Präsident Dr. Norbert Lammert
(A) (C)
(B) (D)
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24187
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Albsteiger, Katrin CDU/CSU 01 .06 .2017
Amtsberg, Luise BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
01 .06 .2017
Bluhm, Heidrun DIE LINKE 01 .06 .2017
Färber, Hermann CDU/CSU 01 .06 .2017
Gabriel, Sigmar SPD 01 .06 .2017
Groth, Annette DIE LINKE 01 .06 .2017
Hornhues, Bettina CDU/CSU 01 .06 .2017
Jung, Andreas CDU/CSU 01 .06 .2017
Kolbe, Daniela SPD 01 .06 .2017
Notz, Dr . Konstantin
von
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
01 .06 .2017
Paus, Lisa BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
01 .06 .2017
Vries, Kees de CDU/CSU 01 .06 .2017
Wawzyniak, Halina DIE LINKE 01 .06 .2017
Weinberg, Harald DIE LINKE 01 .06 .2017
Wicklein, Andrea SPD 01 .06 .2017
Wiese, Dirk SPD 01 .06 .2017
Wunderlich, Jörn DIE LINKE 01 .06 .2017
Anlage 2
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Dr. h. c. Edelgard Bulmahn,
Dr. h. c. Gernot Erler, Ulrich Hampel, Ralf
Kapschack, Dr. Matthias Miersch, Bettina Müller,
Bernd Rützel, Dr. Hans-Joachim Schabedoth und
Kerstin Tack (alle SPD) zu den namentlichen Ab-
stimmungen über
a) den von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Grundgesetzes (Artikel 90, 91c, 104b, 104c,
107, 108, 109a, 114, 125c, 143d, 143e, 143f,
143g)
b) den von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des
bundesstaatlichen Finanzausgleichssystems
ab dem Jahr 2020 und zur Änderung haus-
haltsrechtlicher Vorschriften
die Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu
c) dem Antrag der Abgeordneten Sabine Leidig,
Roland Claus, Caren Lay, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion DIE LINKE: Auto-
bahnprivatisierungen im Grundgesetz aus-
schließen
und die Abstimmungen über die Beschlussempfeh-
lungen zu
d) dem Antrag der Abgeordneten Dr. Rosemarie
Hein, Sigrid Hupach, Eva Bulling-Schröter,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Bildungsherausforderungen gemeinsam ver-
antworten – Kooperationsverbot in der Bil-
dung endlich aufheben
dem Antrag der Abgeordneten Nicole Gohlke,
Roland Claus, Sigrid Hupach, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion DIE LINKE
Finanzierung der Wissenschaft auf eine ar-
beitsfähige Basis stellen – Bildung und For-
schung in förderbedürftigen Regionen solide
ausstatten
dem Antrag der Abgeordneten Kai Gehring,
Ekin Deligöz, Christian Kühn (Tübingen),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
In die Zukunft investieren – Ein Wissen-
schaftswunder initiieren
(Tagesordnungspunkt 9)
Der Deutsche Bundestag stimmt heute über die Neu-
regelung des bundesstaatlichen Finanzausgleichssystems
ab . Im parlamentarischen Verfahren ist es der SPD-Bun-
destagsfraktion gelungen, wichtige Änderungen am ur-
sprünglich eingebrachten Gesetzentwurf durchzusetzen:
Erstens . Zunächst ist zu beachten, dass der Bundes-
tag über ein Regelungspaket zu entscheiden hat, das im
Vorfeld bereits zwischen allen Ministerpräsidenten und
der Bundesregierung abgestimmt worden ist . Da die
Länder in den Finanzbeziehungen Erleichterungen durch
den Bund erfahren haben, haben sie im Gegenzug zuge-
standen, ein Stück ihrer Kompetenz im Bildungsbereich
wieder an den Bund zu geben und in diesem Zusam-
menhang auch Bau, Planung und Verwaltung von Bun-
desstraßen bzw . Autobahnen dem Bund zu übertragen .
Diese Verhandlung auf einer von der Verfassung nicht
vorgesehenen Ebene zwischen Länderregierungen und
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724188
(A) (C)
(B) (D)
Bundesregierung halten wir für äußerst kritikwürdig .
Die Beratungen des Bundestages wurden deutlich da-
durch erschwert, dass die Ministerpräsidenten gemein-
sam mit der Bundesregierung ein Gesamtpaket völlig
unterschiedlicher Regelungsbereiche verabschiedeten,
die im Parlament faktisch nicht mehr entkoppelt werden
können . Umso beachtlicher sind die Veränderungen, die
nun zur Abstimmung stehen. Unabhängig davon hoffen
wir aber, dass alle Parteien aus dieser Situation zukünftig
lernen .
Zweitens . Aus SPD-Sicht war in dem Regelungspaket
von Anfang an die Ausweitung des Unterhaltsvorschus-
ses zu begrüßen . Für fast 1 Million alleinerziehende El-
tern und ihre Kinder stellt es einen wichtigen Fortschritt
dar, dass berufstätige Alleinerziehende, bei denen der un-
terhaltspflichtige Elternteil seinen Verpflichtungen nicht
nachkommt, eine Erweiterung des Anspruches auf staat-
liche Unterstützung erfahren . Die Altersgrenze wird von
jetzt 12 Jahre auf 18 Jahre angehoben und die zeitliche
Befristung von maximal sechs Jahren abgeschafft. Dieses
wird dazu führen, dass die Doppelbelastung von Job und
Kinderbetreuung besser bewältigt werden kann .
Drittens . Ein großer Erfolg ist auch das Aufbrechen
des Kooperationsverbotes im Bildungsbereich . Der
Bund wird in die Lage versetzt, 3,5 Milliarden Euro für
Bildungsinvestitionen in finanzschwachen Kommunen
bereitzustellen. Eine vollständige Abschaffung des Ko-
operationsverbots im Bildungsbereich bleibt ein wich-
tiges Ziel sozialdemokratischer Politik . Bildung ist eine
gesamtstaatliche Aufgabe . Dies ist aber zwischen den
Koalitionspartnern umstritten .
Viertens . In der Fassung des Regelungspaketes, die in
erster Lesung im Parlament beraten wurde, haben sich
die Länder in Artikel 90 des Grundgesetzes verpflich-
tet, unter anderem die Verwaltung der Bundesautobah-
nen an den Bund zu geben . Ferner war vorgesehen, dass
der Bund sich dafür einer Gesellschaft privaten Rechts
bedienen könne . Bereits in dieser Fassung war geregelt,
dass das Eigentum des Bundes an den Autobahnen und
Bundesstraßen unveräußerlich ist . Allerdings befürchte-
ten viele Bürgerinnen und Bürger in diesem Zusammen-
hang, dass private Investoren über eine Beteiligung an
der Gesellschaft zumindest mittelbar eine Privatisierung
durch die Hintertür erreichen könnten . Die Verlautba-
rungen aus Bundesfinanzministerium und Bundesver-
kehrsministerium verstärkten diesen Verdacht . Auch
zivilgesellschaftliche Organisationen und der Bundes-
rechnungshof kritisierten das Vorhaben scharf . Die Ge-
werkschaft Verdi problematisierte insbesondere Fragen
beim Personalübergang .
Nach wochenlangen Verhandlungen liegt nun eine
Ergänzung des Verfassungstextes vor, der eine unmit-
telbare oder mittelbare Beteiligung Privater an der Ge-
sellschaft und deren Tochtergesellschaften ausdrücklich
ausschließt . Dem Engagement der SPD-Bundestagsfrak-
tion ist es zu verdanken, dass somit alle Hintertüren für
eine mögliche Privatisierung in der Verfassung selbst ge-
schlossen worden sind . Zudem ist es gelungen, dass alle
wechselbereiten Beschäftigten der Straßenbauverwaltun-
gen der Länder vom Bund übernommen und grundsätz-
lich dort eingesetzt werden, wo sie bisher arbeiten . Die
Verkehrsinfrastrukturgesellschaft ist verpflichtet, Tarif-
verträge für alle Beschäftigen abzuschließen . Wir emp-
finden es als Bestätigung dieser Position, dass auch die
Gewerkschaft Verdi sowie der Bundesrechnungshof die
Erfolge des parlamentarischen Verfahrens ausdrücklich
anerkennen .
Darüber hinaus werden in der Debatte sogenannte öf-
fentlich-private Partnerschaften (ÖPP) problematisiert .
Die Partnerschaften gibt es bereits – sie werden nicht
erst durch das hier vorliegende Regelungspaket ermög-
licht . Doch selbst in diesem Bereich konnte nun durch
das parlamentarische Verfahren eine Verbesserung er-
reicht werden: Erstmalig werden in der Verfassung öf-
fentlich-private Partnerschaften für ganze Streckennetze
oder wesentliche Teile explizit ausgeschlossen . Damit
wird im Grundgesetz selbst ein klares Zeichen gegen die
Ausweitung von ÖPP gesetzt .
Die SPD-Bundestagsfraktion hätte sich eine noch wei-
tergehende Regelung gewünscht . Dies war jedoch mit
der CDU/CSU-Fraktion nicht möglich .
Deshalb stimmen wir dem Gesetzespaket zu .
Demokratie und das Ringen im parlamentarischen
Verfahren bringen selten Ergebnisse, die zu 100 Prozent
den Forderungen einer einzelnen Fraktion entsprechen .
Wer künftig ÖPP vollständig verhindern will, muss dafür
eintreten, dass der Staat mehr Mittel in die Infrastruk-
tur investiert, wie es die SPD fordert . Ein völliger Aus-
schluss von ÖPP im Grundgesetz, der einer Zweidrittel-
mehrheit in Bundestag und Bundesrat bedarf, war in der
bestehenden Koalition nicht realisierbar . Deshalb wer-
ben wir für die Anerkennung der Verhandlungserfolge
im parlamentarischen Verfahren und die Erhöhung des
Drucks auf all die politischen Kräfte, die eine schwarze
Null im Bundeshaushalt über politische Gestaltungsmög-
lichkeiten stellen .
Anlage 3
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Martin Burkert, Petra Crone,
Elvira Drobinski-Weiß, Dagmar Freitag, Birgit
Kömpel, Anette Kramme, Petra Rode-Bosse und
Dagmar Ziegler (alle SPD) zu den namentlichen
Abstimmungen über
a) den von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Grundgesetzes (Artikel 90, 91c, 104b, 104c,
107, 108, 109a, 114, 125c, 143d, 143e, 143f,
143g)
b) den von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des
bundesstaatlichen Finanzausgleichssystems
ab dem Jahr 2020 und zur Änderung haus-
haltsrechtlicher Vorschriften
die Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu
c) dem Antrag der Abgeordneten Sabine Leidig,
Roland Claus, Caren Lay, weiterer Abgeord-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24189
(A) (C)
(B) (D)
neter und der Fraktion DIE LINKE: Auto-
bahnprivatisierungen im Grundgesetz aus-
schließen
und die Abstimmungen über die Beschlussempfeh-
lungen zu
d) dem Antrag der Abgeordneten Dr. Rosemarie
Hein, Sigrid Hupach, Eva Bulling-Schröter,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Bildungsherausforderungen gemeinsam ver-
antworten – Kooperationsverbot in der Bil-
dung endlich aufheben
dem Antrag der Abgeordneten Nicole Gohlke,
Roland Claus, Sigrid Hupach, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion DIE LINKE
Finanzierung der Wissenschaft auf eine ar-
beitsfähige Basis stellen – Bildung und For-
schung in förderbedürftigen Regionen solide
ausstatten
dem Antrag der Abgeordneten Kai Gehring,
Ekin Deligöz, Christian Kühn (Tübingen),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
In die Zukunft investieren – Ein Wissen-
schaftswunder initiieren
(Tagesordnungspunkt 9)
Dieser Bundestag hat für die Finanzierung der Ver-
kehrsinfrastruktur in den letzten Jahren deutlich mehr
Mittel zur Verfügung gestellt, auch um den Investitions-
stau bei unseren Straßen zu beenden .
Organisatorische Mängel verhindern häufig, dass das
zur Verfügung stehende Geld für den Bau von Bundes-
fernstraßen zielgenau und an verkehrlichen Maßstäben
orientiert abfließen kann. Auch bei Planung und Betrieb
gibt es vielerorts unbestreitbaren Optimierungsbedarf .
Das ist auf nahezu allen politischen Ebenen erkannt und
benannt worden . Eine Reform dieser Strukturen ist des-
halb dringend geboten .
Neben einer Reform der Auftragsverwaltung war hier-
zu schon länger die Gründung einer Bundesfernstraßen-
gesellschaft im Gespräch, die Planung, Bau und Betrieb
in die Hände des Bundes legt . Da der Bund am besten in
der Lage ist, seine eigenen Prioritäten umzusetzen und
ich das angesichts des Nachholbedarfs in der Verkehrs-
infrastruktur für notwendig erachte, habe ich diese Idee
immer befürwortet . Ein entsprechendes Konzept, wie es
die Arbeitsgruppen Verkehr, Wirtschaft und Haushalt der
SPD-Bundestagsfraktion vorgelegt haben, fand und fin-
det meine volle Unterstützung .
Der von der Bundesregierung ursprünglich vorgelegte
Entwurf hat den verkehrspolitischen Anforderungen je-
doch zum einen nicht ausreichend Rechnung getragen,
zum anderen gravierende Mängel hinsichtlich Privatisie-
rung, Struktur, Beteiligung der Politik und Mitarbeiter-
rechten aufgewiesen . Er war daher nicht zustimmungs-
fähig . Deshalb haben wir in langen Verhandlungen aus
meiner Sicht wesentliche Änderungen durchgesetzt .
Der häufigste Vorwurf gegen den vorliegenden Vor-
schlag zur Bundesfernstraßengesellschaft ist der, er
ermögliche Privatisierungen durch die Hintertür . Fest-
gemacht wird dies an der Rechtsform der Gesellschaft
mit beschränkter Haftung . Es gibt aber genug Praxisbei-
spiele – zum Beispiel die Verkehrsinfrastrukturfinanzie-
rungsgesellschaft (VIFG) oder die Gesellschaft für Inter-
nationale Zusammenarbeit (GIZ) –, die beweisen, dass
eine GmbH in öffentlichem Besitz nicht gewinnorientiert
sein muss . Hierfür galt es die notwendigen Schranken
dauerhaft zu setzen . Die von der SPD verhandelten Be-
grenzungen für die Privatisierung sind daher für mich
eine notwendige Voraussetzung für meine Zustimmung .
Der Einfluss von öffentlich-privaten Partnerschaf-
ten (ÖPP) wird mit der vorliegenden Reform weiter
beschränkt . ÖPP für Streckennetze, die das gesamte
Bundesautobahnnetz oder das gesamte Netz sonstiger
Bundesfernstraßen in einem Land oder wesentlicher
Teile davon umfassen, sind ausgeschlossen . Es werden
Möglichkeiten zur Einbeziehung privater Betreiber und
institutioneller Investoren ausgeschlossen, die bislang
noch bestehen . Hier ist der Gesetzentwurf ein echter
Fortschritt . Dem Deutschen Bundestag – namentlich dem
Haushalts- und dem Verkehrsausschuss – werden durch
die Reform neue Kontrollmöglichkeiten eingeräumt, die
dieser auch im Sinne des Interesses der Bürgerinnen und
Bürger nutzen wird .
Bereits vor dieser Reform hat die Koalition im aktu-
ellen Bundesverkehrswegeplan den Anreiz für ÖPP ge-
mindert, da Gelder nicht mehr nach Ländern, sondern
nach Prioritäten vergeben werden . Auch durch die neu
eingeführten, realistischeren Wirtschaftlichkeitsberech-
nungen werden ÖPP reduziert, ebenso wie das in der
neuen Gesellschaft eingeführte Planungsprinzip nach der
Lebenszeit .
Wichtig für mich ist auch, dass mit der vorliegen-
den Reform das wirtschaftliche Eigentum der Bundes-
fernstraßen unveräußerlich beim Bund bleibt . Die neue
Gesellschaft ist lediglich für die Verwaltung zuständig .
Auch die Übertragung von Nießbrauchrechten – also die
gewinnbringende Nutzung durch die Gesellschaft – ist
ausgeschlossen . Die Gesellschaft wird nicht als Maut-
gläubigerin auftreten . Eine funktionale Privatisierung
durch die Übertragung eigener Aufgaben der Gesell-
schaft auf Dritte ist ebenfalls nicht möglich .
In enger Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften
haben wir zudem die Rechte der Beschäftigten beim
geplanten Personalübergang von den Straßenbauver-
waltungen der Länder auf den Bund festgeschrieben . So
gibt es zum Beispiel ein Widerspruchsrecht gegen den
Übergang, und die besondere Situation des beamteten
Personals wird berücksichtigt . Auch das ist für mich eine
notwendige Voraussetzung für meine Zustimmung .
Bedenken habe ich allerdings, ob ein Wechsel des
Systems ohne größere Friktionen möglich ist und ob in
absehbarer Zeit die gewünschte größere Effizienz und
Effektivität tatsächlich erreicht werden kann. Vielmehr
sind durch die Umstellung deutliche Verzögerungen und
Effizienzverluste möglich. Wichtig ist nun, dass der Ge-
sellschaftsvertrag im Sinne einer effizienten Arbeitswei-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724190
(A) (C)
(B) (D)
se der neuen Gesellschaft entsprechend gestaltet wird .
Durch unsere Änderungen am Gesetz wird hierfür das
Parlament zuständig sein .
Obwohl ich weiterhin nicht sicher bin, dass die er-
hofften Verbesserungen mit der vorliegenden Reform der
Straßenbauverwaltung tatsächlich erreicht werden kön-
nen, habe ich bei meiner Entscheidung auch die anderen
Aspekte dieses Gesetzes zu berücksichtigen . Die um-
fassende Reform der Bund-Länder-Beziehungen ist ein
wichtiger Schritt zu einer nachhaltigen Finanzierung der
Länder . Zusätzlich sind die Einschränkung des Koopera-
tionsverbots, das Investitionsprogramm für Kommunen
und der Unterhaltsvorschuss für Alleinerziehende wich-
tige Zukunftsprojekte, die das Leben vieler Menschen
spürbar verbessern werden . In Abwägung dieser Dinge
und angesichts der Tatsache, dass die wesentlichen Män-
gel der Infrastrukturgesellschaft Verkehr einfachgesetz-
lich behoben werden können, stimme ich dem Gesetz-
entwurf zu .
Anlage 4
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Dr. Hendrik Hoppenstedt und
Dr. Sabine Sütterlin-Waack (beide CDU/CSU) zu
den namentlichen Abstimmungen über
a) den von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Grundgesetzes (Artikel 90, 91c, 104b, 104c,
107, 108, 109a, 114, 125c, 143d, 143e, 143f,
143g)
b) den von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des
bundesstaatlichen Finanzausgleichssystems
ab dem Jahr 2020 und zur Änderung haus-
haltsrechtlicher Vorschriften
die Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu
c) dem Antrag der Abgeordneten Sabine Leidig,
Roland Claus, Caren Lay, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion DIE LINKE: Auto-
bahnprivatisierungen im Grundgesetz aus-
schließen
und die Abstimmungen über die Beschlussempfeh-
lungen zu
d) dem Antrag der Abgeordneten Dr. Rosemarie
Hein, Sigrid Hupach, Eva Bulling-Schröter,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Bildungsherausforderungen gemeinsam ver-
antworten – Kooperationsverbot in der Bil-
dung endlich aufheben
dem Antrag der Abgeordneten Nicole Gohlke,
Roland Claus, Sigrid Hupach, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion DIE LINKE
Finanzierung der Wissenschaft auf eine ar-
beitsfähige Basis stellen – Bildung und For-
schung in förderbedürftigen Regionen solide
ausstatten
dem Antrag der Abgeordneten Kai Gehring,
Ekin Deligöz, Christian Kühn (Tübingen),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
In die Zukunft investieren – Ein Wissen-
schaftswunder initiieren
(Tagesordnungspunkt 9)
In unserer bundesstaatlichen Kompetenzverteilung
gab es seit 1949 stete Veränderungen . Die Verfassungs-
geber haben 1949 noch eine relativ klare Trennung zwi-
schen den Verantwortlichkeiten von Bund und Ländern
gezogen . Grundsätzlich sind die Ausübung der staatli-
chen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Auf-
gaben Ländersache, vergleiche Artikel 30, 70 Absatz 1,
83 GG .
In den folgenden Jahrzehnten gab es – bedingt durch
Urteile des Bundesverfassungsgerichtes und ab 1969
durch verschiedene Änderungen des Grundgesetzes –
eine Verschiebung hin zu einem kooperativen Föderalis-
mus, der das Kompetenzgefüge zugunsten des Bundes
und zulasten der Länder verschob . Im Gegenzug er-
hielten die Bundesländer bei der Gesetzgebung größere
Mitwirkungsrechte in Bundesangelegenheiten über den
Bundesrat . Im Ergebnis führte dies zu Intransparenz und
Unklarheiten bei der Verantwortlichkeit, die es Bürgerin-
nen und Bürgern erschwert, sich ein Urteil über die poli-
tischen Akteure der jeweiligen Entscheidungsebenen zu
bilden und anschließend auf dieser Grundlage ihre demo-
kratischen Teilhaberechte in Wahlen und Abstimmungen
auszuüben .
Unser demokratisches Gemeinwesen war stets dann
besonders stark, wenn Bürgerinnen und Bürger in einem
überschaubaren Rahmen Entscheidungen treffen können.
Ein lebendiger Föderalismus garantiert dies . Umso wich-
tiger war 2006 daher die Föderalismusreform I, die Fehl-
entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte versucht hat
zu korrigieren, um wieder eine deutlichere Trennung der
Verantwortlichkeiten zu schaffen.
Mit den heute zur namentlichen Abstimmung gestell-
ten insgesamt 13 Änderungen des Grundgesetzes werden
die mit der Föderalismusreform I verbundenen Reform-
bemühungen teilweise konterkariert . Mit der Neufassung
des Länderfinanzausgleiches werden die Bundesländer
noch stärker zu Kostgängern des Bundes . Gleichzeitig
steigt die finanzielle Belastung des Bundes signifikant.
Mit der Überführung von Bundesautobahnen in die
bundesunmittelbare Verwaltung wird den Ländern eine
erhebliche Kompetenz im Verwaltungsvollzug genom-
men . Schließlich verlieren die Länder über die Änderun-
gen im Rahmen des Artikel 104c GG ihre ausschließli-
che Zuständigkeit für das Schulwesen, indem der Bund
Finanzhilfen für besonders sanierungsbedürftige Schulen
leistet .
All diese Veränderungen halte ich in der Summe für
ablehnungswürdig . Ich muss allerdings zur Kenntnis
nehmen, dass alle 16 Bundesländer diese grundgesetz-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24191
(A) (C)
(B) (D)
lichen Veränderungen nicht nur akzeptiert, sondern zum
Teil erbeten haben . Es ist zu konstatieren, dass nicht alle
Länder mehr willens und in der Lage sind, ihrer Verant-
wortung vollumfänglich nachzukommen . Das manifes-
tiert sich darin, dass kaum noch leistungsfähige Lan-
desverwaltungen für die Planung und den Unterhalt für
Bundesautobahnen bestehen . Auch dass der kommunale
Finanzausgleich nicht so gestaltet wird, dass besonders
finanzschwache Kommunen in die Lage versetzt werden,
ihre Schulgebäude zu unterhalten, unterstreicht dies .
Als Abgeordnete des Deutschen Bundestages ste-
he ich daher vor der Frage, entweder aus verfassungs-
politischen Gründen die Änderung abzulehnen und die
entstandenen Missstände, die zu einem immer größeren
Gefälle zwischen unseren Bundesländern führten, zu
akzeptieren . Die Alternative ist, den grundgesetzlichen
Änderungen zuzustimmen und damit hinzunehmen, dass
unsere bundesstaatliche Ordnung sich wieder in eine
Richtung entwickelt, die ich für schädlich halte . Als be-
sonders schwerwiegend empfinde ich den Eingriff des
Artikel 104c GG, mit dem der Bund in die Finanzierung
von Schulen hineinwirkt .
Um die erheblichen Folgen des Reformstaus bei den
Bundesländern abzuwenden, entscheide ich mich schwe-
ren Herzens dafür, zuzustimmen . Ich verbinde damit die
Hoffnung, dass wir im Dialog zwischen Bund und Län-
dern zukünftig wieder einen Konsens finden, um eine
weitere Aushöhlung unseres föderalen Systems zu ver-
hindern .
Anlage 5
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Florian Post und Claudia
Tausend (beide SPD) zu den namentlichen Abstim-
mungen über
a) den von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Grundgesetzes (Artikel 90, 91c, 104b, 104c,
107, 108, 109a, 114, 125c, 143d, 143e, 143f,
143g )
b) den von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des
bundesstaatlichen Finanzausgleichssystems
ab dem Jahr 2020 und zur Änderung haus-
haltsrechtlicher Vorschriften
die Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu
c) dem Antrag der Abgeordneten Sabine Leidig,
Roland Claus, Caren Lay, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion DIE LINKE: Auto-
bahnprivatisierungen im Grundgesetz aus-
schließen
und die Abstimmungen über die Beschlussempfeh-
lungen zu
d) dem Antrag der Abgeordneten Dr. Rosemarie
Hein, Sigrid Hupach, Eva Bulling-Schröter,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Bildungsherausforderungen gemeinsam ver-
antworten – Kooperationsverbot in der Bil-
dung endlich aufheben
dem Antrag der Abgeordneten Nicole Gohlke,
Roland Claus, Sigrid Hupach, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion DIE LINKE
Finanzierung der Wissenschaft auf eine ar-
beitsfähige Basis stellen – Bildung und For-
schung in förderbedürftigen Regionen solide
ausstatten
dem Antrag der Abgeordneten Kai Gehring,
Ekin Deligöz, Christian Kühn (Tübingen),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
In die Zukunft investieren – Ein Wissen-
schaftswunder initiieren
(Tagesordnungspunkt 9)
Nach den Erfahrungen mit der Privatisierung unter
anderem der Post, der Telekom und der Bahn lehnen wir
eine private Rechtsform der Verwaltung der Bundesauto-
bahnen ab und stimmen daher gegen die entsprechenden
geplanten Änderungen des Grundgesetzes .
Auch wenn es gelungen ist, eine unmittelbare oder
mittelbare Beteiligung Dritter an der geplanten Infra-
strukturgesellschaft und möglicher Tochtergesellschaften
im Grundgesetz auszuschließen, kann zu einem späteren
Zeitpunkt eine Umwandlung der geplanten GmbH in
eine Aktiengesellschaft durch einfachgesetzliche Rege-
lung erfolgen .
ÖPP-Modelle haben nach Berichten des Bundes-
rechnungshofes in der Vergangenheit immer zu einem
erheblichen Mehraufwand für den Bund und damit den
Steuerzahler geführt . Auch mit der neuen Formulierung
in Artikel 90 Absatz 2 des Grundgesetzes, die den aus-
legungsfähigen Begriff „wesentliche Teile“ verwendet,
werden ÖPP möglich bleiben . Wir kritisieren, dass die
nähere Begrenzung wiederum nur einfachgesetzlich ge-
regelt wird . Wir sehen die Gefahr, dass ÖPP künftig bei
Autobahnprojekten Standard werden .
Ebenfalls nur einfachgesetzlich wird die Kreditfähig-
keit der neuen Infrastrukturgesellschaft und möglicher
Tochtergesellschaften geregelt; sie kann von anderen
Mehrheiten jederzeit geändert werden . Somit bleibt aus
unserer Sicht eine grundgesetzlich verankerte Privatisie-
rung der Rechtsform der Bundesautobahnen mit einer
nicht auszuschließenden späteren Kapitalprivatisierung
der Bundesfernstraßen, der wir nicht zustimmen können .
Anlage 6
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Ursula Schulte und Gülistan
Yüksel (beide SPD) zu den namentlichen Abstim-
mungen über
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724192
(A) (C)
(B) (D)
a) den von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Grundgesetzes (Artikel 90, 91c, 104b, 104c,
107, 108, 109a, 114, 125c, 143d, 143e, 143f,
143g )
b) den von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des
bundesstaatlichen Finanzausgleichssystems
ab dem Jahr 2020 und zur Änderung haus-
haltsrechtlicher Vorschriften
die Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu
c) dem Antrag der Abgeordneten Sabine Leidig,
Roland Claus, Caren Lay, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion DIE LINKE: Auto-
bahnprivatisierungen im Grundgesetz aus-
schließen
und die Abstimmungen über die Beschlussempfeh-
lungen zu
d) dem Antrag der Abgeordneten Dr. Rosemarie
Hein, Sigrid Hupach, Eva Bulling-Schröter,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Bildungsherausforderungen gemeinsam ver-
antworten – Kooperationsverbot in der Bil-
dung endlich aufheben
dem Antrag der Abgeordneten Nicole Gohlke,
Roland Claus, Sigrid Hupach, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion DIE LINKE
Finanzierung der Wissenschaft auf eine ar-
beitsfähige Basis stellen – Bildung und For-
schung in förderbedürftigen Regionen solide
ausstatten
dem Antrag der Abgeordneten Kai Gehring,
Ekin Deligöz, Christian Kühn (Tübingen),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
In die Zukunft investieren – Ein Wissen-
schaftswunder initiieren
(Tagesordnungspunkt 9)
Der Bundestag stimmt heute ab über den „Entwurf ei-
nes Gesetzes zur Neuregelung des bundesstaatlichen Fi-
nanzausgleichssystems ab dem Jahr 2020 und zur Ände-
rung haushaltsrechtlicher Vorschriften“ . Dabei handelt es
sich um ein Gesetzespaket, das verschiedene politische
Vorhaben miteinander verknüpft:
– die Gründung einer Infrastrukturgesellschaft für Au-
tobahnen und andere Bundesfernstraßen,
– die Neuordnung des Finanzausgleichs zwischen
Bund und Ländern,
– die Ausweitung des Unterhaltsvorschusses für Al-
leinerziehende und
– Bildungsinvestitionen des Bundes zur Schulsanie-
rung in finanzschwachen Kommunen.
In dem Gesetzespaket wurden also Themen miteinan-
der verknüpft, die inhaltlich in keinem Zusammenhang
stehen . So gut und wichtig vor allem Bildungsinvestiti-
onen auch seitens des Bundes und eine Ausweitung des
Unterhaltsvorschusses sind, so kritisch stehe ich der Ge-
fahr einer Autobahnprivatisierung gegenüber . Diese wird
durch den Gesetzentwurf nicht gänzlich ausgeschlossen .
Deswegen werde ich dem Regierungsentwurf – trotz
zahlreicher Verbesserungen durch die SPD-Fraktion im
parlamentarischen Verfahren – nicht zustimmen .
Ich erkenne ausdrücklich an, dass unsere Fraktion
im Ringen um einen Kompromiss viele entscheidende
Änderungen erreichen konnte . Der ursprüngliche Ge-
setzentwurf von Wolfgang Schäuble (CDU) sah eine
staatsferne Autobahngesellschaft vor, der es möglich
sein sollte, Schulden neben dem Staatshaushalt aufzu-
nehmen . Auf diese Weise hätten die vom Volk gewählten
Parlamentarier keinen Einfluss mehr auf die Schulden-
aufnahme gehabt . Außerdem wäre der unbegrenzte Ein-
bezug privater Investoren möglich gewesen . Dazu wird
es dank der kritischen Öffentlichkeit und des vehemen-
ten Einsatzes der SPD-Fraktion nun nicht kommen . So
wird im Grundgesetz ausdrücklich festgeschrieben, dass
der Bund hundertprozentiger Eigentümer sowohl der
Bundesfernstraßen als auch der Infrastrukturgesellschaft
bleibt . Eine unmittelbare oder mittelbare Beteiligung
privater Investoren an der Infrastrukturgesellschaft oder
möglichen Tochtergesellschaften ist grundgesetzlich
ebenfalls ausgeschlossen .
Trotz dieser Verbesserungen werde ich dem Entwurf
nicht zustimmen . Denn: Eine funktionale Privatisierung
durch die Übertragung eigener Aufgaben der Gesell-
schaft auf Dritte, etwa durch öffentlich-private Partner-
schaft (ÖPP), wird im Grundgesetz nur teilweise aus-
geschlossen . Wörtlich soll im Grundgesetz Folgendes
festgeschrieben werden: „Eine Beteiligung Privater im
Rahmen von Öffentlich-Privaten Partnerschaften ist aus-
geschlossen für Streckennetze, die das gesamte Bundes-
autobahnnetz oder das gesamte Netz sonstiger Bundes-
fernstraßen in einem Land oder wesentliche Teile davon
umfassen .“ Unklar bleibt, was unter der Formulierung
„wesentliche Teile“ gemeint ist . Genaueres hierzu ist
nur einfachgesetzlich geregelt – könnte also auch durch
eine etwaige schwarz-gelbe Regierung geändert werden .
Vorerst würden ÖPPs nach der Gesetzesänderung nur auf
nicht miteinander verbundenen Teilstrecken von maxi-
mal 100 Kilometer möglich gemacht . Dieser möglichen
Form der Teilprivatisierung – geschweige denn der Er-
möglichung der zukünftigen Ausweitung im Umfang –
kann ich nicht zustimmen .
Ich bin davon überzeugt, dass wir die Alleinerzie-
henden in unserem Land besser unterstützen und unsere
Schulen sanieren müssen . Ich plädiere dafür, schnellst-
möglich ein solches umfangreiches Konjunkturpro-
gramm zur Sanierung unserer Schulen umzusetzen . Dies
wäre möglich, ohne im Gegenzug weitreichende Grund-
gesetzänderungen zu beschließen .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24193
(A) (C)
(B) (D)
Anlage 7
Erklärungen nach § 31 GO
zu den namentlichen Abstimmungen über
a) den von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Grundgesetzes (Artikel 90, 91c, 104b, 104c,
107, 108, 109a, 114, 125c, 143d, 143e, 143f,
143g)
b) den von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des
bundesstaatlichen Finanzausgleichssystems
ab dem Jahr 2020 und zur Änderung haus-
haltsrechtlicher Vorschriften
die Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu
c) dem Antrag der Abgeordneten Sabine Leidig,
Roland Claus, Caren Lay, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion DIE LINKE: Auto-
bahnprivatisierungen im Grundgesetz aus-
schließen
und die Abstimmungen über die Beschlussempfeh-
lungen zu
d) dem Antrag der Abgeordneten Dr. Rosemarie
Hein, Sigrid Hupach, Eva Bulling-Schröter,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Bildungsherausforderungen gemeinsam ver-
antworten – Kooperationsverbot in der Bil-
dung endlich aufheben
dem Antrag der Abgeordneten Nicole Gohlke,
Roland Claus, Sigrid Hupach, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion DIE LINKE
Finanzierung der Wissenschaft auf eine ar-
beitsfähige Basis stellen – Bildung und For-
schung in förderbedürftigen Regionen solide
ausstatten
dem Antrag der Abgeordneten Kai Gehring,
Ekin Deligöz, Christian Kühn (Tübingen),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
In die Zukunft investieren – Ein Wissen-
schaftswunder initiieren
(Tagesordnungspunkt 9)
Ingrid Arndt-Brauer (SPD): In den letzten Monaten
und Wochen wurde intensiv über eine Reform der Auf-
tragsverwaltung bei den Bundesfernstraßen diskutiert .
Darüber hinaus wurde um ein Modell gerungen, mit dem
zusätzliches privates Kapital für öffentliche Investitionen
in die Bundesfernstraßen mobilisiert werden kann . Dabei
war für die SPD die Errichtung einer Infrastrukturgesell-
schaft des Bundes eine Option, um die beiden Ziele zu
erreichen . Im Kontext dieser Debatte haben wir als SPD
immer betont, dass es eine Privatisierung der Bundes-
fernstraßen nicht geben wird. Investitionen in die öffent-
liche Verkehrsinfrastruktur sind für uns Bestandteil der
öffentlichen Daseinsvorsorge. ÖPP (öffentlich-private
Partnerschaft) – also die Beteiligung privaten Kapitals –
ist nur (noch) auf Teilabschnitten (maximal 100 Kilo-
meter Länge) möglich, die nur unwesentliche Teile des
Autobahnnetzes betreffen dürfen.
Ungeachtet dessen habe ich mich aus nachfolgend
aufgeführten Gründen entschlossen, bei den heutigen
Abstimmungen mit Nein zu stimmen:
Die Errichtung der Bundesfernstraßengesellschaft
stellt kein isoliertes Gesetzesvorhaben dar, sondern ist
mit der Neuregelung des bundesstaatlichen Finanzaus-
gleichssystems ab dem Jahr 2020 verknüpft . An den Ver-
handlungen zwischen Bund und Ländern war der Bun-
destag, das heißt auch ich als Parlamentarierin, zu keiner
Phase beteiligt . Ich darf also nur noch über ein fertiges
Gesetzespaket abstimmen . Der mit 16 : 0 Länderstim-
men erreichte Kompromiss beinhaltet eine grundlegende
Änderung des Länderfinanzausgleichs. Den Ausgleich
der unterschiedlichen Finanzkraft übernimmt zukünftig
der Bund, indem er die Mehrkosten trägt . Dieses wider-
spricht meines Erachtens dem Grundgedanken der Soli-
darität der Länder untereinander, bei dem die Stärkeren
die Schwächeren unterstützen . Ein stärkerer Geist der
Solidarität würde unserer Gesellschaft insgesamt gut-
tun; der jetzige Beschluss wirkt diesbezüglich „mental“
kontraproduktiv . Die Sachverständigen in der Anhörung
haben deutlich gemacht, dass das neue Finanzausgleichs-
system keinen Beitrag dazu liefern wird, die gewünschte
Konvergenz der unterschiedlichen Lebensverhältnisse zu
befördern .
Die Errichtung der Bundesverkehrsstraßengesell-
schaft wird in vielen Einzelheiten im Grundgesetz festge-
schrieben . Damit entsteht für kommende Parlamente eine
Bindungswirkung, die sehr schwer aufzulösen sein wird
(Zweidrittelmehrheit in Bundestag/Bundesrat nötig) .
Dadurch geht einem zukünftigen Bundestag als Gesetz-
geber Handlungsspielraum verloren, was den Parlamen-
tarismus und den Demokratiegedanken per se schwächt:
nämlich, dass wechselnde parlamentarische Mehrheiten
ihre politischen Vorstellungen realisieren können . Die
Bürgerinnen und Bürgern sollten an der Wahlurne ent-
scheiden können, ob und wie weit eine private Finan-
zierung von Autobahnen/Bundesstraßen gewünscht ist
oder nicht . Eine einfachgesetzliche – das heißt leichter
änderbare – Regelung hätte dieses besser ermöglicht . Die
jetzige Zementierung im Grundgesetz halte ich daher für
einen Fehler . Sie ist zudem praxisfern: Was geschieht ei-
gentlich, wenn ein ÖPP-Teilabschnitt doch einmal etwas
länger als 100 Kilometer sein muss?
Kurze Anmerkung am Rande: ÖPPs stellen keine
„Privatisierung“ dar und sind nicht a priori schlecht . Es
gab in der Vergangenheit sogar rein private Finanzierun-
gen . Niemand kann verlässlich vorhersagen, ob wir als
Staat auch zukünftig genügend Investitionsmittel werden
bereitstellen können, um notwendige Straßenbaumaß-
nahmen umzusetzen . Niedrigzinsen und gute konjunk-
turelle Bedingungen können (und werden) sich mit an
Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit irgendwann
auch wieder ändern .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724194
(A) (C)
(B) (D)
Das vorliegende Gesetzespaket wurde mit „artfremden
Gesetzen“ verknüpft, namentlich mit der Verlängerung
des Unterhaltsvorschusses und Hilfen für finanzschwa-
che Kommunen bei der Schulinfrastruktur in Höhe von
3,5 Milliarden Euro (teilweise Aufhebung Kooperations-
verbot!) . Für diese beiden Gesetzesänderungen hatte sich
die SPD sehr stark und erfolgreich engagiert .
Ich lehne eine solche Verknüpfung aber aus Prinzip
entschieden ab . Als Abgeordnete gerate ich so unver-
meidbar in einen Konflikt, dass ich bei Ablehnung des
gesamten Gesetzespaketes auch sinnvolle und von mir
ausdrücklich gewünschte Vorhaben negiere/verhindere .
Bärbel Bas (SPD): Der Deutsche Bundestag stimmt
heute über die Neuregelung des bundesstaatlichen
Finanz ausgleichssystems ab . Im parlamentarischen
Verfahren ist es der SPD-Bundestagsfraktion gelungen,
wichtige Änderungen am ursprünglich eingebrachten
Gesetzentwurf durchzusetzen:
Erstens . Zunächst ist zu beachten, dass der Bundes-
tag über ein Regelungspaket zu entscheiden hat, das im
Vorfeld bereits zwischen allen Ministerpräsidentinnen
und Ministerpräsidenten und der Bundesregierung abge-
stimmt worden ist . Da die Länder in den Finanzbezie-
hungen Erleichterungen durch den Bund erfahren haben,
haben sie im Gegenzug zugestanden, ein Stück ihrer
Kompetenz im Bildungsbereich wieder an den Bund zu
geben und in diesem Zusammenhang auch Bau, Planung
und Verwaltung von Bundesstraßen bzw . Autobahnen
dem Bund zu übertragen . Diese Verhandlung auf einer
von der Verfassung nicht vorgesehenen Ebene zwischen
Länderregierungen und Bundesregierung halte ich für
äußerst kritikwürdig . Die Beratungen des Bundestages
wurden deutlich dadurch erschwert, dass die Ministerprä-
sidentinnen und Ministerpräsidenten gemeinsam mit der
Bundesregierung ein Gesamtpaket völlig unterschied-
licher Regelungsbereiche verabschiedeten, die im Par-
lament faktisch nicht mehr entkoppelt werden können .
Umso beachtlicher sind die Veränderungen, die nun zur
Abstimmung stehen. Unabhängig davon hoffe ich aber,
dass alle Parteien aus dieser Situation zukünftig lernen .
Zweitens . Aus SPD-Sicht war in dem Regelungspaket
von Anfang an die Ausweitung des Unterhaltsvorschus-
ses zu begrüßen . Für fast eine Million alleinerziehende
Eltern und ihre Kinder stellt es einen wichtigen Fort-
schritt dar, dass berufstätige Alleinerziehende, bei denen
der unterhaltspflichtige Elternteil seinen Verpflichtungen
nicht nachkommt, eine Erweiterung des Anspruches auf
staatliche Unterstützung erfahren . Die Altersgrenze wird
von jetzt 12 Jahre auf 18 Jahre angehoben und die zeit-
liche Befristung von maximal sechs Jahren abgeschafft.
Dieses wird auch in Duisburg dazu führen, dass Allein-
erziehende die Doppelbelastung von Job und Kinderbe-
treuung besser bewältigen können .
Drittens . Ein großer Erfolg ist auch das Aufbrechen
des Kooperationsverbotes im Bildungsbereich . Der Bund
wird in die Lage versetzt, 3,5 Milliarden Euro für Bil-
dungsinvestitionen in finanzschwachen Kommunen be-
reitzustellen . Diese Investitionen werden auch Duisburgs
Schulen zugute kommen. Eine vollständige Abschaffung
des Kooperationsverbots im Bildungsbereich bleibt ein
wichtiges Ziel sozialdemokratischer Politik . Bildung ist
eine gesamtstaatliche Aufgabe . Dies ist aber zwischen
den Koalitionspartnern umstritten .
Viertens . In der Fassung des Regelungspaketes, die in
erster Lesung im Parlament beraten wurde, haben sich
die Länder in Artikel 90 des Grundgesetzes verpflich-
tet, unter anderem die Verwaltung der Bundesautobah-
nen an den Bund zu geben . Ferner war vorgesehen, dass
der Bund sich dafür einer Gesellschaft privaten Rechts
bedienen könne . Bereits in dieser Fassung war geregelt,
dass das Eigentum des Bundes an den Autobahnen und
Bundesstraßen unveräußerlich ist . Allerdings befürchte-
ten viele Bürgerinnen und Bürger in diesem Zusammen-
hang, dass private Investorinnen und Investoren über eine
Beteiligung an der Gesellschaft zumindest mittelbar eine
Privatisierung durch die Hintertür erreichen könnten .
Die Verlautbarungen aus Bundesfinanzministerium und
Bundesverkehrsministerium verstärkten diesen Verdacht .
Auch zivilgesellschaftliche Organisationen und der Bun-
desrechnungshof kritisierten das Vorhaben scharf . Die
Gewerkschaft Verdi problematisierte insbesondere Fra-
gen beim Personalübergang .
Nach wochenlangen Verhandlungen liegt nun eine
Ergänzung des Verfassungstextes vor, der eine unmit-
telbare oder mittelbare Beteiligung Privater an der Ge-
sellschaft und deren Tochtergesellschaften ausdrücklich
ausschließt . Dem Engagement der SPD-Bundestagsfrak-
tion ist es zu verdanken, dass somit alle Hintertüren für
eine mögliche Privatisierung in der Verfassung selbst ge-
schlossen worden sind . Zudem ist es gelungen, dass alle
wechselbereiten Beschäftigten der Straßenbauverwaltun-
gen der Länder vom Bund übernommen und grundsätz-
lich dort eingesetzt werden, wo sie bisher arbeiten . Die
Verkehrsinfrastrukturgesellschaft ist verpflichtet, Tarif-
verträge für alle Beschäftigen abzuschließen . Ich emp-
finde es als Bestätigung dieser Position, dass auch die
Gewerkschaft Verdi sowie der Bundesrechnungshof die
Erfolge des parlamentarischen Verfahrens ausdrücklich
anerkennen .
Darüber hinaus werden in der Debatte sogenannte öf-
fentlich-private Partnerschaften (ÖPP) problematisiert .
Die Partnerschaften gibt es bereits – sie werden nicht erst
durch das hier vorliegende Regelungspaket ermöglicht .
Doch selbst in diesem Bereich konnte nun durch das par-
lamentarische Verfahren eine Verbesserung erreicht wer-
den: Erstmalig werden in der Verfassung öffentlich-pri-
vate Partnerschaften für ganze Streckennetze oder
wesentliche Teile explizit ausgeschlossen . Damit wird im
Grundgesetz selbst ein klares Zeichen gegen die Auswei-
tung von ÖPP gesetzt . Die SPD-Bundestagsfraktion hätte
sich eine noch weitergehende Regelung gewünscht . Dies
war jedoch mit der CDU/CSU-Fraktion nicht möglich .
Ich stimme dem Gesetzespaket zu .
Demokratie und das Ringen im parlamentarischen
Verfahren bringen selten Ergebnisse, die zu 100 Prozent
den Forderungen einer einzelnen Fraktion entsprechen .
Wer künftig ÖPP vollständig verhindern will, muss dafür
eintreten, dass der Staat mehr Mittel in die Infrastruk-
tur investiert, wie es die SPD fordert . Ein völliger Aus-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24195
(A) (C)
(B) (D)
schluss von ÖPP im Grundgesetz, der einer Zweidrittel-
mehrheit in Bundestag und Bundesrat bedarf, war in der
bestehenden Koalition nicht realisierbar . Deshalb werbe
ich für die Anerkennung der Verhandlungserfolge im par-
lamentarischen Verfahren und die Erhöhung des Drucks
auf all die politischen Kräfte, die eine schwarze Null im
Bundeshaushalt über politische Gestaltungsmöglichkei-
ten stellen .
Ich stimme aufgrund der Verhandlungserfolge zu .
Veronika Bellmann (CDU/CSU): Ich kann aus ganz
grundsätzlichen Erwägungen heraus den vorliegenden
Grundgesetzänderungen nicht zustimmen und werde
mich der Stimme enthalten .
Natürlich müssen die Bund-Länder-Finanzbeziehun-
gen infolge Auslaufen des Solidarpaktes neu geregelt
werden . Die inhaltlichen Vorgaben dazu und zu den
anderen vorgeschlagenen Regelungen (Unterhaltsvor-
schuss, Infrastruktur, Bildung usw .) sind auch akzeptabel
und in sich schlüssig, was das Verhältnis „Mehr Geld des
Bundes an die Länder“ gegen „Mehr Kontrollrechte des
Bundes“ angeht .
Aber dass mit dieser Reform das Grundgesetz an ins-
gesamt 14 Stellen geändert werden soll, ist eben nicht ak-
zeptabel. Ähnlich weitreichende Eingriffe in das Grund-
gesetz gab es zuletzt bei den Föderalismusreformen nach
umfangreichen und tiefgreifenden Debatten einer eigens
zu diesem Zweck gegründeten Föderalismuskommis-
sion . Seinerzeit ist es darum gegangen, die Eigenstän-
digkeit und Selbstverantwortung der Länder zu stärken .
Nun wird diese erst vor einigen wenigen Jahren justierte
bundesstaatliche Grundordnung konterkariert, indem der
Bund immer mehr Finanzverantwortung für Aufgaben
der Länder übernimmt, die diese aus den verschiedensten
politischen Gründen nur allzu gerne abgeben . Das sind
unter dem Deckmäntelchen eines vermeintlichen Födera-
lismus daherkommende erste Schritte in einen Zentral-
staat . Dabei ist die Neuordnung der Finanzbeziehungen,
die eigentlich Ziel der Reform war, zunehmend aus dem
Blick geraten .
Das Grundgesetz soll Regelungen enthalten, die für
„möglichst immer“ gelten, das heißt, eine sogenannte
Ewigkeitsgarantie besitzen . Diese bestimmt auch, dass
Regeln des politischen Tagesgeschäfts – und seien sie
noch so hochkomplex und numerische Aufzählungen –
nichts im Grundgesetz zu suchen haben . Stattdessen wer-
den jetzt Milliardenzuschüsse von 3,5 Milliarden Euro
für Schulen in finanzschwachen Kommunen ausgegeben
(– damit werden jahrelange Versäumnisse bzw . das Un-
vermögen bei Investitionen in die Bildungsinfrastruktur
durch SPD-regierte Bundesländer ausgeglichen –) und
die Ausgestaltung einer Autobahngesellschaft geregelt .
Hier wie bei den weiteren Neuerungen wären einzelge-
setzliche Regelungen vollkommen ausreichend gewesen .
Dann könnte es jederzeit Evaluationen und nachfolgend,
falls notwendig, auch Korrekturen geben . Wir blieben
politisch relativ handlungsfähig, da die im Ergebnis um-
strittenen Neuregelungen durch Änderungen des Grund-
gesetzes praktisch nicht irreversibel gemacht würden .
Stattdessen wird durch ein Sammelsurium von Rege-
lungen das Grundgesetz inflationiert und quasi entwertet.
Stattdessen werden Forderungen, die ohne Frage Verfas-
sungsrang haben, wie die Aufnahme der deutschen Spra-
che ins Grundgesetz, trotz einer breiten Unterstützung der
Öffentlichkeit (vom Deutschen Kulturrat über den Verein
Deutsche Sprache e . V . bis hin zu CDU-Parteitagsbe-
schlüssen und sogar entsprechenden Unterstützungszu-
sagen der Bundeskanzlerin in mehreren Veranstaltungen)
regelmäßig von Grundgesetzänderungen ausgenommen .
Marco Bülow (SPD): Heute beschließt der Deutsche
Bundestag den neuen Bund-Länder-Finanzausgleich, der
auch die Regelungen zur Errichtung einer Infrastruktur-
gesellschaft enthält. Nach reiflicher Abwägung habe ich
mich dazu entschieden, gegen dieses Paket zu stimmen .
Dieses Gesetzespaket enthält umfassende Änderungen
des Grundgesetzes sowie einfachgesetzliche Änderun-
gen . Es geht zurück auf eine Einigung zwischen der Bun-
desregierung und den Ländern vom Dezember 2016 als
Ersatz für die derzeitigen Regelungen zum Bund-Län-
der-Finanzausgleich, die 2019 auslaufen .
Der Hauptgrund für mich, dem Gesetzespaket mei-
ne Zustimmung zu verweigern, ist die darin enthaltene
Einführung einer Infrastrukturgesellschaft zur Sicher-
stellung der Finanzierung und Effizienz bei Bau und
Verwaltung der Bundesautobahnen. Die Schaffung ei-
ner Gesellschaft privaten Rechts widerspricht meinem
Grundsatz, dass die Bereitstellung öffentlicher Güter, wie
der öffentlichen Verkehrsinfrastruktur, in die öffentliche
Hand gehört . Einer Infrastrukturgesellschaft könnte ich
nur zustimmen, wenn diese die Form einer Gesellschaft
öffentlichen Rechts hat. Das ist in dem vorliegenden
Kompromiss nicht der Fall . CDU/CSU haben dies vehe-
ment abgelehnt .
Ich halte das für einen großen Fehler . Eine späte-
re Privatisierung von Teilen des Autobahnnetzes bleibt
nicht ausgeschlossen . Da für eine erneute Änderung eine
Zweidrittelmehrheit nötig ist, wird diese Entscheidung so
gut wie nicht mehr umkehrbar sein . Damit haben erneut
einzelne Lobbyinteressen den Vorzug vor dem Allge-
meinwohl erhalten .
Zudem wird der Bundestag ein weiteres Mal entmach-
tet . Dies setzt den schon länger bestehenden Prozess der
schleichenden Entmachtung der gewählten Volksvertre-
terinnen und Volksvertreter fort, bei dem immer mehr
Befugnisse auf andere Ebenen übertragen werden . Des-
halb werde ich mich weiterhin gegen die Entmachtung
des Parlamentes und gegen den Ausverkauf von originä-
ren Staatsaufgaben zugunsten von Einzelinteressen zur
Wehr setzen .
Meine Fraktionskollegen und -kolleginnen haben
lange und hart verhandelt, um möglichst viele Privati-
sierungsschranken einzubauen . So wurden auch Ände-
rungen bereits im Grundgesetz hineinverhandelt, durch
die die mittelbare und unmittelbare Beteiligung Dritter
an der Infrastrukturgesellschaft und deren Tochterge-
sellschaften ausgeschlossen wird . Außerdem ist aus-
geschlossen, dass sich Private im Rahmen von öffent-
lich-privaten Partnerschaften (ÖPP) für Streckennetze,
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724196
(A) (C)
(B) (D)
die das gesamte Bundesautobahnnetz oder wesentliche
Teile davon betreffen, beteiligen. Insbesondere Bundes-
verkehrsminister Dobrindt wollte ursprünglich sogar bis
zu 49 Prozent der Gesellschaft an private Investoren ver-
äußern . Dies ist unglaublich . Trotz der Veränderungen
im aktuellen Gesetz besteht aber immer noch die Mög-
lichkeit, ÖPP in höherem Maße durchzuführen . Zudem
ist der Begriff „wesentliche Teile“ zu unkonkret, als dass
damit ein wirklicher Ausschluss Privater garantiert ist .
Darüber hinaus wird erstmals geradezu dazu aufgeru-
fen, dass die Sanierung und der Bau von Schulen durch
ÖPP-Vorhaben umgesetzt werden . Diesem widerspreche
ich mit aller Entschiedenheit . Die Bereitstellung von Bil-
dungsinfrastruktur ist elementare Aufgabe des Staates .
Des Weiteren ist ein möglicher Wechsel der Rechts-
form, zum Beispiel der GmbH in eine AG, lediglich
einfachgesetzlich geregelt . Das bedeutet, eine andere
Bundesregierung kann diese Umwandlung ohne eine
Änderung des Grundgesetzes mit einfacher Mehrheit
vollziehen . Gleiches gilt für die Kreditfähigkeit der Ge-
sellschaft . Es ist zwar nicht erlaubt, dass diese selbst
Kredite aufnimmt, aber dieser Punkt ist ebenfalls nur
einfachgesetzlich geregelt . Gleiches gilt für den vorge-
sehenen Parlamentsvorbehalt, der damit ebenso durch
eine andere politische Mehrheit jederzeit verändert wer-
den kann . Auch die Übernahme des Angestellten ist nur
einfachgesetzlich abgesichert, so dass die Gefahr besteht,
dass eine andere politische Mehrheit den Abbau von bis-
lang gesicherten Arbeitsplätzen mit Tariflöhnen und gu-
ter Mitbestimmung organisiert .
Ich halte es ebenso unter demokratischen Gesichts-
punkten für höchst problematisch, weitgehend unbe-
merkt von der breiten Öffentlichkeit nicht weniger als
13 Grundgesetzänderungen in einer Abstimmung im
Paket zu beschließen . Hier geht es nicht nur um die
Bund-Länder-Finanzierung, sondern eben auch um die
Autobahnprivatisierung oder den Unterhaltsvorschuss .
Alles wichtige Gesetze, für die man sich die Zeit nehmen
sollte, sie einzeln zu diskutieren .
Der Unterhaltsvorschuss beispielsweise wird ausge-
weitet und zukünftig bis zum 18 . Lebensjahr gezahlt .
Die Begrenzung auf sechs Jahre soll entfallen . Es ist eine
wichtige Regelung, wenn der unterhaltspflichtige Eltern-
teil nicht oder nicht regelmäßig zahlt . Bund und Länder
haben das gemeinsam vereinbart . Wir müssen aber auf
jeden Fall dafür sorgen, dass die Mehrkosten bei den
Kommunen zukünftig aufgefangen werden . Ein wichti-
ger Fortschritt, der aber nicht gemeinsam mit den ande-
ren Punkten in einem Paket beschlossen werden darf .
Für mich ist klar: Die Union wollte von Anfang an eine
echte Privatisierung der Autobahnen und wird das auch
weiterhin vorantreiben . Der vorliegende Kompromiss
schließt dies nicht vollumfänglich aus, und daher kann
ich ihm nicht zustimmen . Den weiteren Regelungen, die
sich beispielsweise auf die Neuordnung des Finanzaus-
gleichs oder das Aufheben des Kooperationsverbotes im
Bildungsbereich beziehen, werde ich zustimmen .
Zu den einzelnen namentlichen Abstimmungen:
1 .: Änderungsantrag der Linken zu Artikel 90 GG –
Autobahngesellschaft:
Votum: Enthaltung
2 .: Änderungsantrag von Bündnis 90/Die Grünen:
Votum: Enthaltung
3 .: Änderungsantrag von Bündnis 90/Die Grünen zu
den Artikeln 90 und 143e GG – Autobahngesellschaft:
Votum: Enthaltung
4 .: Änderung des Artikel 90 GG – Autobahngesell-
schaft:
Votum: Nein
5 .: Änderung des Artikel 107 GG –Steuern:
Votum: Ja
6 .: Änderung des Artikel 125c GG – Verlängerung Ge-
meindeverkehrsfinanzierung und Hilfen für Bremen und
Saarland:
Votum: Ja
7 .: Änderung des Artikel 143e GG –Verbleib der Bun-
desautobahnen in Länderverwaltung:
Votum: Enthaltung
8 .: Gesamtgesetz – Änderung von insgesamt 13 Arti-
keln des GG:
Votum: Nein
Dr. Daniela De Ridder (SPD): Dieser Bundestag
hat für die Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur in den
letzten Jahren deutlich mehr Mittel zur Verfügung ge-
stellt, auch um den Investitionsstau bei unseren Straßen
zu beenden .
Organisatorische Mängel verhindern häufig, dass das
zur Verfügung stehende Geld für den Bau von Bundes-
fernstraßen zielgenau und an verkehrlichen Maßstäben
orientiert abfließen kann. Auch bei Planung und Betrieb
gibt es vielerorts unbestreitbaren Optimierungsbedarf .
Das ist auf nahezu allen politischen Ebenen erkannt und
benannt worden . Eine Reform dieser Strukturen ist des-
halb dringend geboten .
Neben einer Reform der Auftragsverwaltung war hier-
zu schon länger die Gründung einer Bundesfernstraßen-
gesellschaft im Gespräch, die Planung, Bau und Betrieb
in die Hände des Bundes legt . Da der Bund am besten in
der Lage ist, seine eigenen Prioritäten umzusetzen und
ich das angesichts des Nachholbedarfs in der Verkehrs-
infrastruktur für notwendig erachte, habe ich diese Idee
immer befürwortet . Ein entsprechendes Konzept, wie es
die Arbeitsgruppen Verkehr, Wirtschaft und Haushalt der
SPD-Bundestagsfraktion vorgelegt haben, fand und fin-
det meine volle Unterstützung .
Der von der Bundesregierung ursprünglich vorgelegte
Entwurf hat den verkehrspolitischen Anforderungen je-
doch zum einen nicht ausreichend Rechnung getragen,
zum anderen gravierende Mängel hinsichtlich Privatisie-
rung, Struktur, Beteiligung der Politik und Mitarbeiter-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24197
(A) (C)
(B) (D)
rechten aufgewiesen . Er war daher nicht zustimmungs-
fähig . Deshalb haben wir in langen Verhandlungen aus
meiner Sicht wesentliche Änderungen durchgesetzt .
Der häufigste Vorwurf gegen den vorliegenden Vor-
schlag zur Bundesfernstraßengesellschaft ist der, er
ermögliche Privatisierungen durch die Hintertür . Fest-
gemacht wird dies an der Rechtsform der Gesellschaft
mit beschränkter Haftung . Es gibt aber genug Praxisbei-
spiele – zum Beispiel die Verkehrsinfrastrukturfinanzie-
rungsgesellschaft (VIFG) oder die Gesellschaft für Inter-
nationale Zusammenarbeit (GIZ) –, die beweisen, dass
eine GmbH in öffentlichem Besitz nicht gewinnorientiert
sein muss . Hierfür galt es die notwendigen Schranken
dauerhaft zu setzen . Die von der SPD verhandelten Be-
grenzungen für die Privatisierung sind daher für mich
eine notwendige Voraussetzung für meine Zustimmung .
Wichtig für mich ist auch, dass mit der vorliegen-
den Reform das wirtschaftliche Eigentum der Bundes-
fernstraßen unveräußerlich beim Bund bleibt . Die neue
Gesellschaft ist lediglich für die Verwaltung zuständig .
Auch die Übertragung von Nießbrauchrechten – also die
gewinnbringende Nutzung durch die Gesellschaft – ist
ausgeschlossen . Die Gesellschaft wird nicht als Maut-
gläubigerin auftreten . Eine funktionale Privatisierung
durch die Übertragung eigener Aufgaben der Gesell-
schaft auf Dritte ist ebenfalls nicht möglich .
In enger Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften
haben wir zudem die Rechte der Beschäftigten beim
geplanten Personalübergang von den Straßenbauver-
waltungen der Länder auf den Bund festgeschrieben . So
gibt es zum Beispiel ein Widerspruchsrecht gegen den
Übergang, und die besondere Situation des beamteten
Personals wird berücksichtigt . Auch das ist für mich eine
notwendige Voraussetzung für meine Zustimmung .
Bedenken habe ich allerdings, ob ein Wechsel des
Systems ohne größere Friktionen möglich ist und ob in
absehbarer Zeit die gewünschte größere Effizienz und Ef-
fektivität tatsächlich erreicht werden können . Vielmehr
sind durch die Umstellung deutliche Verzögerungen und
Effizienzverluste möglich. Wichtig ist nun, dass der Ge-
sellschaftsvertrag im Sinne einer effizienten Arbeitswei-
se der neuen Gesellschaft entsprechend gestaltet wird .
Durch unsere Änderungen am Gesetz wird hierfür das
Parlament zuständig sein .
Obwohl ich weiterhin nicht sicher bin, dass die er-
hofften Verbesserungen mit der vorliegenden Reform der
Straßenbauverwaltung tatsächlich erreicht werden kön-
nen, habe ich bei meiner Entscheidung auch die anderen
Aspekte dieses Gesetzes zu berücksichtigen . Die um-
fassende Reform der Bund-Länder-Beziehungen ist ein
wichtiger Schritt zu einer nachhaltigen Finanzierung der
Länder . Zusätzlich sind die Einschränkung des Koopera-
tionsverbots, das Investitionsprogramm für Kommunen
und der Unterhaltsvorschuss für Alleinerziehende wich-
tige Zukunftsprojekte, die das Leben vieler Menschen
spürbar verbessern werden .
Schließlich wollen wir es im Rahmen unserer Verant-
wortung in der Bildungspolitik nicht hinnehmen, dass
finanzschwache Kommunen nicht mithalten können:
Lebenschancen werden auch durch den Zugang zu Bil-
dungsangeboten bestimmt, und diese dürfen nicht vom
Portemonnaie der Eltern oder der Finanzkraft der Kom-
mune abhängen . Daher sehe ich den Bund hier in der Ver-
antwortung, ein qualitativ hochwertiges Bildungssystem
und die damit verbundenen Chancen allen Menschen
gleichberechtigt zur Verfügung zu stellen . Auch wenn
ich mich für eine vollständige Abschaffung des Koope-
rationsverbotes einsetze, sehe ich in der nun realisierten
Aufweichung einen wichtigen Schritt in Richtung einer
zukunftsfähigen, gerechten und modernen Schulland-
schaft . Als Bildungspolitikerin sehe ich mich aber auch
nach der heutigen Entscheidung verpflichtet, an der Auf-
hebung des Kooperationsverbotes mit aller Kraft weiter-
zuarbeiten .
Auch die Neuregelung des Unterhaltsvorschusses ist
für mich ein besonders wichtiges Anliegen, da wir durch
die Verlängerung des Bezugsrechts für Eltern von Kin-
der und Jugendliche im Alter zwischen 12 und 18 Jahren
die Alleinerziehenden spürbar entlasten . Das ist dringend
notwendig, weil unter den Alleinerziehenden zumeist
Frauen in der Verantwortung stehen und folglich eine
größere finanzielle Last tragen. Alleinerziehende Müt-
ter sind doppelt belastet: Sie verdienen im Durchschnitt
immer noch weniger als Männer pro Arbeitsstunde, was
wir alljährlich beim „Equal Pay Day“ beklagen müs-
sen. Darüber hinaus sind Alleinerziehende auch häufig
aufgrund ihrer familiären Situation lediglich in Teilzeit
beschäftigt . Das hat auch bittere Konsequenzen für die
individuelle Rente; so sind besonders Frauen von der Al-
tersarmut bedroht . Als Bundespolitikerin werde ich mich
in der Gleichstellungspolitik auch weiterhin einsetzen .
Die Reform des Unterhaltsvorschusses ist da ein wichti-
ger Schritt in die richtige Richtung, den ich ausdrücklich
unterstütze .
In Abwägung dieser Dinge und angesichts der Tat-
sache, dass die wesentlichen Mängel der Infrastruktur-
gesellschaft Verkehr einfachgesetzlich behoben werden
können, stimme ich dem Gesetzentwurf zu .
Dr. Karamba Diaby (SPD): Dieser Bundestag hat für
die Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur in den letzten
Jahren deutlich mehr Mittel zur Verfügung gestellt, auch
um den Investitionsstau bei unseren Straßen zu beenden .
Organisatorische Mängel verhindern häufig, dass das
zur Verfügung stehende Geld für den Bau von Bundes-
fernstraßen zielgenau und an verkehrlichen Maßstäben
orientiert abfließen kann. Auch bei Planung und Betrieb
gibt es vielerorts unbestreitbaren Optimierungsbedarf .
Das ist auf nahezu allen politischen Ebenen erkannt und
benannt worden . Eine Reform dieser Strukturen ist des-
halb dringend geboten .
Neben einer Reform der Auftragsverwaltung war hier-
zu schon länger die Gründung einer Bundesfernstraßen-
gesellschaft im Gespräch, die Planung, Bau und Betrieb
in die Hände des Bundes legt . Da der Bund am besten in
der Lage ist, seine eigenen Prioritäten umzusetzen und
ich das angesichts des Nachholbedarfs in der Verkehrs-
infrastruktur für notwendig erachte, habe ich diese Idee
immer befürwortet . Ein entsprechendes Konzept, wie es
die Arbeitsgruppen Verkehr, Wirtschaft und Haushalt der
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SPD-Bundestagsfraktion vorgelegt haben, fand und fin-
det meine volle Unterstützung .
Der von der Bundesregierung ursprünglich vorgelegte
Entwurf hat den verkehrspolitischen Anforderungen je-
doch zum einen nicht ausreichend Rechnung getragen,
zum anderen gravierende Mängel hinsichtlich Privatisie-
rung, Struktur, Beteiligung der Politik und Mitarbeiter-
rechten aufgewiesen . Er war daher nicht zustimmungs-
fähig . Deshalb haben wir in langen Verhandlungen aus
meiner Sicht wesentliche Änderungen durchgesetzt .
Der häufigste Vorwurf gegen den vorliegenden Vor-
schlag zur Bundesfernstraßengesellschaft ist der, er
ermögliche Privatisierungen durch die Hintertür . Fest-
gemacht wird dies an der Rechtsform der Gesellschaft
mit beschränkter Haftung . Es gibt aber genug Praxisbei-
spiele – zum Beispiel die Verkehrsinfrastrukturfinanzie-
rungsgesellschaft (VIFG) oder die Gesellschaft für Inter-
nationale Zusammenarbeit (GIZ) –, die beweisen, dass
eine GmbH in öffentlichem Besitz nicht gewinnorientiert
sein muss . Hierfür galt es die notwendigen Schranken
dauerhaft zu setzen . Die von der SPD verhandelten Be-
grenzungen für die Privatisierung sind daher für mich
eine notwendige Voraussetzung für meine Zustimmung .
Den Einfluss von öffentlich-privaten Partnerschaf-
ten (ÖPP) wird mit der vorliegenden Reform weiter
beschränkt . ÖPP für Streckennetze, die das gesamte
Bundesautobahnnetz oder das gesamte Netz sonstiger
Bundesfernstraßen in einem Land oder wesentlicher
Teile davon umfassen, sind ausgeschlossen . Es werden
Möglichkeiten zur Einbeziehung privater Betreiber und
institutioneller Investoren ausgeschlossen, die bislang
noch bestehen . Hier ist der Gesetzentwurf ein echter
Fortschritt . Dem Deutschen Bundestag – namentlich dem
Haushalts- und dem Verkehrsausschuss – werden durch
die Reform neue Kontrollmöglichkeiten eingeräumt, die
dieser auch im Sinne des Interesses der Bürgerinnen und
Bürger nutzen wird .
Bereits vor dieser Reform hat die Koalition im aktu-
ellen Bundesverkehrswegeplan den Anreiz für ÖPP ge-
mindert, da Gelder nicht mehr nach Ländern, sondern
nach Prioritäten vergeben werden . Auch durch die neu
eingeführten, realistischeren Wirtschaftlichkeitsberech-
nungen werden ÖPP reduziert, ebenso wie das in der
neuen Gesellschaft eingeführte Planungsprinzip nach der
Lebenszeit .
Wichtig für mich ist auch, dass mit der vorliegen-
den Reform das wirtschaftliche Eigentum der Bundes-
fernstraßen unveräußerlich beim Bund bleibt . Die neue
Gesellschaft ist lediglich für die Verwaltung zuständig .
Auch die Übertragung von Nießbrauchrechten – also die
gewinnbringende Nutzung durch die Gesellschaft – ist
ausgeschlossen . Die Gesellschaft wird nicht als Maut-
gläubigerin auftreten . Eine funktionale Privatisierung
durch die Übertragung eigener Aufgaben der Gesell-
schaft auf Dritte ist ebenfalls nicht möglich .
In enger Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften
haben wir zudem die Rechte der Beschäftigten beim
geplanten Personalübergang von den Straßenbauver-
waltungen der Länder auf den Bund festgeschrieben . So
gibt es zum Beispiel ein Widerspruchsrecht gegen den
Übergang, und die besondere Situation des beamteten
Personals wird berücksichtigt . Auch das ist für mich eine
notwendige Voraussetzung für meine Zustimmung .
