegungen hat die Bundesregierung im Auftrag des Bundeskanzlers die Untersuchung der Situation vergleichbarer Unternehmen eingeschlossen. Die Schlußfolgerungen, die aus dem Bericht darüber zu ziehen sind, sind noch nicht gezogen. Klar ist nur das eine: daß es keine Subventionierung aus öffentlichen Mitteln für Strompreise geben wird.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Präsident, da meine Fragen zusammen beantwortet werden, habe ich doch sicherlich vier Zusatzfragen.
Sie haben vier Zusatzfragen.
Danke schön. — Bedeutet das, daß der Herr Bundeskanzler seine Zusage, die er im Frühjahr gegenüber den Belegschaften gegeben hat, im Grunde genommen jetzt nicht bestätigen kann, sondern daß er abwarten muß, was aus diesem Memorandum der Aluminiumindustrie und den Maßnahmen, die jetzt eingeleitet sind, wird?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Der Herr Bundeskanzler steht zu der Zusage, die er gegeben hat. Einzelheiten der finanziellen Regelung müssen im Laufe des Jahres zwischen den Beteiligten festgelegt werden.
Eine letzte Zusatzfrage, bitte sehr.
Ist im Rahmen der Überlegungen, die die Bundesregierung anstellt, auch schon die Frage diskutiert worden, das Dritte Verstromungsgesetz zu ändern?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Ich möchte dem Bericht, den wir dem Bundeskanzler vorlegen werden, in keiner Weise vorgreifen, weil es eine Fülle von Überlegungen gibt. Ich sage nur noch einmal: Ich halte die Aussage für entscheidend, daß es keine Subventionierung des Strompreises aus öffentlichen Mitteln geben wird.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Jens.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt , daß sich auch andere Aluminiumunternehmen, z. B. Kayser, im Strompreisverhandlungen befinden, und sind Sie bereit, sich dafür einzusetzen, daß diese anderen Unternehmen möglicherweise auch ähnliche Überbrückungshilfen bekommen, wie sie Alcan gewährt worden sind?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich habe darauf hingewiesen, daß wir dieses Problem im Blick auf alle Betroffenen untersuchen und daß die Schlußfolgerungen, die daraus gezogen werden können, noch nicht zu ziehen sind, weil die Entscheidung über die Untersuchungsergebnisse noch nicht gefallen ist.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe die Frage 77 des Herrn Abgeordneten Gansel auf:
Ober welche Anträge und Genehmigungen nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz hat die Bundesregierung seit dem 1. Oktober 1982 entschieden?
Bitte sehr.
Grüner, Parl. Staatssekretär: Ich bitte, Herr Kollege Gansel, um Verständnis, daß öffentliche Erörterungen von Einzelgenehmigungen zu Rüstungsexporten aus außenpolitischen Gründen und aus Gründen des Schutzes von Geschäftsgeheimnissen nicht möglich sind. Seit dem 1. Oktober 1982 wurden rund 50 Genehmigungen zur Lieferung von Kriegswaffen in Länder außerhalb des NATO-Bereichs erteilt. Darunter waren wenige politisch bedeutsame Vorhaben, die eine Befassung des Bundessicherheitsrates erforderlich machten. Die Entscheidungen wurden nach Abwägung aller hierfür relevanten außen- und sicherheitspolitischen Gesichtspunkte getroffen und stehen im Einklang mit den Grundlinien unserer Rüstungsexportpolitik, wie sie in den rüstungsexportpolitischen Grundsätzen vom 28. April 1982 zum Ausdruck kommen.
Eine Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, habe ich Sie richtig verstanden, daß die Bundesregierung das Geschäftsgeheimnis höher als das Informations- und Kontrollrecht der Bundestagsabgeordneten bewertet,
und sind Sie, wenn Geschäftsinteressen auf demSpiel stehen, wobei eine Abwägung mit vitalen außen- und sicherheitspolitischen Argumenten für die
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983 1039
GanselÖffentlichkeit delikat werden könnte, bereit, die erforderlichen Auskünfte unter „Geheim" im Auswärtigen Ausschuß zu geben?Grüner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Gansel, Sie haben mich mißverstanden. Ich habe die außenpolitischen Rücksichtnahmen hier an die erste Stelle gestellt. Wir sind auf Grund von Gesetzen, die der Deutsche Bundestag verabschiedet hat, auch verpflichtet, geschäftliche Interessen zu berücksichtigen. Wie das auch in früheren Jahren der Fall war und wie hier von mir immer angeboten worden ist, ist die Bundesregierung selbstverständlich bereit, in den zuständigen Ausschüssen, die unter „Geheim" oder anderen Geheimhaltungsgraden tagen, auch weitergehende Auskünfte zu geben.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist es zutreffend, daß der Bundessicherheitsrat nach dem Wechsel der Bundesregierung im Herbst vergangenen Jahres ein Milliarden-Panzergeschäft für Malaysia genehmigt hat, das allerdings offenbar nicht zur Ausführung kommen kann, und welche vitalen Interessen außen- und sicherheitspolitischer Art, unter Berücksichtigung der Bündnisinteressen, haben die Bundesregierung bewogen, diese Genehmigung zu erteilen, obwohl Malaysia nicht im Geltungsbereich der NATO liegt?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich bin auf diese Frage nicht vorbereitet, und ich würde Ihnen die Antwort gern schriftlich geben. Sie müssen verstehen, daß es bei der Fülle der einzelnen Vorhaben nicht möglich ist, aus dem Stand heraus zu einer solchen Behauptung etwa j a oder nein zu sagen. Ich werde schriftlich darauf zurückkommen.
Eine Zusatzfrage, Frau Dr. Hamm-Brücher.
Herr Staatssekretär, Sie nannten, wenn ich das richtig verstanden habe, 50 Projekte, die im Bundessicherheitsrat beschlossen worden sind. Haben sich unter diesen 50 Projekten auch Waffenlieferungen in arabische Länder ergeben, und, wenn ja, in wie vielen Fällen?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, ich möchte auch hier auf die Möglichkeit hinweisen, diese Frage im Auswärtigen Ausschuß oder in anderen zuständigen Ausschüssen zu erörtern. Ich bin aus der Erinnerung heraus nicht in der Lage, hier zu antworten, möchte es aber auch mit Rücksicht auf unsere außenpolitischen Interessen hier nicht tun wollen.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe die Frage 78 des Herrn Abgeordneten Gansel auf:
Beabsichtigt die Bundesregierung eine Änderung der restriktiven Waffenexportpolitik?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Die Grundlinie unserer Rüstungsexportpolitik findet ihren Niederschlag in den politischen Grundsätzen für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern. Dabei legt insbesondere der Kerngedanke, daß Lieferungen in Länder außerhalb der NATO und ihnen gleichgestellte Länder nur ausnahmsweise genehmigt werden können, den Rahmen für Einzelfallentscheidungen fest. Die Bundesregierung sieht daher keine Veranlassung, von den am 28. April 1982 beschlossenen rüstungsexportpolitischen Grundsätzen abzuweichen.
Eine Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, ist es zutreffend, daß in Anbetracht des weiten Interpretationsspielraums dieser Richtlinien die Bundesregierung durch Einzelanweisungen Entscheidungen trifft, und stimmt es in diesem Zusammenhang, daß durch Runderlaß des Auswärtigen Amtes vom 13. Mai 1983 zur Förderung der außenwirtschaftlichen Interessen deutscher Unternehmen durch die Auslandsvertretungen die deutschen Auslandsvertretungen ausdrücklich verpflichtet sind, auch bei Rüstungsgeschäften Akquisitionshilfe zu leisten, und wie verträgt sich dies mit dem in der Regierungserklärung niedergelegten Grundsatz, daß Frieden mit immer weniger Waffen geschaffen werden soll?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich kann nur noch einmal darauf verweisen, daß wir uns an die rüstungsexportpolitischen Grundsätze halten, an deren Formulierung, wie Sie sich erinnern werden, die Fraktionen des Deutschen Bundestages j a beteiligt waren. An diese rüstungsexportpolitischen Grundsätze hält sich die Bundesregierung. Sie trifft in jedem Einzelfall an Hand dieser Richtlinien ihre Entscheidungen. Es kann keine Rede davon sein, daß irgendein Erlaß an irgendeine Stelle etwa die Verantwortung der Bundesregierung für ihre Einzelentscheidungen außer Kraft setzen würde.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, mir schriftlich mitzuteilen, ob das Bundeswirtschaftsministerium an diesem Runderlaß des Auswärtigen Amtes beteiligt war und ob sich dieser in der Tat — wie der Wortlaut nicht ausschließt — auch auf Akquisitionshilfe bei Rüstungsgeschäften in Entwicklungsländern bezieht?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Da ich diesen Runderlaß nicht kenne und ihn deshalb auch nicht bestätigen kann, werde ich Ihnen dazu gern schriftlich eine Äußerung zuleiten.
Eine weitere Zusatzfrage, Frau Dr. Hamm-Brücher.
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1040 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983
Herr Staatssekretär, wenn die Bundesregierung — zu meiner Befriedigung — nicht plant, die Waffenexportbestimmungen zu erweitern, also nicht beabsichtigt, den Waffenexport zu erleichtern, warum tritt sie dann nicht entschiedener und energischer den ständigen Gerüchten und Meldungen darüber entgegen, daß diese Bestimmungen „liberalisiert" werden sollen?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, gegenüber dem — auch absichtlich genährten — Soupçon sind noch so eindeutige Aussagen, wie ich sie hier im Bundestag gemacht habe, machtlos. Deutlicher als mit dem Hinweis auf die verabschiedeten Richtlinien und auf die Absicht der Bundesregierung, sich an diese Richtlinien zu halten, kann eigentlich eine solche Aussage nicht gemacht werden.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Hirsch.
Herr Staatssekretär, ist denn das Volumen der deutschen Rüstungsexporte in Länder außerhalb der NATO seit der Verabschiedung der Richtlinien durch das Kabinett nach Menge und Wert gestiegen oder nicht?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich kann Ihnen darauf keine Antwort geben, weil mir selbstverständlich dafür die Zahlen fehlen. Man müßte den Bezugszeitraum angeben, und man müßte auch die Fülle der Zufälligkeiten, die es bei einer solchen Frage gibt, ausschalten. Auch darauf werde ich gern schriftlich zurückkommen.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe Frage 79 der Abgeordneten Frau Dr. Hamm-Brücher auf:
Bestehen in der Bundesregierung Überlegungen für einen verstärkten Rüstungsexport nach Saudi-Arabien?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Wenn Sie erlauben, Frau Kollegin, würde ich gern beide Fragen zusammen beantworten.
Gerne!
Dann rufe ich zusätzlich Frage 80 der Abgeordneten Frau Dr. Hamm-Brücher auf:
Bestehen insbesondere Überlegungen zur Lieferung von Leopard-II-Panzern nach Saudi-Arabien?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Mitgliedern der Bundesregierung ist aus Kontakten in der letzten Zeit bekannt, daß Saudi-Arabien nach wie vor an entsprechenden Lieferungen interessiert ist. Die Bundesregierung hat sich damit noch nicht befaßt.
Eine Zusatzfrage, bitte.
Hat Graf Lambsdorff bei seinem letzten Besuch in Saudi-Arabien über diese Frage gesprochen, und weshalb sind Verlautbarungen an die Presse gegangen, daß offenbar
bei der jetzigen Bundesregierung eine positivere Einstellung als bei der früheren vorhanden ist?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Solche Verlautbarungen können nur Spekulation sein, da eine positive Einschätzung ja auf einen Beschluß der Bundesregierung zurückgehen müßte. Ein solcher Beschluß existiert nicht; die Bundesregierung hat sich mit diesem Thema nicht befaßt. Eine solche Meldung ist also durchaus unzutreffend.
Im übrigen möchte ich hier nicht Einzelgespräche, die Mitglieder der Bundesregierung geführt haben, kommentieren, und ich möchte auch nicht auf ihren Inhalt eingehen. Das eignet sich mit Sicherheit nicht für eine öffentliche Debatte, denn sonst würden vertrauliche Gespräche zwischen Staatsmännern — auf welchem Gebiet auch immer — nicht mehr geführt werden können.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, liegt eine konkrete Anfrage oder ein Antrag seitens der saudiarabischen Regierung zur Lieferung von Leopard-Il-Panzern nach Saudi-Arabien vor?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Nein.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Gansel.
Herr Staatssekretär, wird sich die Bundesregierung mit der Problematik des Panzerexports nach Saudi-Arabien vor oder nach dem Besuch des Bundeskanzlers in Israel beschäftigen?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Wenn die Bundesregierung sich damit überhaupt beschäftigen sollte, was ja einen entsprechenden Antrag voraussetzt, wird das sicher erst nach dem Besuch des Bundeskanzlers in Israel und in Saudi-Arabien der Fall sein. Ich bitte aber, hinzufügen zu dürfen, daß das alles Spekulationen sind und daß ich hier nur eine Wahrscheinlichkeit wiedergeben kann.
Eine weitere Zusatzfrage? Die Fragestellerin hat noch eine Frage.
Ich glaube, ich habe noch zwei Fragen.
Ja, Sie haben noch zwei Fragen.
Herr Staatssekretär, was wird denn der Herr Bundeskanzler bei seinem Besuch in Israel auf entsprechende Fragen antworten, wenn er nach möglichen Waffenexporten nach Saudi-Arabien gefragt wird?Grüner, Parl. Staatssekretär: Das kann ich Ihnen nicht sagen, Frau Kollegin, weil dieses Gespräch noch nicht stattgefunden hat. —
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983 1041
Eine weitere Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Zutt.
Herr Staatssekretär, liegen der Bundesregierung Wünsche nach Waffenkäufen von anderen arabischen Staaten am Golf vor?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, es liegen keine konkreten Wünsche vor. Es werden viele Gespräche geführt. In diesem Bereich ist es üblich, daß die Möglichkeit einer Genehmigung von Exporten in internen vertraulichen Gesprächen, lange bevor ein solcher Antrag überhaupt gestellt wird, erörtert wird. Das liegt auch im außenpolitischen Interesse der Bundesrepublik und der beteiligten Länder.
Ich betone, daß die intensive Diskussion dieser Frage uns auch außenpolitisch Probleme beschert, so daß ich wirklich vorschlagen würde, das Interesse an der Haltung der Bundesregierung in die dafür zuständigen Ausschüsse zu verlegen.
Eine weitere Zusatzfrage, bitte.
Ist ein Teil der seit dem 1. Oktober erteilten 50 Genehmigungen auch für Länder am Golf ergangen?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Ich habe keine Unterlagen betreffend Ihre Frage zur Hand und würde gerne schriftlich antworten.
Eine weitere Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Schwenninger.
Hat die Bundesregierung den Export von Teilen der Feldhaubitze 155/1, NATO-Bezeichnung FH 70, aus der Bundesrepublik nach Saudi-Arabien genehmigt, und erfolgte die Lieferung, wie der „Spiegel" in Nr. 24/83 berichtet, über Großbritannien?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich bin kein Akrobat und habe die Akten nicht im Gedächtnis.
— Aber Sie haben die Möglichkeit, hier aus einer Meldung zu zitieren. Ich werde schriftlich antworten.
Eine weitere Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Hamm-Brücher. Es ist die letzte.
Ich bin mir dessen bewußt.
Herr Staatssekretär, wäre es, wenn man an die bedrohlicher werdenden kriegerischen Auseinandersetzungen im Nahen Osten denkt, nicht wirklich erwägenswert, in diese brisante Region der Welt überhaupt keine Waffenexporte mehr vorzunehmen?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, ich erinnere an die intensiven Diskussionen, die wir im Parlament über diese Frage gehabt haben, als die rüstungsexportpolitischen Grundsätze formuliert wurden. Wir sind massiv daran interessiert, auch die außenpolitischen Interessen so bedeutender Staaten wie der Golfstaaten in diesen Diskussionen zu berücksichtigen. Ich meine, daß das, was in unseren rüstungsexportpolitischen Grundsätzen niedergelegt worden ist, auch der Abwägung entspricht, die damals vom Parlament mitgetragen worden ist.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Hirsch.
Herr Staatssekretär, Sie haben die Frage der Frau Kollegin Hamm-Brücher, ob Anträge der saudischen Regierung vorliegen, verneint. Darf ich fragen, ob Anfragen oder Anträge der entsprechenden deutschen Unternehmen vorliegen?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Ich würde gerne auch darauf schriftlich antworten, möchte allerdings sagen, daß es nach meinem Kenntnisstand nicht der Fall ist.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Schily.
Ist der Bundesregierung etwas darüber bekannt, ob bei der Anbahnung oder der möglichen Abwicklung der in der Frage genannten Geschäfte Provisionen an Privatpersonen oder an Privatunternehmen vorgesehen sind?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Nein, darüber ist der Bundesregierung nichts bekannt, zumal es solche Geschäftsanbahnungen nach Kenntnis der Bundesregierung nicht gibt.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Gansel.
Herr Staatssekretär, kann ich Ihre Äußerung zusammenfassend als Dementi der Meldung der Tageszeitung „Die Welt" verstehen, in der es hieß — ich zitiere mit Genehmigung des Herrn Präsidenten —, daß die Frage des Rüstungsexports nach Saudi-Arabien von Bundeskanzler Kohl im vertraulichen Gespräch mit den Parteivorsitzenden Strauß und Genscher festgelegt werden soll?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, Sie können aus meinen Antworten nur die Schlußfolgerungen ziehen, die diese Antworten zulassen. Dieses Thema war nicht Gegenstand der Anfrage. Deshalb möchte ich auch keine Schlußfolgerungen von Ihnen daraus gezogen haben.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Voigt.
Herr Staatssekretär, hängt es mit einer möglichen neuen Rüstungsexportpolitikpraxis zusammen, daß im Gegensatz zu der unter der sozialliberalen Koalition vereinbarten
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1042 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983
Voigt
Regelung bisher keine Vertreter der Fraktionen zu solchen Entscheidungen oder vor solchen Entscheidungen im Bundessicherheitsrat oder im Vorfeld des Bundessicherheitsrates hinzugezogen worden sind?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Nein, das ist nicht der Fall.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe Frage 81 der Frau Abgeordneten Nickels auf:
Für welche der in Teil I Abschnitt C der Ausfuhrliste — Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung — aufgeführten Warennummern werden von der Bundesregierung Ausfuhrgenehmigungen für Südafrika erteilt, und für welche dort aufgeführten Warennummern werden solche Genehmigungen nicht erteilt?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Grüner, Parl. Staatssekretär: Für alle Waren des Teils I Abschnitt C der Ausfuhrliste, Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung, die unter das Embargo des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen fallen, d. h. für militärische Ausrüstungen, paramilitärische Polizeiausrüstungen und Ersatzteile hierfür, werden Ausfuhrgenehmigungen nicht erteilt.
Eine Beantwortung Ihrer Frage durch Nennung einzelner Warennummern ist nicht möglich, da diese häufig sowohl Waren für militärische Zwecke als auch zivile Waren beinhalten. Die Entscheidung, ob eine für Südafrika bestimmte Ware unter das Embargo der Vereinten Nationen fällt, eine Genehmigung also versagt werden muß, kann erst nach genauer Prüfung dazu erforderlicher Unterlagen durch Fachleute der Genehmigungsbehörde, gegebenenfalls des Bundesministers der Verteidigung oder sogar durch Prüfung vor Ort getroffen werden.
Eine Zusatzfrage, bitte.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Staatssekretär, ist es richtig, daß Südafrika in Angola militärischen Sprengstoff aus der Bundesrepublik eingesetzt hat, obwohl dieses Material ebenfalls unter die Ausfuhrbeschränkung fällt, ebenso wie Maschinen zur Erzeugung militärischen Sprengstoffes?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, ich kann nur noch einmal betonen, daß es keine Ausfuhr von Waren nach Südafrika gegeben hat, die dem Sperrvermerk der Vereinten Nationen unterliegen.
Eine weitere Zusatzfrage, bitte.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Staatssekretär, ist der Bundesregierung bekannt, daß bundesdeutsche Firmen in Südafrika militärische Güter herstellen, und hat beispielsweise VW die Genehmigung, in Südafrika Militärjeeps zu bauen?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, ich kann nur noch einmal bestätigen, daß die Bundesregierung alle Entscheidungen, die die Vereinten Nationen in dieser Frage getroffen haben, streng beachtet.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Schwenninger.
Wie erklärt sich die Bundesregierung die Tatsache, Herr Staatssekretär, daß die Bundesrepublik Deutschland zum wiederholten Male wegen ihrer militärischen und nuklearen Zusammenarbeit mit Südafrika von afrikanischen Staaten, auch jetzt von der OAU, verurteilt worden ist?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Es gibt eine Kampagne in dieser Frage. Ich betone, daß sich alle diese Meldungen, die periodisch wiederkehren, bei der Untersuchung auf ihren Wahrheitsgehalt als nicht richtig erwiesen haben.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Gansel.
Herr Staatssekretär, da die Vokabel „Kampagne" in diesem Zusammenhang ja nicht gerade wohlmeinend ist, möchte ich Sie fragen, ob Sie so etwas nicht erwarten und für normal halten müssen in Anbetracht der Antworten, die Sie uns heute im Namen der Bundesregierung zu anderen Waffenexporten, nach denen gefragt worden ist, haben geben müssen.
Grüner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich habe volles Verständnis für die kritische Aufmerksamkeit, die diesen Fragen in der Öffentlichkeit zugewandt wird. Ich teile die Meinung, daß sie berechtigt ist. Ich habe das Wort „Kampagne" nicht abwertend gemeint. Ich bin Wahlkämpfer wie Sie, und ich spreche auch von „Wahlkampagne".
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe die letzte Frage noch auf, wenn sie mit einer kurzen Antwort erledigt werden kann. Es ist die Frage 82 des Herrn Abgeordneten Schwenninger.
Grüner, Parl. Staatssekretär: Herr Präsident, es sind zwei Fragen, und sie sind leider nicht in Kürze abzuhandeln.
20 Sekunden!
Grüner, Parl. Staatssekretär: Soll ich?
Bieten Sie an: Die Frage wird schriftlich beantwortet.
Herr Abgeordneter Schwenninger, sind Sie einverstanden?
Wie lange würde es dauern? Wir haben j a noch zwei Minuten Zeit.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983 1043
I Vizepräsident Stücklen: Nein. Wir haben nur noch13 Sekunden. Es hat keinen Sinn mehr. Wir müssen pünktlich mit der Fragestunde schließen; sonst halten wir unseren Zeitplan nicht ein.Die Fragestunde ist geschlossen.Leider muß eine größere Zahl von Fragen schriftlich beantwortet werden, da eine Fragestunde vor den Parlamentsferien nicht mehr vorgesehen ist.Wir fahren in der Tagesordnung fort. Ich rufe Zusatzpunkt 1 auf:Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Entlassung des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit— Drucksache 10/178 —Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Schmude.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Sozialdemokratische Bundestagsfraktion hat Ihnen heute folgenden Antrag vorgelegt:Der Bundestag wolle beschließen:Der Bundeskanzler wird aufgefordert, gemäß Artikel 64 GG dem Bundespräsidenten den Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit, Dr. Heiner Geißler, zur Entlassung vorzuschlagen.
In der Geschichte des Deutschen Bundestages ist ein solcher Antrag außerordentlich selten gestellt worden. In 34 Jahren hat es nur fünf derartige Anträge gegeben. Nur drei sind durch Abstimmung hier erledigt worden.Wie sich schon aus dieser seltenen Praxis zeigt, akzeptiert es der Bundestag als Regel, daß der von ihm gewählte Bundeskanzler nach eigenem Ermessen die Mitglieder seines Kabinetts zur Ernennung wie zur Entlassung vorschlägt. Stets war aber auch unbestritten, daß es von dieser Regel Ausnahmen geben muß, wenn im Einzelfall gewichtige Gründe dafür sprechen, daß ein Minister bei Fortbestand des Kabinetts im übrigen entlassen wird.Nach sorgfältiger Erwägung und auch unter Berücksichtigung der heutigen Stellungnahme des Bundeskanzlers sind wir zu der Überzeugung gelangt, daß das Verhalten des Bundesministers Dr. Geißler in der Plenarsitzung .des Bundestages am 15. Juni 1983 seine sofortige Entlassung aus dem Ministeramt erforderlich macht.
In jener Sitzung hat Herr Dr. Geißler mit seiner heute schon verlesenen Äußerung in einer bisher für den Bundestag einmaligen Weise die historische Wahrheit über die Verantwortung für den vom nationalsozialistischen Staat betriebenen organisierten Massenmord an jüdischen Menschen verbogen. Das allgemeine Rechtsempfinden und zugleich das Andenken namhafter Opfer des nationalsozialistischen Mordregimes hat Dr. Geißler mit seiner Äußerung empfindlich gekränkt, indem er ihnen, den Opfern, Mitverantwortung an ihrem Schicksal zugewiesen hat.In die aktuelle innenpolitische Auseinandersetzung über die richtige Friedens- und Verteidigungspolitik hat er gleichzeitig einen Kampfbegriff eingeführt, der Gehässigkeit und Intoleranz gegenüber der Friedensbewegung und den Pazifisten in der Bundesrepublik Deutschland auszulösen geeignet und offenbar auch bestimmt ist.
Dem gegenwärtigen und noch verstärkt zu erwartenden demokratischen Meinungsstreit um die Friedenssicherung hat Dr. Geißler mit seiner Äußerung schweren Schaden zugefügt.
Er hat nachträglich verschiedene Versuche unternommen, diese Äußerung zu erklären. Sein widersprüchliches Bemühen, die Aussage abzuschwächen und sie zugleich in ihrem Kern zu bekräftigen, schafft aber weder Klarheit noch kann es seinen ungeheuerlichen Fehlgriff rückgängig machen.
Festzuhalten bleibt, daß Herr Geißler in seiner Plenarrede vom 15. Juni 1983 bewußt nach einer Antwort auf den Vorwurf gesucht hat, mit der Verteidigung durch atomare Abschreckung würde eine neue Massenvernichtung nach Auschwitz vorbereitet. Ich sage bei dieser Gelegenheit zur Klarstellung: Auch wir Sozialdemokraten verwahren uns gegen diese Gedankenverbindung.
Sie verzerrt die Fragen, um die gegenwärtig gerungen wird, und sie verstellt den Blick auf das ganze Ausmaß des mörderischen Verbrechens, das mit Namen wie Auschwitz gekennzeichnet wird.Wer aber die Behauptung eines solchen Zusammenhangs als „Verwirrung der Begriffe und Geister" zurückweist, darf sich nicht selbst zu einer Erwiderung versteigen, die solche Verwirrung in noch schlimmerem Maße schafft.
Den Pazifismus der 30er Jahre in irgendeinen ursächlichen Zusammenhang mit Rassenhaß und Massenmord zu bringen, ist unter jedem denkbaren Gesichtspunkt abwegig und auch verwerflich.
Genau das aber hat Herr Geißler getan. Seine Behauptung, dieser Pazifismus habe Auschwitz erst möglich gemacht, muß in der Tat so verstanden werden, wie mein Fraktionskollege Waltemathe in seinem Brief an Herrn Geißler es mit der Frage formuliert hat, ob es denn wirklich Auschwitz nicht gegeben hätte, wenn es keinen Pazifismus gegeben hätte.1044 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983Dr. SchmudeSie, meine Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, werden inzwischen begriffen haben, daß die Empörung über diese Äußerung keine Augenblickssache und auch nicht Ausdruck besonderer Mißgunst der Opposition in bezug auf Herrn Geißler ist.Unter allen nachträglichen Erklärungsversuchen des Herrn Geißler ist derjenige besonders wenig glaubhaft, mit dem er die Verantwortung für den Massenmord allein bei anderen festhalten, den Pazifisten aber nur vorwerfen will, daß sie ihn möglich gemacht hätten. Wer etwas möglich macht, trägt Mitverantwortung, und das ist doch auch die eindeutige Zielrichtung dieser Aussage.
Wir nehmen zur Kenntnis, daß Herr Geißler den entstandenen Eindruck dadurch abzuschwächen versucht, daß er die deutschen Pazifisten nachträglich von seinem Vorwurf ausnimmt und ihn gegen den Pazifismus in anderen Ländern richtet. Ob ihm das angesichts seiner bewußt zugespitzten Pauschalbeschimpfung gelingt, ist zweifelhaft, besser aber wird die Sache dadurch nicht.
Zum politisch-historischen Hintergrund verweise ich auf die Debatte von heute vormittag.Mit der Verlagerung der Verantwortung in das Ausland kann Herr Geißler nur zusätzlichen Schaden anrichten.
Auch dort trifft sein Vorwurf doch viele, die während des Krieges die Opfer des mörderischen Rassenwahns geworden sind. Und auch ihnen gegenüber ist richtig, was Herr Dregger vorgestern in seiner Fraktion zur Verteidigung Geißlers gesagt hat. Zu behaupten oder anzudeuten, die Pazifisten seien mitverantwortlich für Auschwitz, das wäre auch allzu blödsinnig, haben Sie, Herr Dregger, mit Recht gesagt. Sie meinen, Herr Geißler hätte das auch gar nicht getan. Aber was sonst soll die Behauptung ausdrücken, der Pazifismus habe Auschwitz erst möglich gemacht, als eben diesen Vorwurf der Mitverantwortung!Wie wir wissen, geht es Herrn Geißler in erster Linie gar nicht um die Vergangenheit. Den heutigen Pazifismus, die heutige Friedensbewegung will er gerade jetzt mit seinem maßlosen Vorwurf treffen.
In die Auseinandersetzung dieses Jahres um den NATO-Doppelbeschluß zielt seine kämpferische Sprache. Uns allen, meine Damen und Herren, muß daran liegen, daß wir diese Phase der Auseinandersetzung bewältigen, ohne unsere Demokratie dabei zu beschädigen.Mehr unfreiwillig als aus besserer Einsicht hat die Bundesregierung immerhin schon darauf verzichtet,
in diese Auseinandersetzung als erstes ein verschärftes Demonstrationsstrafrecht einzubringen und damit zur Konfrontation, statt zu deren Überwindung beizutragen.
Im sprachlichen Bereich scheint Herr Geißler das allerdings durch Kampfbegriffe ausgleichen zu wollen, die die Friedensbewegung diffamieren und Stichworte für gehässigen und intoleranten Umgang mit ihr liefern sollen.
Da mag er sagen, er bestreite ihr die moralische Position nicht. Wer Friedensbewegung und heutigen Pazifismus aber gleichzeitig beschuldigt, von jener Art zu sein, die Krieg und Massenmord möglich macht, der macht seine Beschimpfung dadurch nicht leichter, daß er den Beschuldigten zubilligt, sie handelten nicht mit der Absicht solcher bösen Folgen.Nun liegt die Äußerung des Herrn Geißler eine Woche zurück. Er hatte Gelegenheit, sie zu überdenken und zurückzunehmen. Einer seiner Amtskollegen in der jetzigen Bundesregierung hätte ihm dabei Vorbild sein können. Es war ja auch eine unzulässige und schlimme Vereinfachung, mit der Norbert Blüm 1978 formulierte, es mache nur einen graduellen Unterschied aus, ob einer im KZ Hitler gedient habe oder an der Front. Blüm hat damals die Wirkung seiner Sätze nachträglich bedacht und begriffen, daß die meisten Leser sie als moralische Gleichsetzung der Soldaten mit KZ-Bewachern verstehen mußten. In klarer Sprache formulierte er damals die Folgerung: „Das war nie meine Meinung. Deshalb will ich die Sätze nicht aufrechterhalten. Ich bedauere, daß ich die Gefühle vieler Menschen verletzt habe."
Ich sage: Herr Geißler, nehmen Sie sich bitte daran hier und jetzt ein Beispiel!
Nehmen Sie Ihre Äußerung ohne Vorbehalt und Ausflucht zurück! Sprechen Sie das eine zusätzliche Wort, dessen Ausbleiben Herr Mischnick heute vormittag mit Recht bedauert hat.Herr Mischnick hat ja auch in der Debatte am 15. Juni gesagt — zu dieser Äußerung —, er könne nur bitten, daß die Chance, die in der Vereinfachung liege, damit eine Schlagzeile zu bekommen, gerade bei so sensiblen Dingen, wie sie hier Gegenstand der Auseinandersetzung waren, nicht genutzt wird. Und mit Recht hat er dabei auf die eiskalte Logik Geißlers verwiesen, die dem Tatbestand in keiner Weise gerecht werde. In der Tat, die eiskalte Logik eines Technokraten des politischen Kampfes war am Werke. Sie hat nicht nach Schaden und Gefahr, sie hat allein nach dem bezweckten Erfolg gefragt.
Solche Grundeinstellung ist schon bei einem Parteifunktionär in einem demokratischen Staat unak-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983 1045
Dr. Schmudezeptabel, bei einem Bundesminister, der unmittelbar über Wohl und Wehe des Staates und seiner Bürger mitzuentscheiden und dabei Macht auszuüben hat, ist solche Bedenkenlosigkeit und Schrankenlosigkeit das Anzeichen hoher Gefahr.
Ein Mann, in dessen Handeln sich der politische Kampf verselbständigt, ist als Bundesminister nicht tragbar.
Herr Bundeskanzler, ich habe zur Kenntnis genommen, daß Sie auch in schwieriger Zeit zu Ihrem Freund Heiner Geißler stehen.
Dafür habe ich Verständnis, ja, ich will Ihnen meine Sympathie für Ihre persönliche Haltung nicht verhehlen. Aber das gilt eben nur für den persönlichen Bereich. Für den Staat, für unsere demokratische Ordnung ist die Freundschaft eines Bundeskanzlers, die einen entlassungsreifen Bundesminister im Amt hält, zu kostspielig.
Herr Bundeskanzler, Sie verweisen auf Ihre 25jährige Verbundenheit mit Herrn Geißler, auf seinen immer wieder leidenschaftlichen Kampf, mit dem er auch seinen eigenen Freunden oft unbequem geworden ist. Wir wissen das, und wir selbst versagen ihm nicht den Respekt für Tüchtigkeit, Engagement und bewiesenen Mut. Er bietet uns wahrlich kein Feindbild. Aber unser Gefühl der persönlichen Achtung — trotz politischer Gegnerschaft — wird in letzter Zeit überlagert von dem Erschrekken darüber, wohin sich dieser Mann in Situationen verrennt, die er als bedrängend empfindet, und welchen Schaden er dabei hemmungslos anrichtet.
In schlimmer Weise ist sein Verhalten, wie seit langem kaum ein anderes, geeignet, die Berechtigung jener Warnung Herbert Wehners zu unterstreichen, die er uns in den Worten Kurt Schumachers viele Male wie folgt nahegebracht hat:Demokratie beruht auf den Prinzipien Gegenseitigkeit und Ehrlichkeit. Die Demokratie kann nur leben, wenn die Menschen selbständig sind und den Willen zur Objektivität haben. Aber die technokratische und geradezu kriegswissenschaftliche Handhabung der politischen Mittel führt zum Gegenteil.
Meine Damen und Herren, der Schaden, den unsere Demokratie durch das Verhalten des Bundesministers Dr. Geißler erlitten hat, ist groß genug. Seinem weiteren Anwachsen muß durch die Entlassung Geißlers aus dem Ministeramt vorgebeugt werden.
Herr Präsident, noch ein Wort zur Verfahrensweise. Es genügt nicht, den Minister wegen seiner sogenannten Entgleisung zu rügen, wie das aus verschiedenen politischen Richtungen inzwischen erfolgt ist. Nachdem er die Rücknahme seiner Äußerung verweigert, müssen die, die ihn getadelt und vergeblich zur Selbstkorrektur aufgefordert haben, nun auch die weitergehende Konsequenz ziehen.
Um das für jeden Abgeordneten des Deutschen Bundestages zu gewährleisten, beantragt die Fraktion der SPD die namentliche Abstimmung.
Das Wort hat der Kollege Dr. Schäuble.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die CDU/CSU-Fraktion lehnt den Antrag der SPD ab.
Wir haben aus den Reden von Herrn Vogel, von Herrn Brandt und auch von Herrn Schmude zur Kenntnis genommen, daß es Ihnen nicht um die inhaltliche Klärung einer mißverstandenen Äußerung geht.
Es geht Ihnen darum, einen politisch unbequemen Mann fertigzumachen.
Und Sie haben heute wieder den ebenso untauglichen wie unanständigen Versuch gemacht, die Union in eine rechte Ecke zu rücken.
Wenn es Ihnen, meine Damen und Herren von der Sozialdemokratie, um die geschichtliche Wahrheit ginge, dann hätten Sie das Thema anders anfassen müssen.
Alfred Dregger hat schon in der vergangenen Woche darauf hingewiesen, daß Heiner Geißlers Äußerung eigentlich gar nicht mißverstanden werden konnte.
Heiner Geißler selbst — der Bundeskanzler hat heute morgen darauf hingewiesen — hat in seinem Brief an den Kollegen Waltemathe öffentlich klargestellt, daß er niemanden und schon gar nicht die
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Dr. Schäuble
Opfer der Nazi-Barbarei verletzen wollte und daß es ihm leid tue, wenn er, gegen seine Absicht, doch jemanden in seinen persönlichen Gefühlen verletzt haben sollte.
Zur Sache selbst möchte ich zunächst einmal „Meyers Enzyklopädisches Lexikon" zitieren — wenn Sie die Güte haben.
— Ja, ich denke, es geht Ihnen um die Sache. Dann hören Sie doch einmal zu.
Da heißt es also: Pazifismus ,
Bez. für eine aus verschiedenen Weltanschauungen christl., humanist. und idealist. Herkunft entwickelte Grundhaltung, die bedingungslose Friedensbereitschaft fordert, jede Gewaltanwendung kompromißlos ablehnt und damit in letzter Konsequenz zur Kriegsdienstverweigerung führt ...
Dann wird fortgefahren:
Den großen Verdiensten des P. um die Förderung internat. Rechtsordnungen zur Verhütung, Eindämmung und Überwindung internat. Konflikte wie zur Anerkennung des individuellen Rechts zur Kriegsdienstverweigerung steht andererseits die Tatsache gegenüber, das pazifist. Grundströmungen, wie in den 30er Jahren in Großbritannien und in Frankreich, die westl. Demokratien in ihrer Verteidigungsbereitschaft gegenüber der Macht- und Gewaltpolitik Hitlers erhebl. beeinträchtigten.
Dieser historische Zusammenhang ist doch im Ernst nicht mehr bestritten.
Zwei Wochen vor dem Münchner Abkommen schrieb der Theologe Karl Barth — Herr Schmude, das müßte Sie j a bewegen — an den tschechischen Professor Hromádka in Prag — ich zitiere —:
Ist denn die ganze Welt unter den Bann des großen Blickes der Riesenschlange geraten? Muß sich der Pazifismus der Nachkriegszeit nun wirklich in einer so schrecklichen Lähmung aller und jeder Entschlußkraft auswirken?
Und Klaus Mann, der in der DDR so gefeiert worden ist, schrieb in seinem Lebensbericht „Der Wendepunkt":
Warum wurde der Krieg unvermeidlich? Als ob wir es nicht wüßten! Weil die Demokratien dem Faschismus Vorschub leisteten, sei es aus mißverstandenem „Pazifismus", sei es aus weniger vornehmen Motiven.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schmude?
Nein, Herr Präsident, ich möchte die Ausführungen im Zusammenhang vortragen. Wir haben aus den Erfahrungen der letzten Woche gelernt, wie man versuchen kann, den Vortrag von zusammenhängenden Gedanken systematisch zu verhindern.