Bedenken habe ich allerdings, ob ein Wechsel des
Systems ohne größere Friktionen möglich ist und ob in
absehbarer Zeit die gewünschte größere Effizienz und
Effektivität tatsächlich erreicht werden kann. Vielmehr
sind durch die Umstellung deutliche Verzögerungen und
Effizienzverluste möglich. Wichtig ist nun, dass der Ge-
sellschaftsvertrag im Sinne einer effizienten Arbeitswei-
se der neuen Gesellschaft entsprechend gestaltet wird .
Durch unsere Änderungen am Gesetz wird hierfür das
Parlament zuständig sein .
Obwohl ich weiterhin nicht sicher bin, dass die er-
hofften Verbesserungen mit der vorliegenden Reform
der Straßenbauverwaltung tatsächlich erreicht werden
können, habe ich bei meiner Entscheidung auch die an-
deren Aspekte dieses Gesetzes zu berücksichtigen . Die
umfassende Reform der Bund-Länder-Beziehungen ist
ein wichtiger Schritt zu einer nachhaltigen Finanzierung
der Länder . Zusätzlich sind gerade auch für mich als
Bildungspolitiker die Einschränkung des Kooperations-
verbots und die damit verbundene Zurverfügungstellung
von 3,5 Milliarden Euro zur Sanierung von Schulen und
Turnhallen für finanzschwache Kommunen sowie der
Unterhaltsvorschuss für Alleinerziehende wichtige Zu-
kunftsprojekte, die das Leben vieler Menschen spürbar
verbessern werden .
In Abwägung dieser Dinge und angesichts der Tat-
sache, dass die wesentlichen Mängel der Infrastruktur-
gesellschaft Verkehr einfachgesetzlich behoben werden
können, stimme ich dem Gesetzentwurf zu .
Thomas Dörflinger (CDU/CSU): Ich werde heute
den beiden von der Bundesregierung vorgelegten Ge-
setzentwürfen nach reiflicher Überlegung meine Zustim-
mung erteilen . Dies geschieht unter Zurückstellung fol-
gender schwerwiegender Bedenken:
Erstens . Der Deutsche Bundestag und der Bundesrat
haben seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland
das Grundgesetz in insgesamt 52 Fällen geändert . Die
allermeisten dieser Änderungen waren rechtstechnisch
überschaubar, auch wenn die politische Bedeutung eine
andere gewesen sein mag . Im vorliegenden Fall ist dies
anders . Ich betrachte diese Verfassungsänderung als eine
der umfangreichsten seit der Verabschiedung des Grund-
gesetzes . Die wesentlichen Eckpunkte hierzu wurden in
einem Beratungsformat erarbeitet, dem die Ministerprä-
sidentenkonferenz der Länder, Vertreter der Bundesre-
gierung sowie einige wenige Abgeordnete des Deutschen
Bundestages angehörten . Die Funktion des Deutschen
Bundestages als Legislativorgan ist für mich nicht in aus-
reichender Weise abgebildet . Demokratietheoretisch und
verfassungsrechtlich halte ich ein solches Prozedere für
in hohem Maße problematisch .
Zweitens . Der bisher bestehende sogenannte hori-
zontale Länderfinanzausgleich hatte erwiesenermaßen
deutliche Schwächen, weil er finanzstarke Bundesländer
auf Dauer zu Gebern und finanzschwächere Bundeslän-
der auf Dauer zu Nehmern machte und keinerlei Anreize
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24199
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setzte, diese Ungleichbehandlung mittel- und langfristig
zu beheben . Diese Tatsache führte bekanntermaßen zu
mehreren Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht .
Anstatt das prinzipiell vernünftige System des horizonta-
len Länderfinanzausgleichs so angemessen zu reformie-
ren, dass sich die unterschiedlichen Interessen von bis-
herigen Nehmer- und Geberländern darin wiederfinden,
beseitigt der Gesetzgeber nun den horizontalen Länderfi-
nanzausgleich in seiner bisherigen Form und ersetzt ihn
durch eine deutliche Stärkung bisher schon vorhandener
vertikaler Systeme zwischen dem Bund und den Län-
dern . Diese setzen aber keinerlei Anreiz zur Haushalts-
konsolidierung bei den Ländern und laufen mittelfristig
auf eine deutliche Mehrbelastung des Bundeshaushalts
hinaus . Das ist ordnungspolitisch falsch .
Drittens . Die Verfassungsrealität der Bundesrepublik
Deutschland versteht die Kommunen als Teil der Bun-
desländer . Daraus folgt erstens, dass originär die Bun-
desländer für die Finanzausstattung der Kommunen
zuständig sind, und zweitens, dass der Bund gegenüber
den Kommunen grundsätzlich keine direkten, eigenen
Finanzbeziehungen unterhält . Durch die vorliegenden
Gesetzentwürfe wird das Gegenteil dessen ermöglicht .
Dies ist nach meiner Einschätzung verfassungsrechtlich
höchst bedenklich .
Viertens . Bundesrat und Bundestag haben in den zu-
rückliegenden Jahren in zwei Föderalismuskommissio-
nen aus meiner Sicht erfolgreich den Versuch unternom-
men, die Finanzbeziehungen zwischen dem Bund und
den Ländern zu entflechten, auch wenn der Status quo
noch nicht als optimal bezeichnet werden kann . Die vor-
liegenden Gesetzentwürfe bedeuten faktisch die Rückab-
wicklung dessen, was durch die Arbeit der Föderalismus-
kommissionen erreicht worden ist .
Fünftens . Politisch gesehen bereitet der Gesetzgeber
den Weg weg vom föderalen Staatsaufbau hin zur Zen-
traladministration . Dies haben die Eltern des Grundge-
setzes nach meiner Meinung aus guten Gründen nicht
gewollt . Die Bundesländer werden in ihrer Entschei-
dungshoheit geschwächt und finden sich finanziell gese-
hen stattdessen am „goldenen Zügel“ des Bundes wie-
der . Ob dies den Interessen der Bundesländer strukturell
dient, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden, auch
wenn der temporäre finanzielle Nutzen für sie eindeutig
ist .
Wenn ich den vorgelegten Gesetzentwürfen trotz der
vorgetragenen Bedenken heute zustimme, dann geschieht
dies aus folgenden Überlegungen:
Die Praxis in Planung und Bau von Bundesautobah-
nen hat sich im System der Auftragsverwaltung durch die
Länder schon seit geraumer Zeit sowohl in finanzieller
als auch in organisationstechnischer und zeitlicher Hin-
sicht als ineffizient erwiesen. Der Ansatz, die Kompe-
tenzen für Finanzierung, Planung, Bau und Betrieb von
Bundesautobahnen auf der Bundesebene zu bündeln,
ist also grundsätzlich richtig . Ebenso ist es meines Er-
achtens richtig, den Vollzug dieser Punkte in einer Inf-
rastrukturgesellschaft des Bundes vorzusehen und damit
dem Vorbild Österreichs (ASFINAG) zu folgen . Dabei
ist sicherzustellen, dass der Bund bei der Realisierung
von Bundesautobahnen personell in den Regionen ange-
messen präsent bleibt . Die Berücksichtigung möglicher
regionaler Besonderheiten und die Sicherstellung der
Akzeptanz der Bevölkerung sind in einem Verfahren, das
bundesweit von Berlin aus gesteuert werden soll, nicht
möglich . Es hätte aber aus ordnungspolitischen Gründen
noch mehr Sinn gemacht, auch die Bundesstraßen unter
diesem Dach zusammenzufassen . Künftig werden so das
bisherige System der Auftragsverwaltung für Bundes-
straßen und die Infrastrukturgesellschaft für Bundesau-
tobahnen nebeneinander bestehen .
Michaela Engelmeier (SPD): Der Deutsche Bun-
destag stimmt heute über den Gesetzentwurf zur Neu-
regelung des bundesstaatlichen Finanzausgleichsystems
ab. Ich finde es bedauerlich, dass diese Beratung und
Abstimmung nur im Paket erfolgt, weil dadurch in der
Öffentlichkeit keine Differenzierung und Akzentuierung
der unterschiedlichen Themenbereiche Autobahnrege-
lungen, Veränderung des Kooperationsverbotes in der
Bildung und Unterhaltsregelungen möglich sind .
Ausgangspunkt dieses Gesetzgebungsverfahrens
war eine Einigung zwischen allen 16 Landesregierun-
gen und der Bundesregierung im Oktober und Dezem-
ber 2016 über ein Paket von Maßnahmen, die zum Teil
Änderungen des Grundgesetzes erfordern, zum Teil ein-
fachgesetzlich geregelt werden . Kernpunkt des Pakets
ist die Neuregelung des Länderfinanzausgleichs ab dem
Jahr 2020 . In dem Paket enthalten ist auch eine Locke-
rung des Kooperationsverbots im Bildungsbereich, die es
dem Bund ermöglicht, Geld für Bildungsinfrastruktur in
finanzschwachen Kommunen zur Verfügung zu stellen,
um beispielsweise Schulgebäude zu sanieren und zu mo-
dernisieren
Des Weiteren wird im Rahmen des Pakets der Unter-
haltsvorschuss neu geregelt, den Alleinerziehende erhal-
ten, wenn der eigentlich unterhaltspflichtige Elternteil
nicht zahlt: Künftig wird nicht nur bis zum 12 . Geburts-
tag des Kindes gezahlt, sondern bis zum 18 . Geburtstag,
und während bislang maximal sechs Jahre lang gezahlt
wurde, entfällt diese Befristung künftig komplett .
Weil mein Votum klar für die Regelungen in den Bil-
dungsbereichen und zur Unterhaltsregelung steht, stim-
me ich deshalb trotz persönlicher Bedenken den Auto-
bahnregelungen zu .
Daher mache ich in dieser Erklärung deutlich, dass ich
mich persönlich und auch die SPD Fraktion sich immer
gegen eine Privatisierung der deutschen Autobahnen und
Bundesstraßen gestellt und diese Position auch im Ge-
setzgebungsverfahren zur Neuregelung der Bund-Län-
der-Finanzbeziehungen durchgesetzt hat .
Schon innerhalb der Bundesregierung ist es der SPD
gelungen, eine doppelte Privatisierungsschranke im Ge-
setzentwurf der Regierung zur Änderung des Grundge-
setzes durchzusetzen . Im Grundgesetz selbst wird des-
wegen in Artikel 90 geregelt werden, dass nicht nur die
Bundesfernstraßen selbst im unveräußerlichen, hundert-
prozentigen Eigentum des Bundes stehen, sondern auch
die Infrastrukturgesellschaft, die für deren Planung, Bau
und Betrieb zuständig sein wird .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724200
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(B) (D)
In intensiven und schwierigen Verhandlungen mit
CDU/CSU haben wir als SPD-Bundestagsfraktion nun
zwei weitere Grundgesetzänderungen durchgesetzt .
Erstens . Eine unmittelbare oder mittelbare Beteiligung
Dritter an der Infrastrukturgesellschaft und deren Toch-
tergesellschaften wird in Artikel 90 Absatz 2 des Grund-
gesetzes ausgeschlossen . Damit ist klar: Die Gesellschaft
bleibt zu 100 Prozent staatlich, 0 Prozent privat .
Zweitens . Ausgeschlossen wird auch eine funktionale
Privatisierung durch die Übertragung eigener Aufgaben
der Gesellschaft auf Dritte, zum Beispiel durch soge-
nannte Teilnetz-ÖPP . In Artikel 90 Absatz 2 des Grund-
gesetzes wird dazu der Satz eingefügt: „Eine Beteiligung
Privater im Rahmen von Öffentlich-Privaten Partner-
schaften ist ausgeschlossen für Streckennetze, die das ge-
samte Bundesautobahnnetz oder das gesamte Netz sons-
tiger Bundesfernstraßen in einem Land oder wesentliche
Teile davon umfassen .“ Einfachgesetzlich wird geregelt,
dass öffentlich-private Partnerschaften (ÖPP) nur auf der
Ebene von Einzelprojekten bis maximal 100 Kilometer
Länge erfolgen, die nicht räumlich miteinander verbun-
den sein dürfen .
Mit diesen Grundgesetzänderungen und vielen ein-
fachgesetzlichen Änderungen stellen wir sicher, dass
auch theoretisch mögliche Hintertüren für eine Privati-
sierung fest verschlossen sind . Vieles, was bislang recht-
lich möglich gewesen wäre bei der Einbeziehung privater
Betreiber und institutioneller Investoren, ist jetzt erstmals
rechtlich ausgeschlossen . Manche Kritiker und manche
Kampagne haben absurderweise gerade uns als SPD in
den letzten Wochen unterstellt, mit den Grundgesetzän-
derungen würden wir die Türen für eine Privatisierung
öffnen. Das Gegenteil ist richtig: Wir schließen Türen,
die bislang offen standen.
Dies bestätigt uns auch der Bundesrechnungshof
(BRH), der das Gesetzgebungsverfahren mit mehreren
Berichten begleitet hat .
Im Ergebnis haben wir als SPD die doppelte Priva-
tisierungsschranke des Regierungsentwurfs – Bund ist
hundertprozentiger Eigentümer erstens der Autobahnen
und zweitens der Autobahngesellschaft – mit weiteren
Privatisierungsschranken verstärkt .
Neben den beiden Grundgesetzänderungen verweise
ich auf folgende Punkte, die in der öffentlichen Diskus-
sion immer wieder auftauchen und oft falsch dargestellt
werden:
– Die Gesellschaft wird nicht kreditfähig . Damit ist die
Gefahr einer Aufnahme von privatem Kapital zu ho-
hen Zinsen gebannt. Um effizient wirtschaften und
„atmen“ zu können, kann die Gesellschaft aber Liqui-
ditätshilfen – zinslose Darlehen – aus dem Bundes-
haushalt erhalten, wie andere Bundesgesellschaften
auch .
– Eine Übertragung von sogenannten Altschulden auf
die Gesellschaft wird ausgeschlossen .
– Das wirtschaftliche Eigentum an den Bundesautobah-
nen geht nicht an die Gesellschaft über, sondern bleibt
beim Bund . Die Übertragung und die Überlassung von
Nießbrauchrechten und anderen Rechten werden aus-
geschlossen .
– Mautgläubiger der Lkw-Maut und der Pkw-Maut
bleibt der Bund . Die Option, dass die Gesellschaft das
Mautaufkommen direkt vereinnahmen kann, wird ge-
strichen .
– Die neue Gesellschaft wird als GmbH errichtet und
damit als juristische Person des privaten Rechts . Es ist
aber grob irreführend, „privatrechtlich“ mit „Privati-
sierung“ gleichzusetzen . Deutschland organisiert zum
Beispiel einen Großteil seiner internationalen Ent-
wicklungshilfe über die Deutsche Gesellschaft für In-
ternationale Zusammenarbeit (GIZ), die ebenfalls eine
GmbH ist . Trotzdem hat wohl noch niemand ernsthaft
behauptet, Deutschland habe seine Entwicklungshilfe
privatisiert .
– Genauso irreführend ist die Behauptung, durch die
Zulässigkeit einzelner ÖPP-Projekte werde die Priva-
tisierung eben doch noch ermöglicht . Erstens: Eine öf-
fentlich-private Partnerschaft ist nicht das gleiche wie
Privatisierung . Aber selbst wenn man das annehmen
möchte, gilt zweitens: ÖPP sind immer nur dann er-
laubt, wenn sie wirtschaftlicher sind als die herkömm-
liche Beschaffung (Staat bzw. Gesellschaft bauen und
betreiben selbst) – was bei einer effizient arbeitenden
neuen Gesellschaft seltener der Fall sein wird als in
den jetzigen Strukturen (weswegen beispielsweise die
österreichische Autobahngesellschaft ASFINAG kein
einziges ÖPP-Projekt macht, obwohl sie könnte) . Drit-
tens und aus meiner Sicht am Wichtigsten: ÖPP bleibt
auf Einzelprojekte beschränkt, und durch die von uns
durchgesetzte Grundgesetzänderung ist es dauerhaft
verboten, ein ÖPP-Projekt an das andere zu setzen,
bis irgendwann wesentliche Teile des Autobahnnetzes
oder des Bundesstraßennetzes in einem Bundesland
als ÖPP betrieben werden .
Uns Sozialdemokraten war aber nicht nur der Aus-
schluss von Privatisierungsoptionen wichtig, sondern
auch die Zukunft der Beschäftigten, die gegenwärtig in
den Straßenbauverwaltungen der Länder beschäftigt sind
und künftig zum Bund wechseln sollen .
In der Summe ergibt sich damit ein Gesetz, dem ich
mit guten Gewissens zustimmen kann . Die im Regie-
rungsentwurf angelegte Reform und teilweise Been-
digung der Auftragsverwaltung für die Autobahnen ist
sinnvoll . Die bundeseigene Verwaltung verspricht zügi-
gere Baumaßnahmen und einen effizienteren Mittelein-
satz . Der Bund ist künftig durch die zentrale Steuerung
weniger abhängig von der Kooperationsbereitschaft und
der Leistungsfähigkeit von Landesstraßenbauverwaltun-
gen, um seine Prioritätensetzungen bei den Verkehrsin-
vestitionen umzusetzen . Ferner wird der Lebenszyklus
einer Bundesautobahn in den Fokus gerückt .
Entscheidend sind aber die Verbesserungen, die wir
im parlamentarischen Verfahren erreicht haben . Erstens .
Eine Privatisierung der Autobahnen und Bundesstraßen
findet nicht statt; mit dem Gesetz errichten wir Schran-
ken, wo es vorher keine gab, auch im Grundgesetz .
Zweitens . Wir haben die berechtigten Interessen der Be-
schäftigten geschützt und schaffen eine leistungsfähige
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24201
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neue Organisation, die ein attraktiver Arbeitgeber wird .
Drittens. Der Einfluss des demokratisch gewählten Parla-
ments auf die Verkehrsinvestitionen bleibt gewahrt .
Thorsten Frei (CDU/CSU): Die Neuregelung der
Bund-Länder-Finanzbeziehungen ist ein elementar wich-
tiges Vorhaben der laufenden Wahlperiode . Dabei ist es
richtig und wichtig, das Gesetzgebungsverfahren noch in
dieser Wahlperiode abzuschließen, damit alle Beteiligten
mit ausreichendem Vorlauf Planungssicherheit haben .
Das großzügige finanzielle Engagement des Bundes ist
für viele Kommunen eine große Hilfe, auch wenn Misch-
zuständigkeiten und Mischfinanzierungen zu keiner Klä-
rung von Verantwortung führen, oft als „goldener Zügel“
wirken und die grundgesetzlich garantierte kommunale
Selbstverwaltung eher einschränken .
Auch wenn ich den Entwürfen insgesamt zustimmen
werde, möchte ich Folgendes anmerken:
Die Einfügung des Artikel 104c GG setzt ein schwie-
riges Signal und falsche Anreize . Statt Bundeshilfen für
finanzschwache Kommunen im Grundgesetz zu normie-
ren, sollten die finanziell zuständigen Länder alles da-
ransetzen, die Finanzschwäche von Kommunen zu be-
heben . Das eigentliche Ziel müsste es sein, dass es keine
finanzschwachen Kommunen gibt. Stattdessen werden
finanzschwache Kommunen jetzt sogar in der Verfassung
verankert .
Ziel der Föderalismusreform 2006 ist gewesen, klare
Strukturen und Verantwortlichkeiten in der Aufgaben-
wahrnehmung durch Bund und Länder zu schaffen. Die-
ses Ziel war richtig und ist weiterhin richtig . Mit Arti-
kel 104c GG wird dieses Ziel ein Stück aus den Augen
verloren . Am Grundsatz, dass für eine aufgabenange-
messene auskömmliche Finanzausstattung der Kommu-
nen die jeweiligen Bundesländer verantwortlich und zu-
ständig sind, ist festzuhalten . Dies gilt nicht nur für den
Bereich der Bildungsinfrastruktur, sondern insgesamt
für alle von den Kommunen auszuführenden Aufgaben .
Aus dieser Sicht besteht durch die Einfügung des Arti-
kel 104c GG die Gefahr, dass ein dauerhafter Fehlanreiz
gesetzt wird, dass Länder künftig Kommunen bei Inves-
titionsbedarf an den Bund verweisen und somit aus der
Erweiterung der Mitfinanzierungsmöglichkeit eine Mitfi-
nanzierungszuständigkeit wird . Wir werden dies kritisch
beobachten . Gut ist auch, dass der Bundesrechnungshof
im Rahmen von Mischfinanzierungen künftig stärkere
Prüfungsrechte hat .
Wir müssen in Zukunft auch aufpassen, dass aus dem
ersten Schritt des Artikel 104c GG mit der Mitfinanzie-
rungsmöglichkeit für den Bund in der Bildungsinfrastruk-
tur finanzschwacher Kommunen keine Allgemeinzustän-
digkeit des Bundes für alle Probleme vor Ort wird . Das
Argument, die Menschen würden es nicht verstehen, dass
der Bund nicht für marode Schulen zuständig sei, ließe
sich genauso auf marode Straßen und Brücken, andere
öffentliche Einrichtungen oder geschlossene Schwimm-
bäder ausdehnen . Der Bund wird aber nicht in der Lage
sein, alle Missstände vor Ort zu lösen – erst recht nicht,
wenn Länder die Hilfen des Bundes unterlaufen und den
Kommunen immer größere Lasten aufbürden, um den
eigenen Landeshaushalt zu schonen . Die SPD-Landesre-
gierungen in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz
haben vorgemacht, wie dieses schlechte Spiel zulasten
der Kommunen funktioniert .
Mit dem neuen Artikel 104c GG ist auch die Aufsto-
ckung des Kommunalinvestitionsförderprogramms von
3,5 Milliarden Euro auf 7 Milliarden Euro verbunden .
Das ist immerhin einmal mehr ein Zeichen, dass wir als
CDU/CSU-geführte Regierung bereit sind, den Kommu-
nen zu helfen – wie wir dies in dieser Wahlperiode bereits
vielfältig getan haben .
Bei aller strukturellen Kritik ergeben sich aus kommu-
naler Sicht aber auch Chancen aus der Neuordnung der
Bund-Länder-Finanzbeziehungen: Die stärkere Berück-
sichtigung der kommunalen Finanzkraft bei der Zutei-
lung der Finanzmittel auf die Länder in Artikel 107 GG
ist ein wichtiger Schritt zur Behebung struktureller kom-
munaler Finanzschwäche . Dabei ist zwingend darauf zu
achten, dass höhere Zuweisungen an die Länder tatsäch-
lich dazu genutzt werden, die Steuerkraftunterschiede
auf Gemeindeebene auszugleichen . Keinesfalls darf aus
Artikel 107 GG ein Anreiz entstehen, die Steuerkraft
der Kommunen zu senken, um höhere Beträge aus der
Verteilung der Finanzmittel auf die Länder zu erhalten,
um diese Finanzmittel dann im Landeshaushalt zu ver-
buchen .
Wichtig ist, dass die vom Bund für die Kommunen be-
reitgestellten Finanzmittel von den Ländern an die Kom-
munen weitergeleitet werden und dann auch ungekürzt
und zusätzlich vor Ort ankommen. Kommunalfinanzen
sind kein Beitrag zur Konsolidierung von Landeshaus-
halten . Eine gekürzte Weiterleitung der Bundesmittel
oder eine Verrechnung im Zuge des kommunalen Finanz-
ausgleichs sind ebenso inakzeptabel wie der Ersatz von
Landesmitteln durch Bundeshilfen beispielsweise bei
Investitionszuschüssen . Die vom Bund zur Verfügung
gestellten Mittel müssen seitens der Länder ungekürzt
und zusätzlich den Kommunen zur Verfügung gestellt
werden, um – in Umsetzung der Bundesintention – deren
Finanzkraft zu stärken . Auch eine Verrechnung im Rah-
men des kommunalen Finanzausgleichs ist unzulässig
und mit der Absicht, die kommunale Selbstverwaltung zu
stärken, unvereinbar . Entsprechende Regelungen in Fi-
nanzausgleichsgesetzen der Länder sind zu korrigieren .
Auch der in der Änderung des Kommunalinvestitions-
förderungsgesetzes fortgeschriebene Verteilungsschlüs-
sel zur Zuteilung der zur Stärkung der kommunalen In-
vestitionskraft vorgesehenen 3,5 Milliarden Euro auf die
Länder ist alles andere als unumstritten . Eine Einbezie-
hung der kommunalen Kassenkredite in den Verteilungs-
schlüssel greift in der vorgenommenen Form für eine
dauerhafte Lösung zu kurz und setzt falsche Anreize . Es
ist Aufgabe der Länder, für eine ausreichende Finanzaus-
stattung der Kommunen zu sorgen und deren Liquidität
zu sichern, sodass die Aufnahme von Kassenkrediten und
ein Ausweichen auf Anleihen und Wertpapierverschul-
dung erst gar nicht erforderlich werden . Haushalterische
Disziplin darf nicht bestraft werden – ebenso wenig An-
sätze der Länder, ihre Kommunen zu entschulden und
vor struktureller Finanzschwäche zu bewahren . Es wäre
schön gewesen, einen besseren Verteilungsschlüssel zu
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724202
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(B) (D)
finden; letztlich ist dies angesichts der vielschichtigen
Interessenslage dieses Mal aber nicht gelungen .
Zur Verantwortung und Zuständigkeit der Länder
für eine aufgabenangemessene Finanzausstattung der
Kommunen gehört auch, Mehrbelastungen aus Aufga-
benübertragungen im Rahmen der Konnexität auszu-
gleichen . Dies gilt insbesondere für die Mehrbelastung
aus der Umsetzung des Unterhaltsvorschussgesetzes .
Wenn die Länder im Bundesrat einer Regelung zustim-
men, die zu Mehrausgaben bei den Kommunen führen,
können sie anschließend nicht auf den Bund verweisen,
sondern müssen diese Mehrausgaben selber ausgleichen .
Der Bund hat seinen Beitrag durch eine Erhöhung des
Bundesanteils an den Leistungsausgaben des Unterhalts-
vorschussgesetzes auf 40 Prozent geleistet . Dies allein
wird jedoch nicht reichen, die Ausgabensteigerungen bei
den Kommunen, bei denen zu den reinen Auszahlungen
noch Kosten für Personal und Sachmittel hinzukommen,
auszugleichen . Hier sind die Länder gefordert, die Betei-
ligung der Kommunen an den vom Land zu tragenden
60 Prozent so zu gestalten, dass es nicht zu kommunalen
Ausgabensteigerungen kommt . Das gilt insbesondere für
Nordrhein-Westfalen mit der mit 80 Prozent höchsten
Beteiligungsquote der Kommunen am Unterhaltsvor-
schussgesetz .
Im Rahmen der Neuordnung der Bund-Länder-Fi-
nanzbeziehungen werden die bislang vom Bund bereit-
gestellten Entflechtungsmittel – ehemals unter anderem
GVFG, sozialer Wohnungsbau – ab dem Jahr 2020 nicht
mehr als eigenes Bundesprogramm, sondern über einen
höheren Umsatzsteueranteil der Länder bereitgestellt .
Das bedeutet, dass nicht nur die investive Zweckbindung
entfällt, sondern dass die Gefahr droht, dass diese Mittel
auch im allgemeinen Haushaltsaufkommen der Länder
zunächst untergehen . Die Länder müssen die bislang in
den Entflechtungsmitteln enthaltenen Finanzhilfen des
Bundes zur Verbesserung der Verkehrsverhältnisse der
Gemeinden künftig den Kommunen über entsprechende
Landesprogramme zur Verfügung stellen. Die Auflösung
der Entflechtungsmittel zugunsten eines höheren Län-
deranteils an der Umsatzsteuer darf auf keinen Fall dazu
führen, dass die bislang bereitstehenden Mittel künftig
nicht mehr zur Verfügung stehen und in Landeshaushal-
ten versickern .
Josef Göppel (CDU/CSU): Das Abstimmungspaket
widerspricht in zwei zentralen Punkten den ordnungspo-
litischen Grundvorstellungen der Unionsparteien .
Erstens . Subsidiarität und Finanzbeziehungen: Wenn
einzelne Länder ihre Aufgaben nicht mehr bewältigen
können und ein horizontaler Finanzausgleich nicht mehr
gewollt wird, wäre die nächste Stufe der Subsidiarität
eine Länderreform zur Herstellung annähernd gleich
starker Einheiten. Der Durchgriff des Bundes auf die
Kommunen mit dem goldenen Zügel ist für die Länder
ein vergiftetes Geschenk . Es ist der Weg in den Zentral-
staat .
Zweitens . Privatisierung der Autobahnverwaltung:
Mit der Errichtung einer Gesellschaft privaten Rechts für
die Autobahnverwaltung überträgt der Bund den Wachs-
tumszwang des privaten Kapitals auf einen wesentlichen
Teil der staatlichen Infrastruktur. Öffentliche Einrichtun-
gen sollen auf ein raumordnerisches Optimum hin aus-
gebaut werden, doch der fortlaufende Ertragsanspruch
privater Gläubiger verlangt unaufhörlich weitere Stra-
ßenbauinvestitionen zur Verbreiterung der gewinnbrin-
genden Kapitalbasis . Das widerspricht elementar dem
Prinzip der Nachhaltigkeit .
Gleichzeitig nimmt die demokratische Kontrollierbar-
keit durch gewählte Volksvertreter ab . Das ist auch des-
wegen von Nachteil, weil unternehmerisches Kalkül im-
mer auf die rentierlichsten Investitionen zielt . Vertreter
peripherer Räume mit wenig Mauteinnahmen werden es
noch schwerer haben, ihre Anliegen durchzusetzen .
Mit der Maut bezahlt die Gesamtheit der Bürger letzt-
endlich doch die Zinserträge privater Investitionen . Die
Schaffung von Anlagemöglichkeiten für privates Kapital
in öffentliche Güter ist jedoch kein Gemeinwohlziel.
Aus diesen Gründen lehne ich die beantragten Grund-
gesetzänderungen und das Gesetz zur Neuregelung des
bundesstaatlichen Finanzausgleichssystems einschließ-
lich der Schaffung einer Infrastrukturgesellschaft ab.
Ursula Groden-Kranich (CDU/CSU): Dem Gesetz-
entwurf der Bundesregierung zur Änderung des Grund-
gesetzes werde ich in der Ausschussfassung zustimmen .
Entscheidend ist dabei für mich, dass den finanz-
schwachen Städten und Gemeinden – und damit den
Bürgern vor Ort – künftig leichter von Bundesseite
aus geholfen werden kann . Ich bedauere es, dass diese
Grundgesetzänderung nötig geworden ist . Jedoch muss
ich feststellen, dass einige Bundesländer in der Vergan-
genheit ihrer Verantwortung, für eine auskömmliche
Finanzausstattung der Kommunen zu sorgen, nicht in
erforderlichem Umfang nachgekommen sind . Der Bund
springt nunmehr hier ein und stellt den Ländern ab 2020
jährlich mindestens 9,5 Milliarden Euro zusätzlich zur
Verfügung . Meine Zustimmung zu diesem Gesetz ver-
binde ich mit der Aufforderung an die Landesregierun-
gen, explizit den Kommunen zugewiesene Bundesmittel
diesen auch ungekürzt zukommen zu lassen .
Mit der Errichtung einer Infrastrukturgesellschaft des
Bundes leiten wir heute zudem einen Paradigmenwech-
sel in der Verwaltung der bundeseigenen Straßen ein .
Durch die Gesetzesänderung alleine wird jedoch noch
keine einzige Straße in Rheinland-Pfalz schneller ge-
baut oder die Schiersteiner Brücke zügiger saniert . Hier
kommt es nach wie vor auch auf den politischen Willen
der jeweiligen Landesregierung an . Insbesondere an die-
ser Stelle hätte ich mir klarere Verantwortlichkeiten und
Zuständigkeiten gewünscht .
Nach intensiven Beratungen stellen wir die Finanzbe-
ziehungen zwischen Bund und Ländern heute auf eine
neue Grundlage und schließen damit eines der wichtigs-
ten Reformvorhaben dieser Koalition ab . Im Vordergrund
dieser Reform steht für mich die gesamtstaatliche Ent-
scheidungs- und Handlungsfähigkeit . Daher stimme ich
dem Gesetzentwurf zu .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24203
(A) (C)
(B) (D)
Gabriele Groneberg (SPD): Dieser Bundestag hat
für die Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur in den
letzten Jahren deutlich mehr Mittel zur Verfügung ge-
stellt, auch um den Investitionsstau bei unseren Straßen
zu beenden .
Organisatorische Mängel verhindern häufig, dass das
zur Verfügung stehende Geld für den Bau von Bundes-
fernstraßen zielgenau und an verkehrlichen Maßstäben
orientiert abfließen kann. Auch bei Planung und Betrieb
gibt es vielerorts unbestreitbaren Optimierungsbedarf .
Das ist auf nahezu allen politischen Ebenen erkannt und
benannt worden . Eine Reform dieser Strukturen ist des-
halb dringend geboten .
Neben einer Reform der Auftragsverwaltung war hier-
zu schon länger die Gründung einer Bundesfernstraßen-
gesellschaft im Gespräch, die Planung, Bau und Betrieb
in die Hände des Bundes legt . Da der Bund am besten in
der Lage ist, seine eigenen Prioritäten umzusetzen und
ich das angesichts des Nachholbedarfs in der Verkehrsin-
frastruktur für notwendig erachte, halte ich eine Reform
grundsätzlich für notwendig . Ein entsprechendes Kon-
zept, wie es die Arbeitsgruppen Verkehr, Wirtschaft und
Haushalt der SPD-Bundestagsfraktion vorgelegt haben,
fand und findet meine Unterstützung.
Der von der Bundesregierung ursprünglich vorgelegte
Entwurf hat den verkehrspolitischen Anforderungen je-
doch zum einen nicht ausreichend Rechnung getragen,
zum anderen gravierende Mängel hinsichtlich Privatisie-
rung, Struktur, Beteiligung der Politik und Mitarbeiter-
rechten aufgewiesen . Er war daher nicht zustimmungsfä-
hig . Deshalb haben die Mitglieder der SPD-Fraktion bei
den Beratungen im Bundestag aus meiner Sicht wichtige
wesentliche Änderungen durchgesetzt .
Der häufigste Vorwurf gegen den vorliegenden Vor-
schlag zur Bundesfernstraßengesellschaft ist der, er
ermögliche Privatisierungen durch die Hintertür . Fest-
gemacht wird dies an der Rechtsform der Gesellschaft
mit beschränkter Haftung . Es gibt aber genug Praxisbei-
spiele – zum Beispiel die Verkehrsinfrastrukturfinanzie-
rungsgesellschaft (VIFG) oder die Gesellschaft für Inter-
nationale Zusammenarbeit (GIZ) –, die beweisen, dass
eine GmbH in öffentlichem Besitz nicht gewinnorientiert
sein muss . Hierfür galt es die notwendigen Schranken
dauerhaft zu setzen .
Der Einfluss von öffentlich-privaten Partnerschaf-
ten (ÖPP) wird mit der vorliegenden Reform weiter
beschränkt . ÖPP für Streckennetze, die das gesamte
Bundesautobahnnetz oder das gesamte Netz sonstiger
Bundesfernstraßen in einem Land oder wesentlicher
Teile davon umfassen, sind ausgeschlossen . Es werden
Möglichkeiten zur Einbeziehung privater Betreiber und
institutioneller Investoren ausgeschlossen, die bislang
noch bestehen . Hier ist der Gesetzentwurf ein echter
Fortschritt .
Bereits vor dieser Reform hat die Koalition im aktu-
ellen Bundesverkehrswegeplan den Anreiz für ÖPP ge-
mindert, da Gelder nicht mehr nach Ländern, sondern
nach Prioritäten vergeben werden . Auch durch die neu
eingeführten, realistischeren Wirtschaftlichkeitsberech-
nungen werden ÖPP reduziert, ebenso wie das in der
neuen Gesellschaft eingeführte Planungsprinzip nach der
Lebenszeit .
Wichtig für mich ist auch, dass mit der vorliegen-
den Reform das wirtschaftliche Eigentum der Bundes-
fernstraßen unveräußerlich beim Bund bleibt . Die neue
Gesellschaft ist lediglich für die Verwaltung zuständig .
Auch die Übertragung von Nießbrauchrechten – also die
gewinnbringende Nutzung durch die Gesellschaft – ist
ausgeschlossen . Die Gesellschaft wird nicht als Maut-
gläubigerin auftreten . Eine funktionale Privatisierung
durch die Übertragung eigener Aufgaben der Gesell-
schaft auf Dritte ist ebenfalls nicht möglich .
In enger Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften
haben wir zudem die Rechte der Beschäftigten beim ge-
planten Personalübergang von den Straßenbauverwaltun-
gen der Länder auf den Bund festgeschrieben . So gibt
es zum Beispiel ein Widerspruchsrecht gegen den Über-
gang, und die besondere Situation des beamteten Perso-
nals wird berücksichtigt .
Bedenken habe ich allerdings, ob ein Wechsel des
Systems ohne größere Friktionen möglich ist und ob in
absehbarer Zeit die gewünschte größere Effizienz und
Effektivität tatsächlich erreicht werden kann. Vielmehr
sind durch die Umstellung deutliche Verzögerungen und
Effizienzverluste möglich.
Dem Deutschen Bundestag – namentlich dem Haus-
halts- und dem Verkehrsausschuss – werden durch die
Reform neue Kontrollmöglichkeiten eingeräumt, die
dieser auch im Sinne des Interesses der Bürgerinnen und
Bürger nutzen kann . Dies ist in einer Hinsicht selbstver-
ständlich positiv; dennoch können durch einfachgesetz-
liche Änderungen unsere heutigen Intentionen konterka-
riert werden .
Die umfassende Reform der Bund-Länder-Beziehun-
gen ist ein wichtiger Schritt zu einer nachhaltigen Fi-
nanzierung der Länder . Durch die Übernahme weiterer
finanzieller Verpflichtungen durch den Bund sehe ich
allerdings dessen Handlungsspielräume für die Zukunft
drastisch eingeschränkt, vor allem wenn sich die Finanz-
lage sehr verschlechtert .
Die Einschränkung des Kooperationsverbots betrach-
te ich als positiven Beginn einer neuen Zusammenarbeit .
Hierbei sehe ich es als unzureichend an, dass dies nur für
Kommunen in besonderen Haushaltslagen gelten wird .
Das Investitionsprogramm für Kommunen, vor allem
die neue Regelung des Unterhaltsvorschusses für Allein-
erziehende, sind für mich persönlich positive Aspekte
dieses Paketes – wichtige Zukunftsprojekte, welche das
Leben vieler Menschen spürbar verbessern werden .
Dennoch stimme ich dem Gesetzespaket, vor allem
wegen der Mängel bei der geplanten Infrastrukturgesell-
schaft Verkehr, nicht zu .
Michael Groß (SPD): Heute hat der Deutsche Bun-
destag den neuen Bund-Länder-Finanzausgleich be-
schlossen, der auch die Regelungen zur Errichtung einer
Infrastrukturgesellschaft enthält. Nach reiflicher Ab-
wägung habe ich mich dazu entschieden, gegen dieses
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724204
(A) (C)
(B) (D)
Paket zu stimmen . Dieses Gesetzespaket enthält umfas-
sende Änderungen des Grundgesetzes sowie einfachge-
setzliche Änderungen . Es geht zurück auf eine Einigung
zwischen der Bundesregierung und den Ländern vom
Dezember 2016 als Ersatz für das Auslaufen der Rege-
lungen zum Bund-Länder-Finanzausgleich 2019 .
Der Grund für mich, dem Gesetzpaket meine Zustim-
mung zu verweigern, ist die darin enthaltene Einführung
einer Infrastrukturgesellschaft zur Sicherstellung der Fi-
nanzierung und Effizienz bei Bau und Verwaltung der
Bundesautobahnen. Die Schaffung einer Gesellschaft
privaten Rechts widerspricht meinem Grundsatz, dass
die Bereitstellung öffentlicher Güter, wie der öffentlichen
Verkehrsinfrastruktur, in die öffentliche Hand gehört. Ei-
ner Infrastrukturgesellschaft könnte ich nur zustimmen,
wenn diese die Form einer Gesellschaft öffentlichen
Rechts hat . Das ist in dem vorliegenden Kompromiss
nicht der Fall . CDU/CSU haben dies vehement abge-
lehnt .
Meine Fraktionskollegen und -kolleginnen haben lan-
ge und hart verhandelt, um möglichst viele Privatisie-
rungsschranken einzubauen . So wurden auch Änderun-
gen bereits im Grundgesetz hineinverhandelt, dass die
mittelbare und unmittelbare Beteiligung Dritter an der
Infrastrukturgesellschaft und deren Tochtergesellschaf-
ten ausgeschlossen wird . Außerdem ist ausgeschlossen,
dass sich Private im Rahmen von öffentlich-privaten
Partnerschaften (ÖPP) für Streckennetze, die das gesam-
te Bundesautobahnnetz oder wesentliche Teile davon
betreffen, beteiligen. Wenn man bedenkt, dass insbe-
sondere Bundesverkehrsminister Dobrindt ursprünglich
bis zu 49 Prozent der Gesellschaft an private Investoren
veräußern wollte, ist das ein erstaunliches Verhandlungs-
ergebnis .
Mir persönlich geht das aber nicht weit genug . Denn
das bedeutet auch, dass auf der anderen Seite die Mög-
lichkeit besteht, ÖPP in höherem Maße durchzuführen .
Zudem ist der Begriff „wesentliche Teile“ zu unkonkret,
als dass damit ein wirklicher Ausschluss von Privatisie-
rung garantiert ist . Darüber hinaus wird erstmals gera-
dezu dazu aufgerufen, dass die Sanierung und der Bau
von Schulen durch ÖPP-Vorhaben umgesetzt werden .
Diesem widerspreche ich mit aller Entschiedenheit . Die
Bereitstellung von Bildungsinfrastruktur ist elementare
Aufgabe des Staates .
Des Weiteren ist ein möglicher Wechsel der Rechts-
form, zum Beispiel der GmbH in eine AG, lediglich ein-
fachgesetzlich geregelt . Das heißt, eine andere Bundes-
regierung kann diese Umwandlung ohne eine Änderung
des Grundgesetzes mit einfacher Mehrheit vollziehen .
Gleiches gilt für die Kreditfähigkeit der Gesellschaft .
Es ist zwar nicht erlaubt, dass diese selbst Kredite auf-
nimmt, aber dieser Punkt ist ebenfalls nur einfachgesetz-
lich geregelt . Auch der vorgesehene Parlamentsvorbehalt
ist lediglich einfachgesetzlich geregelt und kann durch
eine andere politische Mehrheit jederzeit verändert wer-
den . Auch die Übernahme des Angestellten ist nur ein-
fachgesetzlich abgesichert . Auch hier besteht die Gefahr,
dass eine andere politische Mehrheit den Abbau von bis-
lang gesicherten Arbeitsplätzen mit Tariflöhnen und gu-
ter Mitbestimmung organisiert .
Für mich ist klar: Die Union wollte von Anfang an
eine echte Privatisierung der Autobahnen und wird das
auch weiterhin vorantreiben . Der vorliegende Kompro-
miss schließt dies nicht vollumfänglich aus, und daher
habe ich ihm nicht zugestimmt . Den weiteren Regelun-
gen, die sich beispielsweise auf die Neuordnung des
neuen Finanzausgleichs oder das Aufheben des Koope-
rationsverbotes im Bildungsbereich beziehen, werde ich
zustimmen .
Sebastian Hartmann (SPD): Der Deutsche Bundes-
tag stimmt heute über die Neuregelung des bundesstaatli-
chen Finanzausgleichssystems ab . Im parlamentarischen
Verfahren ist es der SPD-Bundestagsfraktion gelungen,
wichtige Änderungen am ursprünglich eingebrachten
Gesetzentwurf durchzusetzen:
Erstens . Der Bundestag entscheidet über ein Rege-
lungspaket, das im Vorfeld bereits zwischen allen Mi-
nisterpräsidenten und der Bundesregierung abgestimmt
worden ist . Da die Länder in den Finanzbeziehungen
Erleichterungen durch den Bund erfahren haben, haben
sie im Gegenzug zugestanden, ein Stück ihrer Kompe-
tenz im Bildungsbereich wieder an den Bund zu geben
und in diesem Zusammenhang auch Bau, Planung und
Verwaltung von Bundesstraßen bzw . Autobahnen dem
Bund zu übertragen . Diese Verhandlung auf einer von
der Verfassung nicht vorgesehenen Ebene zwischen
Länderregierungen und Bundesregierung halte ich für
äußerst kritikwürdig . Die Beratungen des Bundestages
wurden deutlich dadurch erschwert, dass die Minister-
präsidenten gemeinsam mit der Bundesregierung ein Ge-
samtpaket völlig unterschiedlicher Regelungsbereiche
verabschiedeten, die im Parlament faktisch nicht mehr
entkoppelt werden können . Der Argumentation, man
könne sich dem heute zu entscheidenden „Gesamtpa-
ket“ an Verfassungsänderungen nicht verschließen, da es
auch sehr viele gute Punkte enthalte, entziehe ich mich
nicht, sondern nehme sie zum Ausgangspunkt meiner
Überlegungen und Argumentation . Deswegen stimme
ich ausdrücklich beispielsweise den Veränderungen im
Bereich der Verbesserungen in der Bildungskooperati-
on sowie zum Unterhaltsvorschuss zu . Dennoch bleibt
das gewählte Verfahren selbst problematisch, eine so
umfangreiche Verfassungsänderung den Abgeordneten
nur im Gesamtpaket vorzulegen . Es widerspricht mei-
nem Verständnis parlamentarischer Arbeit hinsichtlich
so weitreichender Veränderungen der bundesstaatlichen
(Finanz-)beziehungen bis hin zu fachpolitischen Einzel-
fragen und ihrer Regelung in der Verfassung . Aber ich
bin eben nicht der Auffassung, dass es „keine Alternati-
ve“ gebe . Auch andere Verfassungsänderungen wurden
schlussendlich noch einmal geöffnet oder „Paketlösun-
gen“ vermieden . Für zukünftige Verfassungsänderungen
böte sich daher erst recht an, diese in Teilabschnitten
abzustimmen beziehungsweise auch in solchen Blöcken
vorzubereiten . Es böte sich ebenso an, die Zeit einer ge-
samten Legislaturperiode für die Zusammenarbeit zwi-
schen den Delegierten der Länder(parlamente) und des
Bundestages in anderen Strukturen zu nutzen, um dies
vorzuberaten und Fragen des bundesstaatlichen Zusam-
menwirkens zu debattieren . Es kann ja nicht sein, dass
nur der Zusammenschluss zweier sehr großer Fraktionen
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24205
(A) (C)
(B) (D)
aufgrund ihrer Mehrheit wie in dieser Legislaturperiode
überhaupt eine Verfassungsänderung ermöglicht . Dem
stehen schon mutmaßlich andere Mehrheitsverhältnissen
in den Landtagen und damit im Bundesrat argumenta-
tiv entgegen . Im Gegenteil ist dies doch dem Gedanken
der Verfassung selbst geschuldet und der notwendigen
breiten verfassungsändernden Mehrheiten in Bundestag
und Bundesrat . Dort muss es letztendlich zum Zusam-
menwirken vieler politischer Fraktionen in Ländern und
im Bund kommen – nicht getrennt in Opposition und re-
gierungstragende Mehrheiten, sondern entlang der Sache
der verfassungsrechtlich zu regelnden Fragen .
Zweitens . Jenseits der Würdigungen des Verfahrens
der Verfassungsänderung sind die Veränderungen her-
auszustellen, die nun zur Abstimmung stehen . Aus SPD-
Sicht war in dem Regelungspaket von Anfang an die
Ausweitung des Unterhaltsvorschusses zu begrüßen . Für
fast eine Million alleinerziehende Eltern und ihre Kinder
stellt es einen wichtigen Fortschritt dar, dass berufstäti-
ge Alleinerziehende, bei denen das unterhaltspflichtige
Elternteil seinen Verpflichtungen nicht nachkommt, eine
Erweiterung des Anspruches auf staatliche Unterstützung
erfahren . Die Altersgrenze wird von jetzt 12 Jahre auf
18 Jahre angehoben und die zeitliche Befristung von ma-
ximal sechs Jahren abgeschafft. Dieses wird dazu führen,
dass die Doppelbelastung von Job und Kinderbetreuung
besser bewältigt werden kann .
Drittens . Ein großer Erfolg ist auch das Aufbrechen
des Kooperationsverbotes im Bildungsbereich . Der
Bund wird in die Lage versetzt, 3,5 Milliarden Euro für
Bildungsinvestitionen in finanzschwachen Kommunen
bereitzustellen. Eine vollständige Abschaffung des Ko-
operationsverbots im Bildungsbereich bleibt ein wich-
tiges Ziel sozialdemokratischer Politik . Bildung ist eine
gesamtstaatliche Aufgabe . Dies ist aber zwischen den
Koalitionspartnern umstritten .
Viertens . In der Fassung des Regelungspaketes, die in
erster Lesung im Parlament beraten wurde, haben sich
die Länder in Artikel 90 des Grundgesetzes verpflichtet,
unter anderem die Verwaltung der Bundesautobahnen
an den Bund zu geben . Ferner war vorgesehen, dass der
Bund sich dafür einer Gesellschaft privaten in hundert-
prozentigem Bundeseigentum bedienen kann . Allerdings
befürchteten viele Bürgerinnen und Bürger in diesem
Zusammenhang, dass private Investoren über eine Be-
teiligung an der Gesellschaft zumindest mittelbar eine
Privatisierung durch die Hintertür erreichen könnten .
Die Verlautbarungen aus Bundesfinanzministerium und
Bundesverkehrsministerium verstärkten diesen Verdacht .
Auch zivilgesellschaftliche Organisationen und der
Bundesrechnungshof kritisierten das Vorhaben scharf .
Die Gewerkschaft Verdi problematisierte insbesonde-
re Fragen beim Personalübergang . Nach wochenlangen
Verhandlungen liegt nun eine Ergänzung des Verfas-
sungstextes vor, der eine unmittelbare oder mittelbare
Beteiligung Privater an der Gesellschaft und deren Toch-
tergesellschaften ausdrücklich ausschließt . Es ist gelun-
gen, dass alle wechselbereiten Beschäftigten der Stra-
ßenbauverwaltungen der Länder vom Bund übernommen
und grundsätzlich dort eingesetzt werden, wo sie bisher
arbeiten. Ich empfinde es als Bestätigung dieser Position,
dass auch die Gewerkschaft Verdi sowie der Bundesrech-
nungshof die Erfolge des parlamentarischen Verfahrens
ausdrücklich anerkennen . Darüber hinaus werden in der
Debatte sogenannte öffentlich-private Partnerschaften
(ÖPP) problematisiert . Die Partnerschaften gibt es be-
reits – sie werden nicht erst durch das hier vorliegende
Regelungspaket ermöglicht . ÖPP für ganze Streckennet-
ze oder wesentliche Teile werden in der Verfassung ex-
plizit ausgeschlossen . Die SPD-Bundestagsfraktion hätte
sich eine noch weitergehende Regelung gewünscht . Dies
war jedoch mit der CDU/CSU-Fraktion nicht möglich .
Meine Ablehnung der Infrastrukturgesellschaft Ver-
kehr fußt auf drei Kernpunkten: Erstens halte ich die
nun verabredete und gefundene Struktur für nicht effi-
zient und leistungsfähig . So wurde die Übergangsphase
entgegen dem Rat des Bundesrechnungshofes und von
Experten um ein weiteres Jahr verkürzt . Damit droht ein
lähmender und nicht die Funktionsfähigkeiten erhalten-
der Übergangsprozess . Der zweite Punkt ist in der man-
gelnden Absicherung der späteren Finanzierungsstruktur
zu sehen. Zwar wird die Möglichkeit der Beschaffungs-
variante ÖPP deutlich eingeschränkt und auch erstmalig
im Verfassungsrang geklärt . Dennoch ist keine Staatsga-
rantie für die Gesellschaft in die Verfassung aufgenom-
men worden und das Kreditaufnahmeverbot nur einfach-
gesetzlich geregelt . Ein späterer Gesetzgeber kann dies
verändern . Man mag argumentieren, dass ein Gesetzge-
ber alle einfachen Bundesgesetze ändern kann . In diesem
konkreten Fall wird aber durch eine Verfassungsände-
rung der Auftragsverwaltung eine neue Möglichkeit er-
öffnet. Ohne eine Staatsgarantie sind jedoch Kredite der
Gesellschaft teurer als die reine staatliche Finanzierung
durch den Bundeshaushalt . Das dritte Argument fasst
die beiden Problemkreise zusammen . In Kombination
mit einer nicht leistungsfähigen Gesellschaft und einer
nicht ausreichenden Kreditabsicherung droht nach dem
möglichen Willen eines späteren Gesetzgebers eine zu
teure Beschaffung der Infrastruktur. Die verkehrspo-
litischen Bedenken bezüglich zukünftig zugeordneter
Netzstrukturen – aus Bundesautobahnen und willkürlich
gewählten Bundesstraßen – bis hin zu einer begrenzten
Zahl regionaler Strukturen mit Tochtergesellschaften –
die in dieser Form nicht sinnvoll sind – bedrohen auch
die Leistungsfähigkeit der Gesellschaft . Umgekehrt wird
dadurch die Beschaffungsvariante in Form öffentlich-pri-
vater Partnerschaften leider attraktiver . Denn in der Bun-
desrepublik sind Einzel-ÖPP-Projekte nach wie vor als
Hauptkonkurrenz zu konventionellen Beschaffungen des
Staates zu betrachten – auch wenn sie zu teuer sind .
Zusammengefasst ist festzuhalten: Im Gesetzgebungs-
verfahren wurden wesentliche Verbesserungen erreicht
und im aktuellen Entwurf Privatisierungsmöglichkeiten
so weit wie nie zuvor ausgeschlossen . Gleichwohl über-
zeugt mich die Gesamtkonstruktion nicht . Eine geteilte
Aufgabenverantwortung zwischen Bund und Ländern
für die öffentliche Infrastruktur wäre nach Vorschlägen
der Bodewig-II-Kommission jedenfalls in anderer Form
möglich gewesen .
Es ist mir wichtig, abschließend deutlich herauszustel-
len, dass die öffentlich geführte Debatte um eine angeb-
liche „Privatisierung durch die Hintertür“ am Kern der
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724206
(A) (C)
(B) (D)
Fragestellung vorbeigeht . Diese Kampagne kann für die
Entscheidungsfindung nicht ausschlaggebend sein.
In der Abwägung aller vorgenannten Argumente ha-
ben mich konkrete Verhandlungsergebnisse, aber vor al-
lem das verbundene Verfahren zur Grundgesetzänderung
dieses Umfangs zweifeln lassen . Die Sorge um die ge-
wählte Konstruktion und die leistungsfähige Infrastruk-
turgesellschaft waren der Schlusspunkt meiner Entschei-
dung .
Gustav Herzog (SPD): Nach zweijährigen Verhand-
lungen hat sich die Bundeskanzlerin am 14 .10 .2016 mit
den 16 Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten
der Länder auf ein „Reformpaket“ geeinigt . An diesen
Beratungen war der Deutsche Bundestag nicht beteiligt .
Das Gesetzespaket beinhaltet neben der Neuordnung
der Bund-Länder-Finanzen auch die finanzielle Unter-
stützung für finanzschwache Kommunen, die Auswei-
tung des Unterhaltsvorschusses für Alleinerziehende und
die Übertragung der Bundesautobahnen von der Auf-
tragsverwaltung der Länder auf den Bund .
Die Führungsspitzen der Koalitionsfraktionen haben
sich der Vorgabe der „16+1-Runde“ angeschlossen, das
Reformprojekt nur als Paket abzustimmen .
Bis auf die Umstrukturierung der Autobahnverwal-
tung finden die Gesetzesänderungen meine volle Unter-
stützung:
Erstens. Wir sichern die finanzielle Handlungsfähig-
keit von Ländern und Kommunen nach Auslaufen des
Solidarpakts .
Zweitens . Wir brechen das Kooperationsverbot auf
und versetzen den Bund in die Lage, 3,5 Milliarden Euro
in Bildungsinfrastruktur von finanzschwachen Kommu-
nen zu investieren .
Drittens . Wir weiten den Unterhaltsvorschuss aus und
unterstützen damit berufstätige Alleinerziehende und
ihre Kinder .
Die Neuorganisation von Planung, Bau, Unterhal-
tung und Betrieb der Bundesautobahnen ist nach meiner
persönlichen Auffassung aber der falsche Weg, um die
bestehenden Infrastrukturprobleme zu beheben und den
dringend notwendigen Investitionshochlauf voranzubrin-
gen . Ich befürchte, dass die Jahre der Neuorganisation
für einen Stillstand statt für einen Mobilitätsschub sorgen
werden .
Seit vielen Jahren engagiere ich mich in meiner parla-
mentarischen Arbeit für mehr Effizienz in der Verkehrs-
politik und kann deshalb der geplanten Bundesverwal-
tung und damit dem Gesamtpaket nicht zustimmen .
An dieser Stelle möchte ich mich aber ausdrücklich
bei meinen Kolleginnen und Kollegen bedanken, die im
parlamentarischen Verfahren erhebliche Verbesserungen
des Gesetzentwurfs erarbeiten konnten .
Erstens . Eine Privatisierung der Autobahnen und Bun-
desstraßen findet nicht statt; mit dem Gesetz errichten
wir Schranken, wo es vorher keine gab, auch im Grund-
gesetz .
Zweitens . Wir haben die berechtigten Interessen der
Beschäftigten geschützt .
Drittens. Der Einfluss des demokratisch gewählten
Parlaments auf die Verkehrsinvestitionen bleibt gewahrt
und wird meines Erachtens gegenüber heute sogar ver-
bessert .
Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Der Deutsche Bundes-
tag stimmt heute über die Neuregelung des bundesstaatli-
chen Finanzausgleichssystems ab . Im parlamentarischen
Verfahren ist es der SPD-Bundestagsfraktion gelungen,
wichtige Änderungen am ursprünglich eingebrachten
Gesetzentwurf durchzusetzen:
Erstens . Zunächst ist zu beachten, dass der Bundes-
tag über ein Regelungspaket zu entscheiden hat, das im
Vorfeld bereits zwischen allen Ministerpräsidentinnen
und Ministerpräsidenten und der Bundesregierung abge-
stimmt worden ist . Da die Länder in den Finanzbezie-
hungen Erleichterungen durch den Bund erfahren haben,
haben sie im Gegenzug zugestanden, ein Stück ihrer
Kompetenz im Bildungsbereich wieder an den Bund zu
geben und in diesem Zusammenhang auch Bau, Planung
und Verwaltung von Bundesstraßen bzw . Autobahnen
dem Bund zu übertragen . Diese Verhandlung auf einer
von der Verfassung nicht vorgesehenen Ebene zwischen
Länderregierungen und Bundesregierung halte ich für
äußerst kritikwürdig . Die Beratungen des Bundestages
wurden deutlich dadurch erschwert, dass die Ministerprä-
sidentinnen und Ministerpräsidenten gemeinsam mit der
Bundesregierung ein Gesamtpaket völlig unterschied-
licher Regelungsbereiche verabschiedeten, die im Par-
lament faktisch nicht mehr entkoppelt werden können .
Umso beachtlicher sind die Veränderungen, die nun zur
Abstimmung stehen. Unabhängig davon hoffe ich aber,
dass alle Parteien aus dieser Situation zukünftig lernen .
Zweitens . Aus SPD-Sicht war in dem Regelungspaket
von Anfang an die Ausweitung des Unterhaltsvorschus-
ses zu begrüßen . Für fast 1 Million alleinerziehende El-
tern und ihre Kinder stellt es einen wichtigen Fortschritt
dar, dass berufstätige Alleinerziehende, bei denen der un-
terhaltspflichtige Elternteil seinen Verpflichtungen nicht
nachkommt, eine Erweiterung des Anspruches auf staat-
liche Unterstützung erfahren . Die Altersgrenze wird von
jetzt 12 Jahre auf 18 Jahre angehoben und die zeitliche
Befristung von maximal sechs Jahren abgeschafft. Dieses
wird dazu führen, dass die Doppelbelastung von Job und
Kinderbetreuung besser bewältigt werden kann .
Drittens . Ein großer Erfolg ist auch das Aufbrechen
des Kooperationsverbotes im Bildungsbereich . Der Bund
wird in die Lage versetzt, 3,5 Milliarden Euro für Bil-
dungsinvestitionen in finanzschwachen Kommunen be-
reitzustellen . Das Geld geht vom Bund über die Länder
an die Kommunen, die dann vor Ort entscheiden, wie es
investiert wird. Eine vollständige Abschaffung des Ko-
operationsverbots im Bildungsbereich bleibt ein wich-
tiges Ziel sozialdemokratischer Politik . Bildung ist eine
gesamtstaatliche Aufgabe . Leider sträuben sich CDU und
CSU vehement dagegen .
Viertens . In der Fassung des Regelungspaketes, die in
erster Lesung im Parlament beraten wurde, haben sich
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24207
(A) (C)
(B) (D)
die Länder in Artikel 90 des Grundgesetzes verpflich-
tet, unter anderem die Verwaltung der Bundesautobah-
nen an den Bund zu geben . Ferner war vorgesehen, dass
der Bund sich dafür einer Gesellschaft privaten Rechts
bedienen könne . Bereits in dieser Fassung war geregelt,
dass das Eigentum des Bundes an den Autobahnen und
Bundesstraßen unveräußerlich ist . Allerdings befürchte-
ten viele Bürgerinnen und Bürger in diesem Zusammen-
hang, dass private Investoren über eine Beteiligung an
der Gesellschaft zumindest mittelbar eine Privatisierung
durch die Hintertür erreichen könnten . Die Verlautba-
rungen aus Bundesfinanzministerium und Bundesver-
kehrsministerium verstärkten diesen Verdacht . Auch
zivilgesellschaftliche Organisationen und der Bundes-
rechnungshof kritisierten das Vorhaben scharf . Die Ge-
werkschaft Verdi problematisierte insbesondere Fragen
beim Personalübergang .
Nach wochenlangen Verhandlungen liegt nun eine
Ergänzung des Verfassungstextes vor, der eine unmit-
telbare oder mittelbare Beteiligung Privater an der Ge-
sellschaft und deren Tochtergesellschaften ausdrücklich
ausschließt . Dem Engagement der SPD-Bundestagsfrak-
tion ist es zu verdanken, dass somit alle Hintertüren für
eine mögliche Privatisierung in der Verfassung selbst ge-
schlossen worden sind . Zudem ist es gelungen, dass alle
wechselbereiten Beschäftigten der Straßenbauverwal-
tungen der Länder vom Bund übernommen und grund-
sätzlich dort eingesetzt werden, wo sie bisher arbeiten .
Die Verkehrsinfrastrukturgesellschaft ist verpflichtet,
Tarifverträge für alle Beschäftigten abzuschließen . Ich
empfinde es als Bestätigung dieser Position, dass auch
die Gewerkschaft Verdi sowie der Bundesrechnungshof
die Erfolge des parlamentarischen Verfahrens ausdrück-
lich anerkennen .
Darüber hinaus werden in der Debatte sogenannte öf-
fentlich-private Partnerschaften (ÖPP) problematisiert .
Diese Partnerschaften gibt es bereits bei Autobahnpro-
jekten – sie werden nicht erst durch das hier vorliegende
Regelungspaket ermöglicht . Die SPD-Bundestagsfrak-
tion hat sich im parlamentarischen Verfahren dafür ein-
gesetzt, dass der Einfluss von ÖPP mit der vorliegenden
Reform weiter beschränkt wird: Erstmalig werden in der
Verfassung öffentlich-private Partnerschaften für ganze
Streckennetze oder wesentliche Teile explizit ausge-
schlossen . Damit wird im Grundgesetz selbst ein klares
Zeichen gegen die Ausweitung von ÖPP gesetzt . Es wer-
den Möglichkeiten zur Einbeziehung privater Betreiber
und institutioneller Investoren ausgeschlossen, die bis-
lang noch bestehen . Dem Deutschen Bundestag – na-
mentlich dem Haushalts- und dem Verkehrsausschuss –
werden durch die Reform neue Kontrollmöglichkeiten
eingeräumt, die dieser auch im Sinne des Interesses der
Bürgerinnen und Bürger nutzen wird .
ÖPP sind zudem immer nur dann erlaubt, wenn sie
wirtschaftlicher sind als die herkömmliche Beschaffung
(Staat bzw . Gesellschaft bauen und betreiben selbst) –
was bei einer effizient arbeitenden neuen Gesellschaft
seltener der Fall sein wird als in den jetzigen Struktu-
ren (weswegen beispielsweise die österreichische Auto-
bahngesellschaft ASFINAG kein einziges ÖPP-Projekt
macht, obwohl sie könnte) . ÖPP bleibt mit der Neure-
gelung auf Einzelprojekte beschränkt, und durch die von
uns durchgesetzte Grundgesetzänderung ist es dauerhaft
verboten, ein ÖPP-Projekt an das andere zu setzen, bis
irgendwann wesentliche Teile des Autobahnnetzes in ei-
nem Bundesland als ÖPP betrieben würden .
Bereits vor dieser Reform hat die Koalition im aktu-
ellen Bundesverkehrswegeplan 2030 den Anreiz für ÖPP
gemindert, da Gelder nicht mehr nach Ländern, sondern
nach Prioritäten vergeben werden . Auch durch die neu
eingeführten, realistischeren Wirtschaftlichkeitsberech-
nungen werden ÖPP reduziert, ebenso wie das in der
neuen Gesellschaft eingeführte Planungsprinzip nach der
Lebenszeit .
Gemeinsam mit der SPD-Bundestagsfraktion hätte ich
mir dennoch eine weitergehende Eindämmung von ÖPP
gewünscht . Demokratie und das Ringen im parlamenta-
rischen Verfahren bringen jedoch selten Ergebnisse, die
zu 100 Prozent den Forderungen einer einzelnen Fraktion
entsprechen . Ein völliger Ausschluss von ÖPP im Grund-
gesetz, der einer Zweidrittelmehrheit in Bundestag und
Bundesrat bedarf, war in der bestehenden Koalition mit
CDU und CSU leider nicht realisierbar . Wer künftig ÖPP
vollständig verhindern will, muss dafür eintreten, dass
der Staat noch mehr Mittel in die Infrastruktur investiert,
wie wir es als SPD fordern .
Den Gesetzentwürfen stimme ich in der Gesamtab-
wägung der Erfolge und Fortschritte, die die SPD damit
erreicht hat, zu .
Dr. Heribert Hirte (CDU/CSU): Dem Gesetz zur
Neuregelung des bundesstaatlichen Finanzausgleichsys-
tems ab dem Jahre 2020 und zur Änderung haushalts-
rechtlicher Vorschriften stimme ich zu .
Nach eingehender Prüfung überwiegen für mich die
politischen Vorteile des Gesetzes gegenüber den wei-
terhin bestehenden verfahrenstechnischen, verfassungs-
rechtlichen und inhaltlichen Bedenken .
1 . Verfahrenstechnische Bedenken
Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf werden massive
Änderungen an der gelebten Verfassungswirklichkeit
vorgenommen . Insbesondere die (weitere) Abkehr von
dem Kooperationsverbot und die faktische Abschaf-
fung des horizontalen Länderfinanzausgleichs greifen
deutlich in die bisherige Organisation unseres Staates
ein .
Wie bereits bei den letzten beiden Föderalismusrefor-
men der letzten Dekade wäre hier eine frühere Betei-
ligung sowohl des Deutschen Bundestages als auch
der Länderparlamente aufgrund der hohen Bedeutung
der Entscheidung angebracht gewesen . Dies gilt umso
mehr, als die zu regelnden Finanzbeziehungen auf un-
absehbar lange Zeit festgelegt werden .
2 . Verfassungsrechtliche Bedenken
Durch die getroffenen Regeln wird massiv in die föde-
rale Struktur der Bundesrepublik Deutschland einge-
griffen, die mit den Föderalismuskommissionen I und
II auf verlässliche und klare Säulen gestellt wurden .
Die klare Trennung zwischen Aufgaben und Verant-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724208
(A) (C)
(B) (D)
wortlichkeiten von Bund und Ländern wird wieder zu-
rückgenommen und in Teilen sogar aufgegeben .
So erlaubt Artikel 104b Absatz 2-neu nun dem Bund,
Bestimmungen über die Ausgestaltung der jeweiligen
Länderprogramme zur Verwendung der Finanzhilfen
vorzusehen und greift damit massiv in die Verwal-
tungshoheit der Länder ein .
Durch die Abschaffung des horizontalen Länderfinanz-
ausgleiches zugunsten einer vertikalen Verteilung wer-
den die Länder faktisch zu Untereinheiten des Bundes,
von dessen Finanzausstattung sie abhängen; Anreize
für eine Solidarität unter den Bundesländern gehen
damit verloren .
Auch die Finanzausstattung von finanzschwachen
Kommunen im Bereich der Bildung begegnet massi-
ven Bedenken, handelt es sich doch bei Bildung ne-
ben der Inneren Sicherheit um die Kernkompetenz der
Bundesländer, die ausgehöhlt wird .
In gleicher Weise wird mit der Übertragung der Bun-
desfernstraßenverwaltung von den Ländern auf den
Bund den jeweiligen Ländern eine für jeden Bürger
sichtbare Differenzierungsmöglichkeit – und damit
auch ein Teil ihrer Staatlichkeit – genommen .
Eine verfassungsrechtlich sauberere Ausgestaltung zur
Steigerung der Qualität wäre hierbei eine bessere Fi-
nanzausstattung der Länder in Form von höheren An-
teilen an Bundessteuern bzw . die Übertragung (weite-
rer) eigener, auch anpassbarer Steuern gewesen .
Ausdrücklich keine verfassungsrechtlichen Bedenken
bestehen bei der nun auch ausdrücklich möglichen
Teilprivatisierung der Autobahnverwaltung .
3 . Inhaltliche Bedenken
Durch das (erneute) Vermischen von Landes- und Bun-
desaufgaben wird die politische Landschaft sowohl für
Bürger als auch für Mandatsträger deutlich komplexer
und schwerer zu durchschauen . Unter weiterer Be-
rücksichtigung möglicher EU-Förderungen sind nun
zum Beispiel im Schulbereich vier Ebenen mit der
Finanzierung der Infrastruktur betraut (Kommune/
Landkreis als Schulträger, Land, Bund, Europäische
Union) . Nachdem dies jedoch gewollt zu sein scheint,
sollte in Zukunft etwaige Kritik an der Aufgaben- und
Finanzierungsübernahme durch die Europäische Uni-
on wohlbedacht sein .
Die Ausstattung finanzschwacher Kommunen mit
Bundesmitteln im Bereich der Bildung setzt deutliche
Fehlanreize: Zum einen werden Kommunen, die sau-
ber wirtschaften, faktisch benachteiligt, da sie gerade
nicht von Bundeszuschüssen profitieren können. Zum
anderen ist davon auszugehen, dass sich bei einer ver-
stetigten Bundesförderung die Kommunen faktisch
aus der Schulausstattung zurückziehen und eigentlich
dafür vorgesehene Gelder anderweitig verplant wer-
den .
Die Übertragung der Kompetenz für die Bundesfern-
straßenverwaltung auf den Bund wird nicht notwen-
digerweise zu einer grundsätzlichen Verbesserung der
Planungs- und Unterhaltungssituation führen . Viel-
mehr ist – nach dem Beispiel der Bundeswasserstra-
ßenverwaltung – zu befürchten, dass sich das Niveau
auf einem zwar bundeseinheitlichen, aber für viele
Bundesländer deutlich niedrigeren Niveau einpendeln
wird; aufgrund höherer Tarife im Bereich des Bundes
ist zudem von deutlich höheren Personalkosten auszu-
gehen, die letztlich zulasten des Netzes gehen werden .
Auch die Möglichkeit, in beschränkten Teilnetzen öf-
fentlich-private Partnerschaften zur Finanzierung des
Baus und der Unterhaltung einzugehen, überzeugen
nicht . Vielmehr hätte man in diesem Bereich einen
mutigen Schritt weiter zur völligen Öffnung für pri-
vates Investment gehen müssen . Dabei geht es gerade
nicht darum, Verdienstchancen für Private zu steigern,
sondern die erweiterten Möglichkeiten der Privatwirt-
schaft, aber auch deren Haftung in Anspruch zu neh-
men . Dagegen sprechen auch nicht bisherige Beispiele
für missglückte und überteuerte privat(vor-)finanzierte
Projekte. Auch rein öffentlich strukturierte Projekte
wie der Berliner Flughafen, die Elbphilharmonie oder
Stuttgart 21 können völlig aus dem finanziellen Ru-
der laufen. Darum hätte eine vollständige Öffnung für
öffentlich-private Partnerschaften mit einer deutlichen
Steigerung der Kontrolldichte einhergehen müssen,
um sicherzustellen, dass die Leistung eines Privaten
billiger und besser als eine staatliche Leistung wäre .
Alexander Hoffmann (CDU/CSU): Die Neuordnung
der Bund-Länder-Finanzbeziehungen ist eines der wich-
tigsten Reformvorhaben dieser Koalition . Deshalb stim-
me ich den damit verbundenen Grundgesetzänderungen
auch zu . Allerdings möchte ich nicht unerwähnt lassen,
dass ich einige nicht unerhebliche Bedenken habe – gera-
de was die Bundeshilfen für finanzschwache Kommunen
durch den neuen Artikel 104c GG angeht .
So richtig die Absicht ist, die kommunale Bildungsin-
frastruktur zu verbessern, eine faktische teilweise Aufhe-
bung des Kooperationsverbots ist aus meiner Sicht nicht
der richtige Weg . Die Tatsache, dass für eine angemesse-
ne finanzielle Ausstattung der Kommunen das jeweilige
Bundesland zuständig ist, könnte somit in der Wahrneh-
mung eher noch ab- als zunehmen .
Ich habe die Sorge, dass die politischen Zuständigkei-
ten verwässert und dadurch unübersichtlicher werden .
Künftig werden finanzschwache bzw. schlecht regier-
te Bundesländer einfach mit dem Finger auf den Bund
zeigen, wenn Kommunen um Mittel für Sanierungen an
Schulen bitten – und somit von der eigenen Verantwor-
tung ablenken .
Ziel der Föderalismusreform im Jahr 2006 war die
Entflechtung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen, also
die Schaffung klarer Strukturen und Verantwortlichkei-
ten in der Aufgabenwahrnehmung . Mit Artikel 104c GG
setzen wir ein widersprüchliches Signal – und falsche
Anreize .
Wir dürfen an dieser Stelle nicht vergessen, dass nicht
nur der Bund sondern auch die Länder sowie die Kom-
munen in den zurückliegenden Jahren von der hervor-
ragenden wirtschaftlichen Lage und von stets steigen-
den Steuermehreinnahmen kräftig profitiert haben und
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24209
(A) (C)
(B) (D)
weiter enorm profitieren. Zudem hat der Bund in dieser
sowie bereits in der zurückliegenden Legislaturperio-
de die Länder und Kommunen durch eine ganze Reihe
von Beschlüssen – etwa die vollständige Übernahme der
Grundsicherung im Alter und bei Erwerbslosigkeit – in
nie dagewesener Form finanziell entlastet.
Ulrich Kelber (SPD): Der Deutsche Bundestag
stimmt heute über die Neuregelung des bundesstaatli-
chen Finanzausgleichssystems ab . Im parlamentarischen
Verfahren ist es der SPD-Bundestagsfraktion gelungen,
wichtige Änderungen am ursprünglich eingebrachten
Gesetzentwurf durchzusetzen:
Erstens . Zunächst ist zu beachten, dass der Bundes-
tag über ein Regelungspaket zu entscheiden hat, das im
Vorfeld bereits zwischen allen Ministerpräsidenten und
der Bundesregierung abgestimmt worden ist . Da die Län-
der in den Finanzbeziehungen Erleichterungen durch den
Bund erfahren haben, haben sie im Gegenzug zugestan-
den, ein Stück ihrer Kompetenz im Bildungsbereich wie-
der an den Bund zu geben und in diesem Zusammenhang
auch Bau, Planung und Verwaltung von Bundesstraßen
bzw . Autobahnen dem Bund zu übertragen .
Diese Verhandlung auf einer von der Verfassung nicht
vorgesehenen Ebene zwischen Länderregierungen und
Bundesregierung halte ich für kritikwürdig . Die Beratun-
gen des Bundestages wurden deutlich dadurch erschwert,
dass die Ministerpräsidenten gemeinsam mit der Bun-
desregierung ein Gesamtpaket völlig unterschiedlicher
Regelungsbereiche verabschiedeten, die im Parlament
faktisch nicht mehr entkoppelt werden können . Umso
beachtlicher sind die durch die SPD erreichten Verände-
rungen, die nun zur Abstimmung stehen . Unabhängig da-
von hoffe ich aber, dass alle Parteien aus dieser Situation
zukünftig lernen .
Zweitens . Aus SPD-Sicht war in dem Regelungspaket
von Anfang an die Ausweitung des Unterhaltsvorschus-
ses zu begrüßen . Für fast 1 Million alleinerziehende El-
tern und ihre Kinder stellt es einen wichtigen Fortschritt
dar, dass berufstätige Alleinerziehende, bei denen der un-
terhaltspflichtige Elternteil seinen Verpflichtungen nicht
nachkommt, eine Erweiterung des Anspruches auf staat-
liche Unterstützung erfahren . Die Altersgrenze wird von
jetzt 12 Jahre auf 18 Jahre angehoben und die zeitliche
Befristung von maximal sechs Jahren abgeschafft. Dieses
wird dazu führen, dass die Doppelbelastung von Job und
Kinderbetreuung besser bewältigt werden kann .
Drittens . Ein großer Erfolg ist auch das Aufbrechen
des Kooperationsverbotes im Bildungsbereich . Der Bund
wird in die Lage versetzt, sofort ein erstes Programm in
Höhe von 3,5 Milliarden Euro für Bildungsinvestitionen
in finanzschwachen Kommunen bereitzustellen.
Viertens . In der Fassung des Regelungspaketes, die in
erster Lesung im Parlament beraten wurde, haben sich
die Länder in Artikel 90 des Grundgesetzes verpflich-
tet, unter anderem die Verwaltung der Bundesautobah-
nen an den Bund zu geben . Ferner war vorgesehen, dass
der Bund sich dafür einer Gesellschaft privaten Rechts
bedienen könne . Bereits in dieser Fassung war geregelt,
dass das Eigentum des Bundes an den Autobahnen und
Bundesstraßen unveräußerlich ist .
Allerdings befürchteten viele Bürgerinnen und Bürger
in diesem Zusammenhang, dass private Investoren über
eine Beteiligung an der Gesellschaft zumindest mittelbar
eine Privatisierung durch die Hintertür erreichen könn-
ten. Die ersten Verlautbarungen aus Bundesfinanzminis-
terium und Bundesverkehrsministerium verstärkten die-
sen Verdacht . Auch zivilgesellschaftliche Organisationen
und der Bundesrechnungshof kritisierten das Vorhaben
scharf .
Heute aber liegt nun eine Ergänzung des Verfassungs-
textes vor, der eine unmittelbare oder mittelbare Beteili-
gung Privater an der Gesellschaft und deren Tochterge-
sellschaften ausdrücklich ausschließt . Dem Engagement
der SPD-Bundestagsfraktion ist es zu verdanken, dass
somit alle Hintertüren für eine mögliche Privatisierung
in der Verfassung selbst geschlossen worden sind .
Ich empfinde es als Bestätigung dieser Position, dass
auch die Gewerkschaft Verdi sowie der Bundesrech-
nungshof ihre Bedenken aufgrund dieser Änderungen als
ausgeräumt betrachten .
Darüber hinaus wurden in der Debatte sogenannte öf-
fentlich-private Partnerschaften (ÖPP) problematisiert .
Die Partnerschaften gibt es bereits, sie werden nicht
erst durch das hier vorliegende Regelungspaket ermög-
licht . Doch selbst in diesem Bereich konnte nun durch
das parlamentarische Verfahren eine Verbesserung er-
reicht werden: Erstmalig werden in der Verfassung öf-
fentlich-private Partnerschaften für ganze Streckennetze
oder wesentliche Teile explizit ausgeschlossen . Damit
wird im Grundgesetz selbst ein klares Zeichen gegen die
Ausweitung von ÖPP gesetzt .
Die SPD-Bundestagsfraktion hätte sich eine noch wei-
tergehendere Regelung gewünscht . Dies war jedoch mit
der CDU/CSU-Fraktion nicht möglich . Ein Nein zum
Gesetzesentwurf würde aber auf alle Eingrenzungen von
ÖPP verzichten .
Daher stimme ich den Grundgesetzänderungen heute
zu .
Helga Kühn-Mengel (SPD): Der Deutsche Bundes-
tag stimmt heute über die Neuregelung des bundesstaatli-
chen Finanzausgleichssystems ab . Im parlamentarischen
Verfahren ist es der SPD-Bundestagsfraktion gelungen,
wichtige Änderungen am ursprünglich eingebrachten
Gesetzentwurf durchzusetzen:
Erstens . Zunächst ist zu beachten, dass der Bundes-
tag über ein Regelungspaket zu entscheiden hat, das im
Vorfeld bereits zwischen allen Ministerpräsidenten und
der Bundesregierung abgestimmt worden ist . Da die
Länder in den Finanzbeziehungen Erleichterungen durch
den Bund erfahren haben, haben sie im Gegenzug zuge-
standen, ein Stück ihrer Kompetenz im Bildungsbereich
wieder an den Bund zu geben und in diesem Zusam-
menhang auch Bau, Planung und Verwaltung von Bun-
desstraßen bzw . Autobahnen dem Bund zu übertragen .
Diese Verhandlung auf einer von der Verfassung nicht
vorgesehenen Ebene zwischen Länderregierungen und
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724210
(A) (C)
(B) (D)
Bundesregierung halte ich für äußerst kritikwürdig . Die
Beratungen des Bundestages wurden deutlich dadurch er-
schwert, dass die Ministerpräsidenten gemeinsam mit der
Bundesregierung ein Gesamtpaket völlig unterschiedli-
cher Regelungsbereiche verabschiedeten, die im Par-
lament faktisch nicht mehr entkoppelt werden können .
Umso beachtlicher sind die Veränderungen, die nun zur
Abstimmung stehen. Unabhängig davon hoffe ich aber,
dass alle Parteien aus dieser Situation zukünftig lernen .
Zweitens . Aus SPD-Sicht war in dem Regelungspaket
von Anfang an die Ausweitung des Unterhaltsvorschus-
ses zu begrüßen . Für fast 1 Million alleinerziehende El-
tern und ihre Kinder stellt es einen wichtigen Fortschritt
dar, dass berufstätige Alleinerziehende, bei denen der un-
terhaltspflichtige Elternteil seinen Verpflichtungen nicht
nachkommt, eine Erweiterung des Anspruches auf staat-
liche Unterstützung erfahren . Die Altersgrenze wird von
jetzt 12 Jahre auf 18 Jahre angehoben und die zeitliche
Befristung von maximal sechs Jahren abgeschafft. Dieses
wird dazu führen, dass die Doppelbelastung von Job und
Kinderbetreuung besser bewältigt werden kann .
Drittens . Ein großer Erfolg ist auch das Aufbrechen
des Kooperationsverbotes im Bildungsbereich . Der
Bund wird in die Lage versetzt, 3,5 Milliarden Euro für
Bildungsinvestitionen in finanzschwachen Kommunen
bereitzustellen. Eine vollständige Abschaffung des Ko-
operationsverbots im Bildungsbereich bleibt ein wich-
tiges Ziel sozialdemokratischer Politik . Bildung ist eine
gesamtstaatliche Aufgabe . Dies ist aber zwischen den
Koalitionspartnern umstritten .
Viertens . In der Fassung des Regelungspaketes, die in
erster Lesung im Parlament beraten wurde, haben sich
die Länder in Artikel 90 des Grundgesetzes verpflich-
tet, unter anderem die Verwaltung der Bundesautobah-
nen an den Bund zu geben . Ferner war vorgesehen, dass
der Bund sich dafür einer Gesellschaft privaten Rechts
bedienen könne . Bereits in dieser Fassung war geregelt,
dass das Eigentum des Bundes an den Autobahnen und
Bundesstraßen unveräußerlich ist . Allerdings befürchte-
ten viele Bürgerinnen und Bürger in diesem Zusammen-
hang, dass private Investoren über eine Beteiligung an
der Gesellschaft zumindest mittelbar eine Privatisierung
durch die Hintertür erreichen könnten . Die Verlautba-
rungen aus Bundesfinanzministerium und Bundesver-
kehrsministerium verstärkten diesen Verdacht . Auch
zivilgesellschaftliche Organisationen und der Bundes-
rechnungshof kritisierten das Vorhaben scharf . Die Ge-
werkschaft Verdi problematisierte insbesondere Fragen
beim Personalübergang .
Nach wochenlangen Verhandlungen liegt nun eine
Ergänzung des Verfassungstextes vor, der eine unmit-
telbare oder mittelbare Beteiligung Privater an der Ge-
sellschaft und deren Tochtergesellschaften ausdrücklich
ausschließt . Dem Engagement der SPD-Bundestagsfrak-
tion ist es zu verdanken, dass somit alle Hintertüren für
eine mögliche Privatisierung in der Verfassung selbst ge-
schlossen worden sind . Zudem ist es gelungen, dass alle
wechselbereiten Beschäftigten der Straßenbauverwaltun-
gen der Länder vom Bund übernommen und grundsätz-
lich dort eingesetzt werden, wo sie bisher arbeiten . Die
Verkehrsinfrastrukturgesellschaft ist verpflichtet, Tarif-
verträge für alle Beschäftigen abzuschließen . Ich emp-
finde es als Bestätigung dieser Position, dass auch die
Gewerkschaft Verdi sowie der Bundesrechnungshof die
Erfolge des parlamentarischen Verfahrens ausdrücklich
anerkennen .
Darüber hinaus werden in der Debatte sogenannte öf-
fentlich-private Partnerschaften (ÖPP) problematisiert .
Die Partnerschaften gibt es bereits – sie werden nicht
erst durch das hier vorliegende Regelungspaket ermög-
licht . Doch selbst in diesem Bereich konnte nun durch
das parlamentarische Verfahren eine Verbesserung er-
reicht werden: Erstmalig werden in der Verfassung öf-
fentlich-private Partnerschaften für ganze Streckennetze
oder wesentliche Teile explizit ausgeschlossen . Damit
wird im Grundgesetz selbst ein klares Zeichen gegen die
Ausweitung von ÖPP gesetzt .
Die SPD-Bundestagsfraktion hätte sich eine noch wei-
tergehende Regelung gewünscht . Dies war jedoch mit
der CDU/CSU-Fraktion nicht möglich .
Demokratie und das Ringen im parlamentarischen
Verfahren bringen selten Ergebnisse, die zu 100 Prozent
den Forderungen einer einzelnen Fraktion entsprechen .
Wer künftig ÖPP vollständig verhindern will, muss dafür
eintreten, dass der Staat mehr Mittel in die Infrastruk-
tur investiert, wie es die SPD fordert . Ein völliger Aus-
schluss von ÖPP im Grundgesetz, der einer Zweidrittel-
mehrheit in Bundestag und Bundesrat bedarf, war in der
bestehenden Koalition nicht realisierbar . Deshalb werbe
ich für die Anerkennung der Verhandlungserfolge im par-
lamentarischen Verfahren und die Erhöhung des Drucks
auf all die politischen Kräfte, die eine schwarze Null im
Bundeshaushalt über politische Gestaltungsmöglichkei-
ten stellen .
Ich stimme dem Gesetz zu .
Dr. Norbert Lammert (CDU/CSU): Dem Gesetz zur
Neuregelung des bundesstaatlichen Finanzausgleichs-
systems ab dem Jahr 2020 und zur Änderung haushalts-
rechtlicher Vorschriften mit den damit verbundenen
GG-Änderungen stimme ich nicht zu .
An den zweifellos schwierigen Verhandlungen zwi-
schen Bund und Ländern waren – anders als bei den bei-
den Föderalismuskommissionen – Parlamente auf beiden
Seiten nicht beteiligt . Umso wichtiger und zwingend
notwendig ist aber, dass das Resultat dieser Verhandlun-
gen in angemessener Weise parlamentarisch bewertet
wird, zumal es die Finanzbeziehungen zwischen Bund
und Ländern auf unabsehbar lange Zeit festlegt . Das gilt
nicht zuletzt mit Blick auf die im Gesamtpaket dieses
Regelwerkes vorgesehenen Verfassungsänderungen, die
mit mehr als einem Dutzend vorgesehener Ergänzungen
und Änderungen des Grundgesetzes im Umfang, Rege-
lungsehrgeiz und Zeitplan in fast jeder Beziehung aus
dem Rahmen fallen .
Erstens . Der von den Regierungen des Bundes und
der Länder am Ende gefundene Konsens ist im finanzi-
ellen wie vor allem im politischen Sinne viel zu teuer
und verändert die Architektur unserer föderalen Verfas-
sungsordnung nachhaltig . Im Ergebnis ist festzustellen,
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24211
(A) (C)
(B) (D)
dass der – bei allen Schwächen im Grundsatz bewähr-
te – horizontale Länderfinanzausgleich zugunsten einer
neuen, vertikalen Finanzbeziehung zwischen Bund und
Ländern abgeschafft wird. Solidarverpflichtungen mit
Ausgleichsansprüchen zwischen den Ländern wird es
künftig nicht mehr geben . Die Länder werden mehr denn
je zu Kostgängern des Bundes . Sie bezahlen diese An-
sprüche, die sie gegen den Bund erwerben, einmal mehr
mit der Abtretung eigener Kompetenzen an den Bund
und geben erneut Gestaltungsrechte auf, die sie in den
sogenannten „Föderalismusreformen“ erst vor wenigen
Jahren mit Nachdruck eingefordert hatten .
Zweitens. Trotz der weitreichenden finanziellen Ver-
pflichtungen verweigern die Länder dem Bund weiterhin
die seit langem überfällige bundeseinheitliche Steuer-
verwaltung . Dagegen wird ohne zwingenden Grund und
systemwidrig eine Finanzierungsverpflichtung des Bun-
des gegenüber „finanzschwachen Gemeinden im Bereich
der kommunalen Bildungsinfrastruktur“ begründet, für
die er weder fachlich noch bundesstaatlich eine origi-
näre Verantwortung hat; sie wird zu einer dauerhaften
Alimentierung kommunaler Finanzierungsschwächen
führen ohne wirksamen Einfluss und Aussicht auf ihre
Überwindung .
Drittens . Der mühsam gefundene Kompromiss zwi-
schen Bund und Ländern zur Neuregelung des bundes-
staatlichen Finanzausgleichssystems trägt gegenüber
dem bestehenden System zu keiner wesentlichen Ver-
besserung mit Blick auf Gleichwertigkeit der Lebensver-
hältnisse, Transparenz oder Leistungsgerechtigkeit bei .
Im Gegenteil: Die Abhängigkeit der Länder vom Bund
wird noch stärker . Dies ist verfassungsrechtlich wie auch
finanziell hochgradig riskant. Gerade erst überwundene
Verflechtungen von Entscheidungsstrukturen werden in
anderer Form wieder eingeführt . Als Folge drohen Ent-
scheidungsblockaden und Ineffizienz. Die gerade deshalb
unverzichtbare Möglichkeit einer Korrektur ungewollter
Wirkungen wird mit über einem Dutzend in der Form in-
diskutabler und in der Sache teilweise höchst zweifelhaf-
ter GG-Änderungen verfassungsrechtlich betoniert und
damit faktisch irreversibel .
Philipp Graf Lerchenfeld (CDU/CSU): Ich stimme
dem Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes nur mit
großen Bedenken zu .
Durch die verschiedenen Änderungen unseres Grund-
gesetzes im Rahmen der Neuordnung des Länderfinanz-
ausgleichs wird der Föderalismus in Deutschland merk-
lich geschwächt .
Eine wesentliche Säule des Föderalismus, die gegen-
seitige Solidarität der Bundesländer, wird aus rein finan-
ziellen Interessen der Bundesländer aufgegeben . Hinzu
kommt, dass die Mischfinanzierung staatlicher Aufgaben
durch den Bund und die Bundesländer weiter ausgewei-
tet wird . Das wird dazu führen, dass die im Grundgesetz
definierten Verantwortlichkeiten für die unterschiedli-
chen Aufgaben von Bund und Bundesländern in Zukunft
noch weniger erkennbar sein werden .
Die Bundesländer haben bisher die alleinige Verant-
wortung für ihre Kommunen . Dieses Prinzip der Verant-
wortlichkeit der Bundesländer für ihre Kommunen wird
mit den Änderungen des Grundgesetzes nun durchbro-
chen . Weitergehende Informations- und Prüfungsrechte
des Bundes können dies nicht ausgleichen .
Meine Zustimmung zu dieser Änderung des Grundge-
setzes kann ich nur geben, weil die Bundesländer durch
ihr Modell zur Neuordnung des Länderfinanzausgleichs
im Jahr 2015, auf dem diese Änderung des Grundgeset-
zes basiert, selbst diese Schwächung des Föderalismus
herbeigeführt haben .
Zudem kann es durchaus auch aus Gründen der bun-
desstaatlichen Solidarität zweckmäßig sein, finanz-
schwache Kommunen, die von ihrem jeweiligen Bundes-
land finanziell nicht ausreichend ausgestattet werden, bei
der Erfüllung notwendiger Aufgaben zu unterstützen . Es
wäre aber besser gewesen, die Gelegenheit zu ergreifen,
die Finanzverfassung insgesamt neu zu ordnen und dabei
die öffentlichen Körperschaften zur Erfüllung ihrer je-
weiligen Aufgaben entsprechend finanziell auszustatten.
Antje Lezius (CDU/CSU): Ich stimme dem Ge-
setzentwurf zu, gebe aber hiermit meine Bedenken zur
Kenntnis .
Ich halte das System des Föderalismus für richtig und
wichtig . Kommunen und Landesregierungen sollten so
aufgestellt werden und sein, dass sie selbstverantwortlich
für die ihnen ureigenen Aufgaben im Sinne der Bürgerin-
nen und Bürger handeln können . Ich stimme der Aussage
unseres Bundestagspräsidenten Lammert zu, der in einem
Interview im Handelsblatt Folgendes geäußert hat: „Mit
dieser Regelung werden finanzschwache Kommunen in
Zukunft versuchen, möglichst lange finanzschwach zu
gelten, um sich Hilfen des Bundes zu sichern .“
Schon immer klagten die Bundesländer über zu wenig
Geld vom Bund . Mit vielen Projekten haben wir in der
Vergangenheit schon an den Ländern vorbei versucht,
den Kommunen finanziell zu helfen, zum Beispiel die
Schulen mit modernsten Computern auszustatten . Wir
sehen sehr wohl die Notwendigkeit, dass wir, wenn wir
weiterhin eine führende Rolle nach außen beanspruchen
und das Bestmögliche für unsere Bürger und Bürgerin-
nen in unserem Land wollen, eingreifen müssen . Schon
deshalb, weil wir im Moment in der einer guten konjunk-
turellen Lage sind, können wir dies auch tun .
Mein heutiges Stimmverhalten ist eine Ausnahme .
Dies kann und sollte nicht die Regel sein .
Mir ist für die Zustimmung wichtig, dass wir in Zu-
kunft mehr Kompetenzen sowie Steuerungs- und Kon-
trollrechte gegenüber den Ländern haben, darüber hinaus
als Ergänzung ein Kündigungsrecht für den Bundestag .
Verkehrsinfrastruktur muss effizienter und effektiver
werden . Aber eine Privatisierung lehne ich ab .
Die Bildungsinfrastruktur gerade auch in meiner Hei-
mat muss unterstützt werden . Auch die Digitalisierung
muss vorangebracht werden . Hierfür müssen ausreichen-
de Mittel zur Verfügung stehen .
Die Verhandlungen waren angesichts des komplexen
Interessengeflechts nicht einfach. Wenn ich das Ergebnis
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724212
(A) (C)
(B) (D)
aber gesamtstaatlich sehe, ist es notwendig, hier begrenzt
einzugreifen .
Ingbert Liebing (CDU/CSU): Die Neuregelung der
Bund-Länder-Finanzbeziehungen ist ein elementar wich-
tiges Vorhaben der laufenden Wahlperiode . Dabei ist es
richtig und wichtig, das Gesetzgebungsverfahren noch in
dieser Wahlperiode abzuschließen, damit alle Beteiligten
mit ausreichendem Vorlauf Planungssicherheit haben .
Das großzügige finanzielle Engagement des Bundes ist
für viele Kommunen eine große Hilfe, auch wenn Misch-
zuständigkeiten und Mischfinanzierungen zu keiner Klä-
rung von Verantwortung führen, oft als „goldener Zügel“
wirken und die grundgesetzlich garantierte kommunale
Selbstverwaltung eher einschränken . In der Gesamtschau
ist das vorliegende Gesetzespaket wichtig und verdient
deshalb Zustimmung . Dennoch: Teile wecken auch
Skepsis .
Die Einfügung des Artikels 104c GG setzt ein schwie-
riges Signal und falsche Anreize . Statt Bundeshilfen für
finanzschwache Kommunen im Grundgesetz zu normie-
ren, sollten die finanziell zuständigen Länder alles da-
ransetzen, die Finanzschwäche von Kommunen zu be-
heben . Das eigentliche Ziel müsste es sein, dass es keine
finanzschwachen Kommunen gibt. Stattdessen werden
finanzschwache Kommunen jetzt sogar in der Verfassung
verankert .
Ziel der Föderalismusreform 2006 ist gewesen, klare
Strukturen und Verantwortlichkeiten in der Aufgaben-
wahrnehmung durch Bund und Länder zu schaffen. Die-
ses Ziel war richtig und ist weiterhin richtig . Mit Arti-
kel 104c GG wird dieses Ziel ein Stück aus den Augen
verloren . Am Grundsatz, dass für eine aufgabenange-
messene auskömmliche Finanzausstattung der Kommu-
nen die jeweiligen Bundesländer verantwortlich und zu-
ständig sind, ist festzuhalten . Dies gilt nicht nur für den
Bereich der Bildungsinfrastruktur, sondern insgesamt
für alle von den Kommunen auszuführenden Aufgaben .
Aus dieser Sicht besteht durch die Einfügung des Arti-
kel 104c GG die Gefahr, dass ein dauerhafter Fehlanreiz
gesetzt wird, dass Länder künftig Kommunen bei Inves-
titionsbedarf an den Bund verweisen und somit aus der
Erweiterung der Mitfinanzierungsmöglichkeit eine Mitfi-
nanzierungszuständigkeit wird . Wir werden dies kritisch
beobachten . Gut ist auch, dass der Bundesrechnungshof
im Rahmen von Mischfinanzierungen künftig stärkere
Prüfungsrechte hat .
Wir müssen in Zukunft auch aufpassen, dass aus dem
ersten Schritt des Artikel 104c GG mit der Mitfinanzie-
rungsmöglichkeit für den Bund in der Bildungsinfrastruk-
tur finanzschwacher Kommunen keine Allgemeinzustän-
digkeit des Bundes für alle Probleme vor Ort wird . Das
Argument, die Menschen würden es nicht verstehen, dass
der Bund nicht für marode Schulen zuständig sei, ließe
sich genauso auf marode Straßen und Brücken, andere
öffentliche Einrichtungen oder geschlossene Schwimm-
bäder ausdehnen . Der Bund wird aber nicht in der Lage
sein, alle Missstände vor Ort zu lösen – erst recht nicht,
wenn Länder die Hilfen des Bundes unterlaufen und den
Kommunen immer größere Lasten aufbürden, um den
eigenen Landeshaushalt zu schonen . Die SPD-Landesre-
gierungen in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz
haben vorgemacht, wie dieses schlechte Spiel zulasten
der Kommunen funktioniert .
Mit dem neuen Artikel 104c GG ist auch die Aufsto-
ckung des Kommunalinvestitionsförderprogramms von
3,5 Milliarden Euro auf 7 Milliarden Euro verbunden .
Das ist immerhin einmal mehr ein Zeichen, dass wir als
CDU/CSU-geführte Regierungskoalition bereit sind, den
Kommunen zu helfen – wie wir dies in dieser Wahlperio-
de bereits vielfältig getan haben .
Bei aller strukturellen Kritik ergeben sich aus kommu-
naler Sicht aber auch Chancen aus der Neuordnung der
Bund-Länder-Finanzbeziehungen: Die stärkere Berück-
sichtigung der kommunalen Finanzkraft bei der Zutei-
lung der Finanzmittel auf die Länder in Artikel 107 GG
ist ein wichtiger Schritt zur Behebung struktureller kom-
munaler Finanzschwäche . Dabei ist zwingend darauf zu
achten, dass höhere Zuweisungen an die Länder tatsäch-
lich dazu genutzt werden, die Steuerkraftunterschiede
auf Gemeindeebene auszugleichen . Keinesfalls darf aus
Artikel 107 GG ein Anreiz entstehen, die Steuerkraft
der Kommunen zu senken, um höhere Beträge aus der
Verteilung der Finanzmittel auf die Länder zu erhalten,
um diese Finanzmittel dann im Landeshaushalt zu ver-
buchen .
Wichtig ist, dass die vom Bund für die Kommunen be-
reitgestellten Finanzmittel von den Ländern an die Kom-
munen weitergeleitet werden und dann auch ungekürzt
und zusätzlich vor Ort ankommen. Kommunalfinanzen
sind kein Beitrag zur Konsolidierung von Landeshaus-
halten . Eine gekürzte Weiterleitung der Bundesmittel
oder eine Verrechnung im Zuge des kommunalen Finanz-
ausgleichs sind ebenso inakzeptabel wie der Ersatz von
Landesmitteln durch Bundeshilfen beispielsweise bei
Investitionszuschüssen . Die vom Bund zur Verfügung
gestellten Mittel müssen seitens der Länder ungekürzt
und zusätzlich den Kommunen zur Verfügung gestellt
werden, um – in Umsetzung der Bundesintention – deren
Finanzkraft zu stärken . Auch eine Verrechnung im Rah-
men des kommunalen Finanzausgleichs ist unzulässig
und mit der Absicht, die kommunale Selbstverwaltung zu
stärken, unvereinbar . Entsprechende Regelungen in Fi-
nanzausgleichsgesetzen der Länder sind zu korrigieren .
Auch der in der Änderung des Kommunalinvestitions-
förderungsgesetzes fortgeschriebene Verteilungsschlüs-
sel zur Zuteilung der zur Stärkung der kommunalen In-
vestitionskraft vorgesehenen 3,5 Milliarden Euro auf die
Länder ist alles andere als unumstritten . Eine Einbezie-
hung der kommunalen Kassenkredite in den Verteilungs-
schlüssel greift in der vorgenommenen Form für eine
dauerhafte Lösung zu kurz und setzt falsche Anreize . Es
ist Aufgabe der Länder, für eine ausreichende Finanzaus-
stattung der Kommunen zu sorgen und deren Liquidität
zu sichern, sodass die Aufnahme von Kassenkrediten und
ein Ausweichen auf Anleihen und Wertpapierverschul-
dung erst gar nicht erforderlich werden . Haushalterische
Disziplin darf nicht bestraft werden – ebenso wenig An-
sätze der Länder, ihre Kommunen zu entschulden und
vor struktureller Finanzschwäche zu bewahren . Es wäre
schön gewesen, einen besseren Verteilungsschlüssel zu
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24213
(A) (C)
(B) (D)
finden; letztlich ist dies angesichts der vielschichtigen
Interessenslage dieses Mal aber nicht gelungen .
Zur Verantwortung und Zuständigkeit der Länder
für eine aufgabenangemessene Finanzausstattung der
Kommunen gehört auch, Mehrbelastungen aus Aufga-
benübertragungen im Rahmen der Konnexität auszu-
gleichen . Dies gilt insbesondere für die Mehrbelastung
aus der Umsetzung des Unterhaltsvorschussgesetzes .
Wenn die Länder im Bundesrat einer Regelung zustim-
men, die zu Mehrausgaben bei den Kommunen führen,
können sie anschließend nicht auf den Bund verweisen,
sondern müssen diese Mehrausgaben selber ausgleichen .
Der Bund hat seinen Beitrag durch eine Erhöhung des
Bundesanteils an den Leistungsausgaben des Unterhalts-
vorschussgesetzes auf 40 Prozent geleistet . Dies allein
wird jedoch nicht reichen, die Ausgabensteigerungen bei
den Kommunen, bei denen zu den reinen Auszahlungen
noch Kosten für Personal und Sachmittel hinzukommen,
auszugleichen . Hier sind die Länder gefordert, die Betei-
ligung der Kommunen an den vom Land zu tragenden
60 Prozent so zu gestalten, dass es nicht zu kommunalen
Ausgabensteigerungen kommt . Das gilt insbesondere für
Nordrhein-Westfalen mit der mit 80 Prozent höchsten
Beteiligungsquote der Kommunen am Unterhaltsvor-
schussgesetz .
Im Rahmen der Neuordnung der Bund-Länder-Fi-
nanzbeziehungen werden die bislang vom Bund bereit-
gestellten Entflechtungsmittel – ehemals unter anderem
GVFG, sozialer Wohnungsbau – ab dem Jahr 2020 nicht
mehr als eigenes Bundesprogramm, sondern über einen
höheren Umsatzsteueranteil der Länder bereitgestellt .
Das bedeutet, dass nicht nur die investive Zweckbindung
entfällt, sondern dass die Gefahr droht, dass diese Mittel
auch im allgemeinen Haushaltsaufkommen der Länder
zunächst untergehen . Die Länder müssen die bislang in
den Entflechtungsmitteln enthaltenen Finanzhilfen des
Bundes zur Verbesserung der Verkehrsverhältnisse der
Gemeinden künftig den Kommunen über entsprechende
Landesprogramme zur Verfügung stellen. Die Auflösung
der Entflechtungsmittel zugunsten eines höheren Län-
deranteils an der Umsatzsteuer darf auf keinen Fall dazu
führen, dass die bislang bereitstehenden Mittel künftig
nicht mehr zur Verfügung stehen und in Landeshaushal-
ten versickern .
Dr. Claudia Lücking-Michel (CDU/CSU): Nach ein-
gehender Prüfung überwiegen für mich die politischen
Vorteile des Gesetzes gegenüber den weiterhin bestehen-
den verfahrenstechnischen, verfassungsrechtlichen und
inhaltlichen Bedenken . Ich stimme dem Gesetz deshalb
trotz großer Vorbehalte zu .
Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf werden massive
Änderungen an der gelebten Verfassungswirklichkeit
vorgenommen . Insbesondere die (weitere) Abkehr vom
Kooperationsverbot und die faktische Abschaffung des
horizontalen Länderfinanzausgleichs zugunsten einer
neuen vertikalen Finanzbeziehung greifen deutlich in die
bisherige Organisation des Staates ein . Hier wäre eine
stärkere Beteiligung von Anfang an sowohl des Deut-
schen Bundestages als auch der einzelnen Länderparla-
mente aufgrund der hohen Bedeutung der Entscheidung
angebracht gewesen .
Die vorgesehenen Grundgesetzänderungen beein-
trächtigen in erheblichem Umfang die föderale Struktur
unseres Landes und heben die gesetzlichen Regelungen
in der Folge der Arbeit der Föderalismuskommissionen I
und II mit dem Ziel, die Regelungsverantwortung für bis
dahin gemeinschaftlich wahrgenommenen Aufgaben zu
trennen, teilweise wieder auf . Die klare Trennung zwi-
schen Aufgaben und Verantwortlichkeiten von Bund und
Ländern wird wieder zurückgenommen und in Teilen so-
gar aufgegeben .
Die jetzt zu beschließende Inanspruchnahme des Bun-
des bei der Finanzierung der kommunalen Bildungsin-
frastruktur in sogenannten finanzschwachen Kommunen
ohne Möglichkeiten der Einflussnahme des Bundes auf
die Rahmenbedingungen in den geförderten Kommunen
führt zu einer Verschlechterung der Position des Bundes,
der lediglich zahlen soll . Zum anderen wird die Bildungs-
politik als Kernkompetenz der Bundesländer ausgehöhlt .
Die Länder geben erneut Gestaltungsrechte auf .
Den Ländern wird mit diesem Regelungspaket zuge-
standen, dass sie ihre Verantwortung für ureigene Län-
derangelegenheiten gegen Geldzahlungen des Bundes
abgeben . Die Abhängigkeit der Länder vom Bund wird
noch stärker . Der richtige Weg wäre gewesen, die Finan-
zausstattung der Länder so zu verbessern, dass sie ihren
ureigenen Aufgaben gegenüber finanzschwachen Kom-
munen besser nachkommen könnten . Dass Länder Zu-
wendungen des Bundes mit dem Zweck, Kommunen zu
unterstützen, vielfach nur teilweise weitergegeben haben
und teilweise anderweitig verwendet haben, wäre mit an-
deren Mitteln zu unterbinden .
Auf der anderen Seite ist es unstreitig, dass die
Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in Deutschland
eine politisch zentrale Aufgabe ist, bei der sich auch der
Bund nicht einfach aus der Verantwortung ziehen kann .
Durch erhebliche Unterschiede bei der Bildungsausstat-
tung wäre diese Gleichwertigkeit auch langfristig massiv
beeinträchtigt . Diesen gesamtstaatlichen Auftrag anders
als durch die hier zu entscheidenden gesetzlichen Rege-
lungen wahrzunehmen, ist gegenwärtig leider nicht mög-
lich . Erst recht als Bildungspolitikerin könnte ich es ge-
genüber den Schulen zum Beispiel in meinem Wahlkreis
nicht verantworten, ihnen durch eine Ablehnung heute
mögliche Verbesserungen des Lernumfelds vorzuenthal-
ten, für die es sonst kaum eine Chance gäbe .
Kirsten Lühmann (SPD): Dieser Bundestag hat für
die Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur in den letzten
Jahren deutlich mehr Mittel zur Verfügung gestellt, auch
um den Investitionsstau bei unseren Straßen zu beenden .
Organisatorische Mängel verhindern häufig, dass das
zur Verfügung stehende Geld für den Bau von Bundes-
fernstraßen zielgenau und an verkehrlichen Maßstäben
orientiert abfließen kann. Auch bei Planung und Betrieb
gibt es vielerorts unbestreitbaren Optimierungsbedarf .
Das ist auf nahezu allen politischen Ebenen erkannt und
benannt worden . Eine Reform dieser Strukturen ist des-
halb dringend geboten .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724214
(A) (C)
(B) (D)
Neben einer Reform der Auftragsverwaltung war hier-
zu schon länger die Gründung einer Bundesfernstraßen-
gesellschaft im Gespräch, die Planung, Bau und Betrieb
in die Hände des Bundes legt . Da der Bund am besten in
der Lage ist, seine eigenen Prioritäten umzusetzen, und
ich das angesichts des Nachholbedarfs in der Verkehrs-
infrastruktur für notwendig erachte, habe ich diese Idee
immer befürwortet . Ein entsprechendes Konzept, wie es
die Arbeitsgruppen Verkehr, Wirtschaft und Haushalt der
SPD-Bundestagsfraktion vorgelegt haben, fand und fin-
det meine volle Unterstützung .
Der von der Bundesregierung ursprünglich vorgelegte
Entwurf hat den verkehrspolitischen Anforderungen je-
doch zum einen nicht ausreichend Rechnung getragen,
zum anderen gravierende Mängel hinsichtlich Privatisie-
rung, Struktur, Beteiligung der Politik und Mitarbeiter-
rechten aufgewiesen . Er war daher nicht zustimmungs-
fähig . Deshalb haben wir in langen Verhandlungen aus
meiner Sicht wesentliche Änderungen durchgesetzt .
Der häufigste Vorwurf gegen den vorliegenden Vor-
schlag zur Bundesfernstraßengesellschaft ist der, er
ermögliche Privatisierungen durch die Hintertür . Fest-
gemacht wird dies an der Rechtsform der Gesellschaft
mit beschränkter Haftung . Es gibt aber genug Praxisbei-
spiele – zum Beispiel die Verkehrsinfrastrukturfinanzie-
rungsgesellschaft (VIFG) oder die Gesellschaft für Inter-
nationale Zusammenarbeit (GIZ) –, die beweisen, dass
eine GmbH in öffentlichem Besitz nicht gewinnorientiert
sein muss . Hierfür galt es, die notwendigen Schranken
dauerhaft zu setzen . Die von der SPD verhandelten Be-
grenzungen für die Privatisierung sind daher für mich
eine notwendige Voraussetzung für meine Zustimmung .
Den Einfluss von öffentlich-privaten Partnerschaf-
ten (ÖPP) wird mit der vorliegenden Reform weiter
beschränkt . ÖPP für Streckennetze, die das gesamte
Bundesautobahnnetz oder das gesamte Netz sonstiger
Bundesfernstraßen in einem Land oder wesentlicher
Teile davon umfassen, sind ausgeschlossen . Es werden
Möglichkeiten zur Einbeziehung privater Betreiber und
institutioneller Investoren ausgeschlossen, die bislang
noch bestehen . Hier ist der Gesetzentwurf ein echter
Fortschritt . Dem Deutschen Bundestag – namentlich dem
Haushalts- und dem Verkehrsausschuss – werden durch
die Reform neue Kontrollmöglichkeiten eingeräumt, die
dieser auch im Sinne des Interesses der Bürgerinnen und
Bürger nutzen wird .
Bereits vor dieser Reform hat die Koalition im aktu-
ellen Bundesverkehrswegeplan den Anreiz für ÖPP ge-
mindert, da Gelder nicht mehr nach Ländern, sondern
nach Prioritäten vergeben werden . Auch durch die neu
eingeführten, realistischeren Wirtschaftlichkeitsberech-
nungen werden ÖPP reduziert, ebenso wie das in der
neuen Gesellschaft eingeführte Planungsprinzip nach der
Lebenszeit .
Wichtig für mich ist auch, dass mit der vorliegen-
den Reform das wirtschaftliche Eigentum der Bundes-
fernstraßen unveräußerlich beim Bund bleibt . Die neue
Gesellschaft ist lediglich für die Verwaltung zuständig,
auch die Übertragung von Nießbrauchrechten – also die
gewinnbringende Nutzung durch die Gesellschaft – ist
ausgeschlossen . Die Gesellschaft wird auch nicht als
Mautgläubigerin auftreten . Auch eine funktionale Pri-
vatisierung durch die Übertragung eigener Aufgaben der
Gesellschaft auf Dritte ist nicht möglich .
In enger Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften
haben wir zudem die Rechte der Beschäftigten beim
geplanten Personalübergang von den Straßenbauver-
waltungen der Länder auf den Bund festgeschrieben . So
gibt es zum Beispiel ein Widerspruchsrecht gegen den
Übergang, und die besondere Situation des beamteten
Personals wird berücksichtigt . Auch das ist für mich eine
notwendige Voraussetzung für meine Zustimmung .
Bedenken habe ich allerdings, ob ein Wechsel des
Systems ohne größere Friktionen möglich ist und in ab-
sehbarer Zeit die gewünschte größere Effizienz und Ef-
fektivität tatsächlich erreicht werden können . Vielmehr
sind durch die Umstellung deutliche Verzögerungen und
Effizienzverluste möglich. Wichtig ist nun, dass der Ge-
sellschaftsvertrag entsprechend im Sinne einer effizien-
ten Arbeitsweise der neuen Gesellschaft gestaltet wird .
Durch unsere Änderungen am Gesetz wird hierfür das
Parlament zuständig sein .
Obwohl ich weiterhin nicht sicher bin, dass die er-
hofften Verbesserungen mit der vorliegenden Reform der
Straßenbauverwaltung tatsächlich erreicht werden kön-
nen, habe ich bei meiner Entscheidung auch die anderen
Aspekte dieses Gesetzes zu berücksichtigen . Die um-
fassende Reform der Bund-Länder-Beziehungen ist ein
wichtiger Schritt zu einer nachhaltigen Finanzierung der
Länder . Zusätzlich sind die Einschränkung des Koopera-
tionsverbots, das Investitionsprogramm für Kommunen
und der Unterhaltsvorschuss für Alleinerziehende wich-
tige Zukunftsprojekte, die das Leben vieler Menschen
spürbar verbessern werden . In Abwägung dieser Dinge
und angesichts der Tatsache, dass die wesentlichen Män-
gel der Infrastrukturgesellschaft Verkehr einfachgesetz-
lich behoben werden können, stimme ich dem Gesetz-
entwurf zu .
Matern von Marschall (CDU/CSU): Dem Gesetzes-
paket stimme ich zu, allerdings nur unter größten Beden-
ken .
Insbesondere der Aushöhlung des Subsidiaritätsprin-
zips und einer damit einhergehenden Schwächung des
Föderalismus wird dadurch der Weg bereitet, der Weg in
den Zentralstaat . Gerade die Unterstützung sogenannter
finanzschwacher Kommunen durch den Bund, statt wie
bisher durch die Länder, Artikel 104c, ist hier ein Ein-
fallstor für künftig immer neue Forderungen nach mehr
Übertragung von Pflichten und Kompetenzen an den
Bund. Die – finanzschwachen – Länder werden in Zu-
kunft abhängig sein von der Zahlungskraft und dem Wil-
len des Bundes . Diese Schwächung der Länder entspricht
allerdings ihrem eigenen Wunsch . Auch das erscheint
mir falsch und kurzsichtig .
Zudem gerät das Prinzip der Solidarität der Länder un-
tereinander in Gefahr .
Da weiterhin das Land für die Mitteleinsetzung zu-
ständig bleibt, verschiebt sich nun die Kompetenz der
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24215
(A) (C)
(B) (D)
Mittelzuweisung auf Bundesebene . Die Länder sind wei-
terhin verantwortlich dafür, welche Gemeinden und Ge-
meindeverbände förderfähig sind . In der Überzeugung,
dass unsere Bundesländer bewusst mit dieser Kompetenz
umgehen werden, kann ich meine Zustimmung erteilen .
Wir müssen aber an die Länder appellieren, diese
Neustrukturierung nicht als Anreiz zu nehmen, fahrlässig
Schulden anzuhäufen .
Weiterhin muss gelten, dass keine Kommune auf der
Strecke bleiben darf . Ich bin gegen die vollständige Auf-
gabe des Föderalismus in Deutschland und nur dort für
eine zentralistische Regelung, wo sie nötig oder sinnvoll
erscheint .
Susanne Mittag (SPD): Dieser Bundestag hat für
die Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur in den letzten
Jahren deutlich mehr Mittel zur Verfügung gestellt, auch
um den Investitionsstau bei unseren Straßen zu beenden .
Organisatorische Mängel verhindern häufig, dass das
zur Verfügung stehende Geld für den Bau von Bundes-
fernstraßen zielgenau und an verkehrlichen Maßstäben
orientiert abfließen kann. Auch bei Planung und Betrieb
gibt es vielerorts unbestreitbaren Optimierungsbedarf .
Das ist auf nahezu allen politischen Ebenen erkannt und
benannt worden . Eine Reform dieser Strukturen ist des-
halb dringend geboten .
Neben einer Reform der Auftragsverwaltung war hier-
zu schon länger die Gründung einer Bundesfernstraßen-
gesellschaft im Gespräch, die Planung, Bau und Betrieb
in die Hände des Bundes legt . Da der Bund am besten in
der Lage ist, seine eigenen Prioritäten umzusetzen und
ich das angesichts des Nachholbedarfs in der Verkehrs-
infrastruktur für notwendig erachte, habe ich diese Idee
befürwortet . Ein entsprechendes Konzept, wie es die
Arbeitsgruppen Verkehr, Wirtschaft und Haushalt der
SPD-Bundestagsfraktion vorgelegt haben, fand und fin-
det meine volle Unterstützung .
Der von der Bundesregierung ursprünglich vorgelegte
Entwurf hat den verkehrspolitischen Anforderungen je-
doch zum einen nicht ausreichend Rechnung getragen,
zum anderen gravierende Mängel hinsichtlich Privatisie-
rung, Struktur, Beteiligung der Politik und Mitarbeiter-
rechten aufgewiesen . Er war daher nicht zustimmungs-
fähig . Deshalb haben wir in langen Verhandlungen aus
meiner Sicht wesentliche Änderungen durchgesetzt .
Der häufigste Vorwurf gegen den vorliegenden Vor-
schlag zur Bundesfernstraßengesellschaft ist der, er
ermögliche Privatisierungen durch die Hintertür . Fest-
gemacht wird dies an der Rechtsform der Gesellschaft
mit beschränkter Haftung . Es gibt aber genug Praxisbei-
spiele – zum Beispiel die Verkehrsinfrastrukturfinanzie-
rungsgesellschaft (VIFG) oder die Gesellschaft für Inter-
nationale Zusammenarbeit (GIZ) –, die beweisen, dass
eine GmbH in öffentlichem Besitz nicht gewinnorientiert
sein muss . Hierfür galt es, die notwendigen Schranken
dauerhaft zu setzen . Die von der SPD verhandelten Be-
grenzungen für die Privatisierung sind daher für mich
eine notwendige Voraussetzung für meine Zustimmung .
Den Einfluss von öffentlich-privaten Partnerschaf-
ten (ÖPP) wird mit der vorliegenden Reform weiter
beschränkt . ÖPP für Streckennetze, die das gesamte
Bundesautobahnnetz oder das gesamte Netz sonstiger
Bundesfernstraßen in einem Land oder wesentlicher
Teile davon umfassen, sind ausgeschlossen . Es werden
Möglichkeiten zur Einbeziehung privater Betreiber und
institutioneller Investoren ausgeschlossen, die bislang
noch bestehen . Hier ist der Gesetzentwurf ein echter
Fortschritt . Dem Deutschen Bundestag – namentlich dem
Haushalts- und dem Verkehrsausschuss – werden durch
die Reform neue Kontrollmöglichkeiten eingeräumt, die
dieser auch im Sinne des Interesses der Bürgerinnen und
Bürger nutzen wird .
Bereits vor dieser Reform hat die Koalition im aktu-
ellen Bundesverkehrswegeplan den Anreiz für ÖPP ge-
mindert, da Gelder nicht mehr nach Ländern, sondern
nach Prioritäten vergeben werden . Auch durch die neu
eingeführten, realistischeren Wirtschaftlichkeitsberech-
nungen werden ÖPP reduziert, ebenso wie das in der
neuen Gesellschaft eingeführte Planungsprinzip nach der
Lebenszeit .
Wichtig für mich ist auch, dass mit der vorliegen-
den Reform das wirtschaftliche Eigentum der Bundes-
fernstraßen unveräußerlich beim Bund bleibt . Die neue
Gesellschaft ist lediglich für die Verwaltung zuständig .
Auch die Übertragung von Nießbrauchrechten – also die
gewinnbringende Nutzung durch die Gesellschaft – ist
ausgeschlossen . Die Gesellschaft wird nicht als Maut-
gläubigerin auftreten . Eine funktionale Privatisierung
durch die Übertragung eigener Aufgaben der Gesell-
schaft auf Dritte ist ebenfalls nicht möglich .
In enger Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften
haben wir zudem die Rechte der Beschäftigten beim
geplanten Personalübergang von den Straßenbauver-
waltungen der Länder auf den Bund festgeschrieben . So
gibt es zum Beispiel ein Widerspruchsrecht gegen den
Übergang, und die besondere Situation des beamteten
Personals wird berücksichtigt . Auch das ist für mich eine
notwendige Voraussetzung für meine Zustimmung .
Bedenken habe ich allerdings, ob ein Wechsel des
Systems ohne größere Friktionen möglich ist und ob in
absehbarer Zeit die gewünschte größere Effizienz und
Effektivität tatsächlich erreicht werden kann. Vielmehr
sind durch die Umstellung deutliche Verzögerungen und
Effizienzverluste möglich. Wichtig ist nun, dass der Ge-
sellschaftsvertrag im Sinne einer effizienten Arbeitswei-
se der neuen Gesellschaft entsprechend gestaltet wird .
Durch unsere Änderungen am Gesetz wird hierfür das
Parlament zuständig sein .
Obwohl ich weiterhin nicht sicher bin, dass die er-
hofften Verbesserungen mit der vorliegenden Reform der
Straßenbauverwaltung tatsächlich erreicht werden kön-
nen, habe ich bei meiner Entscheidung auch die anderen
Aspekte dieses Gesetzes zu berücksichtigen . Die um-
fassende Reform der Bund-Länder-Beziehungen ist ein
wichtiger Schritt zu einer nachhaltigen Finanzierung der
Länder . Zusätzlich sind die Einschränkung des Koopera-
tionsverbots, das Investitionsprogramm für Kommunen
und der Unterhaltsvorschuss für Alleinerziehende wich-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724216
(A) (C)
(B) (D)
tige Zukunftsprojekte, die das Leben vieler Menschen
spürbar verbessern werden . Damit kann der Bund end-
lich auch in gute Schulen mit moderner IT-Ausstattung
und moderne Klassenräume investieren . Die Finanzmit-
tel in Höhe von insgesamt 3,5 Milliarden Euro bis zum
Jahr 2020 helfen den Ländern und Kommunen, den mas-
siven Sanierungsstau an deutschen Schulen abzubauen .
In Abwägung dieser Dinge und angesichts der Tatsache,
dass die wesentlichen Mängel der Infrastrukturgesell-
schaft Verkehr einfachgesetzlich behoben werden kön-
nen, stimme ich dem Gesetzentwurf zu .
Karsten Möring (CDU/CSU): Ich stimme dem Ge-
setz trotz erheblicher Vorbehalte zu . Meine Gründe erläu-
tere ich nachfolgend .
Die Grundgesetzänderungen beeinträchtigen in er-
heblichem Umfang die föderalistische Struktur unseres
Landes. Der zukünftige Länderfinanzausgleich bekommt
statt der horizontalen Struktur eine vertikale, indem der
Bund in erheblichem Umfang die Länder alimentiert und
der bisherige Solidarausgleich zwischen den Bundeslän-
dern dahinter zurücktritt .
Die gesetzlichen Regelungen in der Folge der Arbeit
der Föderalismuskommissionen I und II mit dem Ziel, die
Regelungsverantwortung für bis dahin gemeinschaftlich
wahrgenommene Aufgaben zu trennen, werden teilweise
aufgehoben . Die jetzt zu beschließende Inanspruchnah-
me des Bundes bei der Finanzierung der kommunalen
Bildungsinfrastruktur in sogenannten finanzschwachen
Kommunen ohne Möglichkeiten der Einflussnahme des
Bundes auf die Rahmenbedingungen in den geförderten
Kommunen führt zudem zu einer Verschlechterung der
Position des Bundes, der lediglich zahlen soll .
Den Ländern wird mit diesem Regelungspaket zuge-
standen, dass sie ihre Verantwortung für ureigene Län-
derangelegenheiten gegen Geldzahlungen des Bundes
abgeben .
Es wäre besser gewesen, die Finanzausstattung der
Länder so zu verbessern, dass sie ihren ureigenen Auf-
gaben gegenüber finanzschwachen Kommunen besser
nachkommen könnten . Dass Länder Zuwendungen des
Bundes mit dem Zweck, Kommunen zu unterstützen,
vielfach nur teilweise weitergegeben haben und teilweise
anderweitig verwendet haben, wäre mit anderen Mitteln
zu unterbinden .
Auf der anderen Seite ist es unstreitig, dass die
Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in Deutschland
durch erhebliche Unterschiede bei der Bildungsausstat-
tung auch langfristig massiv beeinträchtigt wäre . Diesen
gesamtstaatlichen Auftrag anders als durch die hier zu
entscheidenden gesetzlichen Regelungen wahrzuneh-
men, ist gegenwärtig leider nicht möglich . Erst recht
als ehemaliger Schulleiter könnte ich es den Schulen in
meinem Wahlkreis gegenüber nicht verantworten, ihnen
durch eine Ablehnung heute mögliche Verbesserungen
des Lernumfelds vorzuenthalten, für die es sonst kaum
eine Chance gäbe .
Ulli Nissen (SPD): Der Deutsche Bundestag stimmt
heute über die Neuregelung des bundesstaatlichen
Finanz ausgleichssystems ab . Im parlamentarischen
Verfahren ist es der SPD-Bundestagsfraktion gelungen,
wichtige Änderungen am ursprünglich eingebrachten
Gesetzentwurf durchzusetzen:
Erstens . Zunächst ist zu beachten, dass der Bundes-
tag über ein Regelungspaket zu entscheiden hat, das im
Vorfeld bereits zwischen allen Ministerpräsidenten und
der Bundesregierung abgestimmt worden ist . Da die
Länder in den Finanzbeziehungen Erleichterungen durch
den Bund erfahren haben, haben sie im Gegenzug zuge-
standen, ein Stück ihrer Kompetenz im Bildungsbereich
wieder an den Bund zu geben und in diesem Zusam-
menhang auch Bau, Planung und Verwaltung von Bun-
desstraßen bzw . Autobahnen dem Bund zu übertragen .
Diese Verhandlung auf einer von der Verfassung nicht
vorgesehenen Ebene zwischen Länderregierungen und
Bundesregierung halte ich für äußerst kritikwürdig . Die
Beratungen des Bundestages wurden deutlich dadurch er-
schwert, dass die Ministerpräsidenten gemeinsam mit der
Bundesregierung ein Gesamtpaket völlig unterschiedli-
cher Regelungsbereiche verabschiedeten, die im Parla-
ment faktisch nicht mehr entkoppelt werden können .
Zweitens . Die Ausweitung des Unterhaltsvorschusses
begrüße ich ausdrücklich . Sie war längst überfällig . Für
fast 1 Million alleinerziehende Eltern und ihre Kinder
stellt es einen wichtigen Fortschritt dar, dass berufstätige
Alleinerziehende, bei denen der unterhaltspflichtige El-
ternteil seinen Verpflichtungen nicht nachkommt, eine
Erweiterung des Anspruches auf staatliche Unterstüt-
zung erfahren . Die Altersgrenze wird von jetzt 12 Jahre
auf 18 Jahre angehoben und die zeitliche Befristung von
maximal sechs Jahren abgeschafft. Berufstätige Alleiner-
ziehende werden so zum 1 . Juli mehr Geld in der Tasche
haben . Dieses wird dazu führen, dass die Doppelbelas-
tung von Job und Kinderbetreuung besser bewältigt wer-
den kann .
Drittens . Ein großer Erfolg ist auch das Aufbrechen
des Kooperationsverbotes im Bildungsbereich . Der
Bund wird in die Lage versetzt, 3,5 Milliarden Euro für
Bildungsinvestitionen in finanzschwachen Kommunen
bereitzustellen. Eine vollständige Abschaffung des Ko-
operationsverbots im Bildungsbereich bleibt ein wich-
tiges Ziel sozialdemokratischer Politik . Bildung ist eine
gesamtstaatliche Aufgabe . Das ist aber zwischen den Ko-
alitionspartnern umstritten .
Viertens . In der Fassung des Regelungspaketes, die in
erster Lesung im Parlament beraten wurde, haben sich
die Länder in Artikel 90 des Grundgesetzes verpflich-
tet, unter anderem die Verwaltung der Bundesautobah-
nen an den Bund zu geben . Ferner war vorgesehen, dass
der Bund sich dafür einer Gesellschaft privaten Rechts
bedienen könne . Bereits in dieser Fassung war geregelt,
dass das Eigentum des Bundes an den Autobahnen und
Bundesstraßen unveräußerlich ist . Allerdings befürchte-
ten viele Bürgerinnen und Bürger in diesem Zusammen-
hang, dass private Investoren über eine Beteiligung an
der Gesellschaft zumindest mittelbar eine Privatisierung
durch die Hintertür erreichen könnten . Die Verlautba-
rungen aus Bundesfinanzministerium und Bundesver-
kehrsministerium verstärkten diesen Verdacht . Auch
zivilgesellschaftliche Organisationen und der Bundes-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24217
(A) (C)
(B) (D)
rechnungshof kritisierten das Vorhaben scharf . Die Ge-
werkschaft Verdi problematisierte insbesondere Fragen
beim Personalübergang .
Nach wochenlangen Verhandlungen liegt nun eine
Ergänzung des Verfassungstextes vor, der eine unmit-
telbare oder mittelbare Beteiligung Privater an der Ge-
sellschaft und deren Tochtergesellschaften ausdrücklich
ausschließt . Zudem ist es gelungen, dass alle wechsel-
bereiten Beschäftigten der Straßenbauverwaltungen der
Länder vom Bund übernommen und grundsätzlich dort
eingesetzt werden, wo sie bisher arbeiten . Die Verkehr-
sinfrastrukturgesellschaft ist verpflichtet, Tarifverträge
für alle Beschäftigen abzuschließen .
Dennoch gehen mir die Regelungen zur Eingrenzung
der Privatisierung bei den Bundesstraßen nicht weit ge-
nug . Wesentliche Regelungen zur Eingrenzung werden
in Artikelgesetzen geregelt, diese können bei anderen
Mehrheiten im Parlament geändert werden . Auch gehen
mir die Regelungen zu den sogenannten öffentlich-pri-
vaten Partnerschaften (ÖPP) nicht weit genug . Deshalb
werde ich bei den Grundgesetzänderungen in Artikel 90
und 143e mit Nein stimmen .
Dem Gesamtpaket jedoch habe ich zugestimmt . Für
mich überwiegt das Interesse an der Reform des Unter-
haltsvorschusses, das Interesse an erheblichen Bildungs-
investitionen und das Interesse an der Neuordnung der
Bund-Länder-Finanzen gegenüber der Einführung einer
Infrastrukturgesellschaft, die die Auftragsverwaltung für
Bundesstraßen übernehmen soll .
Eckhard Pols (CDU/CSU): Im Rahmen der heutigen
namentlichen Abstimmung stimme ich dem Gesetzent-
wurf der Bundesregierung, Drucksache 18/11131, zu .
Meine Zustimmung zum neuen Artikel 104c Grund-
gesetz resultiert dabei aus meiner tiefen Überzeugung,
dass alle Menschen das Recht auf gute Bildung haben,
was eine gute Bildungsinfrastruktur voraussetzt . Dies
sollte grundsätzlich nicht am Geld scheitern . Der Bund
ist sich seiner Verantwortung bewusst und verdoppelt in
Verbindung mit der Einführung des Artikels 104c Grund-
gesetz seinen Kommunalinvestitionsförderungsfonds zur
Unterstützung finanzschwacher Kommunen auf 7 Milli-
arden Euro . Das ist sehr gut, und das unterstütze ich .
Kritisch sehe ich dagegen, dass Artikel 104c Län-
der dazu animieren könnte, sich aus der Finanzierung
der Kommunen weiter zurückzuziehen, wozu ihnen die
Misch zuständigkeit und Mischfinanzierung im Bereich
der kommunalen Bildungsinfrastruktur eine Gelegen-
heit bietet . Vor allem hinsichtlich der von SPD und den
Grünen regierten Länder habe ich diese Sorge, wenn ich
einen Blick in die Vergangenheit werfe . Ich habe die
ernsthafte Befürchtung, dass Länder bei Investitionsbe-
darf regelmäßig an den Bund verweisen und sich die Er-
weiterung der Mitfinanzierungsmöglichkeit zu einer fak-
tischen Mitfinanzierungspflicht entwickelt, obwohl die
Kommunen ausdrücklich Gliederungen der Länder sind,
nicht des Bundes . Die Föderalismusreform von 2006 hat-
te das Ziel, solche für die Bürgerinnen und Bürger ver-
wirrenden Situationen durch klare Verhältnisse zwischen
Bund und Ländern zu vermeiden . Von dieser Maxime
kehrt man nun aber leider ein Stück weit ab .
Ebenso werden die Mischzuständigkeit und Mischfi-
nanzierung der kommunalen Bildungsinfrastruktur wie
„goldene Zügel“ wirken, die die grundgesetzlich garan-
tierte kommunale Selbstverwaltung unterhöhlen . Als en-
gagierter Kommunalpolitiker sehe ich diese Entwicklung
mit Skepsis und stimme dem Gesetzentwurf daher auch
nur unter dem beschriebenen Vorbehalt zu .
Mechthild Rawert (SPD): Im Deutschen Bundestag
wird am 1 . Juni 2017 über ein komplexes Gesetzespaket
abgestimmt, welches aus vier keineswegs miteinander in
Verbindung stehenden Regelungsbereichen besteht . Das
ist durchaus ein Problem für mich, und erforderte harte
Abwägungsprozesse . Insgesamt gibt es neun Abstim-
mungen . In der dritten Lesung werde ich dem Gesamt-
paket zustimmen – vor allem auch, weil damit wichtige
Änderungen in Kraft treten, von denen wir in Berlin stark
profitieren werden. Tempelhof-Schöneberg und Berlin
sind nicht nur mein politisches und privates Zuhause .
Für das Wohlergehen der Tempelhof-Schöneberger und
-Schönebergerinnen und Berliner und Berlinerinnen tra-
ge ich eine besondere Verantwortung .
Das Gesetzespaket ist das Ergebnis langjähriger Ver-
handlungen und der Einigung zwischen allen Minister-
präsidenten und Ministerpräsidentinnen und dem Bund .
Kernpunkt des Pakets ist die Neuregelung des Bund-Län-
der-Finanzausgleichs ab dem Jahr 2020 . Zusätzlich wer-
den ab 2020 den Ländern und Kommunen insgesamt
9,7 Milliarden Euro vom Bund zur Verfügung gestellt,
an die allerdings an strukturelle Veränderungen geknüpft
sind. Die finanziellen Mittel dienen nicht nur der Sanie-
rung von Schulen, sondern auch der Digitalisierung und
Modernisierung der Verwaltung .
Mit der von uns Sozialdemokraten und Sozialdemo-
kratinnen hart erkämpften Auflockerung des Kooperati-
onsverbotes zwischen Bund und Ländern im Bildungs-
bereich werden Gelder für die Bildungsinfrastruktur in
finanzschwachen Kommunen zur Verfügung gestellt, um
beispielsweise Schulgebäude zu sanieren und zu moder-
nisieren . Dafür stehen weitere 3,5 Milliarden Euro zur
Verfügung . Das Geld geht vom Bund über die Länder
an die Kommunen, die dann vor Ort entscheiden, wie
es investiert wird . Die Neuregelung bringt für Berlin
Rechts- und Planungssicherheit für den Zeitraum von
2020 bis 2030 . Ohne die Neuregelung würden Berlin cir-
ca 495 Millionen Euro pro Jahr fehlen . Der Wegfall der
Solidarpaktmittel, Entflechtungsmittel und Konsolidie-
rungshilfen würde zu schweren Risiken im Landeshaus-
halt führen und wichtige Investitionen verhindern . Für
uns Berliner und Berlinerinnen bedeutet die Neuregelung
im Klartext, dass wir die Finanzierung unseres 5-Milli-
arden-Schulsanierungsprogramms in den nächsten zehn
Jahren sichergestellt haben .
Ein weiterer Punkt ist die Neuregelung des Unter-
haltsvorschusses für Alleinerziehende . Viele haben ein
Riesenproblem, wenn der unterhaltspflichtige Elternteil
nicht zahlt . Mit der Neuregelung wird der Unterhalt dem-
nächst über das 12 . Lebensjahr hinaus bis zum 18 . Le-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724218
(A) (C)
(B) (D)
bensjahr des Kindes sichergestellt . Dies ist eine immense
Hilfe für viele alleinerziehende Eltern, die einem großen
Armutsrisiko ausgesetzt sind . Von dieser Verbesserung
werden bundesweit über 260 000 Kinder profitieren. Ich
freue mich darüber, dass diese von uns Sozialdemokra-
ten und Sozialdemokratinnen erkämpften Investitionen
direkt bei den Familien ankommen .
Der sicherlich umstrittenste und schwierigste Teil des
Gesetzespaketes ist die Infrastrukturgesellschaft Verkehr .
Der ursprüngliche Gesetzentwurf der Bundesregierung
hatte hier die Tür für massive Privatisierungen geöffnet,
die bei uns Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen
und vielen anderen Vereinen, Verbänden und Organi-
sationen auf massiven Widerstand gestoßen sind . Als
SPD-Bundestagsfraktion konnten wir bei den parlamen-
tarischen Beratungen nun aber Regelungen durchsetzen,
die die Privatisierung des Bundesautobahn- und Bun-
desfernstraßennetzes verhindern . Ich habe mich für eine
Infrastrukturgesellschaft Verkehr als Anstalt des öffentli-
chen Rechts und nicht in einer privaten Rechtsform ein-
gesetzt . Deswegen habe ich in der zweiten Lesung gegen
diese Änderung des Grundgesetzes gestimmt .
Im Laufe der Verhandlungen über die Verwaltung und
den Bau von Autobahnen und Bundesfernstraßen konnte
die SPD-Fraktion eine doppelte Privatisierungsschranke
im Grundgesetz verankern, die mögliche Privatisierungs-
risiken unterbindet . Dadurch werden nicht nur die Bun-
desfernstraßen selbst im unveräußerlichen und hundert-
prozentigen Eigentum des Bundes bleiben, sondern auch
die Infrastrukturgesellschaft, die für deren Planung, Bau
und Betrieb zuständig sein wird . Eine unmittelbare oder
mittelbare Beteiligung Dritter an der Infrastrukturgesell-
schaft oder deren Tochtergesellschaften wird ebenfalls
ausgeschlossen . Außerdem wird auch die funktionale Pri-
vatisierung durch die Übertragung eigener Aufgaben der
Gesellschaft auf Dritte, zum Beispiel durch sogenannte
Teilnetz-ÖPPs verhindert . Ein vollständiger Ausschluss
von öffentlich-privaten Partnerschaften (ÖPP) war gegen
den Widerstand von CDU/CSU nicht durchsetzbar . Die
erreichte Begrenzung auf Teilstücke ist aber ein deutli-
cher Fortschritt gegenüber dem bestehenden Rechtsrah-
men . ÖPP werden im Grundgesetz nun zum ersten Mal
überhaupt eingeschränkt .
Das wirtschaftliche Eigentum an den Bundesfern-
straßen bleibt beim Bund, dieser ist Mautgläubiger der
Lkw-Maut und der Pkw-Maut . Die neue bundeseigene
Infrastrukturgesellschaft wird vollständig staatlich über
den Bundeshaushalt finanziert und darf keine Kredite
von Dritten aufnehmen .
Die demokratische Kontrolle ist auch gesichert: Mit-
glieder des Deutschen Bundestages werden im Auf-
sichtsrat der Infrastrukturgesellschaft vertreten sein, und
der Bundesrechnungshof kontrolliert die Gesellschaft .
Mit diesen Änderungen können wir sicherstellen, dass
die theoretisch möglichen Hintertüren für eine Privatisie-
rung fest verschlossen sind .