Ich will Ihnen weitere Zitate und Belegstellen ersparen, obwohl man das stundenlang fortsetzen könnte. Es ist doch ganz unstreitig: Die Schwächung der Abwehrbereitschaft der westlichen Demokratien gegenüber dem Nazi-Regime führte zur Fehleinschätzung Hitlers und wurde somit eine Ursache — wohlgemerkt: eine von vielen Ursachen — dafür, daß ein verbrecherisches System den Krieg begann und daß damit auch die Vernichtung aller Werte der Menschlichkeit bis hin nach Auschwitz auf den Gipfel getrieben wurde.
Das alles nimmt nichts von der Schuld der Nazis, dem Schrecken ihrer Verbrechen und von dem Respekt vor den Opfern der dunkelsten Stunden deutscher Geschichte weg. Der Bundespräsident hat in seiner bewegenden Rede zum Tag der deutschen Einheit am vergangenen Freitag hier gesagt, daß wir auch diesen Teil unserer Geschichte aus unserem Gedächtnis nicht löschen können, daß auch das Teil des deutschen Schicksals ist.
Deshalb müssen wir alle sorgsam und wahrhaftig gerade mit diesem Teil unserer Geschichte umgehen.Nun haben Teile der sogenannten Friedensbewegung
versucht, den Begriff des „atomaren Auschwitz" in die politische Diskussion einzuführen. Mit diesem politisch-moralischen Kampfbegriff soll die psychische Widerstandskraft des freien Westens geschwächt werden. Dem treten wir entgegen.
Die Mitglieder der sozialdemokratischen Fraktion müssen sich fragen lassen, warum sie sich nicht empören, wenn Mitglieder der Fraktion DIE GRÜNEN die von der Regierung Schmidt formulierte, von damals mitgetragene und heute weitergeführte gemeinsame Sicherheitspolitik öffentlich auf eine Stufe mit den Massenmorden von Auschwitz stellen.
Der Abgeordnete Fischer hat in einem „Spiegel"Interview wörtlich gesagt — ich zitiere, obwohl es mir schwerfällt; aber ich glaube, es muß noch einmal vorgetragen werden —:
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983 1047
Dr. SchäubleAber ich finde doch moralisch erschreckend, daß es offensichtlich in der Systemlogik der Moderne, auch nach Auschwitz, noch nicht tabu ist, weiter Massenvernichtung vorzubereiten — diesmal nicht entlang der Rassenideologie, sondern entlang des Ost-West-Konflikts.
Hier wird doch in Wahrheit mit den Opfern der Nazi-Verbrechen Schindluder getrieben. Dagegen wehren wir uns.
Dagegen sollten sich alle Demokraten wehren.
Wir lassen nicht zu, daß die geschichtliche Wahrheit verfälscht wird und daß man Begriffe und ihre Inhalte zum Zwecke des politischen Kampfes verbiegt.Die Sozialdemokraten setzen dem allen die Krone auf, wenn sie wieder und absichtsvoll versuchen, die Union in die Nähe der Nationalsozialisten zu rücken.
Herr Ehmke hat am 15. Juni 1983 von dieser Stelle aus gesagt — ich zitiere wörtlich aus dem Protokoll —:Auschwitz möglich gemacht hat die deutsche Rechte in Weimar, die Hitler in den Sattel geholfen hat.
Wenn Sie sich bei dem folgenden Satz genauso heftig schämen, wie Sie eben geklatscht haben, ist es gut, dann ist alles in Ordnung. Herr Ehmke fuhr nämlich fort:Wenn irgend etwas an der Geißler-Rede interessant war, dann war es dies, daß sie noch einmal unterstrichen hat, welche Verbindung es noch heute zwischen dieser Tradition der deutschen Rechten und Teilen der Unionsparteien gibt.
— Wir sind weit gekommen, meine Damen und Herren von der SPD, wenn Sie zu diesen Äußerungen noch applaudieren.Herr Vogel hat laut einer dpa-Meldung vom 21. Juni — das ist zwei Tage her — die Äußerung Geißlers von Journalisten in einen Zusammenhang mit besorgniserregenden Presseberichten über neonazistische Aktivitäten gestellt.
In Ihrer Rede heute morgen, Herr Vogel, haben Sie das halb zurückgenommen, nämlich zur PersonGeißlers, aber Sie haben es dann im nächsten Satz wieder aufgenommen für die Union insgesamt.
— In Ihrer Rede heute morgen. Sie werden j a noch wissen, was Sie gesagt haben.Meine Damen und Herren von der SPD, Sie zerstören jede Gemeinsamkeit in diesem Hause, und Sie schaden dem inneren Frieden in diesem Land, wenn Sie nicht endlich von dieser politischen Brunnenvergiftung lassen.
Der Bundeskanzler Helmut Kohl hat heute morgen schon gesagt: Der Gedanke der Union ist in den Konzentrationslagern des Dritten Reiches entstanden. Unsere Väter damals und wir selbst heute haben geschworen, daß wir das niemals wieder zulassen werden, daß Freiheit und Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Unter diesem Gesetz sind wir angetreten, und diesem Gesetz bleiben wir treu.Ich denke, daß auch die Sozialdemokraten sich diesem Gesetz verpflichtet wissen. Darin gründet sich die Gemeinsamkeit der Demokraten, an die ich appelliere. Lassen wir alle ab von dem Versuch, aus kurzsichtigem Opportunitätsdenken unser Volk zu spalten und unsere Gemeinsamkeit in Grundfragen zu zerstören!
Herr Waltemathe, Sie wissen, daß die Hand, die mit einem Finger auf einen anderen zeigt, mit vier Fingern auf einen selbst zurückzeigt.
Seien Sie vorsichtig, hüten Sie sich!
Wenn diese Debatte einen Sinn haben soll, dann doch wohl den, daß wir uns unserer gemeinsamen Verantwortung für den Frieden — den inneren wie den äußeren — erneut klar werden.
— Herr Ehmke, mit Ihnen fällt es manchmal auch schwer; ich weiß das schon. Damit habe ich lange Erfahrungen.
Gleichwohl: Wir müssen mit aller Leidenschaft über den richtigen Weg streiten. Das gehört zur Demokratie. Aber wir müssen es tun im Bewußtsein gemeinsamer Werte. Dazu gehört der Respekt vor dem politisch Andersdenkenden. Wir alle tragen Verantwortung für den Frieden.
Nach unserer Überzeugung — auch dies muß gesagt werden — heißt Verteidigungsfähigkeit die Fähigkeit, den Frieden zu bewahren. Deshalb sind wir für das Gleichgewicht der Kräfte. Wer unsere Fä-
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1048 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983
Dr. Schäublehigkeit untergräbt, uns zu verteidigen, nimmt uns die Fähigkeit, den Frieden zu bewahren.
Es wird so oft die Bergpredigt mit ihrem Postulat der Gewaltlosigkeit zitiert. Ich habe das Gefühl, daß die meisten, die das zitieren, die Bergpredigt nicht gelesen haben; denn sie übersehen, daß die Bergpredigt und die Heilige Schrift insgesamt sehr unterscheiden zwischen dem Postulat individueller Gewaltlosigkeit, persönlicher Friedfertigkeit, und der Verantwortung des Staats und auch des Hausvaters, die Seinen zu schützen.Der Staat hat, wie der Apostel Paulus im Römerbrief schreibt, in der gebrochenen und sündigen Welt den Auftrag, Freiheit und Frieden durchzusetzen, wenn nötig, mit Gewalt.
— Ich muß Ihnen j a möglicherweise ein bißchen Nachhilfestunden erteilen.Ich will Ihnen noch einen Schritt weiterhelfen. Max Weber hat in seiner Rede „Politik als Beruf" den Unterschied zwischen der Gesinnungsethik und der Verantwortungsethik aufgezeigt. Er hat den Widerspruch hervorgehoben zwischen dem gesinnungsethischen Grundsatz, dem Übel nicht mit Gewalt zu widerstehen, und dem für ein verantwortungsethisches Handeln maßgebenden Prinzip „Du sollst dem Übel widerstehen, notfalls auch mit Gewalt, sonst bist du für seine Überhandnahme mitverantwortlich".
Ein Politiker, meine Damen und Herren, ist nicht nur für sein Gewissen, sondern auch für die Folgen seines Tuns und für die Folgen seiner Unterlassungen verantwortlich. Das lehrt uns die Geschichte Weimars und des Dritten Reichs.
Diese Debatte hat ihren guten Sinn, wenn wir aus der Geschichte lernen und wenn wir uns unserer Verantwortung neu bewußt werden.
— Zur Verantwortung gehört, daß wir uns gegenseitig zuhören und nicht versuchen, uns niederzuschreien.Wir alle, die wir in dieses Hohe Haus gewählt sind, tragen Verantwortung, Verantwortung für den Frieden, Verantwortung für Freiheit und Menschenrechte unserer Mitbürger. Niemand darf einen Zweifel an unserer Friedfertigkeit haben, aber auch nicht an unserer Entschlossenheit, Frieden, Freiheit und Menschenrechte zu verteidigen. Nur so — dies lehrt uns die Geschichte — werden wir Frieden und Freiheit bewahren.
Das Wort hat Herr Kollege Fischer .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als nunmehr Hauptschuldiger für jene unsäglichen Äußerungen des Herrn Geißler will ich die Gelegenheit nutzen, zum Inhalt der Vorwürfe Stellung zu beziehen, bevor ich auf den Antrag der Fraktion der SPD zu sprechen komme.Mehrfach wurde hier eine Äußerung von mir in einem „Spiegel"-Gespräch zitiert, wobei es Herrn Geißler und anderen genügte, das, was sie als deren Sinn zu verstehen meinten, herauszuklauben, während sich Herrr Dregger und der verehrte Herr Kollege Schäuble mit einem Ausschnitt begnügten. Lassen Sie mich daher das Zitat als Ganzes wiederholen. Ich zitiere:Es ist sicher richtig, die Einmaligkeit des Verbrechens, das die Nationalsozialisten am jüdischen Volk begangen haben, nicht mit schnellen Analogieschlüssen zu überdecken. Aber ich finde es doch moralisch erschreckend,— diesen Teil des Zitats kennen Sie —daß es offensichtlich in der Systemlogik der Moderne, auch nach Auschwitz, noch nicht tabu ist, weiter Massenvernichtung vorzubereiten — diesmal nicht entlang der Rassenideologie, sondern entlang des Ost-West-Konflikts. Da analogisiere ich nicht mit Auschwitz, aber ich sage: Auschwitz mahnt eigentlich daran, diese Logik zu denunzieren, wo sie auftritt, und sie politisch zu bekämpfen.
Soweit das vollständige Zitat.Wieso die Herren Geißler, Dregger und auch der Bundeskanzler diesem Zitat entnehmen, hier werde unterstellt — ich zitiere jetzt Herrn Geißlers Nachbereitung im Norddeutschen Rundfunk —, „als ob z. B. die Bundesregierung und andere westliche Demokratien absichtlich ein Auschwitz neuen Formats vorbereiten würden", bleibt wohl Geheimnis ihrer Lesekunst.Ich will hier nochmals zwei eigentliche Selbstverständlichkeiten — Herr Dregger, für mich sind es Selbstverständlichkeiten — unzweideutig wiederholen.Niemand vergleicht eine demokratisch gewählte Regierung und deren Politik, so irrig man diese auch finden mag, mit Verbrechern und Massenmördern vom Schlage Hitlers und seiner Kumpane. Ich zumindest lehne dies entschieden ab.
Ebenso verneine ich eine Analogie oder gar Gleichsetzung der gegenwärtigen atomaren Hochrüstungspolitik und ihrer schrecklichen möglichen Folgen in Ost und West mit der Vernichtung des jüdischen Volkes, aber auch der Sinti und Roma in Auschwitz und den anderen nationalsozialistischen Vernichtungslagern. Die von Deutschen organisierte und ins Werk gesetzte industrielle Vernichtung und schlimmer noch Verwertung dieser Völker aus nacktem Rassenhaß verkörpert für mich das schlechthin Böse in der Politik, den puren Wahn-
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Fischer
sinn, welchen auch nur in Ansätzen zu begreifen mir selbst Jahrzehnte später nicht gelingt. Die zwingende Frage nach dem Warum hat für mich bis heute keine Antwort gefunden. Ich muß Ihnen ehrlich sagen, Herr Dregger: Das, was Sie heute wieder vorgetragen haben, war genau das, was die Generation meiner Eltern uns in den 50er Jahren auf unsere Frage nach dem Warum immer als Antwort vorenthalten hat. Sie als Älterer sind diese Antwort auch heute wieder schuldig geblieben.
Freilich, Auschwitz ist nicht jenseits der jüngeren deutschen Geschichte möglich geworden. Es ergab sich aus ihr, es hatte benennbare Ursachen, be-nennbare Täter und Mittäter, auch benennbare Profiteure, die Opfer in Millionenzahl sind bekannt, und — vor allem —: Auschwitz hat Folgen bis auf den heutigen Tag.Es war wohl zum ersten Mal auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges gewesen, wo die Menschen mit den ungeheuerlichen Vernichtungskapazitäten der modernen Industrie konfrontiert wurden. Die Schrecken des Gaskrieges, die ersten Massenvergasungen wurden dort Wirklichkeit. Der Kampf von Soldaten und Armeen begann der gegenseitigen, naturwissenschaftlich ins Werk gesetzten Vernichtung zu weichen. Hier, Herr Geißler, in diesem Erlebnis industriell bewerkstelligter Menschenschlächterei im Ersten Weltkrieg liegt eine der entscheidenden Ursachen für den von Ihnen angeklagten Gesinnungspazifismus der 30er Jahre, der dann für viele in den Gaskammern und Folterkellern der Nazis endete.
In Auschwitz wurden dann nicht mehr Armeen ins Gas geschickt, sondern unterschiedslos ganze Völker, Frauen, Männer, Kinder und Greise. Hier mahnen uns die Krematorien und Vergasungsanlagen in Auschwitz-Birkenau bis auf den heutigen Tag; denn die einmal in Bewegung gesetzte Vernichtungsspirale ist auch gegenwärtig nicht gebrochen. Am besten kann man dies bei der Entstehung der Atombombe in der Person Albert Einsteins verfolgen, eines überzeugten Gesinnungspazifisten, eines Flüchtlings vor Hitler und eines deutschen Juden, der mit seinem Brief an den amerikanischen Präsidenten zum Bau der Atombombe entscheidend beigetragen hat, und der sich nach Hiroschima fragen mußte: Mein Gott, was haben wir getan? Als wie krank muß man eigentlich eine Zivilisation bezeichnen, in der die angedrohte und technisch bereitgehaltene Verbrennung ganzer Völker im atomaren Feuer — und sei es zu Verteidigungszwecken — als Voraussetzung der eigenen Sicherheit angesehen wird?
Damit hier nicht wieder das beliebte Mißverständnis aufkommt, meine Damen und Herren von der Union: Dies gilt für beide Supermächte und die von ihnen abhängigen Regierungen. Aus dieser absurden Situation hilft auch nicht heraus, wenn man uns beständig auf die bösen Absichten der anderen Seite hinweist; dieselben Reden werden auch von der anderen Seite gehalten. Die Ustinows und wie sie heißen halten ähnliche Reden, nur eben anders getönt.Ein atomarer Holocaust in Europa wird sicher nicht das Werk von verrückten Massenmördern sein. Wahrscheinlicher ist da die Katastrophe gegen den Willen aller Verantwortlichen oder verursacht durch eine sich endgültig verselbständigende Abschreckungstechnik.
Acht Minuten Vorwarnzeit sind nicht viel, wie dies bei der auf uns zukommenden Pershing II gilt. Noch kürzere Vorwarn- und Reaktionszeiten drohen uns mit der nächsten Umdrehung der Rüstungsspirale. Unser Leben hängt dann nicht einmal mehr an jenem berühmten und doch so altmodisch gewordenen Seidenfaden, sondern an einem schlichten Halbleiterelement. Und was dann folgt, Herr Wörner, hat noch kein Verteidigungsminister der westdeutschen Bevölkerung zu sagen gewagt!
Dies intendierte der Katholik und Bürger der USA Bischof Hunthausen, als er von einem „atomaren Auschwitz" sprach. Er meinte, die verbrannten Völker in einer möglichen atomaren Katastrophe und nicht eine verbrecherische Absicht einer westlichen Regierung.Auschwitz war das Ergebnis eines perversen Vernichtungswillens einer deutschen Regierung; der atomare Holocaust wird das Ergebnis von Sachzwängen, Irrtümern und Selbstüberschätzung sein.
Hierin liegt für mich der wesentliche Unterschied, hierin liegt aber auch die hoffentlich niemals eintretende Gemeinsamkeit.Herr Geißler hat nunmehr den wahren Schuldigen für den Völkermord in Auschwitz ausfindig gemacht, den „Pazifismus der 30er Jahre, der sich in seiner gesinnungsethischen Begründung nur wenig von dem unterscheidet, was wir in der Begründung des heutigen Pazifismus zur Kenntnis zu nehmen haben, dieser Pazifismus der 30er Jahre hat Auschwitz erst möglich gemacht". Es ist schon, Herr Geißler, eine unglaubliche Infamie, die Opfer des Nationalsozialismus für die an ihnen begangenen Verbrechen auch noch verantwortlich zu machen.
Sie werden für diese Verhöhnung der Opfer bei so manchem alten Kämpfer und bei den SS-Traditionsvereinen, aber auch bei Arisierungsgewinnlern in der deutschen Industrie
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Fischer
— ja, „das ist böse" — noch so manche Stimme und Spende für ihre christliche Partei lockermachen, dies ist gewiß.
Und um Ihre sinistre ministeriale Logik fortzuspinnen, den möglichen Opfern von morgen haben Sie es gleich mitgezeigt. In Ihrer Logik heißt das: Zuviel Pazifismus beschwört den Atomkrieg herauf und nicht die etwa sich immer schneller und absurder steigende Rüstungsspirale! Hier sichten Sie die Gemeinsamkeit zwischen Friedensbewegung und dem Pazifismus der 30er Jahre — ein Vergleich übrigens, Herr Geißler, der uns ehrt und von dem wir hoffen, daß wir ihm gerecht werden können,
wobei der umgekehrte Vergleich für Sie wohl weniger schmeichelhaft ausfallen dürfte.Sie fahren dann fort mit der alten deutsch-national weinerlichen Mär: Das Ausland ist an allem schuld. Immer waren es die anderen gewesen bei der deutschen Rechten, das Ausland, Versailles, die Novemberverbrecher, die Bolschewisten, der Dolchstoß und jetzt der Pazifismus. Nur die Täter selbst, die waren es nie gewesen, diese sauberen und ordentlichen Deutschen in Frack und Uniform und selbstverständlich mit nationaler Gesinnung.
Bevor Sie, Herr Minister, in maßloser Lüge den damaligen Friedensbewegungen in England und Frankreich die Schuld an Auschwitz vorwerfen, sollten Sie nochmals nachdenken: War es das Ausland, welches 1933 Hitler zur Macht verhalf, oder waren es nicht vielmehr Deutschnationale, die Hugenbergs und Papens, die Krupps und Flicks und wie sie alle hießen?
Waren es denn Pazifisten, die wenige Monate später, sei es aus Angst, sei es aus Überzeugung, nicht zum Widerstand gegriffen, sondern die Hand zum Deutschen Gruß und damit zum Ermächtigungsgesetz erhoben haben? Alle haben sie damals für Hitler gestimmt, das Zentrum, die Liberalen, die Konservativen.Ich habe mir erlaubt, diese Abdankungsurkunde der Weimarer Demokratie zu besorgen, und dort stellt man fest — Herr Bundeskanzler, das sollten Sie vielleicht doch einmal für den Gemeinschaftskundeunterricht freigeben —, wer hier in der namentlichen Abstimmung wofür gestimmt hat. Man stellt fest, daß bei manchen sozialdemokratischen Abgeordneten nur noch ein lapidarer Strich zu finden ist, etwa bei Dr. Leber; er war damals schon verhaftet. Die Kommunisten fand man damals nicht mehr auf der Liste des Deutschen Reichstages.Einzig die Kommunisten, die damals bereits gejagt, gefoltert und ermordet wurden, und die Sozialdemokraten leisteten noch Widerstand gegen die endgültige Errichtung der braunen Diktatur.
Hinzu kamen die vielen einzelnen, die Mitglieder der bekennenden Kirchen, Literaten, Wissenschaftler, Künstler und viele einfache aufrechte Menschen. Sie alle fand man später in den Lagern und unter den Opfern wieder.Diese Menschen sollen schuld sein an Auschwitz, Herr Geißler: Ein Carl von Ossietzky, den die Nazis gequält haben, ein Erich Mühsam, Jude, Anarchist, Pazifist und Poet, den die SS langsam zu Tode marterte, während andere mit feuchtem Blick ihrem Führer zujubelten oder sich von ihm mit dem enteigneten jüdischen Vermögen die Taschen füllen ließen?Sie reden in der Union gegenwärtig immer soviel vom Erbe, sie sollten sich diesem Erbe endlich einmal stellen.
Die deutsche Rechte wird niemand aus Ihrer Verantwortung für den Völkermord in Auschwitz herausreden, auch Sie nicht, Herr Geißler.Dieses Erbe, das Ihre Partei immer geflissentlich übersieht, hat sich j a in die westdeutsche Nachkriegsrepublik herübergerettet. Die Globkes, Oberländers, Vialons, Kiesingers und Filbingers hat es j a wohl wirklich gegeben,
genau wie all die Beamten, Richter, Ärzte und Wirtschaftsführer, die den braunen Massenmord erst möglich gemacht oder ihn zumindest billigend in Kauf genommen haben. Auch sie findet man als tragende Säulen dieser Republik und der sie regierenden christlichen Partei!
Meine Damen und Herren, zu diesem Thema ließe sich noch vieles sagen; dazu fehlt aber die Zeit. Im übrigen wäre es eh nur die Wiederholung trauriger Tatsachen, welche seit langem bekannt sind.
Wir GRÜNEN werden dem Antrag der Fraktion der SPD auf der Drucksache 10/178 zustimmen,
auch wenn wir meinen, daß Sie, Herr Minister, sich in dieser Koalition ganz gut machen. Das war kein Ausrutscher, sondern wohl die herrschende „Wende"-Mentalität. Wenn man die Ministerriege sonntags auf den Vertriebenenparteitagen so reden hört, wenn man dann noch die Herren Zimmermann, Strauß und Spranger hinzurechnet, müßte man ei-
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Fischer
gentlich die ganze Regierung zum Rücktritt auffordern.
Da Sie aber zweifellos und zu Recht über die Mehrheit verfügen, haben wir dieses Los zu tragen.Letztendlich, meine Damen und Herren, sind wir halt Utopisten und meinen, daß der Bundeskanzler in der Mittagspause vielleicht doch noch von seiner Rhetorik über die moralische Erneuerung überwältigt wurde und dem Antrag stattgibt. Der politischen Kultur in diesem seinem Lande wäre damit ein großer Dienst erwiesen.
Lassen Sie mich ein Letztes sagen. Meine Damen und Herren, vielleicht begreifen Sie nun, warum es uns nicht möglich war, mit Ihnen gemeinsam hier am 17. Juni lauthals das Deutschlandlied zu singen,
selbst wenn es sich nur um die dritte Strophe gehandelt hat.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Wolfgramm.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die ersten Anmerkungen des Kollegen Fischer haben in mir den Eindruck erweckt, er wolle sich tatsächlich sachlich mit dem Problem auseinandersetzen. Die weiteren Anmerkungen haben diese Hoffnung allerdings zunichte gemacht.
Ich darf hier aus dem Interview Fischer/Schily im „Spiegel" vom 13. Juni 1983 zitieren:
Spiegel: Was Sie, Herr Fischer, zum Beispiel in der Debatte über die Regierungserklärung geboten haben, war außer Polemik nicht viel.
Fischer: Richtig.
Im Blick auf Ihren heutigen Redebeitrag, Herr Fischer, habe ich dieser Anmerkung nichts hinzuzufügen.
Meine Damen, meine Herren, Wolfgang Mischnick hat heute vormittag die Position der Freien Demokraten eindrucksvoll begründet. Ich habe auch dem nichts hinzuzufügen.
Die Fraktion der Freien Demokraten wird den Antrag der Sozialdemokraten ablehnen.
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte am Anfang meiner Erklärung eine klare Feststellung treffen: Ich mache die Pazifisten, weder die der 20er Jahre noch die der 30er Jahre, nicht für Auschwitz verantwortlich, und ich weise ihnen auch keine Schuld und keine Absicht zu. Ich habe dies am letzten Mittwoch auch nicht gesagt.
Verantwortlich waren die Nazis, die Rechtsextremisten, der Judenhaß. Herr Kollege Vogel, hier haben Sie recht. Ich hätte in meiner Rede das hinzufügen können und vielleicht auch müssen. Es fällt mir auch nicht schwer, dies zu sagen; denn dies ist immer meine Überzeugung gewesen. Deswegen habe ich auch dem Kollegen Waltemathe geschrieben, daß es mir leid tut, wenn er, seine Familie und überhaupt die Verfolgten des Naziregimes sich verletzt fühlen. Meine eigene Familie hat unter dem Nationalsozialismus gelitten und ich als kleiner Junge auch.Herr Mischnick, Auschwitz, dieses Wort in diesem Zusammenhang in einer historischen Darstellung zu verwenden ist gewiß problematisch. Dies gebe ich Ihnen auch zu. Ich hätte besser sagen sollen: Der Krieg ist möglich gemacht worden. Ich komme noch darauf zurück.
Aber Auschwitz wäre ohne den totalitären kriegerischen Zugriff Hitlers nicht möglich gewesen. Das war verkürzt. Herr Mischnick, ich habe dies in einer Debatte als Replik auf das gesagt, was unter dem Begriff „atomares Auschwitz" hier als Kampfbegriff gegen unsere Verteidigungspolitik eingeführt worden ist.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe auch nichts nachgeschoben. Wir sind hier in einem Parlament, und es steht ein Satz, und dann kommt der nächste. Jeder Abgeordnete hat Anspruch darauf, daß seine Aussage nicht aus dem Kontext herausgerissen wird. Aus meinen weiteren Ausführungen, die gewiß nicht ganz leicht gewesen sind, wie Sie wissen, ging klar und eindeutig hervor, daß ich damit nicht die Pazifisten gemeint habe, die Opfer des nationalsozialistischen Regimes geworden sind, sondern die pazifistischen Strömungen und die auch darauf beruhende Appeasement-Politik der 30er Jahre in England und in Frankreich, die zu einer entscheidenden Schwächung der Verteidigungsfähigkeit dieser Demokratien geführt und so
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1052 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983
Bundesminister Dr. GeißlerHitler ermutigt hat, den Zweiten Weltkrieg zu beginnen.
Ich habe am letzten Mittwoch hier im Bundestag gesagt — ich möchte dies noch einmal sagen —, wie mir als kleinem Jungen mein Vater geschildert hat, wie er es in der „Deutschen Wochenschau" erlebte, wie Chamberlain aus München zurückkam, und wie er die Entmutigung derjenigen in Deutschland schilderte, die auf Widerstand der westlichen Demokratien gehofft und, wie wir wissen, vergeblich gehofft haben.Herr Kollege Vogel hat heute morgen die Frage gestellt, was denn die Appeasement-Politik der englischen Regierung und der französischen Regierung, die unbestritten ist, mit dem Pazifismus zu tun habe. Es gibt keinen nennenswerten Historiker, der nicht deutlich gemacht hat, daß die Appeasement-Politik in England und Frankreich stark beeinflußt gewesen ist von den pazifistischen Strömungen in England und in Frankreich. Das „peace ballot" im Jahre 1935 unter Lord Cecil
hat elf Millionen Engländer
zur Zustimmung bewogen. Herr Brandt, die Peace Pledge Union mit bedeutenden Menschen, die eine große Bewegung in England verursachten,
mit 200 000 Mitgliedern — der Führer der LabourFraktion, Lord Landsburi, war eine der tragenden Säulen dieser Union,
die damals in England dieselbe Rolle gespielt hat wie heute die sogenannte Friedensbewegung —,
hat sich, wenn ich dies sagen darf, bei allen von den Nationalsozialisten ausgelösten Krisen für die Nichteinmischung Englands ausgesprochen. In der tschechischen Krise wurde Deutschland sogar ausdrücklich unterstützt. Das Münchener Abkommen wurde als ein Akt der Gerechtigkeit gefeiert. Ja, sogar beim Einmarsch Hitlers in Polen stellte sich die PPU auf die deutsche Seite.
Dies ist ganz sicher. Was ich gesagt habe — —
— Herr Präsident, ich möchte meine Gedanken hier jetzt zu Ende führen. Ich glaube, der Gegenstand ist wichtig genug, daß ich die Gelegenheit habe, meine Auffassungen hier darzulegen, auch gegen dieschwerwiegenden Angriffe, die ich heute hier habe hören müssen.
Was ich gesagt habe, ist auch die Überzeugung englischer und französischer Politiker von heute. Ich darf Sie bitten, einmal die Memoiren von Churchill nachzulesen.
Er sagt es in noch viel deutlicheren Worten, als ich dies hier getan habe.Es ist — das habe ich schon gesagt —, aus dem Zusammenhang herausgerissen, eine verkürzte Aussage gewesen. Aber es ist klar, was ich gemeint habe. Ich habe mich beim Herrn Kollegen Waltemathe, stellvertretend für alle, die sich verletzt fühlen konnten, entschuldigt. Aber ich kann nicht meine historische Überzeugung preisgeben. Ich kann auch meine persönliche Erfahrung in der Zeit des Nationalsozialismus, von meinem Vater vermittelt, nicht vergessen. Deswegen muß ich beim Kern meiner Aussage bleiben: möglich gemacht, nicht gewollt, nicht beabsichtigt, aber möglich gemacht durch Irrtum, durch Unterlassung, so wie es Churchill beschrieben hat, wie es der Bundeskanzler heute morgen zitiert hat, möglich gemacht in diesem Sinne haben die Verbrechen Hitlers u. a. diejenigen, für die gegenüber dem Diktator Frieden um jeden Preis das höhere Gut war und die aus diesem Grunde dem Diktator nicht in den Arm fielen, obwohl sie es hätten tun können.
— Dann — und davon bin ich überzeugt — hätte Hitler Europa nicht mit diesem wahnsinnigen Krieg überziehen können, und Auschwitz wäre auch nicht möglich gewesen.
Wir befinden uns im Zusammenhang mit der Diskussion um den NATO-Doppelbeschluß heute und im Herbst in einer entscheidenden Phase der deutschen Nachkriegsgeschichte. Es geht darum, ob dieses Parlament, ob die frei gewählte deutsche Regierung diesen wichtigen Teil ihrer Verteidigungspolitik realisieren kann gegen den innenpolitischen Druck der sogenannten Friedensbewegung,
gegen den innenpolitischen Druck der sogenannten Friedensbewegung. Darauf habe ich aufmerksam gemacht. Diese Diskussion ist notwendig.
Herr Bundesminister, ich muß Sie erneut fragen, ob Sie eine Zwischenfrage zulassen.
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Nein, Herr Präsident, ich lasse keine Zwischenfrage zu.
Diese Diskussion ist notwendig. Dies ist der Ausgangspunkt dessen, was ich gesagt habe. Die Ereignisse in den 30er Jahren müssen Anlaß dafür sein, für uns alle, aber auch für die Mitglieder der Friedensbewegung, konsequent und radikal die Folgen zu Ende zu denken, die entstünden, wenn Ihre politischen Vorstellungen der radikalen einseitigen Abrüstung in den westlichen Demokratien eine politische Mehrheit bekämen.
Auschwitz kann nicht rückgängig gemacht werden. Aber wir heute Lebenden können heute unsere Freiheit bewahren, wenn wir aus der Geschichte lernen.
Meine Damen und Herren, es war eine Debattenrunde einschließlich der Stellungnahme der Regierung verabredet. Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung. Es ist namentliche Abstimmung verlangt. Die Abstimmungskarten finden Sie in Ihren Pulten. Bitte legen Sie die Karten mit Ihrem Votum „Ja", „Nein" oder „Enthaltung" in die hier vorn aufgestellte Urne.
Ich eröffne die namentliche Abstimmung über den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/178.
Meine Damen und Herren, ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme noch nicht abgegeben hat? Wenn j a, dann bitte ich, jetzt abzustimmen.Meine Damen und Herren, ich frage noch einmal: Ist noch jemand, der stimmberechtigt ist, nicht an der Urne gewesen, um seine Karte abzugeben?Meine Damen und Herren, ich stelle fest, daß kein weiteres Mitglied anwesend ist, das noch seine Stimme abzugeben wünscht. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Ich bitte die Kollegen um etwas Geduld, bis die Schriftführer die Auszählung beendet haben.Meine Damen und Herren, ich darf Sie bitten, wieder Platz zu nehmen. — Ich wäre dankbar, wenn Sie sich auf Ihre Plätze begäben. Ich möchte das Ergebnis der Abstimmung bekanntgeben.Die Abstimmung über den Antrag auf Drucksache 10/178 hat ergeben: Abgegebene Stimmen: 490, davon ungültige Stimmen: keine. Mit Ja haben 279 Abgeordnete gestimmt.
— Ich sehe gerade, daß das Protololl nicht so ist, wie es sein müßte, wenn es korrekt sein sollte. Darf ich noch einmal einen Schriftführer zu mir bitten? — Ich werde das Protokoll gleich richtig verlesen. —
Meine Damen und Herren, bei der Entscheidung über den Antrag auf Drucksache 10/178 wurden 490 Stimmen abgegeben. Davon ungültige Stimmen: keine. Mit Ja haben 210 Abgeordnete gestimmt. Mit Nein haben 279 Abgeordnete gestimmt. Enthaltungen: eine.
Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen 490; davonja: 210nein: 279enthalten: 1JaSPDDr. Ahrens AmlingAntretter Dr. ApelBachmaier BahrBambergBecker BerschkeitBindigFrau Blunck BrandtBrosiBrückBuckpesch Büchler Büchner (Speyer)Dr. von BülowBuschfort Catenhusen ColletConradiCurdtFrau Dr. CzempielFrau Dr. Däubler-Gmelin DaubertshäuserDreßlerDuveDr. Ehmke
Dr. EhrenbergDr. EmmerlichDr. Enders EstersEwenFiebigFischer
Fischer
Franke
Frau Fuchs
Frau Fuchs
GanselGerstl
GilgesGlombig Dr. Glotz Gobrecht GrobeckerGrunenberg Dr. Haack Haase
Frau Dr. HartensteinDr. HauchlerDr. Hauff HeistermannHerterich HeyennHiller
Hoffmann
Dr. Holtz HornFrau Huber HuonkerImmer
Jahn
JaunichDr. JensJung
Junghans Jungmann Kastning KiehmKirschner Kisslinger Klein
Dr. KlejdzinskiKloseKolbow
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1054 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983
Vizepräsident WestphalKretkowski Dr. Kübler Kühbacher Kuhlwein Lambinus Lennartz Leonhart LiedtkeDr. Linde Lohmann
Frau Dr. Martiny-Glotz MatthöferMeininghausMenzelDr. Mertens Müller (Düsseldorf) Müller (Schweinfurt)Dr. Müller-Emmert MünteferingNagelNehmDr. NöbelFrau Odendahl OostergeteloPaterna PauliDr. Penner Peter
PfuhlPorzner PoßPurpsRapp
Rappe ReimannFrau RengerReschke ReuterRohde
RothSanderSchäfer SchanzDr. Scheer Schlaga Schlatter SchluckebierDr. Schmidt Schmidt (Hamburg) Schmidt (München)Frau Schmidt Schmidt (Wattenscheid) Schmitt (Wiesbaden)Dr. SchmudeDr. Schöfberger SchreinerSchröder Schröer (Mülheim) Schulte (Unna)Dr. Schwenk SielaffSielerFrau SimonisFrau Dr. Skarpelis-Sperk Dr. SoellDr. SperlingDr. Spöri •Stahl
Dr. Steger SteinerFrau SteinhauerStiegler StocklebenDr. Struck Frau TerborgFrau Dr. Timm ToetemeyerFrau TraupeUrbaniak Vahlberg Verheugen VogelsangVoigt VosenWaltemathe WaltherWeinhoferWeisskirchen Dr. WernitzWestphalFrau Weyel Wieczorek Wiefelvon der Wiesche Wimmer WischnewskiDr. de With Wolfram
Zander
ZeitlerFrau ZuttBerliner AbgeordneteDr. Diederich EgertLöffler Frau LuukDr. Mitzscherling StobbeDr. VogelWartenberg
DIE GRÜNENFrau Dr. Bard BastianFrau Beck-Oberdorf Burgmann DrabiniokDr. Ehmke Fischer (Frankfurt) HeckerFrau Dr. HickelHossDr. Jannsen Frau KellyKleinert KrizsanFrau Nickels ReentsFrau Reetz Sauermilch SchilyFrau Schoppe Schwenniger StratmannVogt Frau Dr. VollmerNeinCDU/CSUDr. AbeleinDr. Althammer AustermannDr. Barzel BayhaDr. Becker BergerBiehleDr. Blank Dr. Blens Dr. Blüm Böhm
Dr. Bötsch BohlBohlsenBorchertBraunBreuerBrollBrunnerBühler
Dr. BuglCarstens Carstensen ClemensConrad Dr. CzajaDr. Daniels DawekeDeresDörflinger Dr. Dollinger DossDr. Dregger Echternach EhrbarEigenErhard
Eylmann
Dr. FaltlhauserFellnerFrau Fischer Fischer Francke (Hamburg) FrankeDr. FriedmannGanz
Frau Geiger Dr. Geißler Dr. von GeldernDr. George Gerlach GersteinGerster
GlosDr. Göhner Dr. GötzGüntherHaase
Dr. Häfele HandlosHanz Hartmann HaungsHauser Hauser (Krefeld) HedrichFreiherr Heeremanvon ZuydtwyckFrau Dr. Hellwig HelmrichDr. Hennig Herkenrath HinrichsHinskenHöffkesHöpfingerDr. HoffackerFrau Hoffmann Dr. HornhuesHornungFrau Hürland Dr. Hüsch Dr. Hupka Graf HuynJäger
JagodaDr. Jahn
Dr. Jenninger Dr. JobstJung
Dr.-Ing. KansyFrau KarwatzkiKellerKiechleDr. Klein
Klein
Dr. Köhler Dr. Köhler (Wolfsburg) Dr. KohlKolbKrausDr. KreileKreyKroll-SchlüterFrau Krohne-Appuhn Dr. KronenbergDr. Kunz LamersDr. Lammert LandréDr. Langner LattmannDr. LaufsLemmrichDr. Lenz LenzerLink Link (Frankfurt) LinsmeierLintnerDr. LippoldLöherLohmann LouvenMaaßMaginMarschewski Dr. MarxDr. Mertes MetzDr. Meyer zu Bentrup MichelsDr. MikatDr. MiltnerMilzDr. MöllerDr. MüllerMüller Müller (Wadern) Müller (Wesseling)NelleFrau Dr. Neumeister NiegelDr.-Ing. OldenstädtDr. OlderogPeschPfeffermann PfeiferDr. PingerDr. Pohlmeier Dr. ProbstRaweReddemann Regenspurger RepnikDr. Riedl
Dr. Riesenhuber Rode Frau Rönsch Frau Roitzsch Dr. RoseRossmanith Roth RüheRufSauer
Sauer Sauter (Epfendorf) Sauter (Ichenhausen) Dr. SchäubleSchartz SchemkenScheuSchlottmann SchmidbauerSchmitz von Schmude
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983 1055
Vizepräsident WestphalDr. Schneider Schneider
Freiherr von Schorlemer Schreiber
Dr. Schroeder Schröder (Lüneburg) SchulhoffDr. Schulte
Schwarz
Dr. Schwarz-SchillingDr. Schwörer SeehoferSeesingSeitersDr. FreiherrSpies von Büllesheim SpilkerSprangerDr. SprungDr. Stark Graf StauffenbergDr. StavenhagenDr. Stercken StrubeStücklenStutzerSussetTillmannDr. TodenhöferUldallDr. UnlandFrau VerhülsdonkVogel
Vogt Voigt (Sonthofen)Dr. VossDr. WaffenschmidtDr. WaigelGraf von Waldburg-Zeil Dr. WarnkeDr. WarrikoffDr. von Wartenberg WeirichWeißWernerFrau Dr. Wex Frau Will-FeldFrau Dr. WilmsWilzWimmer WindelenFrau Dr. Wisniewski WissmannDr. Wittmann Dr. Wörner WürzbachDr. WulffZiererZinkBerliner AbgeordneteFrau Berger BoroffkaBuschbom DolataFeilckeDr. Hackel KalischKittelmannDr. h. c. LorenzSchulze StraßmeirFDPFrau Dr. AdamSchwaetzerBaumBeckmann BredehornCronenberg Eimer (Fürth) EngelhardErtlDr. FeldmannGallusGattermann Genscher Grünbeck GrünerDr. HaussmannDr. Hirsch HoffieKleinert KohnDr.-Ing. LaermannDr. Graf Lambsdorff MischnickMöllemann Neuhausen PaintnerRonneburger Dr. RumpfFrau Seiler-AlbringDr. Solms Dr. WengWolfgramm WurbsBerliner Abgeordneter HoppeEnthaltenFrau Dr. Hamm-BrücherDamit ist der Antrag abgelehnt.Wir fahren fort in der Aussprache über Punkt 6 der Tagesordnung — Bericht zur Lage der Nation — und Punkt 7 der Tagesordnung — Beratung des Antrags der Fraktion der SPD, Transitwege von und nach Berlin, Drucksache 10/117 —. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Haack.