Als Sozialdemokratin liegt mir die Zukunft der circa
11 000 Beschäftigten, die von den Straßenbauverwaltun-
gen der Länder künftig zum Bund wechseln sollen, sehr
am Herzen . Wir konnten die Kernforderungen der Ge-
werkschaften nach Überleitungstarifverträgen durchset-
zen und die Interessen der Beschäftigten unter Wahrung
ihrer Besitzstände schützen . Wir haben viel erreicht: Das
wurde uns von Verdi auf der SPD-Fraktionssitzung am
30 .05 .2017 auch bestätigt .
Auch der Bundesrechnungshof und andere Sachver-
ständige, die den ursprünglichen Entwurf der Bundes-
regierung zu Recht scharf kritisierten, haben uns ihre
positive Bewertung durch die Änderungen des Gesetz-
entwurfes bestätigt .
Unter Abwägung aller Gesichtspunkte kann ich sagen,
dass im Ergebnis ein Gesetzespaket zustande kam, dem
ich als Berliner SPD-Abgeordnete zustimmen kann . Er-
reicht wird vor allem ein großer Erfolg für Berlin, von
dem unsere Schulen, unsere Verwaltung und die Berliner
Familien in hohem Maße profitieren werden.
Andreas Rimkus (SPD): Heute stimmen wir über
das Gesetzespaket zur Neuregelung des bundesstaatli-
chen Finanzausgleichs ab . Ausgangspunkt dieses Ge-
setzgebungsverfahrens war eine Einigung zwischen al-
len 16 Landesregierungen und der Bundesregierung im
Oktober und Dezember 2016 über ein Paket von Maß-
nahmen, die zum Teil Änderungen des Grundgesetzes
erfordern, zum Teil einfachgesetzlich geregelt werden .
Kernpunkt des Pakets ist die Neuregelung des Länderfi-
nanzausgleichs ab dem Jahr 2020 . In dem Paket enthalten
ist auch eine Lockerung des Kooperationsverbots im Bil-
dungsbereich, die es dem Bund ermöglicht, Geld für Bil-
dungsinfrastruktur in finanzschwachen Kommunen zur
Verfügung zu stellen, um beispielsweise Schulgebäude
zu sanieren und zu modernisieren . 3,5 Milliarden Euro
stehen dafür zur Verfügung . Das Geld geht vom Bund
über die Länder an die Kommunen, die dann vor Ort ent-
scheiden, wie es investiert wird .
Des Weiteren wird im Rahmen des Pakets der Unter-
haltsvorschuss neu geregelt, den Alleinerziehende erhal-
ten, wenn der eigentlich unterhaltspflichtige Elternteil
nicht zahlt: Künftig wird nicht nur bis zum 12 . Geburts-
tag des Kindes gezahlt, sondern bis zum 18 . Geburtstag,
und während bislang maximal sechs Jahre lang gezahlt
wurde, entfällt diese Befristung künftig komplett .
Ein weiteres Element des Paketes sind die Gesetzent-
würfe, mit denen Verwaltung und Bau von Autobahnen
und sonstigen Bundesfernstraßen in Deutschland neu ge-
ordnet werden . Schon mit dem Kabinettsbeschluss ist es
der SPD gelungen, eine doppelte Privatisierungsschran-
ke im Gesetzentwurf der Regierung zur Änderung des
Grundgesetzes durchzusetzen . Im Grundgesetz selbst
wird deswegen in Artikel 90 geregelt werden, dass nicht
nur die Bundesfernstraßen selbst im unveräußerlichen,
hundertprozentigen Eigentum des Bundes stehen, son-
dern auch die Infrastrukturgesellschaft, die für deren Pla-
nung, Bau und Betrieb zuständig sein wird . CDU-Finanz-
minister Schäuble und CSU-Verkehrsminister Dobrindt
wären bereit gewesen, 49 Prozent dieser Gesellschaft an
private Investoren zu verkaufen . Das haben wir schon
verhindert, noch bevor das Gesetzgebungsverfahren den
Bundestag erreicht hat .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24219
(A) (C)
(B) (D)
Ich habe viele Zuschriften zu diesem Thema erhalten .
Viele Bürgerinnen und Bürger haben mich gebeten, ei-
ner Autobahnprivatisierung nicht zuzustimmen . Für die
SPD-Fraktion war dies wichtiger Rückenwind in den
Verhandlungen mit der Unionsfraktion, die bereit gewe-
sen wäre, einen wesentlichen Teil dieser Gesellschaft an
private Investoren zu verkaufen . Dies hat die SPD erfolg-
reich verhindert und zusätzlich harte Schranken für Pri-
vatisierungsvorhaben geschaffen.
Auch die wichtige Aufweichung des Kooperations-
verbotes, die es uns endlich ermöglicht, in Schulinfra-
struktur zu investieren und somit in die Zukunft unserer
Kinder, sowie die Neuregelung des Unterhaltsvorschus-
ses, die eine echte Entlastung für viele Alleinerziehende
in diesem Land ist, wiegen so schwer, dass ich diesem
Paket zustimmen werde . Als Sozialdemokrat kann ich
die Schülerinnen und Schüler sowie alleinerziehende
Väter und Mütter an dieser Stelle nicht im Stich lassen .
Am Ende ist das verkehrspolitische Ziel der SPD, die
neue Gesellschaft so zu gestalten, dass sie als gemein-
wohlorientierte Einrichtung für ein effizientes Auto-
bahnnetz in Deutschland sorgt, das allen Menschen in
unserem Land zugute kommt . Ein Ausverkauf unserer
Verkehrsinfrastruktur wird es mit einer Regierungsbetei-
ligung der SPD auch in Zukunft nicht geben .
Die SPD hat sich im Laufe des gesamten Verfahrens
gegen eine Privatisierung der deutschen Autobahnen und
Bundesstraßen gestellt und diese Position auch im Ge-
setzgebungsverfahren zur Neuregelung der Bund-Län-
der-Finanzbeziehungen durchgesetzt .
In intensiven und schwierigen Verhandlungen mit
CDU/CSU haben wir als SPD-Bundestagsfraktion nun
zwei weitere Grundgesetzänderungen durchgesetzt, ob-
wohl die Union dies vorher ausdrücklich ausgeschlossen
hat . Dies ist ein besonderer Erfolg der SPD!
Eine unmittelbare oder mittelbare Beteiligung Dritter
an der Infrastrukturgesellschaft und deren Tochtergesell-
schaften wird in Artikel 90 Absatz 2 des Grundgesetzes
ausgeschlossen . Damit ist klar: Die Gesellschaft bleibt zu
100 Prozent staatlich, null Prozent privat .
Ausgeschlossen wird auch eine funktionale Priva-
tisierung durch die Übertragung eigener Aufgaben der
Gesellschaft auf Dritte, zum Beispiel durch sogenannte
Teilnetz-ÖPP . In Artikel 90 Absatz 2 des Grundgesetzes
wird dazu der Satz eingefügt: „Eine Beteiligung Priva-
ter im Rahmen von Öffentlich-Privaten Partnerschaften
ist ausgeschlossen für Streckennetze, die das gesamte
Bundesautobahnnetz oder das gesamte Netz sonstiger
Bundesfernstraßen in einem Land oder wesentliche Teile
davon umfassen .“ Einfachgesetzlich wird geregelt, dass
öffentlich-private Partnerschaften (ÖPP) nur auf der Ebe-
ne von Einzelprojekten bis maximal 100 Kilometer Län-
ge erfolgen, die nicht räumlich miteinander verbunden
sein dürfen .
Mit diesen Grundgesetzänderungen und vielen ein-
fachgesetzlichen Änderungen stellen wir sicher, dass
auch theoretisch mögliche Hintertüren für eine Privati-
sierung fest verschlossen sind . Vieles, was bislang recht-
lich möglich gewesen wäre bei der Einbeziehung privater
Betreiber und institutioneller Investoren, ist jetzt erstmals
rechtlich ausgeschlossen . Manche Kritiker und manche
Kampagne haben absurderweise gerade uns als SPD in
den letzten Wochen unterstellt, mit den Grundgesetzän-
derungen würden wir die Türen für eine Privatisierung
öffnen. Das Gegenteil ist richtig: Wir schließen Türen,
die bislang offen standen!
Dies bestätigt uns auch der Bundesrechnungshof
(BRH), der das Gesetzgebungsverfahren mit mehreren
Berichten begleitet hat . In seinem jüngsten Bericht vom
24 . Mai 2017 gleicht der BRH die Empfehlungen aus
seinen Berichten mit den Änderungsanträgen der Koa-
litionsfraktionen ab und kommt zusammenfassend unter
anderem zu folgenden Ergebnissen:
Der Änderungsantrag berücksichtigt in weiten Tei-
len die Anregungen des Bundesrechnungshofes zur
Organisation der Infrastrukturgesellschaft . Danach
muss das Parlament einem möglichen Rechtsform-
wechsel der Infrastrukturgesellschaft zustimmen .
Darüber hinaus ist jegliche Privatisierung der Bun-
desautobahnen ausgeschlossen . Die Gründung von
regionalen Tochtergesellschaften ist nicht mehr
zwingend vorgegeben, sondern steht nunmehr im
Ermessen der Infrastrukturgesellschaft . Der Ände-
rungsantrag enthält Regelungen zur Finanzierung
der Infrastrukturgesellschaft, die die Empfehlun-
gen des Bundesrechnungshofes berücksichtigen . So
soll auch künftig der Bundesautobahnbau über den
Bundeshaushalt finanziert werden. Dazu sollen der
Infrastrukturgesellschaft Mauteinnahmen zur Ver-
fügung gestellt werden. Überdies soll der Einfluss
des Parlamentes auf die Verwaltung der Bundes-
autobahnen gewahrt bleiben . Anstatt der ursprüng-
lich geplanten staatsfernen soll eine staatsnahe In-
frastrukturgesellschaft entstehen . Zudem sollen die
Kreditfähigkeit der Infrastrukturgesellschaft einge-
schränkt sowie stille Gesellschaften und Unterbetei-
ligungen verhindert werden .
Im Ergebnis haben wir als SPD die doppelte Privati-
sierungsschranke des Regierungsentwurfs (Bund ist hun-
dertprozentiger Eigentümer erstens der Autobahnen und
zweitens der Autobahngesellschaft) mit weiteren Privati-
sierungsschranken verstärkt .
Neben den beiden Grundgesetzänderungen verweise
ich auf folgende Punkte, die in der öffentlichen Diskus-
sion immer wieder auftauchen und oft falsch dargestellt
werden:
Die Gesellschaft wird nicht kreditfähig . Damit ist die
Gefahr einer Aufnahme von privatem Kapital zu hohen
Zinsen gebannt. Um effizient wirtschaften und „atmen“
zu können, kann die Gesellschaft aber Liquiditätshilfen
(zinslose Darlehen) aus dem Bundeshaushalt erhalten,
wie andere Bundesgesellschaften auch .
Eine Übertragung von sogenannten Altschulden auf
die Gesellschaft wird ausgeschlossen .
Das wirtschaftliche Eigentum an den Bundesautobah-
nen geht nicht auf die Gesellschaft über, sondern bleibt
beim Bund . Die Übertragung und die Überlassung von
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724220
(A) (C)
(B) (D)
Nießbrauchrechten und anderen Rechten werden ausge-
schlossen .
Mautgläubiger der Lkw-Maut und der Pkw-Maut
bleibt der Bund . Die Option, dass die Gesellschaft das
Mautaufkommen direkt vereinnahmen kann, wird gestri-
chen .
Die neue Gesellschaft wird als GmbH errichtet und da-
mit als juristische Person des privaten Rechts . Es ist aber
grob irreführend, „privatrechtlich“ mit „Privatisierung“
gleichzusetzen . Deutschland organisiert zum Beispiel
einen Großteil seiner internationalen Entwicklungshilfe
über die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusam-
menarbeit (GIZ), die ebenfalls eine GmbH ist . Trotzdem
hat wohl noch niemand ernsthaft behauptet, Deutschland
habe seine Entwicklungshilfe privatisiert .
Genauso irreführend ist die Behauptung, durch die
Zulässigkeit einzelner ÖPP-Projekte werde die Privati-
sierung eben doch noch ermöglicht .
Erstens. Eine öffentlich-private Partnerschaft ist nicht
das Gleiche wie Privatisierung .
Aber selbst wenn man das annehmen möchte, gilt
zweitens: ÖPP sind immer nur dann erlaubt, wenn sie
wirtschaftlicher sind als die herkömmliche Beschaffung
(Staat bzw . Gesellschaft bauen und betreiben selbst) –
was bei einer effizient arbeitenden neuen Gesellschaft
seltener der Fall sein wird als in den jetzigen Struktu-
ren (weswegen beispielsweise die österreichische Auto-
bahngesellschaft ASFINAG kein einziges ÖPP-Projekt
macht, obwohl sie könnte) .
Drittens und aus meiner Sicht am wichtigsten: ÖPP
bleibt auf Einzelprojekte beschränkt, und durch die von
uns durchgesetzte Grundgesetzänderung ist es dauerhaft
verboten, ein ÖPP-Projekt an das andere zu setzen, bis
irgendwann wesentliche Teile des Autobahnnetzes oder
des Bundesstraßennetzes in einem Bundesland als ÖPP
betrieben werden .
Uns Sozialdemokraten war aber nicht nur der Aus-
schluss von Privatisierungsoptionen wichtig, sondern
auch die Zukunft der Beschäftigten, die gegenwärtig
in den Straßenbauverwaltungen der Länder beschäftigt
sind und künftig zum Bund wechseln sollen . Wir haben
Kernforderungen der Gewerkschaften durchgesetzt, um
die berechtigten Interessen der Beschäftigten zu schützen
und eine leistungsfähige neue Organisation zu schaffen,
die ein attraktiver Arbeitgeber wird . So wird der Bund
alle wechselbereiten Beschäftigten (Beamte, Arbeitneh-
mer und Auszubildende) unter Wahrung ihrer Besitzstän-
de übernehmen (keine „Rosinenpickerei“) . Nicht wech-
selbereite Beschäftigte bei Ländern und Kommunen
werden weiterbeschäftigt, deren Personalkosten werden
voll erstattet . Für die Beschäftigten bei der Gesellschaft
sind Tarifverträge abzuschließen . Für die Überleitung
der Beschäftigten werden Überleitungstarifverträge
angestrebt . Beides wird gesetzlich geregelt . Die Perso-
nalvertretungen werden an der Arbeit des begleitenden
Bund-Länder-Gremiums beteiligt, sofern Belange der
Beschäftigten berührt sind .
Zu guter Letzt war uns wichtig, dass die Reform nicht
zu weniger demokratischer Kontrolle und Einflussnahme
führt, sondern dass die Informations- und Steuerungs-
rechte des Bundestages gewahrt bleiben . So bedürfen
zum Beispiel der Gesellschaftsvertrag der GmbH und
wesentliche Änderungen der vorherigen Zustimmung
durch den Haushaltsausschuss und den Verkehrsaus-
schuss des Deutschen Bundestages . Mitglieder des Deut-
schen Bundestages werden im Aufsichtsrat der Gesell-
schaft vertreten sein . Der fünfjährige Finanzierungs- und
Realisierungsplan der Gesellschaft bedarf der vorherigen
Zustimmung durch den Haushaltsausschuss und den Ver-
kehrsausschuss des Deutschen Bundestages . Eine unab-
hängige externe Prüfung der Haushalts- und Wirtschafts-
führung der Gesellschaft sowie möglicher Töchter wird
sichergestellt, indem entsprechende Prüfrechte des Bun-
desrechnungshofes verankert werden . Aus der ursprüng-
lich geplanten staatsfernen Gesellschaft ist somit eine
staatliche Gesellschaft geworden, die demokratischer
Kontrolle unterliegt .
Entscheidend sind am Ende die Verbesserungen, die
die SPD-Fraktion im parlamentarischen Verfahren er-
reicht hat:
Eine Privatisierung der Autobahnen und Bundes-
straßen findet nicht statt; mit dem Gesetz errichten wir
Schranken, wo es vorher keine gab, auch im Grundge-
setz .
Wir haben die berechtigten Interessen der Beschäf-
tigten geschützt und schaffen eine leistungsfähige neue
Organisation, die ein attraktiver Arbeitgeber wird .
Der Einfluss des demokratisch gewählten Parlaments
auf die Verkehrsinvestitionen bleibt gewahrt .
Annette Sawade (SPD): Der Deutsche Bundestag
stimmt heute über die Neuregelung des bundesstaatli-
chen Finanzausgleichssystems ab . Im parlamentarischen
Verfahren ist es der SPD-Bundestagsfraktion gelungen,
wichtige Änderungen am ursprünglich eingebrachten
Gesetzentwurf durchzusetzen:
Erstens . Zunächst ist zu beachten, dass der Bundes-
tag über ein Regelungspaket zu entscheiden hat, das im
Vorfeld bereits zwischen allen Ministerpräsidenten und
der Bundesregierung abgestimmt worden ist . Da die
Länder in den Finanzbeziehungen Erleichterungen durch
den Bund erfahren haben, haben sie im Gegenzug zuge-
standen, ein Stück ihrer Kompetenz im Bildungsbereich
wieder an den Bund zu geben und in diesem Zusam-
menhang auch Bau, Planung und Verwaltung von Bun-
desstraßen bzw . Autobahnen dem Bund zu übertragen .
Diese Verhandlung auf einer von der Verfassung nicht
vorgesehenen Ebene zwischen Länderregierungen und
Bundesregierung halte ich für äußerst kritikwürdig . Die
Beratungen des Bundestages wurden deutlich dadurch er-
schwert, dass die Ministerpräsidenten gemeinsam mit der
Bundesregierung ein Gesamtpaket völlig unterschiedli-
cher Regelungsbereiche verabschiedeten, die im Par-
lament faktisch nicht mehr entkoppelt werden können .
Umso beachtlicher sind die Veränderungen, die nun zur
Abstimmung stehen. Unabhängig davon hoffe ich aber,
dass alle Parteien aus dieser Situation zukünftig lernen .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24221
(A) (C)
(B) (D)
Zweitens . Aus SPD-Sicht war in dem Regelungspaket
von Anfang an die Ausweitung des Unterhaltsvorschus-
ses zu begrüßen . Für fast 1 Million alleinerziehende El-
tern und ihre Kinder stellt es einen wichtigen Fortschritt
dar, dass berufstätige Alleinerziehende, bei denen der un-
terhaltspflichtige Elternteil seinen Verpflichtungen nicht
nachkommt, eine Erweiterung des Anspruches auf staat-
liche Unterstützung erfahren . Die Altersgrenze wird von
jetzt 12 Jahre auf 18 Jahre angehoben und die zeitliche
Befristung von maximal sechs Jahren abgeschafft. Dieses
wird dazu führen, dass die Doppelbelastung von Job und
Kinderbetreuung besser bewältigt werden kann .
Drittens . Ein großer Erfolg ist auch das Aufbrechen
des Kooperationsverbotes im Bildungsbereich . Der
Bund wird in die Lage versetzt, 3,5 Milliarden Euro für
Bildungsinvestitionen in finanzschwachen Kommunen
bereitzustellen. Eine vollständige Abschaffung des Ko-
operationsverbots im Bildungsbereich bleibt ein wich-
tiges Ziel sozialdemokratischer Politik . Bildung ist eine
gesamtstaatliche Aufgabe . Dies ist aber zwischen den
Koalitionspartnern umstritten .
Viertens . In der Fassung des Regelungspaketes, die in
erster Lesung im Parlament beraten wurde, haben sich
die Länder in Artikel 90 des Grundgesetzes verpflich-
tet, unter anderem die Verwaltung der Bundesautobah-
nen an den Bund zu geben . Ferner war vorgesehen, dass
der Bund sich dafür einer Gesellschaft privaten Rechts
bedienen könne . Bereits in dieser Fassung war geregelt,
dass das Eigentum des Bundes an den Autobahnen und
Bundesstraßen unveräußerlich ist . Allerdings befürchte-
ten viele Bürgerinnen und Bürger in diesem Zusammen-
hang, dass private Investoren über eine Beteiligung an
der Gesellschaft zumindest mittelbar eine Privatisierung
durch die Hintertür erreichen könnten .
Nach wochenlangen Verhandlungen liegt nun eine
Ergänzung des Verfassungstextes vor, der eine unmit-
telbare oder mittelbare Beteiligung Privater an der Ge-
sellschaft und deren Tochtergesellschaften ausdrücklich
ausschließt . Der SPD-Bundestagsfraktion ist es zu ver-
danken, dass somit alle Hintertüren für eine mögliche
Privatisierung in der Verfassung selbst geschlossen wor-
den sind .
Öffentlich-private Partnerschaften gibt es bereits – sie
werden nicht erst durch das hier vorliegende Regelungs-
paket ermöglicht. Der Einfluss von öffentlich-privaten
Partnerschaften (ÖPP) wird mit der vorliegenden Reform
weiter beschränkt . ÖPP für Streckennetze, die das ge-
samte Bundesautobahnnetz oder das gesamte Netz sons-
tiger Bundesfernstraßen in einem Land oder wesentlicher
Teile davon umfassen, sind ausgeschlossen . Es werden
Möglichkeiten zur Einbeziehung privater Betreiber und
institutioneller Investoren ausgeschlossen, die bislang
noch bestehen . Hier ist der Gesetzentwurf ein echter
Fortschritt . Dem Deutschen Bundestag – namentlich dem
Haushalts- und dem Verkehrsausschuss – werden durch
die Reform neue Kontrollmöglichkeiten eingeräumt, die
dieser auch im Sinne des Interesses der Bürgerinnen und
Bürger nutzen wird .
Bereits vor dieser Reform hat die Koalition im aktu-
ellen Bundesverkehrswegeplan den Anreiz für ÖPP ge-
mindert, da Gelder nicht mehr nach Ländern, sondern
nach Prioritäten vergeben werden . Auch durch die neu
eingeführten, realistischeren Wirtschaftlichkeitsberech-
nungen werden ÖPP reduziert, ebenso wie das in der
neuen Gesellschaft eingeführte Planungsprinzip nach der
Lebenszeit .
Wichtig für mich ist auch, dass mit der vorliegen-
den Reform das wirtschaftliche Eigentum der Bundes-
fernstraßen unveräußerlich beim Bund bleibt . Die neue
Gesellschaft ist lediglich für die Verwaltung zuständig,
auch die Übertragung von Nießbrauchrechten – also die
gewinnbringende Nutzung durch die Gesellschaft – ist
ausgeschlossen . Die Gesellschaft wird auch nicht als
Mautgläubigerin auftreten . Auch eine funktionale Pri-
vatisierung durch die Übertragung eigener Aufgaben der
Gesellschaft auf Dritte ist nicht möglich .
In enger Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften
haben wir zudem die Rechte der Beschäftigten beim
geplanten Personalübergang von den Straßenbauver-
waltungen der Länder auf den Bund festgeschrieben . So
gibt es zum Beispiel ein Widerspruchsrecht gegen den
Übergang, und die besondere Situation des beamteten
Personals wird berücksichtigt . Auch das ist für mich eine
notwendige Voraussetzung für meine Zustimmung .
Bedenken habe ich allerdings, ob ein Wechsel des
Systems ohne größere Friktionen möglich ist und in ab-
sehbarer Zeit die gewünschte größere Effizienz und Ef-
fektivität tatsächlich erreicht werden können . Vielmehr
sind durch die Umstellung deutliche Verzögerungen und
Effizienzverluste möglich. Wichtig ist nun, dass der Ge-
sellschaftsvertrag entsprechend im Sinne einer effizien-
ten Arbeitsweise der neuen Gesellschaft gestaltet wird .
Durch unsere Änderungen am Gesetz wird hierfür das
Parlament zuständig sein .
Obwohl ich weiterhin nicht sicher bin, dass die er-
hofften Verbesserungen mit der vorliegenden Reform der
Straßenbauverwaltung tatsächlich erreicht werden kön-
nen, habe ich bei meiner Entscheidung auch die anderen
Aspekte dieses Gesetzes zu berücksichtigen . Die um-
fassende Reform der Bund-Länder-Beziehungen ist ein
wichtiger Schritt zu einer nachhaltigen Finanzierung der
Länder . Zusätzlich sind die Einschränkung des Koopera-
tionsverbots, das Investitionsprogramm für Kommunen
und der Unterhaltsvorschuss für Alleinerziehende wich-
tige Zukunftsprojekte, die das Leben vieler Menschen
spürbar verbessern werden . In Abwägung dieser Dinge
und angesichts der Tatsache, dass die wesentlichen Män-
gel der Infrastrukturgesellschaft Verkehr einfachgesetz-
lich behoben werden können, stimme ich dem Gesetz-
entwurf zu .
Dr. Nina Scheer (SPD): Der Deutsche Bundestag
stimmt heute über die Entwürfe der Bundesregierung
zur Änderung des Grundgesetzes und zur Neuregelung
des bundesstaatlichen Finanzausgleichssystems ab dem
Jahr 2020 ab .
Erstens . Nach mehr als zwei Jahren Verhandlungen
hatten sich Länder und Bundesregierung – ohne Beteili-
gung des Parlaments – im Dezember 2016 auf eine Neu-
ordnung der Finanzbeziehungen für die Zeit nach 2019
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724222
(A) (C)
(B) (D)
verständigt . Danach übernimmt der Bund im Ergebnis
künftig eine deutlich stärkere Rolle beim Ausgleich der
Finanzkraft zwischen den Bundesländern . Finanzstar-
ke Länder sollen dabei entlastet werden . Diesen Ansatz
sehe ich kritisch; ich halte es für nicht sachgerecht, dass
ein solch wesentlich die Ausgeglichenheit von Lebens-
verhältnissen und Entwicklungsperspektiven innerhalb
Deutschlands mitbestimmendes Regelwerk ohne inhalt-
liche Beteiligung des Deutschen Bundestages erfolgt .
Zugleich drängt die Zeit und Notwendigkeit einer Neu-
regelung des Bund-Länder-Finanzausgleichs, da die bis-
herige Solidarsystematik ausläuft . So verbleibt bis heute
nur die Möglichkeit, die bereits zwischen den Ländern
und der Bundesregierung geeinigte Neuregelung seitens
des Bundestages zu beschließen .
Zweitens . Ferner enthalten ist die Gründung einer Ver-
kehrsinfrastrukturgesellschaft des Bundes, die den Bau,
die Planung und Verwaltung der Autobahnen und weiterer
Bundesstraßen neu organisieren soll . Auf Druck der SPD
wurden die Pläne von CDU-Finanzminister Schäuble
und CSU-Verkehrsminister Dobrindt, private Unterneh-
men umfangreich an den Autobahnen in Deutschland be-
teiligen zu können, entscheidend entschärft . Die Position
der SPD hat sich im parlamentarischen Verfahren nicht
geändert: Von Beginn an haben wir uns klar gegen eine
Privatisierung der Verkehrsinfrastruktur ausgesprochen
und entsprechende Änderungen an den Gesetzentwür-
fen eingefordert . In mehreren Verhandlungsrunden mit
dem Koalitionspartner konnten wir somit umfangreiche
Änderungen durchsetzen und Privatisierungsschranken
einziehen .
Zusammengefasst konnten wir diesbezüglich Folgen-
des durchsetzen:
1 . „Eine unmittelbare oder mittelbare Beteiligung
Dritter an der Infrastrukturgesellschaft und möglichen
Tochtergesellschaften ist ausgeschlossen .“ Dies wird
verfassungsrechtlich und einfachgesetzlich geregelt .
2 . Eine funktionale Privatisierung durch die Übertra-
gung eigener Aufgaben der Gesellschaft auf Dritte, zum
Beispiel durch Teilnetz-ÖPP, wird ausgeschlossen . In Ar-
tikel 90 Absatz 2 des Grundgesetzes wird dazu der Satz
eingefügt: „Eine Beteiligung Privater im Rahmen von
Öffentlich-Privaten Partnerschaften ist ausgeschlossen
für Streckennetze, die das gesamte Bundesautobahnnetz
oder das gesamte Netz sonstiger Bundesfernstraßen in ei-
nem Land oder wesentliche Teile davon umfassen .“
3 . Eine Übertragung von Altschulden auf die Gesell-
schaft wird ausgeschlossen .
4 . Die Gesellschaft wird nicht kreditfähig . Damit ist
die Gefahr einer Aufnahme von privatem Kapital zu
hohen Zinsen gebannt. Um effizient wirtschaften und
„atmen“ zu können, kann die Gesellschaft aber Liquidi-
tätshilfen – zinslose Darlehen – aus dem Bundeshaushalt
erhalten – wie andere Bundesgesellschaften auch .
5 . Das wirtschaftliche Eigentum an den Fernstraßen
geht nicht an die Gesellschaft über, sondern bleibt beim
Bund . Die Übertragung und die Überlassung von (Nieß-
brauch-)Rechten werden ausgeschlossen .
6 . Mautgläubiger bleibt der Bund – für Lkw-Maut und
Pkw-Maut . Die Option, dass die Gesellschaft das Maut-
aufkommen direkt vereinnahmen kann, ist gestrichen .
Die zweckgebundenen Einnahmen – Lkw-Maut, Pkw-
Maut – fließen der Gesellschaft wie bisher über den Bun-
deshaushalt zu .
7 . Das Verkehrsministerium kann Befugnisse und
Aufgaben der Gesellschaft und des Fernstraßen-Bundes-
amtes nur dann auf andere vom Bund gegründete Ge-
sellschaften übertragen, wenn diese im ausschließlichen
Eigentum des Bundes stehen .
8 . Spartengesellschaften sind ausgeschlossen . Zur
Herstellung der Präsenz in der Fläche kann die Gesell-
schaft aber bedarfsgerecht bis zu zehn regionale Toch-
tergesellschaften gründen, die denselben Restriktionen
unterliegen wie die Muttergesellschaft .
9 . Die Gesellschaft wird als GmbH errichtet . Die
Evaluationsklausel, die eine einfache Umwandlung zur
AG ermöglicht hätte, wird gestrichen .
10 . Der Gesellschaftsvertrag (= Satzung) der GmbH
und wesentliche Änderungen bedürfen der vorherigen
Zustimmung durch den Haushaltsausschuss und den Ver-
kehrsausschuss des Deutschen Bundestages .
11 . Eine unabhängige externe Prüfung der Haushalts-
und Wirtschaftsführung der Gesellschaft sowie mögli-
cher Töchter wird sichergestellt, indem entsprechende
Prüfrechte des Bundesrechnungshofes verankert werden .
12. Kontroll- und Einflussmöglichkeiten des Parla-
ments auf Verkehrsinvestitionen bleiben vollumfänglich
erhalten .
13 . Der fünfjährige Finanzierungs- und Realisierungs-
plan für Verkehrsinvestitionen der Gesellschaft bedarf
der vorherigen Zustimmung durch den Haushaltsaus-
schuss und den Verkehrsausschuss des Deutschen Bun-
destages – während dieser Fünfjahresplan nach heutigem
Recht den Ausschüssen vom Verkehrsministerium nur
„zur Kenntnis“ und damit ohne Zustimmungsvorbehalt
vorgelegt wird .
Für die circa 11 000 Beschäftigten der Straßenbauver-
waltungen der Länder, die in den nächsten Jahren ver-
mutlich überwiegend zum Bund wechseln werden, konn-
ten wir folgende Verbesserungen erreichen:
1 . Zum Personalübergang von den Straßenbauverwal-
tungen der Länder werden – abweichend vom Regie-
rungsentwurf – die Mitbestimmung der Beschäftigten
gestärkt, die Freiwilligkeit zum Prinzip erhoben und
die vorgesehenen Eingriffe in die Tarifautonomie kor-
rigiert – Kernforderungen der Gewerkschaften werden
damit umgesetzt .
2 . Der Bund wird alle wechselbereiten Beschäftig-
ten – bis zu 11 000 Beamte, Arbeitnehmer und Auszubil-
dende – übernehmen . Nicht wechselbereite Beschäftigte
bei Ländern und Kommunen werden weiterbeschäftigt,
deren Personalkosten werden den Ländern voll erstattet .
3 . Das Widerspruchsrecht wird unmissverständlich
verankert: Die Vorschriften des § 613a BGB über den
Betriebsübergang finden analog Anwendung. Die Wei-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24223
(A) (C)
(B) (D)
terverwendung erfolgt grundsätzlich am bisherigen Ar-
beitsplatz und Arbeitsort .
4 . Für die Beschäftigten bei der Gesellschaft sind Ta-
rifverträge abzuschließen . Für die Überleitung der Be-
schäftigten werden Überleitungstarifverträge angestrebt .
Beides wird gesetzlich geregelt .
5 . Die Personalvertretungen werden an der Arbeit des
begleitenden Bund-Länder-Gremiums beteiligt, sofern
Belange der Beschäftigten berührt sind .
6 . Der Übergang erfolgt zügig, die neue Struktur soll
schnell leistungsfähig sein . Die Gesellschaft soll deutlich
früher den Betrieb aufnehmen als zum 1 . Januar 2021,
wie im Regierungsentwurf vorgesehen . Sie wird 2018
gegründet. Ferner wird die Verkehrsinfrastrukturfinan-
zierungsgesellschaft (VIFG) zum 1 . Januar 2019 auf die
neue Gesellschaft verschmolzen, anstatt ihre Aufgaben
scheibchenweise zu übertragen und die VIFG dann auf-
zulösen .
7 . Die Auftragsverwaltung kann schon vor dem
31 . Dezember 2020 beendet werden . Die Gesellschaft
kann ab dem 1 . Januar 2020 im Einvernehmen mit dem
jeweiligen Land die Planung und den Bau von Bundesau-
tobahnen wahrnehmen .
8 . Sobald ein Land sein auf die Gesellschaft zu über-
tragendes Personal und die Sachmittel vollständig über-
tragen hat, übernimmt der Bund auch vor 2021 die Kos-
ten für die vom Bund veranlassten Planungen . Damit
wird Fehlanreizen für die Länder bei ihren Planungsleis-
tungen entgegengesteuert .
Drittens . Mit einem weiteren Baustein des Gesetzespa-
kets werden 3,5 Milliarden Euro für die Bildungsinfra-
struktur in finanzschwachen Kommunen zur Verfügung
gestellt . Dadurch kann der teils massive Sanierungsstau
an deutschen Schulen – zumindest teilweise – beseitigt
werden . Ermöglicht wird dies durch den Aufbruch des im
Grundgesetz verankerten Kooperationsverbots . Dies hat
die SPD durchgesetzt .
Viertens. Im Gesamtpaket findet sich eine wesentliche
Erleichterung für alle Alleinerziehenden und ihre Kin-
der: Der Unterhaltsvorschuss wird deutlich ausgebaut .
Zum einen wird die Altersgrenze angehoben von jetzt 12
auf 18 Jahre . Zum anderen wird die bisherige zeitliche
Befristung von maximal sechs Jahren Bezugsdauer ab-
geschafft. Der Bund beteiligt sich nach der Ausweitung
deutlich mehr an den Kosten des Unterhaltsvorschusses .
Da es für Alleinerziehende besonders schwer ist, Er-
werbsarbeit und Kinderbetreuung miteinander zu verein-
baren, ist diese Reform ein großes Stück mehr Gerechtig-
keit in unserem Land .
Insgesamt stimme ich dem Gesetzespaket in einer Ab-
wägung, wonach die Verbesserungen gegenüber even-
tuell eintretenden Verschlechterungen überwiegen, zu .
Zwar war ein völliger Ausschluss von ÖPP im Grundge-
setz mit dem Koalitionspartner nicht zu realisieren . Mit
den ergänzenden einfachgesetzlichen Schranken wird
aber eine Eingrenzung von ÖPP vorgenommen, die es
mit der bisherigen Rechtslage nicht gab . ÖPP wird somit
nun weitgehend ausgeschlossen .
Gleichwohl besteht die Gefahr, dass unter einer zu-
künftigen schwarz-gelben Koalition im Deutschen Bun-
destag die gesetzlichen Restriktionen, die wir von der
SPD eingebracht haben und heute für die Verkehrsinfra-
strukturgesellschaft des Bundes beschließen, ausgehebelt
werden könnten . Mit dem vorliegenden Gesetzespaket
konnten wir leider nicht so weitgehende Privatisierungs-
schranken grundgesetzlich sichern, dass nicht mit an-
deren Mehrheitsverhältnissen und einfachgesetzlichen
Änderungen einige jetzt eingezogenen Schranken wieder
aufgebrochen werden können . Die Unionsfraktion hat
leider alle noch weitergehenden Schranken verweigert .
Eben dieser Aspekt, wie auch die Frage, ob die zu grün-
dende Infrastrukturgesellschaft zu zeitlichen Verzöge-
rungen in der Umsetzung von anstehenden Bauvorhaben
führen kann, wirken als politische Aufgabe fort und soll-
ten als Appell verstanden werden, mit der anstehenden
Bundestageswahl kein Mehrheitsverhältnis zu ermögli-
chen, das für Privatisierung spräche .
Udo Schiefner (SPD): Deutschland braucht eine
leistungsfähige und flächendeckende Verkehrsinfrastruk-
tur . Dieser Bundestag hat für die Finanzierung der Ver-
kehrsinfrastruktur in den letzten Jahren deutlich mehr
Mittel zur Verfügung gestellt . Es braucht jedoch nicht
nur Geld, sondern das Geld muss auch effizient einge-
setzt werden . Planung, Bau und Erhalt der Bundesauto-
bahnen und Bundesfernstraßen in der jetzigen Auftrags-
verwaltung der Länder funktionieren aber nicht optimal .
Das ist auf allen politischen Ebenen erkannt und benannt
worden . Eine Reform dieser Strukturen ist dringend ge-
boten . Deshalb ist eine veränderte Auftragsverwaltung
nun Teil eines umfangreichen Pakets zur Änderung der
Bund-Länder-Finanzbeziehungen, das zwischen Bund
und allen Bundesländern einstimmig verabredet wurde .
Neben der Reform der Auftragsverwaltung war hierzu
schon länger die Gründung einer Bundesfernstraßenge-
sellschaft im Gespräch . Ein entsprechendes Konzept, wie
es die Arbeitsgruppen Verkehr, Wirtschaft und Haushalt
der SPD-Bundestagsfraktion vorgelegt hatten, fand und
findet meine volle Unterstützung. Der von der Bundes-
regierung ursprünglich vorgelegte Entwurf hatte unseren
verkehrspolitischen Anforderungen allerdings zum ei-
nen nicht ausreichend Rechnung getragen; zum anderen
wies er gravierende Mängel hinsichtlich Privatisierung,
Struktur, Beteiligung der Politik und Mitarbeiterrechten
auf . Er war nicht zustimmungsfähig . Deshalb haben wir
in langen Verhandlungen aus meiner Sicht wesentliche
Änderungen durchgesetzt .
Es wird behauptet, die Bundesfernstraßengesellschaft
schaffe Hintertüren zur Privatisierung. Dies tue sie vor
allem, weil sie eine GmbH, also eine juristische Person
des privaten Rechts, sein werde. Eine GmbH in öffent-
lichem Besitz ist jedoch nicht per se gewinnorientiert .
Die Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft oder
die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit zum
Beispiel oder auch kommunale Unternehmen, wie Stadt-
werke, sind dies ebenfalls nicht . Die dafür notwendigen
Schranken haben wir durchgesetzt . Die Behauptung, es
bestünden weiterhin Hintertüren zur Privatisierung, ist
unzutreffend. Die von uns durchgesetzten Änderungen
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724224
(A) (C)
(B) (D)
an den Grundgesetzartikeln und den dazugehörigen Be-
gleitgesetzen verhindern ebendies dauerhaft . Auch der
Einfluss von öffentlich-privaten Partnerschaften wird mit
der vorliegenden Reform weiter beschränkt . Möglichkei-
ten zur Einbeziehung privater Betreiber und institutionel-
ler Investoren, die bislang noch bestehen, werden ausge-
schlossen . Hier stellt der jetzt vorliegende Gesetzentwurf
einen echten Fortschritt dar . Dem Deutschen Bundestag,
dem Haushalts- und dem Verkehrsausschuss, werden
durch die Reform weitreichende neue Kontroll- und Mit-
wirkungsmöglichkeiten eingeräumt . Das wirtschaftliche
Eigentum der Bundesfernstraßen bleibt zudem unveräu-
ßerlich beim Bund . Die neue Gesellschaft ist lediglich
für die Verwaltung zuständig . Auch eine funktionale Pri-
vatisierung durch die Übertragung eigener Aufgaben der
Gesellschaft auf Dritte ist nicht möglich .
Die SPD-Bundestagsfraktion musste und konnte sich
in zentralen Punkten gegenüber ihren Koalitionspartnern
durchsetzen . Im Ergebnis führt die Reform nun nicht
mehr zu weniger demokratischer Kontrolle und Einfluss-
nahme, sondern die Informations- und Steuerungsrechte
des Bundestages werden gestärkt . Der Bundesrechnungs-
hof unterstreicht die Verhandlungserfolge der SPD-Bun-
destagsfraktion: „Anstatt der ursprünglich geplanten
staatsfernen soll eine staatsnahe Infrastrukturgesellschaft
entstehen .“ Die bundeseigene Verwaltung verspricht zü-
gigere Baumaßnahmen, und ich erwarte eine neue Ge-
sellschaft, die gemeinwohlorientiert für ein effizienteres
Autobahnnetz in Deutschland sorgen kann . So kann ich
den Gesetzesänderungen heute zustimmen .
Dr. Dorothee Schlegel (SPD): Der Deutsche Bun-
destag stimmt heute über die Neuregelung des bundes-
staatlichen Finanzausgleichssystems ab . Im parlamen-
tarischen Verfahren ist es der SPD-Bundestagsfraktion
gelungen, wichtige Änderungen am ursprünglich einge-
brachten Gesetzentwurf durchzusetzen:
Erstens . Zunächst ist zu beachten, dass der Bundes-
tag über ein Regelungspaket zu entscheiden hat, das im
Vorfeld bereits zwischen allen Ministerpräsidenten und
der Bundesregierung abgestimmt worden ist . Da die
Länder in den Finanzbeziehungen Erleichterungen durch
den Bund erfahren haben, haben sie im Gegenzug zuge-
standen, ein Stück ihrer Kompetenz im Bildungsbereich
wieder an den Bund zu geben und in diesem Zusam-
menhang auch Bau, Planung und Verwaltung von Bun-
desstraßen bzw . Autobahnen dem Bund zu übertragen .
Diese Verhandlung auf einer von der Verfassung nicht
vorgesehenen Ebene zwischen Länderregierungen und
Bundesregierung halte ich für äußerst kritikwürdig . Die
Beratungen des Bundestages wurden deutlich dadurch er-
schwert, dass die Ministerpräsidenten gemeinsam mit der
Bundesregierung ein Gesamtpaket völlig unterschiedli-
cher Regelungsbereiche verabschiedeten, die im Par-
lament faktisch nicht mehr entkoppelt werden können .
Umso beachtlicher sind die Veränderungen, die nun zur
Abstimmung stehen. Unabhängig davon hoffe ich aber,
dass alle Parteien aus dieser Situation zukünftig lernen .
Zweitens . Aus SPD-Sicht war in dem Regelungspaket
von Anfang an die Ausweitung des Unterhaltsvorschus-
ses zu begrüßen . Für fast 1 Million alleinerziehende El-
tern und ihre Kinder stellt es einen wichtigen Fortschritt
dar, dass berufstätige Alleinerziehende, bei denen der un-
terhaltspflichtige Elternteil seinen Verpflichtungen nicht
nachkommt, eine Erweiterung des Anspruches auf staat-
liche Unterstützung erfahren . Die Altersgrenze wird von
jetzt 12 Jahre auf 18 Jahre angehoben und die zeitliche
Befristung von maximal sechs Jahren abgeschafft. Dieses
wird dazu führen, dass die Doppelbelastung von Job und
Kinderbetreuung besser bewältigt werden kann .
Drittens . Ein großer Erfolg ist auch das Aufbrechen
des Kooperationsverbotes im Bildungsbereich . Der
Bund wird in die Lage versetzt, 3,5 Milliarden Euro für
Bildungsinvestitionen in finanzschwachen Kommunen
bereitzustellen. Eine vollständige Abschaffung des Ko-
operationsverbots im Bildungsbereich bleibt ein wich-
tiges Ziel sozialdemokratischer Politik . Bildung ist eine
gesamtstaatliche Aufgabe . Dies ist aber zwischen den
Koalitionspartnern umstritten .
Viertens . In der Fassung des Regelungspaketes, die in
erster Lesung im Parlament beraten wurde, haben sich
die Länder in Artikel 90 des Grundgesetzes verpflich-
tet, unter anderem die Verwaltung der Bundesautobah-
nen an den Bund zu geben . Ferner war vorgesehen, dass
der Bund sich dafür einer Gesellschaft privaten Rechts
bedienen könne . Bereits in dieser Fassung war geregelt,
dass das Eigentum des Bundes an den Autobahnen und
Bundesstraßen unveräußerlich ist . Allerdings befürchte-
ten viele Bürgerinnen und Bürger in diesem Zusammen-
hang, dass private Investoren über eine Beteiligung an
der Gesellschaft zumindest mittelbar eine Privatisierung
durch die Hintertür erreichen könnten . Die Verlautba-
rungen aus Bundesfinanzministerium und Bundesver-
kehrsministerium verstärkten diesen Verdacht . Auch
zivilgesellschaftliche Organisationen und der Bundes-
rechnungshof kritisierten das Vorhaben scharf . Die Ge-
werkschaft Verdi problematisierte insbesondere Fragen
beim Personalübergang .
Nach wochenlangen Verhandlungen liegt nun eine
Ergänzung des Verfassungstextes vor, der eine unmit-
telbare oder mittelbare Beteiligung Privater an der Ge-
sellschaft und deren Tochtergesellschaften ausdrücklich
ausschließt . Dem Engagement der SPD-Bundestagsfrak-
tion ist es zu verdanken, dass somit alle Hintertüren für
eine mögliche Privatisierung in der Verfassung selbst ge-
schlossen worden sind . Zudem ist es gelungen, dass alle
wechselbereiten Beschäftigten der Straßenbauverwal-
tungen der Länder vom Bund übernommen und grund-
sätzlich dort eingesetzt werden, wo sie bisher arbeiten .
Die Verkehrsinfrastrukturgesellschaft ist verpflichtet,
Tarifverträge für alle Beschäftigten abzuschließen . Ich
empfinde es als Bestätigung dieser Position, dass auch
die Gewerkschaft Verdi sowie der Bundesrechnungshof
die Erfolge des parlamentarischen Verfahrens ausdrück-
lich anerkennen .
Darüber hinaus werden in der Debatte sogenannte öf-
fentlich-private Partnerschaften (ÖPP) problematisiert .
Die Partnerschaften gibt es bereits – sie werden nicht
erst durch das hier vorliegende Regelungspaket ermög-
licht . Doch selbst in diesem Bereich konnte nun durch
das parlamentarische Verfahren eine Verbesserung er-
reicht werden: Erstmalig werden in der Verfassung öf-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24225
(A) (C)
(B) (D)
fentlich-private Partnerschaften für ganze Streckennetze
oder wesentliche Teile explizit ausgeschlossen . Damit
wird im Grundgesetz selbst ein klares Zeichen gegen die
Ausweitung von ÖPP gesetzt .
Die SPD-Bundestagsfraktion hätte sich eine noch wei-
tergehende Regelung gewünscht . Dies war jedoch mit
der CDU/CSU-Fraktion nicht möglich .
Ich stimme dem Gesetzespaket dennoch zu .
Demokratie und das Ringen im parlamentarischen
Verfahren bringen selten Ergebnisse, die zu 100 Prozent
den Forderungen einer einzelnen Fraktion entsprechen .
Wer künftig ÖPP vollständig verhindern will, muss dafür
eintreten, dass der Staat mehr Mittel in die Infrastruk-
tur investiert, wie es die SPD fordert . Ein völliger Aus-
schluss von ÖPP im Grundgesetz, der einer Zweidrittel-
mehrheit in Bundestag und Bundesrat bedarf, war in der
bestehenden Koalition nicht realisierbar . Deshalb werbe
ich für die Anerkennung der Verhandlungserfolge im par-
lamentarischen Verfahren und die Erhöhung des Drucks
auf all die politischen Kräfte, die eine schwarze Null im
Bundeshaushalt über politische Gestaltungsmöglichkei-
ten stellen .
Swen Schulz (Spandau) (SPD): Ich werde der erziel-
ten Einigung über die Neuordnung der Finanzbeziehun-
gen von Bund und Ländern zustimmen . Auf der Basis
dieser Vereinbarungen steht ein Gesetzespaket mit vier
Regelungskomplexen zur Abstimmung . In allen vier
Komplexen hat sich die SPD-Bundestagsfraktion in we-
sentlichen Fragen mit ihren Positionen durchsetzen kön-
nen . Hinzu kommt, dass gerade für Berlinerinnen und
Berliner erhebliche Vorteile erreicht wurden .
Allerdings sehe ich auch schwierige Bestandteile des
Gesetzespaketes . Das ist bei einem Kompromiss nicht
nur innerhalb einer Koalition, sondern auch zwischen
dem Bund und den 16 Bundesländern nicht anders zu er-
warten . In der Gesamtbetrachtung überwiegen jedoch die
positiven Elemente .
Im Einzelnen:
Die finanzielle Handlungsfähigkeit von Ländern und
Kommunen wird nach dem Auslaufen des Solidarpaktes
im Jahr 2019 gesichert . Das ist ein zentrales Anliegen
der SPD-Bundestagsfraktion . Für Berlin ist diese Eini-
gung nachgerade finanziell überlebenswichtig. Die Neu-
regelung bedeutet jährliche Mehreinnahmen von etwa
500 Millionen Euro gegenüber einer Nichteinigung .
Wir haben erreicht, dass das bisher im Grundgesetz
verankerte Kooperationsverbot von Bund und Ländern
in der Bildung dauerhaft aufgebrochen wird . Darüber hi-
naus werden ganz konkret 3,5 Milliarden Euro für Bil-
dungsinvestitionen in finanzschwachen Kommunen zur
Verfügung gestellt, um Schulgebäude zu sanieren und zu
modernisieren . Das hat die SPD nach langen und intensi-
ven Diskussionen gegen viele Widerstände durchgesetzt .
Ich bin sicher, dass die Bildungskooperation eine wich-
tige Weichenstellung für die Zukunft unseres Landes ist .
Im Gesetzespaket enthalten ist außerdem die Aus-
weitung des Unterhaltsvorschusses für Kinder über
das 12 . Lebensjahr hinaus bis zur Volljährigkeit . Der
SPD-Bundestagsfraktion war wichtig, auf diesem Weg
Alleinerziehende und ihre Kinder besser zu unterstützen .
Von der Verbesserung werden über 260 000 Kinder pro-
fitieren.
Der sicherlich umstrittenste und aus meiner Sicht auch
schwierigste Teil des Gesetzespaketes ist die Infrastruk-
turgesellschaft Verkehr . Der ursprüngliche Gesetzent-
wurf der Bundesregierung hatte hier die Tür für massive
Privatisierungen geöffnet. Hier haben wir bei den parla-
mentarischen Beratungen nun Regelungen durchgesetzt,
die die Privatisierung des Bundesautobahn- und Bundes-
fernstraßennetzes verhindern .
Im Grundgesetz selbst wird deswegen geregelt, dass
nicht nur die Bundesfernstraßen selbst im unveräußerli-
chen, hundertprozentigen Eigentum des Bundes stehen,
sondern auch die Infrastrukturgesellschaft, die für de-
ren Planung, Bau und Betrieb zuständig sein wird . An
ihr können sich Private weder mittel- noch unmittelbar
beteiligen . Auch Privatisierungen von Teilnetzen sind
durch die Änderung des Grundgesetzes künftig ausge-
schlossen .
Das wirtschaftliche Eigentum an den Bundesfernstra-
ßen bleibt beim Bund . Die neue bundeseigene Infrastruk-
turgesellschaft wird vollständig staatlich über den Bun-
deshaushalt finanziert und darf keine Kredite von Dritten
aufnehmen . Die Kontrolle der Gesellschaft wird künftig
durch den Bundesrechnungshof ebenso wie die Beteili-
gung des Deutschen Bundestages sichergestellt .
Der SPD-Bundestagsfraktion ist die Zukunft der rund
11 000 Beschäftigten, die von den Straßenbauverwaltun-
gen der Länder künftig zum Bund wechseln, sehr wich-
tig . Wir konnten die Kernforderungen der Gewerkschaf-
ten nach Überleitungstarifverträgen durchsetzen und die
Interessen der Beschäftigten unter Wahrung ihrer Besitz-
stände schützen .
In der unter dem Strich positiven Bewertung der Än-
derungen des Gesetzentwurfes werde ich übrigens vom
Bundesrechnungshof, von Verdi sowie von weiteren
Sachverständigen, die den ursprünglichen Entwurf der
Bundesregierung scharf kritisiert hatten, bestätigt .
Persönlich hätte ich mir noch mehr vorstellen können,
nämlich den vollständigen Ausschluss von öffentlich-pri-
vaten Partnerschaften (ÖPP) . Dafür fehlt jedoch die
nötige Zweidrittelmehrheit zur Änderung des Grundge-
setzes . Die erreichte Begrenzung auf Teilstücke ist aber
ein deutlicher Fortschritt gegenüber dem bestehenden
Rechtsrahmen, denn nun werden ÖPP zum ersten Mal
eingeschränkt . Wir schließen Türen für Privatisierungen,
die bislang offen standen.
Ewald Schurer (SPD): Mit der heutigen Sitzung
des Deutschen Bundestags wird die Neuordnung der
Bund-Länder-Finanzbeziehungen beschlossen . Diese
immens umfangreichen Gesetzesänderungen beinhalten
unter anderem 13 Grundgesetzänderungen sowie zahlrei-
che weitere einfachgesetzliche Regelungen . Das nun vor-
liegende Gesetzespaket geht zurück auf eine Einigung
zwischen der Bundesregierung und den Ländern vom
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724226
(A) (C)
(B) (D)
Dezember 2016 als Ersatz für die auslaufenden Regelun-
gen zum Bund-Länder-Finanzausgleich 2019 . Nach reif-
licher Abwägung habe ich mich dazu entschieden, gegen
dieses Paket zu stimmen .
Der Grund für mich, dem Gesetzpaket meine Zustim-
mung zu verweigern, ist die darin enthaltene Einführung
einer Infrastrukturgesellschaft zur Sicherstellung der Fi-
nanzierung der Bundesautobahnen . Bereits letztes Jahr
habe ich mich zu diesem Thema klar positioniert: Einer
Infrastrukturgesellschaft kann ich nur zustimmen, wenn
diese die Form einer Gesellschaft öffentlichen Rechts hat
und eine Privatisierung der Bundesautobahnen rechtssi-
cher und unwiderruflich ausgeschlossen wird. Das ist in
dem vorliegenden Kompromiss jedoch leider nicht der
Fall .
Zunächst möchte ich betonen, dass die SPD-Bundes-
tagsfraktion sich in den Verhandlungen während der ver-
gangenen Monate mit allem Nachdruck und unter zähem
Ringen mit den Koalitionspartnern von CDU und CSU in
zahlreichen wichtigen Punkten durchgesetzt und den ur-
sprünglichen Inhalt des Regierungsentwurfs um nahezu
180 Grad zugunsten des Allgemeinwohls und der parla-
mentarischen Mitbestimmung gedreht hat .
In dem Paket enthalten ist auch eine Lockerung des
Kooperationsverbots im Bildungsbereich, die es dem
Bund ermöglicht, Geld für Bildungsinfrastruktur in fi-
nanzschwachen Kommunen zur Verfügung zu stellen,
um beispielsweise Schulgebäude zu sanieren und zu mo-
dernisieren . 3,5 Milliarden Euro stehen dafür zur Verfü-
gung . Das Geld geht vom Bund über die Länder an die
Kommunen, die dann vor Ort entscheiden, wie es inves-
tiert wird .
Des Weiteren wird im Rahmen des Pakets der Unter-
haltsvorschuss neu geregelt, den Alleinerziehende erhal-
ten, wenn der eigentlich unterhaltspflichtige Elternteil
nicht zahlt: Künftig wird nicht nur bis zum 12 . Geburts-
tag des Kindes gezahlt, sondern bis zum 18 . Geburtstag,
und während bislang maximal sechs Jahre lang gezahlt
wurde, entfällt diese Befristung künftig komplett . Ein
sehr wichtiger Meilenstein zur Stärkung alleinerziehen-
der Eltern und ihrer Kinder!
Ein weiteres Element des Paketes sind die Gesetz-
entwürfe, mit denen Verwaltung und Bau von Autobah-
nen und sonstigen Bundesfernstraßen in Deutschland
neu geordnet werden . Die SPD-Bundestagsfraktion hat
lange und hart verhandelt, um möglichst viele Privati-
sierungsschranken einzubauen . So wurden auch Grund-
gesetzänderungen hineinverhandelt, mithilfe derer die
mittelbare und unmittelbare Beteiligung Dritter an der
Infrastrukturgesellschaft und deren Tochtergesellschaf-
ten ausgeschlossen wird . Außerdem ist ausgeschlossen,
dass sich Private im Rahmen von öffentlich-privaten
Partnerschaften (ÖPP) für Streckennetze, die das gesam-
te Bundesautobahnnetz oder wesentliche Teile davon
betreffen, beteiligen. Wenn man bedenkt, dass insbe-
sondere Bundesverkehrsminister Dobrindt ursprünglich
bis zu 49 Prozent der Gesellschaft an private Investoren
veräußern wollte, ist das ein erstaunliches Verhandlungs-
ergebnis .
Mir persönlich geht das aber nicht weit genug . Denn
das bedeutet auch, dass auf der anderen Seite die Mög-
lichkeit besteht, ÖPP auf Strecken von einer Länge von
maximal 100 Kilometern umzusetzen . Zudem ist der Be-
griff „wesentliche Teile“ zu unkonkret, als dass damit ein
wirklicher Ausschluss Privater garantiert ist . Ich lehne
ÖPP unter anderem deshalb grundsätzlich ab, da für mich
die Daseinsfürsorge – und dazu zählen auch von Steuer-
geld finanzierte Autobahnen – in staatliche und nicht in
private Hand gehört .
Des Weiteren ist der Ausschluss eines möglichen
Wechsels der Rechtsform, zum Beispiel der nun zu grün-
denden privatrechtlichen GmbH in eine Aktiengesell-
schaft, lediglich einfachgesetzlich geregelt . Das heißt,
eine andere Bundesregierung könnte diese Umwandlung
ohne eine Änderung des Grundgesetzes – und der damit
verbundenen erforderlichen Zweidrittelmehrheit – mit
einfacher Mehrheit vollziehen . Gleiches gilt für die Kre-
ditfähigkeit der Gesellschaft . Es ist zwar nicht erlaubt,
dass diese selbst Kredite aufnimmt, aber dieser Punkt ist
ebenfalls nur einfachgesetzlich geregelt .
Für mich ist deshalb klar: Die Union wollte von An-
fang an eine echte Privatisierung der Autobahnen und
wird das auch weiterhin vorantreiben . Der vorliegende
Kompromiss schließt dies nicht zu 100 Prozent aus, auch
wenn sich die SPD-Bundestagsfraktion in wichtigen As-
pekten durchsetzen und eine wie von der Union gewollte
Privatisierung im großen Stil verhindern konnte .
Aufgrund dieser Bedenken kann ich daher den Geset-
zesänderungen in dieser Form nicht zustimmen .
Reinhold Sendker (CDU/CSU): Die Neuregelung
der Bund-Länder-Finanzbeziehungen ist ein elementar
wichtiges Vorhaben der laufenden Wahlperiode . Es ist
richtig und wichtig, das Gesetzgebungsverfahren noch
in dieser Wahlperiode abzuschließen, damit alle Betei-
ligten mit ausreichendem Vorlauf Planungssicherheit ha-
ben . Ich begrüße außerordentlich, dass mit der erzielten
Einigung auch die Schaffung einer Bundesinfrastruktur-
gesellschaft beschlossen wurde . Damit werden wir be-
stehende Planungsengpässe in den Ländern beseitigen .
Unser Land braucht eine gesunde Verkehrsinfrastruktur,
denn diese wird zu mehr Sicherheit im Straßenverkehr,
Wachstum und Wohlstand führen . Deshalb habe ich dem
Gesetzentwurf trotz meiner im Folgenden aufgeführten
Bedenken zugestimmt .
Das großzügige finanzielle Engagement des Bundes
ist für viele Kommunen eine große Hilfe . Gleichzeitig
führen Mischzuständigkeiten und Mischfinanzierungen
zu keiner Klärung von Verantwortung, wirken oft als
„goldener Zügel“ und schränken die grundgesetzlich ga-
rantierte kommunale Selbstverwaltung ein .
Die Einfügung des Artikel 104c GG setzt zudem ein
schwieriges Signal . Das eigentliche Ziel müsste sein,
bundesweit keine finanzschwachen Kommunen mehr zu
finden. Stattdessen werden finanzschwache Kommunen
jetzt sogar in der Verfassung verankert . Statt Bundeshil-
fen für finanzschwache Kommunen im Grundgesetz zu
normieren, sollten die finanziell zuständigen Länder al-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24227
(A) (C)
(B) (D)
les daransetzen, die Finanzschwäche von Kommunen zu
beheben .
Der Bund kann nicht alle Missstände vor Ort zu lö-
sen – erst recht nicht, wenn Länder die Hilfen des Bundes
unterlaufen, Mittel des Bundes nicht an die Kommunen
weiterleiten und diesen dann auch noch immer größere
Lasten aufbürden, um den eigenen Landeshaushalt zu
schonen . Aus dem ersten Schritt des Artikel 104c GG
mit der Mitfinanzierungsmöglichkeit für den Bund in der
Bildungsinfrastruktur finanzschwacher Kommunen darf
keine Allgemeinzuständigkeit des Bundes für alle Pro-
bleme vor Ort werden . Letzten Endes würde eine Ver-
stetigung dieser Praxis dazu führen, das föderale System
der Bundesrepublik und somit einen grundlegenden Teil
des politischen Systems der Bundesrepublik obsolet zu
machen .
Ziel der Föderalismusreform 2006 war, klare Struk-
turen und Verantwortlichkeiten in der Aufgabenwahr-
nehmung durch Bund und Länder zu schaffen. Mit Ar-
tikel 104c GG wird dieses Ziel ein Stück aus den Augen
verloren . Am Grundsatz, dass für eine aufgabenange-
messene auskömmliche Finanzausstattung der Kommu-
nen die jeweiligen Bundesländer verantwortlich und zu-
ständig sind, ist festzuhalten . Dies gilt nicht nur für den
Bereich der Bildungsinfrastruktur, sondern insgesamt
für alle von den Kommunen auszuführenden Aufgaben .
Aus dieser Sicht besteht durch die Einfügung des Arti-
kel 104c GG die Gefahr, dass ein dauerhafter Fehlanreiz
gesetzt wird, dass Länder künftig Kommunen bei Inves-
titionsbedarf an den Bund verweisen und somit aus der
Erweiterung der Mitfinanzierungsmöglichkeit eine Mit-
finanzierungszuständigkeit wird.
Dies werde ich in Zukunft kritisch beobachten .
Norbert Spinrath (SPD): Der Deutsche Bundestag
stimmt heute über die Neuregelung des bundesstaatli-
chen Finanzausgleichssystems ab . Im parlamentarischen
Verfahren ist es der SPD-Bundestagsfraktion gelungen,
wichtige Änderungen am ursprünglich eingebrachten
Gesetzentwurf durchzusetzen:
Erstens . Zunächst ist zu beachten, dass der Bundes-
tag über ein Regelungspaket zu entscheiden hat, das im
Vorfeld bereits zwischen allen Ministerpräsidenten und
der Bundesregierung abgestimmt worden ist . Da die
Länder in den Finanzbeziehungen Erleichterungen durch
den Bund erfahren haben, haben sie im Gegenzug zuge-
standen, ein Stück ihrer Kompetenz im Bildungsbereich
wieder an den Bund zu geben und in diesem Zusam-
menhang auch Bau, Planung und Verwaltung von Bun-
desstraßen bzw . Autobahnen dem Bund zu übertragen .
Diese Verhandlung auf einer von der Verfassung nicht
vorgesehenen Ebene zwischen Länderregierungen und
Bundesregierung halte ich für äußerst kritikwürdig . Die
Beratungen des Bundestages wurden deutlich dadurch er-
schwert, dass die Ministerpräsidenten gemeinsam mit der
Bundesregierung ein Gesamtpaket völlig unterschiedli-
cher Regelungsbereiche verabschiedeten, die im Par-
lament faktisch nicht mehr entkoppelt werden können .
Umso beachtlicher sind die Veränderungen, die nun zur
Abstimmung stehen. Unabhängig davon hoffe ich aber,
dass alle Parteien aus dieser Situation zukünftig lernen .
Zweitens . Aus SPD-Sicht war in dem Regelungspaket
von Anfang an die Ausweitung des Unterhaltsvorschus-
ses zu begrüßen . Für fast 1 Million alleinerziehende El-
tern und ihre Kinder stellt es einen wichtigen Fortschritt
dar, dass berufstätige Alleinerziehende, bei denen der un-
terhaltspflichtige Elternteil seinen Verpflichtungen nicht
nachkommt, eine Erweiterung des Anspruches auf staat-
liche Unterstützung erfahren . Die Altersgrenze wird von
jetzt 12 Jahre auf 18 Jahre angehoben und die zeitliche
Befristung von maximal sechs Jahren abgeschafft. Dieses
wird dazu führen, dass die Doppelbelastung von Job und
Kinderbetreuung besser bewältigt werden kann .
Drittens . Ein großer Erfolg ist auch das Aufbrechen
des Kooperationsverbotes im Bildungsbereich . Der
Bund wird in die Lage versetzt, 3,5 Milliarden Euro für
Bildungsinvestitionen in finanzschwachen Kommunen
bereitzustellen. Eine vollständige Abschaffung des Ko-
operationsverbots im Bildungsbereich bleibt ein wich-
tiges Ziel sozialdemokratischer Politik . Bildung ist eine
gesamtstaatliche Aufgabe . Dies ist aber zwischen den
Koalitionspartnern umstritten .
Viertens . In der Fassung des Regelungspaketes, die in
erster Lesung im Parlament beraten wurde, haben sich
die Länder in Artikel 90 des Grundgesetzes verpflich-
tet, unter anderem die Verwaltung der Bundesautobah-
nen an den Bund zu geben . Ferner war vorgesehen, dass
der Bund sich dafür einer Gesellschaft privaten Rechts
bedienen könne . Bereits in dieser Fassung war geregelt,
dass das Eigentum des Bundes an den Autobahnen und
Bundesstraßen unveräußerlich ist . Allerdings befürchte-
ten viele Bürgerinnen und Bürger in diesem Zusammen-
hang, dass private Investoren über eine Beteiligung an
der Gesellschaft zumindest mittelbar eine Privatisierung
durch die Hintertür erreichen könnten . Die Verlautba-
rungen aus Bundesfinanzministerium und Bundesver-
kehrsministerium verstärkten diesen Verdacht . Auch
zivilgesellschaftliche Organisationen und der Bundes-
rechnungshof kritisierten das Vorhaben scharf . Die Ge-
werkschaft Verdi problematisierte insbesondere Fragen
beim Personalübergang .
Nach wochenlangen Verhandlungen liegt nun eine
Ergänzung des Verfassungstextes vor, der eine unmit-
telbare oder mittelbare Beteiligung Privater an der Ge-
sellschaft und deren Tochtergesellschaften ausdrücklich
ausschließt . Dem Engagement der SPD-Bundestagsfrak-
tion ist es zu verdanken, dass somit alle Hintertüren für
eine mögliche Privatisierung in der Verfassung selbst ge-
schlossen worden sind . Zudem ist es gelungen, dass alle
wechselbereiten Beschäftigten der Straßenbauverwal-
tungen der Länder vom Bund übernommen und grund-
sätzlich dort eingesetzt werden, wo sie bisher arbeiten .
Die Verkehrsinfrastrukturgesellschaft ist verpflichtet,
Tarifverträge für alle Beschäftigten abzuschließen . Ich
empfinde es als Bestätigung dieser Position, dass auch
die Gewerkschaft Verdi sowie der Bundesrechnungshof
die Erfolge des parlamentarischen Verfahrens ausdrück-
lich anerkennen .
https://de.wikipedia.org/wiki/Politisches_System_Deutschlands
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724228
(A) (C)
(B) (D)
Darüber hinaus werden in der Debatte sogenannte öf-
fentlich-private Partnerschaften (ÖPP) problematisiert .
Die Partnerschaften gibt es bereits – sie werden nicht
erst durch das hier vorliegende Regelungspaket ermög-
licht . Doch selbst in diesem Bereich konnte nun durch
das parlamentarische Verfahren eine Verbesserung er-
reicht werden: Erstmalig werden in der Verfassung öf-
fentlich-private Partnerschaften für ganze Streckennetze
oder wesentliche Teile explizit ausgeschlossen . Damit
wird im Grundgesetz selbst ein klares Zeichen gegen die
Ausweitung von ÖPP gesetzt .
Die SPD-Bundestagsfraktion hätte sich eine noch wei-
tergehende Regelung gewünscht . Dies war jedoch mit
der CDU/CSU-Fraktion nicht möglich .
Demokratie und das Ringen im parlamentarischen
Verfahren bringen selten Ergebnisse, die zu 100 Prozent
den Forderungen einer einzelnen Fraktion entsprechen .
Wer künftig ÖPP vollständig verhindern will, muss dafür
eintreten, dass der Staat mehr Mittel in die Infrastruk-
tur investiert, wie es die SPD fordert . Ein völliger Aus-
schluss von ÖPP im Grundgesetz, der einer Zweidrittel-
mehrheit in Bundestag und Bundesrat bedarf, war in der
bestehenden Koalition nicht realisierbar . Deshalb werbe
ich für die Anerkennung der Verhandlungserfolge im par-
lamentarischen Verfahren und die Erhöhung des Drucks
auf all die politischen Kräfte, die eine schwarze Null im
Bundeshaushalt über politische Gestaltungsmöglichkei-
ten stellen .
Deshalb stimme ich dem Gesetzesvorhaben zu .
Svenja Stadler (SPD): Der Deutsche Bundestag
stimmt heute über die Neuregelung des bundesstaatli-
chen Finanzausgleichssystems ab . Im parlamentarischen
Verfahren ist es der SPD-Bundestagsfraktion gelungen,
wichtige Änderungen am ursprünglich eingebrachten
Gesetzentwurf durchzusetzen:
Zunächst ist zu beachten, dass der Bundestag über
ein Regelungspaket zu entscheiden hat, das im Vorfeld
bereits zwischen allen Ministerpräsidenten und der Bun-
desregierung abgestimmt worden ist . Da die Länder in
den Finanzbeziehungen Erleichterungen durch den Bund
erfahren haben, haben sie im Gegenzug zugestanden, ein
Stück ihrer Kompetenz im Bildungsbereich wieder an
den Bund zu geben und in diesem Zusammenhang auch
Bau, Planung und Verwaltung von Bundesstraßen bzw .
Autobahnen dem Bund zu übertragen . Diese Verhandlung
auf einer von der Verfassung nicht vorgesehenen Ebene
zwischen Länderregierungen und Bundesregierung halte
ich für äußerst kritikwürdig . Die Beratungen des Bundes-
tages wurden deutlich dadurch erschwert, dass die Minis-
terpräsidenten gemeinsam mit der Bundesregierung ein
Gesamtpaket völlig unterschiedlicher Regelungsbereiche
verabschiedeten, die im Parlament faktisch nicht mehr
entkoppelt werden können . Umso beachtlicher sind die
Veränderungen, die nun zur Abstimmung stehen . Unab-
hängig davon hoffe ich aber, dass alle Parteien aus dieser
Situation zukünftig lernen .
Aus SPD-Sicht war in dem Regelungspaket von An-
fang an die Ausweitung des Unterhaltsvorschusses zu
begrüßen . Für fast 1 Million alleinerziehende Eltern und
ihre Kinder stellt es einen wichtigen Fortschritt dar, dass
berufstätige Alleinerziehende, bei denen der unterhalts-
pflichtige Elternteil seinen Verpflichtungen nicht nach-
kommt, eine Erweiterung des Anspruches auf staatliche
Unterstützung erfahren . Die Altersgrenze wird von jetzt
12 Jahre auf 18 Jahre angehoben und die zeitliche Be-
fristung von maximal sechs Jahren abgeschafft. Dieses
wird dazu führen, dass die Doppelbelastung von Job und
Kinderbetreuung besser bewältigt werden kann .
Ein großer Erfolg ist auch das Aufbrechen des Koope-
rationsverbotes im Bildungsbereich . Der Bund wird in
die Lage versetzt, 3,5 Milliarden Euro für Bildungsinves-
titionen in finanzschwachen Kommunen bereitzustellen.
Eine vollständige Abschaffung des Kooperationsverbots
im Bildungsbereich bleibt ein wichtiges Ziel sozialde-
mokratischer Politik . Bildung ist eine gesamtstaatliche
Aufgabe . Dies ist aber zwischen den Koalitionspartnern
umstritten .
In der Fassung des Regelungspaketes, die in erster Le-
sung im Parlament beraten wurde, haben sich die Länder
in Artikel 90 des Grundgesetzes verpflichtet, unter ande-
rem die Verwaltung der Bundesautobahnen an den Bund
zu geben . Ferner war vorgesehen, dass der Bund sich da-
für einer Gesellschaft privaten Rechts bedienen könne .
Bereits in dieser Fassung war geregelt, dass das Eigen-
tum des Bundes an den Autobahnen und Bundesstraßen
unveräußerlich ist . Allerdings befürchteten viele Bürge-
rinnen und Bürger in diesem Zusammenhang, dass priva-
te Investoren über eine Beteiligung an der Gesellschaft
zumindest mittelbar eine Privatisierung durch die Hin-
tertür erreichen könnten . Die Verlautbarungen aus Bun-
desfinanzministerium und Bundesverkehrsministerium
verstärkten diesen Verdacht . Auch zivilgesellschaftliche
Organisationen und der Bundesrechnungshof kritisierten
das Vorhaben scharf . Die Gewerkschaft Verdi problema-
tisierte insbesondere Fragen beim Personalübergang .
Nach wochenlangen Verhandlungen liegt nun eine
Ergänzung des Verfassungstextes vor, der eine unmit-
telbare oder mittelbare Beteiligung Privater an der Ge-
sellschaft und deren Tochtergesellschaften ausdrücklich
ausschließt . Dem Engagement der SPD-Bundestagsfrak-
tion ist es zu verdanken, dass somit alle Hintertüren für
eine mögliche Privatisierung in der Verfassung selbst ge-
schlossen worden sind . Zudem ist es gelungen, dass alle
wechselbereiten Beschäftigten der Straßenbauverwal-
tungen der Länder vom Bund übernommen und grund-
sätzlich dort eingesetzt werden, wo sie bisher arbeiten .
Die Verkehrsinfrastrukturgesellschaft ist verpflichtet,
Tarifverträge für alle Beschäftigten abzuschließen . Ich
empfinde es als Bestätigung dieser Position, dass auch
die Gewerkschaft Verdi sowie der Bundesrechnungshof
die Erfolge des parlamentarischen Verfahrens ausdrück-
lich anerkennen .
Darüber hinaus werden in der Debatte sogenannte öf-
fentlich-private Partnerschaften (ÖPP) problematisiert .
Die Partnerschaften gibt es bereits – sie werden nicht
erst durch das hier vorliegende Regelungspaket ermög-
licht . Doch selbst in diesem Bereich konnte nun durch
das parlamentarische Verfahren eine Verbesserung er-
reicht werden: Erstmalig werden in der Verfassung öf-
fentlich-private Partnerschaften für ganze Streckennetze
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24229
(A) (C)
(B) (D)
oder wesentliche Teile explizit ausgeschlossen . Damit
wird im Grundgesetz selbst ein klares Zeichen gegen die
Ausweitung von ÖPP gesetzt .
Die SPD-Bundestagsfraktion hätte sich eine noch wei-
tergehende Regelung gewünscht . Dies war jedoch mit
der CDU/CSU-Fraktion nicht möglich .
Demokratie und das Ringen im parlamentarischen
Verfahren bringen selten Ergebnisse, die zu 100 Prozent
den Forderungen einer einzelnen Fraktion entsprechen .
Wer künftig ÖPP vollständig verhindern will, muss dafür
eintreten, dass der Staat mehr Mittel in die Infrastruk-
tur investiert, wie es die SPD fordert . Ein völliger Aus-
schluss von ÖPP im Grundgesetz, der einer Zweidrittel-
mehrheit in Bundestag und Bundesrat bedarf, war in der
bestehenden Koalition nicht realisierbar . Deshalb werbe
ich für die Anerkennung der Verhandlungserfolge im par-
lamentarischen Verfahren und die Erhöhung des Drucks
auf all die politischen Kräfte, die eine schwarze Null im
Bundeshaushalt über politische Gestaltungsmöglichkei-
ten stellen .
Christoph Strässer (SPD): Heute hat der Deutsche
Bundestag den neuen Bund-Länder-Finanzausgleich
beschlossen, der innerhalb eines umfangreichen Pakets
auch die Regelungen zur Errichtung einer Infrastruktur-
gesellschaft enthält. Nach reiflicher Abwägung habe ich
mich dafür entschieden, gegen dieses Paket zu stimmen .
Dieses Gesetzespaket enthält umfassende Änderungen
des Grundgesetzes sowie einfachgesetzliche Änderun-
gen . Es geht zurück auf eine Einigung zwischen der Bun-
desregierung und den Ländern vom Dezember 2016 als
Ersatz für das Auslaufen der Regelungen zum Bund-Län-
der-Finanzausgleich 2019 .
Der Grund für mich, dem Gesetzpaket meine Zustim-
mung zu verweigern, ist die darin enthaltene Einführung
einer Infrastrukturgesellschaft zur Sicherstellung der Fi-
nanzierung und Effizienz bei Bau und Verwaltung der
Bundesautobahnen. Die Schaffung einer Gesellschaft
privaten Rechts widerspricht dem Grundsatz, dass die
Bereitstellung öffentlicher Güter, wie der öffentlichen
Verkehrsinfrastruktur, in die öffentliche Hand gehört.
Dieses Prinzip ist eine wesentliche Errungenschaft sozi-
aldemokratischer Politik und ein hohes verfassungsrecht-
liches Gut . Der Errichtung einer Infrastrukturgesellschaft
könnte ich daher nur zustimmen, wenn diese die Form
einer Gesellschaft öffentlichen Rechts hätte. Das ist in
dem vorliegenden Kompromiss nicht der Fall . CDU/
CSU haben dies vehement abgelehnt .
Meine Fraktionskollegen und -kolleginnen haben
lange, gut und hart verhandelt, um möglichst viele Pri-
vatisierungsschranken einzubauen . So wurden auch Än-
derungen in das Grundgesetz hineinverhandelt, die die
mittelbare und unmittelbare Beteiligung Dritter an der
Infrastrukturgesellschaft und deren Tochtergesellschaf-
ten ausschließen . Außerdem ist ausgeschlossen, dass
sich Private im Rahmen von öffentlich-privaten Part-
nerschaften (ÖPP) für Streckennetze, die das gesamte
Bundesautobahnnetz oder wesentliche Teile davon be-
treffen, beteiligen. Wenn man bedenkt, dass insbeson-
dere Bundesverkehrsminister Dobrindt ursprünglich bis
zu 49 Prozent der Gesellschaft an private Investoren ver-
äußern wollte, ist das ein erstaunliches Verhandlungser-
gebnis, für das unseren Verhandlungsführern Dank und
Respekt gebührt .
Mir persönlich geht das aber nicht weit genug . Denn
das bedeutet auch, dass auf der anderen Seite die Mög-
lichkeit besteht, ÖPP in höherem Maße durchzuführen .
Zudem ist der Begriff „wesentliche Teile“ zu unkonkret,
als dass damit ein wirklicher Ausschluss Privater garan-
tiert ist . Darüber hinaus wird erstmals geradezu dazu
aufgerufen, dass die Sanierung und der Bau von Schulen
durch ÖPP-Vorhaben umgesetzt werden . Diesem wider-
spreche ich mit aller Entschiedenheit . Die Bereitstellung
von Bildungsinfrastruktur ist elementare Aufgabe des
Staates .
Auch ist ein möglicher Wechsel der Rechtsform, zum
Beispiel der GmbH in eine AG, lediglich einfachgesetz-
lich geregelt . Das heißt, eine andere Bundesregierung
kann diese Umwandlung ohne eine Änderung des Grund-
gesetzes mit einfacher Mehrheit vollziehen . Gleiches gilt
für die Kreditfähigkeit der Gesellschaft . Es ist zwar nicht
erlaubt, dass diese selbst Kredite aufnimmt, aber dieser
Punkt ist ebenfalls nur einfachgesetzlich geregelt . Der
vorgesehene Parlamentsvorbehalt ist lediglich einfach-
gesetzlich geregelt und kann durch eine andere politische
Mehrheit jederzeit verändert werden . Das gilt auch für
die Übernahme der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen .
Auch hier besteht die Gefahr, dass eine andere politische
Mehrheit den Abbau von bislang gesicherten Arbeitsplät-
zen mit Tariflöhnen und guter Mitbestimmung organi-
siert .
Für mich ist klar: Die Union wollte von Anfang an eine
echte Privatisierung der Autobahnen und wird das auch
weiterhin vorantreiben . Der vorliegende Kompromiss
schließt dies nicht vollumfänglich aus, und daher habe
ich ihm nicht zugestimmt . Den weiteren Regelungen, die
sich beispielsweise auf die Neuordnung des Finanzaus-
gleichs oder das Aufheben des Kooperationsverbotes im
Bildungsbereich beziehen, stimme ich selbstverständlich
zu . Ich bedaure es deshalb sehr, dass in einer Schluss-
abstimmung über alle Grundgesetzänderungen im Paket
abgestimmt wird, nachdem bereits über die dargestellten
Einzelbereiche auch jeweils namentlich votiert worden
ist .
Wegen der überragenden Bedeutung der Veränderung
des Artikel 90 GG ist mir eine Zustimmung zum Gesamt-
paket aus den vorstehenden Gründen nicht möglich .
Dr. Karin Thissen (SPD): Der Deutsche Bundestag
stimmt heute über die Neuregelung des bundesstaatli-
chen Finanzausgleichssystems ab . Im parlamentarischen
Verfahren ist es der SPD-Bundestagsfraktion gelungen,
wichtige Änderungen am ursprünglich eingebrachten
Gesetzentwurf durchzusetzen:
Erstens . Aus SPD-Sicht war in dem Regelungspaket
von Anfang an die Ausweitung des Unterhaltsvorschus-
ses zu begrüßen . Für fast 1 Million alleinerziehende El-
tern und ihre Kinder stellt es einen wichtigen Fortschritt
dar, dass berufstätige Alleinerziehende, bei denen der un-
terhaltspflichtige Elternteil seinen Verpflichtungen nicht
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724230
(A) (C)
(B) (D)
nachkommt, eine Erweiterung des Anspruches auf staat-
liche Unterstützung erfahren . Die Altersgrenze wird von
jetzt 12 Jahre auf 18 Jahre angehoben und die zeitliche
Befristung von maximal sechs Jahren abgeschafft. Dieses
wird dazu führen, dass die Doppelbelastung von Job und
Kinderbetreuung besser bewältigt werden kann .
Zweitens . Ein großer Erfolg ist auch das Aufbrechen
des Kooperationsverbotes im Bildungsbereich . Der Bund
wird in die Lage versetzt, 3,5 Milliarden Euro für Bil-
dungsinvestitionen in finanzschwachen Kommunen be-
reitzustellen. Eine vollständige Abschaffung des Koope-
rationsverbots im Bildungsbereich bleibt ein wichtiges
Ziel sozialdemokratischer Politik . Bildung ist eine ge-
samtstaatliche Aufgabe . Dies ist aber zwischen den Koa-
litionspartnern umstritten .
Drittens . In der Fassung des Regelungspaketes, die in
erster Lesung im Parlament beraten wurde, haben sich
die Länder in Artikel 90 des Grundgesetzes verpflich-
tet, unter anderem die Verwaltung der Bundesautobah-
nen an den Bund zu geben . Ferner war vorgesehen, dass
der Bund sich dafür einer Gesellschaft privaten Rechts
bedienen könne . Bereits in dieser Fassung war geregelt,
dass das Eigentum des Bundes an den Autobahnen und
Bundesstraßen unveräußerlich ist . Allerdings befürchte-
ten viele Bürgerinnen und Bürger in diesem Zusammen-
hang, dass private Investoren über eine Beteiligung an
der Gesellschaft zumindest mittelbar eine Privatisierung
durch die Hintertür erreichen könnten . Die Verlautba-
rungen aus Bundesfinanzministerium und Bundesver-
kehrsministerium verstärkten diesen Verdacht . Auch
zivilgesellschaftliche Organisationen und der Bundes-
rechnungshof kritisierten das Vorhaben scharf . Die Ge-
werkschaft Verdi problematisierte insbesondere Fragen
beim Personalübergang .
Nach wochenlangen Verhandlungen liegt nun eine
Ergänzung des Verfassungstextes vor, der eine unmit-
telbare oder mittelbare Beteiligung Privater an der Ge-
sellschaft und deren Tochtergesellschaften ausdrücklich
ausschließt . Dem Engagement der SPD-Bundestagsfrak-
tion ist es zu verdanken, dass somit alle Hintertüren für
eine mögliche Privatisierung in der Verfassung selbst ge-
schlossen worden sind . Zudem ist es gelungen, dass alle
wechselbereiten Beschäftigten der Straßenbauverwal-
tungen der Länder vom Bund übernommen und grund-
sätzlich dort eingesetzt werden, wo sie bisher arbeiten .
Die Verkehrsinfrastrukturgesellschaft ist verpflichtet,
Tarifverträge für alle Beschäftigten abzuschließen . Ich
empfinde es als Bestätigung dieser Position, dass auch
die Gewerkschaft Verdi sowie der Bundesrechnungshof
die Erfolge des parlamentarischen Verfahrens ausdrück-
lich anerkennen .
Darüber hinaus werden in der Debatte sogenannte öf-
fentlich-private Partnerschaften (ÖPP) problematisiert .
Die Partnerschaften gibt es bereits – sie werden nicht erst
durch das hier vorliegende Regelungspaket ermöglicht .
Doch selbst in diesem Bereich konnte nun durch das par-
lamentarische Verfahren eine Verbesserung erreicht wer-
den: Erstmalig werden in der Verfassung öffentlich-pri-
vate Partnerschaften für ganze Streckennetze oder
wesentliche Teile explizit ausgeschlossen . Damit wird im
Grundgesetz selbst ein klares Zeichen gegen die Auswei-
tung von ÖPP gesetzt . Die SPD-Bundestagsfraktion hätte
sich eine noch weitergehende Regelung gewünscht . Dies
war jedoch mit der CDU/CSU-Fraktion nicht möglich .
Demokratie und das Ringen im parlamentarischen
Verfahren bringen selten Ergebnisse, die zu 100 Prozent
den Forderungen einer einzelnen Fraktion entsprechen .
Wer künftig ÖPP vollständig verhindern will, muss dafür
eintreten, dass der Staat mehr Mittel in die Infrastruk-
tur investiert, wie es die SPD fordert . Ein völliger Aus-
schluss von ÖPP im Grundgesetz, der einer Zweidrittel-
mehrheit in Bundestag und Bundesrat bedarf, war in der
bestehenden Koalition nicht realisierbar . Deshalb werbe
ich für die Anerkennung der Verhandlungserfolge im par-
lamentarischen Verfahren und die Erhöhung des Drucks
auf all die politischen Kräfte, die eine schwarze Null im
Bundeshaushalt über politische Gestaltungsmöglichkei-
ten stellen .
Michael Vietz (CDU/CSU): Dieses umfangreiche Pa-
ket an Änderungen des Grundgesetzes birgt unter dem
Strich ein wenig mehr Licht denn Schatten, sodass ich
letzten Endes trotz größerer grundsätzlicher Bedenken
diesem zustimme .
Die gesamtstaatliche Entscheidungs- und Handlungs-
fähigkeit der Bundesrepublik Deutschland muss zweifel-
los zu jeder Zeit und auf jeder staatlichen Ebene gegeben
sein. Ebenso die klare Definition von Zuständigkeit und
letztendlicher Verantwortung für Entscheidungsprozesse .
Entscheidend hierfür ist die finanzielle Planungssicher-
heit von Bund und Ländern .
Dieser Gesetzentwurf ist die gelebte finanzielle Soli-
darität des Bundes mit den Ländern . Ungeachtet der Tat-
sache, dass ein Gutteil der Steuereinnahmen in Deutsch-
land bereits den Ländern zu ihrer Aufgabenerfüllung
zufließt.
Die Länder werden von manchen Aufgaben, so zum
Beispiel der Bundesauftragsverwaltung für die Bundes-
autobahnen, entlastet. Dies gibt die Hoffnung, dass sich
Unterhaltung und Ausbau des Autobahnnetzes durch die
einheitliche Führung durch den Bund signifikant verbes-
sern werden . Eine von vielen Bürgerinnen und Bürgern
befürchtete Privatisierung der Bundesautobahnen sehe
ich hier nicht, diese bleiben unveräußerliches Bundesei-
gentum . Allerdings komme ich nicht umhin, festzustel-
len, dass in den Ländern mit einer guten funktionieren-
den Auftragsverwaltung wie Niedersachsen zukünftig
Synergieeffekte für effektive Straßenverwaltung und
Straßenbau wegfallen werden .
Durch die Einführung eines Ausnahmetatbestands
zu Artikel 104b GG kann der Bund für gesamtstaatlich
bedeutsame Investitionen im Bereich der Bildungsinfra-
struktur Finanzhilfen gewähren . Damit wird die grund-
sätzlich gegebene ausschließliche Gesetzgebungskompe-
tenz der Länder aufgrund des grundsätzlich bundesweit
festzustellenden, je nach Bundesland und Kommune aber
doch erheblich variierenden Sanierungs- und Moderni-
sierungsbedarfs im Interesse einer angemessenen und
zeitgemäßen Bildung unserer Kinder durchbrochen .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24231
(A) (C)
(B) (D)
Diejenigen, die in der Vergangenheit hier, aus welchen
Gründen auch immer, nachlässig waren, können zukünf-
tig Hilfe vom Bund erhalten – mit allen nachvollziehba-
ren Irritationen bei denjenigen, die ihrer Verantwortung
bislang aus eigener Kraft nachgekommen sind . Ebenso
mit dem Risiko, dass teilweises leichtsinniges Unterlas-
sen bei der eigenen Aufgabenerfüllung zukünftig vom
Bund mit Förderung belohnt wird .
Aus der Sicht des Bundes ist dabei sicherlich zu be-
grüßen, dass die Kriterien für die Bestimmung der för-
derberechtigten finanzschwachen Kommunen durch
Bundesgesetz oder in den abzuschließenden Verwal-
tungsvereinbarungen festgelegt werden sollen .
Dies gilt auch für die Ergänzung des Artikel 104b
GG, die dem Bund nun die Möglichkeit eröffnet, über
die bei der Gewährung von Finanzhilfen vorgesehene
Festlegung der Investitionsbereiche und der Art der zu
fördernden Investitionen hinaus auch die Grundzüge der
Ausgestaltung der Länderprogramme zur Verwendung
der Finanzhilfen festzulegen .
Ein weiterer aus der Sicht des Bundes begrüßenswerter
Aspekt ist die Ermächtigung des Bundesrechnungshofs
in Artikel 114 GG, im Rahmen der ihm obliegenden Prü-
fung der Haushalts- und Wirtschaftsführung des Bundes
hinsichtlich der zweckentsprechenden Verwendung von
Bundesmitteln im Bereich von Mischfinanzierungstatbe-
ständen auch Erhebungen bei den mit der Mittelbewirt-
schaftung beauftragten Dienststellen der Landesverwal-
tung durchzuführen . Dies ist ein begrüßenswerter Schritt
zur Verbesserung der Transparenz der Verwendung der
vom Bund den Ländern zur Verfügung gestellten Mittel .
Diese aus der Vielzahl der Maßnahmen zur Gewähr-
leistung der gesamtstaatlichen Entscheidungs- und Hand-
lungsfähigkeit herausgegriffenen Aspekte illustrieren
deutlich die immer weiter zunehmende – und in Anbe-
tracht des Zustimmungsbedürfnisses durch den Bundes-
rat faktisch irreversible – Bereitschaft der Länder, Teile
ihrer Souveränität gegen finanzielle Vorteile aufzugeben.
Sie lassen sich damit in einem immer größeren Maße
vom Bund an dem berühmten „goldenen Zügel“ führen
und gefährden damit langfristig den föderalen Staatsauf-
bau unseres Landes .
Des Weiteren ist zu befürchten, dass dieser Akt der So-
lidarität des Bundes als Belohnung verantwortungslosen
Handelns aufgefasst wird. Ich bin der Auffassung, dass
derjenige, der aufgrund falscher Prioritäten die Funkti-
onsunfähigkeit wichtiger Lebensbereiche herbeiführt,
nicht automatisch auf die Hilfe des Bundes setzen kann
und darf . Alles andere wäre ein falscher Anreiz .
Diese zukünftig grundgesetzlich festgelegten Maß-
nahmen sind faktisch irreversibel . Eine Evaluierung und
gegebenenfalls erforderliche Korrektur bzw . Rücknahme
ist zwar nicht aus rechtlichen, aber doch aus tatsächli-
chen Gründen wenig wahrscheinlich . Bewährt sich eine
dieser Regelungen nicht, so wird der Bund sie nur mit
noch größeren Zugeständnissen an die Länder korrigie-
ren können . Damit ist ein derzeit noch nicht abschätzba-
res Erpressungspotenzial gegeben .
Vor diesem Hintergrund hätte ich eine abstrakt-gene-
relle Regelung im Grundgesetz mit einer einfachgesetzli-
chen Konkretisierung deutlich bevorzugt .
Trotz dieser Bedenken und Sorgen stimme ich letzt-
endlich dieser umfassenden Änderung des Grundge-
setzes zu. Ich hege die Hoffnung, dass die Vielzahl der
Maßnahmen zur Stabilisierung der Finanzen der Bundes-
länder – und ihrer Kommunen – auf Sicht greifen wer-
den . Die Vorteile und Chancen der in diesem Gesetzent-
wurf enthaltenen Maßnahmen übertreffen die Nachteile
und Risiken in meiner Einschätzung um einen winzigen
Hauch .
Barbara Woltmann (CDU/CSU): Ich möchte mit
dieser persönlichen Erklärung zum Ausdruck bringen,
dass ich zwar dem Gesetz zustimmen werde, dennoch
betreffend einzelner Aspekte der Gesetzesentwürfe er-
hebliche Zweifel habe . So habe ich unter anderem Sorge,
dass sich mit der Änderungen des Artikel 104c GG mit
der Mitfinanzierungsmöglichkeit für den Bund in der
Bildungsinfrastruktur finanzschwacher Kommunen eine
Allgemeinzuständigkeit des Bundes für alle Probleme
vor Ort entwickeln wird . Es besteht die Gefahr eines ers-
ten Schrittes in Richtung Zentralisierung .
Änderungen des Grundgesetzes sollen eigentlich nur
dann erfolgen, wenn es sich um dauerhafte Änderungen
handelt. Die Festschreibung des Begriffs „finanzschwa-
che Kommunen“ im Grundgesetz steht im Widerspruch
zum einst verfassungsrechtlich beschlossenen „Koopera-
tionsverbot“ in der Bildungspolitik . Statt Bundeshilfen
für „finanzschwache Kommunen“ im Grundgesetz fest-
zuschreiben, sollten die finanziell zuständigen Länder
alles daransetzen, die Finanzschwäche von Kommunen
zu beheben . Weiter darf es kein erstrebenswerter Zustand
sein, möglichst lange als „finanzschwache Kommune“
zu gelten, um sich hohe Beträge an Fördergeldern des
Bundes zu sichern . Das eigentliche Ziel muss es sein,
dass es keine finanzschwachen Kommunen gibt. Statt-
dessen werden finanzschwache Kommunen nun sogar im
Grundgesetz verankert .
Anlage 8
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Stefan Liebich (DIE LINKE) zu
der sechsten namentlichen Abstimmung über den
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf
eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes
(Artikel 125c) (Tagesordnungspunkt 9)
Ich habe versehentlich mit Nein gestimmt . Mein Vo-
tum lautet Enthaltung .
Anlage 9
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) zu der achten namentlichen Ab-
stimmung über den von der Bundesregierung ein-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724232
(A) (C)
(B) (D)
gebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung
des Grundgesetzes (Artikel 90, 91c, 104b, 104c,
107, 108, 109a, 114, 125c, 143d, 143e, 143f, 143g)
(Tagesordnungspunkt 9)
Ich habe versehentlich mit Nein gestimmt . Mein Vo-
tum lautet Enthaltung .
Anlage 10
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Birgit Wöllert, Kerstin Kassner
und Kersten Steinke (alle DIE LINKE) zu der Ab-
stimmung über die Beschlussempfehlung des Petiti-
onsausschusses: Sammelübersicht 443 zu Petitionen
(Beschlussempfehlung 1, laufende Nummer 1–11,
Leitakte 2-18-15-2124-005471, Frau Skott u. a.) (Heb-
ammen) (Tagesordnungspunkt 47 u)
Die genannte Petition fordert, einen entsprechenden
bundesrechtlichen Rahmen zu schaffen, durch den jeder
Frau die freie Wahl des Geburtsortes sowie die Geburts-
begleitung durch eine Hebamme ihres Vertrauens ge-
währleistet und die Neuordnung des Vergütungssystems
in der Geburtshilfe erreicht wird .
Die Beschlussempfehlung, die Petition dem Bundes-
ministerium für Gesundheit lediglich zu überweisen,
soweit darin die Verbesserung der Datenlage hinsicht-
lich der bundesweiten Versorgung mit Hebammenhilfe
begehrt wird und dann abzuschließen, reicht bei weitem
nicht aus .
Die Darstellung in der Begründung der Beschluss-
empfehlung des Ausschusses, das Anliegen der Petentin
und der 41 397 Mitzeichnerinnen und Mitzeichner sei
teilweise erfüllt, stimmt in der Realität weder mit dem
Arbeitsalltag der Hebammen noch mit der Erfahrung vie-
ler werdender Mütter überein .
Einer Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes
des Bundestages zur „personellen Ausstattung . . . in sta-
tionären Geburtshilfeeinrichtungen“ zufolge ergab eine
„Untersuchung von 23 Studien aus 16 Ländern“, dass
eine „Eins-zu-eins-Betreuung während der Geburt eine
Absenkung von Interventionsraten zur Folge hat“ (https://
www .bundestag .de/blob/498952/e6d987867d45e-
a04396edc12a38aa6d3/wd-9-079-16-pdf-data .pdf; S . 6) .
Jedoch muss in Deutschland „fast die Hälfte der Hebam-
men … drei Frauen gleichzeitig während der Geburt“ be-
treuen (ebenda) . Infolge der mangelhaften Arbeits- und
Entlohnungsbedingungen hat laut Deutscher Kranken-
hausgesellschaft (DKG) „fast jedes zweite Krankenhaus
mit einer Geburtshilfeabteilung Schwierigkeiten …, of-
fene Hebammenstellen zu besetzen“ (ebenda) .
Von der Begleitung durch eine Hebamme während
der Geburt (regelhafte 1 : 1-Betreuung) ist Deutschland
weit entfernt . Die freie Wahl des Geburtsortes kann nicht
mehr gewährleistet werden . Insgesamt ist ein ganzer Be-
rufsstand qualifizierter und hochmotivierter Hebammen
und Entbindungspfleger existenziell gefährdet.
Auch eine nachhaltige Lösung für die Haftpflichtpro-
blematik der Hebammen ist seitens der Bundesregierung
bis heute nicht erzielt worden . Eine grundlegende Maß-
nahme würde in der Einführung eines steuerfinanzierten
Haftungsfonds für alle Gesundheitsberufe bestehen (sie-
he Drucksache 18/1483) .
Zudem ist eine zeitgemäße Ausgestaltung von Heb-
ammenleistungen dringend erforderlich, in der die Heb-
ammen als erste Ansprechpartnerinnen für Frauen in
Schwangerschaft, Geburt und Mutterschaft benannt und
weitergehende Leistungen unter Berücksichtigung ge-
sundheitsfördernder und psychosozialer Aspekte ermög-
licht werden . Dieses Verständnis eines neuen Berufsbil-
des sollte sich auch in der Vergütung niederschlagen .
Die Versorgung mit Hebammenleistungen gehört zur
Grundversorgung der Bevölkerung – wie die Versorgung
mit Hausärztinnen und Hausärzten . Sie muss wohnort-
nah erfolgen, zum Beispiel über integrierte Lösungen
(Versorgungszentren, Hebammenstützpunkte, Koopera-
tionen) . Eine wissenschaftlich fundierte, kleinräumige
und konsequent an der gesundheitlichen Versorgung aus-
gerichtete Bedarfsplanung für alle Gesundheitsberufe ist
zwingend erforderlich .
Aus den vorgenannten Gründen stimmen wir gegen
die in der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses
empfohlene einfache Überweisung und den Abschluss
des Petitionsverfahrens .
Anlage 11
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Katja Keul und Beate Müller-
Gemmeke (beide BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zu
der namentlichen Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Ge-
setzes über den Abschluss der Rentenüberleitung
(Rentenüberleitungs-Abschlussgesetz) (Tagesord-
nungspunkt 12 a)
Es ist schier unglaublich, was selbst im 21 . Jahrhun-
dert in Deutschland möglich ist . Im Jahr 2017 gibt es in
Deutschland Krankenschwestern, die von ihrer Schwes-
ternschaft beim Deutschen Roten Kreuz an Krankenhäu-
ser entliehen werden . Sie sind Leiharbeitnehmerinnen .
Das hat selbst der Europäische Gerichtshof festgestellt .
Doch sie werden nicht als solche behandelt .
Die Rotkreuzschwestern pflegen Menschen, versor-
gen Wunden und legen Verbände an, sie sprechen kran-
ken Menschen Mut zu und kümmern sich professionell
um alles, was eine Krankenschwester eben tut . Doch die-
se Frauen sind rechtlich gesehen keine Arbeitnehmerin-
nen . Denn sie tun ihren Dienst angeblich völlig selbstlos
und bescheiden . So sah es zumindest die Vereinssatzung
des Deutschen Roten Kreuzes in den 50er-Jahren . Und
so sieht es seither das Bundesarbeitsgericht . Denn auch
das BAG meint, DRK-Schwestern sind keine Arbeitneh-
merinnen .
Das heißt, im 21 . Jahrhundert gibt es in Deutschland
Beschäftigte, die keinerlei Rechte haben . Diese Kranken-
https://www.bundestag.de/blob/498952/e6d987867d45ea04396edc12a38aa6d3/wd-9-079-16-pdf-data.pdf
https://www.bundestag.de/blob/498952/e6d987867d45ea04396edc12a38aa6d3/wd-9-079-16-pdf-data.pdf
https://www.bundestag.de/blob/498952/e6d987867d45ea04396edc12a38aa6d3/wd-9-079-16-pdf-data.pdf
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24233
(A) (C)
(B) (D)
schwestern dürfen nicht streiken, sie haben keinen Kündi-
gungsschutz, sie können keinen Betriebsrat wählen, und
sie können kein Arbeitsgericht anrufen, wenn ihnen ge-
kündigt wird . Tritt eine Schwester aus der DRK-Schwes-
ternschaft aus, so darf sie zwei Jahre lang in keinem
DRK-Krankenhaus mehr arbeiten . Dieser Tatbestand ist
völlig inakzeptabel . Wie kann eine Gesellschaft wie die
unsere solch ein recht- und schutzloses Arbeitsverhältnis
einfach hinnehmen?
Immerhin haben sich die DRK-Schwestern in Essen
gewehrt . Dort wandte sich der Betriebsrat gegen die un-
befristete Entleihung einer Rotkreuzschwester, mit dem
Verweis, das sei Leiharbeit und die sei nur vorüberge-
hend gestattet . Der Fall ging bis vor den Europäischen
Gerichtshof . Und der gab dem Essener Betriebsrat Recht .
Der Sonderstatus der Rotkreuzschwestern sei nicht mit
der europäischen Leiharbeitsrichtlinie vereinbar, urteilte
er .
Das Bundesarbeitsgericht schloss sich dieser Rechts-
auffassung an. Theoretisch müsste das von Nahles durch-
gesetzte neue Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, das am
1 . April in Kraft getreten ist, damit auch für die Rotkreuz-
schwestern gelten . Dieses Gesetz kritisiere ich noch im-
mer . Aber im Falle der DRK-Schwestern könnte die neue
Höchstüberlassungsdauer nach 18 Monaten dazu führen,
dass die Schwestern von den Gestellungspartnern über-
nommen werden; denn in dieser Branche werden ja im-
merhin händeringend Fachkräfte gesucht . Damit hätten
die Schwestern endlich einen regulären Arbeitsvertrag
und damit auch alle Arbeitnehmer- und Arbeitnehmerin-
nenrechte, wie alle anderen Beschäftigten auch .
Doch dazu wird es nicht kommen . Denn das Deutsche
Rote Kreuz pochte auf seinen Sonderstatus – und fand
bei Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles und den Re-
gierungsfraktionen Gehör . Flugs wurde ein Änderungs-
antrag geschrieben, mit dem das DRK-Gesetz geändert
wird, und zwar in einem einzigen Punkt: Die 18-mona-
tige Höchstüberlassungsdauer gilt künftig nur für Rot-
kreuzschwestern nicht . In einer Nacht-und-Nebel-Aktion
wurde diese Gesetzesänderung jetzt versteckt in einem
Gesetz zur Rentenüberleitung (Omnibusverfahren) in das
parlamentarische Verfahren eingebracht .
Diese Gesetzesänderung lehne ich strikt ab . Denn die
DRK-Schwestern müssen endlich als normale Arbeit-
nehmerinnen anerkannt werden, mit allen Rechten und
Pflichten. Mit dieser Gesetzesänderung passiert aber
genau das Gegenteil . Das ist nicht zeitgemäß und auch
nicht europarechtskonform .
Anlage 12
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Roderich Kiesewetter (CDU/
CSU) zu der namentlichen Abstimmung über die
Beschlussempfehlung zu dem Antrag der Abgeord-
neten Luise Amtsberg, Omid Nouripour, Volker
Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Abschiebung
nach Afghanistan aussetzen (Tagesordnungs-
punkt 47 n)
Ich habe versehentlich mit Nein gestimmt . Mein Vo-
tum lautet Ja .
Anlage 13
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Johannes Kahrs (SPD) zu der
namentlichen Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Die Linke: Sofortiger Abschiebestopp
nach Afghanistan (Zusatztagesordnungspunkt 10)
Ich habe versehentlich mit Ja gestimmt . Mein Votum
lautet Nein .
Anlage 14
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Johannes Kahrs (SPD) zu der
namentlichen Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Neue Lagebe-
urteilung für Afghanistan (Zusatztagesordnungs-
punkt 11)
Ich habe versehentlich mit Nein gestimmt . Mein Vo-
tum lautet Ja .
Anlage 15
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– des von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der
Zweiten Zahlungsdiensterichtlinie
– der Beschlussempfehlung und des Berichts
des Finanzausschusses zu dem Antrag der Ab-
geordneten Nicole Maisch, Luise Amtsberg,
Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Kontogebühren – Transparenz und Verbrau-
cherschutz erhöhen
(Tagesordnungspunkt 20 a und b)
Matthias Hauer (CDU/CSU): Nach den umfangrei-
chen Beratungen der letzten Wochen bringen wir heute
die Umsetzung der Zweiten Zahlungsdiensterichtlinie
zum Abschluss . Wir wollen damit erreichen, dass derje-
nige, der elektronisch bargeldlos zahlt, dies in Zukunft
noch bequemer und sicherer tun kann . Mit dem Gesetz
passen wir den Rechtsrahmen an den technologischen
Fortschritt an und fördern Innovationen im Bereich der
elektronischen und mobilen Zahlungen . Gleichzeitig
stärken wir den Verbraucherschutz und erhöhen die Si-
cherheit von Zahlungen .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724234
(A) (C)
(B) (D)
Mit dem Gesetz gehen wir zudem einige Themen au-
ßerhalb des Zahlungsverkehrs an . Beispielsweise sorgen
wir dafür, dass bei Anschlussfinanzierungen und Um-
schuldungen für Wohnimmobilienkredite künftig grund-
sätzlich keine erneute Kreditwürdigkeitsprüfung mehr
notwendig sein wird . Vor allem geht es bei dem Gesetz
aber um das Thema Zahlungsverkehr: Wir beschließen
heute wesentliche Verbesserungen für elektronische Zah-
lungen .
Auf drei wesentliche Themen möchte ich näher ein-
gehen:
Erstens . Wir ermöglichen der BaFin, auch neuartige
Finanzdienstleister zu beaufsichtigen . Zweitens . Wir
machen elektronische Zahlungen sicherer . Drittens . Wir
verbieten Preisaufschläge für den Einsatz gängiger Zah-
lungsmittel .
Zu Punkt 1, der erweiterten Aufsicht: Wer seine Bank-
geschäfte auf dem Smartphone erledigt, der nutzt dafür
vielleicht schon heute eine App, die ihm einen Überblick
über seine Konten bei verschiedenen Banken ermöglicht .
Solche Kontoinformationsdienste verschaffen schnell
einen Überblick über die eigenen Finanzen . Aber nicht
nur der Blick auf die eigenen Konten, sondern auch der
Geldtransfer von diesen eigenen Konten erfolgt immer
häufiger elektronisch.
Wenn ein Kunde zum Beispiel seinen Onlineeinkauf
per Sofortüberweisung bezahlen möchte, prüft der Dienst
erst, ob der Kunde genug Geld auf dem Konto hat, und
veranlasst dann die Zahlung . Solche Zahlungsauslöse-
dienste machen das Bezahlen im Internet einfacher . Mit
diesem technologischen Fortschritt gehen aber auch Ge-
fahren einher, vor allem wenn es um sensible Kontodaten
geht .
Früher war das eine Sache zwischen dem Kontoinha-
ber auf der einen Seite und seiner Bank auf der anderen
Seite . Wenn heute ein Dienst dazwischentritt, dann muss
klar sein, dass Kontoinformationen nur über sichere Ka-
näle übertragen werden, Informationen nur im benötigten
Maße abgefragt und gespeichert werden und dass genau
nachverfolgt werden kann, wer wann auf das Konto zu-
gegriffen hat. Hohe Sicherheitsanforderungen und stren-
ger Datenschutz müssen hier selbstverständlich sein und
können mit dem heutigen Gesetz endlich auch durch die
Aufsicht der BaFin sichergestellt werden . Damit stärken
wir nachhaltig den Verbraucherschutz .
Wir erhöhen die Sicherheit aber auch bei elektroni-
schen Zahlungen, bei denen kein Zahlungsauslösedienst
zwischengeschaltet ist . Damit komme ich zu Punkt 2, der
vor allem normale Onlineüberweisungen betrifft. Hierbei
wird die Identität des Kontoinhabers künftig durch zwei
Merkmale überprüft . Das kann etwa das PIN/TAN-Ver-
fahren sein – als ein klassisches Beispiel einer starken
Kundenauthentifizierung. Mit diesen Maßnahmen wol-
len wir die Anzahl missbräuchlich ausgelöster elektro-
nischer Zahlungen weiter reduzieren . Die Details zur
starken Kundenauthentifizierung werden gerade auf eu-
ropäischer Ebene ausgearbeitet . Wichtig ist uns als CDU/
CSU hierbei besonders, dass Komfort und Sicherheit im
Einklang miteinander stehen .
Sollte es doch einmal dazu kommen, dass eine nicht
autorisierte Zahlung ausgelöst wird, so kann sich der Ver-
braucher auch hier darauf verlassen, dass ihn die neuen
Regelungen schützen . Wir verbessern dazu die Haftungs-
verteilung, vor allem bei Kreditkartenmissbrauch . Der
Verbraucher haftet anstatt gegenwärtig mit 150 Euro in
Zukunft maximal mit 50 Euro . Auch das ist ein weiterer
Schritt zu mehr Verbraucherschutz im Zahlungsverkehr .
Abschließend – damit komme ich zu Punkt 3 – gehen
wir das Problem der Zahlungsmittelentgelte an . Bis heute
kommt es oft bei Zahlungen im Internet zu bösen Überra-
schungen: Wer zum Beispiel online ein Bahnticket oder
eine Flugreise bucht, der wird bei der Zahlung etwa per
Kreditkarte häufig mit Zusatzkosten zur Kasse gebeten.
Wir schieben mit dem Gesetz solchen Preisaufschlägen
für Überweisungen, Lastschriften und die Nutzung gän-
giger Zahlungskarten einen Riegel vor . Anbieter nicht
gängiger Zahlungsmittel fordern wir auf, ihre Preis- und
Vertragsstruktur so anzupassen, dass die Händler in die
Lage versetzt werden, auch diese in Zukunft entgeltfrei
anzubieten .
Mit dem Gesetz schaffen wir zahlreiche Verbesserun-
gen für Verbraucherinnen und Verbraucher . Wir vergrö-
ßern das Angebot an regulierten Zahlungsmethoden und
erhöhen somit gleichzeitig Sicherheit und Komfort für
die Kunden . Wir passen die Rechtslage an neue Techno-
logien an und halten mit Innovationen Schritt . Deshalb
bitte ich Sie um Zustimmung zu diesem Gesetz .
Dr. Frank Steffel (CDU/CSU): Mein Kollege Hauer
hat bereits seine Ausführungen zur Umsetzung der Zah-
lungsdiensterichtlinie gemacht, ich beschränke mich da-
her auf das Thema „Kleinanlegerschutzgesetz“ .
Im Jahr 2015 haben wir ein Gesetz zum Schutz der
Bürgerinnen und Bürger, hier im Besonderen der Klein-
anleger, verabschiedet, das gut war, gut ist und deshalb
auch in die richtige Richtung weist . Kurz: Das Gesetz
wirkt! Es ist gut, weil wir vor zwei Jahren ein Gesetz
beschlossen haben, bei dem wir auf praktisch alle Einga-
ben – ob von Verbänden, Organisationen, Kirchen, Bür-
gerinitiativen, Sportvereinen, Kulturprojekten oder frei-
en Schulen – eingegangen sind und diese weitestgehend
berücksichtigt haben . Es ist gut, weil wir Kleinanlegern
damit die Chance gewahrt haben, individuell und gut in-
formiert Produkte am Kapitalmarkt auszuwählen .
Es ist gut, weil wir Warnhinweise verschärft, aber
gleichzeitig seriöse Werbung in den Medien nicht ein-
geschränkt haben . Es ist gut, weil wir die Grenze für
die Prospektpflicht von 1 auf 2,5 Millionen Euro erhöht
haben, was Bürokratie und Kosten gerade für soziale
Projekte reduziert . Es ist gut, weil wir unzählige Sport-
vereine, zahlreiche Kulturprojekte und auch viele freie
Schulen mit einer Sonderregelung für gemeinnützige
Organisationen vor größeren bürokratischen Aufgaben
bewahrt haben . Ehrenamtliche sollen ihr Engagement
entfalten, nicht Schriftsätze und Fragebögen falten! Und
es ist auch gut, weil Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen
der Opposition, mit Ihrer Enthaltung, der höchsten Form
der Zustimmung, die in einer parlamentarischen Demo-
kratie üblich ist, das Gesetz unterstützt haben! Wir sen-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24235
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(B) (D)
den ein klares Signal an die Start-up-Unternehmen und
potenzielle Gründer: Wir ermöglichen auch innovative
Finanzierungen .
Aber – lassen Sie mich auch das sagen –: Das Gute
ist des Besseren Feind! Wir sind nach eingehender Be-
wertung der Überzeugung, dass der Anwendungszeit-
raum der betreffenden Vorschriften zu kurz gewesen sein
könnte, um eine abschließende Beurteilung aller Aspekte
und Auswirkungen zu ermöglichen . Deshalb haben wir
beschlossen, dieses Gesetz weiter zu evaluieren, also re-
gelmäßig zu verbessern .
Zusammenfassend stelle ich fest: Wir haben den Ver-
braucherschutz gestärkt und damit den grauen Kapital-
markt weiter reguliert! Wir haben mit Augenmaß den
Schutz der Kleinanleger gestärkt, das heißt, dass bei-
spielsweise Regelungen für soziale und gemeinnützige
Projekte sowie Religionsgemeinschaften beibehalten
werden . Das Widerrufsrecht bleibt vollständig erhalten .
Die Werbung in sozialen Medien bleibt ohne Änderung,
und das Vermögensinformationsbeiblatt wird optimiert .
Wir haben mit dem Kleinanlegerschutzgesetz die Grund-
lage für innovative Finanzanlagen gelegt .
Geben wir dem Markt die Möglichkeit, sich zu ent-
falten . Geben wir den Anlegern die Möglichkeit, sich zu
beteiligen . Geben wir uns die Zeit, erneut zu evaluieren .
Sarah Ryglewski (SPD): Aller Wahrscheinlichkeit
nach zum letzten Mal in dieser Legislaturperiode befas-
sen wir uns heute auch mit der Wohnimmobilienkredit-
richtlinie . Denn wir nehmen das vorliegende Gesetz zum
Anlass, um einen letzten offenen Punkt zu klären.
Worum geht es? Bereits Anfang 2016 beschlossen wir
Regeln, um Verbraucherinnen und Verbraucher wirksa-
mer vor Überschuldung zu schützen .
Nachdem das Gesetz mit der neuen Kreditwürdig-
keitsprüfung in Kraft war, erhielt so mancher durchaus
solvente Verbraucher plötzlich keinen Kredit mehr zur
Immobilienfinanzierung. Schuld waren Unsicherheiten
aufseiten der Banken . Deshalb legten wir im März dieses
Jahres nach und stellten einige Regelungen des Gesetzes
klar .
Einen offenen Punkt konnten wir im März jedoch
nicht klären, da wir zunächst den europarechtlichen
Spielraum klären wollten . Es geht darum, ob auch bei
Anschlussfinanzierungen und Umschuldungen eine Kre-
ditwürdigkeitsprüfung notwendig ist . Die Sorge dahinter
ist Folgende: Wer bereits einen Darlehensvertrag abge-
schlossen hat, würde durch eine erneute Kreditwürdig-
keitsprüfung nicht geschützt, sondern es bestünde im Ge-
genteil die Gefahr, durch einen negativen Bescheid erst
in Existenznöte zu geraten .
Deshalb stellen wir heute klar, dass in diesen Fällen
keine erneute Kreditwürdigkeitsprüfung notwendig ist,
sofern der Vertrag mit demselben Kreditinstitut abge-
schlossen wird .
Von dieser Regel machen wir im Sinne der Verbrau-
cher nur zwei Ausnahmen: Eine Prüfung ist auch dann
weiterhin notwendig, wenn der Nettodarlehensbetrag
deutlich erhöht wird oder aber wenn die Bank weiß, dass
der Darlehensnehmer die neue Finanzierung nicht dauer-
haft tragen können würde .
Die SPD trägt damit den Interessen der Verbraucher
Rechnung und erfüllt den Zweck der europäischen Vor-
gaben: Das Risiko, dass Verbraucher wegen einer zu
strengen Interpretation der Pflicht zur Kreditwürdig-
keitsprüfung ihre Immobilie vorzeitig veräußern müssen,
entfällt . Den Schutz der Verbraucher vor Überschuldung
halten wir aufrecht . Denn natürlich gelten auch in diesem
Fall die Sanktionen bei fehlerhafter Kreditwürdigkeits-
prüfung, damit die Banken einen Anreiz haben, sich an
die Regeln zu halten .
Christian Petry (SPD): Mit der Umsetzung des
Kleinanlegerschutzgesetzes hat die Große Koalition im
Sommer 2015 den Schutz von Verbraucherinnen und
Verbrauchern am Kapitalmarkt verbessert . Wir haben da-
mals unter anderem festgelegt, dass bei Abschluss einer
Anlageinvestition Anlegern ein sogenanntes Vermögens-
informationsblatt (VIB) vorgelegt werden muss . Dieses
Infoblatt muss alle wesentlichen Inhalte der Vermögens-
anlage umfassen und abbilden . Darüber hinaus haben wir
den kollektiven Verbraucherschutz als Aufsichtsziel der
BaFin fest verankert – eine wegweisende Stärkung des
finanziellen Verbraucherschutzes!
Bei allen Regelungen war es uns aber immer wichtig,
dass wir bürgerschaftliches Engagement nicht erschwe-
ren . Deshalb haben wir Ausnahmetatbestände geschaf-
fen, die der Vielfalt sozialer und gemeinnütziger Projekte
Rechnung tragen .
Anbieter von Crowdinvestments im Internet haben
wir von diversen Anforderungen befreit . Diese Plattfor-
men unterstützen gezielt kleinere und mittlere Unterneh-
men sowie Start-ups .
Die Bundesregierung hat nun diese Ausnahmetatbe-
stände evaluiert . Die Praxistauglichkeit der Regelungen
des Kleinanlegerschutzgesetzes haben wir deshalb disku-
tiert und Änderungen beschlossen:
Das Widerrufsrecht hat sich bewährt .
Zukünftig darf der Emittent eines Anlageprodukts nicht
gleichzeitig auch Betreiber der Crowdfunding-Plattform
im Internet sein, auf der das Produkt beworben wird . Da-
mit wird verhindert, dass Internetplattformen nicht ob-
jektiv über Vermögensanlagen informieren .
Die Qualität des Vermögensinformationsblatts haben
wir darüber hinaus verbessert: Zukünftig muss eine feste
Reihenfolge an Mindestangaben bei der Erstellung des
Infoblatts befolgt werden . Dadurch wird die Vergleich-
barkeit der Vermögensinformationsblätter für Anleger
gewährleistet .
Eine weitere wichtige Änderung betrifft das Wertpa-
pierprospektgesetz . Bislang besteht bei der Genehmi-
gung eines solchen Prospektes bei der BaFin die Pflicht,
den Prospekt auch in Papierform einzureichen . Diese
Pflicht haben wir für Wertpapieremittenten abgeschafft.
Gerade mit Blick auf den Brexit soll sich die Attraktivi-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724236
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tät des Standorts Deutschland für Wertpapieremittenten
dadurch erhöhen .
Aufgrund der kurzen Praxiserfahrung mit dem Klein-
anlegerschutzgesetz haben wir uns darauf verständigt,
Anfang 2019 die genannten Ausnahmevorschriften er-
neut unter die Lupe zu nehmen . Mögliche Änderungen
werden wir hiernach konstruktiv diskutieren .
Schlussendlich bleibt zu sagen, dass das Kleinanle-
gerschutzgesetz den Verbraucherschutz am Kapitalmarkt
nachhaltig verbessert und die Märkte allgemein stabiler
gemacht hat .
Dr. Jens Zimmermann (SPD): Mit dem vorliegen-
den Gesetzentwurf setzen wir als nationaler Gesetzge-
ber die Zweite EU-Zahlungsdiensterichtlinie um . Es ist
ein wichtiges Gesetzgebungsvorhaben, weil so gut wie
alle Bürgerinnen und Bürger von den enthaltenen Maß-
nahmen betroffen sind; denn es werden neue Regeln für
das elektronische Bezahlen eingeführt . Es ist ein gutes
Gesetz, weil wir nicht nur die Sicherheit bei Zahlungen
erhöhen, sondern auch den Verbraucherschutz im Zah-
lungsdienstemarkt erhöhen .
Die Rechte der Kundinnen und Kunden bei Zah-
lungsvorgängen werden an vielen Stellen gestärkt . So
wird europaweit ein bedingungsloses Erstattungsrecht
bei Lastschriften eingeführt . Außerdem wird Kunden-
haftung bei Kartenmissbrauch von derzeit 150 Euro auf
zukünftig 50 Euro begrenzt . Zudem wird es ein Verbot
von Preis aufschlägen durch Händler für Überweisungen,
Lastschriften und die gängigsten Zahlungskarten geben .
Damit gibt es keine bösen Überraschungen mehr, wenn
man am Ende eines Buchungsvorganges mit einer be-
stimmten Karte bezahlen möchte .
Bisher gab es bei bestimmten Händlern bei Online-
zahlungen und Buchungen eine sehr intransparente
Preisstruktur. Häufig wurde erst am Ende eines Bu-
chungs- oder Bezahlungsvorganges ersichtlich, dass für
bestimmte Zahlungsmittel ein Zusatzentgelt fällig wird .
Hat man in diesem Moment dann keine Möglichkeit, ei-
nes der kostenlosen Zahlungsmittel zu wählen, ist man
zur Zahlung von Zusatzgebühren gezwungen . In be-
stimmten Branchen, beispielsweise beim Fliegen, konn-
ten das durchaus erhebliche Summen sein .
Wir als SPD-Fraktion begrüßen es deshalb sehr, dass
solche Zusatzentgelte zukünftig verboten sein werden;
denn damit schaffen wir Transparenz bei den Preisen für
Bahn-, Zug- oder Konzerttickets . Das kommt den Kun-
den zugute .
Ausgenommen von dem Verbot für Zusatzentgelte
sind in Zukunft lediglich noch sogenannte Dreipartei-
ensysteme . In den parlamentarischen Beratungen ha-
ben wir mit unserem Koalitionspartner intensiv darüber
diskutiert, ob das Verbot auf diese Systeme ausgedehnt
werden soll . Aufgrund der geringen Marktanteile dieser
Kartenart in Deutschland und weil hier eine vertragliche
Lösung zwischen Händlern und den Kartenunternehmen
rechtlich möglich ist, die die Zusatzentgelte vermeidet,
haben wir uns dafür entschieden, in diesem Punkt die
Richtlinie eins zu eins umzusetzen .
Neben den eben dargestellten zivilrechtlichen Än-
derungen werden mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
auch viele aufsichtsrechtliche Vorschriften an den tech-
nologischen Fortschritt angepasst . Finanz- und Bankge-
schäfte werden längst nicht mehr nur über die traditionel-
le Filiale oder das Onlinebanking großer Kreditinstitute
erledigt . Stattdessen bieten immer mehr Unternehmen
Dienste rund um das Girokonto an, die beispielsweise
über Kontostände informieren oder Zahlungen ermögli-
chen, ohne dass von diesen Unternehmen auch das jewei-
lige Konto angeboten wird .
Diese sogenannten dritten Zahlungsdienstleister wer-
den nun der Aufsicht der Bundesanstalt für Finanzdienst-
leistungsaufsicht unterstellt und unterliegen zukünftig
einer Erlaubnispflicht. Damit geben wir als Gesetzgeber
klare Regeln und Anforderungen für diese Dienste vor .
Hiermit schaffen wir ein höheres Maß an Rechtssicher-
heit und eröffnen mit klaren Vorgaben auch neue Ge-
schäftsfelder für Banken und innovative Unternehmen .
In den parlamentarischen Beratungen haben wir ne-
ben einigen redaktionellen Änderungen auch einige
Empfehlungen aus der Sachverständigenanhörung be-
rücksichtigt . Unter anderem haben wir eine Klarstellung
bei Zweckgutscheinen vorgenommen, die sowohl den
Unternehmen als auch den Steuerbehörden hier eine
bessere Orientierung bei der steuerlichen Bewertung
dieser Gutscheine geben soll . Außerdem haben wir im
Ausschussbericht eine Präzisierung festgehalten für be-
stimmte Leistungen, die Telekommunikationsunterneh-
men für die Anbieter bestimmter Dienste durchführen .
Insgesamt werden die Maßnahmen im Gesetzentwurf die
Regeln für den Zahlungsdienstemarkt zukunftsfest ma-
chen und viele Verbesserungen für die Verbraucherinnen
und Verbraucher bewirken . Deshalb stimmen wir dem
Gesetzentwurf zu . Den Antrag der Grünen zu TOP 20 b
lehnen wir ab .
Susanna Karawanskij (DIE LINKE): Zahlungs-
dienste: Das klingt erst einmal sehr technisch . Doch sie
spielen eine wichtige Rolle im Alltag der Verbraucher .
Pro Jahr gibt es im Einzelhandel fast 10 Milliarden unba-
re Transaktionen . Durch den Gesetzentwurf sollen rund
133 Millionen Zahlungsdienstrahmenverträge, also zum
Beispiel Girokonten, reguliert werden . Da muss man
schon ganz genau hinsehen, dass Verbraucher nicht übers
Ohr gehauen werden; denn wir kennen alle Fälle aus
den Medien – vielleicht sind wir aber sogar selbst schon
Opfer davon geworden –, bei denen sich Unbefugte mit
immer wieder neuen Tricks Zugang zu Konten verschafft
haben . Das wird dann als Phishing, Hacking, Skimming
usw . bezeichnet .
Mit der Umsetzung der Zweiten Zahlungsdienstericht-
linie sollen Internetzahlungen weiter vereinfacht, neue
innovative Bezahlverfahren gefördert, die Sicherheit
von Zahlungen verbessert und die Rechte der Kunden
von Zahlungsdienstleistern gestärkt werden . Dies gelingt
zum Teil, auch wenn es gewiss noch einige Lücken und
vor allem Unklarheiten gibt .
Eine bedeutende Rolle in der Debatte spielte der Da-
tenzugang für Drittanbieter . Geldanbieter sollen ab 2018
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24237
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sogenannten Fintechs sowie anderen Zahlungsdienstleis-
tern sämtliche Konteninformationen zugänglich machen
und dann entsprechend die Zahlungsaufträge weiterlei-
ten . Was wir hier immer wieder hören: Es bestehen bis
heute genau an der Schnittstelle zu den Kundenkonten zu
wenig sichere, einheitliche Standards, bzw . es sind noch
keine festgesetzt worden . Dies ist ein erhebliches Risiko
für die Konteninhaber, für den Verbraucher . Hier sollte
die Bundesregierung noch einmal nacharbeiten .
Des Weiteren müssen wir aufpassen, dass Kontoinfor-
mationsdienstleister nur auf Informationen, die der Nut-
zer tatsächlich gegeben hat, und auf in diesem Zusam-
menhang stehende Zahlungsvorgänge zugreifen können .
Dies ist im Gesetzentwurf eigentlich unmissverständlich
dargestellt und darf auf keinen Fall verwässert werden:
Eine ganz enge Zweckbindung und starker Datenschutz
müssen bestehen bleiben, damit dem Missbrauch vorge-
beugt werden kann .
Positiv ist für Verbraucher, dass Zahlungsdienstleiser
und Banken in der Regel keine gesonderten Gebühren
verlangen dürfen, wenn der Kunde ein Zahlungssystem
nutzt . Zugleich wird die Kundenhaftung bei Schäden
aus nicht autorisierten Kartenzahlungen künftig von
150 Euro auf 50 Euro reduziert – vorausgesetzt, der Kun-
de hat nicht grob fahrlässig gehandelt . Und genau hier
gibt es eine Lücke und Schwachstelle; denn in der Praxis
wird sich hierdurch vermutlich nichts ändern . Wenn eine
Bank nicht erstatten will, wird sie es einfach nicht tun .
Sie wird sagen, der Kontoinhaber habe seine Daten grob
fahrlässig Dritten zugänglich gemacht (zum Beispiel die
PIN neben der Karte aufbewahrt) und lässt es einfach
auf eine Klage ankommen . Auf eigene Kosten eine ge-
richtliche Klärung zu suchen, werden demgegenüber die
meisten Kunden scheuen . Das ist schlicht zu teuer . Hier
gilt es also dringend nachzubessern! Wir Linke hätten
uns gewünscht, dass der Gesetzentwurf klipp und klar re-
gelt, dass künftig Banken ihren Kunden nicht mehr grobe
Fahrlässigkeit oder Vorsatz unterstellen können, sondern
dass die Banken ebendiese ausdrücklich beweisen müs-
sen .
In der Gesamtschau kann man den Gesetzentwurf et-
was provokativ so zusammenfassen: Wir haben es hier
mit einem „Fintech-Stärkungsgesetz“ zu tun . Diese neu-
en Anbieter auf dem Markt werden zwar nun reguliert,
aber dabei auch deutlich gestärkt . Die Regelungen sind
insofern erfrischend, als dass sich hier nicht in erster Li-
nie am Bedarf der Banken orientiert wurde . Im Gegenteil:
Banken haben die Schnittstellen und die Sicherheitsar-
chitektur zu stellen, und sie treten für die Fehler der Fin-
techs in Haftung, obwohl sie Regressansprüche geltend
machen können, weil die neuen Anbieter haftpflichtversi-
chert sein müssen . Der Aufschrei der Bankenlobby wäre
sicher vehementer gewesen, wenn sie nicht die Hoffnung
hätte, auf lange Sicht selbst von den Regelungen zu pro-
fitieren, weil sie die neuen Geschäftsmodelle auch selbst
gewinnbringend nutzen bzw . Arbeitsabläufe zeitgemäß
vereinfachen kann .
Alles in allem unterstützt die Linke bei der Umsetzung
der Zweiten Zahlungsdiensterichtlinie notwendige und
sinnvolle Innovationen, solange der Verbraucherschutz
sowie die Sicherheit von Zahlungen und damit von Geld,
das Verbrauchern gehört, sichergestellt ist .
Noch kurz ein Wort zur Evaluierung des Kleinanle-
gerschutzgesetzes . Diese wurde auch in der Anhörung
zu diesem Gesetzentwurf mitberaten . Speziell wurden
die Befreiungsvorschriften in §§ 2a bis 2c des Vermö-
gensanlagegesetzes evaluiert, es geht also unter anderem
um Ausnahmen von der Prospektpflicht für Schwarmfi-
nanzierungen/Crowdinvesting . Der Abschlussbericht ist
wirklich interessant, und in vielem kann die Linke auch
mitgehen . Fest steht zu diesem Zeitpunkt aber auch: Die
Befreiungsvorschriften für Schwarmfinanzierungen wer-
den nicht auf sämtliche Vermögensanlagen ausgedehnt .
Ob man dies will oder nicht – hier besteht noch Diskussi-
onsbedarf, ebenso bei der Frage, ob man bestimmte Im-
mobilienprojekte ganz herausnehmen sollte, weil sie für
Schwarmfinanzierungen ungeeignet sind und ihre Betrei-
ber nicht zur avisierten Zielgruppe gehören .
Wir müssen also weiter die Augen offen halten, in-
wieweit die Ausnahmevorschriften für eine Umgehung
genutzt werden . Grundsätzlich bedauern wir, dass auf
absehbare Zeit keine weiteren Verbesserungen beim
Anlegerschutz vorgesehen sind . Die Bundesregie-
rung verweist einfach nur auf die nächste Evaluierung .
Doch Verbraucherschutz – zum Beispiel durch striktere
Selbstauskunftsverfahren von Crowdinvestingplattfor-
men – darf wahrlich nicht auf die lange Bank geschoben
werden .
Sowohl bei den Zahlungsdienstleistern, die verstärkt
auf den Markt dringen, als auch bei den Nachrangdarle-
hen, die manche Start-ups über die Crowdanbieter aus-
geben, um Geld zu sammeln: Eine präventive Prüfung –
wie bei Kinderschlitten und Atomkraftwerken – tut not,
bevor Finanzmarktakteure und Finanzprodukte für den
Gang auf den Markt zugelassen werden . Man spart auch
einiges an Bürokratie, wenn man nicht mehr im Nach-
hinein mittels Hase-und-Igel-Wettlauf immer wieder
prüfen, kontrollieren und eventuell Produkte oder Emit-
tenten aus dem Verkehr ziehen muss . Genau dazu hatten
wir jüngst im Finanzausschuss des Bundestages eine sehr
gute Anhörung; denn wir als Linke fordern die Einfüh-
rung einer europäischen verpflichtenden Zulassungsprü-
fung für Finanzprodukte . Wir fordern einen Finanz-TÜV .
Triftige Argumente gegen einen solchen TÜV jenseits
von Ängsten vor zu viel Bürokratie waren nicht zu ver-
nehmen .
Mit einem Finanz-TÜV würde man den Verbraucher-
schutz, aber ebenso Finanzmarktstabilität und Sicherheit
großschreiben – und etwas anderes will die Zweite Zah-
lungsdiensterichtlinie im Grunde auch nicht bezwecken .
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Im Zahlungsverkehrsbereich ist derzeit viel in Bewegung .
Fintechs stoßen immer weiter in den Bereich des Bank-
geschäfts vor und bieten innovative Dienstleistungen an .
Neue Zahlungsdienste formieren sich und erleichtern die
Bezahlung im Internet . Kontoinformationsdienste ma-
chen die Verwaltung unserer Finanzen einfacher . Die EU
schafft in der Zweiten Zahlungsdiensterichtlinie nun erst-
mals einen umfassenderen Rechtsrahmen und Aufsichts-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724238
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(B) (D)
und Regulierungsstandards für diese neuen Dienste . Das
ist gut aus Verbraucherschutzsicht; denn die Haftungsfra-
ge wird geklärt und die Haftung des Kunden beschränkt .
Auch aus wettbewerblicher Sicht ist das zu begrü-
ßen, weil die alteingesessenen Banken sich nicht mehr
durch die Schaffung bürokratischer Hürden aus ihrer
Vormachtstellung heraus der Konkurrenz durch die neu-
en Dienstleister entziehen können . Eine versteckte Hürde
für einen fairen Wettbewerb, die im Entwurf des Umset-
zungsgesetz der Bundesregierung noch enthalten war,
nämlich dass die Zahlungsdienste benötigte Garantien
nur bei ihren Wettbewerbern, den Banken, einholen dür-
fen, wurde auf unsere Initiative hin gestrichen .
Die Zahlungsdiensterichtlinie enthält noch eine Rei-
he weiterer Verbesserungen für den Verbraucher, zum
Beispiel die Abschaffung von Aufpreisen bei Onlinezah-
lungen für die meisten gängigen Zahlungsmittel, eine
Beweislastumkehr bei missbräuchlichen Zahlungen zu-
gunsten des Kunden und eine Senkung der Haftung des
Verbrauchers in solchen Fällen .
Die EU hat hier eine gute Vorlage geliefert, und bei
der Umsetzung der Richtlinie hat sich die Koalition keine
groben Schnitzer geleistet . Doch das Gesetz enthält nicht
nur die Umsetzung der EU-Richtlinie, sondern Sie haben
in Ihren 13 Änderungsanträgen noch einiges Sachfrem-
des an das Gesetz gehängt, unter anderem Regelungen
zu Wohnimmobilienfinanzierungen, zum Crowdinves-
ting, zu Abschlussprüfern bei Aktiengesellschaften, zu
Dividendenzahlungen und Wertpapierprospekten . In der
kurzen Redezeit kann ich nicht auf all diese Themen ein-
gehen .
Deshalb nur kurz zum Thema Crowdinvesting: Hier
werden bei den Befreiungsvorschriften für Crowdfun-
ding nach § 2a bis 2c des Vermögensanlagegesetzes ein
paar wichtige Stellschrauben nachgezogen . Insbeson-
dere die höhere Transparenz beim Vermögensinforma-
tionsblatt ist positiv . Auch werden einige weitere Um-
gehungsmöglichkeiten geschlossen . Leider wurden hier
aber insgesamt die falschen Prioritäten gesetzt . Bei eini-
gen Punkten, die bei der Evaluation festgestellt wurden,
hat die Bundesregierung gesagt: Da gibt es ein Problem .
Das müssen wir uns aber nochmal genauer anschauen .
Da lassen wir uns etwas mehr Zeit .
Gleichzeitig wagt sie aber bei der Regulierung der
Plattformen einen Schnellschuss . Bei einigen Projekten,
bei denen es eine Verbindung zwischen Emittent und
Plattform gab, gab es laut Bundesregierung Missbrauchs-
fälle, aber nur im Immobilienbereich . Diese Missbrauchs-
möglichkeit soll nun ausgeschlossen werden . Das ist
grundsätzlich zu begrüßen . Allerdings ist es problema-
tisch, dass mit Ihrer Lösung funktionierende Geschäfts-
modelle, insbesondere im Erneuerbare-Energien-Sektor,
die bisher auch laut Aussage der Bundesregierung nicht
von Missbrauchsfällen betroffen waren, kaputtgemacht
werden . Auch hier hätte man sich etwas mehr Zeit neh-
men können und sicherlich mit etwas Umsicht und Mühe
Wege finden können, die sowohl dem Missbrauch Ein-
halt gebieten als auch die Besonderheiten dieses Sektors
würdigen, insbesondere da sie selbst sagen – jetzt zitiere
ich aus dem Ausschussbericht – „dass der Anwendungs-
zeitraum der betreffenden Vorschriften zu kurz gewesen
sein könnte, um eine abschließende Beurteilung aller As-
pekte und Auswirkungen zu ermöglichen .“
Wenn Sie schon so viele Themen im Rahmen dieses
Gesetzes angehen, könnten Sie auch das Thema Kon-
togebühren, bei dem Sie unsere Problemanalyse teilen,
gleich mitregeln, vor allem weil es thematisch deutlich
besser in den Rahmen dieses Gesetzes gepasst hätte als
viele der anderen Anhänge . Verbraucherinnen und Ver-
braucher werden nach wie vor mit überhöhten Gebühren
für Kontoleistungen – beim Abheben am Geldautomaten,
bei den Dispozinsen oder beim Basiskonto – allein gelas-
sen . Natürlich ist klar, dass Banken und Sparkassen für
die Dienstleistung „Kontoführung“ eine Gegenleistung
verlangen . Klar ist auch, dass sie sich für Risiken, zum
Beispiel beim Einräumen eines Disporahmens, bezahlen
lassen .
Aber ein Konto ist eine zentrale Voraussetzung, um
am Wirtschaftsleben teilhaben zu können . Verbrauche-
rinnen und Verbraucher haben ein Recht darauf, dass
die Gebühren für Kontoleistungen nachvollziehbar und
transparent sind sowie in einem angemessenen Verhältnis
zum Aufwand und Risiko der Geldinstitute stehen . Die
Dispozinsen müssen endlich auf ein verträgliches Maß
reduziert werden . Noch immer sind Dispo- und Überzie-
hungszinsen von über 10 Prozent keine Seltenheit . Das
steht in keinem Verhältnis zu den Zinsen, zu denen sich
Banken und Sparkassen Geld leihen .
Das Basiskonto, auf das jede/r Verbraucher/in ein An-
recht hat, muss endlich halten, was es verspricht . Nie-
mand darf durch zu hohe Gebühren vom Basiskonto aus-
geschlossen werden . Hier muss endlich Rechtsklarheit
her!