— Ich wäre dankbar, wenn diejenigen, die dem Redner nicht zuhören wollen, sondern anderen Aufgaben nachgehen wollen, dies außerhalb des Saales täten.Das Wort hat Herr Dr. Haack.
— Ich bitte um Aufmerksamkeit für den Redner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was werden wohl unsere Landsleute in der DDR über solche Debatten denken? Mit dieser Frage kehre ich zur Deutschlandpolitik zurück.
Im Jahre 1964 haben drei bekannte Journalisten aus der Bundesrepublik, Marion Gräfin Döhnhoff, Rudolf Walter Leonhardt und Theo Sommer, eine Reise in die DDR unternommen.
Darf ich Sie unterbrechen, Herr Dr. Haack.
Ich bitte herzlich darum, dem Redner Aufmerksamkeit zu schenken oder, andernfalls, sich aus dem Saal zu begeben.
Herr Dr. Haack.
Nach der Rückkehr in die Bundesrepublik haben sie ein Buch mit dem Titel „Reise in ein fernes Land" geschrieben. Dort hieß es:Viele Bürger der Bundesrepublik kennen Paris und London, die Adria oder die Costa Brava, haben aber Dresden und Rostock, die mecklenburgischen Seen und den Thüringer Wald nie gesehen. Der Eiserne Vorhang bildet eine dichte Grenze.Fast 20 Jahre später könnte ein Reisebericht über die DDR nicht mehr überschrieben werden: Reise in ein fernes Land. Seit Jahren berichten westdeutsche Journalisten in der Bundesrepublik Deutschland täglich aus der DDR. Allein das zeigt den Fortschritt, den wir durch die Politik der letzten Jahre erreicht haben.
Die Grenze zwischen den beiden Teilen Deutschlands ist durchlässiger geworden. Das Auseinanderleben der beiden Teile Deutschlands hat sich entgegen der Annahme in den 60er Jahren nicht vertieft. Ganz im Gegenteil: Gerade die menschlichen Bindungen haben sich verstärkt.Wenn der Bundeskanzler heute vormittag in seinem Bericht gesagt hat, daß die Grenze zwischen beiden deutschen Staaten immer noch nicht normal sei, so kann ihm hier zugestimmt werden. Aber die Politik muß sich immer an den relativen Fortschritten messen lassen. Und die Situation, die wir heute, im Jahre 1983, haben, ist ein Fortschritt gegenüber der Situation der ganzen 60er Jahre. Das kam nicht von selbst, sondern das war das Ergebnis einer Politik — wie sie damals genannt worden ist — der kleinen Schritte, die sich das Ziel gesetzt hat, wenigstens das Miteinander der Menschen in einem geteilten Land zu verbessern, wenn schon die großen Probleme nicht kurzfristig gelöst werden können.1056 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983Dr. HaackEs war der Erfolg einer Politik, die sich nicht an Schlagworten und Formeln orientierte, sondern an den Interessen der Menschen in einem geteilten Land, und die nicht mehr das in einer konkreten politischen Situation jeweils Mögliche durch das Unmögliche verbaute.Die Grundlage dieser Politik, die zu diesen unbestreitbaren Erfolgen im Sinne der Verbesserung der menschlichen Beziehungen in unserer geteilten Nation in den letzten Jahren geführt hat, wurde in der Grundkonzeption im Januar 1970 in dem ersten Bericht zur Lage der Nation der damaligen sozialliberalen Koalition dargestellt. Der damalige Bundeskanzler Willy Brandt sagte — das war die Grundlage für die Politik der 70er Jahre, und das gilt heute, im Jahre 1983, genauso als Grundlage für die künftige Politik —:Patriotismus verlangt die Erkenntnis dessen, was ist, und den Versuch, immer wieder herauszufinden, was möglich ist. Er verlangt den Mut zum Erkennen der Wirklichkeit. Dies ist nicht gleichbedeutend damit, daß man diese Wirklichkeit als wünschenswert ansieht oder daß man auf die Hoffnung verzichtet, sie ließe sich im Laufe längerer Zeiträume ändern. Aber die Aufrichtigkeit, ohne die keine Politik auf Dauer geführt werden kann, verpflichtet uns, ..., keine Forderungen zu erheben, deren Erfüllung in den Bereich der illusionären Wunschvorstellungen gehören.Diese Politik, wie ich es bezeichnen möchte, des Realismus und des Verantwortungsbewußtseins hat sich auch kompromißfähig gezeigt. Kompromißfähigkeit ist ebenso wie in der Innenpolitik auch in der Außenpolitik die Grundlage für Fortschritte. In den 60er Jahren waren die Forderungen der östlichen Seite, sozusagen als Vorbedingung zur Verbesserung der Beziehungen zwischen West und Ost: Anerkennung der Oder-Neiße-Linie durch den Westen, völkerrechtliche Anerkennung der DDR, Anerkennung einer selbständigen politischen Einheit West-Berlin und Aufgabe unseres Anspruchs auf die einheitliche Nation.Wir haben ab 1969 eine Politik gemacht, die nicht alles abgelehnt und nicht alles angenommen hat, sondern die kompromißfähig gewesen ist und die die Realitäten zugrunde gelegt hat, die sich mittlerweile seit 1949 als Konsequenz des Zweiten Weltkrieges herausgebildet hatten. Deshalb war es in der damaligen Lage, im Jahr 1969, richtig, die Anerkennung der DDR als Staat und auch die politische Anerkennung der Westgrenze Polens — nicht die völkerrechtliche, weil das nicht möglich ist, sondern die politische Anerkennung — der Politik zugrunde zu legen. Aber wir haben es abgelehnt, die Bindungen und Verbindungen zwischen West-Berlin und der Bundesrepublik Deutschland zu lockern. Und wir haben es abgelehnt, unsere Auffassung von der Einheit der Nation zu ändern.Durch diese Politik hat die Bundesrepublik Deutschland Bewegungsfreiheit gewonnen. Es war eben keine Politik im Alleingang, sondern eine Politik, die mit unseren Partnern abgestimmt war. Das heißt, die Deutschlandpolitik wurde zum Element west-östlicher Verständigung. Es war auch kein deutscher Sonderweg, sondern unsere deutschen Interessen wurden in die internationale Politik eingeordnet.Die damalige Opposition hat nach meiner Auffassung die Chancen dieser Politik, die dann auch zu einer Vertragspolitik geführt hat, falsch eingeschätzt. Sie hat diese Politik hart bekämpft und teilweise auch verleumdet.Ich will nun nicht gerade von der heutigen Regierung, die damals Opposition war, fordern, daß sie ihren damaligen Irrtum eingesteht. Ich habe aber eine ganz konkrete Frage an die Bundesregierung. Herr Bundesminister Windelen, Sie werden zwar aus Zeitgründen nicht mehr sprechen können, aber für die weiteren Debatten auch im Ausschuß möchte ich diese Frage stellen.Wenn Sie davon sprechen — das haben Sie heute vormittag getan —, daß Sie die Verträge anerkennen, daß Sie sich auf die Grundlage der Verträge stellen, muß dennoch die Frage gestellt werden, ob Sie das nur deshalb tun, weil Sie der Meinung sind, daß Verträge rechtlich eingehalten werden müssen, oder ob Sie das auch deshalb tun, weil Sie der Auffassung sind, daß es zu dieser Politik, die ab 1969 eingeleitet wurde, auch nach 1982/83 keine Alternative gibt: daß also diese Politik nicht aus rechtlichen Gründen, sondern aus politischen Gründen fortgesetzt werden muß. Das ist die eigentlich entscheidende Frage.
Herr Kollege Dregger, wenn Sie erlauben, darf ich eine Frage in diesem Zusammenhang an Sie richten. Ich habe Ihre Ausführungen nicht nur gehört, sondern auch noch einmal im Text nachgelesen. Sie haben heute vormittag hier folgendes ausgeführt:Wer die Teilung der Nation überwinden will, muß zunächst die Ursachen der Teilung erkennen.— Völlig einverstanden. Aber jetzt kommt die Passage, die mich zu einer Frage veranlaßt. Sie sagten dann:Das ist in den letzten Jahren zuwenig beachtet worden. Parolen schwirrten umher, daß es möglich sei, in einer Transformation des Ost-West-Konflikts bestehende Gegensätze zu einer ideologischen Synthese zusammenzufassen, um darauf dann die Einheit Deutschlands gründen zu können.Ich gehe davon aus, daß Sie mit „Parolen" Parolen in der Öffentlichkeit der Bundesrepublik meinten, nicht hier in diesem Parlament.Sie kommen dann auf den Begriff „Wandel durch Annäherung" zu sprechen. Das war ein bekanntes Schlagwort, von Herrn Bahr 1963 bei einem Vortrag in Tutzing eingeführt; in wenigen Tagen wird in Tutzing eine Veranstaltung stattfinden, die an die damaligen Vorgänge erinnert. Sie sagten:
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Dr. Haack„Wandel durch Annäherung" lautete die eingängigeParole, die nicht einmal ohne teilweise Erfüllung geblieben ist. Wir haben uns ja der anderen Seite angenähert und uns dabei vielleicht auch in manchem gewandelt.Ich hätte an Sie die Frage, wen Sie unter „wir" verstehen und wie Sie diese Annäherung verstehen.
— Sie meinen, der entscheidende Satz ist der nächste. Ich habe aber noch so viel zu sagen, daß ich natürlich Ihre Rede nicht noch einmal vorlesen kann.
Der nächste Satz lautet — das ändert gar nichts an meiner Frage —:Von einem reziproken Prozeß allerdings kann beim besten Willen nicht gesprochen werden.Das sagt also nichts aus. Meine konkrete Frage bleibt, ebenso wie eben im Zusammenhang mit der Erfüllung der Verträge und Ihrer Meinung zum Vertragsinhalt, was Sie unter dieser Annäherung verstehen. Ich sehe diese Annäherung nicht.Meine Damen und Herren, ich bin der Auffassung, daß diese Politik, die in der Bundesrepublik Deutschland in Richtung Ostpolitik und Deutschlandpolitik getrieben wird, eine breite Zustimmung in unserer Bevölkerung hat. Bei der Bundestagswahl im November 1972 wurde von der Bevölkerung erstmalig darüber befunden. Aber auch bei der letzten Bundestagswahl am 6. März 1983 waren die Grundlagen, Inhalte und Konzeption der Deutschlandpolitik in Wirklichkeit nicht im parteipolitischen Streit, jedenfalls nicht im Wahlkampf; ganz im Gegenteil. Ich sehe im Moment von der CSU ab, auf die ich gleich zu sprechen komme, weil ich dann eine Frage an Sie, Herr Lintner, habe, der Sie wohl der nächste Redner sind. Auch im Wahlkampf zur Bundestagswahl am 6. März 1983 hat die CDU von Kontinuität und Vertragserfüllung gesprochen. Die FDP hat sich, was ja ganz logisch ist, weil sie diese Politik seit 1969 mitgemacht hat, als Garant der Kontinuität dieser Politik dargestellt.Deshalb drängen sich für uns heute Fragen auf, weil wir wissen, daß es um Glaubwürdigkeit geht und es in der Außenpolitik eine klare Linie geben muß und nicht verschiedene Sprachen geben darf.Wenn die CDU von Kontinuität und Vertragserfüllung spricht, heißt das, daß Sie das, was Herr Strauß — ich nenne nur ein Zitat aus einer Fülle mir vorliegenden Zitate — noch vor wenigen Tagen in der Verbandszeitung des Bundes der Mitteldeutschen anläßlich des 17. Juni gesagt hat, in der Konsequenz nicht teilen?
— Einen kleinen Moment, Herr Kollege Mertes; ichmöchte erst das Zitat vorlesen. Vielleicht ergibt sichdaraus für Sie dann noch eine weitere Frage. Odervielleicht können Sie mir dann die Frage gleich so beantworten, wie ich es möchte; dann wäre ich zufrieden.Herr Strauß sagte dort vor wenigen Tagen: Im Jahr 1969 verließ die SPD/FDP— ich bitte jetzt immer auch die Kollegen der FDP zuzuhören; die sind hier genauso angegriffen —die bewährten Grundlagen der Deutschlandpolitik Konrad Adenauers und ersetzte sie durch eine kurzatmige, illusionäre, dilettantische Konzeption, deren Scheitern heute offenkundiger ist denn je. Die von der damaligen liberal-sozialistischen Bundesregierung geschlossenen Verträge schädigten— so Strauß —durch den einseitigen Verzicht auf fundamentale Rechtspositionen das Zusammengehörigkeitsgefühl aller Deutschen, machten die DDR international hoffähig.Und jetzt kommt der Satz:Sie führten zu einer Vertiefung der Teilung Deutschlands.Bevor ich jetzt Ihre Frage zulasse, Herr Kollege Mertes, stelle ich hier fest: Wer so redet, kann die Probleme der Menschen in der DDR nicht kennen und will die Entwicklung der letzten 13 Jahre nicht wahrhaben.
Herr Abgeordneter Dr. Haack, ich habe schon festgestellt, daß Sie die Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Mertes zulassen wollen. — Bitte.
Herr Kollege Haack, was die Vergangenheit angeht: Hat Strauß nicht recht, wenn er sagt, daß wir alle in diesem Hause bis 1969 nicht für die Anerkennung der ZweiDeutschland-Theorie gewesen sind? Aber können wir uns darauf verständigen, Herr Kollege Haack, daß es jetzt wenig Sinn hat, über die Vergangenheit zu richten, daß die Opposition in den 50er Jahren die Schwächen, die sie bei der damaligen Bundesregierung zu sehen glaubte, hat artikulieren müssen, daß die Opposition der 70er Jahre die Schwächen und Bedenken gegen die damalige Regierung hat artikulieren lassen, daß es aber jetzt darauf ankommt, die Verträge einzuhalten, und zwar, soweit sie interpretationsbedürftig sind, auf der Grundlage der Zusagen der damaligen Bundesregierung und der Aussagen des Bundesverfassungsgerichts einzuhalten, daß es also jetzt nicht gilt, ständig Vergangenheitsbewältigung zu betreiben, sondern auf eine Nutzung dieser Verträge für unser ganzes Volk und für den Frieden zu drängen?
Ich stimme Ihnen völlig zu, Herr Kollege Mertes. Aber ich stelle die Fragen, weil es mir um die Zukunft geht. Ich will von Ihnen eine konkrete Aussage haben, daß Sie solche Äußerungen ablehnen, damit wir in Zukunft davon ausgehen können, daß die bisherige Politik kontinuierlich
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Dr. Haackfortgeführt wird. Das heißt, ich bringe Zitate mit dem Ziel, etwas deutlich zu machen und Sie darum zu bitten, klarzumachen, wie Sie sich die Politik in der Zukunft vorstellen, weil es nach meiner Auffassung gerade auch im Interesse der Menschen in der DDR von entscheidender Bedeutung ist, sich darauf verlassen zu können, daß diese Politik in ihrem Interesse kontinuierlich fortgeführt wird.
Herr Abgeordneter Dr. Haack, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Mertes?
Herr Kollege Haack, können wir uns darauf verständigen, daß Sie der Regierungserklärung von Bundeskanzler Kohl zustimmen, die gerade auch in diesem Punkt völlig klar und konstruktiv ist?
Darauf können wir uns insofern nicht ganz verständigen, als Sie, Herr Kollege Mertes, soeben in Ihrer ersten Frage gesagt haben, daß es nicht Aufgabe der Opposition sei, jeweils der Regierung zuzustimmen. Meine Frage ist vielmehr, ob die gesamte CSU dieser Regierungserklärung zustimmt. Das wollen wir zunächst einmal wissen, weil wir eine Widersprüchlichkeit und eine Unklarheit für gefährlich im Sinne der Fortentwicklung dieser Politik halten.
Herr Abgeordneter Dr. Haack, jetzt wünscht Herr Abgeordneter Ronneburger eine Zwischenfrage zu stellen. Sind Sie damit einverstanden? —
Herr Kollege Haack, stimmen Sie mir darin zu, daß Kontinuität in dem von uns besprochenen Sinn nur heißen kann, daß auf der Basis des bisher Erreichten, auf der Basis, auf der diese Koalition und diese Bundesregierung ihre Arbeit begonnen haben, weitergearbeitet wird, natürlich mit neuer Phantasie und auch mit unter Umständen neuem Reagieren auf neue Entwicklungen? Stimmen Sie mir weiter darin zu, daß diese Kontinuität, die ich so beschreibe, Gegenstand der Abmachungen dieser Koalition und der Regierungserklärungen gewesen ist?
Herr Kollege Ronneburger, meine kritischen Fragen zielen genau in diese Richtung. Ich möchte diese Bestätigung auch nachher in Ihrer Rede noch einmal haben, damit endlich Klarheit besteht. Sie sagen, die Basis der bisherigen Politik müsse fortentwickelt werden; da stimme ich Ihnen ja völlig zu. Aber meine Frage ist die: Wo bleibt diese Basis, wenn Herr Strauß — so noch vor wenigen Tagen — sagt, das sei eine kurzatmige, illusionäre und dilettantische Konzeption gewesen? Damit wird die Basis doch ausgehöhlt. Mir geht esdarum, daß wir hier einvernehmlich klarmachen: Das ist eine Basis auch für die Zukunft.
— Also, ich bin bisher davon ausgegangen, daß wir eine parlamentarische Demokratie sind, in der die Regierung selbstverständlich ganz viel zu sagen hat, aber nur das tun kann, was sie auch in Übereinstimmung mit ihrer Regierungspartei, mit ihren Koalitionsparteien tun kann.
Insofern sind meine Fragen doch wohl völlig berechtigt.
— Also, wenn Sie das, was ich hier sachlich, nüchtern, korrekt frage, als bayerischen Wahlkampf verstehen, dann haben Sie offensichtlich noch nie einen Wahlkampf der CSU in Bayern erlebt; denn sonst könnten Sie eine solche Bemerkung, Herr Reddemann, nicht machen.
Jetzt kommt meine Frage an den Kollegen Lintner — sie zielt auch in diese Richtung —, was in diesem Zusammenhang unter Wende zu verstehen ist. Auch hier haben wir die Bitte, daß endlich klargestellt wird, daß es eine Wende nicht gibt, sondern Kontinuität.Jetzt sage ich Ihnen auch, warum ich das hier frage: Ich bin dagegen, daß bei parlamentarischen Debatten — das gilt für alle Politikbereiche, nicht nur für die Deutschlandpolitik — hier im Bundestag nur so allgemeine Erklärungen abgegeben werden, daß man dann aber hinausgeht und in bestimmten Zeitungen sowie auf bestimmten Versammlungen genau das Gegenteil von dem erzählt, was hier gesagt worden ist.
Hier müssen die Auseinandersetzungen ausgetragen werden. Wer der Meinung ist, daß sei bisher eine falsche Konzeption gewesen, soll sich hier hinstellen und es sagen. Herr Strauß ist zwar nicht mehr im Bundestag, aber er hat genug Anhänger
auch hier in diesem Hause. Herr Kollege Mertes, es geht darum, daß wir die Debatten hier führen.
Denn Sie wissen, daß dies für die Glaubwürdigkeitder Politik von ganz entscheidender Bedeutung ist.
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Dr. Haack— Ich bitte meine bisherige Großzügigkeit, Zwischenfragen zuzulassen, nicht zu mißbrauchen, indem Sie jetzt vielleicht die Absicht haben, mich meine Gedanken nicht weiter entwickeln zu lassen. —Auch die FDP ist hier natürlich gefragt — ich habe das vorhin schon erwähnt, Herr Ronneburger —, was sie zu den Angriffen gegen die bisherige Deutschlandpolitik sagt, und zwar auch unter dem Gesichtspunkt der Selbstachtung. Da genügt es mir nicht, daß z. B. Graf Lambsdorff in der letzten Nummer von „Liberal" einen guten Aufsatz zur Deutschlandpolitik schreibt. Ich möchte schon, daß die Meinung der FDP heute nachmittag in der Debatte zur Deutschlandpolitik von diesem Pult aus dargelegt wird, damit sich jeder genau über die Fronten, wie sie hier verlaufen, klar ist oder vielleicht sogar der Hoffnung sein kann, daß Deutschlandpolitik in Zukunft konsensfähig wird. Denn Sie wissen, daß unser Fraktionsvorsitzender in den letzten Wochen der Regierung mehrmals angeboten hat, daß wir der Fortsetzung einer vernünftigen und verantwortlichen Deutschlandpolitik zustimmen würden. Ich wollte mich hier nur gegen diese Art Doppelstrategie wenden: hier allgemein und freundlich zu reden und dann draußen in den Zeitungen — nicht nur in Bayern — mit dem Holzhammer gegen die bisherige Politik zu arbeiten.In diesem Zusammenhang möchte ich jetzt drei Stichworte nennen, die sich seit einigen Wochen wieder in der deutschlandpolitischen Debatte befinden und die zentral zu der Frage gehören, die ich soeben gestellt habe. Diese drei Stichworte sind die Frage von Leistung und Gegenleistung, die Frage des Selbstbestimmungsrechts und die Frage der Staatsangehörigkeit.Ich sage das auch deshalb, weil Herr Strauß und auch Sie, Herr Lintner, glaube ich, einmal in einem anderen Zusammenhang festgestellt haben, das sei die Konzeption der Wende: Leistung und Gegenleistung sowie Selbstbestimmung.Nach meiner Auffassung ist uns mit Schlagworten wie „Leistung und Gegenleistung" nicht geholfen, weil es zwischen den beiden Teilen Deutschlands eine Fülle von Normalisierungsschritten gibt, die eben nicht in den üblichen Raster von Leistung und Gegenleistung hineinpassen. Das heißt, es gibt Felder praktischer Zusammenarbeit, die aus sich selbst heraus leben, die von gegenseitigem Interesse getragen werden und die in einem langfristigen Prozeß der Normalisierung ein eigenes Gewicht haben und positive Wirkungen auch auf andere Bereiche, z. B. im Humanitären, entfalten können. Das kann nicht rechnerisch Leistung und Gegenleistung sein.Auch mit Druck ist nichts zu erreichen. Deshalb hat mit Recht der Regierende Bürgermeister von Berlin vor wenigen Tagen in einem Interview festgestellt:Es ist eine Illusion zu glauben, daß mehr Druck auf unserer Seite weniger Druck auf der anderen Seite mit sich bringt.Weizsäcker fährt fort:Wir dürfen nicht Druck ausüben, sondern müssen das offene Gespräch suchen. Ausgewogenheit von Leistung und Gegenleistung ist nicht eine Frage einseitigen Drucks, von welcher Seite auch immer, sondern fairen Verhandelns.Es ist deshalb wichtig, diese Frage hier in die Debatte zu bringen, weil der Bundeskanzler zwar auf dem CDU-Parteitag gesagt hat, daß die Politik in Bonn gemacht wird, ich aber manchmal das Gefühl habe, daß man in Bonn stumm ist und unvereinbare Positionen von München und Berlin in die öffentliche Diskussion gebracht werden. Hier brauchen wir auch im Interesse der Menschen im anderen Teil Deutschlands Klarheit,
und deshalb werden wir die Bundesregierung und selbstverständlich unablässig auch die Regierungsparteien zu dieser Klarheit zwingen.
Ich komme jetzt auf den zweiten Punkt, das Selbstbestimmungsrecht. Das hat jedenfalls am Rande wohl auch heute vormittag eine Rolle gespielt, auch in Ihren Ausführungen, Herr Kollege Dregger. Ich bin der Auffassung, daß wir auch hier um Klarheit der Begriffe bemüht sein müssen.
Ich bin der Auffassung, daß wir unter dem Selbstbestimmungsrecht der Deutschen in unserer außenpolitischen Lage nicht eine Revision der polnischen Westgrenze verstehen dürfen. Ich habe am 10. Mai 1972 — ich war damals der Berichterstatter des Auswärtigen Ausschusses für den deutschpolnischen Vertrag — hier im Deutschen Bundestag folgendes festgestellt, und ich wiederhole das hier. Ich bin also nach 10jähriger Abwesenheit im Baubereich wieder zu diesem Bereich zurückgekehrt. Nach meiner Auffassung ist diese Feststellung nach wie vor wichtig, vielleicht heute noch wichtiger, weil wieder 10 Jahre ins Land gegangen sind.
— Darauf komme ich gleich. Ich haben damals gesagt, und dabei bleibe ich:Die deutsche Frage, die in Wirklichkeit eine Frage des Zusammenlebens der Deutschen ohne Einengung auf eine bestimmte staatsrechtliche Form ist, wird durch diesen Vertrag— nämlich den deutsch-polnischen Vertrag —endgültig von dem Odium angeblich angestrebter Gebiets- oder Grenzänderungsansprüche befreit.Ich wollte damit zum Ausdruck bringen, daß selbstverständlich, Herr Kollege Czaja, mit diesem Vertrag nicht völkerrechtlich — wir kennen die völkerrechtliche Situation — die Grenze anerkannt werden konnte.
1060 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983Dr. Haack— Moment, das ist viel wichtiger: Die Politik besteht nicht nur aus Recht und Völkerrecht,
sondern das Völkerrecht ist ein Hilfsmittel von Politik. Das können wir aber doch nicht umdrehen.Ich wollte hier zum Ausdruck bringen, daß mit diesem Vertrag die politische Anerkennung der Westgrenze Polens durch die Bundesrepublik Deutschland ausgesprochen worden ist.
— Ich möchte meinen Gedanken zu Ende führen, weil das wichtig ist.Ich will hier folgendes als meine Überzeugung feststellen. Ich gehe davon aus, daß ich hier nicht nur für meine Fraktion, sondern auch für große Teile unserer Bevölkerung, einschließlich großer Teile der Heimatvertriebenen sprechen kann. Wer heute noch das Offenhalten der deutschen Frage auf die polnische Westgrenze bezieht, hat die politisch-moralische Bedeutung des Aussöhnungsprozesses zwischen Deutschen und Polen nicht verstanden.
Deshalb sage ich — auch das hat heute vormittag schon mehrmals eine Rolle gespielt —: Die Töne des vergangenen Wochenendes, noch dazu in den Tagen des Papstbesuches in Polen, sind nach meiner Einschätzung gegen das Interesse unserer geteilten Nation gerichtet.
Jetzt komme ich noch zu einem dritten Punkt in diesem Zusammenhang, weil die Debatte zur deutschen Staatsangehörigkeit wieder aufgeflammt ist und weil das Herrn Strauß verleitet hat, im „Bayernkurier", den ich immer genau lese
— nein, es lohnt sich nicht, aber man muß ihn dennoch lesen, wobei ich Ihnen die Gründe nicht im einzelnen ausführen will —,
festzustellen, daß die Äußerungen, die der Herr Kollege Schmude vor wenigen Wochen zum Staatsangehörigkeitsrecht gemacht hat, deutlich signalisierten, daß die SPD die SED-Forderungen voll übernommen habe.
— Meine Damen und Herren, Sie haben doch Interesse. Dann stören Sie doch nicht, sondern hören einmal zu, damit ich einmal diesen Gedanken entwickeln kann! Ich habe immer noch die altmodische Auffassung, daß man verlangen kann, daß, bevor die Kritik an irgendeiner Äußerung angebrachtwird, vorher dieser angegriffene Text erst gelesen wird.
— Das gilt für alle Seiten, völlig klar!
— Ja, was hat denn der Herr Schmude gesagt? Herr Schmude hat in einem Thesenpapier zur Fortentwicklung der Deutschlandpolitik festgestellt, daß in der Diskussion um die Frage der deutschen Staatsbürgerschaft durch Klarstellung unserer Rechtsauffassung und durch eindeutige Sprache erreicht werden kann, daß auch die DDR hier kein nennenswertes Problem mehr sieht. Zur Klarstellung gehört — so Schmude —, daß wir mit unserem Staatsangehörigkeitsrecht keine Rechte der Deutschen Demokratischen Republik verletzen. Wir zwingen die deutsche Staatsangehörigkeit niemandem auf und nehmen niemanden gegen seinen Willen in Anspruch.Meine Damen und Herren, diese Auffassung steht in völliger Übereinstimmung auch mit dem Bundesverfassungsgerichtsurteil zum Grundlagenvertrag. Das Bundesverfassungsgericht bestreitet nicht, daß es eine Staatsangehörigkeit der DDR gibt. Das Bundesverfassungsgericht hat sogar indirekt festgestellt, daß ein Bürger der DDR, der bei uns ist, auch auf unsere Staatsangehörigkeit verzichten kann. Die verfassungsrechtliche Garantie der Staatsangehörigkeit der Bundesrepublik, zu der ich voll stehe,
hat doch einen völlig anderen Sinn. Sie will deutlich machen, daß wir trotz der Teilung Deutschlands nach wie vor eine Schutzfunktion auch für die Bürger der DDR haben.
— Eben darum können Sie doch den Herrn Schmude nicht angreifen. Er hat nämlich gar nichts anderes gesagt.Jetzt sage ich noch etwas, was an die SED gerichtet ist. Ich bin der Auffassung, daß die verfassungsrechtliche Regelung unseres Staatsangehörigkeitsrechts nicht Ausdruck eines überholten Alleinvertretungsanspruchs ist, sondern ein — wie ich es gerade genannt habe — Schutzrecht. Auch auf Grund aktueller Begebenheiten möchte ich hier sagen, daß ich der Meinung bin, daß auch die SEDFührung — von ihren öffentlichen Äußerungen einmal abgesehen — in Wirklichkeit diesen unseren Standpunkt anerkennt, denn anders wäre die Abschiebung von DDR-Staatsbürgern in die Bundesrepublik Deutschland überhaupt nicht möglich und auch nicht verständlich.
Das heißt, die SED unterstellt, daß ihre Bürger — z. B. aus der Friedensbewegung —, die sie zu uns abschiebt, hier bei uns automatisch Schutz haben, während sie in anderen Fällen, bei einer Abschie-
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Dr. Haackbung in andere Staaten, damit rechnen müßte, daß die Ausgewiesenen zurückgeschickt werden.Deshalb trete ich dafür ein, diesen irrsinnigen Streit über die Staatsangehörigkeitsfrage zu beenden. Alles andere könnte dazu führen, daß wir uns — wie in der Vergangenheit — wieder blockieren.Meine Damen und Herren, zahlreiche Gespräche mit Bürgern der DDR lassen bei mir den Schluß zu, daß die DDR-Bürger — wobei man nie für alle reden kann, das ist selbstverständlich; aber es ist doch eine große Zahl, ich möchte annehmen, die Mehrheit — befürchten, daß die ständige Diskussion über die Losung „Leistung und Gegenleistung" auf dem offenen Markt zu einem Abbau des bisher für die Menschen Erreichten führen kann. Sie befürchten auch, daß sich unter Umständen die Politik in der Aufzählung nicht realisierbarer Rechtspositionen erschöpfen könnte, eine Politik, die dann wieder rückwärts führte. Sie hoffen deshalb, daß die bisherige Politik auch in Zukunft weitergeführt wird.Ich bin der Meinung, wir sollten uns alle gemeinsam bemühen, den sensiblen Bereich der Deutschlandpolitik endlich nicht mehr als Schlagstock für innenpolitische Auseinandersetzungen zu bemühen.
Wir sollten uns alle gemeinsam bemühen, die Deutschlandpolitik konsensfähig zu machen.
Das heißt aber auch, daß sich die Bürger der Bundesrepublik mehr für die DDR interessieren müssen. Die Bürger der DDR erwarten, daß wir mehr von den Reisemöglichkeiten Gebrauch machen. Die Informationen über die DDR müssen verstärkt werden, die DDR-Forschung sowie die schulische und die Erwachsenenbildung müssen aktiviert werden.Vor allem meine ich, daß es nicht zu einer Reideologisierung der Deutschlandpolitik durch alte Denkschablonen kommen darf. Wir von der Opposition werden genau beobachten, wie CDU und CSU die Deutschlandpolitik in ihrer Bildungsarbeit und in ihrer Verbandsarbeit behandeln.
Meine Damen und Herren, ich denke, wir müssen die Deutschlandpolitik fortentwickeln. Wir haben im Grundlagenvertrag und, so meine ich, auch im KSZE-Prozeß genügend Perspektiven. Wir müssen weitere Felder für Vereinbarungen und gemeinsame Interessengebiete finden, denn gemeinsame Interessen sind stärker als Konflikte. Als Gebiete möchte ich nennen: Umweltschutz, Wissenschaft und Technik, Kultur, Handel, Reiseverkehr, Jugend-und Sportbegegnungen. Ich möchte noch hinzusetzen: Städtepartnerschaften. Wir dürfen uns nicht gegenseitig durch einseitige Forderungen blockieren. Offensichtlich ist es heute auch die Meinung der SED-Führung — der Bundeskanzler hat heutefrüh eine entsprechende Äußerung von Herrn Honecker auf der Frühjahrsmesse in Leipzig zitiert.
Herr Abgeordneter, ich muß Sie leider aufmerksam machen, daß Ihre Redezeit abgelaufen ist.
Ich komme zu dem Ergebnis, daß auch die sechste Tagung des ZK der SED in der vergangenen Woche wohl diese Linie bestätigt hat.
Meine Damen und Herren, wir müssen sehen, daß wir nach wie vor unserer gemeinsamen Verantwortung gerecht werden trotz unterschiedlicher Systeme. Wir dürfen zwar Gegensätze nicht verwischen, selbstverständlich, aber wir müssen unseren Beitrag für eine Entspannung über die Systemgrenzen hinweg deutlich sehen und unserer praktischen Politik zugrunde legen.
Eine abschließende Bemerkung. Wenn der Herr Bundeskanzler in seinem Bericht auf die Lage Deutschlands in der Mitte Europas hingewiesen hat, so meine ich, daß es wichtig ist, nicht nur zu dieser Feststellung zu kommen, sondern daraus die richtigen Konsequenzen zu ziehen, und zwar gerade im Blick auf unsere jüngste Vergangenheit. Ich meine, daß die Katastrophen unserer jüngsten Vergangenheit gerade darauf beruhen, daß wir oft diese Mittellage nicht erkannt haben, daß deutsche Politik gegen unsere Nachbarn gerichtet war. Wir müssen deshalb — wir haben das in den letzten 13 Jahren getan — aus der geographischen Lage der Mitte unseres Volkes eine Politik der Mitte machen, d. h. eine Politik der Verständigung, des Ausgleichs und der Versöhnung mit unseren Nachbarn.
Herr Dr. Haack — —
Es ist mein letzter Satz, Herr Präsident.
Zu dieser Politik gibt es im deutschen Interesse keine Alternative. Nur so, nur mit dieser Art, Politik zu treiben, dienen wir den Interessen unserer Nation und bauen an einer europäischen Friedensordnung, die unserem geteilten Volk die Perspektive der Einheit gibt. Die SPD-Bundestagsfraktion wird auch in der Zukunft, auch in ihrer neuen Rolle als Opposition, unablässig für diese Politik eintreten. — Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Lintner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Haack, wir hören sehr wohl die vielen Appelle zur Gemeinsamkeit in der Deutschlandpolitik, aber es gibt auch Töne, die diese Gemeinsamkeit deutlich stören. Auch bei Ihrer Rede waren einige Passagen, die wir so nicht akzeptieren können.
Wenn Sie immer über die Zeit sprechen, die vergangen ist, und dann an das Jahr 1969 anknüpfen, dann kann ich dem schon deshalb nicht zustimmen, weil Sie dann nämlich ganz entscheidende Korrekturen der Deutschlandpolitik der alten Regierung
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Lintner
übersehen und einfach vom Tisch wischen, die die Unionsparteien herbeigeführt haben. Ich erinnere Sie nur an die Urteile des Bundesverfassungsgerichts.
Die notwendigen Korrekturen, die wir meinen, wenn wir von anderen Akzenten sprechen, sind heute in der Regierungserklärung vielfach genannt worden. Ich brauche sie nicht zu wiederholen. Sie wollen durch ständiges Wiederholen den Eindruck erwecken, daß Kontinität quasi Selbstverständlichkeit sei.
Ich muß Ihnen auch sagen, daß der Streit um die Begriffe, auf die Sie hier anspielen, längst erledigt ist. Darüber besteht auch innerhalb der Koalition Einigkeit. Es gibt keinen Anlaß, dazu noch einmal Stellung zu nehmen.
Ich muß zu einem, was sie hier eingeführt haben, noch etwas sagen. Sie sprechen z. B. über die OderNeiße-Grenze in einer Art und Weise, bei der Sie erst einmal klären müssen, ob das die Meinung in Ihrer gesamten Fraktion ist. Sie wischen quasi mit einer Handbewegung die Bestimmungen des Deutschlandvertrages, des Grundgesetzes beiseite und erklären das alles für politisch so gewollt. So deutlich ist das bisher von Ihrer Seite noch nicht zum Ausdruck gekommen. Wir nehmen das zur Kenntnis.
Meine Damen und Herren, der Herr Bundeskanzler hat heute morgen einen Bericht abgegeben, der endlich wieder die korrekte Bezeichnung hat, nämlich „Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland". Wir haben diese Korrektur als längst notwendig dankbar zur Kenntnis genommen.
Meine Damen und Herren, über den Zusammenhang von Sprache und Politik sind dicke Bücher geschrieben worden. Hier ist er sozusagen mit den Händen zu greifen, denn wer nicht mehr ausspricht oder auszusprechen wagt, daß unser Land geteilt ist, setzt sich dem Verdacht aus, diese Tatsache auch aus dem Bewußtsein unserer Bürger verdrängen zu wollen. Ich bin jedenfalls dankbar, daß wieder gesagt wird, wie die Lage im geteilten Deutschland ist.
Wir halten das auch für eine Mindestvoraussetzung dafür, daß der Dialog zwischen der DDR — und wir wollen diesen Dialog — ernsthaft und mit Blick auf wirkliche Ergebnisse geführt werden kann. Auch wenn die Machthaber in Ost-Berlin und Moskau dies nicht hören wollen: Deutschland ist als Nation weder untergegangen noch ist das deutsche Volk nach 1945 aufgelöst worden. Bereits in seiner ersten Regierungserklärung vom Oktober 1982 hat der Bundeskanzler deutlich gemacht: die deutsche Nation ist geblieben, und sie wird fortbestehen. So ist es, und das ist nach unserer Überzeugung der lebendige Wille bei den Deutschen in Ost und in West.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Herr Kollege Löffler, ich habe eine Rede für 20 Minuten, aber nur noch 16 Minuten Zeit. Ich bitte um Verständnis, daß ich sie nicht zulassen kann.In den letzten Jahren haben wir im Deutschen Bundestag leider nur noch selten über Deutschland sprechen können. Das war falsch. Die fatalen Folgen sieht man heut schon daran, daß uns die jüngeren Generationen fragend anschauen, wenn wir von Deutschland sprechen. An dieser Stelle deshalb auch von meiner Seite namens der Fraktion einen Dank aus ganzem Herzen an den Herrn Bundespräsidenten, der vor einer Woche von diesem Pult aus in so überzeugender Weise für uns alle zu diesem Thema gesprochen hat.
Wir reden also wieder über Deutschland. Dieses Wort hören die Mächtigen in der DDR nur ungern. Aber hier werden sie unlogisch, sind sie doch selbst Gefangene ihrer eigenen Bezeichnungen. Denn es heißt ja nach wie vor „Sozialistische Einheitspartei Deutschlands" oder „Neues Deutschland". Deutschland existiert also fort, politisch, rechtlich und in den Herzen der Menschen.Wir wissen, daß dies Konsequenzen für unsere Politik hat, Konsequenzen, die nicht willkürlich aus opportunistischen Gründen zur Disposition gestellt werden können, wie dies z. B. Stimmen aus der SPD-Fraktion uns nahelegen wollen. Man kann nicht — Herr Kollege Haack, da komme ich auch auf etwas zu sprechen, was Sie hier so eben angeführt haben —, man kann nicht, wie Ihr Kollege Schmude dies getan hat, von der einen deutschen Staatsangehörigkeit zumindest zwischen den Zeilen abrücken, und zwar schon aus vielen rechtlichen Gründen. Man kann es aber auch deshalb nicht tun, weil jeder Zweifel in diesem sensiblen Bereich — da werden Sie mir vielleicht sogar zustimmen — zu Unsicherheit bei unseren Landsleuten in der DDR führt. Ich möchte deshalb ausdrücklich hier betonen: es wird keinerlei Abstriche an unserem Festhalten an der einen deutschen Staatsangehörigkeit geben.
Zur Wirklichkeit gehört auch, daß es heute zwei Staaten in Deutschland gibt. Das ändert aber nichts daran, daß die beiderseits der innerdeutschen Grenze lebenden Menschen an ihrer Zugehörigkeit zu einer deutschen Nation festhalten. Dies sollte auch von der Deutschlandpolitik gefördert werden, und zwar mehr als dies bisher geschehen ist.Deshalb von hier aus die dringende Bitte — vorhin klang es schon einmal an — an die Kultusmini-
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Lintnerster der Länder: drängen Sie darauf, daß in den Schulen wieder über die Teilung unseres Landes gesprochen wird. Sorgen Sie dafür, daß die Lehrer motiviert und in die Lage versetzt werden, ihren Schülern zu vermitteln, daß Dresden, Magdeburg, und Erfurt ebenso deutsche Städte sind wie München, Frankfurt und Hamburg.Ziel muß sein: für unsere Kinder und Jugendlichen muß die genaue Kenntnis über Mittel- und Ostdeutschland wieder ganz selbstverständlich werden.Selbstverständlich sollte es auch werden, daß man in die DDR reist. Es ist eine alarmierende Tatsache, wenn nur 4 % unserer Jugendlichen einmal in der DDR waren, aber 40 % bereits im europäischen Ausland. Ich begrüße es deshalb ganz ausdrücklich, daß die Bundesregierung durch Zuschüsse die Reisemöglichkeit in die DDR fördert.Genauso begrüßen wir es, daß der zwischen dem Bundesjugendring und der FDJ vereinbarte Jugendaustausch läuft und schon jetzt zirka 5 000 Jugendliche von unserer Seite in die DDR fahren konnten. Wir freuen uns darüber, daß rund tausend Jugendliche aus der DDR auf diesem Wege zu uns gekommen sind. Ich meine, das sind noch zu wenige; es wäre noch sehr ausbaufähig bis hin zu einer Art Jugendwerk.Es stört diese Bemühungen, wenn z. B. am vergangenen Wochenende fünf jungen Menschen aus der Bundesrepublik die Einreise nach Ost-Berlin ohne plausiblen Grund verwehrt wurde.
Ich frage mich allen Ernstes, was denn die DDR mit solchen und ähnlichen Maßnahmen bezwecken will. Sie zeigen doch eigentlich nur, wie widersprüchlich die Politik der DDR-Regierung ist und wie oft dort Worte und Taten der SED-Führung auseinanderklaffen. Die DDR sollte deshalb zunächst im eigenen Haus für Klarheit sorgen.
Wenn die DDR den Dialog mit uns tatsächlich will, dann muß sie aufhören, Zwischenfälle zu produzieren. Das gilt für alle Bereiche der Deutschlandpolitik. Im Moment sehen wir ein manchmal nur schwer zu deutendes, weil sehr widersprüchliches Bild der Deutschlandpolitik der SED. Einerseits hören wir nämlich die ständig wiederholten offiziellen und inoffiziellen Signale der Gesprächsbereitschaft, so erst jetzt wieder anläßlich der 6. Tagung des ZK der SED, andererseits registrieren wir aber auch Aktionen, die provokativ und unlogisch sind. Es befriedigt nicht, wenn die SED-Führung
Kontinuität, Berechenbarkeit und Zuverlässigkeit von uns reklamiert, Herr Kollege Löffler, selbst aber Verträge verletzt, die Einreise verweigert, zwangsweise ausbürgert, sich im Ernstfall also überhaupt nicht darum schert, wozu sie sich international häufig feierlich verpflichtet hat.Es befriedigt auch nicht, wenn dann die DDRFührung im nachhinein versucht, Verständnis für ihre Maßnahmen zu wecken, wenn sie z. B. die ein-seitige Erhöhung des Mindestumtausches mit Hinweisen auf ökonomische Zwänge versucht uns verständlich zu machen. Die DDR-Regierung verkennt dabei, daß jede Vertragsverletzung an sich ein eklatanter Störfaktor ist und die Stabilität in der Deutschlandpolitik gefährdet. Wer ständig die Worte „Verläßlichkeit" und „Stetigkeit" im Munde führt, muß zunächst einmal dafür sorgen, daß seine eigene Politik diesen Ansprüchen auch gerecht wird.Zwischenfälle, das Verstärken von Grenzbefestigungen, die Erhöhung des Mindestumtausches oder das Zurückweisen von Journalisten und Reisenden sind alles Beispiele dafür, daß die Politik der SED in einem erschreckenden Maße unberechenbar und unzuverlässig ist.
Wie so oft in diesem Zusammenhang betont die DDR auch hier die Prinzipien der friedlichen Koexistenz. Es scheint mir sinnvoll zu sein, an dieser Stelle einmal unsere im Westen lebenden und manchmal politisch so gutgläubigen Bürger daran zu erinnern, was „friedliche Koexistenz" im sozialistischen Sprachgebrauch tatsächlich bedeutet. Der Begriff klingt so harmlos und friedlich, aber er hat es in sich. „Friedliche Koexistenz" wird im „Kleinen politischen Wörterbuch" aus Ost-Berlin wie folgt definiert:Auf dem Gebiet der Ideologie jedoch kann es keine Kompromisse, keine Vermischung von sozialistischer und bürgerlicher Ideologie geben. Daher schließt die Politik der friedlichen Koexistenz die ideologische Auseinandersetzung ein.Die Politik der friedlichen Koexistenz ist ökonomischer, politischer und ideologischer Klassenkampf.Ich möchte an dieser Stelle nicht — dazu reicht die Zeit auch gar nicht — in eine detaillierte Bewertung dieser grundsätzlichen Aussage eintreten. Mir geht es nur darum, nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, daß für die Kommunisten in Ost-Berlin friedliche Koexistenz etwas sehr, sehr Unfriedliches bedeutet; man kann den praktischen Anschauungsunterricht dazu gar nicht übersehen: Militarisierung aller Lebensbereiche in der DDR, Erziehung zum Haß auf den Klassenfeind — von der Wiege bis zur Bahre — oder unter dem Stichwort „Sozialistischer Internationalismus": aktive Unterstützung der Bürgerkriege in Afrika, Hilfe bei der Unterdrückung von Völkern. Alles Aktivitäten der DDR-Regierung, die leider häufig aus der Sicht des Auslandes einfach als „deutsch" etikettiert werden — Themen im übrigen, über die die SED-Führung auch unter der Überschrift: „Von deutschem Boden darf nie wieder ein Krieg ausgehen" mit uns einmal sprechen sollte. Wir müssen dies klar und nüchtern sehen, meine Damen und Herren. Wir haben keinen Anlaß, die von der anderen Seite gesuchte ökonomische, politische und ideologische Auseinandersetzung zu scheuen. Wir dürfen aber auch nicht einfach so tun, als fände diese Auseinandersetzung gar nicht statt.
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1064 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983
Lintner„Berlin bleibt" — so hat der Bundeskanzler hier gesagt — „Gradmesser für die Ost-West-Beziehungen." Berlin ist daher keine Stadt wie jede andere. Die geteilte Stadt ist Symbol — Symbol für den Freiheitswillen des deutschen Volkes und Symbol für die Offenheit der deutschen Frage. Deshalb bleibt Berlin unsere gemeinsame nationale Aufgabe. Wir begrüßen die Initiativen des Bundeskanzlers, die deutsche Hauptstadt entscheidend zu stärken.
Hierbei haben wir keine Illusionen. Wir wissen, daß es spektakuläre Erfolge nicht geben wird. Der wirtschaftliche Problemberg, den wir von der früheren Bundesregierung übernommen haben, hat Berlin besonders getroffen.Um so unverständlicher ist aber nun das Störfeuer, das sich im Moment für den Bereich des Berlin-Förderungsgesetzes abzeichnet.
Die SPD-Landesregierung von Bremen geht nach meiner Auffassung in ihrem Egoismus entschieden zu weit, wenn sie jetzt das erst vor kurzem geänderte Berlin-Förderungsgesetz schon wieder zu Lasten Berlins ändern will. Meine Damen und Herren, Berlin braucht Ruhe und Stetigkeit in den wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen, wenn sich die Situation in der Stadt verbessern soll.
Langfristiges Ziel unserer Deutschlandpolitik ist und bleibt die Herstellung der staatlichen und der nationalen Einheit. In Übereinstimmung mit Verfassung und Völkerrecht beharren wir deshalb auf der Forderung nach friedlicher Wiederherstellung der Einheit Deutschlands in freier Selbstbestimmung genauso wie auf dem Abschluß eines Friedensvertrages mit Deutschland als Ganzem. Solange die deutsche Einheit in Freiheit nicht erreicht ist, muß die ganze deutsche Frage rechtlich und politisch offengehalten werden.Einer der ärgsten Feinde seriöser Deutschlandpolitik ist die Ungeduld. Dabei ist es aber nur zu verständlich, wenn die Menschen in Deutschland ungeduldig bei dem Gedanken werden, daß z. B. der junge Mann aus Dortmund das junge Mädchen aus Dresden überhaupt nicht oder nur unter Schwierigkeiten heiraten kann oder daß es der Familie verwehrt wird, zusammenzuziehen, oder sich junge Deutsche, die Vettern oder sogar Brüder sein könnten, als Soldaten gegenüberstehen.Wir müssen es aber immer wieder aussprechen: Ungeduld schadet unserer Deutschlandpolitik. Notwendig sind hier Ausdauer und Beharrlichkeit, notwendig ist der lange Atem. Von ihm war in der Vergangenheit zwar oft die Rede; aber in Wirklichkeit hat er gefehlt. Die Bundesregierung steht hier vor einer gewaltigen Aufgabe. In der Politik mit Ost-Berlin kann und darf es nicht um kurzfristige, bloß vermeintliche Erfolge gehen, sondern darum, mit langfristigen Perspektiven dem großen Ziel unserer Politik näherzukommen, nämlich Einigkeit in Recht und Freiheit herzustellen.Im übrigen, meine Damen und Herren, ist das Streben nach Einheit, ist die Sehnsucht nach Heimat weder eine flüchtige Erscheinung des Zeitgeistes noch typisch deutsch, wie es so gern hingestellt wird. Es ist vielmehr eine der ureigensten Eigenschaften des Menschen, daß er sich nach Gemeinsamkeit sehnt und letztlich als Angehöriger eines Volkes in einer Nation zusammenleben möchte. Es gibt viele Beispiele in der Geschichte — Polen ist oft genannt worden —, die zeigen, daß der Wunsch nach nationaler Einheit übermächtig ist und auch eine aufgezwungene Trennung ihn nicht zu beseitigen vermag.Es ist an der Zeit, hieran wieder öffentlich zu erinnern, und die Bundesregierung tut dies Gott sei Dank. Zugleich erkennen wir aber, wie groß der Berg von Problemen ist, vor dem die Regierung steht. Zu vieles ist in den letzten 13 Jahren nicht getan oder nicht gesagt worden. Die Bundesregierung kann sicher sein, daß die Fraktion der CDU/ CSU alle Maßnahmen und Schritte unterstützt, die dazu dienen, das Problembewußtsein unserer Bürger über die Lage der Nation im geteilten Deutschland zu schärfen.Meine Damen und Herren, wir finden uns mit der kommunistischen Diktatur im anderen Teil Deutschlands, mit der Unterdrückung der Freizügigkeit und der Meinungsfreiheit, mit Mauer und Stacheldraht niemals ab. Wir wissen, daß wir heute und in Zukunft an der Festigkeit unseres Willens gemessen werden, uns keinem Diktat in diesem Punkt zu beugen, das es unserem geteilten Volk verwehren will, in Freiheit zusammenzukommen, zusammen zu leben, zusammen seine Zukunft zu gestalten. Wer derselben Meinung ist, den bitte ich, unseren Entschließungsantrag zu unterstützen und letztlich ihm zuzustimmen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Ronneburger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Haack ist mit einer ganzen Reihe von Fragen vorhin hier aufgetreten. Eine Reihe von ihnen, meine ich, haben wir schon beantwortet. Aber zu Ihrer Eingangsfrage, Herr Kollege Haack, würde ich gern zu Beginn Stellung nehmen.Sie haben gefragt, mit welchen Empfindungen möglicherweise unsere Landsleute in der DDR unsere heutige Debatte verfolgen. Ich könnte mir vorstellen, daß bei nicht wenigen von ihnen der Wunsch aufkäme, sie möchten mit ihrer Regierung so umgehen können, wie es die Opposition in diesem Hause zu tun vermag.
Ich möchte allerdings dem Kollegen Fischer dazusagen, man kann das Recht der freien Meinungsäußerung auch überziehen und pervertieren, indem
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Ronneburgerman Polemik an die Stelle von freier Äußerung von Meinung und Kritik setzt.
Damit wird ein bestimmtes Recht, Herr Kollege Fischer, möglicherweise mißbraucht.Herr Kollege Haack, Sie haben mehrfach an die FDP-Fraktion die Frage gestellt, was sie eigentlich zur Kontinuität der Deutschlandpolitik meint. Sie haben darüber hinaus an mich die Aufforderung gerichtet, hier einmal deutlich Stellung zu beziehen. Nun kann ich Ihnen dazu guten Gewissens sagen, seit dem vergangenen Herbst hatte ich dreimal Gelegenheit, zu diesem Fragenkomplex hier von dieser Stelle aus meine Meinung und die Meinung meiner Fraktion zu sagen. Ich kann Ihnen nur sagen, daß ich bei einer dieser Gelegenheiten auch Ihre Fraktion darauf hingewiesen habe, daß wir, die Mitglieder der FDP-Fraktion, mit der Kontinuität in der Deutschlandpolitik offenbar weniger Schwierigkeiten haben als Sie und manche der Mitglieder Ihrer Fraktion.Ich will damit die Diskussion gar nicht verschärfen, weil ich überhaupt nicht bestreiten will, daß wir eine lange Reihe von Jahren hindurch diese Politik gemeinsam betrieben haben und daß die Erfolge dieser Politik ja nach wie vor spürbar sind. Nur eines würde ich an dieser Stelle gern der SPD-Fraktion mit auf den Weg geben: Sie sollten eigentlich einmal damit aufhören, gegenüber einer anderen Fraktion in der Mitte dieses Hauses Deutschlandpolitik damit zu begründen und zu betreiben, daß Sie darauf aufmerksam machen, daß Ihnen hier aus diesem Lager eine Reihe von Jahren Widerstand geleistet worden ist. Zweifellos ist das richtig. Aber dann muß sich die SPD-Fraktion auch fragen lassen, Herr Kollege Haack, wie es denn mit den Grundlagen für diese Politik und mit der Schaffung dieser Grundlagen gegen den Widerstand der SPD seinerzeit ausgesehen hat.
Wenn wir schon Vergangenheitsbewältigung betreiben, machen wir sie bitte nicht erst für die Zeit seit 1969.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Haack?
Darf ich Sie fragen — das habe ich vorhin in meiner Rede eigentlich schon getan —, ob Sie mitbekommen haben, daß ich diese meine Fragen auch an die FDP nicht aus Polemik gestellt habe, sondern um ganz klar zu machen — auch wenn es vorher schon einmal in der Debatte gesagt worden ist —, daß diese Kontinuität entscheidend für die Fortsetzung ist. Und wenn Sie jetzt bemerken, daß die CDU vorher Opposition gewesen ist, dann darf ich an Sie die Frage stellen, wenn Sie jetzt etwas kritisch die Haltung der SPD in den 50er Jahren meinen, ob Ihnen entgangen ist, daß im Juni 1960 eine ganz entscheidende Rede vom damaligen Vorsitzenden der Fraktion der SPD gehalten worden ist. Ich darf an Sie die Frage stellen, ob eine ähnliche Rede, was die Deutschland-
und Ostpolitik anbelangt, bisher von einem Vertreter der CDU/CSU gehalten worden ist.
Wenn Sie diese Frage so stellen, dann muß ich Ihnen sagen — obwohl es nicht meine Aufgabe ist, hier eine andere Fraktion oder den Bundeskanzler zu verteidigen —: Wenn Sie die Regierungserklärungen von Bundeskanzler Helmut Kohl bisher verfolgt hätten, wenn Sie verfolgt hätten, was in den Debatten über diese Regierungserklärungen zur Deutschlandpolitik gesagt worden ist, dann hätten Sie diese Frage eben eigentlich nicht stellen dürfen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es mag ein Zufall gewesen sein, daß die Debatte über die Lage der Nation — —
— Ich halte mich — ich sage Ihnen das noch einmal, Herr Kollege —
an den Wortlaut der Koalitionsabmachungen, ich halte mich an den Inhalt von Regierungserklärungen. Und auf dieser Basis wird meine Fraktion nicht die letzte sein, die die Politik dieser Regierung in diesem Sinne mitträgt und mitverfolgt. Das ist die Basis, auf der wir arbeiten.
— Ich könnte Ihnen auch Äußerungen aus Ihren eigenen Reihen im Zusammenhang mit manchen anderen Punkten bringen, die Sie vielleicht auch nicht mit vollem Herzen unterstützen.
Also, Herr Kollege, lassen Sie mich bitte die kurze Zeit, die mir zur Verfügung steht, noch für einige, wie ich meine, notwendige Bemerkungen verwenden.Es mag ein Zufall gewesen sein, daß die Debatte des heutigen Tages sozusagen fließend aus der Europadebatte des gestrigen Tages übergegangen ist; aber sicherlich ist es kein Zufall, daß in den Debatten der letzten Tage und Wochen der unmittelbare Zusammenhang zwischen Europapolitik und Deutschlandpolitik immer wieder deutlich herausgekommen ist. Ich will dazu nur ein einziges kurzes Zitat aus der Regierungserklärung des Bundeskanzlers vom 4. Mai bringen. Es heißt dort:Aus eigener Kraft allein können wir Deutschen den Zustand der Teilung nicht ändern. Wir können ... ihn aber ... erträglicher und weniger gefährlich machen. Ändern kann er sich ... nur im Rahmen einer dauerhaften Friedensordnung in Europa.1066 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983RonneburgerIch glaube, daß damit im Grunde genommen dieser fundamentale Zusammenhang für unsere Politik auf beiden Gebieten deutlich genug ausgesprochen worden ist und daß gleichzeitig deutlich gemacht worden ist, daß wir dann, wenn wir von der Lösung der deutschen Frage in einer europäischen Friedensordnung sprechen, Europa schon gar nicht an der Elbe, aber auch nicht an Oder und Neiße abgegrenzt sehen.
Der Vorschlag einer Politik der kleinen Schritte, wie in der Vergangenheit, meine Kollegen, für den Weg dorthin, in eine europäische Friedensordnung, ist nicht etwa Ausdruck illusionärer Großmachtträume ewig Gestriger, ist nicht Revanchismus, wie manche Staatsführungen des Warschauer Pakts ihre willkürlichen Abgrenzungsbemühungen meinen begründen zu müssen, sondern dies ist ein wirklich aufrichtiges Angebot, daß neben seinem wichtigsten Ziel, der Friedenssicherung, würde es denn Wirklichkeit, auch die Wirkung hätte, den mehr oder minder entzogenen Lohn der Arbeit der Menschen hier wie dort in zukunftsöffnende Investitionen lenken zu können und eben nicht in Rüstung.Die westeuropäische Einigung als Versuch, aus der gemeinsamen leidvollen geschichtlichen Erfahrung zu lernen, ist der beste Beweis, daß sogar langjährige, jahrhundertelange Feindseligkeiten zwischen Staaten mit friedlichen Mitteln überwunden werden können. Feindseligkeiten zwischen Völkern kann man schaffen. Sie sind nicht naturgegeben. Aber sie sind von daher gesehen auch zu überwinden, wenn der feste Wille dazu besteht. Und deswegen meine ich, meine Kollegen: Wenn es heute gemeinsame Interessen und Sorgen auf beiden Seiten unserer Grenze gibt, Friedensbewegung in der DDR und bei uns zum Beispiel, dann muß man sagen: Es darf nicht nur von der einen Seite her ernst genommen werden, was auf der anderen geschieht, sondern wenn wir Sorgen der Menschen auf der anderen Seite ernst nehmen, dann sind wir allerdings verpflichtet, es auch bei uns zu tun. Das gleiche gilt für die DDR. Die Vorstellung, daß man dort drüben Mitglieder einer Friedensbewegung zwangsweise ausweist, über die Grenze abschiebt, ist im Grunde genommen unerträglich. Das sage ich gerade auch, weil ich an den Kirchentag und seine Äußerungen denke, den wir erlebt haben.Das gleiche gilt für die Schaffung des Feindbildes in der DDR, das immer wieder aufgeputscht und immer wieder neu angefacht wird. Das sollte aufhören. Wenn es denn unter Völkern möglich ist, Frieden zu schaffen, Feindseligkeit abzubauen: Um wieviel eher sollte es dann doch möglich sein innerhalb eines Volkes, auch wenn es in zwei getrennten Staaten lebt?
Es ist allerdings der entgegengesetzte Weg, wenn im anderen Teil Deutschlands amtlicherseits und unter teilweisen großen Anstrengungen versucht wird, die gemeinsame Geschichte einseitig zu interpretieren und aus ihr ein Nationalbewußtsein der DDR zu konstruieren, künstlich herzustellen. Dieser Versuch muß scheitern — und er wird scheitern —, weil Nationalbewußtsein keine Kreation einer Staatsführung ist. Es gibt keinen Ausstieg aus der gemeinsamen Geschichte per Verordnung. Daher wird es auch nie ein DDR-Nationalbewußtsein geben. Ebenso sollte und wird es kein Nationalbewußtsein der Bundesrepublik geben.
Ich glaube nicht, daß es der DDR gelingen wird — auch nicht mit der Theoriediskussion um die sozioökonomische Bedingtheit der Nation —, die Nation zu teilen. Überkommene Werte werden es verhindern. Vor allen Dingen wird es aber auf einem ganz anderen Wege verhindert werden: Nation ist — so hat der Franzose Ernest Renan im 19. Jahrhundert gesagt - ein sich täglich wiederholendes Plebiszit. Dieses Plebiszit vollzieht sich täglich: in deutscher Sprache, in Besuchen hinüber und herüber, im Einschalten von Fernseh- und Rundfunksendungen, durch Briefe und Telefongespräche, durch die tägliche Vermittlung — wie ich sie für nötig halte — von gemeinsamer Geschichte und Kultur in Schulen auf unserer, aber auch auf der anderen Seite. Und nicht zuletzt bilden doch wohl die Feiern und Veranstaltungen im Luther-Jahr eine Identifikation mit der den beiden deutschen Staaten gemeinsamen Geschichte. Wir sollten uns nicht — niemand sollte das tun, Herr Kollege Schily — aus dieser gemeinsamen Geschichte, Tradition und Wertegemeinschaft verabschieden.Sie haben von einem Neuanfang 1945 gesprochen. Ich bin bereit, Ihnen zuzugestehen, daß wir, die wir damals angefangen haben, uns fragen lassen müssen, ob wir eigentlich neben dem materiellen Wiederaufbau genug Zeit, Kraft und Intelligenz auch auf den Neuanfang im Ethischen, im Politischen, im Gesellschaftlichen verwandt haben.
Ich bin bereit, diese Frage ernst zu nehmen. Aber ich warne Sie vor einem, nämlich vor dem Ausklammern der Jahre 1933 bis 1945 aus unserem Geschichtsbewußtsein. Ich warne Sie noch mehr vor dem Verdrängen von Höhen und Tiefen der deutschen Geschichte und vor einem Sich-Lösen aus der Tradition und aus der gemeinsamen Verantwortung.In den letzten Tagen sind wir — ich halte das hinsichtlich unserer Überlegungen für wichtig — Zeugen eines hoffnungsweckenden Geschehens gewesen. Der polnische Papst ruft in einer schlesischen Stadt zur Versöhnung zwischen Polen und Deutschen auf. Der Aufruf des Papstes richtet sich an beide Völker, und der Papst hat in seinem Aufruf nicht etwa zwischen den einen Deutschen und den anderen Deutschen unterschieden. Er hat — jedenfalls gilt das für mich, Herr Kollege Hupka — keinen „Anlaß zur Enttäuschung" gegeben, wie es in einer Meldung der „Welt" wiedergegeben war.
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RonneburgerDie „Welt" schreibt in derselben Ausgabe — ich darf zitieren, Herr Präsident —:Das Warschauer Regime mag gehofft haben, Johannes Paul II. würde sich auf dem Boden der einstigen deutschen Ostgebiete, hier in der Hauptstadt Schlesiens, auf den allgemein üblichen polnischen Patriotismus beschränken. Vielleicht hofften manche sogar, der polnische Papst würde vom Genius loci dazu veranlaßt, auf dieser Station Stellung gegen die Deutschen, gegen die westlichen Nachbarn Polens und damit gegen den Westen zu beziehen.Das Gegenteil geschah: Der Papst, der tags zuvor in Posen die Zugehörigkeit seines Landes zu den Werten und Traditionen Westeuropas unterstrichen hatte, forderte in Breslau seine Landsleute zur Versöhnung mit den Deutschen auf.Ich glaube, hier ist einer der Ansatzpunkte für das, was wir im Grunde genommen vor Augen haben, wenn wir über die Grenze zwischen den beiden Teilen Deutschlands blicken. Ich glaube, die Worte des Papstes sind verstanden worden. Sie waren auch so präzise, daß sie richtig verstanden werden können.Aber damit hier kein Mißverständnis auftritt im Blick auf verschiedene Meldungen der letzten Zeit und auch einige Äußerungen in der heutigen Debatte: Ich möchte noch einmal davor warnen, zu einem Zeitpunkt, zu dem kein aktueller Bedarf dafür besteht, Entscheidungen herbeizureden oder zu diskutieren, die nur ein demokratisch legitimierter Vertreter des gesamten deutschen Volkes eines Tages wird treffen können.
Aber ich füge hinzu: Wir berufen uns in der Deutschlandpolitik auf das Grundgesetz und seinen Auftrag. Ich zitiere noch einmal das, was hier schon so oft gesagt wurde:Das gesamte deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.Ich sage Ihnen: Da ist nicht die Rede von einer Restauration des Deutschen Reiches, in welchen Grenzen auch immer. Im Auftrag des Grundgesetzes ist noch nicht einmal der Ausdruck „Wiedervereinigung" zu finden. Es ist damals ein neuer, ein nicht in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft weisender Auftrag formuliert worden, ein Auftrag, von dem ich glaube und von dem ich überzeugt bin, daß wir, meine Generation, ihn auch an die nächste Generation mit Überzeugungskraft weitergeben können. Wenn wir die Realitäten, die wir heute im Verhältnis der beiden deutschen Staaten für unerträglich halten, ändern wollen, müssen wir eben von den Realitäten ausgehen.
Meine Kollegen, ich darf in diesem Zusammenhang auch zitieren, was der Bundespräsident hier vor knapp einer Woche in der zu Recht schon mehrfach gewürdigten Rede gesagt hat, als er von den Folgen des Krieges und des Nazi-Regimes sprach, nämlich daß die Abtrennung der Ostprovinzen und die Teilung Deutschlands in zwei Staaten Realität sei. Dies ist es, was uns bedrückt, nämlich diese Grenze zu überwinden und eines Tages den Auftrag der Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands auszuführen.Um das zu erreichen, ist Voraussetzung, daß es Kontakte zwischen den Menschen in beiden Teilen gibt, daß Gespräche auf allen Ebenen geführt werden, daß es Vertrauen auf beiden Seiten gibt; daß es diese Gespräche, diese Kontakte, dies alles zwischen Menschen, aber auch zwischen Institutionen in den beiden deutschen Staaten gibt.Ich glaube, wir sollten die Bemühungen darum von niemandem stören lassen; weder von jemandem, der etwa noch nicht gemerkt hat, bei wem die Verantwortung für die Regierungspolitik liegt, noch von jemandem, Herr Kollege Haack, der wider besseres Wissen aus grundsätzlicher Opposition meint, durch überzogene Kritik die Bemühungen darum diskreditieren zu müssen.
Wer in seinem Antrag formuliert — mehr will ich zu dem Antrag gar nicht sagen — „Wer aber einzelne Fälle und strittige Fragen der Vertragsanwendung zur persönlichen oder parteipolitischen Profilierung mißbraucht, schadet in unverantwortlicher Weise Berlin und den Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten", wer dies mehrere Wochen nach den angesprochenen Ereignissen immer wieder einmal aufrühren zu müssen glaubt, muß sich fragen lassen, ob er nicht genau in derselben Absicht formuliert, nämlich zur parteipolitischen oder persönlichen Profilierung.
— Herr Kollege, ich befinde mich wirklich in der letzten Minute meiner Redezeit. — Bis zum Ende der 9. Legislaturperiode haben die Fraktionen dieses Hauses Wert darauf gelegt, daß Deutschlandpolitik vom Konsens aller Fraktionen getragen wird. Wir wünschen, daß dies auch weiterhin gilt.Unsere Deutschlandpolitik hat, ausgehend von den Realitäten, eine, wie gerade die letzten Wochen gezeigt haben, stabile Basis, die auch bei allen notwendigen Einschränkungen einigen Belastungen standzuhalten vermag.Gewiß sind wir dem Einfluß des gesamten OstWest-Verhältnisses ausgesetzt. Aber die Vergangenheit hat an mehreren Stellen gezeigt, daß nicht alles, was es an Belastungen im Ost-West-Verhältnis weltweit gibt, unmittelbar auf die Deutschlandpolitik Auswirkungen haben muß. Deswegen meine ich, daß wir das gemeinsame Interesse der deutschen Staaten, der deutschen Menschen, aber auch das sehr deutlich erkennbare eigene Interesse der DDR an der Fortsetzung der gemeinsamen Politik erkennen sollten.Herr Präsident, ich mache noch zwei kurze abschließende Bemerkungen.
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1068 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983
RonneburgerÜber Berlin und seine Bedeutung hat sich der Bundeskanzler geäußert. Ich brauche hier nichts zu wiederholen. Es wurde auch über die Bedeutung Berlins über die Tagespolitik hinaus gesprochen.Ich möchte einen Dank an Bundesminister Windelen dafür richten, daß er die Frage der Zonenrandförderung hier in so deutlicher Weise angesprochen hat. Ich weise darauf hin, daß es Aufgabe der Bundesregierung, aber auch des Hohen Hauses sein wird, durch strukturfördernde Maßnahmen im Zonenrand einer aus ökonomischen Gründen etwa einsetzenden Abwanderung zu begegnen, zu verhindern, daß vor dieser so unmenschlich harten Grenze auf unserer Seite ein leerer Streifen diese Abgrenzung der beiden deutschen Staaten noch verstärkt.
Deswegen, meine Kollegen, widerspreche ich all denen nachdrücklich, die glauben, die Zonenrandförderung in Frage stellen zu können, sie für überholt erklären zu können, oder die sie einschränken möchten.
Wir haben noch einen langen Weg der kleinen Schritte vor uns. Ich hoffe wirklich und bitte darum, daß wir auch diese kleinen Schritte gemeinsam gehen können.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Hoss.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Wie fühlt man sich so nach einer Debatte zum Bericht über die Lage der Nation, nach fünf Stunden? Man stellt sich die Frage: Was hat man dabei gewonnen? Ich glaube, diese Frage stellen sich auch meine Kolleginnen und Kollegen. Ich stelle mir die Frage: Wie ist die Lage meiner Familie? Wie ist die Lage im Land?Wenn ich einen Vergleich zu den Debatten der vergangenen Jahre ziehe, dann drängt sich mir die Erkenntnis auf, daß diese Debatte zur Deutschlandfrage mehr und mehr zu einem Ritual erstarrt und daß man an einigen entscheidenden, wichtigen Fragen vorbeigeht, sie außer acht läßt.
Hier wird sozusagen mit vertauschten Rollen diskutiert. Diejenigen, die vorher in der Opposition waren, sind jetzt in der Regierung, und die Politik hat sich jeweils vertauscht. Aber es tauchen Worte wie seit eh und je auf.
Ich zitiere: Es geht um Deutschland — es geht um die Einheit der Nation. Ich zitiere aus der Rede von Herrn Kohl: Die Geschichte ist auf unserer Seite.Es wurde die Zeit bemüht. Viele Redner haben Namen von Leuten gebracht. Herr Dregger hat den30jährigen Krieg bemüht, hat Karl den Großen bemüht, um die nationale Identität zu beschwören.Und zum Schluß steht — um die Zitate abzurunden —: Die Wiedervereinigung ist eine historische Notwendigkeit. Diesen Satz, daß die Wiedervereinigung historische Notwendigkeit ist, wollen wir doch einmal etwas näher untersuchen — angesichts dessen, daß ich weiß, daß man im Ausland z. B. Angst vor einem wiedervereinigten Deutschland hat, weil man nicht weiß, was das auf Grund unserer Geschichte für ein Deutschland ist.
Ich glaube, daß es uns sehr gut ansteht, einige Fragen zu stellen, die mit unserer Geschichte zusammenhängen. Wenn wir das in die Zukunft hineinprojizieren, können wir doch nicht umhin, festzustellen, daß die Geschichte unseres Landes, unserer Nation sehr widersprüchlich ist, daß da, wo wir von Friedenswillen sprechen, die Aggression nicht weit ist, daß da, wo wir auf die demokratischen Traditionen unserer Nation verweisen, auch diktatorisches und obrigkeitsstaatliches Denken vorhanden ist, daß da, wo wir von Liberalismus, von Toleranz sprechen, auch von Ausgrenzungen, von Ausweisungen und von Nichtanerkennung anderer Meinungen die Rede ist.
Diesen entscheidenden Fragen müssen wir uns stellen, sie müssen wir untersuchen, wenn wir die Frage der Wiedervereinigung angehen. Denn es gibt ja diese beschworene Bruchstelle in unserer jüngeren Geschichte — und die klammern wir, Herr Ronneburger, nicht aus —, beginnend 1933 und endend 1945, dann weiterführend zur Teilung Deutschlands, wobei jeder Teil Deutschlands noch einem Block angehört, der dem anderen feindlich gegenübersteht.Wenn man z. B. Luther hier anzieht, wenn man Heine, wenn man die großen Deutschen hier zum Beweis dafür anführt, daß wir eine einheitliche Nation sind, dann müssen wir, so meine ich, auch zur Kenntnis nehmen, daß die meisten großen Deutschen — ich möchte wetten, die Hälfte der heute hier genannten Deutschen — des Landes verwiesen worden sind und die Geschicke unserer „deutschen Nation" von außen betrachten und sich bemühen konnten, die Dinge wieder zu ändern.
— Ich weiß nicht, warum Sie sich jetzt aufregen. Bisher habe ich nur Dinge gesagt, die zu unserer Geschichte gehören. Wenn Sie an dieser Stelle schon anfangen, dagegen zu sprechen, dann frage ich mich, wo Ihre Positionen zu Hause sind.
Die Überlegungen, meine Damen und Herren, die ich angestellt habe, führen mich dazu, daß wir
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Hoss
bei allen Bemühungen um die Wiedervereinigung Deutschlands davon ausgehen müssen, daß solche Strömungen sowohl im östlichen Teil Deutschlands als auch im westlichen Teil Deutschlands vorhanden sind und daß es sehr wohl das entscheidende Problem ist, welche dieser Strömungen sich durchsetzen können, wenn wir die Frage der Wiedervereinigung überhaupt stellen. Solange diese Frage nicht im Sinne einer friedlichen, demokratischen und toleranten Entwicklung gestellt ist und auch die Taten, die hier begangen werden, daran gemessen werden, verzichte ich auf eine Wiedervereinigung Deutschlands und fühle mich dabei im Verbund mit denen, die vom Ausland her nicht wünschen, daß es ein wiedervereinigtes Deutschland gibt, von dem nicht garantiert ist, daß es ein friedliches ist.
Diese Fragen habe ich mir gestellt, als ich zu entscheiden hatte, ob ich am 17. Juni an der Veranstaltung, die hier stattfand, teilnehmen sollte oder nicht.
Wir haben uns dafür entschieden, nicht teilzunehmen, weil Ihre Begriffe, die Sie hier vortragen, zum Ritual erstarrt sind
und nicht weiterweisen auf einen Weg, der zur Lösung der für unsere Nation, wenn man diesen Begriff einmal verwenden will, anstehenden Fragen führen kann.
Denn inzwischen ist einiges passiert, meine Damen und Herren, was Sie nicht einfach übergehen können. Sie können die Sätze, die Sie vor zehn Jahren in diesem Hause gebraucht haben, heute nicht einfach wiederholen.