Doch all diese Punkte ignorieren Sie weiterhin be-
harrlich . Die Umsetzung der Zweiten Zahlungsdienste-
richtlinie hätte ein voller Erfolg werden können . Aber Sie
sind wieder einmal auf halber Strecke stehen geblieben .
Bei der Umsetzung der EU-Vorlage haben Sie nicht viel
falsch gemacht, weshalb wir dem Gesetz zustimmen
können, aber Ihre Bekenntnisse zum Verbraucherschutz
scheinen vor allem Lippenbekenntnisse zu sein .
Anlage 16
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar
Bartsch, Dr. Sahra Wagenknecht und der Fraktion
DIE LINKE:
Weltfriedenstag als europäischer Feiertag
(Tagesordnungspunkt 21)
Dr. Tim Ostermann (CDU/CSU): „Die Einheit Eu-
ropas war ein Traum von wenigen. Sie wurde eine Hoff-
nung für viele . Sie ist heute eine Notwendigkeit für uns
alle.“ Die Worte Konrad Adenauers beschreiben treffend
die Genese des europäischen Friedensprojektes . Die jün-
gere europäische Geschichte ist eine Erfolgsgeschichte .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24239
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Seit über 60 Jahren steht das Friedensprojekt Europa auf
soliden Füßen . Sukzessive arbeiten alle Mitgliedstaaten
an diesem Projekt weiter .
Begonnen hat das europäische Friedensprojekt nach
dem Zweiten Weltkrieg am 9 . Mai 1950, als der damalige
französische Außenminister und große Europäer Robert
Schuman in seiner berühmten Pariser Rede vorschlug,
eine europäische Produktionsgemeinschaft zu schaffen.
Die sogenannte „Schuman-Erklärung“ mündete in der
Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und
Stahl, auch Montanunion genannt . Der Anfang der Euro-
päischen Union war gemacht . Der 9 . Mai ist schließlich
bei einem Gipfeltreffen der damaligen EG-Staats- und
Regierungschefs im Jahr 1985 in Mailand zum Euro-
patag der Europäischen Gemeinschaft, später der Euro-
päischen Union, bestimmt worden. Seitdem finden an
diesem Tag überall in Europa zahlreiche Veranstaltungen
und Festlichkeiten statt .
Zweifelsohne befinden wir uns in einer der schwersten
Krisen, die die europäische Idee seit langer Zeit durch-
lebt. Der bevorstehende Brexit ist als vorläufiger Hö-
hepunkt dieser Krise anzusehen . Es ist an uns allen, die
EU durch zielgerichtete Reformen wieder attraktiver zu
machen . Allerdings glaube ich nicht, dass die Einführung
eines Feiertages, wie die Fraktion Die Linke ihn in ihrem
Antrag fordert, das Vertrauen der Bürger in die europä-
ische Idee steigern lässt. Ich bin der Auffassung, dass
wir mit dem Europatag bereits einen geeigneten europä-
ischen Feiertag begehen . Da braucht es keinen weiteren
europäischen Feiertag .
Unabhängig von unserer grundsätzlichen Ablehnung
begegnet auch der vorgeschlagene Tag Bedenken: Der
1 . September wird deshalb vorgeschlagen, da am 1 . Sep-
tember 1939 bekanntlich der Zweite Weltkrieg mit dem
Angriff der Wehrmacht auf Polen begann. Sollte man für
einen „Friedenstag“ nicht eher den Tag des Kriegsendes
wählen? Lassen Sie mich auch darauf hinweisen, dass es
bereits einen weltweiten Friedenstag gibt, den die Gene-
ralversammlung der Vereinten Nationen im Jahr 1981 in
einer Resolution beschlossen hat . Die Resolution besagt:
„Dieser Tag soll offiziell benannt und gefeiert werden als
Weltfriedenstag (International Day of Peace) und soll ge-
nützt werden, um die Idee des Friedens sowohl innerhalb
der Länder und Völker als auch zwischen ihnen zu be-
obachten und zu stärken .“ Seit dem Jahr 2002 wird der
21. September offiziell weltweit als der „Internationale
Tag des Friedens“ gefeiert . Wir sollten daher unsere An-
strengungen darauf ausrichten, diesen Tag stärker zu för-
dern, anstatt einen europäischen Alleingang zu tätigen .
Es sprechen außerdem weitere Argumente dafür, Ihren
Antrag abzulehnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von
den Linken . Lassen Sie mich zwei konkret benennen:
Erstens . Die politische Initiative für die Einführung
eines europäischen Feiertages müsste von der Europäi-
schen Union ausgehen und nicht vom Deutschen Bun-
destag . Mein Vorschlag: Bringen Sie doch über Ihre
Kollegen in Brüssel einen Antrag in das Europäische
Parlament ein . Das scheint mir der richtige Ort zu sein,
um sich mit dieser Frage zu beschäftigen .
Zweitens ist es für mich schwer nachvollziehbar, wenn
Sie behaupten, dass sich die europäischen Bürger spezi-
ell an diesem Tag aufmachen, um ihre Nachbarn kennen-
zulernen . Heutzutage gibt es zum Glück einen überaus
regen Austausch zwischen den europäischen Staaten, ob
nun staatlich oder privat organisiert . Diesen gilt es über
das gesamte Jahr hindurch zu fördern .
Barbara Woltmann (CDU/CSU): Wer wäre nicht
für den Frieden! Denn weltweit werden ganze Länder
durch Kriege ins Chaos gestürzt und Familien zerrissen .
So wurde international schon 1981 von der UN-Haupt-
versammlung der 21 . September als Weltfriedenstag aus-
gewählt . An diesem Tag sind nicht nur jede Regierung,
sondern auch alle Organisationen und Bürgerinnen und
Bürger dazu aufgerufen, alle Waffen bedingungslos ru-
hen zu lassen und darüber nachzudenken, wie Frieden in
der Welt erreicht werden kann .
Alle sehnen sich nach Frieden überall auf der Welt .
Leider sieht die Wirklichkeit anders aus . Das wissen wir
in Deutschland ganz besonders aus unserer Geschichte,
aus dem Ersten Weltkrieg und aus dem Zweiten Welt-
krieg, in dem Hitler mit seinen Schergen Europa in
Schutt und Asche gelegt hat und mit dem Holocaust ein
Verbrechen gegen die Menschlichkeit an Juden, Sinti und
Roma und vielen anderen Menschen verübt hat, indem er
ganze Völkergruppen ausrotten wollte .
Seit Beginn der 1950er-Jahre wurde in der DDR der
1 . September als „Tag des Friedens“ bzw . als „Weltfrie-
denstag“ bezeichnet – in Erinnerung an den Beginn des
Zweiten Weltkrieges mit dem deutschen Überfall auf Po-
len am 1 . September 1939 . Verbunden war der Tag auch
immer mit einem Fahnenappell . Dieser 1 . September ist
daher eher ein Antikriegstag . Nicht der Beginn dieses
Krieges sollte hervorgehoben werden, also der Anfang
von Gewalt, Tod, Vertreibung und Grauen, vielmehr soll-
te sein Ende, nämlich das Ende des Tötens und Schre-
ckens – dazu gehört auch die Befreiung von der Diktatur
des Nationalsozialismus – betont werden .
Insbesondere die Aufarbeitung der jüngeren Geschich-
te unseres Landes bleibt dauerhaft unsere Aufgabe . Dazu
wollen wir das bewährte Gedenkstättenkonzept des Bun-
des weiterentwickeln und auch die Zeitzeugenarbeit, die
politische Bildung und die Wirkung authentischer Orte
stärker in den Blick nehmen . Unser Bewusstsein für Frei-
heit, Recht und Demokratie ist unter anderem geprägt
durch die Erinnerung an die NS-Terrorherrschaft und den
sich anschließenden Stalinismus und die SED-Diktatur .
Dem systematischen Völkermord an den europäischen
Juden sowie an anderen Völkern und Gruppen lassen wir
in der deutschen Erinnerungskultur eine außerordentli-
che Bedeutung zukommen . Auch deshalb ist es zuvor-
derst an uns, die Erinnerung an die Opfer des National-
sozialismus und den Widerstand gegen das NS-Regime
aufrechtzuerhalten und auch deren Aufarbeitung in den
Ministerien und Bundesbehörden voranzutreiben .
„Frieden in Freiheit“ ist ein Kernthema der Union –
und für Frieden in Freiheit bedarf es der Stärkung der
Rechte und Freiheit des Einzelnen . Deshalb lassen Sie
mich noch deutlicher werden: Wir brauchen keine wei-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724240
(A) (C)
(B) (D)
tere, nur auf Außenwirkung bedachte Aktion für Funk-
tionäre . Was wir brauchen, ist die Stärkung des indivi-
duellen Interesses am Austausch über Grenzen hinweg,
damit die Menschen miteinander ins Gespräch kommen
und sich besser verstehen lernen .
Es gibt schon eine Vielzahl von Begegnungs- und
Austauschprogrammen deutschlandweit, europaweit, ja
auch weltweit . Ich denke da an die Erasmus- und Schü-
leraustauschprogramme wie auch an die Angebote der
Kriegsgräberfürsorge, an denen sich Jugendliche europa-
weit beteiligen . Hier sollte man mit neuen Ideen ansetzen
und diese weiterentwickeln, um bei den Menschen das
Interesse zu stärken, in andere Länder zu reisen, darunter
auch in europäische Länder, und fremde Menschen ken-
nenzulernen . Dazu könnte beispielsweise ein kostenloses
Interrailticket für alle 18-jährigen Europäer beitragen .
Ein Weltfriedenstag am 1 . September als europäischer
Feier- oder Gedenktag wird nicht für mehr Frieden sor-
gen:
Erstens . Wir haben eine Vielfalt im Erinnern und Ge-
denken an Krieg und Frieden, je nach Ort und Begeben-
heit, die dringend erhalten bleiben, ja eher noch betont
werden sollte . Ich erinnere daran, dass wir allein in dieser
Wahlperiode unter anderem das Gedenken an 70 Jahre
Befreiung der Konzentrationslager, das Ende des Zwei-
ten Weltkrieges und 80 Jahre „Nürnberger Gesetze“ an-
gemessen begangen haben . Jedes Mal ging es ortsbezo-
gen, objektbezogen und sachorientiert um Einzelaspekte
dieser für Deutschland dunklen und furchtbaren Zeit .
Niemand ist daran gehindert – und das geschieht auch
so – Gäste aus dem Ausland, auch dem europäischen
Ausland, dazu einzuladen .
Zweitens . Krieg und Frieden sind heute global zu den-
ken, ihre Auswirkungen sind nicht mehr auf Kontinente
begrenzt . Die Globalisierung ist eine große Herausforde-
rung und wird dies zukünftig für uns alle bleiben .
Deutschland ist Teil von Europa, ist Teil in globa-
lem Zusammenhang . Denken Sie daran, wie nah uns
die Auswirkungen der Kriege im Nahen Osten auch in
Deutschland schon jetzt erreichen . Wir haben mit dem
Weltfriedenstag der UN am 21 . September bereits einen
Weltfriedenstag . Den müssten wir stärker ins Bewusst-
sein rücken . Eines europäischen Weltfriedenstages am
1 . September bedarf es daher nicht .
Sebastian Hartmann (SPD): Die Linke scheint ein
recht gutes Modell gegen die EU-Skepsis bei gleichzei-
tigem Einsatz für den Frieden gefunden zu haben: einen
weiteren Feiertag . Über eine zunehmende EU-Skepsis in
der Bevölkerung ist bereits allenthalben gesprochen und
geschrieben worden . Dabei ist jedoch aktuell ein Gegen-
trend zu sehen . In der letzten Umfrage des Eurobarome-
ters gaben 37 Prozent der Deutschen an, die EU habe für
sie ein gutes Image . Das sind 8 Prozentpunkte mehr als
bei der letzten Eurobarometerumfrage . Allerdings ist das
auch immer noch eine klare Minderheit .
Dabei ist die EU grundsätzlich eine Erfolgsgeschich-
te – politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich . Noch
nie hat es eine längere Friedensperiode im EU-Raum ge-
geben, noch nie haben sich so viele Personen nationen-
übergreifend verständigen können, und noch nie war der
europäische Wirtschaftsraum stärker als heute . Ich möch-
te allerdings die aktuelle Krise der EU nicht verschwei-
gen . Mit Großbritannien tritt erstmals ein Land aus der
EU aus, in Südeuropa ist die Jugendarbeitslosigkeit wei-
terhin zu hoch, und Griechenlands Schuldenlast kann die
zaghaften Reformen und Aufbruchssignale schnell zu-
nichtemachen .
Vielleicht ist ein EU-weiter Feiertag in der Tat eine
gute Gelegenheit, einmal innezuhalten, sich auf die po-
sitiven Aspekte der EU zu konzentrieren und sich an der
europäischen Erfolgsgeschichte zu erfreuen . Allerdings
gibt es bereits jedes Jahr am 9 . Mai den sogenannten Eu-
ropatag . Basierend auf der historischen Ansprache des
damaligen französischen Außenministers Robert Schu-
man am 9 . Mai 1950 in Paris zur Gründung der Europä-
ischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), wird
dieser Tag offiziell als Geburtstag der Europäischen Uni-
on gefeiert .
Schuman erklärte damals unter anderem, Europa lasse
sich nicht mit einem Schlage herstellen und auch nicht
durch eine einfache Zusammenfassung . Es werde aber
durch konkrete Tatsachen entstehen, die zunächst eine
Solidarität der Tat schaffen. Daher schlug Schuman vor,
die französische und die deutsche Kohle- und Stahlpro-
duktion einer gemeinsamen Hohen Behörde zu unterstel-
len, die den anderen europäischen Ländern zum Beitritt
offenstehe – als erste Etappe der europäischen Födera-
tion. 1985 wurde in Mailand beim Treffen des Europä-
ischen Rates offiziell beschlossen, diesen Tag zu feiern.
Es gibt daher für mich keinen ersichtlichen Grund, den
1 . September als einen europäischen Feiertag zu bege-
hen .
In ihrem Antrag schreiben die Linken zudem, dass
sie mit diesem Feiertag aktiv die Einstellung der Bevöl-
kerung gegenüber der EU verbessern möchten . Dabei
spricht die Linke immer wieder selbst von der EU als
„undemokratisch, unsozial und in einer tiefen Krise“ .
Das Verhältnis der Linken zur EU ist innerhalb der eige-
nen Partei sehr gespalten; daher verwundert der vorlie-
gende Antrag . Es wäre wünschenswert, wenn die Linke
mehr im politischen Tagesgeschäft an einem positiven
EU-Bild arbeiten würde und weniger in solchen Anträ-
gen . Daher ist der vorliegende Antrag abzulehnen .
Ein Vorschlag: Die Linke überdenkt ihre Sowohl-als-
auch-Haltung zu Europa, nimmt von ihren antieuropä-
ischen Attitüden Abstand, und wir verzichten auf den
Feiertag .
Harald Petzold (Havelland) (DIE LINKE): Wir bera-
ten heute abschließend vier Gesetzentwürfe zur Reform
bzw . Änderung des Strafgesetzbuches bezüglich von
Straftaten gegen ausländische Staaten. Alle vier treffen
sich in einer zentralen Forderung: der § 103 des Straf-
gesetzbuches muss weg . Und auch, wenn wir am Ende
nur einen der vier Gesetzentwürfe annehmen werden, ist
dieser `kleinste gemeinsame Nenner´ tragfähig genug,
damit – zumindest war das bisher im federführenden
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24241
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Rechtsausschuss der Fall – alle Fraktionen dem ihre Zu-
stimmung geben werden .
Die Strafvorschrift des § 103 des Strafgesetzbuches
(StGB) (Beleidigung von Organen und Vertretern aus-
ländischer Staaten) bezweckt den Schutz der Ehre von
ausländischen Staatsoberhäuptern, ausländischen Re-
gierungsmitgliedern sowie beglaubigten Leitern einer
ausländischen diplomatischen Vertretung . Der Strafrah-
men beträgt Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geld-
strafe, im Falle der verleumderischen Beleidigung Frei-
heitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren . Für den
Ehrenschutz von Organen und Vertretern ausländischer
Staaten erscheinen die Straftatbestände des Vierzehnten
Abschnitts (Beleidigung), §§ 185 ff. Strafgesetzbuch,
ausreichend . Insbesondere bedarf es zum Schutz von
Organen und Vertretern ausländischer Staaten nicht des
gegenüber den §§ 185 ff. StGB erhöhten Strafrahmens.
Auch das Völkerrecht verpflichtet die Staaten nicht dazu,
Sonderstrafnormen zugunsten Repräsentanten ausländi-
scher Staaten aufzustellen, wie sie § 103 StGB derzeit
vorsieht . Die Vorstellung, die Repräsentanten ausländi-
scher Staaten benötigten einen über die §§ 185 ff. StGB
hinausgehenden Schutz der Ehre, erscheint nicht mehr
zeitgemäß . Selbst wenn man davon ausgeht, dass der
Schutzzweck des § 103 in der Wahrung des Interesses der
Bundesrepublik an einem Mindestbestand funktionieren-
der Beziehungen zu ausländischen Staaten besteht, so
wird dieses Anliegen bereits ausreichend durch die Be-
leidigungsparagrafen 185, 186 und 187 StGB sicherge-
stellt . Dies hat auch der Deutsche Anwaltsverein in sei-
ner Stellungnahme vom Januar 2017 festgestellt . § 103
StGB ist daher entbehrlich und kann aufgehoben werden .
Allerdings geht uns die Abschaffung des § 103 StGB
nicht weit genug . In unserem eigenen Gesetzentwurf
(Bundestagsdrucksache 18/8272) fordern wir neben der
Abschaffung der Beleidigung von Organen und Vertre-
tern ausländischer Staaten (§ 103 StGB) die Abschaffung
weiterer sogenannter Sonderbeleidigungsdelikte . Dabei
handelt es sich um die Verunglimpfung des Bundesprä-
sidenten (§ 90 StGB) sowie die üble Nachrede und Ver-
leumdung gegen Personen des politischen Lebens (§ 188
StGB) . Diesen Gesetzentwurf werden Sie heute leider
mit den Stimmen der Großen Koalition bedauerlicher-
weise ablehnen – und damit werden wieder einmal die
Grenzen der Gemeinsamkeiten deutlich, die aufzeigen,
dass die Große Koalition immer nur so viel macht, wie
sich nicht vermeiden lässt . Politisches Gestalten sieht
aber anders aus. Nur: dazu fehlt Ihnen offensichtlich so-
wohl der Mut als auch der Wille .
Auch die Gesetzentwürfe der Grünen und des Bun-
desrates konzentrieren sich auf eine Streichung des § 103
StGB . Darüber hinaus fordern sie die sofortige Inkraft-
setzung des Gesetzes am Tag seiner Verkündung, und
nicht erst zum 1 . Januar 2018 . Da wir beides ebenfalls
fordern, stimmen wir auch beiden Gesetzentwürfen zu .
Zu den Auswirkungen des späten Inkrafttretens des Ge-
setzes hat sich bereits der Deutsche Anwaltsverein sehr
kritisch geäußert: Es sei kein Grund ersichtlich, warum
gegenwärtig für vergleichbare Fälle anfänglich noch
eine Strafverfolgung nach § 103 StGB statthaft sein darf .
Das Gesetz sollte daher am Tag nach seiner Verkündung
in Kraft treten . Diesem Standpunkt schließen wir uns
vollumfänglich an . Vor diesem Hintergrund erhält aller-
dings die Empfehlung der Mehrheit im Rechtsausschuss,
diese beiden Gesetzentwürfe abzulehnen, einen sehr
schalen Beigeschmack . Wozu dieser Umgang absoluter
Arroganz der Macht der Regierungsfraktionen mit der
parlamentarischen Opposition und der Länderkammer,
dem Bundesrat? Eine Antwort wird uns die Große Koali-
tion wahrscheinlich schuldig bleiben .
Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Die Idee, den Weltfriedenstag zu einem europäischen
Feiertag zu machen, ist nicht falsch . Selbstverständlich
könnten sich Menschen an einem solchen Feiertag inner-
halb der Europäischen Union grenzüberschreitend, spon-
tan und vielfältig begegnen; sich kennenlernen . Natürlich
kann das dazu beitragen, dass Vorurteile abgebaut wer-
den, sich die Zivilgesellschaft stärker vernetzt und aus-
tauscht . In Zeiten wie diesen ist das wichtig! Die Rechts-
populisten säen Hass und Missgunst . Sie versuchen, die
Europäische Union auseinanderzudividieren; denn sie
verstehen nicht, dass die Probleme des 21 . Jahrhunderts
nicht im nationalen Alleingang gelöst werden können .
Nun gibt es verschiedene Weltfriedenstage: In der
ehemaligen DDR wurde seit den 50-iger Jahren und in
der BRD seit den 60-iger Jahren am 1 . September des
Friedens gedacht . Die Katholische Kirche feiert seit 1968
ihren Weltfriedenstag am 1 . Januar . Seit 1981 gibt es am
21 . September den „Internationalen Tag des Friedens“
von den Vereinten Nationen . Angesichts der vielen Kri-
sen und Kriege in dieser Welt kann es eigentlich nicht
genügend Tage im Jahr geben, innezuhalten und des Frie-
dens zu gedenken .
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Sie
schlagen nun vor, den 1 . September als europäischen
Feiertag in ganz Europa zu begehen . Ich möchte Sie fra-
gen: Was soll Europa mit einem deutschen Feiertag? Wir
brauchen einen deutschen Feiertag für Europa genauso
wenig wie die überhebliche Ansage von Volker Kauder
vor einigen Jahren: „Auf einmal wird in Europa Deutsch
gesprochen .“ Europa braucht keine Deutschtümelei . Eu-
ropa braucht Respekt, Verlässlichkeit und den unumstöß-
lichen Willen zur Kooperation .
Deshalb wäre es klüger gewesen, von der Bundesre-
gierung zu verlangen, sich für einen europäischen Welt-
friedens-Feiertag am 21 . September 2017 einzusetzen
und damit ganz klar zum Ausdruck zu bringen: Deutsch-
land und die EU stehen zu den Vereinten Nationen; denn
die Herausforderungen des 21 . Jahrhunderts können wir
nur gemeinsam lösen . Es geht nur miteinander – sowohl
in der EU als auch auf der internationalen Bühne .
Die Europäische Union und die Vereinten Natio-
nen sind die Antwort auf die verheerenden Folgen des
Zweiten Weltkrieges . Der Kontinent wurde von Na-
zi-Deutschland in Schutt und Asche gelegt . Über 60 Mil-
lionen Menschen starben . Juden wurden ermordet, Sinti
und Roma, Menschen mit Behinderungen, politisch An-
dersdenkende und Homosexuelle wurden verfolgt und
umgebracht . Danach war klar: Es geht nicht alleine und
jeder für sich . Nationale Egoismen, diplomatische Zer-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724242
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würfnisse, schlechte und unfaire Handelsbeziehungen
sowie ein permanentes Aufrüsten führen zu Misstrauen,
Hass und Krieg . Der 21 . September sollte uns daran jedes
Jahr erinnern .
Frieden und Eintracht kommen nicht mit nationalen
Reflexen. Die Vereinten Nationen brauchen die EU, und
die EU braucht die Vereinten Nationen, und deshalb
spricht auch nichts dagegen, einen Gedenktag der Verein-
ten Nationen als europäischen Feiertag zu übernehmen .
Anlage 17
Erklärungen nach § 31 GO
zu der Abstimmung über die Beschlussempfehlung
des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen
Bundestages
hier: Änderung der Regelung zum Alterspräsiden-
ten (§ 1 Absatz 2 GO-BT) sowie weitere Ände-
rungen in den §§ 93, 93a und 93b GO-BT
(Tagesordnungspunkt 22)
Klaus Brähmig (CDU/CSU): Im Rahmen der Ab-
stimmungen am 1 . Juni 2017 werde ich der Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immu-
nität und Geschäftsordnung und der damit verbundenen
Änderung der Regelung zum Alterspräsidenten sowie
weiterer Änderungen der GO-BT nicht zustimmen .
Lassen Sie mich kurz darlegen, warum ich der Be-
schlussempfehlung nicht zustimmen kann:
In zwei Jahren schaut die Bundesrepublik Deutschland
auf 70 Jahre Demokratie zurück . In diesem Staat wird so-
ziale und politische Teilhabe für breiteste Schichten des
Volkes gewährleistet . Weltweit sieht man auf Deutsch-
land und schaut mit Bewunderung auf ein wirtschaftlich
erfolgreiches Land, das durch den Einbau eines verfas-
sungsrechtlichen Kontrollnetzes bereit und fähig ist, die
freiheitlich-demokratische Grundordnung notfalls auch
wehrhaft gegen Feinde von innen und außen zu verteidi-
gen . Seien wir stolz auf dieses Staatswesen!
Persönlich sind wir als Politiker der sogenannten eta-
blierten Parteien dazu aufgerufen, unsere Politik an den
Maßstäben von Menschlichkeit, Wahrheit, Klarheit und
Transparenz zu orientieren . Wenn die Menschen wieder
das Gefühl haben, dass wir unsere politischen Maßstäbe
selber leben und authentisch und sympathisch als Vor-
bild dem Volk dienen, werden wir keine Probleme mit
populistischen Ein-Themen-Parteien haben . Wir sollten
also lieber ein attraktives und maßvolles Politikangebot
unterbreiten, als mit Taschenspielertricks die demokrati-
schen Traditionen und Gepflogenheiten unserer Demo-
kratie zu ändern und damit einen demokratisch gewähl-
ten Mitbewerber von Teilen der demokratischen Teilhabe
auszuschließen, die wir für uns in aller Selbstverständ-
lichkeit einfordern .
Bei allen Fehlern, die auch aufgetreten sind, haben
Verfassungsschutz, Nachrichtendienste, Polizei, Staats-
anwaltschaften und Richter in den letzten Jahrzehnten
den Nachweis gebracht, dass sie echten Verfassungsfein-
den von links und rechts vehement und zugleich mit dem
nötigen Augenmaß entgegentreten . Nach meiner eigenen
Erfahrung mit einem totalitären Herrschaftssystem be-
kenne ich mich eigenen zu Voltaires Aussage: „Ich mag
verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben
dafür einsetzen, dass du es sagen darfst“ .
Nach meinem Empfinden schwächt die Große Koaliti-
on mit dieser Geschäftsordnungsänderung unsere demo-
kratische Kultur und bietet dem politischen Mitbewerber
die Möglichkeit, sich als Opfer der etablierten Parteien
zu gerieren . An einer Änderung der Geschäftsordnung,
mit der sich die etablierten Parteien keinen Gefallen tun
und ein Zeichen setzen, dass sie dem Urteilvermögen der
eigenen Bevölkerung nicht ausreichend vertrauen, will
und werde ich mich nicht beteiligen .
Katrin Werner (DIE LINKE): Der Deutsche Bun-
destag stimmt heute über eine Änderung der Geschäfts-
ordnung des Bundestages ab . Künftig soll nicht mehr das
in Jahren älteste Mitglied des Deutschen Bundestages
das Amt des Alterspräsidenten übernehmen, sondern das
am längsten dem Parlament angehörende Mitglied, das
hierzu bereit ist .
Mit dieser Änderung möchte die Große Koalition
verhindern, dass Wilhelm von Gottberg (AfD) nach der
Bundestagswahl möglicherweise das Amt des Altersprä-
sidenten des Deutschen Bundestages übernimmt . Auch
wenn es unerträglich und ein Schlag ins Gesicht aller
Opfer des Nationalsozialismus ist, dass von Gottberg, der
den Holocaust als „Mythos“ bezeichnete, Alterspräsident
wird, ist die Änderung der Geschäftsordnung der falsche
Umgang .
Denn damit kann dem erstarkenden Rechtspopulismus
nicht begegnet werden . Das demokratische System darf
sich nicht vor einem drohenden Einzug der AfD beugen .
Es bedarf vielmehr einer argumentativen Auseinander-
setzung mit den Inhalten der AfD und einem deutlichen
sowie lautem Bekenntnis zu einer solidarischen, demo-
kratischen und offenen Gesellschaft. Ich stimme daher
gegen den Antrag der Großen Koalition zur Änderung
der Geschäftsordnung .
Anlage 18
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Unterrichtung durch den Parla-
mentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung:
– Bericht des Parlamentarischen Beirats für nach-
haltige Entwicklung (Arbeitsbericht der 18. Legis-
laturperiode) (Tagesordnungspunkt 24)
Josef Göppel (CDU/CSU): Müssen die Menschen
in 100 Jahren die Erde verlassen? Mit dieser Botschaft
erschreckte Stephen Hawking vor einigen Wochen für
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24243
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einen Moment die Mediengesellschaft . Wirklich ernst
nimmt das niemand .
Dabei sind objektive Zeichen einer Überstrapazierung
der Erde nicht zu übersehen: der Anstieg des CO2-Ge-
halts der Atmosphäre von 270 auf 400 ppm, die anstei-
gende Versauerung der Meere, der Schwund fruchtbarer
Erde .
Doch es gibt Gegenkräfte: jede Pflanze, die mit Son-
nenlicht Biomasse aufbaut, und der kontinuierliche Wär-
mefluss aus dem Innern der Erde, der den globalen Stoff-
kreislauf antreibt .
Alexander von Humboldt hat diese Zusammenhänge
nach der Besteigung des Chimborazo als einer der Ersten
geahnt . 1845 schrieb er in seinem Kosmos: Die Natur ist
lebendig, „wie von einem Hauche beseelt von Pol zu Pol
nur ein Leben ausgegossen ist in Steinen, Pflanzen, Tie-
ren und in des Menschen schwellender Brust“ .
Der Mensch bleibt trotz aller Technik auf die produk-
tive Oberfläche der Erde angewiesen auf ackerfähige Bö-
den, auf Weideflächen, auf Fischgründe, auf Wälder. Er
braucht sie zur Erzeugung seiner Lebensmittel im umfas-
senden Sinn und zur Aufarbeitung seiner Abfälle .
Das ist das Anliegen dieser Rede: werben für die Ach-
tung vor dem Land, den offenen, atmenden Boden, die
fruchtbare Erde .
Wie gleichgültig nehmen wir es hin, wenn wieder
ein Stück frisches Land überbaut wird . Der Industriebau
zum Beispiel muss wegkommen von der landfressenden
Erdgeschossigkeit, und der Bau von Personenautos mit
400 PS ist mit einer nachhaltigen Wirtschaftsethik nicht
mehr vereinbar!
Ein Kollege sagte in diesem Zusammenhang vor kur-
zem: „Unsere Kernkompetenz ist aber doch Wirtschaft!“
Gestatten Sie dazu einen Vergleich aus dem Alltagsleben .
Ein kleiner Junge sitzt auf dem Arm seines Großvaters .
Er streckt die Hände hoch und ruft: „Ich bin größer als
du!“ So wie ihm ist uns oft nicht bewusst, was uns trägt .
An dieser Stelle ein Appell . Wenn es dem Bundestag
ernst ist mit der Nachhaltigkeit, dann muss der Beirat da-
für endlich mit klaren Befugnissen in der Geschäftsord-
nung verankert werden .
Der dem Markt innewohnende Wachstumszwang
hin zum Oligopol schien mit der sozialen Marktwirt-
schaft gebändigt . Die regelfreie Globalisierung seit den
90er-Jahren erinnert dagegen an wild dahinbrausende
Rösser eines antiken Wagenrennens . Irgendwann tragen
sie den führungslosen Wagen aus der Kurve . Wir brau-
chen keinen Rückzug, sondern einen Siegeszug der so-
zialen und ökologischen Marktwirtschaft . Ernst Ulrich
von Weizsäcker oder Franz Josef Radermacher haben die
Schritte dahin konkret benannt .
Eigentlich muss das schon aus ökonomischer Sicht
gelingen, denn Rohstoffe und Energie werden global ge-
handelt . Mit den Kosten dafür stehen Städte und Länder
in direkter globaler Konkurrenz . Wer haushälterischer
damit umgeht, wird wirtschaftlich stärker .
Für das alltägliche Handeln gibt es eine klare
Richtschnur: Immer dann, wenn Sie sich mit einer Maß-
nahme den Kreisläufen der Natur nähern, liegen Sie rich-
tig . Nehmen wir die Mühe auf uns, dafür immer wieder
Anstöße zu geben und andere immer wieder auf dieses
Ziel hin anzusprechen!
Am Schluss des Aufrufes an die „Handelnden“ in der
Umweltenzyklika sagt Papst Franziskus: Allen, die am
Schutz unseres gemeinsamen Hauses arbeiten, möchte
ich „meine Anerkennung, meine Ermutigung und meinen
Dank aussprechen“ .
Dr. Lars Castellucci (SPD): Vor wenigen Stunden
hat Donald Trump den Klimavertrag von Paris aufgekün-
digt . Worüber wir gestern noch gejubelt haben, das ist
heute gefährdet . Es steht unglaublich viel auf dem Spiel .
Gleichzeitig: Es ist nun leicht, sich über den ameri-
kanischen Präsidenten zu erzürnen; doch Nachhaltigkeit
wird nur umgesetzt werden, wenn alle in ihrem Bereich
das Mögliche tun und vielleicht noch etwas mehr . Des-
halb: Konzentrieren wir uns auf unseren eigenen Ein-
flussbereich und zeigen nicht auf die anderen.
Wir debattieren Nachhaltigkeit heute im Nachtpro-
gramm; eigentlich gehört es aber in die Hauptsendezeit .
Was ist also der Stellenwert von Nachhaltigkeit bei uns in
Deutschland und im deutschen Parlament? Wir müssen
deutlich mehr tun .
Die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie und die vie-
len Institutionen und Ehrenamtlichen im Bereich der
Nachhaltigkeit machen uns international sicherlich zu
einem beispielgebenden Land . Gleichzeitig: Bereits am
24 . April hatten wir auch in diesem Jahr wieder die uns
zustehenden Ressourcen verbraucht . Wenn alle so wirt-
schaften und leben würden, wie wir, bräuchten wir zwei
weitere Erdbälle im Kofferraum. Haben wir aber nicht.
Deshalb: Wir müssen deutlich mehr tun .
Die Menschen kaufen sich Autos, die weniger Sprit
verbrauchen, und fahren dafür viel mehr Kilometer . He-
raus kommt der sogenannte Rebound-Effekt. Wir werden
nicht nachhaltiger über technologische Lösungen allein .
Wir müssen die Köpfe und Herzen der Menschen errei-
chen . Nachhaltigkeit muss Freude machen . Wir müssen
also deutlich mehr tun . Es braucht einen Aufbruch wie zu
Zeiten der Agenda 21 und eine ineinandergreifende Zu-
sammenarbeit von Kommunen, Ländern, Bund, der Wirt-
schaft, Wissenschaft und zivilgesellschaftlicher Akteure .
Der Parlamentarische Beirat hat in der zurückliegen-
den Wahlperiode für die Aufnahme der Nachhaltigkeit
als Staatsziel ins Grundgesetz geworben . Die CDU hat
dann einen Rückzieher gemacht . Liebe Kolleginnen und
Kollegen von der Union: Wir müssen deutlich mehr tun .
Und dafür brauchen wir die Staatszielbestimmung, die
uns in unserem Handeln leitet und verpflichtet.
Ich werbe noch für einen weiteren Punkt: Kein Haus-
hälter hier im Parlament würde es dulden, wenn die
Regierung beschlösse, dass der Haushalt künftig eine
Strategie der Regierung darstellt und die Abgeordneten
diese nur zur Kenntnis nehmen . Die wichtigen Dinge
gehören ins Parlament . Wir müssen deutlich mehr tun:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724244
(A) (C)
(B) (D)
Die Nachhaltigkeitsstrategie muss demokratisiert, hier
im Parlament diskutiert und verabschiedet und durch den
Parlamentarischen Beirat – mit materiellen Rechten aus-
gestattet – wirkungsvoll begleitet werden .
Ein Pfarrer wurde gefragt, wie viel Geld denn in den
Opferstock gelegt werden solle, damit der liebe Gott zu-
frieden sei . Dieser antwortete: Wenn du doppelt so viel
gibst, wie du eigentlich wolltest, hast du die Hälfte von
dem gegeben, was der liebe Gott von dir erwartet .
So ist es mit der Nachhaltigkeit: Wir müssen deutlich
mehr tun .
Carsten Träger (SPD): Was ist das Gegenteil von
Nachhaltigkeit? Das Gegenteil von Nachhaltigkeit denkt
nicht von heute bis morgen früh . Das Gegenteil von
Nachhaltigkeit trifft politische Entscheidungen beim
Frühstücksfernsehen und leugnet Realitäten wie den Kli-
mawandel .
Gerade hat Donald Trump verkündet, die USA werden
aus dem Pariser Klimaabkommen aussteigen . Das sind
schlechte Nachrichten für das Klima, aber auf jeden Fall
schlechte Nachrichten für die USA . Denn dieser Schritt
ist nicht nur dumm und rückwärts gewandt, er ist auch
wirtschaftlich unsinnig . Fossile Energie statt erneuerba-
re, Nationalismus statt offener Gesellschaft, Konfrontati-
on statt Vertrauen: verlorene Jahre für die USA, solange
er Präsident ist . Umso wichtiger für den Rest der Welt,
zusammenzustehen und noch mehr für Klimaschutz zu
tun!
Umso stolzer bin ich auf die Deutsche Nachhaltig-
keitsstrategie, die ein progressives Dokument ist . Mit
der Nachhaltigkeitsstrategie bekennt sich die Bundes-
regierung zur Einhaltung der planetaren Grenzen, der
Belastungsgrenzen unserer Erde . Daraus resultiert – hier
zitiere ich die Strategie – „ein Transformationsauftrag:
Es geht darum, umfassende, beschleunigte Veränderun-
gen in Wirtschaft und Gesellschaft einzuleiten und vo-
ranzutreiben: in unserer Art zu leben, zu arbeiten, zu kon-
sumieren, in Technologien, Institutionen und Praktiken .“
Das ist ein politisches Bekenntnis mit Weitblick unter
Anerkennung der Realitäten .
Es ist ein konkretes Programm: Wir haben bewähr-
te und neue Indikatoren in allen drei Dimensionen der
Nachhaltigkeit in der Strategie . Als Sozialdemokrat ist
mir die soziale Dimension der Nachhaltigkeit besonders
wichtig . Wir haben hier erstmals einen Armutsindikator
und einen Indikator für soziale Ungleichheit . Bei den
ökologischen Indikatoren sind Indikatoren zum Meeres-
schutz hinzugekommen .
Deutschland ist mit seiner Architektur der Nachhal-
tigkeit weltweit beispielgebend . Wir können stolz darauf
sein, dass wir seit 2002 eine Nationale Nachhaltigkeits-
strategie haben, dass wir einen Rat für Nachhaltigkeit ha-
ben, dass wir einen Parlamentarischen Beirat haben – wir
können stolz auf diese Institutionen und ihre Arbeit sein;
aber wir müssen sie auch weiterentwickeln .
Im täglichen Politikbetrieb fällt die Nachhaltigkeit ge-
rade in Ressorts, die das Prinzip nicht ohnehin schon im-
mer mitdenken, leider oft hinten runter . Dieses Denken
wollen wir aufbrechen .
Wie das gelingen kann, dass die Ministerien über ih-
ren Tellerrand schauen und zusammenarbeiten, um nach-
haltige Ziele zu erreichen, das hat die Umweltministe-
rin im „Integrierten Umweltprogramm“ vorgestellt . Da
hat Barbara Hendricks einmal bei den Schlüsselthemen
Energie, Mobilität, Landwirtschaft und Konsum ange-
setzt und beschrieben, wie die Ministerien zusammenar-
beiten können . Ein toller Aufschlag und ein Vorbild für
andere Ressorts .
Nun sind wir dran . Die Regierung hat ordentlich vor-
gelegt . Nun muss das Parlament, nun müssen wir nach-
legen . Ziele und Indikatoren sind das eine; aber die Ziele
müssen natürlich durch gute Politik erreicht werden . Das
ist unser Job . Es braucht engagierte, progressive Politik,
um engagierte, progressive Ziele zu erreichen . Hier ste-
hen jetzt alle, die bisher Nachhaltigkeit für sich prokla-
miert haben, in der Verpflichtung
Auch deshalb wollen wir Nachhaltigkeit im Grund-
gesetz verankern . Der Parlamentarische Beirat und
der Rat für nachhaltige Entwicklung haben hier ge-
meinsam Vorarbeit geleistet . Große Köpfe wie Gesine
Schwan, Ernst-Ulrich von Weizsäcker, Klaus Töpfer und
Hans-Jürgen Papier sind mit uns der Auffassung: Nach-
haltigkeit gehört ins Grundgesetz . Mit einem Staatsziel
Nachhaltigkeit könnte das Ziel der Nachhaltigkeit noch
viel stärker in die gesellschaftliche Debatte eingebracht
werden . Das Staatsziel wäre immer eine Ermahnung,
auch an längerfristige Wirkungen zu denken .
Wir alle führen Nachhaltigkeit in den Sonntagsreden
im Mund . Es ist an der Zeit zu liefern . Wenn wir das
Grundgesetz für die Verwaltung der Autobahnen ändern
können, dann sollten wir es für die Sicherung unserer Zu-
kunft auch können . Alles andere wäre zu kurz gedacht –
wie ein Tweet beim Frühstücksfernsehen .
Birgit Menz (DIE LINKE): Auch ich möchte meinen
Kolleginnen und Kollegen im Parlamentarischen Beirat
für nachhaltige Entwicklung für die engagierte, kon-
struktive und freundliche Zusammenarbeit danken .
Der PBnE hat in seinem Kerngeschäft zuverlässige
Arbeit geleistet . Wir haben akribisch das Vorhandensein
von Aussagen über Nachhaltigkeitswirkungen in Geset-
zesvorhaben kontrolliert und so dazu beigetragen, dass
solche Aussagen kaum noch vergessen werden . Eine in-
haltliche Verbesserung dieser Aussagen haben wir nicht
erreicht .
Wir haben die Übersetzung der Agenda 2030 in eine
nationale Strategie mit viel Engagement begleitet . Wir
haben uns beständig über die Weiterentwicklung der
Nachhaltigkeitsstrategie informieren lassen . Wir haben
Gespräche dazu geführt, und wir haben die deutsche
Nachhaltigkeitspolitik regelmäßig im Parlament zur De-
batte gestellt .
Doch nach wie vor bestehen Defizite nicht nur bei der
Umsetzung wichtiger Maßnahmen, sondern schon bei
ihrer Entstehung. Die vielzitierten Interessenkonflikte
werden nach wie vor zu selten thematisiert . Und noch
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24245
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seltener werden sie anders aufgelöst als zugunsten der
ökonomischen Dimension .
Das muss sich ändern . Ja, Nachhaltigkeit denkt sozi-
ale, ökologische und wirtschaftliche Fragen zusammen .
Aber es ist ein Irrtum, zu glauben, ihr Verhältnis zuei-
nander wäre beliebig . Unsere Umwelt gibt einen Rahmen
vor, der nicht überschritten werden kann . Das Wirtschaf-
ten muss sich in diesen Rahmen einfügen und sich inner-
halb der planetaren Grenzen am Menschen orientieren –
nicht am Profit.
Deshalb müssen wir den Bruch mit dem Weiter-so,
den sich die Bundesregierung mit der Nachhaltigkeits-
strategie zur Aufgabe macht, stärker einfordern .
Nach all den Auseinandersetzungen um geeignete In-
dikatoren und Ziele ist es an der Zeit, die entscheidende
Frage zu beantworten, wie wir diese Ziele eigentlich er-
reichen wollen . Ich betrachte es als Aufgabe des Beirats,
diese Frage in den Mittelpunkt der gesellschaftlichen De-
batte zu stellen .
Wir müssen aus dem Parlament heraus Ideen entwi-
ckeln, wie eine deutsche Nachhaltigkeitspolitik aussehen
soll . Und wir müssen erreichen, dass die politikfeldüber-
greifende Zusammenarbeit, die wir von den Ministerien
fordern, auch im Parlament stattfindet. Wir müssen zei-
gen, wie konstruktiv über Zielkonflikte gestritten werden
kann und wie sich daraus – auch fraktionsübergreifend –
konkrete Alternativen entwickeln .
Ein Weg dahin könnte sein, dass wir uns auf einige
wenige, aber zentrale Einstiegsprojekte in die Trans-
formation verständigen: Kernprojekte, die die soziale,
ökologische und wirtschaftliche Dimension der Nach-
haltigkeit verbinden, die die deutsche Politik unter dem
Gesichtspunkt globaler Verantwortung betrachten und
die die soziale Gerechtigkeit heute mit der Gerechtigkeit
gegenüber den kommenden Generationen verbinden .
Ein solches Einstiegsprojekt könnte der Kohleausstieg
sein, für den man einen klaren Zeitplan und sozial ge-
rechte Übergänge skizziert . Es könnte um die Zukunft der
Arbeit gehen oder auch darum, wie die Verantwortung
der Bürgerinnen und Bürger für eine nachhaltige Gesell-
schaft mit entsprechenden demokratischen Beteiligungs-
möglichkeiten verbunden werden kann . Denn wenn wir
von den Bürgerinnen und Bürgern fordern, Verantwor-
tung für einen nachhaltigen Konsum zu übernehmen,
dann müssen wir auch zulassen, dass ihre Verantwortung
schon vorher beginnt, nämlich mit der Möglichkeit, darü-
ber mitzuentscheiden, was wir wie produzieren .
Der PBnE hat es geschafft, sowohl seitens der Bundes-
regierung als auch in der Gesellschaft in seinem Kernge-
schäft als wichtiger Akteur wahrgenommen zu werden .
Das zeigen auch die vielen Forderungen nach einer Stär-
kung dieses Gremiums, die von Verbänden in ihren Kom-
mentaren zur Nachhaltigkeitsstrategie erhoben wurden .
Diese Unterstützung, die wir aus der Gesellschaft he-
raus erhalten haben, sollten wir als Auftrag verstehen,
unsere Arbeit, aber auch unser Selbstverständnis wei-
terzuentwickeln, nicht nur zu bellen, wie der Beirat es
im Netz ankündigt, sondern, wo nötig, eben auch kräftig
zuzubeißen .
Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Heute debattieren wir den Arbeitsbericht des Parlamen-
tarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung . Mit dem
zweiten von mir mitverantworteten Arbeitsbericht neigt
sich meine aktive Zeit im Nachhaltigkeitsbeirat dem
Ende zu . Deshalb möchte ich heute zwei Dinge tun: Zu-
rückschauen – und einen Blick in die Zukunft werfen .
Manches haben wir im Beirat erreicht . Ich möchte hier
drei Beispiele nennen:
Den Beschluss zu Hermes-Bürgschaften in der letzten
Wahlperiode .
Die Forderung nach einer Elektroquote im Bundestag-
fuhrpark, die jetzt umgesetzt ist .
In jedem Bundesressort gibt es jetzt eine Nachhaltig-
keitsbeauftragte oder einen Nachhaltigkeitsbeauftragten .
Das ist eine Forderung des Beirats, die von der Bundesre-
gierung in der neuen Nachhaltigkeitsstrategie umgesetzt
wurde .
Die Begleitung der nationalen, seit der Neuauflage im
Januar deutschen Nachhaltigkeitsstrategie ist eine der
Hauptaufgaben des Nachhaltigkeitsbeirats . Hier hat sich
einiges getan . Die Strategie hat sich deutlich fortentwi-
ckelt. Ich hoffe, dass sie in Zukunft auch ambitionierter
als bisher umgesetzt wird . Da ist nämlich noch deutlich
Luft nach oben .
Zum Beispiel hat auch eine ambitionierte Nachhaltig-
keitsstrategie nicht verhindert, dass der Bundesverkehrs-
wegeplan weiterhin zu viele fragwürdige Straßenneubau-
projekte beinhaltet . Hier müssen wir ran .
Das bringt mich zur Zukunftsbetrachtung . – Ich zitie-
re:
Aus der Agenda 2030 resultiert auch für Deutsch-
land ein Transformationsauftrag: Es geht darum,
umfassende, beschleunigte Veränderungen in Wirt-
schaft und Gesellschaft voranzutreiben: in unserer
Art zu leben, zu arbeiten, zu konsumieren, in Tech-
nologien, Institutionen und Praktiken .
Das Zitat ist übrigens nicht aus dem grünen Wahlpro-
gramm, sondern aus der deutschen Nachhaltigkeitsstra-
tegie .
Um diese Transformation zu erreichen, könnten wir
hier im Hohen Haus und im Nachhaltigkeitsbeirat zwei
Dinge in Angriff nehmen:
Erstens . Nicht nachhaltige Politik muss weh tun, und
das geht am besten über den Haushalt . Die Verteilung
von Haushaltsmitteln ist ein äußerst wirksamer Hebel .
Das kann man sich auch für die Nachhaltigkeit zunutze
machen .
Zweitens . Weiterkommen müssen wir auch bei der
Weiterentwicklung der Prüfung der Gesetzesfolgenab-
schätzung . Der Beirat prüft bereits seit 2009 jeden Ge-
setzentwurf formal daraufhin, ob eine Nachhaltigkeits-
prüfung stattgefunden hat . Das ist wichtig, denn oft
genug fehlt in den Entwürfen selbst das . Auf Dauer reicht
das aber nicht . Denn letztlich sagt die formale Prüfung
überhaupt nichts darüber aus, ob ein Gesetzentwurf oder
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724246
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eine Verordnung der Nachhaltigkeit dient oder ihr sogar
schadet . Dafür brauchen wir eine inhaltliche Prüfung .
Anlage 19
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einfüh-
rung eines Wettbewerbsregisters (Tagesordnungs-
punkt 25)
Dr. Herlind Gundelach (CDU/CSU): Das Wettbe-
werbsregister ergänzt die umfassende und äußerst kom-
plexe Vergaberechtsnovelle aus dem letzten Jahr, mit der
wir die Grundlage für einen fairen, unbürokratischen und
transparenten Wettbewerb um Aufträge der öffentlichen
Hand geschaffen haben. Das Wettbewerbsregister ist das
letzte Puzzlestück der Novellierung und wird die Firmen
von Vergaben ausschließen, die in Deutschland gegen
geltendes Recht verstoßen haben .
Es kann schließlich nicht sein, dass wir beispielsweise
eine Firma zum Bau eines öffentlichen Gebäudes beauf-
tragen, die wegen Schwarzarbeit oder Nichteinhaltung
des Mindestlohns in Deutschland rechtskräftig verurteilt
worden ist. Wer Geld aus öffentlichen Kassen für seine
Arbeit erhält, muss sich an die in Deutschland geltenden
Gesetze halten. Das Wettbewerbsregister schafft somit
vor allem auch Chancengleichheit für alle Bewerber .
Wir haben bei diesem Gesetz mit äußerster Sorgfalt
gearbeitet . Denn uns ist es durchaus bewusst, welche
Folgen eine fälschliche Eintragung in ein solches Verga-
beausschlussregister für ein Unternehmen haben könnte .
Es war uns wichtig, dass es für dieses Instrument eine
eindeutige und klare rechtliche Grundlage gibt, die sich
auf für Vergaben relevante Aspekte beschränkt . Dazu ge-
hört auch, dass wir Schwellenwerte bestimmt haben, die
verhältnismäßig sind .
In Deutschland gibt es bereits Vergabeausschluss-
listen . Diese sind jedoch nicht einheitlich und manche
folgen auch nicht der von mir gerade beschriebenen
Maßgabe . Man hat durchaus teilweise das Gefühl, dass
Eintragungen ein wenig nach Gutdünken erfolgen . In der
Folge gibt es in manchen Bundesländern weniger als zehn
Eintragungen auf der sogenannten schwarzen Liste, wäh-
rend andere Länder jede Lappalie in ihr Wettbewerbsre-
gister eintragen . Darüber hinaus gibt es keine klaren
Bestimmungen zur Selbstreinigung . Diese Situation ist
nicht hinnehmbar . Uns war daher in den Beratungen, die
in der Koalition zu jeder Zeit sachlich und sehr einver-
nehmlich geführt worden sind, wichtig, festzulegen: In
das beim Bundeskartellamt neu einzurichtende Wettbe-
werbsregister können nur rechtskräftige strafgerichtliche
Verurteilungen und Strafbefehle sowie bestandskräftige
Bußgeldentscheidungen zu einer Eintragung führen . Die-
sen Punkt stelle ich noch einmal klar, da es dazu immer
wieder falsche Meldungen – auf gut Neudeutsch: Fake
News – gegeben hatte .
Und selbstverständlich muss es einer Firma auch mög-
lich sein, nach entsprechenden Maßnahmen schnellst-
möglich wieder aus dem Register gelöscht zu werden .
Um für diesen Prozess einen fairen und nachvollziehba-
ren Ablauf gewährleisten zu können, haben wir festge-
halten, dass die registerführende Behörde Leitlinien für
die sogenannte Selbstreinigung erlassen muss . Außerdem
haben wir angeregt, den Gebührenrahmen für ein solches
Verfahren in einer Höhe festzulegen, den auch kleine und
mittelständische Unternehmen schultern können .
Oberste Priorität bei dieser Gesetzgebung hat für uns,
dass das Wettbewerbsregister für alle Vergabestellen – sei
es auf Bundes-, Landes- oder Kommunalebene – gelten
muss . Sonst macht es keinen Sinn . Unternehmen agieren
oft bundes-, europa- oder sogar weltweit . Daher müssen
mit dem Wettbewerbsregister des Bundes alle ähnlichen
Register entfallen, die derzeit in den Bundesländern ge-
führt werden .
Das heute zu verabschiedende Gesetz fällt in den Be-
reich der konkurrierenden Gesetzgebung . Das heißt, dass
alle Länderlisten gelöscht werden müssen, sobald das
Gesetz den Bundesrat passiert hat und das Wettbewerbs-
register einsatzfähig ist . Die bisherigen Listen werden
nicht übernommen, da diese, wie soeben beschrieben,
zum Teil nicht unseren Anforderungen und Ansprüchen
gerecht werden .
Wie ich eingangs feststellte, findet mit dem Wettbe-
werbsregister eine umfassende Novellierung des Verga-
berechts ihren Abschluss, die die betroffenen Unterneh-
men in erheblichem Umfang von bisher angefallenen
Bürokratiekosten entlastet, indem es handhabbarer und
überschaubarer geworden ist . Ich möchte daher an dieser
Stelle erneut an die Bundesländer appellieren, ihre Ver-
gabegesetze am neuen Bundesrecht auszurichten bzw .
das Bundesrecht ganz einfach zu übernehmen, zumal die
Länder ja umfassend in die Erarbeitung des neuen Verga-
berechts einbezogen waren und ihm im Bundesrat auch
ohne Änderungen zugestimmt haben .
Barbara Lanzinger (CDU/CSU): wir beraten heute
abschließend den Gesetzentwurf zur Einführung eines
bundesweiten Wettbewerbsregisters, den letzten Baustein
der Modernisierung des Vergaberechts . Schon vor einem
Jahr haben wir das Vergaberechtsmodernisierungsgesetz
und die Vergaberechtsmodernisierungsverordnung im
Deutschen Bundestag verabschiedet und damit den Wett-
bewerb um öffentliche Aufträge gestärkt. Ein erklärtes
Ziel der Reform war, die Bekämpfung der Wirtschafts-
kriminalität zu verbessern .
Bund, Länder und Kommunen vergeben jährlich Auf-
träge im Wert von über 300 Milliarden Euro an private
Unternehmen . Das ist eine Riesensumme, und das ist ein
wichtiger Wirtschaftsfaktor . Außerdem ist es das Geld
der Steuerzahler, mit dem die öffentliche Hand achtsam
umgehen soll . Wer sich wegen Wirtschaftsdelikten straf-
bar gemacht hat, soll deshalb nicht von öffentlichen Auf-
trägen und Konzessionen profitieren.
Das Wettbewerbsregister, das wir nun einführen, sorgt
für mehr Transparenz und einen fairen Wettbewerb: Es
erleichtert den Auftraggebern, nachzuprüfen, ob Unter-
nehmen erhebliche Rechtsverstöße begangen haben, und
sie gegebenenfalls von der Auftragsvergabe auszuschlie-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24247
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ßen . Das kommt allen Unternehmen zugute, die sich an
Recht und Gesetz halten . Dabei gehen wir mit Augenmaß
vor:
Ab einem Auftragswert von 30 000 Euro müssen öf-
fentliche Auftraggeber beim Register nachfragen, ob das
Unternehmen, das den Auftrag erhalten soll, eingetragen
ist, und zwar bevor sie den Zuschlag erteilen .
Bei öffentlichen Aufträgen unterhalb von 30 000 Euro
erhalten Auftraggeber eine Abfragemöglichkeit .
Nach drei bzw . fünf Jahren, je nach Schwere der Tat,
muss die Eintragung gelöscht werden .
Das Gesetz regelt abschließend alle Straftaten oder
Ordnungswidrigkeiten, die zu einer Eintragung führen,
zum Beispiel Bestechung, Geldwäsche, Betrug, und an-
deres . So sorgen wir für Rechtssicherheit .
Der Katalog enthält Straftaten, die zwingende Aus-
schlussgründe nach dem Vergaberecht darstellen, und
fakultative Ausschlussgründe, die die Vergabestellen bis-
her im Gewerbezentralregister abfragen mussten .
Die Unternehmen werden vor der Eintragung infor-
miert und können Einwände erheben .
Sie haben zudem die Möglichkeit, eine Selbstreini-
gung vorzunehmen und dann die vorzeitige Löschung
aus dem Register zu beantragen .
Für die vorzeitige Löschung sollen dem Unternehmen
aber nur die zur Deckung des Verwaltungsaufwands un-
bedingt notwendigen Kosten auferlegt werden; wir wol-
len keine Sanktionierung durch die Hintertür .
Die bisher auf Länderebene geführten Register ent-
fallen, sodass es keine unterschiedlichen Eintragungs-
voraussetzungen mehr geben wird . Für Auftraggeber
und betroffene Unternehmen schaffen wir dadurch mehr
Transparenz und Rechtssicherheit .
Das Bundekartellamt wird als Registerbehörde be-
nannt . Bei ihm liegt schon die Zuständigkeit für die Ver-
gabekammern; deshalb ist sichergestellt, dass die Füh-
rung des Wettbewerbsregisters in kompetenten Händen
liegt .
Wichtig ist uns auch: Kein automatischer Ausschluss
der Unternehmen von öffentlichen Aufträgen. Die Auf-
traggeber entscheiden eigenverantwortlich nach Maßga-
be des Vergaberechts, ob sie ein eingetragenes Unterneh-
men von der Vergabe ausschließen .
Vertraulichkeit der Daten: Die Eintragung ins Wett-
bewerbsregister ist eine sensible Angelegenheit . Wir
stellen sicher, dass nur öffentliche Auftraggeber Einsicht
nehmen können, außerdem Stellen, die ein Präqualifi-
zierungsverzeichnis führen, wenn das Unternehmen ein-
willigt . So schützen wir das Recht der Unternehmen auf
informationelle Selbstbestimmung .
Ich fasse zusammen: Mit diesem wichtigen letzten
Baustein vervollständigen wir das neue Vergaberecht und
sorgen für mehr Transparenz und fairen Wettbewerb bei
der öffentlichen Auftragsvergabe. Schwarze Schafe wer-
den es künftig schwerer haben, an öffentliche Aufträge zu
kommen, für Auftraggeber wird es einfacher, Informati-
onen über Ausschlussgründe einzuholen . Das stärkt die
Unternehmen, die sich rechtskonform und fair verhalten .
Ich bitte daher um Zustimmung zu diesem Gesetz .
Marcus Held (SPD): Ich habe schon ein paar Ge-
setzentwürfe in dieser Legislaturperiode mitverhandelt;
keiner ging so schnell wieder dieser – und das, obwohl
es ein jahrelanges Herzensanliegen meiner SPD-Fraktion
war . Hut ab, liebe Union! Da dürfen dann auch mal die
Grünen gerne klatschen; denn meine Fraktion kämpft be-
reits seit einigen Jahren für die Einführung dieses längst
überfälligen Gesetzes .
Mein allerherzlichster Dank gilt insbesondere mei-
nen beiden Mitstreiterinnen von der Union, Frau
Dr . Gundelach und Frau Lanzinger . Zusammen haben
wir auch schon das Vergaberecht auf fruchtbaren Boden
geführt . Das wiederholen wir nun mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf, welchen wir heute in zweiter und dritter
Lesung verabschieden wollen .
Es geht konkret um das Gesetz zur Einführung eines
Wettbewerbsregisters, ein, wie ich bereits erwähnte, Her-
zensanliegen der SPD-Bundestagsfraktion . Deutschland
wird damit Vorreiter in Sachen Korruptionsprävention
im öffentlichen Auftragswesen. Schwarzen Schafen le-
gen wir damit das Handwerk . Bisher existieren in ei-
nigen Bundesländern sogenannte „schwarze Listen“ .
Diese sollen nun aber in einem noch zu erarbeitenden
Bundesregister aufgehen . Und das ist auch gut so! Wenn
die Bundesländer dann auch noch über ihre insgesamt
14 Landesvergabegesetze nachdenken, dann freuen sich
die Kolleginnen und Kollegen, die tagtäglich mit dem
Thema Bürokratieentlastung zu tun haben .
Das Register wird vom Bundeskartellamt geführt wer-
den . Das ist eine Behörde mit exzellentem Ruf, die gute
Arbeit macht und bei der das Register auch bestens auf-
gehoben sein wird .
Getreu der Losung des Evangelischen Kirchentages in
der letzten Woche in Berlin und Wittenberg „Du siehst
mich“ wird für öffentliche Auftraggeber bei Vergaben
sofort ersichtlich werden, welche Unternehmen davon
ausgeschlossen werden können .
Was werden zukünftig Ausschlussgründe für kriminel-
le Unternehmen bei öffentlichen Auftragsvergaben sein?
Ich zähle auf: Bestechung, Terrorismusfinanzierung,
Geldwäsche, Betrug zulasten öffentlicher Haushalte und
zulasten des Haushalts der EU, Steuerhinterziehung,
Kartellrechtsverstöße, Schwarzarbeit und Verstöße ge-
gen das Mindestlohngesetz . Es ist also eine breite Palet-
te, die in das Register aufgenommen werden wird, wenn
es dazu rechtskräftige Verurteilungen von Unternehmen
gab oder gegen ein Unternehmen Bußgeldbescheide ver-
hängt wurden .
Bei einer jährlichen Auftragsvergabe von 300 Milliar-
den Euro durch Bund, Länder und Kommunen stärken
wir insbesondere diejenigen Unternehmen, die sich bis-
her nichts haben zuschulden kommen lassen . Stichwort:
Fairer Wettbewerb . Für eine soziale Marktwirtschaft ist
dies unabdingbar .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724248
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Betonen möchte ich allerdings an dieser Stelle das
Thema Selbstreinigung . Eingetragene Straftaten können
nach Ablauf von fünf Jahren, eingetragene Bußgeldent-
scheidungen spätestens nach Ablauf von drei Jahren ab
dem Tag der Rechts- oder Bestandskraft der Entschei-
dung gelöscht werden . In § 8 wird eine vorzeitige Lö-
schung der Eintragung aus dem Wettbewerbsregister
geregelt .
Das Gesetz hätte man an einigen Punkten auch noch
weiter fassen können . So wird unter anderen moniert,
dass die Bagatellgrenze bei Bußgeldentscheidungen bei
50 000 Euro liege und deswegen ein Großteil der Buß-
geldentscheidungen der Kartellbehörden im Geltungs-
bereich des Gesetzes nicht erfasst werde . Die Forderung
von uns war, diese auf 5 000 Euro zu senken . Ich bin da-
für, dieses Gesetz so, wie es ist, jetzt erst einmal in Kraft
treten zu lassen und dann in der nächsten Legislaturperi-
ode zu schauen, ob gegebenenfalls weitere Verbesserun-
gen vorgenommen werden sollten .
Ein gutes und wichtiges Gesetz wird heute in diesem
Hohen Hause verabschiedet . Darauf können wir auch
alle stolz sein, liebe Kolleginnen und Kollegen .
Michael Schlecht (DIE LINKE): Generell begrüßen
wir die Einführung eines Wettbewerbsregisters . Es ist
längst überfällig und wurde auch von uns bereits in der
letzten Legislaturperiode unter dem Begriff „Korrupti-
onsregister“ gefordert. Schließlich dürfen mit öffentli-
chen Aufträgen und letztlich Steuergeldern nicht auch
noch solche Unternehmen belohnt werden, die gegen
Recht und Gesetz verstoßen .
Allerdings ist das vorliegende Gesetz recht zahnlos
und lässt viele Lücken. Eine effektive soziale, ökologi-
sche und rechtsstaatliche Förderung unternehmerischen
Verhaltens über den Hebel der öffentlichen Auftragsver-
gabe wird nach wie vor kaum möglich, was auch die Ge-
werkschaften bemängeln .
Vieles bleibt leider offen:
Erstens . Es ist unklar, inwiefern das Bundesgesetz die
in einigen Bundesländern vorhandenen weitergehenden
Regelungen oder bereits existierende Systeme der Prü-
fung der Qualifikation bei der Zulassung zur Teilnahme
an öffentlichen Ausschreibungen berühren wird. Es muss
weiterhin klar für die Bundesländer die Möglichkeit ge-
ben, über das Bundesrecht hinausgehende Regelungen
bei der Auftragsvergabe in ihren Landesregistern aufzu-
nehmen .
Zweitens . Im Wettbewerbsregister ist allein ein Ein-
trag von Verstößen mit Rechtskraft vorgesehen, um den
Ausschluss von der Auftragsvergabe zu rechtfertigen .
Voraussetzung für den Eintrag ist somit die rechtskräf-
tige Verurteilung eines Mitarbeiters unter anderem für
Vergehen wie Bestechung, Betrug, Geldwäsche, die Bil-
dung einer kriminellen Vereinigung oder Terrorismusfi-
nanzierung . Da es nun aber kein Unternehmensstrafrecht
in Deutschland gibt, entscheiden Gerichte oder Behörden
subjektiv bzw . von Fall zu Fall darüber, inwieweit der
Rechtsverstoß als Tat eines Einzelnen gewertet wird oder
dem Unternehmen zuzurechnen ist . Nur Letzteres würde
aber zum Eintrag ins Wettbewerbsregister führen . Das ist
unzureichend .
Darüber hinaus wird der zeitnahe Eintrag erschwert
durch den langjährigen Instanzen- und Behördenweg . Es
wäre sinnvoll, zumindest die entsprechenden Informati-
onen zu anhängigen Verfahren wie Straf- und Bußgeld-
verfahren im Wettbewerbsregister aufzunehmen, zumal
dies keine Strafe bzw . Vorverurteilung darstellt, sondern
im Rahmen des Vergaberechts der Sorgfaltspflicht des öf-
fentlichen Mitteleinsatzes entspricht . So, wie jetzt im Ge-
setzentwurf vorgesehen, wird während der langjährigen
Feststellung möglicher Verstöße mit Rechtsbestandskraft
die öffentliche Hand blind agieren.
Drittens . Aufnahmegründe in das Wettbewerbsregister
sind vor allem Verstöße und Betrügereien, die sich pri-
mär gegen öffentliche Haushalte richten. Es ist aber mehr
als angebracht, hier auch die Fälle zu erfassen und einen
Registereintrag zu begründen, in denen die Betrugstat
zulasten der Kassen der gemeinsamen Einrichtungen der
Tarifvertragsparteien geht . Darüber hinaus sollte der Ur-
sachenkatalog über die genannten Verstöße hinaus offen
gehalten werden und nicht in Form einer abschließenden
Aufzählung der Straftatbestände und Ordnungswidrig-
keiten formuliert werden .
Viertens . Laut Wettbewerbsregister beginnt die Ab-
fragepflicht der Vergabebörden erst bei einem Auftrags-
wert von 30 000 Euro . Es gibt zwar im Gesetzentwurf
eine fakultative Abfragemöglichkeit unterhalb von
30 000 Euro . Allerdings zeigen die Erfahrungen, dass
Vergabebehörden von solchen fakultativen Regelungen
seltener Gebrauch machen. Eine Abfragepflicht unter-
halb der 30 000-Euro-Grenze ist notwendig, um frühzei-
tig und lückenlos die Zuverlässigkeit der Unternehmen
bei der Teilnahme am Vergabeverfahren zu prüfen .
Ins Wettbewerbsregister aufgenommen wird nur, was
an Verstößen entdeckt und geahndet wird . Grundvoraus-
setzung dafür ist wiederum eine ausreichende personelle
und finanzielle Ausstattung der entsprechenden Ermitt-
lungsbehörden und der Justiz . Hier gibt es unzählige
Schwachstellen, die durch die Ausdünnung des öffentli-
chen Dienstes – Stichworte Zoll, Steuerverwaltung, Jus-
tiz, Polizei – in den letzten Jahren massiv vergrößert wor-
den sind, sodass der Gesetzesvollzug nicht hinreichend
gesichert ist, was nicht allein Wettbewerbsregister und
Vergabegesetz betrifft. Die finanziellen und personellen
Ressourcen müssen dringend erhöht werden, um den ef-
fektiven Einsatz von Steuermitteln und die Gewährleis-
tung rechtsstaatlichen Verhaltens von Unternehmen in
der Breite zu sichern . Nur dann lassen sich unfaire Prak-
tiken, Betrug und Korruption verringern .
Zusammenfassend: Im Grundsatz begrüßen wir das
Wettbewerbsregister . Die Umsetzung ist allerdings unge-
nügend . Daher können wir uns hier nur enthalten .
Katharina Dröge (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Endlich ist es so weit: Der Bundestag kann nun endlich
über ein Wettbewerbsregister abstimmen! Dabei muss
ich sagen: Von der Idee her finde ich, finden wir Grü-
nen das Register gut . Kein Wunder, wir fordern ein sol-
ches Register auch schon seit 2002 . Das hat nur leider
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24249
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die Union bisher immer verhindert . Vier Anläufe haben
wir gemacht, die alle an der Uneinsichtigkeit der Union
gescheitert sind .
Ich würde jetzt „Schwamm drüber“ sagen, hätten Sie
ein gutes Gesetz vorgelegt . Aber leider hat der Gesetz-
entwurf Schwächen, über die wir nicht hinwegsehen
können; denn wir wollen Grundlagen für fairen Wettbe-
werb schaffen. Fairen Wettbewerb kann es aber nur ge-
ben, wenn sich alle Wettbewerber an die gleichen Regeln
halten und wenn diejenigen, die das nicht tun, für ihr
Fehlverhalten auch bestraft werden . Bleibt eine solche
Bestrafung aus, schafft das Anreize für Fehlverhalten,
für Betrug und Korruption . Um nichts anderes geht es
bei der Schaffung von Wettbewerbsregistern. Wir wollen
die öffentliche Hand in die Lage versetzen, gegen solche
Straftäter konsequent vorzugehen und öffentliche Auf-
träge nur an Unternehmen zu vergeben, die sich an die
Spielregeln halten .
Also: Wir wollen ein Korruptionsregister . Aber Ihre
Umsetzung ist schlicht nicht gut genug . Sie haben die
Bußgeldhöhe, ab der ein Unternehmen in das Register
aufgenommen wird, mit 50 000 Euro viel zu hoch an-
gesetzt . Damit fallen viel zu viele Unternehmen aus der
Regelung heraus . Aus unserer Sicht – auch der Bun-
desrat sieht das so – muss eine effektive Schwelle bei
5 000 Euro liegen .
Ihr Starrsinn wird nun dazu führen, dass über 90 Pro-
zent der Bußgeldentscheidungen nicht erfasst werden .