Ich rede gar nicht von dem Industriesystem, das wir uns in beiden Teilen Deutschlands aufgebaut haben und das für uns zum Problem wird, wenn wir unsere Wälder, Wasser, Luft und Boden ansehen; das lasse ich einmal außer Ansatz. Ich rede davon, daß wir mitten in Europa, in Deutschland eine Zuspitzung der Situation, in Richtung auf eine Hochrüstung haben, angesichts deren wir nicht einfach so weitermachen können, wie es in dem Entschließungsantrag der CDU/CSU heißt:Aus eigener Kraft können wir Deutschen den Zustand ... nicht ändern. Wir können ihn aber erträglicher machen ...Ich frage Sie, was man da erträglicher machen kann.Die harten Realitäten sind folgende. Ich habe gestern den Bericht von SIPRI, dem Stockholmer Friedensforschungsinstitut, gelesen. Da heißt es:Wenn kein Einhalt geboten wird, erhöht sich die Zahl der gegenwärtig 50 000 Raketen auf 60 000 bis zum Ende dieses Jahrzehnts, und davon werden die meisten hier aufgestellt.Ich muß Ihnen sagen: Wenn ich die Lage der Nation als Obertitel nehme und dann sehe, wie Herr Kohl in die Vereinigten Staaten fährt und einen tiefen Bückling vor Herrn Reagan macht, das Wort Selbstbestimmung im Munde führend,
und wie er sich bemüht, die Stationierung der Raketen hier in unserem Gebiet zu erreichen, dann gehört das auch zur Lage der Nation, dann gehört es unbedingt zur Beurteilung der Frage, welche Zukunftsaussichten wir alle, wir Bürger, unsere Familien, alle Leute in der Bundesrepublik und auch darüber hinaus, haben.
Wenn wir von der nationalen Frage reden, bleibt für mich nur folgendes übrig. Wir sollten unsere Gemeinsamkeiten, die wir in einer langen Tradition aufgebaut haben, die Sprache, unsere Kultur, die aufgebauten Beziehungen zwischen den Menschen, zwischen Ost und West in Deutschland in Richtung eines Abbaus von Gefahren nutzen, die unser Leben insgesamt bedrohen. Das heißt für mich, daß wir in eine Richtung gehen müssen, die Neutralität ansteuert.
Ich weiß, daß das für Sie ein Reizwort ist; ich habe in der Debatte auch bei Ministern bemerkt, daß sie dann sehr allergisch werden. Wir müssen das Problem einer atomwaffenfreien Zone in Angriff nehmen; denn wenn wir das nicht tun, gehen wir weiter in die Richtung der Rüstung, der Aufstellung von Raketen. Ohnehin sind die Bundesrepublik und auch das Gebiet der DDR schon mit Waffensystemen gespickt, die, wenn sie explodieren, von Deutschland nichts übriglassen.Ich möchte darauf verweisen, daß die Möglichkeiten, dort gegenzusteuern, den Menschen immer mehr entzogen werden. Heute wird Computersystemen die Steuerung dieser Waffensysteme überlassen.
Damit würden wir uns einer Möglichkeit begeben, die Sie vielleicht an dem Wort „Selbstbestimmung" messen können.
— Ich kann jetzt keine Fragen beantworten, weil ich nur noch drei Minuten Redezeit habe. Es tut mir leid.Wenn Herr Kohl davon geredet hat, daß er keine eigenständige Friedensbewegung braucht, dann
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1070 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983
Hosskann ich das sehr wohl verstehen. Wir haben erkannt, daß die Herrschenden in Ost und West — dazu zähle ich auch die Regierung in der DDR und unsere Bundesregierung hier — keine ernsten Anstrengungen unternehmen, um die Spannungen, die hier in Mitteleuropa aufgebaut worden sind, aufzufangen und einen Weg des Friedens, einer Friedensordnung in Europa zu gehen.
Deswegen entsteht die eigenständige, unabhängige Friedensbewegung, die sich zum Ziel setzt, unabhängig von den Regierungen in Richtung Frieden zu arbeiten und die Stationierung von Raketen zu verhindern, den Abbau der Spannungen zu betreiben. Dazu gehört auch, daß so, wie in der DDR Regelverletzungen begangen werden,
nämlich durch die Friedensbewegung in Jena, auch wir bereit sind, Regelverletzungen zu begehen,
um die Stationierung von Raketen zu verhindern und in eine Richtung zu gehen, die eine blockunabhängige Politik betreibt. Das ist der Grund, aus dem ich und meine Freunde aus der Fraktion hier nicht an der Feier zum 17. Juni teilgenommen haben, sondern es vorgezogen haben, mit ausgewiesenen DDR-Bürgern aus der Friedensgruppe Jena zu diskutieren und Möglichkeiten zu erarbeiten, wie wir die angespannte Situation hier in Deutschland verändern können.
Ich glaube, daß das die Entscheidung ist, die wir zu treffen haben.Vorhin hat Herr Ronneburger gesagt, daß wir uns der Verantwortung nicht entziehen sollten. Wir sehen unsere Verantwortung darin, jetzt in einer Zeit, in der wir sehen, daß uns die Regierungen nicht weiterbringen, selbst Bewegungen aufzubauen, um selbst Aktivitäten einzuleiten,
um den Regierungen unter Umständen zu helfen und ihnen Handreichungen zu geben, um eine andere Politik zu machen. — Danke.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Czaja.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zwei Probleme zu Kernfragen der deutschen Teilung will ich streifen. Erste Frage: Können die bestimmenden Grundlagen der Deutschlandpolitik, die der Bundeskanzler am 4. Mai 1983 nannte, nämlich Grundgesetz, die Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen von 1973 und 1975, die Briefe zur deutschen Einheit, der Deutschland-Vertrag und die Ostvertragswerke, im strengen Wortlaut — auch mit den für Deutschlandgünstigen Teilen—, Menschenrechte und Selbstbestimmungsrecht gemeinsames Fundament der Deutschlandpolitik freiheitlicher Demokraten sein? Lieber Herr Kollege Haack, da ist die Antwort auf die Frage: Was will die Deutschlandpolitik dieser Regierung? Es wäre besser gewesen, wenn Herr Dr. Vogel im Blick auf diese Grundsätze gesagt hätte, ob Sie darin eine gemeinsame Grundlage finden.
Davon sollten die deutschen Einlassungen bei internationalen Gesprächen, in der amtlichen Terminologie, in den amtlichen Aussagen bestimmt sein.Sehr verehrter Herr Kollege Schily, lassen Sie mich dies sagen: Auch die aktuelle Politik muß sittlich verankertes Recht beachten. Fundamentales Recht vergilbt nicht.
Es kann nur durch einen geordneten Rechtsgang geändert werden.
Tut die Politik das nicht, gerät sie nur allzuleicht auf die Bahn des Unrechts, und das wollen wir nicht.Kein Abgeordneter will doch wohl leugnen, daß das Grundgesetz und die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts verbindlich sind und daß gültig zustande gekommene politische Verträge nach dem strikten Wortlaut gelten. Auf dieser Grundlage könnte es doch eine Einigung im Streit um Kontinuität, Korrekturen und Wandel geben.Auf allen Seiten gibt es Anlaß zur Besinnung über die Aussagen der letzten Jahre. Aus Zeitgründen kann ich nur Hinweise auf die Aussagen des Godesberger Programms über die Rechte des Volkstums, über angestammte Heimat- und Volksgruppenrechte geben. Zur Kontinuität der National- und Zeitgeschichte gehören nach dem Krieg doch auch die Reden Brandts und Wehners bis 1968, auch die Reden Erlers, Schumachers, Heuß' und Adenauers. Das Godesberger Programm gilt doch noch! Wie ist es mit Wehners Wort, man müsse möglichst viel von Deutschland retten?Nach den Ostverträgen erklärte Herr Scheel—das ist wichtig— vor dem Bundesrat am 9. Februar 1972:Niemand kann aus den Verträgen eine Grenzanerkennung oder Gebietsänderung in Deutschland nachweisen.Meine Damen und Herren, wer ihn zitiert, dreht doch nicht das Rad der Geschichte zurück. Er hält die ganze deutsche Frage offen — für eine Bewegung nach vorn, zu freiheitlichen europäischen Strukturen eines gerechten Ausgleichs.Es war doch die Regierung Brandt/Scheel, die sagte: Die Grenzlinien sind unverletzlich, aber nicht anerkannt; Art. I des Warschauer Vertrages beschreibt, anerkennt aber nicht. Art. IV des Warschauer Vertrages enthält den Vorbehalt. Ich muß
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Dr. Czajaeben auch, meine Damen und Herren von der SPD, die für Deutschland günstigen Teile der Ostverträge nennen und darf sie nicht abschreiben.
Die Bundesrepublik ist für die Rechte ganz Deutschlands voll mitverantwortlich. Das Bundesverfassungsgericht verpflichtet uns: Wir dürfen vor friedensvertraglichen Regelungen keine Rechtspositionen Deutschlands preisgeben; bei allem politischen Ermessensspielraum müssen sie nach innen wachgehalten und nach außen beharrlich vertreten werden. Wer im Ausland anders spricht, der täuscht die Staaten und untergräbt die Rechte Deutschlands.
Man muß natürlich ehrlich sagen, was die vom Bundeskanzler genannten Grundlagen bedeuten. Die Grundgesetz-Präambel gebietet auch — dies wurde heute kaum erwähnt —, die nationale und die staatliche Einheit zu wahren.
Nach Art. 146 des Grundgesetzes ist dies nur durch eine freie Entscheidung des ganzen deutschen Volkes abänderbar.
Niemand in der Bundesrepublik darf das gesamtdeutsche Selbstbestimmungsrecht, auch soweit die Bevölkerung der Bundesrepublik betroffen oder beteiligt ist, einengen und die Mitverantwortung der Bundesrepublik für ganz Deutschland leugnen.Staatliche Einheit: Auch bei einer europäischen Einigung werden die Staaten nicht verschwinden, aber wir müssen sie zu neuen Strukturen an umstrittenen Rändern öffnen können. Dazu stehe ich.Art. 23 des Grundgesetzes bezieht sich auf mehrere, nicht nur auf zwei Teile in Deutschland. Hier tut Klarheit und Verfassungstreue in der amtlichen Terminologie, in der kartographischen Darstellung und in den Reden der Politiker dringend not; sonst werden aus Nachlässigkeit Deutschlands Rechte völkerrechtlich unterlaufen.Besonders wichtig aber ist der Deutschland-Vertrag. Er dient der westlichen Sicherheit im Bündnis und den Rechten der Verbündeten; er verknüpft aber dies alles auch unlösbar mit der Unterstützung einer freiheitlich-demokratischen friedlichen Wiedervereinigungspolitik, und er verpflichtet die Vertragspartner, endgültige Grenzfestsetzungen in Deutschland bis zu frei vereinbarten friedensvertraglichen Regelungen zu verschieben.
Herr Dr. Czaja, ich möchte Sie unterbrechen, weil wir nur für ganz wenige Minuten einen hohen Gast auf der Diplomatentribühne haben. Ich bitte um Verständnis für die Unterbrechung, die Ihnen natürlich nicht auf Ihre Redezeit angerechnet wird.
Auf der Diplomatentribüne begrüßen wir den Außenminister der Arabischen Republik Ägypten, Herrn Kamal Hassan Ali.
Wir freuen uns sehr, daß Sie zu uns einen Blick hereinwerfen. Ich danke Ihnen für ihren Besuch.
Herr Kollege Czaja, ich bitte Sie fortzufahren.
Meine Damen und Herren, die Ostblockpartner haben die Unberührtheit des Deutschland-Vertrages in den Ostverträgen ausdrücklich hingenommen. Wir bräuchten gerade in diesem Jahr eine politische Renaissance des vollen Deutschland-Vertrages nach innen und außen.
Das Offensein der Fragen ganz Deutschlands ist also durch das Grundgesetz, seine Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht und völkerrechtlich geboten.Zu den Vertragswerken der Ostverträge gehört auch der Notenwechsel vom August und November 1970. Danach gilt unvermindert die Verantwortlichkeit der Sieger für ganz Deutschland, und es gilt weiter das Londoner Abkommen von 1944 sowie die Berliner Erklärung von 1945. Meine Damen und Herren, dieses fortgeltende Londoner Abkommen — mit Revanchismus hat dies nichts zu tun — geht in Art. 1 ausdrücklich vom fortbestehenden ganzen Deutschland in den Grenzen vom 31. Dezember 1937 aus. Es wurde 1970 durch das westliche Ausland bekräftigt. Die Berliner Erklärung lehnt Annexionen in diesem Deutschland ab. Dieser Deutschlandbegriff liegt dem Deutschland-Vertrag und dem Staatsangehörigkeitsbereich nach Art. 116 des Grundgesetzes zugrunde, der immer auch ein gebietliches Substrat hat.Selbst Gromyko hat bei den Moskauer Verhandlungen nach Aussage der Bundesregierung am 29. Juli 1970 erklärt, die Sowjetunion
habe bei den Ostverträgen nach einem schmerzhaften Prozeß den Begriff der Anerkennung fallen gelassen. Herr Kollege, sollten deutsche Politiker hinter Gromyko in der Vertretung deutscher Anliegen zurückbleiben? Ich glaube, nein.
— Gut, dann sind wir einig.Ist es nicht auch politisch und rechtlich töricht, ersatzlos etwas abzuschreiben? Deshalb stellt das Bundesverfassungsgericht in einem tragenden Grund am 7. Juli 1975 verbindlich fest, den Ostverträgen könne nicht die Wirkung beigemessen werden, daß die Gebiete östlich von Oder und Neiße aus der Zugehörigkeit zu Deutschland entlassen und fremder Souveränität unterstellt sind.Der Bundeskanzler hat sich in einer großen Pressekonferenz in London am 22. April 1983 dazu eindeutig auch vor den Verfassungsminister gestellt,
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1072 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983
Dr. Czajader das öffentlich erklärt hat. Er bescheinigte in Downing Street 12 ausdrücklich, dieser habe nichts, als die Rechtslage genannt, der Warschauer Vertrag sei kein Friedens- und kein Grenzvertrag; eine endgültige Regelung könne nur ein Friedensvertrag treffen. Diese Aussage aus der Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers steht auch mit den amtlichen Feststellungen der Partner des DeutschlandVertrages in Einklang.Und das Ausland? Nüchterne Beobachter der deutschen Frage wie Kissinger, Jacques Delors und Gaston Deferre haben in den letzten zwei Jahren wiederholt erklärt, der Westen müsse sich den Kernfragen der Deutschen und Deutschlands zuwenden. Er dürfe die deutsche Frage nicht den Lockrufen des ideologisch untermauerten extremen Nationalismus des Ostens überlassen.Politisch verbinden wir damit keine Illusionen. Es kann nicht alles so kommen, wie es war. Aber es sollte auch zum Wohle der Völker nicht so bleiben, wie es ist.
Osteuropa leidet tief. In einer freiheitlichen und föderalen gesamteuropäischen Ordnung der Staaten, Völker und Volksgruppen gibt es Möglichkeiten für einen tragbaren und gerechten Ausgleich. Darin sind vielfältige Strukturen des Zusammenlebens in nationalen Kerngebieten und in umstrittenen Randgebieten möglich.Viele — Kohl, Genscher, Brandt, Wehner — sprechen von einer europäischen Friedensordnung. Ich meine, wir alle müßten mehr über mögliche Strukturen nachdenken und mit unseren Freunden in der EG und in der NATO mindestens ebenso stark darüber diskutieren wie über die Rechte der arabischen Flüchtlinge.Nun die zweite Frage: Gibt es aktuelle Chancen für Fortschritte? Bestimmt nicht durch Druck, Drohungen, Sanktionen, sondern nur durch zähe und lange Verhandlungen. Mit diesen aber sollte die echte Ausgewogenheit der Gegenleistungen für die westlichen Finanz-, Wirtschafts- und technologischen Hilfen angestrebt werden. Die östliche Wirtschaftskrise ist eine Tatsache, aber kein Anlaß zu Überheblichkeit oder Prestigeverlust. Im Osten ist man leidensfähig. Aber die Hilfen des Westens sind unentbehrlich für die Ernährung, für die ausreichende Rohstoffnutzung. Ohne Reformen in den zentralistischen Planwirtschaften, ohne praktische Anreize für die Produktionsleistungen der Menschen, ohne menschenwürdigere Lebensumstände, ohne mehr Menschenrechte und weniger Unterdrückung, ohne langsamen Abbau der Teilung in Europa und Deutschland und engere Zusammenarbeit vor Ort, ohne all dies fließen die Hilfen leider in ein ineffizientes Faß ohne Boden. Der Harmel-Bericht versteht unter der Entspannung den Abbau der Ursachen der Spannung. So wörtlich: Abbau der Teilungen Deutschlands und Europas.Die bisherigen Schäden der Kredite haben weder den Volkswirtschaften noch den Völkern noch den Menschen genutzt. Aber wenn es durch Verhandlungen zu Lockerungen und Reformen käme, sollteman im Westen Opfer zur Verbesserung der Lebensumstände auch im Osten nicht scheuen. Man muß aber auch Garantien dafür geben, daß man dort keinen westlichen Stoßkeil entfaltet. Erst nach solchen Lockerungen könnten zähe Verhandlungen über die Kernfragen der Teilung beginnen.Man muß bei der Ausgewogenheit auch an den ganzen Menschen und an die ganze Existenz der Völker denken. Redet man engstirnig nur von einem „gegenseitigen kommerziellen Vorteil", führt das nur zu kurzlebig-trügerischen Scheingewinnen. Bei kluger Nutzung kann es Fortschritte geben. Dazu brauchen wir eine gemeinsame europäische und westliche Verhandlungsstrategie.Lassen Sie mich zum Schluß weniges zum Nationalgefühl sagen. Ich meine, wir haben auch in jungen Kreisen ein wiedererwachendes sinnvolles Nationalgefühl. Junge Menschen fragen wieder nach dem Woher und dem Wohin unseres Volkes. Dies können wir nicht den Übertreibungen und Verformungen der DDR überlassen. Der erste deutsche Bundeskanzler hat bei seiner ersten Auslandsrede in Bern wörtlich gesagt: „Ein Volk, das kein Nationalgefühl besitzt, gibt sich selbst auf."
Er warnte aber auch vor falschen Wegen. Wir brauchen im Nationalgefühl die Mittel zwischen gefährlichem Überschwang und unglaubwürdiger Unterwürfigkeit.
In tiefster Not formulierten die Kräfte des deutschen Widerstandes, von Schumacher bis Pater Delp, von Goerdeler bis Beck, das Konzept eines sittlich gereinigten deutschen Volkes und Staates und seiner Aufgaben in Europa. Die Epigonen von heute resignieren in Kleinbürgerlichkeit und Wohlstand. Herr Schmude sagt, die Wunden sind nicht attraktiv. Ja, das stimmt. Aber die Wunden brauchen doch Heilung. Sie brauchen Rechtsfrieden. Verdeckt man sie, hat man weder den Schmerz gelindert noch den Unruheherd beseitigt.Meine Damen und Herren, für die Lösung der Fragen unseres gesamten Volkes und Europas brauchen wir wieder ein maßvolles, ein freiheitliches, ein einfallsreiches, ein kluges, ein tapferes und zähes National-, Staats- und Geschichtsbewußtsein. Wir brauchen es in der Politik, in der Schule, in der Gesellschaft.
So kann es Brücken zwischen den Generationen geben. Nichts ist endgültig geregelt, es sei denn, es ist einigermaßen gerecht geregelt. Ich halte es auf weite Sicht nicht für aussichtslos, einen tragbaren Ausgleich in einem freien Europa, in einer freien gemeinsamen Heimat der Deutschen und einer freien Heimat der anderen Völker zu finden. — Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Diederich .
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Rede von: Unbekanntinfo_outline
Meine Damen und Herren! Am Ende dieses Tages weise ich auf den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD zur Lage der Nation hin. Er unterstreicht, daß der Grundlagenvertrag vom 21. Dezember 1972 zu einer positiven Entwicklung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik geführt hat. Hierzu gehört die grundlegende Verbesserung der Situation Berlins. Die Existenz Berlins hängt an der konsequenten Fortführung der Entspannungspolitik. Nur ruhige und friedliche Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik machen eine ruhige Entwicklung in Berlin überhaupt erst möglich. Daher steht in diesem Antrag auch die Aufforderung an die Bundesregierung, auch im Interesse der Berliner die bisherige Deutschlandpolitik fortzusetzen und auszubauen.Wo die Bundesregierung dies tut, wird sie die Ermunterung und die Unterstützung aller Berliner Abgeordneten haben, und ich glaube, sie wird auch die Unterstützung der sozialdemokratischen Fraktion dabei haben.Die Probleme, die Berlin hat, sind heute — das hat der Bundeskanzler sehr richtig erkannt — eher Probleme im Innern als Probleme im Äußeren. Diese Probleme hängen mit der gegenwärtigen wirtschaftlichen Lage insgesamt, aber auch damit zusammen, daß das Engagement für Berlin in der Bundesrepublik insgesamt nachgelassen hat. Wir begrüßen alle Aktivitäten der Bundesregierung, dies zu ändern. Hierzu gehört das fortgesetzte finanzielle Engagement des Bundes in Berlin, das wir j a eigentlich nicht betonen müssen, weil dies eine Tradition auch der Vorgänger-Bunderegierungen war. Wir werden die Bundesregierung überall dort unterstützen, wo sie sich im Sinn der Entwicklung Berlins bemüht.Aber wir werden unsere Stimme dort warnend erheben, wo kleinkarierte Lösungen dazu führen können, die Bedingungen, unter denen Berlin lebensfähig ist, zu verschlechtern.Es ist jetzt nicht die Zeit, die einzelnen Projekte anzusprechen, die der Herr Bundeskanzler hier erwähnt hat, etwa die Gasversorgung oder das Engagement im Zusammenhang mit der Berliner S-Bahn. Wir finden gut, daß dort etwas geschieht.Aber wir erheben warnend unsere Stimme, wo deutschlandpolitische Chancen durch unreife Konzepte, die im wesentlichen unter finanzpolitischen und verkehrlichen Gesichtspunkten entwickelt worden sind, zerstört werden. Und wir werden hier versuchen, unseren Beitrag zu leisten, daß es zu einer vernünftigen Entwicklung kommt.
— Herr Schulze, Sie kennen die Papiere, die ich verfaßt habe, und Sie wissen, daß ich mich um diese Problematik gekümmert habe.Aber ich darf, da Sie dies ansprechen, eines sagen. Die Berliner S-Bahn ist traditionell die Verbindung in das Umland gewesen. Die S-Bahn muß auch künftig für eine mögliche Anbindung an das Umland offen sein. Das Schrumpfnetz, das uns jetzt präsentiert wird, ist sicher nicht das, was im deutschlandpolitischen Interesse liegt, was auch immer die finanzpolitischen Beweggründe sein mögen.
Lassen Sie mich eines hier noch kritisch anfügen — wegen der kurzen Zeit in Stichworten —: Die Lebensfähigkeit Berlins darf nicht nur vom Engagement des Bundes abhängen. Das wissen wir sehr genau. Es ist hier dauernd von der nationalen Aufgabe gesprochen worden. Berlin ist nationale Aufgabe. An ihr kann sich die Ernsthaftigkeit des Redens erweisen. Es ist also die Aufgabe der Bundesregierung, der Politiker im Bund, aber auch der Politiker in den anderen Bundesländern, dafür zu sorgen,
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— Das kann genannt werden. Nur glaube ich, unsere Aufgabe — —
— dennoch ist es unsere Aufgabe hier an diesem Pult, uns auf die Praktizierbarkeit von Politik und nicht auf Rechtsverwahrungen zu konzentrieren, die zu nichts führen. Wenn wir dies beim Aushandeln der Verträge, die den Transit um Berlin und anderes gesichert haben, getan hätten, dann wären wir nie zu einem Ergebnis gekommen.Lassen Sie mich kurz noch einen Satz sagen: Kraftmeiereien in der Politik gefährden auch Berlin. Dies gilt für eine Reihe von Äußerungen, die wir vor allem vor dem 17. Juni gehört haben. Ich möchte hier insbesondere denen eindeutig eine Absage erteilen, die nur mit Lippenbekenntnissen arbeiten, die nur anläßlich des 17. Juni in Rattenfängermanier Schüler in Bussen nach Berlin transportieren, um dort für die Einheit zu demonstrieren. Das, was sich in Berlin abgespielt hat, war eine würdelose Aktion. Ich muß sagen: Leute wie Herr Löwenthal und Herr Pachmann sind uns in Berlin nicht willkommen. Wir sollten uns an diejenigen wenden, die Berlin lebensfähig halten und nicht an die, die dort hinkommen, um dort billig zu demonstrieren.
— Meine Damen und Herren, mit den anderen setzen wir uns auch auseinander.
Dazu darf ich Ihnen eines sagen: Die Probleme, die Berlin mit der jungen Generation gehabt hat, waren Probleme mit jungen Menschen, die aus der Bundesrepublik nach Berlin gekommen sind. Es sind die Probleme der gesamten Republik gewesen, die dort stellvertretend behandelt und gelöst worden sind. Ich glaube, das ist eine gemeinsame Aufgabe. Es ist sehr billig, wenn Sie sagen: Das sagen Sie einmal den Linken. Hier sollten wir gemeinsam darüber nachdenken, was in der deutschen Politik in der Vergangenheit versäumt worden ist.Das Fortbestehen der Nation, über das wir hier so viel gehört haben — zuletzt von Herrn Czaja —, kann nicht beschlossen werden, kann nicht aus Rechtsformeln abgeleitet werden, sondern ist eine Frage der Tat. Der Zusammenhalt der Deutschen muß durch praktische Schritte gefestigt werden.In diesem Sinne möchte ich ausdrücklich eine Aktion begrüßen, die scheinbar nur symbolischenCharakter hat. Ich meine die Übergabe der Steine der Fassade des Ephraim-Palais durch den West-Berliner Senat an den Ost-Berliner Magistrat. Mit dieser Maßnahme wird an ein stilbildendes Beispiel angeknüpft, das Hans-Jochen Vogel mit der Übergabe der Schloßbrücken-Figuren gegeben hat. Ich glaube, das Wesentliche daran ist, daß hier der Versuch gemacht wird, über den praktischen Kontakt, über die konkrete Maßnahme miteinander ins Gespräch zu kommen und normale Beziehungen, Kontakte und vielleicht auch etwas Vertrauen aufzubauen.Was wir tun müssen, ist, die Abgrenzungsstrategien der Vergangenheit aufzubrechen. Wir haben Zeiten gehabt, in denen die DDR offensichtlich die Philosophie verfolgt hat, West-Berlin müsse sozusagen ausgetrocknet werden. Offenbar hat die DDR erkannt, daß dies nicht durch politischen Druck von außen geschehen kann, sondern daß man akzeptieren muß, daß Berlin dort existiert und auch weiterhin existieren wird. Aber der Abschied von der Abgrenzungsstrategie, den wir von der anderen Seite verlangen, ist ein wechselseitiger Prozeß. Das heißt, auch wir müssen prüfen — und da stimme ich mit dem überein, was Herr Ronneburger hier gesagt hat —, was bei uns an Abgrenzungsstrategien abgebaut werden muß und abgebaut werden kann, um die Brücken leichter bauen zu können.Meine Damen und Herren, ich möchte vor dem Schluß einen Satz verwenden auf eine Frage, die der Bundeskanzler hier angesprochen hat, nämlich die Frage der politischen Bildung in den Schulen. Ich möchte darauf verweisen, daß der Innerdeutsche Ausschuß bereits im Jahre 1981 eine Anhörung zur deutschlandpolitischen Bildung gemacht hat. Was mir damals aufgefallen ist, ist die Unterrepräsentation deutschlandpolitischer Themen, deutschlandpolitischer Lehrangebote an den deutschen Universitäten. Die deutschlandpolitische Forschung ist auf wenige Institute konzentriert. Meine Damen und Herren, in jeder Wissenschaft ist es so, daß ihre Lebensfähigkeit dadurch garantiert wird, daß der Nachwuchs die Möglichkeit hat zu forschen. Deswegen möchte ich von diesem Platze aus noch einmal ausdrücklich den Appell wiederholen und die Bundesregierung ermuntern, die deutschlandpolitische Forschung zu fördern. Wenn man sieht, daß ein einziges Forschungsinstitut der DDR mehr Wissenschaftler in der Bundesrepublik-Forschung beschäftigt, als in der gesamten Bundesrepublik mit der DDR-Forschung beschäftigt sind, dann wird, glaube ich, hinreichend klar, was ich hier meine.
Meine Damen und Herren, ich bin am Ende meiner Ausführungen. Lassen Sie mich einen Satz noch sagen. Ich wäre dankbar, wenn die Bundesregierung noch einmal klar zu der Frage des Zwangsumtausches Stellung nähme.
Eine Boulevard-Zeitung hat in den letzten Tagenhierzu Behauptungen aufgestellt. Ich habe gelesen,Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983 1075Dr. Diederich
daß der Bundesminister dies dementiert hat. Es hätte mir besser gefallen, wenn er es heute in seiner Rede von diesem Pult noch einmal getan hätte.
Meine Damen und Herren, wir alle müssen mitwirken an der Entwicklung der deutschen Frage. Wir alle haben eine Verpflichtung auch gegenüber den neuen Generationen in der DDR. Das ist unmittelbar auch eine Frage des Nationalgefühls. Es ist in der DDR ein Bewußtsein entstanden, daß man in einem eigenen Staat lebt, in dem man die eigenen Probleme zu lösen hat. Es ist unsere Aufgabe, diesen neuen Generationen die Hand zur Zusammenarbeit zu reichen und zu zeigen, daß wir in der Lage sind, in zwei getrennten deutschen Staaten in der Mitte Europas die gemeinsamen Probleme der deutschen Nation anzugehen, sie zu lösen und einen Beitrag für den Frieden in Europa und der Welt zu leisten.Meine Damen und Herren, ich bitte, die beiden Entschließungsanträge der SPD an den Ausschuß zu überweisen.
Das Wort hat der Abgeordnete Hoppe.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am Ende der Aussprache über die Lage der Nation wird es keinen kleinkarierten Berlin-Disput geben. Die Debatte hat sowieso schon unter einer bedauerlichen Verfremdung gelitten. Wir sollten uns deshalb sehr viel mehr auf das Thema konzentrieren und uns auf die ungelöste Aufgabe besinnen.
Das deutsch-deutsche Verhältnis ist nun einmal nicht komfortabel. Aber es ist berechenbarer geworden, und das ist ein Erfolg zehnjähriger politischer Anstrengungen.
Wir können mit dem Erfolg nicht zufrieden sein, aber wir wollen das Erreichte bewahren. Deshalb muß die Politik der Bundesregierung darauf aufbauen. Wir debattieren heute in einer gewiß veränderten Bewußtseinslage, gekennzeichnet durch Friedenswillen und Friedensbewegungen hüben und drüben, aber auch durch das Verlangen nach der Bewahrung der Einheit der Nation, auch und gerade bei den jungen Menschen in beiden deutschen Staaten.
Das sind nur Stichworte; ob es auch schon Indizien für eine noch ungeordnete, aber praktisch erfahrbare Neubelebung der deutschen Frage sind, muß im Moment, so glaube ich, unentschieden bleiben. Zurückhaltung, scheint mir, ist eher geboten. Jedenfalls vermittelt Peter Schneider in seinem Buch „Der Mauerspringer" eine eher beunruhigende Stimmung, wenn er schreibt:
Man tut gut daran, aus der Häufigkeit öffentlicher Appelle an den Willen zur Einheit und den
Fortbestand der Nation nicht auf den Fortbestand entsprechender Gefühle zu schließen. Realistischer erscheint die Annahme, daß sich die meisten Deutschen westlich der Elbe längst mit der Teilung abgefunden haben. In ihrem Trennungsschmerz gleichen sie einem Liebhaber, der nicht so sehr der Geliebten, sondern dem starken Gefühl nachtrauert, das er einmal hatte. In Deutschland, scheint es, heilt die Zeit die Wunden nicht, sie tötet das Schmerzempfinden.
Meine Damen und Herren, unsere Politik — und ich hoffe, die gemeinsame Politik von Bundesregierung und allen Fraktionen dieses Hauses — will Wunden schließen, die Wunden der Trennung. Der Preis, den wir für menschliche Erleichterungen zahlen, ist kein Beitrag zur Stabilisierung der SED. Wir zahlen ihn gewissermaßen als Liebhaberpreis für die Einheit der Nation.
Diese auf Interessenausgleich gerichtete Politik zum Wohle der Menschen beruht auf sehr viel Gemeinsamkeit, auf die die Betroffenen hoffen und vertrauen dürfen. Deshalb sollten wir sie auch mit mehr Geschlossenheit vertreten. Wir müssen uns nicht immer Mühe geben, auch die letzte einzelne gegensätzliche Meinung hier besonders zu kultivieren und herauszustreichen.
Nein, das muß die Menschen im anderen Teil Deutschlands unnötig irritieren. Wir wollen sie aber mit Zuversicht ausstatten.
Für uns Freie Demokraten steht deshalb außer Zweifel: Je mehr Zusammenarbeit zwischen Ost und West, desto gesicherter ist der Frieden in Europa, desto erträglicher ist der Spaltungszustand für die Menschen im geteilten Deutschland. Dies bekennend wünsche ich dem Bundeskanzler für seine Moskaureise einen guten Ertrag.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.Zu dem Tagesordnungspunkt 6 liegen zwei Entschließungsanträge vor, einmal von der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/187 und zum anderen von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 10/192. Die Antragsteller bitten um Überweisung an den Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen. Ist das Haus damit einverstanden? — Danke; so beschlossen.Dann haben wir zu dem Tagesordnungspunkt 7, Transitwege von und nach Berlin, auf Drucksache 10/117 einen Antrag der SPD. Hier wird Überweisung zur federführenden Beratung an den Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen und zur Mitberatung an den Ausschuß für Verkehr gewünscht. Ist das Haus auch damit einverstanden? — Dann ist das so beschlossen.
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1076 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983
Vizepräsident Frau RengerIch rufe die Tagesordnungspunkte 8 und 9 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten Bindig, Schluckebier, Dr. Apel, Brück, Dr. Hauchler, Dr. Holtz, Lahnstein, Frau Luuk, Offergeld, Porzner, Roth, Toetemeyer und der Fraktion der SPDVI. Konferenz der Vereinten Nationen über Handel und Entwicklung
— Drucksache 10/118 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
Ausschuß für WirtschaftHaushaltsausschußBeratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDPVI. Konferenz der Vereinten Nationen über Handel und Entwicklung
— Drucksache 10/125 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
Ausschuß für WirtschaftHaushaltsausschußHier ist eine verbundene Debatte vorgesehen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Bindig.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die VI. Konferenz der Vereinten Nationen über Handel und Entwicklung, die UNCTADKonferenz, tritt nach drei Verhandlungswochen in ihre entscheidende Phase ein. Jetzt wird es sich zeigen, ob bei diesem bedeutenden Ereignis des Nord-Süd-Dialogs noch wenigstens einige Fortschritte erzielt werden können. Für die Entwicklungsländer hat sich die Lage in den letzten Jahren durch den Rückgang der Exporterlöse, durch das hohe internationale Zinsniveau und den dramatischen Anstieg der Verschuldung drastisch verschlechtert. Nicht nur die Entwicklungsländer befinden sich in einer Abwärtsspirale; auch die Industrieländer sind in erhebliche wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten.Der wachsende Problemdruck in den Entwicklungs- und Industrieländern erfordert in besonderem Maße aktive Strategien zur Überwindung dieser Situation. Die Entwicklungsländer haben zu den Bereichen Rohstofferlöse, Währungs- und Finanzfragen sowie Fertigwarenhandel Forderungen aufgestellt. Für die konstruktive Beratung dieser Vorschläge und das Einbringen eigener Vorstellungen ist die Gruppe der Industrieländer auf Initiativen aus der EG angewiesen, da andere Industrieländer, wie die USA, schon im Vorfeld eine abwehrende Haltung eingenommen haben.Als Präsidialmacht der EG müßte die deutsche Delegation bei den UNCTAD-Verhandlungen eine besonders aktive Rolle wahrnehmen. Die Verhandlungsleitlinien der Bundesregierung für die VI. UNCTAD-Konferenz zeigen jedoch eher eine passive und abwartende denn aktive und konstruktiveHaltung der Bundesregierung zu dieser Konferenz.
Von eigenen Vorstellungen, die die Verhandlungen voranbringen können, ist da gar nicht erst die Rede. Allenfalls will sie sich aufgeschlossen zeigen gegenüber solchen Forderungen der Entwicklungsländer, die — welch eine inhaltsreiche Aussage! — mit den Vorstellungen der Bundesregierung vereinbar sind. Die Mehrzahl der Forderungen wird aber aus, wie es heißt, stabilitäts- und strukturpolitischen oder finanziellen Gründen oder weil sie in die Zuständigkeit anderer Organisationen fielen zurückgewiesen.Der einzige Satz der Verhandlungsleitlinien der Bundesregierung zur UNCTAD-Konferenz, der aussagt, wofür sich die Bundesregierung einsetzen will, erklärt, daß die deutsche Delegation sich für ein einheitliches Auftreten der Europäischen Gemeinschaft bei den Verhandlungen einsetzen will. Einheitlichkeit ist eine zweifelhafte Tugend, wenn sie nur dazu dient, einheitlich dringend notwendige Fortschritte im Nord-Süd-Dialog zu bremsen oder zu verhindern.Zwei unterschiedliche Grundansätze zum NordSüd-Dialog werden politisch formuliert. Da ist einmal die Vorstellung, daß erst die Industrieländer ihre Wirtschaft wiederbeleben müßten, ihr eigenes Haus in Ordnung bringen müßten, daß dann an einem solchen erhofften wirtschaftlichen Aufschwung auch die Entwicklungsländer durch zunehmende Exporte in die Industrieländer teilhaben könnten und daß durch die verbesserte wirtschaftliche Lage auch die Entwicklungshilfeleistungen der Industriestaaten steigen könnten. Wenn sich die Konjunktur bei uns belebe, werde dies auch den Entwicklungsländern nützen. Bei diesem Konzept treten die Interessen der Industrieländer in den Mittelpunkt. Die Verbesserung der prekären Lage der Entwicklungsländer wird als abgeleitete und ergänzende Maßnahme eingestuft.Die andere Grundvorstellung erkennt die gegenseitige Abhängigkeit von Nord und Süd an und betont die gemeinsamen Interessen und die gemeinsame Verantwortung zur Überwindung der wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Ihr Ziel sind die Wiederbelebung der Wirtschaft und die Schaffung von Arbeitsplätzen durch Entwicklung. Die Entwicklungsländer sollen nicht Instrumente zur Erreichung der wirtschaftlichen Ziele in den Industriestaaten sein. Vielmehr müssen aus Einsicht in die wechselseitigen Verflechtungen und unter Wahrung der jeweiligen eigenständigen Interessen gemeinsame Anstrengungen zur Verbesserung der weltwirtschaftlichen Lage unternommen werden.Von diesem Grundgedanken geht auch der Vorschlag nach einer Art Marshallplan für die Dritte Welt aus. Die Bundesregierung ist von derartig richtungsweisenden Ideen zum Abbau des Nord-SüdGefälles weit entfernt.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983 1077
BindigSie wartet ab, sie reagiert, sie wehrt ab, sie behindert. Wenn sie einmal eine Forderung der Entwicklungsländer aufnimmt, dann muß sie dazu von den anderen Industrieländern mühsam gebracht werden.
Da ist einmal der Rohstoffbereich. Die Ratifizierung des Abkommens über den Gemeinsamen Fonds ist überfällig. Wir fordern, daß der schon gebilligte Gemeinsame Fonds zur Finanzierung von Rohstoffabkommen unverzüglich dem Deutschen Bundestag vorgelegt wird. Schließlich hat sich die Bundesregierung endlich auch selbst zu diesem Schritt durchgerungen. Es ist eine gute Idee, die Einstandsbeiträge jener Entwicklungsländer für den Gemeinsamen Fonds zu übernehmen, die sie nicht selbst aufbringen können. Leider ist es keine deutsche Idee, sondern die Bundesregierung ist hier nur Mitläufer.
Längst fällig war auch die Entscheidung, die Regelungen für die Stabilisierung der Rohstoffexporterlöse auf jene Entwicklungsländer auszudehnen, die zu den ärmsten Staaten gehören und nicht als Vertragspartner dem AKP-Abkommen der Europäischen Gemeinschaft mit etwa sechzig Entwicklungsländern beigetreten sind.Nach unseren Informationen hat die Bundesregierung bisher auch nicht ihr Versprechen eingelöst, sich aktiv für ein weltweites System zur Stabilisierung von Exporterlösen einzusetzen. Sie hätte dabei auf einen weithin akzeptierten Vorschlag der sozialdemokratisch geführten Bundesregierung zurückgreifen können.Von zentraler Bedeutung für die UNCTAD-Beratung ist der Währungs- und Finanzbereich. Die heute bestehende internationale Währungs- und Finanzordnung ist auf die Probleme der Industriestaaten zugeschnitten. Heute muß sie sich aber hauptsächlich mit den Schwierigkeiten der Entwicklungsländer befassen, deren Überwindung mit den bestehenden Regelungen und Instrumentarien nicht mehr in angemessener Weise möglich ist.
Insbesondere geht es um die Frage der Ausweitung der verschiedenen Kreditmöglichkeiten und um die Praxis der Auflagenpolitik des Internationalen Währungsfonds. Wir fordern die Ausweitung der kompensatorischen Finanzzahlungen, falls die Schwankungen der Exporterlöse der Entwicklungsländer dies erfordern. Ferner sind wir der Auffassung, daß zusätzliche Sonderziehungsrechte des IWF die Verschuldungsprobleme der Entwicklungsländer erleichtern können. Die Bundesregierung soll hierzu eine positive Grundhaltung einnehmen.Die Verschuldenskrise der Dritten Welt ist gekennzeichnet durch eine extreme Konzentration der Schuldenlast auf wenige Entwicklungsländer und die Erhöhung des Anteils von Schulden bei privaten Banken mit hohen Zinsen und kurzen Laufzeiten. Die Kredite in diesem Bereich sind wildwüchsig ausgedehnt worden. Geregeltere Verfahren wären im Rahmen des IWF möglich. Die hohen Zinsen, insbesondere auf dem amerikanischen Markt, haben die kommerziellen Kredite zudem enorm verteuert. Der Sog des amerikanischen Kapitalmarktes führt effektiv zu einem erhöhten Kapitalabfluß aus den Entwicklungsländern.Wir vermissen die Bereitschaft der Bundesregierung, sich aus entwicklungspolitischer Sicht mit den sozialen, politischen und wirtschaftlichen Folgen der Auflagenpolitik des Internationalen Währungsfonds auseinanderzusetzen. Die Auflagen für IWF-Kredite führen oft zu einer Verschlechterung der Befriedigung der Grundbedürfnisse in den unteren Einkommensschichten, während die besser gestellten Schichten nicht nur weniger hart betroffen sind, sondern sogar weitere Vorteile erhalten. Politisch wirken die Auflagen destabilisierend in Ländern, die sich um Sozialreformen bemühen, und begünstigen konservative und autoritäre Regime, ja, sie haben sie bisweilen direkt an die Macht gebracht.Auch die wirtschaftlichen Erfolge bleiben oft aus. Offensichtlich tragen die Krisendiagnosen des IWF den vielfältigen Ursachen von Verschuldungs- und Kreditwürdigkeitskrisen in den Entwicklungsländern nicht Rechnung.Die Kritik und die Forderungen der Entwicklungsländer zielen meist auf einen erhöhten Ressourcentransfer zu weicheren Bedingungen. Dabei ist allerdings zu beachten, daß die führenden Schichten in vielen Ländern der Dritten Welt mit dieser Kritik oftmals eigennützige Interessen vertreten, die mit dem Anliegen einer sozial orientierten Entwicklung nichts zu tun haben.
Das Ziel kann deshalb nicht auflagenfreier Transfer sein, sondern muß die Reform der Auflagenpraxis in Richtung auf eine entwicklungspolitische Orientierung sein.
Wir fordern deshalb, daß die Bundesregierung aktiv daran mitwirkt, daß die Bedingungen für die Vergabe von Krediten des Internationalen Währungsfonds Rücksicht nehmen auf die unterschiedliche Ausgangslage der einzelnen Länder, den Stand ihrer wirtschaftlichen Entwicklung und die Gestaltung der Lebensverhältnisse, auf die langfristige Natur ihrer entwicklungspolitischen Anstrengungen und ihre finanzielle Leistungsfähigkeit. Statt sozialer Leistungen und Nahrungsmittelsubventionen sollten lieber die militärischen Ausgaben der Entwicklungsländer, die beim IWF einen Kredit beantragen, in Frage gestellt werden.
Im Bereich des Warenhandels unterstützen wir alle Bemühungen, weiteren Protektionismus zu verhindern und den bestehenden Protektionismus stufenweise abzubauen. Eine der wenigen deutschen Initiativen für die UNCTAD-Konferenz kommt aus
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1078 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983
Bindigdem Bereich des Handels. Es handelt sich um den Vorschlag einer neuen Runde der Handelsliberalisierung im Nord-Süd-Handel. Die Zielsetzung ist richtig. Von einem Erfolg könnte aber erst gesprochen werden, wenn sich die Bundesregierung innerhalb der EG mit ihrer Initiative durchsetzen kann.
Bei Privatinvestitionen in Entwicklungsländern reicht es nicht aus, nur zu fordern, daß dafür die Rahmenbedingungen verbessert werden. Wichtig ist, daß die Möglichkeiten für Privatinvestitionen durch international vereinbarte Verhaltensregeln für transnationale Unternehmen auf eine dauerhafte Grundlage gestellt werden, um die auch bekanntermaßen möglichen negativen Auswirkungen von Privatinvestitionen abbauen zu helfen.
Im Zusammenhang mit den Stellungnahmen und Entscheidungen der Bundesregierung zum UNCTAD-Bereich wird deutlich, daß das Bundeministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit immer weniger die entwicklungspolitischen Anliegen vertritt, wie es eigentlich seine Aufgabe ist, und sich wohl auch nicht mehr um Vorschläge für einen Interessenausgleich zwischen den Industriestaaten und den Entwicklungsländern bemüht. Heute gibt es in der Bundesregierung keinen wirklichen Fürsprecher mehr für die Dritte Welt, weil der neue CSU-Entwicklungsminister diese Rolle nicht mehr wahrnimmt.
In der gemeinsamen Erklärung zur Entwicklungspolitik, die wir hier im Bundestag im Frühjahr 1982 verabschiedet haben, heißt es, daß beim Zusammentreffen entwicklungspolitischer Ziele mit Zielen anderer Politikbereiche das entwicklungspolitische Interesse nicht zurückgedrängt werden dürfe. Jetzt kommt es gar nicht mehr zu einer Verdrängung der entwicklungspolitischen Anliegen, weil sie erst gar nicht mehr eingebracht werden.
Wird die Bundesregierung ihrer Aufgabe, konstruktive Vorschläge zur Fortentwicklung des NordSüd-Dialogs auf der UNCTAD-Konferenz einzubringen, schon nicht gerecht, so laufen die Regierungsfraktionen, wie aus ihrem Antrag zu UNCTAD VI hervorgeht, noch weiter hinterher.
Ihre Forderungen zum Rohstoffbereich bleiben sogar noch hinter den Vorstellungen der Regierung zurück. Sie verlangen weder die Ratifizierung des Gemeinsamen Fonds noch den Ausbau der Exporterlösstabilisierung. Der Antrag enthält nicht einmal eine Bemühensklausel, die öffentlichen Entwicklungshilfeleistungen wenigstens überproportional zum Haushalt steigen zu lassen. Die Fraktionen beschränken sich auf die Erklärung, die Entwicklungshilfeleistungen aufrechterhalten und möglichst verstärken zu wollen. Unverbindlicher geht es nicht.
Während der sozialliberalen Koalition haben wir uns immer bemüht, vom Parlament aus zusätzliche Anstöße und Anregungen an die Regierung zu geben. Heute geschieht das von den Regierungsfraktionen nicht mehr.Wir fordern Sie und die Bundesregierung deshalb auf: Nehmen Sie unsere Vorschläge auf und verwerten Sie die Ideen und Anregungen des Sofortprogramms aus dem zweiten Bericht der von Willy Brandt geleiteten Nord-Süd-Kommission!
Zusammen mit vielen entwicklungspolitisch engagierten Menschen, Dritte-Welt-Gruppen, Nichtregierungsorganisationen und gemeinsam mit den Kirchen fordern wir: Kommen Sie endlich, abweichend von Ihrer bisherigen Praxis, Ihrer Verpflichtung nach, durch konstruktives, kooperatives und glaubwürdiges Handeln zu einer Entschärfung des Wohlstandsgefälles zwischen Nord und Süd und zum Aufbau einer gerechten weltweiten Wirtschafts-und Sozialordnung beizutragen!
Wir beantragen, daß über unseren Antrag noch heute abgestimmt wird. Wir fordern auch Sie auf, ihm zuzustimmen, damit die Bundesregierung diese Anregungen noch mit aufnehmen und in die UNCTAD-Konferenz einbringen kann, bevor die Konferenz zu Ende geht.
Das Wort hat der Abgeordnete Höffkes.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Herr Kollege Bindig, ich habe alle Ihre Ausführungen mit konzentrierter Aufmerksamkeit zur Kenntnis genommen.
Sie sind teilweise zwar konstruktiv — das will ich gar nicht bestreiten —, nur, den Satz, daß der Entwicklungsminister seine Aufgaben überhaupt nicht wahrnehme, hätte ich gern überhört. Ich weiß nicht, was ein solcher Satz soll.
Bei all den Punkten, in denen Sie, Herr Kollege Bindig, die Politik dieser Bundesregierung bzw. des Entwicklungsministers in Frage stellen, haben Sie j a gemerkt, daß der Minister seine Aufgaben wahrnimmt; zu Einzelheiten Ihrer Ausführungen komme ich gleich noch.In der Regierungserklärung vom 4. Mai dieses Jahres ist ein Abschnitt unter das Motto gestellt:
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HöffkesFrieden durch Gerechtigkeit in der Welt. Hier hat die Bundesregierung festgestellt, daß der Friedenssicherung auch unsere außen- und entwicklungspolitische Zusammenarbeit mit der Dritten Welt dient, eine Zusammenarbeit auf der Grundlage von Partnerschaft, des gegenseitigen Respekts und der Unterstützung echter Blockfreiheit. Die Bundesregierung erklärte, sich am Nord-Süd-Dialog in allen seinen Formen zu beteiligen.Ein weiterer wichtiger Schritt auf diesem Wege ist die feierliche Deklaration zur Europäischen Union vom Juni 1983; auch hier hat der Entwicklungsminister mitgewirkt. Es wird dort festgestellt, meine Damen und Herren, daß eine Verbesserung und Koordinierung der Entwicklungspolitik auf einzelstaatlicher, aber auch auf Gemeinschaftsebene erforderlich ist, um den Bedürfnissen der Entwicklungsländer und der wechselseitigen Abhängigkeit zwischen Europa und diesen Ländern besser gerecht zu werden und die impulsgebende Rolle Europas in den Beziehungen zwischen Industrie- und Entwicklungsländern zu stärken.Aus der feierlichen Deklaration zu UNCTAD VI: Die Gemeinschaft beteiligt sich an den Verhandlungen in Belgrad im Geiste der Zusammenarbeit und Dialogbereitschaft. Der Europäische Rat ist sich darin einig, daß sie für die Wahrung und Verbesserung der Absatzchancen der Entwicklungsländer besondere Verantwortung trägt. Dies wird durch eine Politik, die auf Wachstum sowie auf Erhaltung und Verstärkung der Offenheit der Gemeinschaft ausgerichtet ist, konkrete Gestalt erhalten. Der Europäische Rat erwartet, daß die Konferenz einen Beitrag zur Stärkung des Vertrauens in die Wiederbelebung der Weltwirtschaft und zur Förderung der Entwicklung in der Dritten Welt leisten wird. Die Gemeinschaft wird hierzu konstruktiv beitragen. — Die Fraktionen von CDU/CSU und FDP tun desgleichen.Ich möchte in aller Dringlichkeit, meine Damen und Herren darauf hinweisen, daß die gemeinsame Entschließung aller Fraktionen dieses Hauses vom 5. März 1982 zum 4. Entwicklungspolitischen Bericht der Bundesregierung, die detaillierte Forderungen zu den einzelnen Bereichen der Entwicklungspolitik erhebt, für uns Richtschnur für alle entwicklungspolitischen Entscheidungen darstellt.Ohne noch einmal auf unsere in sieben Punkten zusammengefaßten Forderungen in der Drucksache 10/125 einzugehen, bitten wir, dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP Ihre Zustimmung zu geben. Gleichzeitig bitten wir, über den Entschließungsantrag heute durch Abstimmung zu entscheiden und ihn nicht in die Ausschüsse zu verweisen. Eine Ausschußberatung erst 21/2 Monate nach dem Ende der Konferenz und eine Plenumsbehandlung, die noch später liegen würde, hätten wohl keinen Sinn.
Eine solche Sachbehandlung erscheint zwingend geboten, weil über den Entschließungsantrag der SPD-Fraktion ebenfalls heute, wie wir soeben hörten, abgestimmt werden soll.Dem Entschließungsantrag der SPD-Fraktion können wir in einigen Punkten nicht zustimmen, und daher bitten wir, diesen abzulehnen. Ohne volle Billigung der von mir nicht beanstandeten Punkte aus dem SPD-Antrag möchte ich diejenigen Punkte herausgreifen, die es uns unmöglich machen, zuzustimmen: 1. Gemeinsamer Fonds und zusätzliche Rohstoffabkommen in der bisherigen Form, 2. Ausgleich von Exporterlösschwankungen durch Sonderziehungsmöglichkeiten des IWF, 3. mehr Mittel für Strukturanpassungen durch die Weltbank und 4. Aufnahme von Globalverhandlungen.Bei UNCTAD IV in Nairobi 1976 wurde das sogenannte integrierte Rohstoffprogramm und der dazugehörige Gemeinsame Fonds von den Entwicklungsländern durchgesetzt. Nach Auffassung der Entwicklungsländer müssen zahlreiche internationale Ausgleichslager installiert, Stützungsmaßnahmen vereinbart und Maßnahmen zur Ausgleichsfinanzierung eingeführt werden. In Nairobi ist die Bundesrepublik zusammen mit anderen Industrieländern noch hart geblieben. Die damalige Regierung ging dann auf einen Kompromißkurs in Form von Einzelrohstoffabkommen.Dieser Kompromiß von Manila, UNCTAD V, stellt einen ordnungspolitischen Sündenfall dar, da die Bundesregierung unter Helmut Schmidt seinerzeit sehr wohl wußte, daß die bisherigen Rohstoffabkommen, z. B. bei Zinn, Kupfer und Kaffee, nicht funktioniert haben. Wider alle wirtschaftswissenschaftliche Vernunft und wider alle Erfahrung hat man sich darauf eingelassen, die Preise für die Rohstoffe mit Hilfe der Finanzierung von Ausgleichslagern zu stabilisieren. Um einen Ausgleich für die Nachteile herbeizuführen, die bei nicht rohstoffbesitzenden Entwicklungsländern entstehen, wurde ein sogenanntes zweites Fenster zur Finanzierung von Projekten, Verbesserung der Marktstrukturen und der Kompromißfähigkeit gleich mitbeschlossen.Ich meine, Wirtschaftsminister Graf Lambsdorff ist zuzustimmen, der in Belgrad erklärte, daß sich wirtschaftliche Fragen nicht durch Mehrheitsbeschlüsse lösen lassen. Die Erfahrungen mit den Rohstoffabkommen haben für alle Beteiligten keine Erfolgserlebnisse gebracht. Die Exporterlösstabilisierung existiert nur als sehr umstrittene Studie des UNCTAD-Sekretariats.Die Vereinbarung über den Fonds vom Juni 1980 ist Anfang Juni 1983 erst von 49 UNCTAD-Mitgliedstaaten ratifiziert. 90 Ratifizierungen werden bis zum 30. September dieses Jahres gebraucht, damit der Fonds am 1. Januar 1984 seine Arbeit aufnehmen kann. Von geplanten 18 Rohstoffabkommen ist nur ein einziges zustande gekommen, das für Kautschuk. Für Kupfer, Kaffee, Zucker, Kakao und Zinn haben internationale Abkommen schon ohne Programm bestanden. Mehr als die erwähnten fünf Abkommen gibt es nicht. Alle Abkommen kämpfen, wie alle marktwirtschaftlich Orientierten vorausgesagt hatten, mit großen Schwierigkeiten oder haben so gut wie versagt.Erstens. Das Kautschuk-Abkommen wurde 1979, fast vier Jahre nach Nairobi, beschlossen. Es hat1080 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983Höffkesnur Stützungskäufe gegeben, die nicht verhindert haben, daß die Kautschuk-Preise bis Januar 1983 auf den niedrigsten Stand seit 1981 gefallen sind. Die Erzeugerländer stellen fest, daß das Abkommen unzureichend funktioniert.Zweitens. Das Kaffee-Abkommen besteht seit 1976. Ein neues Abkommen soll im Oktober in Kraft treten. Quoten und Preise gelten nur für den Handel unter den Mitgliedstaaten; Umgehungen sind daher möglich. Die Quotenkürzungen haben ein Unterschreiten des Mindestpreises nicht verhindert und keinen Preisanstieg bewirkt.Drittens. Zum neuen, 1980 geschlossenen KakaoAbkommen: Schon zu Beginn des Abkommens mußten die Preise durch Lagerkäufe gestützt werden. Doch die Stützung mißlang. Der Mindestpreis wurde nicht erreicht, und — man höre und staune — nach zehn Tagen wurden die Stützungskäufe eingestellt. Beachtlich ist hierbei, daß die wichtigsten Länder dem Kakao-Abkommen nicht angehören. Die Elfenbeinküste als das größte Erzeugerland und die USA als das größte Importland gehören ihm nicht an.Viertens. Zum Zucker-Abkommen von 1977: Trotz Abkommen sind die Marktpreise auf den niedrigsten Stand seit zehn Jahren gefallen. Die EG gehört, obwohl Zuckerproduzent und -exporteur, dem Abkommen nicht an. Das Abkommen gilt als eindeutiger Fehlschlag.Fünftens und letztens: Dem internationalen Zinn-Abkommen von 1982 sind wichtige Länder nicht beigetreten, so Bolivien als Produzent und die USA als Verbraucher. Auch China und die Sowj et-union gehören dem Abkommen nicht an. Es ist nicht gelungen, den Zinnpreis über dem festgelegten Mindestpreis zu halten.Zu den Punkten 2 und 3 — Ausgleich von Exporterlösschwankungen durch Sonderziehungsmöglichkeiten des IWF und mehr Mittel für Strukturanpassungen durch die Weltbank, wie die SPD es verlangt — ist zu sagen, daß wir einer Aufstockung der Mittel des Internationalen Währungsfonds, und zwar der 6. und der 7. Tranche, zustimmen, daß es aber bei der bisherigen Struktur des Einsatzes der Mittel des IWF unter besonderer Berücksichtigung der am wenigsten entwickelten Länder bleiben muß. Einer Strukturveränderung des IWF oder der Weltbank können wir nicht zustimmen.Die deutsche Delegation sollte gegenüber berechtigten Forderungen der Entwicklungsländer Aufgeschlossenheit zeigen, z. B. bei der Abwehr des Protektionismus und der Öffnung der Märkte, ohne dabei — das betone ich — unsere wirtschaftspolitischen Überzeugungen aufzugeben oder die Kompetenz der Sonderorganisationen wie Weltbank, IWF und GATT beeinträchtigen zu lassen. Dem Auftreten der Europäischen Gemeinschaft kommt unserer Ansicht nach große Bedeutung zu.Nun zum Abschluß, meine Damen und Herren: Für die Aufnahme von globalen Verhandlungen können wir uns nicht erwärmen, auch dann nicht, wenn die SPD sie fordert. Wir können uns für Globalverhandlungen deswegen nicht erwärmen, weilalle Versuche in dieser Richtung nach Manila gescheitert sind. Wir wollen keine neuen internationalen Institutionen gründen, sondern notwendige Verhandlungen auf der Basis vorhandener Einrichtungen, z. B. der UNCTAD, führen. Eine Vergrößerung des internationalen Bürokratismus lehnen wir kategorisch ab.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, aus diesen Gründen sehen wir keine Möglichkeit, dem Antrag der SPD-Fraktion zuzustimmen. Wir bitten um Zustimmung zum Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP in Drucksache 10/125. — Ich bedanke mich.
Das Wort hat die Frau Abgeordnete Gottwald.
Bevor ich etwas zum Thema „UNCTAD" sage, möchte ich kurz eine Mitteilung direkt von der UNCTAD übermitteln. Der somalische Botschafter Said Osman hat als Sprecher der Gruppe 77, des Zusammenschlusses von 127 Entwicklungsländern auf der VI. UN-Konferenz für Handel und Entwicklung, eine Botschaft an den deutschen Bundestag und an die deutsche Bevölkerung übermitteln lassen. Ich lese sie kurz vor.
— Sie sollten sich das ruhig anhören. Das ist das mindeste, was man machen kann.
Die Weltwirtschaft befindet sich in einer schweren Krise. Auf der Welthandels- und Entwicklungskonferenz UNCTAD VI wurde deutlich, daß es wenig Verständnis für die gegenseitige Abhängigkeit von Nord und Süd gibt.
— Was gibt es denn jetzt zu quatschen? Ich verstehe das nicht. Wenn der Sprecher der Gruppe 77 — —
Verehrte Frau Kollegin, ich meine, „quatschen" ist wohl nicht der richtige parlamentarische Ausdruck. Ich wollte Sie nur einmal fragen: Ist es eine längere Erklärung? Dann dürfen Sie die zu Protokoll geben. Sonst ist das nicht üblich. Aber wenn die Erklärung kurz ist, dann fahren Sie fort.
Nein, nicht.
— Ja, er hat mich beauftragt. Er hat allerdings den Deutschen Bundestag, glaube ich, etwas überschätzt.
Kann ich fortfahren?
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Ja. Frau Gottwald :
Besonders enttäuschend ist es, daß die Bedürfnisse der am wenigsten entwickelten Länder bis jetzt nicht berücksichtigt worden sind. Voraussetzung für eine weltweite Erholung ist aber auch die Entwicklung in den Entwicklungsländern. Noch heute tragen die Entwicklungsländer an den Folgen der Kolonialzeit. Die internationale Krise kann nur mit weltweiter Anstrengung überwunden werden. Die Entwicklungsländer erwarten von den Industrieländern daher eine Hilfe zur Überwindung von Hunger und Armut. Die Industrieländer verschließen sich jedoch bisher diesen Erwartungen.
Gerade die Bundesrepublik Deutschland, die innerhalb der westlichen Industrienationen eine bedeutende wirtschaftliche und politische Rolle spielt, könnte hier wichtige Impulse geben, wenn sie wollte. Statt dessen zeigt sie sich unnachgiebig. Daher ist es wichtig, daß die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland auf ihre Regierung Einfluß nimmt, damit diese ihre bisherige Haltung ändert.
Der Deutsche Bundestag sollte seinen Beitrag dazu leisten, daß die Bundesregierung auf eine Klimaveränderung auf der sechsten UNCTADKonferenz hinwirkt. Als Sprecher der Gruppe 77 hoffe ich, daß das deutsche Parlament ein Signal des guten Willens gibt, um die in die Krise geratenen Verhandlungen zu einem konstruktiven Ende zu bringen. Diese Erklärung richte ich über die Fraktion DIE GRÜNEN an den Deutschen Bundestag.
— Ich hatte viel erwartet, aber so etwas nicht. Dann hätte ich ihm allerdings davon abgeraten, muß ich sagen.
Trotzdem möchte ich kurz etwas zur Situation auf der UNCTAD sagen. Ich denke, daß es Sie interessieren dürfte, wenn Sie meinen, Sie sollten hier darüber abstimmen, wie es weitergeht.
Die Verhandlungen sind ins Stocken geraten, wie man so schön sagt. Herr Said Osman hat gestern auf der UNCTAD-Konferenz eine Rede gehalten, wo er als Sprecher der Gruppe der 77 zum Ausdruck gebracht hat, daß es so nicht weitergehen kann. Die Reaktion der Gruppe der Industrieländer, der Gruppe B, war so, daß sie gesagt haben: „Na, ja, die Verhandlung ist in der Krise, das ist ganz normal, es ist automatisch so, daß alle Verhandlungen irgendwann in der Krise sind"; als hätten Verhandlungen einen Ablauf wie bürgerliche Trauerspiele, wo es eine Krise gibt, eine Katharsis und dann die tragische Katastrophe. Ich denke, daß man so das Problem nicht lösen kann. Ich hatte das Gefühl, daß ziemliche Spannungen da sind und daß es nicht danach aussieht, als würde eine konstruktive Lösung gefunden.
Der Hintergrund der UNCTAD ist, daß der internationale Welthandel in einer Krise ist, wobei allerdings die Entwicklungsländer als einzige wirklich hart betroffen sind. Die Rohstoffpreise, von denen die meisten Entwicklungsländer zum größten Teil leben, haben ein Niveau von vor 50 Jahren. Wenn dann z. B. einzelne Vertreter der Gruppe der Industrieländer sagen, daß die Rohstoffpreise allerdings wieder steigen, dann, finde ich, ist das mehr als Zynismus.
Die Entwicklungsländer sind hoch verschuldet, das Elend wächst und damit auch die politische Repression in der Dritten Welt. Die Ursache ist, wie Herr Osman versucht hat anzudeuten, das Erbe des Kolonialismus. Die Antwort der ehemaligen Kolonialisten ist: Die Entwicklungsländer sollten ihre Eigenanstrengungen erhöhen,
sie sollten mehr Eigenleistungen bringen, sich auf ihre Eigenverantwortlichkeit besinnen und gefälligst innere Strukturanpassungen nach westlichem Muster vornehmen. Da nicht alle dazu freiwillig bereit sind, versucht man nachzuhelfen — Sie kennen das — über die Instrumentarien des Internationalen Währungsfonds usw.
— Schön wär's.
Das ist der Hintergrund der UNCTAD, den man sich, glaube ich, wieder einmal bewußt machen muß, weil die Gespräche, die dort geführt werden, häufig so technokratisch sind, daß man überhaupt nicht den Eindruck hat, als ginge es um die Linderung der Not in der Dritten Welt. Das kommt da überhaupt nicht mehr zum Tragen. Jetzt redet man nur noch über bestimmte einzelne Programme und Abschnitte: Nehmen wir den Satz hinein, nehmen wir ihn nicht hinein? Aber der Gesamtzusammenhang, um den es eigentlich geht, ist überhaupt nicht mehr deutlich.
Auf diesem Hintergrund sagt dann die Gruppe B, die Industrieländer: Wir möchten gerne einen Dialog mit der Dritten Welt führen; konstruktiv muß er sein; er darf nicht allzu fordernd sein; wir sollten eine gute Kommunikation anstreben. — Ich habe dort mit mehreren Leuten gesprochen. Ich habe mit dem Präsidenten der UNCTAD gesprochen. Ich habe mit dem Sprecher der Gruppe 77 gesprochen. Ich habe mit dem Leiter der deutschen Delegation gesprochen, der gleichzeitig Leiter der EG-Koordination ist. Mein Eindruck hat sich verschärft, daß wesentliche Sachen, die eigentlich passieren sollten auf der UNCTAD, überhaupt nicht zur Sprache kommen.
— Ich komme jetzt dazu.
Die eigentlich wichtigen Themen, die man ansprechen müßte, um überhaupt irgendeine Veränderung an dem Verhältnis Industrieländer/Entwicklungsländer herbeizuführen, sind vorab von den Industrieländern ausgeklammert worden. Zum
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Frau Gottwald
Beispiel darf die heilige Kuh freie Marktwirtschaft, der die Entwicklungsländer ja seit Jahren reihenweise zum Opfer fallen, auf keinen Fall geschlachtet werden. Die Integration in den Weltmarkt der Entwicklungsländer soll weiterlaufen, die allerdings ursächlich für die Verelendung in der Dritten Welt verantwortlich ist und für die Verschuldung.
Das Konzept der Industrieländer heißt: „Wie weiter? — Weiter so!" Das heißt natürlich auch, daß die Talfahrt der Verschuldung sich beschleunigen wird.
Zweitens. Die ordnungspolitischen Instrumentarien, die man dafür braucht, stehen nicht zur Diskussion auf der UNCTAD. Das heißt, alles Wesentliche über Finanzierungsfragen, IWF-Geschichten werden bewußt ausgeklammert und an die Gremien delegiert, die angeblich dafür zuständig sind — mit dem Beisatz: „Da sind die Entwicklungsländer auch vertreten." Jedes Kind weiß, daß in den Systemen von Bretton Woods die Entwicklungsländer zwar vertreten sind, aber in der Minderheit, d. h. sie sind Staffage und zahlendes Mitglied für ihre eigene Ausbeutung. Das sind die Systeme von Bretton Woods, und die werden auf UNCTAD nicht diskutiert.
— Ja, ja. — Es gibt noch Hunderte kleine Beispiele, z. B. den Pharma-Kodex. Es gab einen Antrag, daß ein Pharma-Kodex gemacht wird. Der wurde ausgeklammert, weil — so wurde mir zugetragen — sehr viele Vertreter aus der Pharma-Industrie da sind, die darum gebeten haben, das bitte nicht bei den UN zur Sprache zu bringen, sondern an die WHO zu verweisen, weil man da seine Lobby hat.
Das Resultat davon ist, die Gruppe B läßt die Diskussion über die entscheidenden Sachen nicht zu, sondern vertröstet die Entwicklungsländer mit dem Hinweis, daß sie gefälligst auf den Aufschwung in den Industrieländern warten sollen, weil ja dann der sogenannte trickle-down-Effekt eintritt, den es gar nicht gibt. Das sehen wir ja schon seit Jahren. Das ist alles, was Sie dazu zu sagen haben.
Die Frage, die sich dann stellt, ist: Was bleibt zu verhandeln? Etwas Wesentliches eigentlich nicht mehr. Was bleibt, sind Scheinverhandlungen. Es passieren dort Scheingefechte, wo die Gruppe B vorgibt, es gehe um wesentliche Sachen. In Wirklichkeit hat sie die aber gerade vorher ausgeschlossen.
— Dazu komme ich noch, nur Geduld.
Ich möchte nur ein Beispiel nennen, das Beispiel des Rohstoffonds. Die Bundesrepublik hat als einziges Land innerhalb der EG sich bis gestern, glaube
ich, strikt geweigert, die Mindestbeiträge zu übernehmen, damit drei Least developed countries mit in diesen Rohstoffonds integriert werden können. Wie ich jetzt gehört habe, soll die BRD dem zugestimmt haben.
Die Frage ist natürlich: Warum hat sie sich so lange dagegen gewehrt? Ich denke, es hat etwas mit den Vereinigten Staaten zu tun, mit dem deutschamerikanischen Verhältnis. Denn die USA boykottieren grundsätzlich alles, was die UNCTAD vorschlägt. Da Herr Genscher leider im Präsidium der EG sitzt ist es natürlich eine beschissene Situation.
Also hat er zugestimmt, ohne es hier abgesprochen zu haben. Es hat eine Menge Ärger auf der UNCTAD deswegen gegeben.
Jeder blamiert sich, so gut er kann. Mehr kann ich dazu nicht sagen.
Das, worüber ich hier rede: Ihre Politik, die Sie machen, finde ich mehr als geschmacklos. Man kann eine Menge solcher Beispiele nennen.
Die Verhandlungsstrategie der B-Gruppe auf der UNCTAD kann man ganz kurz zusammenfassen. Die Bundesrepublik fällt teilweise hinter Verpflichtungen zurück, deren Erfüllung sie bereits in Manila und Nairobi zugesagt hat. Sie kann damit Zeit gewinnen, und sie macht hinterher natürlich wieder Zugeständnisse. Das heißt auf alle Fälle: Die Verhandlungen werden aufs äußerste hinausgezögert. Deswegen hat sich übrigens auch Herr Osman gestern so aufgeregt. Das war ein ganz wesentlicher Punkt.
Zweitens. Die BRD
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Frau Gottwaldbzw. die Gruppe B macht Vorschläge, die eigentlich keine sind, um den Anschein konstruktiver Diskussion zu erwecken.Drittens. Die Bundesrepublik und die Gruppe der Industrieländer hält lange ausgearbeitete Vorschläge zurück, um sie in einem ganz bestimmten Moment aus der Schublade zu ziehen und zu sagen: Jetzt lösen wir mit diesem Vorschlag, der real ein alter Hut ist, den Gordischen Knoten in dieser Verhandlungslage, die mehr als verstrickt ist. Das heißt, es ist ein einziges Täuschungsmanöver; mehr nicht.
Es sind eigentlich keine Verhandlungen. Die Ergebnisse stehen vorher fest. Was von außen wie ein Pokerspiel anmutet, ist in Wirklichkeit nur eine Demonstration der realen Machtverhältnisse, wobei die Industrieländer allerdings großen Wert auf die Form und darauf legen, daß diese Machtverhältnisse seitens der Entwicklungsländer mit großer Höflichkeit zur Kenntnis genommen und bedacht werden.
Solche Verhandlungen führen natürlich zu nichts. Das stimmt. Da muß ich der Bundesregierung zustimmen. Das beklagt sie auch immer. Deswegen wird j a auch diskutiert, ob man nicht grundsätzlich solche Großveranstaltungen wie UNCTAD schlichtweg fallenläßt und sich statt dessen im kleinen Kreis mit auserlesenen Leuten unterhält, wo natürlich nicht mehr alle Entwicklungsländer vertreten sind, vor allem nicht die kleinen; aber die entscheidenden wird man schon an den Tisch bekommen.Da muß ich sagen: Wenn man Verhandlungen so führt wie die Gruppe der B-Länder, bringt es nichts. Dann ist die einzige Strategie offensichtlich, einen Beweis für die These zu liefern, daß es ineffektiv war. Aber die Schuldfrage ist damit auch ganz klar zugeteilt.
Ich weise noch einmal ganz kurz auf die Rede von Herrn Osman hin. Ich meine, der Zusammenhang ist sehr wichtig, daß man sich überlegt, daß die Entwicklungsländer in einer Situation sind, wo sie eigentlich mit dem Rücken an der Wand stehen. Ich glaube, diese UNCTAD-Verhandlungen sind ein ganz besonderer historischer Augenblick. In dem Moment, wo die Entwicklungsländer eigentlich gar nicht mehr handlungsfähig sind, weil sie überhaupt keine Zugeständnisse mehr machen können, gehen sie hin, reichen den Industrieländern die Hand und sagen: Wir wollen mit euch den Dialog führen. Sie haben die Vorschläge von Buenos Aires ausgearbeitet, und sie haben die Vorschläge auf den Tisch gelegt. Und in dem Moment geht die Gruppe der Industrieländer hin und sagt: Wir aber nicht; es gibt hier nichts zu verhandeln. Die Ergebnisse stehen vorher fest.Und genau das war die Situation, in der gestern der Sprecher der Gruppe 77 gesagt hat: Wenn ihr so weitermacht, dann geht es nicht; dann müssen wir uns etwas anderes überlegen.Und — das hat er nicht gesagt, aber das würde ich sagen — ich glaube, daß in dieser Schwäche der Entwicklungsländer auch eine ganz bestimmte Stärke steckt, und die wird auch vermutet: das Verschuldungsproblem. Ich will es nicht hoffen, aber ich denke, daß diese Taktik, die von Ihnen hier gefahren wird, wie ein Bumerang auf uns zurückfallen kann.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Rumpf.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vielen Dank, Frau Botschafterin Gottwald,
daß Sie die Botschaft von Belgrad gebracht haben. Das ist eine tolle Sache: auf Kosten des Bundestages nach Belgrad fahren und dann hier Geschäftsführung ohne Auftrag betreiben.
Ich halte mich lieber an die Botschaft unseres Botschafters, Dr. Sulimma, der uns unterrichtet und das zu sagen hat, was sicher für unsere und die allgemeinen Interessen wichtiger ist als die eine Stimme, die Sie da gehört und hier verbreitet haben.
Selbstverständlich ist die VI. Welthandelskonferenz in einer schwierigen Phase.
Meine Damen und Herren, die Konferenz der 165 Staaten ist bedeutsam, weil sie den einzigen NordSüd-Dialog in diesem Jahr darstellt und weil von dieser Konferenz wahrscheinlich — ob berechtigt oder unberechtigt — Hoffnungen und Impulse ausgehen, die auch andere, noch bevorstehende Konferenzen beeinträchtigen oder befruchten können.Ich denke vor allem an die Weiterentwicklung des Abkommens der Europäischen Gemeinschaft mit den sogenannten AKP-Staaten, das sind die Staaten Afrikas, der Karibik und des Pazifik.Die Bundesregierung hatte in Belgrad wirklich keine einfache Aufgabe. Sie mußte als Präsidentin des Europäischen Rats die Auffassung der Europäischen Gemeinschaft vertreten und gleichzeitig ihre eigene Einstellung klar genug darlegen. Bundeswirtschaftsminister Graf Lambsdorff hat diese Aufgabe mit Bravour bestanden.
— Da können Sie noch soviel lachen. — In seinerRede vom 7. Juni 1983 in Belgrad hat er — HerrBindig, nun hören Sie zu! — für die EG zunächst
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Dr. Rumpfeine Analyse der wirtschaftlichen Situation der Welt vorgetragen. Er hat dann klargemacht, daß die Europäische Gemeinschaft der größte Handelspartner der Entwicklungsländer ist und insgesamt fast die Hälfte aller Entwicklungsleistungen erbringt.
Der Wirtschaftsminister hat ferner die Kooperations- und die Dialogbereitschaft der Europäischen Gemeinschaft betont, ohne alle Forderungen, die von den Entwicklungsländern formuliert worden waren, zu akzeptieren; das ist zuzugeben und auch richtig. Vor allem die Weiterentwicklung der Zusammenarbeit bei den Rohstoffabkommen, beim Handel und bei den Währungs- und Finanzproblemen wurde zugesichert.Meine Damen und Herren, wir haben hier gestern auch über die Stuttgarter Gipfelkonferenz gesprochen. Ich meine, wir können hier feststellen — ich tue das zumindest für die FDP-Fraktion —, daß die Bundesregierung die Präsidentschaft im Rat auch auf dem Gebiet der Entwicklungspolitik sehr ernst genommen und eine gute Figur gemacht hat.
— Ich freue mich außerdem, feststellen zu können, daß es in der deutschen Entwicklungspolitik Kontinuität gibt, Herr Holtz. Bei ein wenig gutem Willen auf allen Seiten — insbesondere auf Ihrer Seite, der SPD — hätten die beiden Entschließungsanträge, über die wir heute abstimmen müssen, zu einem gemeinsamen Entschließungsantrag zusammengefaßt werden können.
Die Unterschiede sind nur mit der Lupe zu finden.
Noch im vorigen Jahr haben wir alle uns um gemeinsame Anträge bemüht. Bei Ihnen hatte der leider nicht mehr dem Bundestag angehörende Abgeordnete Osswald die Koordination übernommen. Ich selbst war seinerzeit maßgeblich an den Formulierungen beteiligt.