Das ist gerade auch deswegen bedenklich, da das bun-
desweite Register die Landesregister ersetzen soll . Durch
die Höhe von 50 000 Euro werden die meisten Entschei-
de der Landesbehörden überhaupt nicht mehr berück-
sichtigt . Flächendeckende Korruptionsbekämpfung sieht
anders aus .
Dass mit der Ersetzung der Landesregister durch das
bundesweite Register auch noch eine Generalamnestie
einhergeht, weil Sie bestehende Eintragungen nicht über-
nehmen wollen, ist ein weiterer kritischer Punkt . Hinzu
kommt: Sie wollen nur solche Unternehmen eintragen,
die rechtskräftig verurteilt worden sind . Doch das ist zu
wenig . Strafverfahren wegen Korruptionsdelikten dauern
regelmäßig vier bis fünf Jahre . Hier bleibt Nachbesse-
rungsbedarf .
Auch dass nur Verstöße eingetragen werden, die in
Deutschland oder der EU geschehen, ist mangelhaft .
Wir fordern daher, dass auch Unternehmen, die an ande-
rer Stelle, etwa in der Lieferkette, gegen internationale
Bestimmungen verstoßen, in das Register aufgenommen
werden können .
Ich komme deshalb leider zu dem Ergebnis, dass die-
ses Gesetz nicht den Ansprüchen genügt . Es genügt nicht
unseren grünen Ansprüchen, aber es genügt vor allem
nicht dem Anspruch, Korruption wirksam zu bekämpfen
und keine staatlichen Aufträge mehr an korrupte Unter-
nehmer zu vergeben . Das ist traurig, und das ist keine
verantwortungsvolle Politik gegenüber den Steuerzahle-
rinnen und Steuerzahlern und gegenüber allen Unterneh-
men in diesem Land, die fair spielen .
Deshalb: Obwohl wir einem Korruptionsregister ger-
ne zustimmen würden, müssen wir uns enthalten . Das
liegt an Ihrer notdürftigen Umsetzung .
Anlage 20
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisie-
rung der epidemiologischen Überwachung über-
tragbarer Krankheiten (Tagesordnungspunkt 26)
Rudolf Henke (CDU/CSU): Infektionskrankheiten
gehören nach wie vor zu den größten Gefahren für die
menschliche Gesundheit und sind eine ernstzunehmende
Herausforderung staatlichen Handelns .
Die mediale Aufmerksamkeit ist immer dann beson-
ders groß, wenn es zu internationalen Ausnahmezustän-
den wie bei der Ebolaepidemie oder der Ausbreitung des
Zika-Virus kommt, da ihre verheerenden Auswirkungen
mitsamt einer raschen überregionalen bis globalen Ver-
breitung uns mit einer gewissen Sorge erfüllen, verbun-
den mit der Hoffnung, die Infektionskrankheit möge ih-
ren Weg nicht bis zu uns finden.
Doch auch bei uns bleibt die Bekämpfung von Infekti-
onskrankheiten eine gesellschaftliche und politische Auf-
gabe, die – so wage ich zu behaupten – nicht den Stel-
lenwert in der Gesellschaft genießt, der eigentlich unser
Anspruch sein sollte .
Deshalb ist es gut und richtig, dass wir heute durch
die Verabschiedung des Gesetzes zur Modernisierung
der epidemiologischen Überwachung übertragbarer
Krankheiten auch in diesem Bereich den Weg in die Di-
gitalisierung gehen und ein datenschutzkonformes Mel-
de- und Informationssystem von übertragbaren Krank-
heiten etablieren, zu dem alle an der Versorgung und der
Forschung beteiligten Akteure Anschluss haben sollen .
Auf die Schaffung dieses digitalen Meldesystems, seine
Kompatibilität und seine Nutzung wird meine Kollegin
Katja Leikert in ihrer Rede näher eingehen .
Meinen Appell zur besseren personellen wie struktu-
rellen Ausstattung des öffentlichen Gesundheitsdienstes
möchte ich an dieser Stelle zum Ende der Legislaturpe-
riode noch einmal wiederholen: Dieses Gesetz folgt ei-
ner vielversprechenden Strategie, die Infektionsausbrü-
che früh erkennen und deren überregionale Verbreitung
eindämmen soll . Dazu sind wir auf die aktive und ver-
lässliche Mitwirkung der zuständigen Gesundheitsämter
angewiesen . Die angespannte Personalsituation in den
Gesundheitsämtern vor Ort wird von den Betroffenen
seit langer Zeit moniert . Diese Sorgen sollten wir nicht
auf die leichte Schulter nehmen . Wenn wir wirklich einen
effektiven Schutz vor Infektionskrankheiten sicherstellen
wollen, muss der Gesundheitsdienst mit ausreichend
Ressourcen ausgestattet werden, damit er seinen Aufga-
ben pflichtbewusst nachkommen kann.
Lassen Sie mich – bevor ich auf die fachfremde Än-
derung zu den Personaluntergrenzen eingehe – noch auf
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724250
(A) (C)
(B) (D)
eine Regelung zu sprechen kommen, die aufgrund ihrer
Aktualität eine gewisse mediale Wirksamkeit entfaltet
hat .
Mit der Verabschiedung des Präventionsgesetzes ha-
ben wir bereits gesetzlich geregelt, dass bei der Erstauf-
nahme in eine Kindertageseinrichtung die Sorgeberech-
tigten einen schriftlichen Nachweis darüber zu erbringen
haben, dass zeitnah vor der Aufnahme eine ärztliche Be-
ratung in Bezug auf einen vollständigen, nach den Emp-
fehlungen der Ständigen Impfkommission ausreichenden
Impfschutz des Kindes erfolgt ist . Wird dieser Nachweis
nicht erbracht, kann das Gesundheitsamt die Sorgebe-
rechtigten zu einer Beratung laden . So ist es geltendes
Recht seit Inkrafttreten des Präventionsgesetzes Ende
Juli 2015 .
Auch ist es nach dem Infektionsschutzgesetz seit
diesem Zeitpunkt geltendes Recht, dass der- oder die-
jenige, der diesen Nachweis nicht oder nicht rechtzei-
tig erbringt – sei es vorsätzlich oder fahrlässig –, ord-
nungswidrig handelt und dafür mit einer Geldbuße bis zu
2 500 Euro belangt werden kann .
In der Gesetzesbegründung des Präventionsgeset-
zes heißt es dazu ergänzend: „Für Fälle, in denen Per-
sonenberechtigte den erforderlichen Nachweis auch auf
wiederholte Aufforderung hin nicht erbringen, wird das
Gesundheitsamt ermächtigt, die Personenberechtigten zu
einer Beratung zu laden . Die Kindertageseinrichtung darf
dazu das Gesundheitsamt entsprechend informieren .“
Was wir mit dem Präventionsgesetz beabsichtigt ha-
ben, konkretisieren wir jetzt durch eine gesetzlich ver-
pflichtende Informationspflicht seitens der Leitung von
Kindertageseinrichtungen an das Gesundheitsamt, wenn
Sorgeberechtigte den Nachweis eines Informationsge-
sprächs nicht erbringen .
Das ist ein weiterer von vielen notwendigen Schritten
auf dem Weg zu einer ausreichend hohen Impfquote . Bei
den Masern liegt die Quote der ersten Impfung bei über
90 Prozent, das heißt, für diese mehr als 90 Prozent kann
der Vorwurf einer prinzipiellen ideologischen Gegner-
schaft zur Impfung nicht gelten . Trotzdem erreichen wir
bei der zweiten Impfung, die nach der Empfehlung der
Ständigen Impfkommission bis zum Ende des zweiten
Lebensjahres durchgeführt werden soll, nicht einmal drei
von vier Kindern . Diejenigen, die diese Impfung schlicht
vergessen haben oder die sonst von einer Art Phlegma
befallen sind, können wir mit der Initiative der Kinder-
tagesstätten und der von dort ausgelösten Beratung im
Gesundheitsamt besser erreichen .
Daneben müssen Impfungen für alle in der Bevölke-
rung leichter zugänglich und verfügbarer werden, etwa
auch dadurch, dass auch Betriebs- und Werkärzte Imp-
fungen im Sinne des Präventionsgesetzes durchführen .
Ich persönlich halte dazu auch Konzepte für möglich, die
auf gezielte Anreize setzen, um das Bewusstsein und die
Motivation für das Impfen zu erhöhen, etwa durch steu-
erliche Vorteile .
Abschließend komme ich auf den viel beachteten
fachfremden Änderungsantrag, der den gesetzlichen
Auftrag vergibt, sogenannte pflegesensitive Bereiche in
Krankenhäusern zu identifizieren und für diese Bereiche
Personaluntergrenzen zu definieren. Diese Entscheidung
ist ein wichtiger Schritt, das Personal in wesentlichen
Versorgungsbereichen in Krankenhäusern zu entlasten
und damit eine qualitativ hochwertige Versorgung sicher-
zustellen . Des Weiteren beauftragen wir die Selbstver-
waltungspartner, ein Nachweisverfahren zu vereinbaren,
das Personalverlagerungen unterbindet . Krankenhäuser,
die sich nicht an diese Vorgaben halten, müssen mit
Sanktionen rechnen .
Es ist wohl Aufgabe der Opposition, die Regelung
zu den Pflegeuntergrenzen als halbstumpfes Schwert zu
bezeichnen, da sie zu spät komme und in ihrer Auswir-
kung viel zu gering bemessen sei . Bisher konnte jedoch
niemand eine weiterreichende Regelung entwickeln und
vorlegen. Das Gesetz schafft für die Umsetzung und Aus-
gestaltung des gesetzlichen Auftrags die Möglichkeit,
weitere Expertise einzuholen .
Wir werden die Umsetzung dieser Regelung mit gro-
ßer Aufmerksamkeit verfolgen . Wir sind optimistisch,
dass die betroffenen Bereiche von deren Wirksamkeit
profitieren können. Es ist unser politischer Auftrag, die
zu Recht eingeforderte Qualität in der gesundheitlichen
Versorgung mit Personalstrukturen zu verbinden, die da-
für Sorge tragen, dass diejenigen, die tagtäglich für diese
Qualität sorgen, nicht über Gebühr belastet werden – im
Sinne der Patientinnen und Patienten und aller Men-
schen, die im Gesundheitswesen einen außerordentlich
guten Job machen .
Dr. Katja Leikert (CDU/CSU): Mit dem heute vor-
liegenden Gesetzentwurf zur Modernisierung der epide-
miologischen Überwachung übertragbarer Krankheiten
stärken wir den Kampf gegen Infektionskrankheiten .
In den vorausgegangenen Beratungen ist eines schon
deutlich geworden: Wir sind uns alle vom Grundsatz her
einig, dass es beim Thema Infektionsschutz Verbesse-
rungsbedarf gibt; die Verbesserungen können mit dem
nun vorliegenden Maßnahmenpaket wirksam auf den
Weg gebracht werden .
Die Schritte, die wir mit diesem Gesetz einleiten, sind
zum einen zeitgemäß und zum anderen notwendig . Sie
sind zeitgemäß, weil sie die Möglichkeiten der digitalen
Vernetzung auch im Hinblick auf den Infektionsschutz
erschließen, und sie sind notwendig, weil neue Erkennt-
nisse und Erfahrungen, die man im Bund und in den
Ländern im Zusammenhang mit der Umsetzung des In-
fektionsschutzgesetzes gesammelt hat, Verbesserungen
erforderlich machen . Hinzu kommen veränderte interna-
tionale und europäische Rahmenbedingungen, die eben-
falls gesetzliche Anpassungen erfordern .
Im Kern sieht das Gesetz die Einführung eines elektro-
nischen Melde- und Informationssystems für übertragba-
re Krankheiten vor . Damit entwickeln wir das existieren-
de Meldesystem nach dem Infektionsschutzgesetz weiter
und schaffen ein Instrument zur besseren Bekämpfung
und Verhütung von Infektionskrankheiten . Mit der Ein-
richtung dieses elektronischen Meldewesens beauftragen
wir das Robert-Koch-Institut . Spätestens 2021 soll das
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24251
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(B) (D)
Deutsche Elektronische Meldesystem für Infektions-
schutz in Betrieb gehen .
Wir sorgen damit für eine zentrale Zusammenführung
der Daten . Das heißt, in Zukunft wird für die meldenden
Ärztinnen und Ärzte und für die Labore genauso wie für
die Gesundheitsämter und das Robert-Koch-Institut eine
durchgängige elektronische Informationsverarbeitung
zur Verfügung stehen . Dadurch verringern wir den büro-
kratischen Aufwand aufseiten der Meldepflichtigen und
schaffen eine höhere Datenqualität.
Wir erleichtern den Datenaustausch und sorgen
gleichzeitig für eine bessere Zusammenarbeit von Bun-
des- und Landesbehörden . Das ist für eine funktionie-
rende Früherkennung essenziell . Im Ernstfall kann so
in Zukunft schneller reagiert werden und die Einleitung
entsprechender Maßnahmen erfolgen . Was für die digita-
le Vernetzung im Gesundheitssystem generell gilt, trifft
natürlich auch hier zu: Datenschutz und -sicherheit haben
höchste Priorität .
Darüber hinaus sieht der Gesetzentwurf weitere Ver-
besserungen im Infektionsschutzgesetz vor . Darunter
fällt beispielsweise der Kampf gegen Krankenhausinfek-
tionen. Um für eine effektivere Aufklärung der Übertra-
gungswege zu sorgen, erweitern wir deshalb die Melde-
pflichten von Krankenhäusern.
Hinzu kommt die Umsetzung der Globalen Polioera-
dikationsstrategie (GPEI) der Weltgesundheitsorganisati-
on, für die wir nun die gesetzlichen Grundlagen festlegen .
So soll unter anderem erfasst werden, wo Poliowildviren,
Polioimpfviren und Materialien, die Polioviren enthalten
können, gelagert werden, um diese langfristig zu ver-
nichten . An dieser Stelle auch noch einmal einen herzli-
chen Dank an Bundesgesundheitsminister Gröhe für sein
großes Engagement auf internationaler Ebene!
Darüber hinaus möchte ich noch einmal auf das The-
ma Impfen zu sprechen kommen; denn wir sehen leider,
dass die Impflücken noch immer viel zu groß sind. So
ist es beispielsweise einfach nicht hinnehmbar, dass in
diesem Jahr schon innerhalb der ersten drei Monate mehr
Masernerkrankungen als im gesamten Vorjahr registriert
wurden: 410 Fälle bis einschließlich März im Vergleich
zu 325 Fällen in 2016 .
Allen muss bewusst sein, dass Masern keine harmlose
Kinderkrankheit sind . Heute weiß man, dass diese Er-
krankung auch zum Tod führen kann . Wir brauchen eine
stabile Impfquote von über 95 Prozent für die zweifache
MMR-Routineimpfung bei Kindern . Erst wenn wir in-
nerhalb der Bevölkerung eine Immunität gegen Masern
von mindestens 95 Prozent haben, können wir das Ziel,
diese gefährliche Krankheit auszurotten, erreichen . Des-
halb ist es eben auch so wichtig, dass Erwachsene, die
als Kind nicht die Masern hatten, ihren Impfstatus über-
prüfen .
Hier müssen wir mehr tun, und deshalb halte ich es
für absolut richtig und notwendig, dass wir die Regelun-
gen, die wir schon im Präventionsgesetz verabschiedet
haben, nun noch einmal so nachgearbeitet haben, dass
ihre Umsetzung auch tatsächlich gewährleistet ist; denn
was bringt uns eine gesetzliche Regelung, an die sich
niemand hält, weil er keine Konsequenzen zu befürchten
hat?
Vor diesem Hintergrund verschärfen wir jetzt die
Auflagen, die bei einer Verweigerung der Impfberatung
durch die Eltern vor dem Eintritt ihres Kindes in die Kin-
dertageseinrichtung entstehen . Es ist richtig und gut, dass
die Leitung einer Kindertagesstätte nun zur Meldung an
das zuständige Gesundheitsamt verpflichtet wird, sofern
Eltern eine Impfberatung verweigern . Das gibt den Ge-
sundheitsämtern eine Handhabe zur Umsetzung ihrer
Aufgaben; denn sie können die Eltern nun zu einer Bera-
tung einladen und gegebenenfalls auch das Bußgeld von
2 500 Euro durchsetzen, das bereits im Infektionsschutz-
gesetz vorgesehen ist .
Hier werden wir auch weiter überprüfen müssen, ob
die Maßnahmen greifen . Wir können und sollten uns
nicht damit abfinden, dass die Impfmüdigkeit oder der
laxe Umgang einiger Eltern mit Impfungen gegen schwe-
re, zum Teil lebensbedrohliche Krankheiten die Gesund-
heit der eigenen Kinder und anderer aufs Spiel setzen .
Insgesamt bringt der Gesetzentwurf die notwendigen
Anpassungen und Verbesserungen für einen modernen
Infektionsschutz in Deutschland voran . Ich bitte Sie um
Ihre Zustimmung zu diesem wichtigen Maßnahmenbün-
del .
Sabine Dittmar (SPD): Heute Abend beraten wir ab-
schließend den Gesetzentwurf zur Modernisierung der
epidemiologischen Überwachung . Die jüngste Meldung
über einen erneuten Masern-Todesfall führt uns noch-
mals vor Augen, dass wir leider weit davon entfernt sind,
vermeidbare übertragbare Krankheiten auch tatsächlich
auszurotten .
Als Medizinerin kann und will ich nicht verstehen,
warum einige die von der STIKO empfohlenen Schutz-
impfungen nicht ernst nehmen und sich einem gesund-
heitlichen Risiko aussetzen . Ich appelliere daher an alle:
Lassen Sie Ihren Impfstatus überprüfen und sich beraten,
frischen Sie die Impfungen bei Bedarf auf und lassen Sie
diese ergänzen .
Der zentrale fachliche Bestandteil des Gesetzes ist die
Erweiterung der Meldepflichten und die Verbesserung
der Meldekette und des Informationsaustausches . Mit
dem Deutschen Elektronischen Meldesystem für Infek-
tionsschutz wird der Datentransfer künftig effektiver und
schneller .
Entscheidend ist aus meiner Sicht allerdings, dass die
auf Bundes- und Landesebene beteiligten Stellen und
insbesondere der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD)
personell und organisatorisch in die Lage versetzt wer-
den, ihren stetig wachsenden Aufgaben gerecht zu wer-
den . Leider wurde in der Vergangenheit gerade bei dem
so wichtigen ÖGD gespart . Ich möchte daher nochmals
an den Beschluss „Perspektiven zur Stärkung des ÖGD“
der 89 . Gesundheitsministerkonferenz erinnern . Diesem
müssen auf Länderebene endlich Taten folgen .
Der Gesetzentwurf fungiert als Omnibus für die wich-
tige und aus sozialdemokratischer Sicht längst überfälli-
ge Einführung von Personaluntergrenzen in Krankenhäu-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724252
(A) (C)
(B) (D)
sern . Wir setzen damit Mindeststandards fest, die für die
Patientensicherheit zentral sind .
Durch das Gesetz werden mit Wirkung zum 1 . Januar
2019 verbindliche Personaluntergrenzen in pflegesensiti-
ven Bereichen in Krankenhäusern definiert. Darüber hi-
naus ist es uns gelungen, klarzustellen, dass die Vorgaben
auch für solche Betten gelten, die Krankenhausbereichen
zugeordnet sind, die nicht per se als pflegesensitiv einge-
stuft sind, der Patient jedoch eine umfassende intensiv-
pflegerische Versorgung benötigt. Damit verbessern wir
die Versorgung der Patientinnen und Patienten, wir ver-
bessern aber gleichzeitig auch die Arbeitsbedingungen
für die Pflegekräfte, da in Zukunft eindeutig und nach-
vollziehbar definiert wird, wie viel Personal tatsächlich
mindestens vorzuhalten ist .
Diese Untergrenzen sind ein wichtiger Schritt, um die
Qualität der Betreuung sicherzustellen . Für meine Frakti-
on ist allerdings klar, dass Untergrenzen wirklich nur der
Mindeststandard ist, den es nach oben zu einer adäquaten
und wissenschaftlich fundierten Personalbemessung aus-
zubauen bzw . weiterzuentwickeln gilt .
Ich bin dennoch sehr froh, dass es uns so kurz vor
Ende dieser Legislaturperiode noch gelungen ist, die
Empfehlungen der Expertenkommission „Pflegepersonal
im Krankenhaus“ gesetzgeberisch aufzugreifen . Damit
schlagen wir einen weiteren Pflock ein für gute Pflege
und gute Arbeitsbedingungen in Krankenhäusern .
Krankenhäuser, die die Personalvorgaben nicht ein-
halten, werden mit einem Vergütungsabschlag bestraft .
Da uns bewusst ist, dass einige Betreiber – sagen wir
mal – kreative Lösungen suchen könnten, um die Vor-
gaben zu umgehen, sind Maßnahmen vorgesehen, damit
es nicht zu Personalverlagerungseffekten kommt. Die
Einhaltung der Mindeststandards muss daher von einem
Wirtschaftsprüfer bestätigt werden . Die Vorgaben sind
im Verhältnis Patient pro examinierten Gesundheits- und
Krankenpfleger bzw. pro examinierter Gesundheits- und
Krankenpflegerin mit mindestens drei Jahren Berufsaus-
bildung darzustellen . Ich denke, es sollte klar sein, dass
Mindestvorgaben in pflegesensitiven Bereichen nicht
zulasten der Personalausstattung in anderen Bereichen
gehen dürfen .
Besonders zu begrüßen ist zudem die Regelung, dass
sich, sollten sich die Selbstverwaltungspartner innerhalb
der vorgegebenen Frist wieder einmal nicht einigen kön-
nen, die Bundeschiedsstelle automatisch damit befassen
wird und die ausstehenden Entscheidungen trifft. Eine
Verschleppung oder Verhinderung von verbindlichen
Personaluntergrenzen ist damit ausgeschlossen .
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf und den zahl-
reichen dazugehörigen fachlichen und fachfremden Än-
derungsanträgen verbessern wir den Gesundheitsschutz
und die Pflege in Krankenhäusern. All dies sind gute
Gründe, um dem vorliegenden Entwurf zum Wohle der
Bürgerinnen und Bürger, der Patienten und Pflegekräfte
zuzustimmen .
Hilde Mattheis (SPD): Das Gesetz mit dem schwieri-
gen Titel „Gesetz zur Modernisierung der epidemiologi-
schen Überwachung übertragbarer Krankheiten“ enthält
neben dem eigentlichen Regelungsinhalt weitere Ände-
rungen im Bereich Pflegepersonal im Krankenhaus. Ich
werde daher im Folgenden auf diese Änderungen einge-
hen, die für uns als SPD-Fraktion ein zentraler Baustein
für eine Verbesserung der Versorgungsqualität in Kran-
kenhäusern sind .
Die Koalition hat im November 2015 das Kranken-
hausstrukturgesetz (KHSG) verabschiedet, mit dem wir
wichtige Reformen zur Neustrukturierung der Kranken-
hauslandschaft und zur Finanzierung der Krankenhäu-
ser beschlossen haben . Ein großes Problemfeld bei den
Beratungen war und ist die Situation der Pflegekräfte in
Krankenhäusern . Viele Kolleginnen und Kollegen sind
womöglich bei Besuchen in Kliniken oder durch Zu-
schriften der Betroffenen bereits mit dem Problem kon-
frontiert worden: Pflegekräfte arbeiten viel und hart. Sie
klagen über zu viel Stress und ständigen Arbeitsdruck,
sodass nicht ausreichend Zeit für eine qualitativ hoch-
wertige Pflege für die Patientinnen und Patienten bleibt.
Ganz offensichtlich fehlen in verschiedenen Bereichen
im Krankenhaus Pflegekräfte, womit die Arbeit besser
auf mehr Schultern verteilt werden könnte und der Ar-
beitsdruck insgesamt sinkt . Die SPD-Fraktion hat sich
daher bemüht, dieses Problem an verschiedenen Stellen
anzugehen . Wir haben im Krankenhausstrukturgesetz
eine bessere Finanzierung der Krankenhäuser für Pfle-
gekräfte vereinbart, einerseits über ein Pflegestellenför-
derprogramm, mit dem jährlich 330 Millionen Euro an
die Krankenhäuser für Pflege am Bett fließen. Außerdem
haben wir damals den umstrittenen Versorgungszuschlag
in einen Pflegezuschlag umgewandelt. Wir haben also
500 Millionen Euro zusätzlich an die Krankenhäuser ge-
zahlt, die keine Pflegestellen abgebaut haben bzw. neue
Pflegestellen aufbauen und diese anständig bezahlen.
Diese Maßnahmen stellten quasi eine kurzfristige mo-
netäre Unterstützung für bessere Pflege im Krankenhaus
dar .
Allerdings war uns auch klar, dass das nur ein Tropfen
auf den heißen Stein ist und das Problem natürlich nicht
vollständig löst . Die grundsätzliche Frage, nämlich wie
Pflegeleistungen besser in der Krankenhausvergütung,
den sogenannten DRGs, dargestellt werden können, und
ob es nicht verbindliche Personalstandards im Kranken-
haus braucht, wurde damit nicht gelöst . Dafür haben wir
auf die Einrichtung einer Expertenkommission gedrängt,
die mit dem KHSG beschlossen wurde . Diese Kommissi-
on wurde vom Bundesgesundheitsminister eingesetzt und
tagte im vergangenen Jahr unter Beteiligung der Deut-
schen Krankenhausgesellschaft, der Gewerkschaften, der
Politik und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern .
Nach intensiver Arbeit konnte die Kommission Anfang
dieses Jahres ihre Ergebnisse vorlegen .
Nun setzen wir in diesem Gesetz eine erste gesetzge-
berische Maßnahme um, nämlich die Einrichtung von
Personaluntergrenzen im Krankenhaus . Wir beauftragen
nun den GKV-Spitzenverband und die Deutsche Kran-
kenhausgesellschaft (DKG) im Benehmen mit der PKV
die Bereiche im Krankenhaus zu definieren, die einen
erhöhten Pflegeaufwand haben, also sogenannte pfle-
gesensitive Bereiche sind. Auf Grundlage dieser Defi-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24253
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(B) (D)
nition müssen die Verhandlungspartner GKV und DKG
bis zum 30. Juni 2018 Personaluntergrenzen definieren.
Diese Vorgaben gelten dann ab dem 1 . Januar 2019 . Ab
diesem Zeitpunkt gelten also bundesweit Mindestvor-
gaben für das Pflegepersonal in allen vorher definierten
Bereichen . Um sicherzugehen, dass dieser Zeitplan auch
eingehalten wird, werden die Verhandlungspartner bis
zum August dieses Jahres einen Zeitplan vorlegen und zu
Beginn 2018 einen Zwischenbericht vorlegen . Sollte die
Selbstverwaltung es nicht schaffen, sich bis 2019 auf die
Untergrenzen zu einigen, wird das Bundesgesundheits-
ministerium diese Vorgaben festlegen . Wir setzen hier
auch ein klares Signal an die Selbstverwaltung: Die In-
stitutionen haben die Möglichkeit und den Auftrag, sich
auf klare Vorgaben zu einigen . Aber da es in der Vergan-
genheit hier leider immer wieder Probleme mit Fristein-
haltungen gegeben hat, wird die Politik im Zweifel selbst
regeln . Klar ist: Die Untergrenzen kommen 2019, davon
dürfen wir nicht abweichen .
Wir haben uns in den Verhandlungen dafür eingesetzt,
die Definition von pflegesensitiven Bereichen nicht zu
restriktiv zu gestalten . Es müssen hier bei der Festlegung
der Untergrenzen der Nachtdienst und die dazugehörigen
Intensiveinheiten berücksichtigt werden . Wir haben er-
reicht, dass, wenn es notwendig ist, auch in anderen Be-
reichen für den Nachtdienst und die Intensivversorgung
diese Untergrenzen gelten .
Ein ganz wichtiger Punkt ist außerdem der Ausschluss
von Personalverlagerungen innerhalb des Krankenhau-
ses . Sinn der Untergrenzen ist ja, dass im Zweifel neues
Personal eingestellt werden muss, um die Betreuungs-
qualität zu garantieren und das Personal zu entlasten .
Das dürfen die Krankenhäuser nicht dadurch unterlau-
fen, dass sie Personal von einer Station abziehen und
in eine andere transferieren . Um das auszuschließen,
haben wir konkrete Nachweispflichten vereinbart. Die
Krankenhäuser müssen jährlich nachweisen, dass sie die
Personalmindeststandards einhalten und dass es nicht zu
Verlagerungseffekten kommt.
Selbstverständlich bleibt es nicht bei freundlichen
Appellen zur Einhaltung der Personalvorgaben . Diese
sind verbindlich für die Häuser . Wenn diese nicht einge-
halten werden, wird den Krankenhäusern die Vergütung
gekürzt. Ich hoffe, dass dies nicht nötig sein wird, aber es
ist richtig, hier auch Druck auf die Häuser auszuüben, um
die Personalsituation nachhaltig zu verbessern .
Zur Frage der Finanzierung von Pflegepersonal wer-
den wir die von mir eingangs erwähnten Mittel des
Pflegestellenförderprogramms dauerhaft in den Pfle-
gezuschlag überführen . Den Kliniken stehen also nun
jährlich bis zu 830 Millionen Euro für die Einstellung
und Bezahlung von Pflegepersonal zur Verfügung. Diese
Mittelvergabe durch den Bund verbinde ich mit einem
nochmaligen Appell an die Länder, das Ihrige zu tun, um
die Finanzmittel für die Krankenhäuser zu erhöhen, so
wie es gesetzlich ihre Aufgabe ist! Nur wenn die Kran-
kenhäuser auch ausreichend Gelder bekommen, können
sie Personal einstellen . Das ist die Grundvoraussetzung
für gute Pflege im Krankenhaus.
Schließlich haben wir vereinbart, dass das Bundesge-
sundheitsministerium bis 2022 dem Bundestag eine wis-
senschaftlich fundierte Evaluation zur Wirksamkeit der
Personaluntergrenzen vorlegen wird . Dies ist unbedingt
notwendig, um die Wirksamkeit des Instruments bewer-
ten und Verbesserungen vorzunehmen zu können .
Ich bin sehr froh, dass wir diesen wichtigen Einstieg
in ein Personalbemessungssystem in deutschen Kran-
kenhäusern mit diesem Gesetz geschafft haben. Es ist
ein wichtiger Einstieg, für den die SPD lange gekämpft
hat . Die Personaluntergrenzen sind ein ganz wichtiger
Schritt, um die Versorgungsqualität in deutschen Kran-
kenhäusern nachhaltig zu verbessern. Davon profitieren
alle Patientinnen und Patienten und natürlich auch die
Pflegekräfte, die dringend eine Entlastung bei ihrer Ar-
beit brauchen . Ich will abschließend aber auch deutlich
sagen, dass wir mit diesem Schritt nicht am Ende des
Weges sind . Die SPD will ein umfassendes Personalbe-
messungssystem für das gesamte Krankenhaus, nicht nur
in pflegesensitiven Bereichen. Dies war in dieser Wahl-
periode nicht mehr zu schaffen. Wir werden daran aber
festhalten und dies hoffentlich in der kommenden Wahl-
periode angehen .
Harald Weinberg (DIE LINKE): Ich blicke jetzt auf
immerhin zwei Wahlperioden zurück und damit auf einen
ebenso langen Versuch, Sie hier von der Notwendigkeit
einer Personalbemessung zur Beseitigung des Pflegenot-
stands in den Krankenhäusern zu überzeugen . Für dieses
Thema, das in diesem Omnibusgesetz enthalten ist, will
ich meine knappe Redezeit verwenden .
Unter den FDP-Gesundheitsministern Rösler und
Bahr gab es eher so etwas wie eine offensive Leugnung
des Pflegenotstands. Das sei allenfalls ein Management-
problem, und da dürfe man den Krankenhausmanagern
keineswegs in die Parade fahren . Dann aber, im Zuge des
aufkommenden Protestes der Pflegekräfte, entstand auch
in der Politik die Erkenntnis, dass da tatsächlich ein grö-
ßeres Problem in der Pflege existiert. Einige sogenannte
Hygieneskandale und Medienberichte unterstützten wohl
den Erkenntnisprozess .
Aber die Reaktionen unter der Großen Koalition wa-
ren eher Scheinlösungen: Der bislang gewährte „Versor-
gungszuschlag“ wurde in einen „Pflegezuschlag“ um-
benannt, wobei das den Krankenhäusern gewährte Geld
nicht zweckgebunden ist, also für anderes als Pflege aus-
gegeben werden kann. Ein „Pflegeförderprogramm“, das
zu gering dimensioniert und an Bedingungen geknüpft
ist, die kleine und mittlere Krankenhäuser nicht erfüllen
können oder wollen, wurde aufgelegt . Und jetzt, als Er-
gebnis der „Expertenkommission“, die von Herrn Gröhe
eingesetzt worden ist, gibt es die „Pflegeuntergrenzen“
für „pflegeintensive Bereiche“ – Ta-Ta!
Es ist schwer zu sagen, ob es sich dabei um einen Lö-
sungsansatz oder doch eher um eine Beruhigungspille
zum Bundestagswahlkampf handelt . Einerseits erken-
nen Sie endlich, dass der Personaleinsatz im Kranken-
haus nicht dem Markt bzw . dem Management überlassen
werden darf, sondern staatliche Vorgaben gemacht wer-
den müssen . Die konkrete Umsetzung könnte allerdings
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724254
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(B) (D)
kaum schlechter sein. Der Versuch, „pflegesensitive“
Bereiche auszumachen, ist pflegewissenschaftlich und
pflegepolitisch unterirdisch und wird in der Praxis zu
mannigfaltigen Problemen führen . Aber auf jeden Fall
ist die Tatsache, dass sich die Regierung hier bewegen
musste, ein toller Erfolg der Proteste, Aktionen und auch
der tariflichen Kämpfe der vergangenen Jahre. Hierzu
kann man den Aktiven nur gratulieren und sie ermuntern,
nicht nachzulassen .
Ansonsten gilt für die vorgesehenen Personalunter-
grenzen: zu spät, zu langsam, zu wenig! Es ist in etwa so,
als würde ein großes Haus lichterloh brennen . Aber statt
jetzt alles Verfügbare zu tun, werden nun der Verband
der Hausbesitzer und der Verband der Feuerversicherung
gebeten, in Verhandlungen eine Einigung darüber zu er-
zielen, wie viele Feuerwehrleute denn mindestens in den
besonders brandgefährdeten Bereichen eingesetzt wer-
den müssen . Eine absurde Vorstellung? Ja, das ist wahr!
Dann wird immer das Hohelied der Selbstverwaltung
angestimmt . Ja, auch wir stehen zur Selbstverwaltung .
Aber es gibt Situationen, da muss erst einmal gehandelt
werden . Man wird den Eindruck nicht los, als solle hier
ein Thema elegant verschoben werden – mithilfe der
Selbstverwaltung .
Hinzu kommt, dass mittels der „Expertise“ von Pro-
fessor Schreyögg „Leitplanken“ eingezogen wurden für
die Verhandlung zwischen der Deutschen Krankenhaus-
gesellschaft und dem Spitzenverband der gesetzlichen
Krankenversicherungen . Es wird zum Beispiel nicht nä-
her begründet, warum die Anhebung des untersten De-
zil oder Quartil auf das Niveau des nächsthöheren Dezil
oder Quartil der Maßstab sein soll . Aber es ist schon be-
merkenswert, dass Professor Schreyögg bei der Frage des
zusätzlichen Personalbedarfs in seiner besten Variante in
dem Rahmen bleibt, den die Regierung durch das Pfle-
geförderprogramm abgesteckt hat – nicht einmal 10 000
zusätzliche Stellen . Das erweckt eher den Eindruck ei-
nes bezahlten Gefälligkeitsgutachtens denn einer pro-
funden Bedarfsanalyse . Noch einmal: Wir gehen anhand
der Berechnungen von Professor Simon davon aus, dass
100 000 Pflegestellen in den Krankenhäusern fehlen. Es
muss dringend gehandelt, nicht verhandelt werden!
Was also tun? Hier bleiben wir bei unserer Linie: Es ist
anzuerkennen, dass Lösungen in der richtigen Richtung
gesucht werden . Die angewendeten Verfahren und die
Limitierungen halten wir für nicht zielführend . Und vor
allem ist der Umfang deutlich zu gering! Wir brauchen
eine angemessene Personalbemessung in allen Statio-
nen und Bereichen der Krankenhäuser, und zwar zügig;
denn es brennt! Wir hatten Sofortmaßnahmen in einem
Antrag vorgeschlagen, den Sie in der letzten Sitzungs-
woche sang- und klanglos abgelehnt haben . So schofel
gehen wir mit Ihrem Antrag nicht um . Wir werden uns
enthalten .
Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Als Änderungsantrag zu diesem Gesetz werden
die Personaluntergrenzen im Krankenhaus verabschie-
det . Nach vielen Jahren Personalabbau und zunehmen-
dem Personalmangel gibt es nun eine Minimallösung .
Untergrenzen, das bedeutet Mindestmaß, und dieses
Mindestmaß gilt auch nur für bestimmte Bereiche im
Krankenhaus, sogenannte pflegesensitive Bereiche. Das
sind Bereiche, in denen mehr Personal zu weniger un-
erwünschten Zwischenfällen bei den Patientinnen und
Patienten führt, wie zum Beispiel Infektionen .
Daran ist zweierlei bemerkenswert . Weniger uner-
wünschte Zwischenfälle sind ein erster Schritt . Doch zu
einer guten Pflege gehört noch viel mehr, zum Beispiel
Kommunikation und verständliche Information, oder an-
ders ausgedrückt: sich Zeit nehmen, zuhören, erklären,
bisweilen auch trösten. Pflegekräfte fehlen nicht nur in
pflegesensitiven Bereichen. Auf jeder Station verbessert
sich die Qualität in der Pflege, wenn es mehr Personal
gibt . Daran ist erkennbar, wie willkürlich hier Kriterien
aufgestellt werden .
Was wir eigentlich brauchen, ist ein wissenschaftlich
basiertes Personalbemessungsinstrument, mit dem die
notwendigen Fachkräfte für die jeweiligen Bereiche er-
mittelt werden können. Es muss flexibel genug sein, um
die organisatorischen und baulichen Gegebenheiten der
Krankenhäuser, das Qualifikationsprofil der entsprechen-
den Fachkräfte und natürlich den Gesundheitszustand der
Patientinnen und Patienten berücksichtigen zu können .
Was wir stattdessen haben, ist eine an sich schon
schwache Vorgabe, die noch nicht einmal verbindlich ist;
denn die Personaluntergrenzen werden am Ende nicht
wissenschaftlich ermittelt, sondern von den Kassen und
den Krankenhäusern festgelegt, also von denjenigen,
die handfeste finanzielle Interessen verfolgen und nicht
so ohne Weiteres geneigt sein dürften, mehr Geld für
Personal auszugeben . Es gibt auch nach wie vor keine
Regelung, die sicher dafür sorgt, dass das für Pflege vor-
gesehene Geld auch tatsächlich beim Pflegepersonal an-
kommt . Es herrscht wenig Transparenz über die Verwen-
dung der Mittel. Solange hier keine Klarheit geschaffen
wird, bleibt die Pflege das Element in der Krankenhaus-
finanzierung, an dem immer noch gespart werden kann.
Auch die Regelungen, die eigentlich dazu dienen
sollten, Personalverlagerungen zu vermeiden, sind nicht
eindeutig genug . Personalverlagerung bedeutet, dass Per-
sonal in einem Krankenhaus von einem Bereich in ei-
nen anderen versetzt wird, damit dort die vorgegebenen
Personaluntergrenzen eingehalten werden . Zwar müssen
die Krankenhäuser künftig die Einhaltung der Personal-
untergrenzen nachweisen und nach Personalgruppen
differenziert in den Qualitätsberichten darstellen, doch
es wird nicht definiert, ab wann von Personalverlage-
rung die Rede ist . Zudem sollen Übergangsregelungen
und Ausnahmetatbestände definiert werden, bei denen
die Untergrenzen nicht eingehalten werden müssen . Das
ist nachvollziehbar, soweit es so etwas wie Wetter- oder
Umweltkatastrophen oder Epidemien betrifft. Doch auch
der Fachkräftemangel wird als Grund für Übergangsre-
gelungen genannt .
All das hinterlässt einen bitteren Nachgeschmack . Die
Ergebnisse der Pflegekommission, die jetzt noch schnell
umgesetzt werden sollen, damit die Koalition sich mit
Ergebnissen schmücken kann, sind nur eine Pseudover-
besserung . Sie werden die Qualität der Versorgung nicht
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24255
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wesentlich verbessern und die Pflegekräfte im Kranken-
haus nicht entlasten .
Anlage 21
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Än-
derung des Energiesteuer- und des Stromsteuerge-
setzes (Tagesordnungspunkt 27)
Philipp Graf Lerchenfeld (CDU/CSU): Mit dem
Zweiten Gesetz zur Änderung des Energie- und des
Stromsteuergesetzes bringt der Bundestag heute einen
Gesetzentwurf mit einer langen Vorgeschichte zu einem
erfolgreichen Abschluss .
Nahezu ein Jahr dauerten die Beratungen innerhalb
der Bundesregierung, bis aus dem Referentenentwurf ein
vom Kabinett beschlossener Regierungsentwurf gewor-
den war . Wir im Bundestag haben diesen dann endlich
guten Entwurf in nur fünf Sitzungswochen noch weiter
verbessern können .
Die mit dem Gesetzentwurf vorgenommene Über-
arbeitung der energie- und stromsteuerrechtlichen Re-
gelungen ist nötig geworden, um die darin enthalte-
nen Begünstigungen dem im Jahr 2014 novellierten
EU-Beihilferecht und der EU-Energiesteuerrichtlinie
anzupassen . Außerdem müssen auch Entscheidungen
des Europäischen Gerichtshofs in die Regelungen des
Energiesteuer- und des Stromsteuergesetzes eingearbei-
tet werden .
Zu diesem Aspekt möchte ich gern einige grundsätzli-
che Überlegungen äußern: Ich finde es richtig und wich-
tig, die Steuergesetzgebung auch im Lichte des EU-Bei-
hilferechts zu betrachten, Anpassungsbedarf regelmäßig
zu prüfen und, falls notwendig, auch umzusetzen . Dies
dient insbesondere der Rechtssicherheit der Unterneh-
men, die von steuerlichen Vergünstigungen profitieren.
Allerdings habe ich den Eindruck, dass Deutschland
in vorauseilendem Gehorsam zuweilen übereifrig und
übervorsichtig agiert und es an Pragmatismus bei der
Bewertung der Beihilfekonformität von nationalen Re-
gelungen mangeln lässt . Zu beobachten war dies am ur-
sprünglich vorgelegten Referentenentwurf .
Dieser enthielt noch ein allgemeines Kumulierungs-
verbot von Steuerbegünstigungen mit anderen Beihilfen .
Zudem sollte die Steuerbefreiung für Strom aus erneuer-
baren Energieträgern und aus sogenannten Kleinanlagen
durch eine komplette Neufassung des § 9 StromStG ge-
strichen werden .
Von beiden Regelungen hatte die Bundesregierung
dann im Regierungsentwurf richtigerweise wieder Ab-
stand genommen . Statt einer Streichung in vorausei-
lendem Gehorsam wurde die Steuerbefreiung nach § 8
StromStG der Europäischen Kommission zur beihilfe-
rechtlichen Prüfung vorgelegt . Das Ergebnis bleibt ab-
zuwarten .
Neben den Anpassungen an das Beihilferecht wird mit
dem Gesetz ein Auftrag des Deutschen Bundestages aus
dem Sommer 2015 umgesetzt . Seinerzeit haben wir uns
dafür ausgesprochen, die Steuerbegünstigungen für gas-
förmige Kraftstoffe – Erdgas und Autogas –, die Ende
des Jahres 2018 auslaufen, zu überprüfen, mit dem Ziel,
diese zu verlängern .
Der Regierungsentwurf erfüllte nur einen Teil dieses
Auftrags, indem er lediglich eine Verlängerung der Steu-
erbegünstigung für als Kraftstoff verwendetes Erdgas bis
Ende 2026 – abschmelzend ab 2024 – vorsah . Dies war
vor allem aufgrund der Unterstützung von Bundesminis-
ter Dobrindt möglich, der mit seinem Ressort die hieraus
resultierenden Steuerausfälle übernimmt .
Die Erfüllung des zweiten Teils des Antrags, die Ver-
längerung der Steuerbegünstigung für Autogas (LPG),
haben die Koalitionsfraktionen selbst in die Hand neh-
men müssen und nun erfolgreich umgesetzt: Die Ener-
giesteuerermäßigung für Autogas (LPG) wird bis zum
31 . Dezember 2022 verlängert, sodass es im Sinne der
betroffenen 500 000 LPG-Autobesitzer sowie der Un-
ternehmen, wie Umrüstbetriebe und Tankstellenpächter,
keinen abrupten Ausstieg aus der Förderung gibt . Damit
erfüllen wir auch ein politisches Versprechen .
Die Verlängerung erfolgt in der Weise, dass die Ener-
giesteuerermäßigung pro Jahr um 20 Prozent abge-
schmolzen wird . Das schnellere Abschmelzen im Ver-
gleich zur Begünstigung für Erdgas ist angesichts der
bereits seit vielen Jahren bestehenden steuerlichen För-
derung und des daher schon gut ausgebauten Tankstel-
lennetzes gerechtfertigt . Zudem ist der Einsatz von Auto-
gas bereits bei dem schon jetzt im Gesetz vorgesehenen
Normalsteuersatz ohne Steuerermäßigung gegenüber an-
deren Energieträgern im Kraftfahrzeugbereich günstiger .
Eine weitere gute Nachricht aus den parlamentari-
schen Beratungen ist, dass wir die im Regierungsentwurf
vorgenommene Streichung des § 60 EnergStG wieder
zurückgenommen haben . Auch diese Streichung war aus
meiner Sicht einer übervorsichtigen Interpretation des
EU-Beihilferechts geschuldet . Die Regelung ermöglicht,
dass zum Beispiel Mineralöllieferanten bei Lieferungen
an Kunden, in der Regel mittelständische Tankstellen-
betreiber, bei eventuellen Zahlungsausfällen eine Steu-
erentlastung für die im Verkaufspreis enthaltene Energie-
steuer beantragen können .
Abschließend möchte ich als Landwirt noch meiner
Freude darüber Ausdruck verleihen, dass auch dank des
Einsatzes unseres Bundesministers Schmidt die Steu-
erermäßigung für Biodiesel zur Verwendung in der Land-
wirtschaft bestehen bleibt . Dies ist eine gute Nachricht
für die Landwirtschaft, da sowohl als Hersteller als auch
als Verbraucher davon profitiert.
Norbert Schindler (CDU/CSU): Heute halte ich
meine vermutlich letzte Rede hier im Hohen Haus der
deutschen Demokratie . Fast 23 Jahre lang durfte ich dem
Deutschen Bundestag angehören, als Abgeordneter der
Regierungsfraktion und als Oppositionspolitiker . Und ich
muss sagen: Es hat mir immer sehr viel Spaß gemacht!
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724256
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(B) (D)
Ob Sie an meinen Reden und deren Themen Spaß hatten,
vermag ich natürlich nicht zu beurteilen .
Ein Schwerpunktthema, das mich all die Jahre be-
schäftigt hat, ist die Energiebesteuerung und die Besteu-
erung der Biokraftstoffe. Auch heute nehme ich dieses
Thema mit der abschließenden Lesung des Entwurfs der
Bundesregierung eines Zweiten Gesetzes zur Änderung
des Energiesteuer- und des Stromsteuergesetzes wieder
auf . Wie in der Einbringung in den Bundestag schon an-
gedeutet, ist dieses Gesetz zwingend notwendig, um Vor-
gaben des Rechts der Europäischen Union in nationales
Recht umzusetzen .
Neben diesen notwendigen Anpassungen müssen mit
dem Gesetz auch Entscheidungen der EU-Kommission
und des EuGH in die Regelungen des Energiesteuer-
und Stromsteuergesetzes eingearbeitet werden, was dem
Bundesfinanzministerium mit entsprechendem Finger-
spitzengefühl hervorragend gelungen ist . Dafür und für
die immer gute Zusammenarbeit danke ich den Beamtin-
nen und Beamten auch im Namen des gesamten Finanz-
ausschusses!
Neben der jetzt geschaffenen generellen Rechts- und
Planungssicherheit im nationalen Energiesteuerrecht
konnten im Finanzausschuss weitere Anpassungen und
Glättungen vorgenommen werden, die in erster Linie
der erleichterten Anwendung und der Entbürokratisie-
rung dienen . Darüber hinaus werden technologische
Fortschritte in der Automobilindustrie und in der Spei-
chertechnologie nachvollzogen und die Grundlage für
eine elektronische Kommunikation zwischen den Wirt-
schaftsbeteiligten und der Verwaltung geschaffen.
Für uns – da spreche ich auch für den Koalitionspart-
ner – dient das Gesetz jedoch auch der Umsetzung des
Koalitionsvertrages, der vorgibt, die Steuerbegünstigun-
gen für gasförmige Kraftstoffe (Erdgas und Autogas), die
am 31 . Dezember 2018 enden sollen, zu verlängern . Das
sah der Gesetzentwurf für als Kraftstoff verwendetes Erd-
gas (CNG/LNG) schon bis Ende 2026 – abschmelzend ab
2024 – vor . Diese Regelung, deren Ziel es ist, die Dekar-
bonisierung des Verkehrssektors voranzubringen, wurde
mit den Stimmen aller Fraktionen im Finanzausschuss
bestätigt. Damit schaffen wir die Voraussetzungen, damit
Erdgas als Zukunftstechnologie in Verbrennungsmotoren
die notwendigen Impulse erhält, um sich dauerhaft und
mit großer Verbreitung am Markt durchsetzen zu können
Nach hartem Ringen konnte zudem noch eine ab-
schmelzende Verlängerung der Steuerbegünstigung für
Autogas (LPG) bis Ende 2022 aufgenommen werden,
sodass es im Sinne der Betroffenen und der Unternehmen
keinen harten Ausstieg aus der Förderung gibt . Bürge-
rinnen und Bürger erhalten damit Planungssicherheit bei
Ihren Investitionsentscheidungen .
Die Begünstigung für Flüssiggas, das als Kraftstoff
verwendet wird (LPG), wird über die Jahre 2019 bis
2022 um jeweils 20 Prozent reduziert und läuft somit
über weitere fünf Jahre aus . Auch diese Maßnahme, die
dem Fiskus erhebliche Steuerausfälle beschert, wird von
den Politikern der Koalitionsfraktionen und der Linken
getragen, um LPG-Autobesitzer, Umrüstbetriebe und
Tankstellenpächter in der Übergangszeit nicht zu über-
fordern. Nach 2022 wird es aber definitiv keine Steuer-
erleichterungen für Autogas mehr geben! Denn auch bei
dem dann geltenden Normalsteuersatz bleibt der Ein-
satz von Autogas gegenüber anderen Energieträgern im
Kraftfahrzeugbereich weiter vorteilhaft!
Im Bericht des Finanzausschusses wird zudem die
Bundesregierung aufgefordert, dass für Unternehmen in
Schwierigkeiten die nationalen Rechtsvorschriften mit
Augenmaß angewendet und Einschränkungen von Steu-
erbegünstigungen auf das erforderliche Maß begrenzt
werden . Der Befürchtung der Verbände, dass Anträge
auf Steuerbegünstigungen von Unternehmen in Schwie-
rigkeiten erst gar nicht zur Prüfung zugelassen werden
könnten, wird mit der Formulierung „Anträge auf Ge-
währung einer Steuerbegünstigung können nicht ver-
wehrt werden“ begegnet .
Nach Kritik an der geplanten Streichung des § 60
EnergieStG vonseiten der mittelständischen Wirtschaft
und des Bundesrates habe ich federführend für die CDU/
CSU-Fraktion dafür gekämpft, diese wieder rückgängig
zu machen . Auch hier hatte ich die volle Unterstützung
des gesamten Finanzausschusses . Damit bleibt es da-
bei, dass vor allem mittelständische Tankstellenpächter
bei Lieferung an Kunden, hinsichtlich des Energiesteu-
eranteils bei eventuellen Zahlungsausfällen dieser, von
der Haftung des Energiesteueranteils befreit sind . Somit
kann die Versicherungssumme für den Zahlungsausfall
auf den Warenwert (ohne Energiesteuer) begrenzt blei-
ben . Dies sichert gerade diesen Unternehmen in einem
sehr anspruchsvollen Marktumfeld die notwendige Li-
quidität, indem sie die Energiesteuer nicht zusätzlich ab-
sichern lassen müssen .
Leider ist es uns bei den Verhandlungen mit dem Bun-
desfinanzministerium nicht gelungen, weitere berechtig-
te Forderungen, wie die Gleichstellung der Industriega-
seproduktion mit anderem produzierenden Gewerbe, in
Gesetzesform zu gießen . Hier scheint die Bundesregie-
rung nicht bereit zu sein, sich auf sicherlich schwierige
und langwierige Verhandlungen mit der EU-Kommission
einzulassen .
Insgesamt ist dieser Gesetzentwurf, den wir hier ab-
schließend beraten, ein sehr guter, der hoffentlich für
ein paar Jahre Rechtssicherheit und Klarheit im Verwal-
tungshandeln garantieren wird . Mit den generellen Rege-
lungen in Abstimmung mit der EU-Kommission entfällt
eine Vielzahl von Einzelgenehmigungsanträgen in Brüs-
sel, auch wenn dadurch nicht mehr jeder Einzelfall bis
ins letzte Detail gerecht abgewickelt werden kann .
In diesem Zusammenhang danke ich der Bundesregie-
rung, dass sie zum Beispiel für Betriebe der Land- und
Forstwirtschaft die Praxis der teilweisen Steuererstattung
für „Agrardiesel“ und „Bioagrardiesel“ bis zum Auslau-
fen der Freistellungsanzeige bei der EU-Kommission auf
neuer nationaler Rechtsgrundlage weiterführt . Die bisher
dauernd notwendigen Notifizierungen bei der EU-Kom-
mission können somit entfallen .
Meine Mahnung aus der Rede zur ersten Lesung des
Gesetzentwurfs muss ich heute aus gegebenem Anlass
wiederholen: Bürokratieabbau im Verhältnis zur EU
darf aber nicht zu weiterem Bürokratieaufbau bei den
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24257
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Bürgern führen! Wenn im Vorgriff auf dieses Gesetz nun
für die Beantragung der Steuerrückerstattung für Agrar-
diesel zu den schon bestehenden und schwer zu verste-
henden Antragsformularen drei neue eingeführt werden,
so widerspricht dies dem Sinn des Gesetzes! Deshalb,
liebes BMF, liebe Generalzolldirektion: Geht in euch
und schafft auch im Verhältnis zu den Antragstellern den
schlanken Staat!
Zum Abschluss danke ich allen Beteiligten, in der
Spitze der Ministerien BM Schäuble, BM Dobrindt und
BM Schmidt, den Kolleginnen und Kollegen der AG Fi-
nanzen meiner Fraktion und deren Mitarbeitern, unserem
Koalitionspartner und nicht zuletzt den Mitarbeitern mei-
nes Büros für die gute und vertrauensvolle Zusammenar-
beit nicht nur bei diesem Gesetz .
Ich verabschiede mich aus dem Parlament und sage
vielen Dank und auf Wiedersehen an anderer Stelle!
Christian Petry (SPD): Heute beraten wir in zweiter
und dritter Lesung den Entwurf eines zweiten Gesetzes
zur Änderung des Energiesteuer- und des Stromsteuerge-
setzes . Ziel des vorliegenden Gesetzes war es, die Steu-
erermäßigung für Erdgas und Flüssiggas zu verlängern,
zwingende Vorgaben des Rechts der Europäischen Union
in nationales Recht umzusetzen sowie technologische
Fortschritte in der Automobilindustrie im Stromsteuerge-
setz angemessen abzubilden .
Dabei liegt ein Schwerpunkt des Gesetzes auf der
Umsetzung europarechtlicher Vorgaben . Im Kern geht es
dabei um die neugefasste Allgemeine Gruppenfreistel-
lungsverordnung (AGVO) . Aufgrund dieser Neufassung
regelte der Entwurf bereits die europarechtskonforme
Umsetzung des Herstellerprivilegs oder etwa die Steu-
erentlastung für Biokraftstoffe. Weiterhin gab es eine
Vielzahl von Urteilen des EuGH, die in nationales Recht
umgesetzt werden mussten . All dies war im Gesetzent-
wurf bereits enthalten . Wir haben aber auch zentrale Än-
derungen vorgenommen .
Lassen Sie mich an dieser Stelle auf die Steuerermäßi-
gung für Erdgas und Flüssiggas eingehen . Hier hatte die
Kabinettvorlage von Wolfgang Schäuble eine einseitige
Verlängerung der Steuerermäßigung für Erdgas vorgese-
hen . Ich bin dabei überzeugt, dass Erdgas ein wichtiger
alternativer Kraftstoff ist, der durch seine regernative
Komponente dringend weiter gefördert werden muss .
Allerdings haben SPD und CDU/CSU im Koalitionsver-
trag vereinbart, dass beide Kraftstoffe über 2018 hinaus
steuerlich begünstigt werden .
Der Entwurf von Wolfang Schäuble beinhaltete da-
mit einen klaren Bruch des Koalitionsvertrags . Lassen
Sie mich an dieser Stelle festhalten: Diesen Bruch hat
die SPD-Fraktion nicht mitgemacht! Ich habe mich daher
im parlamentarischen Verfahren gemeinsam mit meinem
CDU-Kollegen Norbert Schindler für eine Weiterführung
der Steuerbegünstigung starkgemacht . Es war ein harter
Kampf, an dessen Ende ein gutes Ergebnis steht . Wir
werden Flüssiggas bis 2022 weiterfördern, Erdgas bis
2016 . An dieser Stelle möchte ich Norbert Schindler für
die gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit ausdrück-
lich danken .
Neben der Steuerermäßigung für Flüssiggas haben
wir im parlamentarischen Verfahren noch weitere, we-
sentliche Änderungen am Gesetz vorgenommen . Exem-
plarisch möchte ich etwa die Beibehaltung der Ausnah-
metatbestände des § 60 Energiesteuergesetz nennen .
Hierbei handelt es sich um eine Sonderregelung im Ener-
giesteuerrecht, die Verkäufern von bestimmten Kraftstof-
fen bei Zahlungsunfähigkeit des Warenempfängers eine
Steuerentlastung für die im Verkaufspreis enthaltende
Energiesteuer ermöglicht . Diese Regelung sollte zu-
nächst abgeschafft werden. Die Sachverständigen in der
Anhörung des Finanzausschusses konnten uns fundiert
darlegen, dass die Beibehaltung von § 60 Energiesteu-
ergesetz für viele Tankstellenbetreiber essenziell ist . Wir
haben diese Bedenken ernst genommen und uns schluss-
endlich für eine Beibehaltung des Ausnahmetatbestands
entschieden .
Darüber hinaus haben wir uns im parlamentarischen
Verfahren mit einer Fülle weiterer energiesteuer- und
stromsteuerrechtlicher Themen beschäftigt . Ich denke da
beispielsweise an die Gewährung von Steuerentlastungen
beim Verheizen von Gasöl in Standheizungen von Fahr-
zeugen des ÖPNV. Hier haben wir das Bundesfinanz-
ministerium aufgefordert, von der im geltenden Gesetz
vorgesehenen Verordnungsermächtigung Gebrauch zu
machen und eine solche Steuerentlastung zu gewähren .
Weiterhin haben wir mit der Einführung von § 9c
Stromsteuergesetz die im ÖPNV vermehrt eingesetz-
ten Elektrobusse mit dem bereits steuerlich geförderten
Schienenverkehr gleichgestellt . Damit haben wir ent-
scheidend der technologischen Entwicklung im Ver-
kehrssektor Rechnung getragen und eine zusätzliche
Entlastung der Stromsteuer in das Gesetz aufgenommen .
Insgesamt liegt nun ein stimmiges Gesetz vor, das an
entscheidender Stelle vom Parlament nachgebessert wur-
de . Dabei möchte ich ausdrücklich die Zusammenarbeit
mit der Opposition loben . Wir haben aus Ihren Reihen
breite Unterstützung bei der Weiterförderung des Flüs-
siggases erhalten .
Andreas Rimkus (SPD): Zur Energiewende und
unseren Zielen sowie den Vorhaben, um diese Ziele zu
erreichen, habe ich im Plenum des Deutschen Bundesta-
ges schon viel gesagt . So stehen wir vor der Herausforde-
rung, ein Gesamtkonzept der Energiewende aufzubauen,
das unseren Ansprüchen an Nachhaltigkeit gerecht wird .
So sollte dieses Konzept uns helfen, unsere ökologischen
Ziele zu erreichen und den Wandel in der Arbeitswelt so-
zialverträglich zu gestalten, und jedem in dieser Gesell-
schaft die Chance geben, einen Beitrag zum Klimaschutz
zu leisten .
Lassen sie mich den letzten Punkt noch einmal deutli-
cher sagen . Es kann nicht sein, dass die Energiewende nur
eine Sache des dicken Geldbeutels ist! Die Energiewen-
de ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, und ich bin
froh, dass wir in Deutschland – auch im weltweiten Ver-
gleich – sehr weit damit sind, den Umbruch zu meistern,
und zwar so zu meistern, dass jeder seinen Beitrag leistet,
aber eben auch leisten kann, wie beispielsweise durch die
EEG-Umlage . Daher ist es auch weiterhin wichtig, den-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724258
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jenigen die Tür aufzuhalten, die sich aufgrund der hohen
Anschaffungskosten kein Elektro- oder Brennstoffzel-
lenfahrzeug oder eben auch Erdgasfahrzeug leisten kön-
nen . So war es für uns Sozialdemokraten ein besonderes
Anliegen, nicht nur die Steuerbegünstigung auf Erdgas,
sondern auch auf Autogas zu verlängern .
Wir können doch nicht hinnehmen, dass es keine be-
zahlbare Form der emissionsreduzierten Mobilität gibt .
Die Einwände zur Ökobilanz dieser Fahrzeuge mögen
stimmen, der Erdgasantrieb ist emissionsärmer und er-
möglicht die Integration erneuerbarer Energien, und si-
cherlich würde auch ich mir wünschen, dass schon alle
mit batterieelektrischen oder Brennstoffzellenfahrzeugen
auf unseren Straßen unterwegs wären . Doch die Kritiker
von Autogas mögen mir doch bitte erklären, ob es ihnen
dann lieber wäre – im Lichte unserer Erkenntnisse – lie-
ber auf Diesel umzusteigen als auf Propangas .
Aus diesem Grund haben wir die Verlängerung der
Steuerbegünstigung von Flüssiggas auch bereits im Koa-
litionsvertrag verankert . Darüber hinaus haben wir einen
Koalitionsantrag aus dem Parlament heraus verabschie-
det, der dieses Ziel noch einmal bekräftigt . Umso er-
staunter war ich, zu sehen, wie Finanzminister Schäuble
diese klare Positionierung ignorierte und in seinem Ent-
wurf eine Verlängerung für Erdgas vorsah, jedoch einer
Verlängerung für Autogas eine Absage erteilte . Ich muss
gestehen: Unter einer zuverlässigen Vertragspartner-
schaft verstehe ich etwas anderes! Dies war ein Bruch
mit dem Koalitionsvertrag und irreführend für die, die
sich auf unser Versprechen verlassen haben . Erst hinhal-
ten und dann Versprechen brechen, das ist keine zuver-
lässige Kooperation und ziemlich schlechter Stil, Herr
Schäuble .
Deshalb haben wir als Sozialdemokraten, wie ich auch
in meiner letzten Rede bereits deutlich gemacht habe, uns
von Anfang an klar positioniert und sind dafür eingestan-
den, dass die Steuerbegünstigung auch für Autogas ver-
längert wird . So steht am Ende eine Verlängerung, die,
wie es auch sachgerecht ist, kürzer und geringer ausfällt,
nämlich bis 2022 läuft und ab 2019 jedes Jahr um 20 Pro-
zentpunkte mehr abschmilzt . So haben wir im Zuge des
parlamentarischen Verfahrens eine ökologisch vernünfti-
ge, sozial verträgliche und politisch verlässliche Lösung
gefunden .
Herbert Behrens (DIE LINKE): Der vorliegende
Gesetzentwurf hat gezeigt, dass aus einer krummen Re-
gierungsvorlage, der meine Fraktion nicht hätte zustim-
men können, noch etwas Gerades werden kann . Diese Er-
fahrung habe ich als Verkehrspolitiker leider noch nicht
machen können – man denke nur an die Pkw-Maut, die
blinde Einführung automatisierten Fahrens und vor allem
die heute Morgen von SPD und Unionsfraktion beschlos-
sene Privatisierung der Autobahnen, die trotz erbittertem
Widerstand der Opposition ohne Rücksicht auf Verluste
durchgedrückt wurde .
Von daher bin ich sehr froh, dass ich nach acht Jahren
im Bundestag im federführenden Finanzausschuss Zeuge
werden konnte, dass es auch anders geht . Nach einer sehr
aufschlussreichen öffentlichen Anhörung und intensiven
Gesprächen mit Mitgliedern aller Fraktionen liegt jetzt
eine Beschlussempfehlung vor, die den Entwurf der Bun-
desregierung in für mich zentralen Punkten ändert und
der ich ohne Weiteres zustimmen kann .
Wie ich bereits in der ersten Lesung betont habe, ist
mit der Linksfraktion die im Gesetzentwurf der Bundes-
regierung verankerte abrupte Beendigung der Steuerbe-
günstigung von Autogas nicht zu machen . Zum einen
würde dadurch der Vertrauensschutz von mehreren Hun-
derttausend Fahrzeughalterinnen und Fahrzeughaltern
verletzt, die sich in den letzten Jahren ein Autogasfahr-
zeug angeschafft oder ihr Auto auf LPG umgestellt ha-
ben . Diesen Menschen zu sagen, dass die vor Jahren in
Aussicht gestellte Verlängerung der steuerlichen Förde-
rung ihres umweltfreundlichen Fahrzeuges lediglich ein
Aprilscherz ist, war völlig inakzeptabel .
Zum anderen – das sage ich jetzt als Vorsitzender des
Untersuchungsausschusses zum Abgasskandal – hat sich
das von der Bundesregierung als Begründung herange-
zogene ifeu-Gutachten längst überholt . Ich teile durch-
aus die Einschätzung der Gutachter, dass Erdgas einen
größeren Klimanutzen entfalten kann als Autogas . Aber
wenn die Bundesregierung eine Studie aus 2013 als Be-
gründung für die Beendigung der LPG-Förderung an-
führt, blendet sie schlicht und ergreifend aus, dass der
Automobilindustrie inzwischen massenhafter Betrug bei
den Stickstoffdioxidemissionen nachgewiesen wurde.
Diese vom Autoverkehr verursachten Schadstoffbelas-
tungen sind dafür verantwortlich, dass sich die Menschen
in diesem Land massiven gesundheitlichen Gefährdun-
gen ausgesetzt sehen, und dieser Zustand ist untragbar .
Die Bundesregierung hat in ihrem Entwurf den Beitrag
völlig verkannt, den mit Autogas betriebene Fahrzeuge
für die Reduktion von Luftschadstoffen vor allem in in-
nerstädtischen Bereichen leisten können . Im Vergleich zu
dem immer noch hochsubventionierten Dieselkraftstoff
fallen bei der Verbrennung von Autogas nämlich kaum
Rußpartikel und Stickoxide an, die zur Vermeidung von
Fahrverboten am besten heute noch drastisch reduziert
werden müssen .
Deshalb hat die Linksfraktion einen Änderungsan-
trag in die öffentliche Anhörung eingebracht, in wel-
chem die Verlängerung der Steuerbegünstigung für LPG
festgeschrieben und wie folgt begründet wird: „Um die
notwendige Reduktion der (Auto)Verkehrsemissionen
zu befördern, sollte die steuerliche Begünstigung von
LPG befristet verlängert werden, um den finanziellen
Anreiz für die Anschaffung von mit Flüssiggas betrie-
bener Fahrzeuge bzw . eine Umrüstung konventioneller
Verbrennungsmotoren auf Flüssiggas zu erhalten . Dies
gilt vor allem in Hinblick auf den Öffentlichen Personen-
nahverkehr (Busse, Taxis), in dem auf Grund der hohen
Verkehrsleistung der dort eingesetzten Fahrzeuge großes
Potenzial für Emissionsreduktionen besteht .“
Diese Einschätzung und auch unsere Forderungen ha-
ben sich die Koalitionsfraktionen zu eigen gemacht und
in einen eigenen Änderungsantrag gegossen, dem wir
uns uneingeschränkt anschließen. Da Links offensicht-
lich gewirkt hat und wir sowohl der Koalition als auch
dem Gesetz ein Stück weit ökologische Vernunft einimp-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24259
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fen konnten, ziehen wir gerne unseren eigenen Antrag
zurück und stimmen dem geänderten Gesetzentwurf zu .
Dr. Julia Verlinden (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Die Energiebesteuerung berücksichtigt kaum, welchen
Schaden die einzelnen Energieträger verursachen . Ein
paar Beispiele: Diesel wird mit Milliarden subventio-
niert, obwohl Dieselabgase die Luft in unseren Städten
verdrecken . Auf Erdgas zum Heizen fallen umgerech-
net pro Tonne CO2 mehr Steuern an als auf das klima-
schädlichere Heizöl . Auf sauberen Ökostrom muss ich
als Verbraucherin genauso viel Steuern bezahlen wie auf
schmutzigen Kohlestrom .
Der Bundesrat weist zu Recht daraufhin, dass es so
nicht weitergehen kann . Er hat Sie aufgefordert, einen
Vorschlag vorzulegen, wie zukünftig die Energiebe-
steuerung zu einem wirksamen Klimaschutzinstrument
weiterentwickelt werden kann, und zwar indem verursa-
chungsgerecht alle Energieträger mit einem einheitlichen
CO2-Preis belegt werden . Nun frage ich Sie, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen von Union und SPD: Wann kommt
endlich Ihr Vorschlag? Es ist ja nun wirklich nicht das
erste Mal, dass wir über ökologisch faire Preise sprechen .
Die Experten, die Sie von der Bundesregierung mit
dem Monitoring der Energiewende beauftragt haben,
haben Ihnen genau das bereits letztes Jahr in Ihren Be-
richt geschrieben: Ein angemessener Preis auf CO2 ist
notwendig, damit die Klimaschutzziele überhaupt noch
erreichbar sind .
Im April hat sich die Initiative für eine nachhaltige
Finanzreform gegründet. Der ehemalige Bundesfinanz-
minister Hans Eichel wirbt dafür . Erst vor drei Tagen
hat eine hochrangige Gruppe von Wissenschaftlern um
Nicholas Stern und Joseph Stiglitz die G 20 aufgefordert,
CO2 einen Preis zu geben. Auch die OECD empfiehlt
Deutschland, Steuervergünstigungen für umweltschädli-
che Aktivitäten abzuschaffen und Mehreinnahmen durch
wirkungsvollere Umweltsteuern zu erzielen . Das zeigt
doch ganz deutlich: Die Zeit ist mehr als reif, dass wir
hier in Deutschland die Energiebesteuerung endlich kon-
sequent am Klimaschutz ausrichten!
Was wir brauchen, ist also mehr als nur Kleinklein .