Auch die damals in Opposition stehende CDU — Herr Professor Pinger, Herr Dr. Hüsch, Frau Fischer — hat diesen Anträgen, die von uns gemeinsam formuliert worden sind, zugestimmt.
Das ist die gemeinsame Entschließung vom 5. März 1982. Von dieser Entschließung entfernen Sie sich von Tag zu Tag mit schnellerer Geschwindigkeit.
Ich bedaure zutiefst, daß trotz der Kontinuität eine gemeinsame Linie offensichtlich nicht mehr zu finden ist. Die Gefahr des Auseinanderdriftens der deutschen Entwicklungspolitik, meine Damen und Herren von der SPD, wird um so größer, je geringerder Zwang zum Kompromiß ist. Deshalb appelliere ich dringend an Sie, sich nicht wegen geringster Differenzen in der Formulierung schon total abzuwenden. Aber das scheint j a zur Zeit auf allen Feldern der Politik so zu sein.
Meine Damen und Herren, für die FDP-Fraktion will ich der Bundesregierung nochmals den Rücken stärken für die letzte Verhandlungswoche in Belgrad und auf einige für uns wesentliche Punkte hinweisen.Die Bundesrepublik Deutschland hat sich in Belgrad innerhalb der EG als treibende Kraft erwiesen, Herr Bindig, und nicht etwa, wie Sie meinen, im Bremserhäuschen gesessen. Beim Handel kommt es heute mehr denn je darauf an, dem Druck des Protektionismus zu widerstehen.
Die Präferenzen kommen heute hauptsächlich den jungen Industrieländern zugute, die zwar in der Gruppe der 77 sind, aber bereits auf einer anderen Entwicklungsstufe stehen als die ärmeren Entwicklungsländer. Wir meinen, es ist an der Zeit, die Entwicklungsländer nicht alle gleich zu behandeln.
Sie wollen natürlich mit einer Stimme reden. Dafür habe ich auch Verständnis. Aber es ist die Zeit gekommen, daß wir unterscheiden zwischen den jungen Industrieländern, den Entwicklungsländern der mittleren Kategorie
und den am wenigsten entwickelten Ländern. Die jungen Industrieländer sollten dann voll in das System des Zoll- und Handelsabkommens, in das GATT, einbezogen werden.
Für die ärmsten Länder haben wir unsere entwicklungspolitische Strategie, übrigens gemeinsam mit der SPD, entwickelt. Ich hoffe, Sie stehen dazu. Die Bundesregierung ist dabei, diese Strategie auch mit der EG zu koordinieren. Hierüber werden wir im nächsten Jahr in diesem Hohen Hause noch sprechen müssen, wenn das dritte Lomé-Abkommen vorbereitet wird.Ferner ist zu hoffen, daß die Industrieländer, vor allem die der Zehnergemeinschaft, die allgemeinen Präferenzen auf die weiterentwickelten Industrieländer nur unter der Bedingung ausdehnen, daß diese ihrerseits auch wieder den am wenigsten entwickelten Ländern Präferenzen einräumen. Daraus würde eine verstärkte Liberalisierung des Handels folgen, und dies käme dann wieder der gesamten Weltwirtschaft zugute.
Wir Deutschen müssen darauf drängen, daß die noch bestehenden Hindernisse für die Einfuhr tro-
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Dr. Rumpfpischer Erzeugnisse in der Gemeinschaft weiter abgebaut und schließlich beseitigt werden.Schließlich sollte die Welthandelskonferenz zu konkreten Ergebnissen führen, wie die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen den Entwicklungsländern gefördert werden kann. Die Liberalen messen diesem Aspekt in Zukunft jedenfalls größere Bedeutung zu.In der Rohstoffpolitik sprechen wir uns für die Errichtung des gemeinsamen Rohstoff-Fonds aus.
Selbstverständlich hängt der Erfolg eines solchen Rohstoffabkommens von der Stabilität der Preise ab. In einer Weltwirtschaftsflaute gehen die Rohstoffpreise allgemein zurück.
Hier gibt es nur die Möglichkeit, Herr Schwenninger, die Preisschwankungen durch einen Stabilisierungsfonds aufzufangen. Hier kann ich in bezug auf die Länder, von denen Frau Gottwald sagte, sie könnten die Beiträge nicht bezahlen — Frau Gottwald hört aber gerade nicht zu — sagen: Es war Außenminister Genscher, der im Kabinett durchgesetzt hat, daß die Beiträge für diese Länder, von denen Sie sprachen, von der Bundesrepublik und von der Europäischen Gemeinschaft übernommen werden.
Wir Freien Demokraten halten außerdem an dem Ziel 0,7% des Bruttosozialprodukts fest. Es ist die Grundlage unserer Programme für die Entwicklungspolitik. Das gleiche gilt im übrigen für das Ziel 0,15% für die ärmsten Länder. Wir brauchen uns auch gar nicht zu verstecken. Immerhin hat die Bundesrepublik Deutschland von den 0,7 % fast 0,5% erreicht und von den 0,15 % immerhin 0,12 %. Dies muß ausdrücklich anerkannt werden. Aber wir fordern die Bundesregierung auf, in ihren Anstrengungen nicht nachzulassen. Im neuen Haushalt 1984 sollten diese Zahlen zumindest stabilisiert werden.Herr Bindig, Sie beklagen ganz allgemein die Waffenkäufe in der Welt. Wir beklagen das alle. Wir wollen dazu eine Anhörung machen. Sie wissen das genausogut wie ich. Aber was ist denn eigentlich mit der UNO los? Warum ist die UNO nicht bereit, der Genscher-Initiative nachzukommen, nach der eine Offenlegung aller Waffenkäufe und aller Waffenlieferungen in die Entwicklungsländer auf einer Liste erfolgen und gleichzeitig auch zusammengestellt werden soll, wer wohin die größten Entwicklungshilfeleistungen erbracht hat.
Ich kann Ihnen nur sagen: Da steht die Bundesrepublik Deutschland sicher sehr gut da. Ganz schlecht aber werden dann die Länder des Ostblocks da stehen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich komme zum Schluß. Ein Hauptthema in Belgradwar die bedenkliche Schuldenlast der Entwicklungsländer. Ich stelle dieses Problem an das Ende meiner Ausführungen, damit es in Erinnerung bleibt. Wenn hier keine radikalen Maßnahmen ergriffen werden, könnte in größerem Umfang Zahlungsunfähigkeit auftreten, die dann katastrophale Auswirkungen auf das internationale Finanzsystem hätte. Eine Abschreibung der Schulden oder eine Umschuldung würde für uns eine sehr große zusätzliche Anstrengung bedeuten. Sicher muß darauf noch eine Antwort gegeben werden.
Die Bundesregierung hat dabei unsere Unterstützung, wie sie sie auch hinsichtlich des gemeinsamen Antrags hat. Die FDP-Fraktion wird ihm zustimmen. — Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und meine Herren! Das Parlament debattiert UNCTAD VI zur guten Stunde. Und ich möchte Ihnen allen, die Sie sich nach einem Tag parlamentarischer Schwerarbeit zu diesem Tagesordnungspunkt eingefunden haben, den Dank der Bundesregierung sagen; denn wir treffen uns zu jenem Zeitpunkt, da die Welthandels- und Entwicklungskonferenz in jene schöpferische Krise gekommen ist, die auch bei früheren Welthandels- und Entwicklungskonferenzen darüber entschieden hat, ob diese Treffen zu einem Erfolg geworden oder gescheitert sind.
Mit dieser Debatte leistet der Bundestag einen Beitrag dazu, daß von deutscher Seite Voraussetzungen geschaffen werden, die Konferenz zum Erfolge zu führen. Ich danke den Fraktionen der CDU/CSU, der FDP und auch der SPD, daß sie durch ihre Anträge hier die Initiative ergriffen haben.Aus den Gesprächen, die ich bis heute mittag in Belgrad geführt habe, hat sich für mich eines ergeben: UNCTAD VI hat Aussichten auf Erfolg. Und niemand hofft mehr darauf, daß diese Aussichten nicht zerredet werden, als die Entwicklungsländer selber.Die Bundesregierung hat als Ratsmacht der Europäischen Gemeinschaft mit Wirkung für die ganze EG diese Konferenz ausgezeichnet vorbereitet. Tatsächlich stand der Resolution von Buenos Aires lediglich aus der Europäischen Gemeinschaft eine bis in Detail ausgearbeitete und durchdachte Alternative in Belgrad gegenüber.
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1086 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983
Bundesminister Dr. WarnkeDie Ostblockgruppe zeigte demgegenüber die im entwicklungspolitischen Bereich nachgerade gewohnte Substanzlosigkeit ohne eigene Beiträge.
Die deutsche Delegation bringt in Belgrad konkrete Vorschläge ein. Und wir leisten damit unseren Teil, damit diese Konferenz erfolgreich abgeschlossen werden kann. Ich nenne hier beispielhaft folgende Punkte.Erstens. Rohstoffbereich. Die Bundesregierung ist bereit, sich auch bei den anderen, bei den noch zögernden Teilnehmerstaaten für die Ratifizierung des Gemeinsamen Fonds einzusetzen. Wir hoffen, daß diese unsere Haltung ihre Wirkung nicht verfehlen wird, auch nicht auf jene Staaten aus der Dritten Welt, die bis heute nicht bereit waren, diese Ratifizierung vorzunehmen.Wir sind im Rohstoffbereich weiter bereit, über eine Ausweitung der Exporterlösregelungen des Lomé-Abkommens, der STABEX-Regelungen, auf solche Staaten zu verhandeln, die nicht dem LoméAbkommen angehören, aber zu den ärmsten Entwicklungsländern zu zählen sind.
Wir sind weiterhin bereit, über weitere Möglichkeiten der Exporterlösstabilisierung zu verhandeln, und zwar mit neuen, wegweisenden Vorstellungen, Herr Kollege Bindig. Aber wir können sie nur als unseren Beitrag einbringen. Um sie durchzusetzen, sind wir darauf angewiesen, daß auch solche Länder aus der Europäischen Gemeinschaft mitmachen, die bis heute nicht dazu bereit gewesen sind. Und die haben sozialistische Regierungen.
Zweitens. Was die am wenigsten entwickelten Länder angeht, also die sogenannten LLDC-Länder, so haben wir die Beschlüsse von Paris aus dem Jahre 1981 bestätigt und damit die Fortsetzung der Bemühungen bekräftigt, einen Hilfsanteil von 0,15 % unseres Bruttosozialprodukts auf die ärmsten Entwicklungsländer zu konzentrieren. Wir liegen heute schon über 0,12 %. Wir liegen damit im Vergleich zu anderen Ländern, die weniger als die Hälfte dessen für die ärmsten Entwicklungsländer aufbringen, nicht schlecht.Wir setzen uns dafür ein, daß der Internationalen Entwicklungsagentur — IDA — zeitig neue Mittel in angemessener Höhe, insbesondere, wie Sie wissen, zugunsten der ärmsten Entwicklungsländer zur Verfügung gestellt werden. Hier ist nicht der Ort und es ist nicht die Zeit, endgültige Zahlen zu nennen. Aber im Rahmen der siebten Auffüllungsrunde wird sich die Bundesrepublik Deutschland in beträchtlicher Milliardenhöhe zugunsten der ärmsten Entwicklungsländer engagieren. Herr Kollege Bindig, das wird im Geist und in Ausfüllung jener gemeinsamen Entschließung aller Fraktionen desDeutschen Bundestages vom 5. März 1982 geschehen,
die wir anerkennen, die wir dankbar begrüßen, die wir allerdings auch weiterzuentwickeln für unsere Aufgabe halten.Ich würde es begrüßen, wenn es in Belgrad gelingt, gerade auch im Zusammenhang mit den ärmsten Entwicklungsländern eine Resolution zu fassen — und die Zustimmung der Vertreter der Dritten Welt dazu zu bekommen —, die die Arbeit der Nichtregierungsorganisationen anerkennt, der Kirchen, Stiftungen, anderer Organisationen, die in den ärmsten Entwicklungsländern Beispielhaftes leisten, deren Bemühen aber leider gerade von Staaten der Dritten Welt nicht genug gewürdigt wird.
Drittens. Die Bundesrepublik ist in ihrem Eintreten für weltweite Freizügigkeit des Handels
seit fast dreieinhalb Jahrzehnten von wenigen erreicht und von niemandem übertroffen worden.
Unseren Markt offenzuhalten, Herr Kollege, für die Erzeugnisse der Partner in der Dritten Welt, das ist ohne Wanken eine Linie gewesen, der alle Bundesregierungen gefolgt sind, gleichgültig ob die Union mit Ludwig Erhard oder ob die SPD mit Professor Schiller oder ob die FDP mit Graf Lambsdorff Hausherr in Duisdorf gewesen ist. Auch als Ratsmacht der EG sind wir diesem Ruf treu geblieben.Damit ist der Kampf gegen den Protektionismus ein gutes Beispiel für ein generelles Dilemma, das sich auch auf der UNCTAD-Konferenz zeigt. Kann man alle Schritte auf einmal gehen? Hier stellen sich für uns drei Schritte, die zu unterscheiden sind: erstens eine klare Absage an weitere protektionistische Maßnahmen, die einen Verstoß gegen den Buchstaben und gegen den Geist internationaler Regelungen bedeuten.
Wir wären Ihnen von der SPD-Fraktion, die Sie hier konkrete Schritte verlangen, dankbar, wenn Sie Ihre Freunde aus der Sozialistischen Internationalen ermutigen würden, mit uns in Belgrad an einem Strang zu ziehen; denn da liegt im Augenblick der Hemmschuh und sonst nirgendwo.
Zweitens. Es könnte eine Perspektive sein, dort wo in den letzten Jahren solche Maßnahmen ergriffen worden sind, ihren Abbau in einer heute schon terminierten Zeit vorzusehen.Drittens. Es gibt natürlich einen Altbestand, der aus der Zeit nach dem Krieg bis heute als harter Kern fortbestanden hat. Seinen Abbau im Zeichen von Millionenzahlen von Arbeitslosen in der Europäischen Gemeinschaft ausgerechnet jetzt verspre-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983 1087
Bundesminister Dr. Warnke
chen zu wollen, schiene uns eine nicht wirklichkeitsnahe und deshalb eine nicht ehrliche Politik zu sein. Das ist ein Beispiel dafür, daß UNCTAD eben nur ein Schritt auf einem Weg sein kann, der lang ist und der weitere Schritte notwendig machen wird.
Nur, Frau Kollegin Gottwald, eines lasse ich nicht im Raume stehen: daß in Belgrad Zurücknahmen bisheriger Verpflichtungen von den Ländern der freiheitlichen Welt gegenüber der Dritten Welt ins Auge gefaßt worden wären.
Ich habe genau hingehört. Sie haben auch kein Beispiel dafür angeführt. Es gibt solche Zurücknahmen bereits gewährter Leistungen nicht. Ich lege Wert darauf, daß wir auch in diesem Hause auf Ordnung und Korrektheit der Unterrichtung bestehen. Die Länder der Industriewelt sind einen solchen Schritt nicht gegangen.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schily?
Aber gern.
Herr Minister, Sie haben einen Gegensatz gebildet zwischen der Dritten Welt und der freiheitlichen Welt. Wollen Sie diese Unterscheidung aufrechterhalten?
Ich möchte sie Ihnen, Herr Kollege Schily, gern ausdeutschen. Es handelt sich um die freiheitlichen Industrieländer auf der einen Seite und um jene Länder, die auch Industrieländer, aber keineswegs freiheitlich sind, auf der anderen Seite. In bezug auf diejenigen habe ich die Unterscheidung gemeint. Wenn das damit klargestellt ist, sehen Sie, daß kein Gegensatz zur Dritten Welt besteht.
Allerdings, meine Damen und Herren, werden die Entwicklungsländer in UNCTAD VI zur Kenntnis nehmen müssen, daß von den Ländern der entwikkelten Seite der Welt Leistungen bereits im Vorfeld von UNCTAD VI erbracht worden sind; Leistungen, die sich zum Teil bereits jetzt auswirken, Leistungen, die sich gerade in den nächsten vier Jahren auswirken werden und die man bei der Bewertung westlicher Unterstützung nicht eliminieren kann.
Ich nenne Beispiele. Die Industrieländer der freien Welt haben im Durchschnitt der letzten fünf Jahre ihre Entwicklungshilfe jedes Jahr real um 5% gesteigert.
Sie leisteten im Jahre 1982 immerhin eine Hilfe von 28 Milliarden Dollar.
Unser eigener Entwicklungshaushalt ist im laufenden Jahr trotz schwerer wirtschaftlicher, sozialer und finanzieller Bedrängnis überdurchschnittlich gegenüber dem gesamten Bundeshaushalt gewachsen. Meine Kollegen von der Opposition, wir rühmen uns dessen nicht, aber wir weisen immerhin darauf hin, daß hier überdurchschnittliche Leistungen mit der Unterstützung einer Bevölkerung erbracht worden sind, die heute von uns zu Opfern aufgefordert werden muß. Wir glauben, wir sollten das in diesem Hause auch einmal positiv würdigen, damit in unserem Land die gute Grundstimmung für diese Entwicklungshilfe erhalten bleibt.
Die Quoten des Weltwährungsfonds wurden fast um die Hälfte erhöht, und die Programmhilfe der Weltbank wurde ausgeweitet.
Aber, meine Damen und Herren, in jenen Bereichen, in denen ein Eingehen auf die Forderungen der Gruppe der 77 den Aufschwung der Weltwirtschaft, insbesondere aber seine langfristige Tragfähigkeit und Stabilität gefährden würde, wird die Bundesrepublik Deutschland mit der Europäischen Gemeinschaft allerdings auch in Belgrad die erforderliche Festigkeit zeigen.
Ich denke an den hochempfindlichen Bereich der internationalen Währungs- und Schuldenprobleme. In der richtigen Dosierung der für die Entwicklungsländer heute zweifellos notwendigen Liquidität wandeln wir auf einem schmalen Grat zwischen dem Absturz in eine weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise durch Zusammenbruch infolge Überschuldung und der weltweiten Inflation auf der anderen Seite. Die Bundesrepublik, die sich gerade von den Folgen einer Inflationspolitik erholt, wäre schlecht beraten, so etwas nunmehr den Entwicklungsländern zu empfehlen.
Dort, wo eine Liquiditätsausweitung erforderlich ist, muß im Rahmen des Internationalen Währungsfonds darüber entschieden werden.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Duve?
Bitte sehr.
Herr Minister, Sie haben soeben formuliert: „die Bundesrepublik, die sich gerade von einer Inflationspolitik erholt." Wollen Sie wirklich den Vergleich dessen, was wir an Inflationsraten hinter uns haben und was wir zur Zeit haben, mit der Währungsentwicklung in Mexiko, Brasilien und anderen Ländern aufrechterhalten?
Herr Kollege, es gibt in der Tat zugrunde liegende gleiche Strukturen, nämlich die, daß wir sowohl bei uns in der Bundesrepublik
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1088 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983
Bundesminister Dr. WarnkeDeutschland — auf hohem Niveau — wie auch in vielen Entwicklungsländern in den 70er Jahren zuviel in zu kurzer Zeit gewollt und uns dabei übernommen haben.
Wir sind bereit, unsere Erfahrungen auch den Entwicklungsländern weiterzugeben.Nun haben Sie, Herr Kollege Bindig, die Erwähnung des Internationalen Währungsfonds dazu benutzt, um hier Angriffe zu führen und wieder den Gegensatz zwischen konservativ und fortschrittlich hineinzubringen. Ich kann Ihnen eins sagen: Wir sind dankbar dafür, daß der Internationale Währungsfonds heute in vielen Staaten gerade Schwarzafrikas Auflagen macht, die sich zum Teil gegen eine verfehlte sozialistische Politik richten, die dazu geführt hat, daß durch künstliches Niedrighalten der Preise für landwirtschaftliche Produkte diese Länder heute in die Subsistenzwirtschaft zurückgefallen sind, weil es sich nicht mehr lohnte, für den Markt zu produzieren und weil marktwirtschaftliches Verhalten unter Strafe gestellt wurde.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Verheyen?
Frau Präsidentin, ich bedauere. Ich halte das Haus durch weitere Zulassung von Zwischenfragen ungebührlich auf.
Meine Damen und Herren, Festigkeit werden wir allerdings auch dort zeigen, wo in unserem eigenen Lande Vorschläge gemacht werden, die ordnungspolitisch ungeeignet sind, die Situation der Entwicklungsländer zu verbessern. In manchen Punkten Ihres Antrages feiert die alte Investitionslenkung fröhliche Auferstehung. Sie ist nicht dadurch anziehender geworden, daß Sie sie in einem neuen Gewand präsentiert haben.Mit besonderem Interesse habe ich den Punkt 3 Ihres Resolutionsentwurfs zur Kenntnis genommen, wo Sie Projekte im Explorationsbereich — also Projekte zur Erkundung, ob es Rohstoffe gibt und ob sich ihr Abbau lohnt — gleich mit der Verarbeitung verknüpfen wollen. Das nenne ich eine wahre Orgie antizipatorischer Strukturpolitik, wenn man die Fabrik zur Verarbeitung schon aufbaut, bevor man weiß, ob der Abbau überhaupt wirtschaftlich ist.
Deutsches Steuergeld werde ich für so etwas nicht zur Verfügung stellen.
Aber zusammen mit den Kollegen aus den Koalitionsfraktionen werde ich dafür sorgen, daß Projekte zur Verarbeitung einheimischer Rohstoffe dort, wo sie solide begründet und durchführbar sind, in der Entwicklungspolitik der Bundesrepublik Deutschland Vorrang haben.
Meine Damen und Herren, wir haben heute vom Sprecher der Gruppe 77, vom somalischen Botschafter Osman, gehört. Er hat in der Tat gestern im Plenum das Wort ergriffen. Ich habe sehr genau hingehört, als er in dieser kritischen Auseinandersetzung mit den westlichen Ländern dann auf einmal von „Partnern" sprach. Er präzisierte, wen er mit „Partner" meinte. Partner waren für ihn die Länder der Gruppe B, die Industrieländer der freiheitlichen Welt. Das war auch kein Wunder, meine Damen und Herren, denn nur pro forma findet in Belgrad der Dialog zwischen dem Norden und dem Süden statt. Wirklich gesprochen und wirklich verhandelt wird zwischen den Industriestaaten der freien Welt einerseits, die die einzigen sind, die etwas anzubieten haben und bereit und in der Lage sind, etwas zu geben, und den Ländern der Dritten Welt. Das sind die wahren Partnerbeziehungen in Belgrad.
Es war ermutigend, in Belgrad zu erleben, wie ungeachtet tiefgreifender Meinungsverschiedenheiten, die wir nicht wegdiskutieren wollen, die wir nicht wegdiskutieren können, der Geist der Kooperation und nicht der Konfrontation zwischen den verschiedenen Partnern der Konferenz herrschte. Diese Geisteshaltung der Zusammenarbeit im Bewußtsein, aufeinander angewiesen zu sein, ist entscheidend für die Lösung der Probleme, die vor uns liegen.Kein Zweifel: Eine Woche vor dem offiziellen Ende ist der Ausgang von UNCTAD VI nach wie vor ungewiß.
Die Verantwortung für das Scheitern liegt jetzt in den Händen beider Seiten. Die Bundesregierung wird in diese Schlußrunde hineingehen mit Gesprächsbereitschaft, mit Offenheit nach allen Seiten, vor allem aber mit dem politischen Willen, dafür zu sorgen, daß UNCTAD VI ein weiterer Schritt in Richtung auf den Ausgleich zwischen Nord und Süd wird.
Eine Erklärung von Belgrad könnte ein wichtiges Signal des Vertrauens geben. Wir hoffen auf einen Beitrag zu weltweiter Stabilität, insbesondere aber zu Wachstum und weiterer Entwicklung für die Dritte Welt. Dies bleibt das Ziel der Bundesregierung in Belgrad.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983 1089
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Anträge, zuerst über den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/118. Wer diesem Antrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Antrag ist abgelehnt.
Wir stimmen jetzt über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 10/125 ab. Wer diesem Antrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Antrag ist angenommen. -
Meine Damen und Herren, ich rufe jetzt die Zusatzpunkte 3 und 4 der Tagesordnung auf:
3. a) Beratung der Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zum Entschließungsantrag der Fraktion der SPD zur Erklärung der Bundesregierung zum Ergebnis der NATO-Konferenz am 9./10. Juni 1983
— Drucksachen 10/152, 10/190 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Dr. Todenhöfer Voigt
in Verbindung mit
b) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Entscheidung des Deutschen Bundestages zur Frage einer etwaigen Stationierung von nuklearen Mittelstreckenwaffen
— Drucksache 10/191 — und
c) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP Verhandlungsergebnis in Genf
— Drucksache 10/200 —4. Beratung der Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zum Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP zur Erklärung der Bundesregierung zum Ergebnis der NATO-Konferenz am 9./10. Juni 1983
— Drucksachen 10/155, 10/196 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Voigt Dr. Todenhöfer
Interfraktionell ist vorgeschlagen worden, die Zusatzpunkte gemeinsam zu beraten. — Dagegen gibt
es keinen Widerspruch. Berichterstattung und Begründung werden nicht gewünscht.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Voigt .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Frage, die wir heute noch einmal beraten und über die wir uns bereits in der vorigen Woche unterhalten haben, steht deshalb auf der Tagesordnung, weil wir noch vor Beginn der parlamentarischen Sommerpause Klarheit im Parlament schaffen wollen, damit die Bürger der Bundesrepublik Deutschland auf Grund klarer und eindeutiger Informationen der Bundesregierung und auf Grund ebenso klarer und eindeutiger Beschlüsse des Bundestages während der parlamentarischen Sommerpause bei allen sonstigen Meinungsunterschieden in bezug auf zwei Tatbestände sicher sein können:Erstens. Der Deutsche Bundestag wird nach Abschluß der für den Herbst dieses Jahres vorgesehenen Verhandlungsrunde in Genf das bis dahin vorliegende Verhandlungsergebnis prüfen. Aber er besteht auch auf seinem Recht, über die daraus zu ziehenden Konsequenzen zu beraten und zu entscheiden.Zweitens. Vor dieser Entscheidung des Deutschen Bundestages werden auf keinen Fall Pershing-II-Raketen oder Marschflugkörper oder Teile dieser Systeme in die Bundesrepublik Deutschland gebracht.Es geht uns Sozialdemokraten nicht um Vorwürfe gegenüber der Bundesregierung, sondern um Klarheit über den geplanten zeitlichen Ablauf des Stationierungsverfahrens.
Geheimhaltung ist in diesem Fall militärisch nicht erforderlich und politisch schädlich. Mehr Offenheit und Transparenz tuen Not.Der Bundestag und die Öffentlichkeit haben einen legitimen Anspruch, zu erfahren, für welchen Zeitpunkt ein etwaiger Beginn der Stationierung neuer US-Mittelstreckenwaffen vorgesehen ist. Wir als Abgeordnete und die gesamte Öffentlichkeit haben einen politisch legitimen Anspruch, klar, eindeutig und unmißverständlich zu erfahren, welcher Zeitpunkt für den etwaigen Beginn der Stationierung genannt wird — dazu gehören nach unserer Definition nicht nur der Beginn der Stationierung der Raketen selber, sondern auch die dazugehörenden Systemteile von Waffen. Wir wollen entscheiden, bevor zu diesen Nuklearwaffensystemen gehörende Teile in die Bundesrepublik Deutschland gebracht werden.Wenn ich dabei von Pershing-II-Raketen und Marschflugkörpern und Teilen dieser Waffensysteme spreche, dann muß für die Bundesregierung schon auf Grund früherer Diskussionen im vergangenen Bundestag unmißverständlich sein, was damit gemeint ist. Nicht gemeint sind damit die NATO-Infrastrukturmaßnahmen. Diese haben wir um der Glaubwürdigkeit des NATO-Doppelbe-
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1090 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983
Voigt
schlusses willen gebilligt. Zu dieser Billigung bekennen wir uns auch noch heute.
Meine Damen und Herren! Es ist so außerordentlich laut, daß man den Redner kaum verstehen kann. Ich bitte Sie, sich etwas ruhiger zu verhalten.
Ich schließe aus diesem begeisterten Gemurmel, daß alle der Meinung sind, daß auf keinen Fall im Herbst dieses Jahres Raketen oder Raketenteile in die Bundesrepublik Deutschland gebracht werden sollen.
Wenn sich dieser murmelnde Beifall nachher in der Abstimmung niederschlägt: um so besser!
Gemeint über Raketenteile hinaus sind aber auch zur Funktionsfähigkeit der Waffensysteme gehörende Elemente wie z. B. Computer und Leitsysteme. Gerade in diesem Punkte läßt der heute neu eingebrachte CDU/CSU-Antrag erkennen, daß er bewußt eine Lücke offenläßt.Deshalb fordern wir eine eindeutige und nicht interpretationsfähige Auskunft der Bundesregierung und des Bundeskanzlers. Die Antwort des Bundesverteidigungsministers vom 14. Juni auf den Brief des Vorsitzenden der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion, Jochen Vogel, hat nicht — darauf hat dieser in der Debatte heute morgen schon hingewiesen — die erforderliche Eindeutigkeit und Klarheit zum Ausdruck gebracht. Diese Klarheit hat auch die Debatte heute morgen nicht gebracht.Aus diesem Grunde bleiben wir bei unserer Forderung nach einer eindeutigen, nicht interpretationsfähigen und nicht interpretationsbedürftigen Stellungnahme des Bundeskanzlers vor dem Plenum des Deutschen Bundestages.Aber über die für die heutige Debatte dringend erforderliche Klarstellung der Bundesregierung hinaus geht es auch um die ebenso eindeutige Feststellung und Willenserklärung des Deutschen Bundestages. Diese ermöglicht die Ihnen heute von der SPD-Bundestagsfraktion vorgelegte Entschließung, die sich bewußt auf diese Punkte konzentriert. Wir bitten deshalb dafür um die Zustimmung aller Fraktionen des Bundestages.Der Entwurf eines Entschließungsantrages der Koalitionsfraktionen zeigt, daß unser Antrag zumindest eine gewisse Wirkung gehabt hat. Die CDU/CSU hat sich jetzt mit diesem Thema mehr als zuvor befaßt. Sie bewegt sich in Richtung auf unseren Antrag.
Die Unterschiede zeigen aber auch, wo weiter Unklarheiten bestehen.Ich bitte die folgenden Sprecher der Koalitionsparteien, auf diese Unklarheiten und Unterschiede einzugehen. Denn im Antrag der Koalitionsparteiensteht nicht, daß der Bundestag entscheiden soll, sondern da steht nur, daß er Stellung nehmen soll. Dort steht, daß die Stationierung nicht vor dem 15. November beginnen darf. Da fehlt das, was bei unserem Antrag enthalten ist, daß vor dem 15 November auch keine Teile von Raketen hierhergebracht werden dürfen und daß zu den Teilen auch keine Teile von Raketensystemen hinzugehören. Da steht nicht, wie in unserem Antrag, daß die Systeme oder Teile von diesen Systemen nicht vor dem 15. November in die Bundesrepublik Deutschland gebracht werden dürfen, sondern da steht nur, daß sie nicht vor dem 15. November stationiert werden sollen.
— Damit, daß Sie, Herr Rühe, diese Unterschiede jetzt noch einmal unterstreichen, unterstreichen Sie, daß Sie mit Ihrem Antrag etwas anderes wollen. Dann, wenn Sie mit Ihrem Antrag etwas anderes wollen als wir, müssen Sie das auch deutlich machen. Wir beharren auf diesen eindeutigen, klaren und unmißverständlichen Feststellungen unserer eigenen Entschließung.
Es geht bei dieser Entscheidung auch um das Selbstverständnis und die Selbstachtung des Deutschen Bundestages. Es geht um seine Entscheidungsrechte. Diese Entscheidungsrechte sind angesichts des großen Engagements vieler Bürger in diesem Jahr auch Entscheidungspflichten. Entscheidungspflichten sind sie auch angesichts der schwerwiegenden Bedeutung dieser Entscheidung, die wir zu treffen haben, denn diese ist abrüstungspolitisch, sicherheitspolitisch und damit auch friedenspolitisch und entspannungspolitisch eine der wichtigsten Entscheidungen des Deutschen Bundestages seit vielen Jahren.Dabei möchte ich feststellen: Niemand stellt die verfassungsmäßigen Rechte der Bundesregierung in Frage, aber es ist die Aufgabe aller Fraktionen des Bundestages, insbesondere der Opposition, in solchen Situationen mit Argusaugen auf den Rechten des Parlaments zu beharren
und darauf zu achten, daß diese Rechte nicht nur nicht beschnitten, sondern in solchen Situationen auch wahrgenommen werden.
Deshalb wollen wir die Festlegung, daß der Bundestag im Herbst 1983 entscheidet.Der Bundestag würde, wenn er auf solche Debatten und Entscheidungen verzichtete, zu Recht in seinem Ansehen beschädigt werden. Ein Bundestag, der zuließe, daß vor seinen Debatten und Entscheidungen in solch wichtigen Fragen eine Regierung vollendete Tatsache schüfe,
sei es auch durch die Teilstationierung oder durchdas Verbringen von Teilen der Waffensysteme in
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983 1091
Voigt
die Bundesrepublik Deutschland vor der Debatte und der Entscheidung im Bundestag, würde sich zu Recht dem Gespött der Öffentlichkeit aussetzen.
Wer sich in solch wichtigen Fragen nicht zur Pflicht zur parlamentarischen Debatte und Entscheidung bekennt, leistet durch politische Abstinenz im Parlament dem Antiparlamentarismus außerhalb des Parlaments Vorschub.
Ich bin kein Verfassungsrechtler, aber ich kann mir aus verfassungspolitischen Gründen nicht vorstellen, daß eine Bundesregierung gegen eine Mehrheit des Deutschen Bundestages mit einer Stationierung neuer US-Mittelstreckenwaffen oder damit beginnen würde, Teile solcher Waffen in die Bundesrepublik zu bringen.
Die Glaubwürdigkeit unserer parlamentarischen Demokratie nach außen und die Einsicht in die friedenstiftende Kraft parlamentarisch fair ausgetragener Kontroversen im Innern führen mich dazu, an die Mehrheit des Deutschen Bundestages zu appelieren, unserer Entschließung zuzustimmen.Wir bitten um diese Zustimmung nicht aus Parteiinteresse, sondern aus unserem Engagement für ein glaubwürdiges Parlament. Es wird doch Ihnen genauso wie uns klar sein, daß Regierung und Parlamentsmehrheit durch ihr Verhalten entscheidend mit beeinflussen, wie sich parlamentarische Minderheiten und außerparlamentarische Protestbewegungen in diesem Sommer, in diesem Herbst und in diesem Winter verhalten werden.
Für uns Sozialdemokraten ist der Respekt vor Verfassung und Rechtsordnung selbstverständlich.
Staatliche Friedenspolitik und persönliche Gewaltlosigkeit sind für uns zwei Aspekte ein und derselben grundwerteorientierten Politik. Aber der Deutsche Bundestag trägt durch Form und Inhalt seiner friedenspolitischen Diskussionen und Entscheidungen eine Mitverantwortung für die Rationalität und Friedfertigkeit der friedenspolitischen Diskussionen und Aktionen außerhalb des Parlaments.Wir bitten um Zustimmung zu unserem Antrag, zu dem Antrag, der sich auf diese beiden Punkte bezieht und beschränkt. Aber wir beharren auch auf der Zustimmung zu unserem Antrag, den wir in der vorigen Woche eingebracht haben und der noch einmal ausdrücklich eine Zustimmung zu der amerikanischen Resolution zum „freeze" bekundet, zu der Resolution, die im amerikanischen Kongreß eine breite Mehrheit gefunden hat.
Wir beharren auch auf unserer Aufforderung an die beiden nuklearen Weltmächte, jetzt die äußerste Anstrengung zu unternehmen, um zu einer Einigung zu kommen, d. h. zu einem Abkommen, das durch die substantielle Reduzierung der nuklearen Mittelstreckenwaffen der Sowjetunion eine Reaktion der NATO auf die sowjetische Rüstung in diesem Bereich überflüssig macht.Der Antrag der CDU/CSU, der heute vom Auswärtigen Ausschuß mit der Mehrheit im Auswärtigen Ausschuß hier zur Annahme empfohlen worden ist, kann unsere Zustimmung insgesamt nicht finden. Es gibt einzelne Passagen, denen wir zustimmen können. Aber wir erinnern daran, daß auch die Punkte, die im CDU-Antrag enthalten sind und die für uns zustimmungsfähig sind, Fragen offenlassen.Zum Beispiel begannen 1978 in Helsinki Gespräche zwischen der UdSSR und den USA über einen Verzicht auf die Antisatellitenkriegführung. Diese Gespräche sind nach dem Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan auf Eis gelegt worden, und zwar von den USA auf Eis gelegt worden, und sie sind bisher nicht wieder aufgenommen worden.
Der Einmarsch der Sowjets in Afghanistan, den wir verurteilen, kann kein Argument und keine Entschuldigung sein, um solche lebenswichtigen Verhandlungen zu unterbrechen und auf Eis zu legen.Dies gilt auch für die Verhandlungen über ein Teststoppabkommen, und dies gilt auch für Verhandlungen über den Transfer von konventionellen Waffen, also über den internationalen Rüstungshandel. Das ist ein Punkt, den Sie überhaupt nicht erwähnt haben.Ein Punkt, den Sie erwähnt haben, wo aber eine Lücke in Ihrem Antrag erkenntlich ist, ist der der chemischen Waffen. Dort sprechen Sie in Ihrem Antrag von der Notwendigkeit einer weltweiten Ächtung chemischer Waffen. Dem stimmen wir zu. Aber die Frage, wie wir uns gegenüber der Stationierung von chemischen Waffen im eigenen Lande verhalten, hier und heute und jetzt, ist damit nicht erledigt.
Wir sind der Meinung, daß unabhängig von einem weltweiten Verbot chemischer Waffen, das wir wollen, chemische Waffen in Ost und West aus Europa abgezogen werden müssen und chemische Waffen auch einseitig aus der Bundesrepublik abgezogen werden können, ohne unsere Verteidigungsfähigkeit zu beeinträchtigen.Sie haben in Ihrem Antrag — und das ist im Prinzip zu begrüßen — das Thema der Mittelstreckenverhandlungen eingebettet in eine ganze Reihe von
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1092 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983
Voigt
anderen rüstungskontrollpolitischen Themen und Verhandlungen. Dies ist richtig und zu begrüßen. Man darf das Thema der Mittelstreckenwaffen nicht isoliert sehen. Man darf aber auch nicht mit dem Hinweis auf andere Rüstungskontrollverhandlungen, auf andere Probleme, von der Entscheidung, die der Deutsche Bundestag in diesem Herbst zu treffen hat, ablenken.
Man darf nicht davon ablenken, daß vor einer solchen Entscheidung des Deutschen Bundestages keine vollendeten Tatsachen geschaffen werden dürfen.Weil wir in dieser Sache Klarheit wollen, bitten wir Sie um Zustimmung zu unserem Antrag. Wir würden, wenn Sie diesem Antrag nicht zustimmen, daraus auch eine Ablehnung in der Sache ableiten müssen und daraus wiederum politische Konsequenzen in unserer Beurteilung Ihrer Politik ziehen. — Danke sehr.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Todenhöfer.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die CDU/CSUFraktion bittet den Deutschen Bundestag, ihrem Antrag zuzustimmen. Er entspricht präziser als der SPD-Antrag Buchstaben und Geist des NATO-Doppelbeschlusses sowie unserer Verfassung, die nicht nur ein souveränes Parlament, sondern auch eine handlungsfähige Regierung fordert.
Die Bundesregierung und die CDU/CSU werden keiner Debatte und keiner Abstimung im Deutschen Bundestag ausweichen.
Niemand wird die Rechte des Deutschen Bundestages in irgendeiner Weise beschneiden. Bundeskanzler Kohl hat dies in seinem Brief an den Vorsitzenden der SPD-Fraktion mit großer Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht. Dieser Brief zeigt, wie ernst es der Bundesregierung ist, noch in diesem Jahr zu einem Verhandlungsergebnis zu kommen. Wir wollen alle Verhandlungschancen in Genf voll ausschöpfen.
Niemand ist andererseits berechtigt, die Rechte der Bundesregierung zu beschränken. Die Bundesregierung hat durch den NATO-Doppelbeschluß, der einen auflösend-bedingten Beschluß der Stationierung beinhaltet, nicht nur die Fähigkeit, sondern auch das Recht und die Pflicht zum Handeln.
Die Bundesregierung wird den NATO-Doppelbeschluß konsequent und zeitgerecht verwirklichen, wie das der Deutsche Bundestag in seiner
Entschließung am 26. Mai 1981 mit überwältigender Mehrheit, auch mit den Stimmen der SPD, gefordert hat.
Wir nehmen zustimmend von der Absicht der Bundesregierung Kenntnis, daß vor jener vom Bundeskanzler angekündigten Beratung des Bundestages im November weder Pershing-II-Raketen noch Marschflugkörper noch Teile davon stationiert werden. Damit wird dem Parlament die Gelegenheit gegeben, diesen gesamten Fragenkomplex ausführlich zu erörtern.
Führende Politiker der SPD haben in den vergangenen Wochen und Monaten ständig neue Angriffe auf den NATO-Doppelbeschluß und auf die gesamte westliche Bündnispolitik unternommen, obwohl alle entscheidenden Punkte der westlichen Verhandlungsposition in Genf
bis in die einzelnen Formulierungen mit der früheren SPD-Regierung bis zum 1. Oktober 1982 abgestimmt wurden. Es ist ein bewußter und gezielter Angriff auf den NATO-Doppelbeschluß, wenn führende Sozialdemokraten eine Einbeziehung der französischen und britischen Systeme in die Genfer Mittelstreckenverhandlungen fordern.
— Dann müssen Sie Ihren Kollegen Bahr etwas genauer lesen, Herr Ehmke.
Wer die Einbeziehung der interkontinental-strategischen Raketen Frankreichs und Großbritanniens in die Genfer Verhandlungen fordert, kommt dem zentralen Ziel der Sowjetunion entgegen, langfristig alle Nuklearwaffen der USA aus Europa zu verdrängen und Europa von den Vereinigten Staaten militärisch abzukoppeln.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Voigt?
Herr Präsident, angesichts der fortgeschrittenen Zeit und angesichts der Tatsache, daß der Kollege Voigt gerade gesprochen hat, möchte ich im Interesse des Hauses darauf verzichten.Es ist ein bewußter und gezielter Angriff auf den NATO-Doppelbeschluß, wenn die SPD in ihrem Antrag vom 15. Juni dieses Jahres, unterschrieben von Hans-Jochen Vogel, die Auffassung vertritt, daß bereits eine „substantielle Reduzierung" der sowjetischen Mittelstreckenraketen „eine Reaktion der NATO überflüssig mache". Das stammt von Ihnen, Herr Ehmke. Das ist die sogenannte Null-PlusLösung, Null im Westen und Null-Plus in der Sowjetunion. Die SPD akzeptiert damit ein Monopol der Sowjetunion im Bereich der Mittelstreckenraketen größerer Reichweite. Sie ist bereit, der Sowjetunion die SS 20 als Hegemonialwaffe gegen un-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983 1093
Dr. Todenhöferser Land zuzugestehen. Das werden wir nicht akzeptieren.
Was Herr Vogel zusammen mit Herrn Ehmke hier fordert, ist der Tiefpunkt sozialdemokratischer Rüstungskontrollpolitik und Sicherheitspolitik. Es ist der Abschied von der Gleichgewichtspolitik Helmut Schmidts.
Es ist ein bewußter und gezielter Angriff auf den NATO-Doppelbeschluß, wenn führende Sozialdemokraten ein Moratorium, eine Verschiebung der Stationierung der westlichen Waffen auf einen Zeitpunkt nach 1983 fordern.
Durch eine Verschiebung der etwaigen Stationierung über Ende 1983 hinaus würde der Zwang von der Sowjetunion genommen, in Genf endlich wirklich über die Abrüstung der SS 20 zu verhandeln. Die sowjetische Überlegenheit würde dadurch festgeschrieben.Die SPD weiß genau, daß die Vorarbeiten in Genf einen Stand erreicht haben, der es möglich machen würde, einen Vertrag in wenigen Tagen unterschriftsreif zu machen. Das einzige Hindernis für einen Vertragsabschluß in Genf ist zur Zeit die mangelnde politische Bereitschaft der sowjetischen Führung, die westlichen Sicherheitsinteressen genauso ernst zu nehmen wie ihre eigenen Sicherheitsinteressen.
Es ist im Grunde ein Skandal, daß ausgerechnet Herr Bahr in steter Regelmäßigkeit den Verhandlungswillen der USA in Zweifel zieht. Egon Bahr hat als Vorsitzender des Rüstungskontrollausschusses wie kein anderer Einblick auch in vertrauliche Verhandlungsvorgänge der Genfer Verhandlungen. Keiner weiß besser als Herr Bahr, daß es die Sowjetunion ist, die einen erfolgreichen Vertragsabschluß in Genf blockiert, und nicht die Vereinigten Staaten.Diese ständigen gezielten und gewollten Angriffe führender SPD-Politiker auf den NATO-Doppelbeschluß sind nicht irgendwelche Verhandlungsvarianten, sondern sind Angriffe auf die Fundamente, auf die Grundlagen des NATO-Doppelbeschlusses und seinen Versuch, tatsächlich Abrüstung zu erreichen. Die SPD gefährdet damit in massiver Weise die Abrüstungschancen des Westens in Genf. Nicht die USA gefährden einen Erfolg in Genf, sondern die SPD gefährdet die Genfer Abrüstungsverhandlungen.
Die Verhandlungsposition in Genf wäre einfacher und die Abrüstungschancen des Westens wären größer, wenn die SPD mit demselben Nachdruck, mit dem sie gegen die westliche Nachrüstung jetztkämpft, gegen die östliche Vorrüstung kämpfen würde.
Wenn es der SPD in erster Linie um Abrüstung ginge, hätte sie heute an dieser Stelle wie die CDU/ CSU ein klares Bekenntnis zum NATO-Doppelbeschluß gegeben. Aber es geht der SPD in dieser Frage nicht in erster Linie um Abrüstung. Es geht der SPD in erster Linie darum, den Anschluß an die sogenannten Friedensbewegungen zu finden und einen gemeinsamen Nenner zur Lösung ihrer innerparteilichen Probleme und Schwierigkeiten zu finden.
Die SPD-Führung ordnet damit die Abrüstungspolitik unseres Landes der Parteitaktik unter. Hier liegt das Versagen der SPD-Führung.
Einige Sozialdemokraten gefährden mit ihren Äußerungen auch den inneren Frieden in unserem Land.
Wenn Herr Lafontaine den Generalstreik gegen die Stationierung westlicher Waffen fordert, dann ist das ein Angriff auf die Grundlagen der parlamentarischen Demokratie.
Und wenn Herr Bahr am 8. Februar 1983 in Cuxhaven laut einem in der „FAZ" wiedergegebenen Zitat der Zeitschrift „Mediatus" sagt — ich zitiere —:
Wir werden einen Widerstand auf der Straße entfachen, der die Stationierung der Nachrüstungswaffen politisch undurchführbar machen wird,
dann gefährdet er den inneren Frieden in unserem Land. Und Herr Bahr weiß das.
Der Westen braucht in der jetzigen kritischen Phase der Verhandlungen in Genf vor allem Entschlossenheit und Geschlossenheit. Wir bieten der Sowjetunion nach wie vor die weltweite Null-Lösung an. Die Sowjetunion kann morgen den Verzicht auf die westliche Nachrüstung haben, wenn sie heute weltweit ihre SS 20 verschrottet. Wir bieten der Sowjetunion darüber hinaus, falls sie sich zu einer beiderseitigen Null-Lösung zur Zeit nicht entschließen will, eine Zwischenlösung an, die sich an folgenden Kriterien orientieren muß.Erstens. Für die USA und die Sowjetunion müssen gleiche Rechte und gleiche Obergrenzen gelten.
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1094 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983
Dr. TodenhöferZweitens. Französische und britische Systeme können bei den INF-Verhandlungen nicht angerechnet werden.
Drittens. Die abzubauenden SS 20 dürfen nicht von Europa nach Fernost verlagert werden. Sie müssen verschrottet werden.
Viertens. Die Mischung von Pershing II und landgestützten Marschflugkörpern, der „freedom to mix", muß beibehalten werden. Der Westen kann auf die Pershing, so lange die Bedrohung durch die SS 20 fortdauert,
nicht verzichten.
Nur die Pershing stellt eine der SS 20 gleichwertige Waffe dar.Unsere Sicherheitspolitik mit ihren tragenden Säulen auf der einen Seite Verteidigungspolitik, auf der anderen Seite Abrüstungspolitik und Rüstungskontrollpolitik, ist Kriegsverhinderungspolitik. Wir wollen nicht nur atomare Kriege unmöglich machen. Wir wollen alle Kriege zwischen Ost und West unmöglich machen.
Konventionelle Kriege sind im 20. Jahrhundert für die Betroffenen nicht menschlicher als nukleare Kriege. Es ist menschlicher, mit unmenschlichen Waffen Kriege zu verhindern, als mit sogenannten menschlichen Waffen Kriege zu führen.
Das ist die Strategie der NATO. Die NATO hat in diesem Punkt die volle Unterstützung der CDU/ CSU.
— Nicht mehr der GRÜNEN.Lassen Sie mich einen Satz an die Adresse der GRÜNEN sagen:
Für die CDU/CSU ist der Frieden in Freiheit in der Tat das höchste Gut, aber gerade deshalb lassen wir keine Experimente mit dem Frieden zu.
— Wir spielen nicht Russisch Roulette mit dem Frieden und der Sicherheit der Menschen unseres Landes.
Wir wollen darüber hinaus mit unserer Politik des Gleichgewichts die innere Freiheit unseresLandes von jeder Art von Erpressung schützen. Wir wollen nicht nur in Frieden leben, wir wollen auch in Freiheit leben. Die CDU/CSU wird die Bundesregierung bei allen Entscheidungen, die sie im Herbst zur Wahrung des Friedens und der Freiheit unseres Landes trifft, geschlossen unterstützen. Wir wissen, daß der Frieden und die Freiheit bei dieser Regierung in guten Händen sind.
Das Wort hat der Abgeordnete Vogt .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich wende mich hier ganz im Sinne des Herrn Bundeskanzlers von diesem Mikrophon aus an die größte Friedensbewegung aller Zeiten, nämlich an das friedensbewegte Volk in seiner Gesamtheit. Abgekürzt heißt das übrigens GröFaZ. Die Älteren werden mit diesem Begriff etwas verbinden.
— Es ist eben in diesem Zusammenhang
sympathisch, wenn wir diese Bedeutungswandlung einer Abkürzung hier erleben.
Zur Sache.
Die Fraktion DIE GRÜNEN im Bundestag wird der Beschlußempfehlung der SPD zustimmen.
Wir verhehlen allerdings nicht, daß wir mit dem zweiten Absatz der SPD-Resolution einige Probleme haben.
Es geht dabei vor allem um ein Problem, das wir grundsätzlich mit der Haltung der SPD gegenüber der NATO-Nachrüstung haben und das wir immer mit Ihnen hatten.
Wir sind nämlich der Meinung, daß unter keinen Umständen stationiert werden darf. Die SPD sagt, die Stationierung neuer Mittelstreckenraketen solle durch die Verhandlungen überflüssig gemacht werden. Wir haben auf unterschiedlichen Ebenen der Argumentation immer wieder betont, daß die Stationierung dieser Waffen überflüssig ist. Der Kollege Bastian hat hier zweimal eindringlich die militärstrategischen Gründe für unsere Haltung dargelegt. Herr Schily, Petra Kelly und ich haben aufzuzeigen versucht, daß der von der NATO geplante Rüstungsschritt ethisch und politisch unter keinen Umständen zu verantworten ist.Darüber hinaus habe ich versucht, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU, Ihnen den Gedan-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983 1095
Vogt
ken Ihres Parteifreundes Franz Alt nahezubringen, der angesichts des Abgrundes, an dem die Menschheit steht, ein einseitiges Anhalten im Wettrüsten fordert. Franz Alt — das haben wir ja hier schon mehrfach besprochen — fordert eindringlich, auf die sogenannte NATO-Nachrüstung zu verzichten.Wir haben schließlich mit unserem Entschließungsantrag vom 15. Juni darauf aufmerksam gemacht — der Kollege Bastian hat das hier begründet —, daß eine Verhandlungsposition des Westens gegenüber der Sowjetunion, die die englischen und französischen Mittelstreckenraketen unberücksichtigt läßt, von vornherein unseriös ist. Eine solche Eröffnung des Raketenpokers erweckt den Eindruck, daß die Verhandlungen auf Mißerfolg programmiert sind und daß es nur noch darum geht, den Schwarzen Peter für das Scheitern der anderen Seite zuzuschieben.Wir hatten lange schon die Vermutung, daß es in der Auseinandersetzung um den NATO-Beschluß vom 12. Dezember 1979 auf der Seite der Befürworter dieses NATO-Beschlusses zwei Fraktionen gibt, eine Abrüstungsfraktion und eine Nachrüstungsfraktion. Die Nachrüstungsfraktion will, daß verhandelt und nachgerüstet wird, die Abrüstungsfraktion sieht in der Vorankündigung der Stationierung neuer Waffensysteme tatsächlich einen Hebel, mit dem man die andere Seite zur Abrüstung drängen könnte. Die Nachrüstungsfraktion steht dem Streben nach Dominanz der zur Zeit herrschenden Kreise der USA nahe. Die Abrüstungsfraktion ist zumindest gutgläubig in der Annahme, endlich ein Instrument gefunden zu haben, mit dem man die Abrüstung der anderen Seiten erzwingen kann. Die Nachrüstungsfraktion wird sich in diesem Hause vermutlich um den Antrag der CDU/CSU und FDP scharen, die Abrüstungsfraktion wird für den Antrag der SPD stimmen.
Warum behaupte ich, daß die Befürworter des Nachrüstungsteils dem Koalitionsantrag näherstehen als dem Verhandlungsteil? Schauen Sie sich den Wortlaut des Antrags der Koalitionsparteien genau an. Der Bundestag soll, nachdem er die Stellungnahme der Bundesregierung gehört hat — ich zitiere wörtlich —:zu der Frage Stellung nehmen, ob Anlaß besteht, von der im Dezember 1979 beschlossenen Stationierung ganz oder teilweise abzugehen.Die Stationierung, so wird in dem Antrag deutlich, ist für die CDU/CSU und FDP also beschlossene Sache, von der sie nur ausnahmsweise abgehen werde.Diese Haltung in Verbindung mit der unseriösen Genscherschen Null-Null-Ausgangsposition
in Genf zeigt, daß der NATO-Beschluß für die Nachrüstungsfraktion nur der Hebel für die Durchsetzung der Stationierung neuer Mittelstreckenraketen in Europa ist. Die Verhandlungen sind, so gesehen, nur ein internationaler Anwendungsfall dessen, was Niklas Luhmann „Legitimation durch Verfahren" nennt. Um das etwas näher zu begründen: das Verhältnisse, Tatbestände, die eigentlich von der Substanz her nicht mehr legitimierbar sind, durch die Verstrickung in bestimmte Verfahren pseudolegitimiert werden.
Das Tragische an der Position der Abrüstungsfraktion ist, daß sie wenig Aussichten auf Erfolg hat. Sie ist der vorläufig letzte Anwendungsfall der Formel „abrüsten durch aufrüsten", diesmal — das sei den Gutgläubigen in dieser Fraktion, der Abrüstungsfraktion zugestanden —, in der Form von Blueprint gegen Hardware. Die Formel „aufrüsten, um abzurüsten" hat aber nie zu wirklicher Abrüstung geführt. Ich kenne in der Geschichte auch keinen Fall, in dem Verhandlungen zu wirklicher Abrüstung geführt haben. Friedensforscher haben sogar festgestellt, daß bevorstehende Verhandlungsrunden ähnliche Rüstungsschübe auslösen können wie früher Kriege. Das Ziel dabei ist, über mehr Manövriermasse in den Verhandlungen zu verfügen. Möglicherweise liegt hier eine Teilerklärung für die hektische Stationierung der SS 20 durch die Sowjetunion, die j a auch einem Egon Bahr unerklärlich erscheint.Carl Friedrich von Weizsäcker, der nie an die Chance einer Abrüstung durch Abrüstungsverhandlungen geglaubt hat, meint in seinen persönlichen Notizen vom November 1979, die er dann nachträglich in der „Zeit" vom 22. Mai 1981 veröffentlicht hat — damals —, diesmal sei eine andere Lage, die in sich die Chance erfolgreicher Abrüstungsverhandlungen berge. — Ich teile diese Auffassung nicht. Und Weizsäcker ist auch die Begründung für seine neue Lagebeurteilung schuldig.Ich verstehe aber, wieso sich manche Politiker so lange an die Variante „Abrüsten durch Aufrüstungsdrohung" geklammert haben. Sie sollten jedoch zur Kenntnis nehmen, daß allein schon die Androhung der Stationierung in der Sowjetunion neue Aufrüstungsimpulse bewirkt und im Warschauer Pakt eine Debatte in Gang gesetzt hat, die im Falle der NATO-Stationierung in die Vorverlagerung schon vorhandener Raketensysteme wie etwa der SS 22 nach Westen münden wird.Die Gefahr der atomaren Vernichtung Mitteleuropas nimmt damit zu. Die Blockgrenze wird heißer — nicht so heiser, wie ich jetzt hier auf Grund einer Erkältung bin, sondern heißer.
Immer mehr Menschen in Europa, auch immer mehr Menschen in beiden Deutschlands, spüren, daß wir uns mit allen Kräften, mit vollem Einsatz dieser Entwicklung entgegenstemmen wollen. Die Friedensbewegungen in der Bundesrepublik und in der DDR, beide Friedensbewegungen, verstehen zunehmend die beiden Deutschlands als eine Gefahrengemeinschaft. Sie spüren, daß wir gemeinsam den Regierungen in den Arm fallen müssen, die, statt wirklich Abrüstung zu betreiben, immer mehr aufrüsten. Und genau das haben wir z. B. Herrn Honecker auf seinen Brief geschrieben, den er an
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1096 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983
Vogt
uns nach unserer Aktion auf dem Alexanderplatz gerichtet hatte.Meine Damen und Herren, das Konzept der gleichartigen, ausgewogenen und gleichzeitigen kontrollierten Abrüstung hat genausowenig funktioniert wie jemals zwei verklemmt-höfliche Deutsche gemeinsam durch eine Tür kommen.Genauso ist jetzt schon abzusehen, daß das Konzept der Abrüstung durch Rüstungsandrohung oder durch Nachrüstungsdrohung im Scheitern begriffen ist. Anders gesagt: Wenn Sie mehrmals im Leben versucht haben, ein Haus zu bauen und jedesmal festgestellt haben, daß daraus keine vernünftige Konstruktion geworden ist, werden Sie sich auch einen neuen architektonischen Plan ausdenken müssen.
Das wäre zumindest eine vernünftige Haltung.Wir meinen, daß, nachdem niemals in der Geschichte im Zusammenhang mit Verhandlungen tatsächlich Abrüstung zustandegekommen ist, endlich neue Wege beschritten werden müssen. Ein neuer Ansatz wäre die Politik der kalkulierten Vorleistungen. Danach macht mein Land eine Abrüstungsmaßnahme nicht von der Bedingung abhängig, daß die andere Seite ebenfalls abrüstet, sondern es kündigt die Maßnahme an und vollzieht diese, bringt aber in diesem Zusammehang die klare Erwartung zum Ausdruck, daß die andere Seite in absehbarer Zeit — der zeitliche Rahmen kann dann benannt werden — eine gleichartige Maßnahme vollzieht. Das kann zu einer Deeskalation der Rüstung oder, wenn man es etwas optimistischer beschreibt, zumindest zu einer wechselseitigen Ermutigung der Tauben in beiden Lagern führen.Meine Damen und Herren, dieser Gedanke der Politik der kalkulierten Vorleistungen, der 1979 erstmals in der Ökologiebewegung und in kirchennahen Gruppen Fuß gefaßt hat, wird inzwischen auch von nachdenklich gewordenen Militärs unterstützt. So sagte vor wenigen Tagen der Vorsitzende des NATO-Militärausschusses, Admiral Robert Falls, es sei nicht gelungen, die Rüstungsspirale unter Kontrolle zu bringen, doch halte er es nicht für ausgeschlossen — ich zitiere ihn —, wieder zu einem niedrigerem Niveau zurückzufinden. Wenn der Westen ernsthaft prüfe, was er zur Gewährleistung seiner Sicherheit benötige, könne er sehr leicht zu dem Ergebnis kommen, das einseitige Reduzierungen ohne Beeinträchtigung der Abschreckung möglich seien, meint Falls.Sie wissen, daß wir auch dem Konzept der Abschreckung mißtrauen. Ich möchte aber gleichwohl hier diesen aus seinem Amt scheidenden Admiral zitieren, der immerhin dem Gedankengang der Politik der kalkulierten Vorleistungen folgt. Er schließt nämlich: Auf diese Weise könnte der Sowjetunion gezeigt werden, daß beide Seiten in der Lage seien, die Ausweitung der nuklearen Rüstung zu stoppen.Falls bezieht seine Empfehlungen insbesondere auf die nuklearen Gefechtsfeldwaffen und befindetsich damit nach neuen Äußerungen — zumindest nach denen, die man so hört — auch in Übereinstimmung mit dem ehemaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt, der j a meint, daß eine Reduzierung der 6 000 Gefechtfeldwaffen auf 3 000 ohne weiteres verkraftbar sei.
— Ich weiß das, aber ich weiß auch, daß der Westen damals nicht die geringste Anstrengung unternommen hat, das als eine kalkulierte Vorleistung auszuweisen, weil die damalige SPD-Regierung — so war die Einschätzung — Angst hatte, u. a. auf Grund der Stimmung, die Sie zum Teil im Lande verbreitet haben, sich zu dieser Maßnahme zu bekennen.
Ein derartiges Konzept der Vorleistung auf einem Gebiet kann natürlich nur dann Wirkungen entfalten, wenn nicht gleichzeitig auf einem anderen Waffengebiet aufgerüstet oder neu stationiert wird, d. h. das, was der demnächst aus seinem Amt scheidende Admiral Falls vorschlägt, kann nur dann ein Klima des Vertrauens und der Hoffnung schaffen, wenn auf die sogenannte NATO-Nachrüstung verzichtet wird. Die Verhinderung der Raketenaufstellung ist beileibe noch keine Abrüstung. Sie ist nur ein Anwendungsfall des „bis hierher und nicht weiter". Sie ist die Notbremse, die wir ziehen müssen.In diesem Parlament können wir, indem wir auf dem selbstverständlichen Recht des Parlaments beharren, die Verhandlungsergebnisse von Genf zu bewerten, lediglich dafür sorgen, daß für die gesellschaftliche Vernunft, die auf die Abrüstung drängt, eine Gasse offen bleibt. Herr Möllemann hat uns noch rechtzeitig daran erinnert — insofern bin ich ihm dankbar —, daß die Mehrheitsverhältnisse in diesem Hause so sind, daß natürlich auch nach einer Bewertung der Genfer Verhandlungen wohl mit einer Stationierungsentscheidung zu rechnen ist. Deshalb kann der Schwerpunkt unseres Widerstandes gegen die unselige Raketenstationierung nur außerhalb des Parlamentes liegen.
Jeder in der Friedensbewegung muß prüfen, wie er in den nächsten Monaten den Schwerpunkt dieser Aktionen außerhalb des Parlamentes setzt. Mein persönlicher Beitrag besteht darin, daß ich auf den Urlaub, auf die Ferien verzichte, weil ich meine, daß wir in der Friedensbewegung alle Kraft zusammennehmen müssen, um die notwendige Koordination der Aktionen im Herbst im Sinne gewaltfreier direkter Aktionen zu leisten.
Ich tue das auch aus Respekt vor denjenigen, die uns vor einigen Tagen besucht haben. Zu ihnen gehörte die Vorsitzende der französischen Grünen Solange Fernex, die zusammen mit anderen, einer internationalen Gruppe, beschlossen hat, ab 6. Au-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983 1097
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gust, also dem Hiroshima-Tag, in ein unbegrenztes Fasten einzutreten.
Diese Gruppe, die diese Entscheidung getroffen hat und sicher der Unterstützung der gesamten großen Friedensbewegung des deutschen Volkes bedarf, hat dabei folgende Ausgangspositionen.Erstens sagt sie, daß wir das, was Gandhi uns gelehrt hat, heute gebrauchen können, um den Atomkrieg zu verhindern.
Herr Abgeordneter, ich bitte doch, zum Schluß zu kommen.
Nach meinen Informationen habe ich 15 Minuten Zeit, und die sind noch nicht abgelaufen.
Die 15 Minuten sind abgelaufen. Sie haben schon eine Minute überzogen, wenn ich Sie darauf aufmerksam machen darf.
Okay.
Herr Präsident, ich habe in der Debatte des heutigen Tages den Eindruck gewonnen, daß wir in der Bundesrepublik vielleicht die intellektuelle Fähigkeit entwickelt haben — aber es sind mir Zweifel gekommen, als ich Herrn Geißler hörte —, eine Machtergreifung eines Hitlers oder einen Zweiten Weltkrieg zu verhindern, ...
Herr Abgeordneter, ich bitte, zum Schluß zu kommen.
... daß wir aber möglicherweise noch nicht über genügend politische Reife verfügen, um einen dritten Weltkrieg zu verhindern.
Herr Abgeordneter, kommen Sie zum Schluß.
Ich meine — ich komme zum Schluß —, daß wir in den nächsten Monaten ...
Herr Abgeordneter, ich muß Ihnen sonst das Wort entziehen.
... in der Friedensbewegung alle Kraft zusammennehmen müssen, um diesem fatalen Schicksal zu entgehen. — Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Ronneburger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin in die Debatte des heutigen Abends nicht in der Erwartung gegangen, daß es eine Fortsetzung der sicherheitspolitischen Debatte der vergangenen Woche geben würde, sondern daß wir uns exakt mit den vier vorliegenden Anträgen befassen würden, über die wir anschließend abzustimmen haben.
Ich bitte jedoch um Verständnis, daß ich einige grundsätzliche Bemerkungen vorwegschicken muß, damit die Ausgangspositionen nach allem, was hier gesagt worden ist, klar sind.Ich verweise zunächst auf eine Entscheidung meiner Partei, der sich die Bundestagsfraktion der FDP angeschlossen hat, die sogenannte Wiesbadener Erklärung, und zitiere daraus einen einzigen Absatz. Es heißt dort:Wir sind der Meinung, daß der Abschluß eines Gewaltverzichtsvertrags, an dem alle Mitgliedstaaten der NATO und des Warschauer Pakts teilnehmen, der aber auch für die anderen Unterzeichnerstaaten der Schlußakte von Helsinki offen ist und der für jeden Unterzeichner gegenüber jedem anderen Unterzeichner gilt, ein wichtiger Beitrag zum Frieden sein kann, wenn er das Verhalten der Unterzeichnerstaaten in allen Teilen der Welt bestimmt.
Wir bekennen uns zu einer aktiven Friedenspolitik. Ich glaube, das ist als Grundregel für alles, was wir sicherheitspolitisch und zur Bewahrung des Friedens zu sagen und zu tun vermögen, wirklich eine gute Grundlage.Ich muß dann noch eine zweite Bemerkung zu den „kalkulierten Vorleistungen" machen, von denen eben die Rede war. Im Zusammenhang mit dem NATO-Doppelbeschluß ist seinerzeit beschlossen worden, 1 000 Gefechtsköpfe aus Mitteleuropa abzuziehen, in der Erwartung, daß die Sowjetunion entsprechend verfahren würde. Der Westen hat dies nicht nur angekündigt, er hat es getan; die Gegenreaktion auf sowjetischer Seite steht bis heute aus, meine Damen und Herren.
Ich verwahre mich nachdrücklich dagegen, daß hier im Bundestag eine Unterscheidung nach Abrüstungs- und Nachrüstungsfraktionen vorgenommen wird. Ich frage einmal wirklich in aller Entschiedenheit: Was wäre denn nach alter Übung die Alternative zum Doppelbeschluß gewesen? Diese Alternative wäre, daß wir heute überhaupt keinen Grund mehr hätten, über diese Frage zu diskutieren, weil seit 1979 automatisch nachgerüstet worden wäre.
Das war das Prinzip, das bis zum NATO-Doppelbeschluß gegolten hat, nämlich Gleichgewicht durch entsprechende Rüstung auf beiden Seiten sicherzustellen. Der Doppelbeschluß ist der erste wirklich ernsthafte Versuch, dieses Prinzip zu durchbrechen und Gleichgewicht durch Beseitigung bereits vorhandenen Rüstungspotentials herzustellen.
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1098 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983
RonneburgerDas sind die Ausgangspositionen, von denen wir die vorliegenden Anträge zu beobachten haben.Ich komme zunächst zum Antrag der SPD zum Ergebnis der NATO-Konferenz am 9. und 10. Juni. Meine Damen und Herren von der SPD-Fraktion, ich sage Ihnen: Es ist natürlich Ihr gutes Recht, Anträge zu stellen, die das Gegenteil dessen intendieren, was Sie als Fraktion mit Regierungsbeteiligung politisch vertreten haben. Aber ich glaube doch, daß man den zweiten Absatz Ihres Antrags einmal genauer ins Auge fassen muß, nämlich die Forderung nach einem Einfrieren der Atomwaffen beider Supermächte als einen wesentlichen Schritt zu erfolgreichen Abrüstungsverhandlungen.Grundlage der Regierungspolitik der sozialliberalen Koalition, meine Damen und Herren, und Grundlage auch der Politik dieser Regierung und dieser Koalition ist aber nun einmal nicht das Einfrieren auf einem einmal erreichten Niveau, sondern ist der ernsthafte Versuch, Abrüstung tatsächlich zu erreichen.
Da Sie mit Ihrem Antrag ihre Möglichkeit in Frage stellen, werden wir diesen Antrag allerdings ablehnen. Das ist der Antrag auf Drucksache 10/152; damit das exakt klar ist.
Dem, Herr Kollege Duve, steht der Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen gegenüber, der sich — das hat der Kollege Voigt vorhin erfreulicherweise exakt dargestellt und eingestanden — an einem ganz bestimmten Punkt von Ihrem Antrag unterscheidet, nämlich dadurch, daß er das Mittelstreckenproblem aus dem Zentrum aller Überlegungen herausnimmt und es in den Gesamtzusammenhang aller Abrüstungsbemühungen weltweit und mit zahlreichen Initiativen des Westens hineinstellt.
Herr Kollege Voigt, an einem Punkt widerspreche ich Ihnen. Sie haben uns vorgeworfen, wir machten mit dieser Einbeziehung den Versuch, von dem Gewicht der Mittelstreckenentscheidung abzulenken. Dies ist überhaupt nicht der Fall, wie Sie unschwer erkennen könnten, wenn Sie diesen Antrag noch einmal durchläsen.Ich bitte Sie deswegen sehr herzlich, bei diesen beiden Entschließungsanträgen zum Ergebnis der NATO-Konferenz Ihre Zustimmung aus einer ganzen Reihe von Gründen dem Antrag der Koalitionsfraktionen zu geben, die auf diesen Gesamtzusammenhang hinweisen und die die Notwendigkeit weltweiter Entspannung und Friedenssicherung in einer ganz anderen Weise darstellen, als es in Ihrem Antrag getan wird.Die anderen beiden Anträge, über die wir heute abend eine Entscheidung zu treffen haben, sind der Antrag der SPD — Drucksache 10/191 — und der Antrag der Koalition — Drucksache 10/200 —.Beide Anträge stimmen in ihren ersten Absätzen geradezu nahtlos überein.
Herr Abgeordneter, verzeihen Sie, daß ich Sie für einen Augenblick unterbreche. — Meine Damen und Herren, ich bitte, doch Platz zu nehmen.
Ich sage Ihnen hier das eine: Es ist das selbstverständliche Recht, ja es ist die Pflicht des Bundestages, über anstehende Entscheidungen nicht hinwegzugehen, sondern darüber zu diskutieren und mit der Mehrheit dieses Hohen Hauses Entscheidungen zu treffen. Wer hat denn je den Versuch unternommen, den Bundestag an dieser Möglichkeit zu hindern? Das ist eine Unterstellung, die zurückgewiesen werden muß.
Meine Damen und Herren, wenn wir auf die Vergangenheit zurückblicken, erkennen wir: Es ist heute nicht das erste Mal, daß wir uns über die Frage des Doppelbeschlusses und der möglichen Stationierung hier im Hohen Hause unterhalten. Ich darf vielleicht auch Sie, Herr Kollege Ehmke, an die Entschließung vom Mai 1981 erinnern,
der ja auch eine ausführliche Diskussion dieses Problems vorangegangen ist.Ich halte es deswegen nur für selbstverständlich, daß der Deutsche Bundestag dieser Pflicht nachkommt. Ich mache dazu darauf aufmerksam, daß im Antrag der Koalitionsfraktionen allerdings von dem bis dahin erreichten Verhandlungsergebnis die Rede ist, was j a wohl heißt, daß auch dann, wenn Ende November das von uns allen angestrebte Ziel der Null-Lösung nicht erreicht sein sollte, die Verhandlungen damit nicht am Ende sein sollen.
Dies wird hiermit exakt ausgedrückt. Wir sollten von dieser Formulierung wirklich nicht abgehen, sondern sollten hier zum Ausdruck bringen, daß wir nicht glauben, daß es irgendeinen Punkt gibt, an dem Abrüstungsverhandlungen und Abrüstungsbemühungen endgültig gescheitert wären. Eine solche Situation vermag ich mir allerdings nicht vorzustellen, weil sie so fatal, so fürchterlich wäre, daß wir alles Erdenkliche dagegen tun müssen.Deswegen heißt es hier, daß der Bundestag dazu Stellung nehmen soll, „ob Anlaß besteht, von der im Dezember 1979 beschlossenen Stationierung ganz oder teilweise abzugehen". Hier sage ich noch einmal: Unser vordringliches Ziel ist das völlige Abgehen. Dies ist kein Nachrüstungs-, kein Aufrüstungsbeschluß, sondern der Versuch, diese Stationierung wirklich überflüssig zu machen oder, falls es doch dazu kommt, eine Zwischenlösung zu erreichen. Der Bundestag wird dann alle Veranlassung haben, das in Aussicht Genommene tatsächlich zu beschließen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983 1099
RonneburgerIm Blick auf den zweiten Absatz, bei dem Herr Voigt zu Recht auf die Unterschiede in der Formulierung hingewiesen hat, kann ich Ihnen nun allerdings doch nur mit einer gewissen Ironie, Herr Voigt, mit einer Frage antworten: Warum haben Sie zur Begründung Ihrer Formulierung nicht den ehemaligen Bundeskanzler oder den ehemaligen Verteidigungsminister hier aufs Podium geschickt?
Ich bin für ehrliche und klare Entscheidungen.
Diese Entscheidungen lauten nach der Absicht der Koalitionsfraktionen, daß keine Stationierung stattfindet, bevor der Bundestag beraten und beschlossen hat. Aber: Wenn wir bei der Deutschlandpolitik, Herr Kollege, heute vormittag schon von Kontinuität geredet haben, warum gibt es in diesem Punkt offenbar keine Kontinuität auf Ihrer Seite?
Wir wollen — ich sage es noch einmal — Abrüstung, wir wollen nicht Aufrüstung. Wir wollen Verhandlungen bis zur letzten Möglichkeit, um dies zu erreichen. Wir werden den Bundestag weder von seiten der Regierung noch von seiten des NATOBündnisses vor eine irreversible Entscheidung stellen. Aber wir werden auf der anderen Seite auch darauf bestehen, daß Abrüstung allerdings kein einseitiges Vorgehen sein kann. Wir müssen unsere Stellung klar, deutlich und berechenbar durchhalten, wenn die Verhandlungen in Genf Erfolg haben sollen. — Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Ich erteile dem Abgeordneten Schily das Wort zur Abgabe einer Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung.
Ich werde der Drucksache 10/191 — Antrag der Fraktion der SPD — zustimmen. Ich möchte dazu kurz folgendes erklären: Ich betone nachdrücklich, daß die friedensgefährdende und völkerrechtswidrige Stationierung von Pershing-II-Raketen und Marschflugkörpern oder Teilen dieser Waffensysteme auch nach einer Entscheidung des Deutschen Bundestages auf keinen Fall stattfinden darf. — Danke schön.
Meine Damen und Herren, wir kommen zur Abstimmung.
Wir stimmen zuerst über den Zusatzpunkt 3 a ab. Der Auswärtige Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 10/190, den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/152 abzulehnen. Es ist deshalb über den Entschließungsantrag selbst abzustimmen. Wer dem Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/152 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. —
Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Der Antrag ist abgelehnt.
Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über den Zusatzpunkt 3 b. Wer dem Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/191 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Der Antrag ist abgelehnt.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Zusatzpunkt 3 c. Wer dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 10/200 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Der Antrag ist angenommen.
Es ist noch über den Zusatzpunkt 4 abzustimmen. Wer der Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 10/196 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung des Ausschusses ist angenommen.
Ich erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Köhler das Wort zu einer Erklärung nach § 32 der Geschäftsordnung. Die Erklärung liegt mir hier schriftlich vor.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit Bezug auf die vorhin geführte UNCTAD-Debatte und unter Berufung auf § 32 unserer Geschäftsordnung darf ich folgende tatsächliche Erklärung abgeben:Botschafter Osman hat gestern mit deutschen Vertretern von Nicht-Regierungsorganisationen ein Gespräch geführt und dabei auf der Basis seiner Ausführungen im Plenum von UNCTAD VI die Position der Gruppe 77 erläutert.Botschafter Osman erklärte soeben dem deutschen Delegationsleiter, daß er Frau Gottwald in keiner Weise ermächtigt habe, in seinem Namen Erklärungen vor dem Deutschen Bundestag abzugeben.
Er bedauert vielmehr, daß im deutschen Parlament durch eine ihm bislang nicht bekannte Fraktion
ein falscher Eindruck von der Position der Gruppe 77 vermittelt worden ist.
Botschafter Osman hat ebenfalls vor wenigen Minuten gegenüber dem deutschen Delegationsleiter auf der UNCTAD VI-Konferenz ausdrücklich die konstruktive Haltung der deutschen Delegation bei den gegenwärtigen Verhandlungen in Belgrad hervorgehoben.Ich danke Ihnen, Herr Präsident.
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1100 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1983
Meine Damen und Herren, ich rufe den Herrn Abgeordneten Duve wegen Verwendung des Ausdrucks „Denunziant" zur Ordnung.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung angelangt.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 24. Juni 1983, 8 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.