Doch Sie von der Bundesregierung doktern nur an ein-
zelnen Regelungen des Energie- und Stromsteuerge-
setzes herum . Dabei schielen Sie anscheinend eher auf
die schwarze Null als auf die ökologischen Folgen Ihrer
Entscheidungen . Man muss schon froh sein, dass Sie die
unsinnige Idee, den Eigenverbrauch von erneuerbarem
Strom zusätzlich zur EEG-Umlage nun auch noch mit
der Stromsteuer zu belasten, wieder begraben haben .
Der Eiertanz, den Sie bei der Verlängerung der Steu-
erbefreiung für Flüssiggas aufgeführt haben, spricht für
sich. Ich finde Ihre Plan- und Ambitionslosigkeit mehr
als bedauerlich . Sie verpassen hier nicht nur zum wie-
derholten Male eine Chance für mehr Klimaschutz . Sie
versäumen auch die Gelegenheit, den unübersichtlichen
Förderdschungel wenigstens ein bisschen zu lichten;
denn das haben wir in der Anhörung auch bestätigt be-
kommen: Wenn wir die Energiebesteuerung an CO2 aus-
richten, brauchen wir ganz viele Ausnahmeregelungen
gar nicht mehr .
Wir brauchen keine weitere Subventionierung von
Verzögerungstechnologien, sondern einen Aufbruch für
ambitionierten Klimaschutz, der Investitionen in Ener-
giesparen, Energieeffizienz und Erneuerbare Energien
belohnt . Nur, Ihnen fehlen der Mut, der Wille und die
Ideen für einen großen Wurf . Darum können wir dem,
was Sie hier heute zur Abstimmung stellen, nicht zustim-
men .
Anlage 22
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Nadine Schön (St. Wendel)
(CDU/CSU) zu der Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CDU und SPD eingebrachten
Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung von Kin-
derehen (Tagesordnungspunkt 28)
Mit der großen Zahl von Menschen, die aus anderen
Kulturen zu uns nach Deutschland geflüchtet sind, le-
ben bei uns zunehmend mehr Ehepaare, bei denen die
Ehefrau noch Kind bzw . minderjährig ist . Dieses Phäno-
men stellt sowohl unsere Gesellschaft, aber auch unsere
Rechtsordnung vor große Herausforderungen .
Kinderehen verletzen Grundrechte der Kinder und
Jugendlichen, vor allem das Recht auf freie Entfaltung
der Persönlichkeit, auf sexuelle Selbstbestimmung und
auf Bildung . Sie sind mit unserem Verständnis von Ehe,
die auf einer freien Willensentscheidung und gleichbe-
rechtigten Partnerschaft von Mann und Frau beruht, nicht
zu vereinbaren . Auch der zur Rechtfertigung von Kin-
derehen angeführte Schutz der Mädchen auf ihrer Flucht
darf nicht den Blick dafür verstellen, dass diese Ehen aus
purer Not, aber nicht aus freiem Willen eingegangen wer-
den .
Wir haben eine Verantwortung für alle in Deutschland
lebenden Mädchen und Frauen . Daher brauchen wir ein
Verbot von Kinderehen .
Aus diesem Grund stimme ich dem Gesetzentwurf zu,
weil er Ehen Minderjähriger verbietet und den minder-
jährigen Ehepartnern einen verbesserten Schutz ermög-
licht .
Allerdings halte ich die Regelung, dass Ehen gene-
rell nichtig sind, bei denen einer der Ehegatten bei der
Eheschließung jünger als 16 Jahre alt ist, für bedenklich .
Auch diese Ehen sollten – wie die Ehen von Jugendli-
chen zwischen 16 und 18 Jahren – durch einen richterli-
chen Hoheitsakt aufgehoben werden müssen . Bei einem
individuellen Aufhebungsverfahren können alle flan-
kierenden Rechtsfragen geklärt werden, wie Unterhalts-
und Erbrechtsfragen sowie Sorgerechtsregelungen für
gemeinsame Kinder . Anders als die Nichtigkeitslösung
bietet das Aufhebungsverfahren Rechtssicherheit und
Rechtsklarheit für die Betroffenen.
Ich hätte mir die Aufhebungsregelung für alle Ehen
mit Minderjährigen gewünscht . Dem Gesetz stimme ich
deshalb zu, weil es die derzeitige Rechtslage verbessert .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724260
(A) (C)
(B) (D)
Der weit überwiegende Teil der Ehen wird von der Auf-
hebungslösung erfasst sein . Für eine Änderung der Re-
gelung für die unter 16-Jährigen werde ich mich weiter
einsetzen .
Anlage 23
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– des von der Bundesregierung eingebrach-
ten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform der
Straftaten gegen ausländische Staaten
– des von den Abgeordneten Harald Petzold
(Havelland), Frank Tempel, Dr. André Hahn,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE
LINKE eingebrachten Entwurfs eines ... Ge-
setzes zur Änderung des Strafgesetzbuches –
Neuordnung der Beleidigungsdelikte
– des von den Abgeordneten Hans-Christian
Ströbele, Renate Künast, Dr. Konstantin von
Notz, weiteren Abgeordneten und der Frakti-
on BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrach-
ten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung
des Strafgesetzbuches zur Streichung des Ma-
jestätsbeleidigungsparagrafen (§ 103 StGB)
– des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhe-
bung des § 103 des Strafgesetzbuches
– Beleidigung von Organen und Vertretern
ausländischer Staaten –
(Tagesordnungspunkt 29)
Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): Angefangen hat
bekanntermaßen alles am 31 . März 2016 mit der Aus-
strahlung eines als „Schmähkritik“ bezeichneten Ge-
dichts des Unterhaltungskünstlers Jan Böhmermann über
den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan .
Daran schloss sich eine nationale und internationale Kon-
troverse an, die im Wesentlichen zwei Schwerpunkte hat:
zum einen die strafrechtliche Frage, ob Böhmermanns
Schmähgedicht im Kontext seiner Sendung als Beleidi-
gung des türkischen Staatspräsidenten zu bewerten sei,
und zum anderen die politische Frage, ob ein ausländi-
scher Politiker mit Ermächtigung der Bundesregierung
die Strafverfolgung wegen Beleidigung bewirken kön-
nen soll .
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung soll der hierfür relevante § 103 StGB aufgehoben
werden, da es für diese strafrechtliche Sondernorm kein
Bedürfnis mehr gibt . Zunächst ist es wichtig, über den
Sinn der Strafvorschrift nachzudenken, vor allem über
den mit ihr verfolgten Regelungszweck und die Eigenart
der von ihr erfassten Fälle, bevor man darüber urteilt, ob
eine Strafvorschrift richtig oder falsch ist und ob sie ste-
hen bleiben oder gestrichen werden soll . Nicht nur in der
Strafrechtswissenschaft gilt als wesentlicher Prüfstein
für die Legitimität des Strafrechts das Rechtsgut . Auch
die Kriminalpolitik beruft sich auf die Erforderlichkeit
der Abwehr von Angriffen auf ein Rechtsgut, wenn be-
stehende Straftatbestände erweitert, Strafdrohungen ver-
schärft oder neue Strafvorschriften eingeführt werden
sollen .
Für § 103 StGB kommen zwei Rechtsgüter in Be-
tracht: § 103 StGB schafft zunächst einen besonderen
Ehrenschutz für Repräsentanten ausländischer Staaten,
und zwar für ausländische Staatsoberhäupter, auslän-
dische Regierungsmitglieder sowie beglaubigte Leiter
einer ausländischen diplomatischen Vertretung . Dies ist
jedoch nicht der einzige Schutzzweck der Vorschrift,
sondern ein weiterer Schutzzweck „Störungsfreie Aus-
landsbeziehungen der Bundesrepublik“ tritt hinzu . Man
spricht insoweit von einer kumulativen Rechtsgutver-
doppelung .
Der Schwerpunkt der Regelung findet sich jedoch
in § 104a StGB . Denn § 103 StGB ist anders als die
§§ 185 ff. StGB kein Antrags- und auch kein Privatklage-
delikt . Es müssen vielmehr zwei objektive Bedingungen
der Strafbarkeit erfüllt sein: Zum einen muss die Bun-
desrepublik Deutschland zu dem anderen Staat, dessen
Organ oder Vertreter beleidigt wurde, diplomatische
Beziehungen unterhalten, und die Gegenseitigkeit muss
verbürgt sein sowie zur Zeit der Tat verbürgt gewesen
sein . Das heißt, dass die Bundesrepublik Deutschland in
dem betreffenden Auslandsstaat einen entsprechenden
Rechtsschutz genossen hat oder noch genießen muss . Zu-
dem müssen zwei Prozessvoraussetzungen erfüllt sein:
Es muss ein Strafverlangen der ausländischen Regierung
vorliegen, und die Bundesregierung muss die Ermächti-
gung zur Strafverfolgung erteilt haben .
Der Sinn der Vorschrift ist demnach folgender: Die
mitunter hochpolitische Entscheidung über das „Ob“ ei-
ner Strafverfolgung soll nicht ohne den Filter der Prüfung
durch die Bundesregierung getroffen werden. Eine rein
materiell-rechtliche Prüfung anhand der „Tatumstände“
könnte sonst dazu führen, dass Strafverfahren stattfinden,
die den auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik
Deutschland mehr schaden als nützen, gerade wenn es in
einem öffentlichen Verfahren darum geht, für Tatsachen-
behauptungen den Wahrheitsbeweis zu erbringen .
Weder die völkervertraglichen Übereinkommen,
Diplomatenschutzkonvention und das Wiener Über-
einkommen über diplomatische Beziehungen noch das
Völkergewohnheitsrecht verpflichten die Staaten, sepa-
rate Tatbestände zur Sanktionierung von Angriffen auf
Repräsentanten eines ausländischen Staates zu schaffen.
Die generellen Tatbestände bezüglich der Strafbarkeit
von Beleidigungen reichen aus .
Ein besonderer Ehrenschutz für ausländische Reprä-
sentanten ist völkerrechtlich nicht erforderlich . Völker-
rechtlich soll zwar jeder Staat die auf seinem Gebiet
begangenen Angriffe von Privatpersonen auf bestimmte
Repräsentanten eines ausländischen Staates bestrafen
oder den Täter ausliefern . Diese völkergewohnheits-
rechtliche Strafpflicht ist völkervertraglich im Überein-
kommen über die Verhütung, Verfolgung und Bestrafung
von Straftaten gegen völkerrechtlich geschützte Personen
einschließlich Diplomaten verankert . Danach gehören zu
den völkerrechtlich geschützten Personen neben Diplo-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24261
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maten auch Staatsoberhäupter, Regierungschefs und Au-
ßenminister, wenn sie sich in einem fremden Staat auf-
halten . Für Beleidigungen ausländischer Repräsentanten
schreibt die Diplomatenschutzkonvention jedoch keine
besondere Strafpflicht vor.
Die völkervertraglichen Regelungen zum Schutz von
Repräsentanten auswärtiger Staaten knüpften regelmä-
ßig an deren Tätigkeit im Inland an . Gemäß Artikel 29
des Wiener Übereinkommens über diplomatische Be-
ziehungen behandelt der Empfangsstaat den Diploma-
ten mit gebührender Achtung und trifft alle geeigneten
Maßnahmen, um jeden Angriff auf seine Person, seine
Freiheit oder seine Würde zu verhindern . Zwar wird man
Artikel 29 der Wiener Diplomatenkonvention über den
Wortlaut hinaus auch auf das Amt eines Staatsoberhaupts
anwenden können, doch dient die Norm in erster Linie
dem Schutz der Arbeitsfähigkeit eines akkreditierten Di-
plomaten im Gastland und bezieht sich nicht auf Beein-
trächtigungen von Repräsentanten fremder Staaten, die
sich in ihrem Heimatland aufhalten .
Der deutsche Gesetzgeber hat sich dennoch zur Auf-
nahme solcher Tatbestände in den §§ 102 ff. StGB ent-
schlossen. Von der Abschaffung der Tatbestände § 102
StGB „Angriff gegen Organe und Vertreter ausländischer
Staaten“ und § 104 StGB „Verletzung von Flaggen und
Hoheitszeichen ausländischer Staaten“ ist im Entwurf
keine Rede. Das bedeutet, dass Angriffe auf ausländische
Staatsoberhäupter auch nach einer Streichung des § 103
StGB weiterhin in eigenen Tatbeständen unter Strafe ste-
hen . § 102 StGB wurde als sogenanntes unechtes Unter-
nehmensdelikt ausgestaltet, das heißt der Angriff auf Re-
präsentanten eines ausländischen Staates muss lediglich
auf dessen Verletzung abzielen, die Verletzung braucht
aber nicht tatsächlich einzutreten . Durch den besonderen
Tatbestand steht allein der Versuch, den Repräsentanten
eines ausländischen Staates leicht zu verletzen, unter
Strafe .
Mit anderen Worten: Für den Schutz von Ehrverlet-
zungen des Repräsentanten gelten die gleichen Vorschrif-
ten wie diejenigen für deutsche Bürger . Für eine Sonder-
regelung des § 103 StGB besteht in heutiger Zeit keine
Notwendigkeit mehr . Wichtig ist aber, dass die §§ 102
StGB, 104 StGB und 104a StGB erhalten bleiben . Sie
sind für den Schutz der internationalen Beziehungen
essenziell . Darüber hinaus wird die Beleidigung in Hin-
blick auf die §§ 185 ff. StGB auch weiterhin verfolgt –
auch wenn sie sich gegen einen ausländischen Politiker
richtet, egal welche Funktion dieser hat . In der Praxis
haben wir gesehen, dass die Justiz hier hinreichend tätig
wird und ihre Ermittlungen auch sorgsam durchführt .
Der Gesetzentwurf entscheidet sich, nach einer diffe-
renzierten Abwägung, zu Recht für die zeitgemäße Ab-
schaffung des § 103 StGB. Sicherlich lassen sich auch
andere Meinungen gut vertreten, was die Diskussion in
der Wissenschaft gezeigt hat . Einen weitreichenden An-
wendungsbereich gibt es aber für § 103 StGB ohnehin
nicht, sodass ich hoffe, dass dieser Gesetzentwurf auch
die Zustimmung vieler Kollegen in diesem Haus finden
wird .
Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Am heutigen Tag
werden wir das Gesetzgebungsverfahren zur Abschaf-
fung von § 103 StGB abschließen . Die Strafvorschrift
stellt bislang die Beleidigung von Organen und Vertre-
tern ausländischer Staaten unter Strafe .
Entgegen der Ansicht der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen handelt es sich bei § 103 StGB nicht um den
„Majestätsbeleidigungsparagrafen“ . Die Strafvorschrift
schützt ausländische Staaten mit ihren Organen und Ein-
richtungen vor Beeinträchtigungen . Auf die Staatsform
kommt es aber nicht an, sodass demokratisch gewählte
Regierungsvertreter gleichermaßen geschützt werden .
Die Grünen haben sich zu sehr vom konkreten Einzelfall
mit dem Staatspräsidenten Erdogan leiten lassen .
Es war deshalb richtig, dass die Union besonnen re-
agiert hat . Die Gesetzentwürfe der Fraktionen Bünd-
nis 90/Die Grünen und Die Linke wollten eine schnellst-
mögliche Abschaffung erreichen. Dies sollte das leicht
erkennbare Ziel verfolgen, den auf einer Welle der Sym-
pathie reitenden Jan Böhmermann vor Strafverfolgung
zu schützen . Ein Strafverfahren wäre mangels Rechts-
grundlage sofort einzustellen gewesen .
Durch die Weigerung der Union konnte die Staatsan-
waltschaft Mainz den Fall in Ruhe prüfen und kam letzt-
endlich zu einer Verfahrenseinstellung, da kein strafbares
Verhalten vorliege . Ich habe bereits in der ersten Lesung
am 12 . Mai 2016 gemahnt, dass wir kein Einzelfallgesetz
„Böhmermann“ beschließen sollten . Der Respekt vor ei-
ner unabhängigen Justiz verbietet es uns als Gesetzgeber,
in laufende Verfahren einzugreifen . Die Gewaltenteilung
ist für uns ein hohes Gut, weshalb wir uns mit den rich-
tigen Gründen einem kurzfristigen und unbesonnenen
Handeln versperrt haben .
Mit dieser Debatte möchten wir als Union auch noch-
mals klarstellen, dass die funktionierenden außenpoli-
tischen Beziehungen zu anderen Staaten mit der heuti-
gen Abschaffung von § 103 StGB nicht beeinträchtigt
werden . Für uns ist der Schutz der diplomatischen Be-
ziehungen ein hohes Gut . Das Miteinander mit anderen
Staaten hängt jedoch nicht vom Bestehen strafrechtlicher
Schutzvorschriften ab . Die Bundesrepublik Deutschland
hat sich in der Europäischen Union und in anderen Län-
dern der Welt großes Vertrauen erarbeitet . Deutschland
wird auch in der Zukunft ein verlässlicher Partner sein .
Die Abschaffung von § 103 StGB wird daran nichts än-
dern und soll auch nicht als ein solches Signal verstanden
werden .
Es ist richtig, dass es keine völkerrechtliche Verpflich-
tung gibt, die Strafvorschrift beizubehalten . Eine völ-
kerrechtliche Verbotsnorm besteht jedoch auch nicht . Es
liegt deshalb im weiten Ermessensspielraum des Gesetz-
gebers, über die Erhaltung oder Abschaffung der Straf-
vorschrift zu entscheiden . Der Schutz der persönlichen
Ehre ist ein hohes Gut und hat auch Niederschlag in den
Strafvorschriften zu finden. Trotz Wegfall von § 103
StGB wird weiterhin die Beleidigung von ausländischen
Staatsoberhäuptern und Regierungsmitgliedern unter
Strafe stehen . Der Beleidigungstatbestand in § 185 Straf-
gesetzbuch schützt die Ehre eines jeden Menschen ohne
Bezug zu einer Funktion . Auch die Strafverfolgungser-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724262
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mächtigungen ähneln sich . Korrespondierend zum Straf-
verlangen bei § 103 StGB ist bei der Beleidigung ein
Strafantrag notwendig .
In Anbetracht der Tatsache, dass ein Schutzniveau für
die persönliche Ehre erhalten bleibt, werde ich dem Ge-
setzentwurf der Bundesregierung zustimmen können .
Dr. Matthias Bartke (SPD): Die Legislatur neigt sich
dem Ende zu, und die Nummern der aktuellen Druck-
sachen verraten uns, mit wie vielen Anträgen und Ge-
setzentwürfen wir uns in den vergangenen vier Jahren
beschäftigt haben . Nach dieser großen Anzahl von par-
lamentarischen Beratungen fällt beim Gesetzentwurf zur
Reform der Straftaten gegen ausländische Staaten eine
Sache in jedem Fall ganz besonders auf: die Kürze .
Der Gesetzentwurf regelt, dass der § 103 StGB er-
satzlos aufgehoben wird . Das ist schon alles . Doch auch
wenn diese Regelung besonders kurz ist, so fehlt es ihr
nicht an Bedeutung . Es ist allerhöchste Zeit, dass die
Beleidigung von Organen und Vertretern ausländischer
Staaten nicht mehr unter besonderer Strafe steht . Ich
hatte bereits bei der ersten Lesung des Gesetzentwurfs
deutlich gemacht, dass die Vorschrift ursprünglich die di-
plomatischen Beziehungen Deutschlands zu auswärtigen
Staaten besonders schützen sollte . Der Fall Böhmermann
hat uns deutlich gezeigt, dass § 103 StGB dafür in keiner
Weise geeignet ist . Im Gegenteil: Die Bundesregierung
musste zur Strafverfolgung ermächtigen . Damit hat sie
sich dem Vorwurf ausgesetzt, Erdogans willfähriger Voll-
strecker zu sein . Hätte sie sich aber gegen eine Ermäch-
tigung entschieden, so hätte die Türkei sich beklagt, dass
die Bundesregierung das türkische Staatsoberhaupt nicht
vor Verunglimpfungen schützen würde .
Bei der jetzigen Rechtslage gilt also: Wenn die Bun-
desregierung nicht ermächtigt, so droht außenpolitischer
Schaden in den Beziehungen zum betroffenen Land.
Wenn sie aber ermächtigt, so droht innenpolitscher Scha-
den, weil sie als Büttel des jeweiligen Staatschefs angese-
hen wird . Also: Wie sie es macht, macht sie es falsch . Es
soll daher allein Aufgabe der Strafverfolgungsbehörden
und Gerichte in Deutschland sein, über die Strafwürdig-
keit des Verhaltens zu urteilen . § 103 StGB war in weiten
Teilen seiner Existenz geradezu bedeutungslos . Wenn er
dann aber, wie im letzten Jahr, doch einmal einschlägig
ist, dann überhöht er die Äußerung einer Privatperson
geradezu unmäßig . Die Streichung des § 103 StGB ist
deswegen nur konsequent .
Meine Kolleginnen und Kollegen von der Union ha-
ben bei der Einbringung des Gesetzes, aber auch bei der
Anhörung der Sachverständigen Bedenken geäußert . Sie
stellen in Frage, ob die Konsequenz eine andere gewe-
sen wäre, hätte ein Unsympath ein Staatsoberhaupt mit
hohem internationalem Ansehen beleidigt . Ich sage: Das
spielt keine Rolle . Vielleicht hätte uns diese Situation
nicht so deutlich vor Augen geführt, dass der § 103 StGB
keine Daseinsberechtigung mehr hat, so wie er uns in all
den Jahren davor eben auch nicht aufgefallen ist . Das
allein ist aber noch keine Begründung für die Beibehal-
tung .
Wegen der Streichung des § 103 StGB müssen wir
uns im Übrigen auch sonst keine Sorgen machen; denn
es entsteht keine Strafbarkeitslücke . Die Beleidigung von
ausländischen Staatsoberhäuptern ist und bleibt strafbar .
Es wird im Strafmaß nur eben keinen Unterschied mehr
machen, ob man ausländische Politiker oder den Nach-
barn von gegenüber beleidigt hat . Auf die Beleidigung
von Organen und Vertretern ausländischer Staaten dro-
hen bisher bis zu drei Jahre Haft, bei „gewöhnlichen“ Be-
leidigungen nur bis zu einem Jahr . Diese Unterscheidung
wird es mit der Streichung der „Majestätsbeleidigung“,
wie wir den Paragrafen oft irreführend betiteln, nicht
mehr geben .
Wir hätten uns ein früheres Inkrafttreten gewünscht,
können aber auch mit dem späteren Termin leben . Gut
Ding will manchmal eben Weile haben .
Harald Petzold (Havelland) (DIE LINKE): Wir bera-
ten heute abschließend vier Gesetzentwürfe zur Reform
bzw . Änderung des Strafgesetzbuches bezüglich von
Straftaten gegen ausländische Staaten. Alle vier treffen
sich in einer zentralen Forderung: Der § 103 des Straf-
gesetzbuches muss weg . Auch wenn wir am Ende nur ei-
nen der vier Gesetzentwürfe annehmen werden, ist dieser
„kleinste gemeinsame Nenner“ tragfähig genug, damit –
zumindest war das bisher im federführenden Rechtsaus-
schuss der Fall – alle Fraktionen dem ihre Zustimmung
geben werden .
Die Strafvorschrift des § 103 des Strafgesetzbuches
(StGB) – Beleidigung von Organen und Vertretern aus-
ländischer Staaten – bezweckt den Schutz der Ehre von
ausländischen Staatsoberhäuptern, ausländischen Regie-
rungsmitgliedern sowie beglaubigten Leitern einer aus-
ländischen diplomatischen Vertretung . Der Strafrahmen
beträgt Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe,
im Falle der verleumderischen Beleidigung Freiheits-
strafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren . Für den
Ehrenschutz von Organen und Vertretern ausländischer
Staaten erscheinen die Straftatbestände des Vierzehnten
Abschnitts (Beleidigung), §§ 185 ff. Strafgesetzbuch,
ausreichend . Insbesondere bedarf es zum Schutz von
Organen und Vertretern ausländischer Staaten nicht des
gegenüber den §§ 185 ff. StGB erhöhten Strafrahmens.
Auch das Völkerrecht verpflichtet die Staaten nicht dazu,
Sonderstrafnormen zugunsten von Repräsentanten aus-
ländischer Staaten aufzustellen, wie sie § 103 StGB der-
zeit vorsieht . Die Vorstellung, die Repräsentanten aus-
ländischer Staaten benötigten einen über die §§ 185 ff.
StGB hinausgehenden Schutz der Ehre, erscheint nicht
mehr zeitgemäß . Selbst wenn man davon ausgeht, dass
der Schutzzweck des § 103 in der Wahrung des Interesses
der Bundesrepublik an einem Mindestbestand funktio-
nierender Beziehungen zu ausländischen Staaten besteht,
so wird dieses Anliegen bereits ausreichend durch die
Beleidigungsparagrafen 185, 186 und 187 StGB sicher-
gestellt . Dies hat auch der Deutsche Anwaltverein in sei-
ner Stellungnahme vom Januar 2017 festgestellt . § 103
StGB ist daher entbehrlich und kann aufgehoben werden .
Allerdings geht uns die Abschaffung des § 103 StGB
nicht weit genug . In unserem eigenen Gesetzentwurf,
Bundestagsdrucksache 18/8272, fordern wir neben der
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24263
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Abschaffung der Beleidigung von Organen und Vertre-
tern ausländischer Staaten (§ 103 StGB) die Abschaffung
weiterer sogenannter Sonderbeleidigungsdelikte . Dabei
handelt es sich um die Verunglimpfung des Bundesprä-
sidenten (§ 90 StGB) sowie die üble Nachrede und Ver-
leumdung gegen Personen des politischen Lebens (§ 188
StGB) . Diesen Gesetzentwurf werden Sie heute leider
mit den Stimmen der Großen Koalition bedauerlicher-
weise ablehnen – und damit werden wieder einmal die
Grenzen der Gemeinsamkeiten deutlich, die aufzeigen,
dass die Große Koalition immer nur so viel macht, wie
sich nicht vermeiden lässt . Politisches Gestalten sieht
aber anders aus. Nur, dazu fehlt Ihnen offensichtlich so-
wohl der Mut als auch der Wille .
Auch die Gesetzentwürfe der Grünen und des Bun-
desrates konzentrieren sich auf eine Streichung des § 103
StGB . Darüber hinaus fordern sie die sofortige Inkraft-
setzung des Gesetzes am Tag seiner Verkündung, und
nicht erst zum 1 . Januar 2018 . Da wir beides ebenfalls
fordern, stimmen wir auch beiden Gesetzentwürfen zu .
Zu den Auswirkungen des späten Inkrafttretens des Ge-
setzes hat sich bereits der Deutsche Anwaltverein sehr
kritisch geäußert: Es sei kein Grund ersichtlich, warum
gegenwärtig für vergleichbare Fälle anfänglich noch
eine Strafverfolgung nach § 103 StGB statthaft sein darf .
Das Gesetz sollte daher am Tag nach seiner Verkündung
in Kraft treten . Diesem Standpunkt schließen wir uns
vollumfänglich an . Vor diesem Hintergrund erhält aller-
dings die Empfehlung der Mehrheit im Rechtsausschuss,
diese beiden Gesetzentwürfe abzulehnen, einen sehr
schalen Beigeschmack . Wozu dieser Umgang absoluter
Arroganz der Macht der Regierungsfraktionen mit der
parlamentarischen Opposition und der Länderkammer,
dem Bundesrat? Eine Antwort wird uns die Große Koali-
tion wahrscheinlich schuldig bleiben .
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): § 103 StGB ist ein Relikt aus der Zeit, als es noch
einen deutschen Kaiser gab . Die Vorschrift geht zurück
auf den Tatbestand der „Majestätsbeleidigung“ . Gegen-
über der Strafbestimmung für Beleidigung in § 185 StGB
soll die Beleidigung eines ausländischen Staatsoberhaup-
tes oder eines Regierungsmitgliedes härter bestraft wer-
den . Erforderlich sind allerdings das Strafverlangen der
ausländischen Regierung und eine Strafverfolgungser-
mächtigung durch die Bundesregierung . Damit wird die
Strafverfolgung zu einem Politikum . Darf die Bundesre-
gierung einen Unterschied mach zwischen einem guten
und einem bösen Präsidenten oder Minister und für den
einen die Ermächtigung verweigern und für den anderen
nicht? Und sind Erdogan oder Kim Jong Un nun böse
und Trump oder May nicht? Jedenfalls sind vor dem Ge-
setz sind nicht mehr alle gleich .
Die Anwendung von § 103 StGB, der die diplomati-
schen Beziehungen zu anderen Ländern schützen soll, hat
immer wieder zu diplomatischen Krisen geführt . Bereits
in den 60er-Jahren sorgte der § 103 StGB als „Schah-Pa-
ragraf“ für Ärger, weil sich der Schah von Persien für
sich und seine Gattin Soraya darauf berief . Er fühlte sich
von deutschen Studenten beleidigt . Die damalige Bun-
desregierung war derart unter Druck geraten, dass der
Bundesinnenminister nach Teheran reisen musste, um
den Schah dazu zu bringen, von dem Strafverlangen ab-
zusehen .
Zu welchen erheblichen Problemen der Tatbestand
insgesamt führen kann, zeigte jüngst wieder der Fall
Böhmermann/Erdogan: Die Kanzlerin setzte die Straf-
verfolgungsermächtigung gegen die Ablehnung der
SPD-Regierungsmitglieder durch . Sie dürfte sich kaum
gewundert haben, dass diese Entscheidung angesichts des
EU-Türkei-Flüchtlingsdeals und ihrer voreiligen Bewer-
tung des Böhmermann-Schmähgedichts als Einknicken
vor den Befindlichkeiten Erdogans erschien. Politische
Überlegungen, wie die „Herumeierei“ der Kanzlerin vor
der Stimmungslage dieser „Majestät“, dürfen grundsätz-
lich kein Maßstab der Strafverfolgung sein .
Die Grünen hatten deshalb die sofortige Aufhebung
dieses Paragrafen gefordert . Das Völkerrecht steht sei-
ner Streichung nicht entgegen, und es gibt keinen guten
Grund, warum die Beleidigung ausländischer Staatsober-
häupter schwerwiegender sein soll als die von anderen
Bürgerinnen und Bürgern . Unser damaliger Gesetzesan-
trag steht heute auch zur Abstimmung .
Offensichtlich genervt hatte die Kanzlerin damals ver-
sucht, sich anschließend an die Spitze der Bewegung zu
setzen, und auch die Abschaffung gefordert. Das haben
wir sofort begrüßt . Allerdings hatte der Kanzlerinvor-
schlag einen Schönheitsfehler . Inkrafttreten sollte die
Abschaffung nicht sofort mit der Gesetzesänderung, son-
dern erst viel später, am 1. Januar 2018. Offensichtlich
wollte sie Erdogan nicht noch verärgern und den von
diesem angestrengten Prozess erst noch weiterlaufen las-
sen . Die Staatsanwaltschaft hat das Verfahren eingestellt .
Also viel Getöse für nichts .
Nun stellt die Bundesregierung ihren damals hastig
nachgeschobenen Gesetzentwurf mit dem Datum des
Inkrafttretens zum 1 . Januar 2018 zur Abstimmung . Sie
hätte auch einfach für unseren früheren Entwurf stimmen
können . Aber das tut man nicht im Deutschen Bundestag,
als hätten Oppositionsanträge einen schlechten Geruch .
Das von der Bundesregierung gewollte Inkrafttreten zum
1 . Januar 2018 ist unsinnig und nicht praktikabel . Das
betont auch der Bundesrat in seiner einzeiligen Stellung-
nahme, in der nur steht, es bestehe kein sachlicher Grund,
den Wegfall der Norm hinauszuzögern . Die Große Koali-
tion hält aber weiter am 1 . Januar 2018 fest . Das ist dumm
und uneinsichtig . Was sollte denn ein Staatsanwalt oder
ein Gericht noch tun, wenn jetzt noch eine Anzeige mit
Strafverlangen von Herrn Erdogan oder einem anderen
ausländischen Staatsoberhaupt eingehen? Das Verfahren
müsste am 1 . Januar 2018 – sicher vor der Rechtskraft –
eingestellt werden, weil das Gesetz nicht mehr da ist .
Alle, Staatsanwälte, Gerichte und auch die Bundesre-
gierung, die über die Ermächtigung entscheiden müss-
te, hätten viel Arbeit und Lärm für nichts . Also, lassen
Sie den Unsinn . Stimmen Sie ganz einfach für unseren
Gesetzentwurf, dann wird alles gut . Ausländische Staats-
oberhäupter können sich, wenn sie sich hier beleidigt
fühlen, einreihen in die Schlange aller anderen Rechts-
suchenden in Deutschland . Dann wird das Gericht ent-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724264
(A) (C)
(B) (D)
scheiden . So soll es sein, wenn alle vor dem Strafgesetz
gleich sind .
Anlage 24
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung
des Strafgesetzbuches – Umsetzung des Rahmen-
beschlusses 2008/841/JI des Rates vom 24. Oktober
2008 zur Bekämpfung der organisierten Krimina-
lität (Tagesordnungspunkt 30)
Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): Mit dem vor-
liegenden Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches
überführen wir die europarechtlichen Vorgaben aus dem
Rahmenbeschluss 2008/841/JI in das nationale Recht .
In den Bereichen, in denen durch die europäischen
Vorgaben Anpassungsbedarf bestand, wurden die not-
wendigen Veränderungen vorgenommen . Der Rahmen-
beschluss ist im Wesentlichen bereits schon durch den
bestehenden § 129 StGB umgesetzt . Allerdings ist der
Begriff der Vereinigung nach § 129 StGB in der Ausfor-
mung, die er durch die Rechtsprechung des Bundesge-
richtshofs erfahren hat, enger als die Definition der Ver-
einigung in Artikel 1 des Rahmenbeschlusses . Deswegen
wird eine Angleichung der Definitionen als auch der
Straftaten vorgenommen, die im Zusammenhang mit der
Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung begangen
werden . Hierdurch wird die gegenseitige Anerkennung
von Urteilen und gerichtlichen Entscheidungen sowie die
polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit erleichtert .
Der Entwurf sieht insoweit vor, den Begriff der Ver-
einigung in § 129 Absatz 2 StGB-E legal zu definieren
als einen auf längere Dauer angelegten, von einer Festle-
gung von Rollen der Mitglieder, der Kontinuität der Mit-
gliedschaft und der Ausprägung der Struktur unabhängi-
gen organisierten Zusammenschluss von mehr als zwei
Personen zur Verfolgung eines übergeordneten gemein-
samen Interesses. Der Begriff ist folglich durch ein per-
sonelles, zeitliches, organisatorisches sowie voluntatives
Element charakterisiert . Durch diese ausdrückliche ge-
setzliche Festlegung, wonach es also weder einer förm-
lichen Festlegung von Rollen für ihre Mitglieder noch
der Kontinuität ihrer Mitgliedschaft noch einer bestimm-
ten Ausprägung ihrer Struktur bedarf, unterscheidet sich
die Vereinigung im Sinne des § 129 Absatz 1 Satz 1 in
Verbindung mit Absatz 2 StGB-E von der Vereinigung
in der Auslegung durch die derzeitige Rechtsprechung .
Diese versteht unter einer Vereinigung einen auf gewisse
Dauer angelegten organisatorischen Zusammenschluss
von mindestens drei Personen, die bei Unterordnung des
Willens des Einzelnen unter den Willen der Gesamtheit
gemeinsame Zwecke verfolgen und unter sich derart in
Beziehung stehen, dass sie sich untereinander als einheit-
licher Verband fühlen . Dies erfordert ein Mindestmaß an
fester Organisation mit gegenseitiger Verpflichtung der
Mitglieder sowie eine verbindlichen Gemeinschaftswil-
len, der unter Einbindung der einzelnen Mitglieder nach
verbindlichen Regeln entstanden sein muss .
Dies lässt deutlich erkennen, dass der Begriff der
Vereinigung nach § 129 StGB in der Ausformung, die
er durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs er-
fahren hat, enger ist. Diese restriktive Definition schließt
hie rarchische Zusammenschlüsse mit bloßer Durchset-
zung eines autoritären Anführerwillens mangels Gruppe-
nidentität aus dem Tatbestand des § 129 StGB aus .
Doch gerade bei mafiaähnlichen Strukturen, die in-
tensiv die Abschottung nach innen und außen betreiben,
besteht ein Problem, den von der Rechtsprechung gefor-
derten gemeinsamen Täterwillen zur Begehung konkre-
ter Straftaten nachzuweisen . Dies bedeutet jedoch nicht,
dass die bloße lose Übereinkunft von mindestens zwei
Personen genügt . Es ist ausreichend, wenn der Zusam-
menschluss ein Mindestmaß längerfristiger instrumentel-
ler Vorausplanung und Koordinierung sowie eine irgend-
wie geartete regelhafte Willensbildung aufweist . Dies
stimmt auch mit dem Rahmenbeschluss überein, welcher
Zusammenschlüsse aus dem Tatbestand ausscheidet, die
sich zufällig zur unmittelbaren Begehung einer Straftat
bilden .
Auch eine Abgrenzung zum Begriff der Bande wird
hierbei gewährleistet, indem eine möglicherweise nur
rudimentäre Organisationsstruktur und die Verfolgung
eines übergeordneten gemeinsamen Interesses zu fordern
sind . Im Bereich politisch motivierter Kriminalität liegt
dieses übergeordnete gemeinsame Interesse in der von
den Mitgliedern der Vereinigung geteilten politischen
Überzeugung und der Verfolgung politischer Ziele, de-
nen die Begehung der einzelnen Straftaten dient .
Zur Vermeidung einer zu weit gehenden Vorfeld-
strafbarkeit sieht der Entwurf vor, als Bezugstaten nur
Straftaten einzubeziehen, die im Höchstmaß mindes-
tens mit Freiheitsstrafe von zwei Jahren bedroht sind .
Damit wird von der vom Rahmenbeschluss eröffneten
Möglichkeit der Einschränkung nach der Schwere der
in Aussicht genommenen Straftaten Gebrauch gemacht .
Aus dem Schutzzweck der Norm, dem Verhältnismäßig-
keitsgrundsatz und der Bedeutung von § 129 StGB als
Katalogtat für bestimmte strafprozessuale Möglichkeiten
folgt darüber hinaus, dass die von der Vereinigung ge-
planten oder begangenen Straftaten eine erhebliche Ge-
fahr für die öffentliche Sicherheit bedeuten und unter die-
sem Gesichtspunkt von einigem Gewicht sein müssen .
Weiterhin wird bei den Strafandrohungen des § 129
Absatz 1 StGB-E zwischen Gründung und Mitglied-
schaft einerseits und der Werbung und der Unterstützung
andererseits differenziert. Die Erweiterung des Vereini-
gungsbegriffs wirkt sich auch auf § 129a StGB aus.
Nach § 129 Absatz 1 Satz 2 StGB-E werden Personen,
die für eine kriminelle Vereinigung um Mitglieder oder
Unterstützer werben oder sie unterstützen, entsprechend
dem Gewicht ihres Tatbeitrages mit geringerer Strafe –
das heißt mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit
Geldstrafe – bedroht werden als Personen, die eine krimi-
nelle Vereinigung gründen oder ihr als Mitglied angehö-
ren . In § 129 Absatz 1 Satz 1 StGB-E wird die Gründung
einer kriminellen Vereinigung und die Mitgliedschaft in
einer solchen wie bisher mit Freiheitsstrafe bis zu fünf
Jahren oder mit Geldstrafe bestraft .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24265
(A) (C)
(B) (D)
Die Erscheinungsformen der organisierten Kriminali-
tät sind vielgestaltig . Neben strukturierten, hierarchisch
aufgebauten Organisationsformen finden sich auf der
Basis eines Systems persönlicher und geschäftlicher kri-
minell nutzbarer Verbindungen Straftäterverflechtungen
mit unterschiedlichem Bindungsgrad der Personen unter-
einander . Organisierte Kriminalität zeigt sich nicht nur
im Bereich des internationalen Rauschgifthandels und
des Rauschgiftschmuggels, sondern in zahlreichen Kri-
minalitätsbereichen wie Waffenhandel, Falschgeldver-
breitung, Glücksspiel, Prostitution und Menschenhandel .
Darüber hinaus gewinnen die Deliktfelder Cybercrime
und Schleusenkriminalität immer weiter an Bedeutung .
Ursache hierfür ist die zunehmende Bedeutung des Inter-
nets und der digitalen Welt . Insbesondere im sogenann-
ten Darknet werden kriminelle Marktplätze betrieben, in
denen illegale Waren und Dienstleistungen gekauft oder
verkauft werden können . Es existiert ein funktionieren-
der internationaler Markt, auf dem Angriffswerkzeuge,
Erkenntnisse über Schwachstellen in Betriebssystemen
oder Schadsoftware eingekauft oder als Dienstleistung in
Auftrag gegeben werden können .
Derartige Kriminalität stellt nicht nur eine Bedrohung
für den jeweils betroffenen Bürger oder des jeweils be-
troffenen Rechtsguts der Allgemeinheit dar, sondern es
besteht darüber hinaus die wachsende Gefahr der Unter-
wanderung und Korrumpierung staatlicher und gesell-
schaftlicher Institutionen . Folglich ist rechtspolitisches
Ziel die Schaffung einer gesetzlichen Maßnahme, welche
die organisierte Kriminalität besser bekämpfen kann –
auch in der digitalen Welt .
Dieser Gesetzentwurf stellt folglich ein probates Mit-
tel dar, die Auslegung des § 129 StGB an dem wirklich-
keitsnahen Bild hierarchisch strukturierter Organisatio-
nen zu orientieren . Der Rahmenbeschluss wird folglich
effektiv in das nationale Recht umgesetzt. Dabei wird ein
guter Ausgleich zwischen den europäischen Verpflich-
tungen einerseits und nationalen Anforderungen des
Strafrechts andererseits geschaffen.
Für uns als Union ist die innere Sicherheit von über-
ragender Bedeutung, weswegen wir bis zum letzten Tag
der Legislaturperiode alles tun, um unsere Bürgerinnen
und Bürger noch besser zu schützen .
Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Mit der heutigen De-
batte bringen wir das Gesetzesvorhaben zur Strafbarkeit
der Bildung krimineller und terroristischer Vereinigun-
gen zum Abschluss . Mit der Umsetzung des Rahmenbe-
schlusses des Rates der Europäischen Union werden die
europarechtlichen Vorgaben im nationalen Recht nach-
vollzogen und eine Verbesserung bei der Bekämpfung
der organisierten Kriminalität eintreten .
Die Bildung einer kriminellen Vereinigung ist nach
dem deutschen Strafrecht strafbar, für terroristische Ver-
einigungen im In- und Ausland werden Freiheitsstrafen
von mindestens einem Jahr angedroht . Das Strafbedürf-
nis erfolgt bereits aus der Tatsache, dass kriminelle Or-
ganisationsformen schon selbstständig eine Bedrohung
für die kollektiven Rechtsgüter unserer Gemeinschaft
darstellen, auch wenn durch solche Vereinigungen In-
dividualrechtsgüter noch nicht direkt betroffen sind. In
jedem Falle bedrohen kriminelle und terroristische Or-
ganisationsformen sowohl die öffentliche Sicherheit als
auch die staatliche Ordnung . Das Strafrecht gibt hierauf
eine Antwort und sieht Maßnahmen vor, insbesondere
vor dem Hintergrund der latenten Bedrohung durch den
internationalen Terrorismus .
Durch den Rahmenbeschluss des Rates der Europäi-
schen Union vom 24 . Oktober 2008 und die dort getrof-
fene Definition der kriminellen Vereinigung gab es aller-
dings noch gesetzgeberischen Handlungsbedarf .
Leider war es der Rechtsprechung in der Vergangen-
heit nicht möglich, eine Auslegung des Vereinigungsbe-
griffs, die mit dem Europarecht konform ist, zu schaffen.
Dies scheiterte nicht am Wortlaut der Strafvorschrift,
sondern vielmehr am fehlenden Willen der Rechtspre-
chung, die neuen Rahmenbedingungen europarechtskon-
form auszulegen, was durchaus zu bedauern ist .
Aus diesem Grund war der Gesetzgeber zum Handeln
aufgerufen . Der vorliegende Gesetzentwurf genügt nun
den europarechtlichen Anforderungen hinsichtlich der
Legaldefinition der kriminellen Vereinigung: Die Grup-
penidentität, die bisher für den Tatbestand erforderlich
war, wurde – trotz vielfacher Kritik – aufgegeben . Bisher
mussten sich die Mitglieder als einheitlicher Verband de-
finieren. Mit der Neuanpassung treten nun die Organisa-
tionsstruktur, die Vorausplanung und die Koordinierung
in den Vordergrund der Strafbarkeit . Zusätzlich bringt
die Neuregelung mit sich, dass Zusammenschlüsse unter
einem autoritären Anführerwillen als kriminelle Vereini-
gungen definiert werden.
Der Gesetzentwurf ist ein wichtiger Beitrag zu mehr
Rechtssicherheit . Er ermöglicht eine verbindliche Ausle-
gungsregel für die Justiz und stellt durch die Umsetzung
europarechtlicher Vorgaben eine Angleichung der Straf-
vorschriften her . Dies ist besonders wichtig, da hierdurch
in jedem Staat der Europäischen Union die Bildung ei-
ner kriminellen oder terroristischen Vereinigung mit den
gleichen Strafen geahndet wird, was die europaweite
Sicherheit erhöht und die Rechtsprechung harmonisiert .
Neben den positiven Folgen, die, wie angesprochen,
nicht nur der deutschen, sondern der EU-weiten Recht-
sprechung dienlich sind, enthält der Gesetzentwurf einen
kritischen Punkt, den die Union gerne gestrichen gesehen
hätte .
Künftig wird der Strafrahmen für die Werbung und
Unterstützung der kriminellen Vereinigung auf Freiheits-
strafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe abgesenkt . Ziel
des Gesetzentwurfs kann es nicht sein, Straftätern künf-
tig einen Rabatt für die Werbung und Unterstützung von
kriminellen Vereinigungen zu geben . Die Union setzt
sich für eine effektive Bekämpfung der Kriminalität ein.
Die Absenkung von Strafrahmen im Bereich der orga-
nisierten Kriminalität ist nicht unser Anliegen und setzt
ein falsches Zeichen . Wir hätten eine Änderung im parla-
mentarischen Gesetzgebungsverfahren sehr begrüßt .
Insgesamt ist jedoch zu sagen, dass mit dem Gesetz-
esentwurf nicht nur dem Rahmenbeschluss der Europä-
ischen Union Genüge getan wurde, sondern es konnten
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724266
(A) (C)
(B) (D)
auch weitere wichtige Maßnahmen für die deutsche
Rechtsprechung durch den Gesetzgeber getroffen wer-
den . Das Gesetz ist somit als Erfolg im Kampf gegen das
organisierte Verbrechen zu werten .
Bettina Bähr-Losse (SPD): Wir müssen die organi-
sierte Kriminalität mit allen uns zur Verfügung stehenden
Mitteln bekämpfen .
Mit dem Gesetzentwurf, den wir heute hier beschlie-
ßen, wollen wir die Strafvorschrift des § 129 Strafgesetz-
buch, den Straftatbestand der Bildung krimineller Verei-
nigungen, an die Vorgaben des Rahmenbeschlusses des
Rates der Europäischen Union vom 24 . Oktober 2008 zur
Bekämpfung der organisierten Kriminalität anpassen .
§ 129 StGB stellte bislang die Gründung, Mitglied-
schaft, Mitgliederwerbung und Unterstützung einer kri-
minellen Vereinigung unter Strafe . Es handelt sich hier
um eine Strafbarkeit im Vorfeld des Versuchs, eine soge-
nannte Vorfeldstrafbarkeit. Grund für die Schaffung der
Strafnorm war, dass man den Mitgliedern einer krimi-
nellen Vereinigung häufig nicht die Begehung konkreter
Taten beweisen kann .
Der Rahmenbeschluss vom 24 . Oktober 2008 des Ra-
tes zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität wurde
also bereits fast vollständig durch § 129 StGB umgesetzt .
Was der § 129 StGB aber in der bisherigen Form noch
nicht möglich macht, ist die Verurteilung mafiaähnlicher
Organisationen . Bisher unterfallen hierarchisch organi-
sierte Gruppen, deren Mitglieder sich einem autoritären
Führungswillen unterwerfen, mangels „Gruppenidenti-
tät“ nicht dem Tatbestand .
Auf die Lücke in der Umsetzung des EU-Rahmen-
beschlusses machte ein vom Bundesgerichtshof ent-
schiedener Fall aufmerksam, den ich Ihnen kurz veran-
schaulichen möchte: Im März 2006 gründete sich eine
rechtsnationalistische Kameradschaft . Auf einer Grün-
dungsversammlung mit 30 bis 50 anwesenden Perso-
nen einigte man sich auf den Namen „Kameradschaft
Sturm 34“ . Der Vorschlag, eine förmliche Mitgliederliste
anzulegen, wurde nicht umgesetzt, weil man eine solche
Liste im Falle polizeilicher Ermittlungen für nachteilig
hielt . Nach Gründung der „Kameradschaft Sturm 34“
kam es bei mehreren Gelegenheiten zu von Kamerad-
schaftsmitgliedern initiierten Schlägereien, bei denen
zahlreiche Personen – teilweise erheblich – verletzt wur-
den .
Im Revisionsverfahren gegen das erstinstanzliche Ur-
teil des LG Dresden, das die Voraussetzungen für eine
kriminelle „Vereinigung“ nicht gegeben sah, setzte sich
der 3 . Strafsenat des BGH mit der Frage auseinander, ob
die „Kameradschaft Sturm 34“ als kriminelle Vereini-
gung im Sinne des § 129 StGB einzustufen und die An-
geklagten wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung hieran
zu verurteilen seien . Der 3 . Strafsenat des BGH lehnte es
aus grundsätzlichen Erwägungen heraus ab, den Verei-
nigungsbegriff ohne entsprechende gesetzliche Regelung
weiter als bisher zu interpretieren und forderte eine Re-
gelung durch den Gesetzgeber . Dieser Forderung kom-
men wir nun nach .
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht nun
vor, ins Strafgesetzbuch eine Legaldefinition des Verei-
nigungsbegriffs aufzunehmen, die sich eng an den euro-
päischen Vorgaben orientiert .
Vorgesehen sind erstens eine Absenkung der Anforde-
rung an Organisationsstruktur und Willensbildung, also
eine Erweiterung des Vereinsbegriffes wie folgt: „ein auf
… Dauer angelegter, von einer Festlegung von Rollen
der Mitglieder, der Kontinuität der Mitgliedschaft und
der Ausprägung der Struktur unabhängiger organisierter
Zusammenschluss von mehr als zwei Personen zur Ver-
folgung eines übergeordneten gemeinsamen Interesses .“
Zweitens ist eine Anwendung nur bei Straftaten vorge-
sehen, die mit einer Freiheitsstrafe von mindestens zwei
Jahren bedroht sind . An dieser Stelle erfolgt das Korrek-
tiv auf der Ebene der Straftaten, weil wegen der Absen-
kung der Anforderung an die Organisationsstruktur mit
einer erheblichen Ausweitung des Anwendungsbereichs
zu rechnen ist, wir aber nicht jede beliebige Straftat ein-
bezogen sehen wollen .
Drittens ist eine Unterscheidung bei der Strafandro-
hung vorgesehen: Im nun vorliegenden Gesetz wird bei
der Strafandrohung zwischen Gründung/Mitgliedschaft
und Werbung/Unterstützung unterschieden . Gründung
und Mitgliedschaft werden dabei, wie bisher, mit einer
Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren geahndet . Werbung
und Unterstützung werden hingegen nun noch mit bis zu
drei Jahren Freiheitsstrafe geahndet . Bisher konnte die
Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahre betragen .
Zwischenzeitlich kam vonseiten unseres Koalitions-
partners die Diskussion eines einheitlichen Strafrahmens
mit einer Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren für Gründung,
Mitgliedschaft, Mitgliederwerbung und Unterstützung
auf . Die Begründung war, dass für einen aktiven Unter-
stützer der gleiche Strafrahmen gelten sollte wie für ein
passives Mitglied .
Die zwischenzeitlich von der Union vorgetragene
Begründung trägt nach Auffassung der SPD Bundes-
tagsfraktion nicht . Das „passive Mitglied“ gibt es straf-
rechtlich gar nicht . Es handelt sich bei der kriminellen
Vereinigung ja nicht um einen eingetragenen Verein,
dessen Mitgliedschaft man durch förmliche Beitrittser-
klärung erwirbt und danach in Passivität verharrt . Die
Beteiligung als Mitglied setzt im Gegenteil voraus, dass
der Betreffende sich unter Eingliederung in die Organisa-
tion deren Willen unterordnet und eine Tätigkeit zur För-
derung der kriminellen Ziele der Organisation entfaltet .
Auszugehen ist vom typischen Gründer und typischen
Unterstützer . Veranschaulicht am Beispiel einer terro-
ristischen Vereinigung: Es war strafrechtlich anders zu
bewerten, dass Andreas Baader die RAF gegründet hat,
als dass jemand Andreas Baader bei sich hat übernach-
ten lassen . Die kriminelle Energie ist bei Gründung/
Mitgliedschaft höher als bei Mitgliederwerbung/Unter-
stützung . Die Tathandlungen sind von unterschiedlichem
Unrechtsgehalt . Der aktiven Unterstützung kann der
Strafrichter dadurch Rechnung tragen, dass sich der kon-
krete Strafausspruch am oberen Rand des Strafrahmens
bewegt .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24267
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(B) (D)
Die SPD-Fraktion hat sich an dieser Stelle mit der
Unterscheidung zwischen Gründung/Mitgliedschaft und
Mitgliederwerbung/Unterstützung in § 129 StGB mit un-
terschiedlichen Strafrahmen durchgesetzt .
Es ist richtig und wichtig, unsere Gesetze regelmä-
ßig zu überdenken, zu überprüfen und, wenn nötig, auch
Strafrahmenverschärfungen vorzunehmen . Der Annah-
me, dass durch pauschalisierende Verschärfungen unse-
rer Gesetze ein Mehr an Sicherheit erreicht wird, wider-
spreche ich jedoch ausdrücklich .
Auch wenn die Änderungen an den §§ 129 ff. Straf-
gesetzbuch überschaubar sind, so wird insbesondere die
Erweiterung des Vereinigungsbegriffs dazu führen, dass
Erscheinungsformen aus dem Bereich der organisierten
Kriminalität zukünftig strafrechtlich besser erfasst wer-
den können . Ich bitte daher, diesen Gesetzentwurf der
Bundesregierung zu unterstützen .
Ulla Jelpke (DIE LINKE): Mit dem vorliegenden Ge-
setzentwurf soll einem Rahmenbeschluss des Rates der
Europäischen Union vom Jahr 2008 zur Bekämpfung der
organisierten Kriminalität nachgekommen werden . Da-
für soll der bestehende § 129 Strafgesetzbuch über die
Bildung einer kriminellen Vereinigung angepasst wer-
den .
Schon der Name des § 129 ist eine Mogelpackung .
Denn es handelt sich mitnichten um einen Paragrafen zur
Bekämpfung krimineller Vereinigungen wie der Mafia.
Vielmehr haben wir es in erster Linie mit einem Verfol-
gungsinstrument gegen eine radikale politische Oppo-
sition zu tun, das den Ermittlungsbehörden zahlreiche
Sondervollmachten im Bereich Telekommunikations-
überwachung, Verwanzung von Wohnungen und dem
Einsatz verdeckter Ermittler einräumt .
Von 1871 bis 1945 richtete sich der § 129 StGB noch
gegen eine „staatsfeindliche Verbindung“ – die politische
Stoßrichtung wurde schon im Namen deutlich . Verfolgt
wurden damit unter Bismarck die Sozialdemokratie und
nach dem Ersten Weltkrieg die KPD . In den 1950er-Jah-
ren sahen sich die erst wenige Jahre zuvor aus den KZs
der Nazidiktatur freigekommenen Kommunisten in der
Bundesrepublik wieder mit dem § 129 konfrontiert . Doch
diesmal wurde ihnen durch die Neubenennung des Para-
grafen nicht einmal mehr ein politisches Ziel zugebilligt,
vielmehr wurden sie kurzerhand zu Kriminellen erklärt .
Aktuelle Zahlen liegen leider keine vor . Aber für
die Zeitspanne von 1990 bis 2008 hatte ich einmal eine
Kleine Anfrage gestellt . Und siehe da: Kein einziges der
während dieser 18 Jahre geführten insgesamt 108 Ermitt-
lungsverfahren nach § 129 StGB richtete sich gegen die
organisierte Kriminalität . Dagegen wurde allein 100 Ver-
fahren gegen die kurdische PKK geführt . Der Grund da-
für ist der bislang geltende Vereinigungsbegriff, der einen
Gruppenwillen, voraussetzte, dem sich die Handlungen
des einzelnen Mitgliedes unterordnen . So funktionieren
zwar manche politische Vereinigungen . Doch kriminelle
Zusammenschlüsse sind in der Regel anders strukturiert .
Sie werden von einem autoritären Boss oder Paten ge-
führt und haben kein übergeordnetes Ziel – von der Raff-
gier der Beteiligten einmal abgesehen .
Mit der nun zur Abstimmung stehenden Änderung
des § 129 sollen Gruppierungen unabhängig von ihrer
Organisationsstruktur erfasst werden . Damit ließe sich
dieser Paragraf zwar tatsächlich auch gegen die meisten
Vereinigungen der organisierten Kriminalität anwenden .
Doch weiterhin bleibt die rechtliche Problematik beste-
hen, dass mit diesem Paragrafen nicht konkrete Straf-
taten kriminalisiert werden, sondern bereits die bloße
Mitgliedschaft in einer Vereinigung zur vermeintlichen
Begehung von Straftaten . Schon der bloße Zusammen-
schluss ist strafbar, auch wenn noch niemand durch eine
konkrete Tat geschädigt wurde . Wir haben es hier also
mit einer regelrechten Gesinnungsjustiz zu tun . Und die-
se Vorfeldstrafbarkeit lange vor der eigentlichen Tat wird
nun auch noch auf alle möglichen nicht hierarchischen
Gruppierungen ausgeweitet .
Eine solche Gummiverordnung öffnet der Justizwill-
kür bei der Verfolgung und Ausforschung unliebsamer
Oppositionsmilieus – von Atomkraftgegnern bis zu
Globalisierungskritikern – Tür und Tor . Dies ist umso
mehr zu befürchten, als sich die Bundesregierung der
vom EU-Rahmenbeschluss vorgegebenen Eingrenzung
des Begriffs der kriminellen Vereinigung auf einen Zu-
sammenschluss mit dem Ziel, „sich unmittelbar oder
mittelbar einen finanziellen oder sonstigen Vorteil zu
verschaffen“, verweigert. Denn durch eine solche Ein-
schränkung – und das wird in der Gesetzesbegründung
offen eingestanden – würden die Möglichkeiten der
Wohnraumüberwachung bei anderen bislang unter den
§ 129 Strafgesetzbuch fallenden Straftaten weggefallen .
Umgekehrt müssten bei Übernahme der Definition aus
dem Rahmenbeschluss auch auf Steuerhinterziehung und
Geldwäsche angelegte Finanzinstitute nach § 129 ange-
klagt werden – oder Manager von Automobilkonzernen,
die sich zu dem betrügerischen Zweck zusammenge-
schlossen haben, Hunderttausende fälschlich als abgas-
arm deklarierte Autos unter das Volk zu bringen .
Im Klartext: Die Bundesregierung will einerseits die
White Collar Hooligans in den Chefetagen schonen und
andererseits ihren Schnüffelparagrafen mit seinen zahl-
reichen Sondervollmachten nicht aus der Hand geben .
Die Linke würde es sehr begrüßen, wenn tatsächlich
gegen die organisierte Kriminalität vorgegangen würde .
Schon jetzt gibt es dafür eine ausreichende gesetzliche
Grundlage . Doch allzu oft fehlt der nötige Wille, insbe-
sondere bei der Verfolgung auch der Kriminellen in Na-
delstreifen .
Einer Ausweitung des § 129 und damit auch seines
großen Bruders, des berüchtigten 129a gegen terroristi-
sche Vereinigungen, kann die Linke aber nicht zustim-
men. Wir fordern vielmehr die Abschaffung dieser Ge-
sinnungs- und Ausforschungsparagrafen .
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Der Rahmenbeschluss 2008/841/JI des Rates vom
24 . Oktober 2008 zur Bekämpfung der organisierten Kri-
minalität entspricht bei uns heute schon der Gesetzesla-
ge. Lediglich der Begriff der Vereinigung in § 129 StGB
soll etwas weiter gefasst und eine Legaldefinition dieses
Begriffs aufgenommen werden. Darüber hinaus unter-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724268
(A) (C)
(B) (D)
scheidet der Gesetzentwurf bei den Strafandrohungen des
§ 129 StGB zwischen der Gründung und der Mitglied-
schaft mit Freiheitsstrafen bis zu 5 Jahren einerseits und
der Unterstützung bzw . Werbung um Unterstützer und
Mitglieder andererseits bis zu 3 Jahren Freiheitsstrafe .
Das bedeutet, dass nun abgestufte Strafdrohungen für die
Gründung und Mitgliedschaft in einer kriminellen Ver-
einigung einerseits und die Unterstützung und Werbung
für eine solche andererseits gelten . Dieser Vorschlag ist
besser als das geltende Recht .
Der Bundesrat hat ebenfalls keine Einwände gegen
dieses Umsetzungsgesetz. Er empfiehlt lediglich zur bes-
seren Verständlichkeit der Legaldefinition des Begriffs
„Vereinigung“ in § 129 Absatz 2 StGB-E, die Regelung
in zwei Sätze aufzuteilen . Im ersten Satz sollen die grund-
legenden Erfordernisse einer Vereinigung bestimmt und
im zweiten Satz dann die Umstände gelistet werden, die
der Annahme einer Vereinigung nicht entgegenstehen .
Der Vorschlag trägt zur besseren Verständlichkeit bei .
Die Vorschrift des § 129 StGB „Bildung einer krimi-
nellen Vereinigung“ ist und bleibt problematisch . Es be-
steht die Gefahr, dass er politisch instrumentalisiert wird .
So wurden Teilnehmer der Kundgebung gegen den Na-
ziaufmarsch in Dresden im Februar 2010 aufgrund die-
ser Vorschrift verfolgt . Bereits im Vorfeld der Gegende-
monstrationen hatte die sächsische Polizei verlangt, die
Internetadresse für die bundesweiten Proteste gegen den
Naziaufmarsch abzuschalten . Außerdem ließ die sächsi-
sche Polizei und Justiz Aufrufplakate der Gegendemons-
tranten beschlagnahmen . Mit Sitzblockaden verhinderten
dann am 13 . Februar 2010 Zehntausende den Aufmarsch
der Neonazis . Im Frühjahr 2010 wurde daraufhin ein Er-
mittlungsverfahren gegen unbekannt wegen der Bildung
einer kriminellen Vereinigung eingeleitet .
§ 129 StGB eröffnet den Ermittlungsbehörden eine
Vielzahl von weitreichenden Ermittlungsbefugnissen,
zum Beispiel Telekommunikationsüberwachung, Ob-
servationen, den Einsatz verdeckter Ermittler usw . Da-
für braucht es dann keine weitere verwirklichte Straftat,
der Vereinigungstatverdacht reicht aus . Schon deshalb ist
Vorsicht und Zurückhaltung geboten, wenn es um Ände-
rungen und Neuformulierung des § 129 StGB geht – der
insbesondere in Sachsen in den letzten Jahren häufig als
„Allzweckwaffe“ von Teilen der Justiz gegen unliebsame
linke Strukturen missbraucht wurde .
In den 70er-Jahren wurde die Anwendung der Straf-
vorschrift heftig kritisiert, weil sie immer in Ermitt-
lungsverfahren eingesetzt wurde, um strafprozessuale
Zwangsmaßnahmen durchzuführen von Durchsuchun-
gen über Telefonüberwachung bis hin zu langjähriger
Untersuchungshaft, ohne dass es dann später zu einer
Anklage oder Verurteilung nach dieser Vorschrift kam .
Wenn überhaupt angeklagt und verurteilt wurde, dann
nach ganz anderen Strafvorschriften .
Das ist nicht neu . § 129 StGB geht über das Preußi-
sche Strafgesetzbuch bis ins Reichsstrafgesetzbuch zu-
rück und war Mittel zur Verfolgung liberaler und demo-
kratischer Tendenzen . Er war Teil der Prozesse gegen
bekannte Vertreter der Deutschen Arbeiterbewegung wie
August Bebel und befeuerte die Verfolgung der Sozial-
demokratie und später anderer Vereinigungen . Auch das
20 . Jahrhundert überdauerte der § 129 StGB und wur-
de durch Änderungen immer wieder dem aktuellen po-
litisch-gesellschaftlichen Umständen angeglichen und
erweitert .
Ob und wie sich die vorgelegten Änderungen in der
Praxis der Rechtsprechung merklich auswirken, bleibt
abzuwarten. Mehr Klarheit bringt die Legaldefinition je-
denfalls . Das Grundproblem der §§ 129 f . StGB, immer
wieder auch als politische Norm missbraucht zu werden,
bleibt trotzdem weiter bestehen und mahnt zur Wachsam-
keit . Wichtig scheint mir, dass das allgemeine Werben für
eine kriminelle Vereinigung, entgegen mancher Forde-
rung in der Öffentlichkeit, nicht in die Neuformulierung
der Strafvorschrift § 129 StGB aufgenommen wurde .
Anlage 25
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung reiserechtlicher Vorschriften (Tagesord-
nungspunkt 31)
Daniela Ludwig (CDU/CSU): Die Reisebranche in
Deutschland steht – wie jede andere Branche auch – in
einem harten Wettbewerb . Insbesondere neue Vertriebs-
wege wie der Onlinehandel und eine sich stetig weiter-
entwickelnde Angebotspalette erfordern eine regelmäßi-
ge Anpassung der gesetzlichen Rahmenbedingungen, um
einen fairen Wettbewerb zu gewährleisten . Dies gilt im
deutschen Binnenmarkt ebenso wie für den grenzüber-
schreitenden Reisevertrieb .
Die EU hat mit der Überarbeitung der Pauschalrei-
serichtlinie einen Vorschlag vorgelegt, um einheitliche
Mindeststandards festzulegen . Das führt, wie die De-
batten in den vergangenen Monaten gezeigt haben, zu
der einen oder anderen Herausforderung, der wir uns
in der Umsetzung gestellt haben . Ein Problem für den
deutschen Markt war ganz unbestritten die besondere
Struktur, die wir im Vergleich zu anderen Ländern haben .
Unser Markt ist geprägt von mittelständischen, meist fa-
miliengeführten Reisebüros .
Der übrige europäische Reisemarkt kennt diese Struk-
tur so nicht und ist mehrheitlich vom Direktvertrieb durch
die Reiseveranstalter geprägt . An der in Europa vorherr-
schenden Struktur hat sich die Richtlinie orientiert . Den
Unmut, den dies in Deutschland mit sich gebracht hat,
kann ich durchaus nachvollziehen, er war größtenteils
auch berechtigt .
In der Umsetzung haben wir uns bemüht, deutsche
Besonderheiten zu berücksichtigen und die Richtlinie für
die Praxis anwendbar zu gestalten . Unter anderem war
es erforderlich, die Definition der Pauschalreise klarer
zu formulieren und zu verdeutlichen, dass beispielsweise
nicht jede beliebige Kombination von Leistungen auch
gleich eine Pauschalreise darstellt und damit die umfang-
reichen Beratungs- und Haftungsregeln gelten .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24269
(A) (C)
(B) (D)
Darüber hinaus wurde bei den unselbstständigen Rei-
seleistungen klargestellt, dass die Kombination einer
Reiseleistung mit einer anderen Reiseleistung dann keine
Pauschalreise darstellt, wenn eine der beiden Leistungen
„wesensmäßig Bestandteil“ der anderen ist . Diese Ände-
rungen reduzieren bereits den Anwendungsbereich der
Richtlinie für eine Vielzahl von Verträgen .
Die Reisebüros in unserem Land leisten eine qualita-
tiv hochwertige Arbeit . Sie sind Ansprechpartner für die
Reisenden und beispielhaft für eine gute und zuverläs-
sige Dienstleistungskultur . Diese gilt es zu erhalten und
auch unter veränderten Rahmenbedingungen bekannte
und bewährte Abläufe beizubehalten . Daher war ein ganz
entscheidender Punkt der Bezahlvorgang im Reisebüro .
Laut Richtlinienentwurf sollte bei der Vermittlung ver-
bundener Reiseleistungen, beispielsweise der Buchung
von Flug, Hotel und Mietwagen, jede einzelne Leistung
separat gebucht, separat abgerechnet und separat bezahlt
werden . Dieses Vorgehen wäre weder dem Kunden noch
dem Reisebüro vermittelbar gewesen . Daher haben wir
diese Passage im Umsetzungsgesetz geändert . Die be-
währte Praxis der Gesamtabrechnung bleibt damit erhal-
ten .
Zu erheblichen Diskussionen hat die Möglichkeit der
einseitigen Preisanhebung um 8 Prozent durch den Ver-
anstalter vor Beginn der Reise geführt . Bisher war le-
diglich eine Preisanhebung um 5 Prozent möglich . Der
Preis der Pauschalreise darf erhöht werden, wenn sich
bestimmte Kosten (zum Beispiel Treibstoffpreise) erhö-
hen und wenn dies im Vertrag ausdrücklich vorgesehen
ist . Erst wenn die Preiserhöhung 8 Prozent des Pauschal-
reisepreises übersteigt, kann der Reisende vom Vertrag
zurücktreten . Wenn sich ein Reiseveranstalter das Recht
auf eine Preiserhöhung vorbehält, hat der Reisende aber
auch das Recht auf eine Preissenkung, wenn die entspre-
chenden Kosten sich verringern . Diese Möglichkeit der
Preisanhebung war in Europa sehr unterschiedlich gere-
gelt . Die jetzt angedachten 8 Prozent gelten damit euro-
paweit einheitlich .
Nicht in den Anwendungsbereich des Umsetzungsge-
setzes fallen Reiseeinzelleistungen wie die Vermietung
von Ferienhäusern . Die Richtlinie sieht dies auch nicht
vor . Die Einbeziehung von Reiseeinzelleistungen stünde
der angestrebten Rechtsvereinheitlichung entgegen und
könnte im internationalen Wettbewerb zu Nachteilen für
die deutschen Unternehmer führen . Um die deutsche Rei-
sebranche nicht zu benachteiligen, wurde entschieden,
Reiseeinzelleistungen nicht in das Umsetzungsgesetz
aufzunehmen . Für Reisende entsteht jedoch kein rechts-
freier Raum . Auch künftig werden bei Buchung eines Fe-
rienhauses Verträge zwischen den jeweiligen Anbietern
und den Kunden bestehen, sodass im Fall von Mängeln
Gewährleistungsrechte geltend gemacht werden können .
In der EU-Richtlinie ebenfalls nicht vorgesehen ist die
Einbeziehung von Tagesreisen, aus unserer Sicht auch zu
Recht. Tagesreisen haben vorwiegend einen Ausflugscha-
rakter und sind nicht zwingend mit einer wesentlichen
Ortsveränderung verbunden . Es besteht für diese daher
nicht die mit einer Pauschalreise vergleichbare Schutz-
bedürftigkeit der Reisenden . Aus diesem Grund wurden
nur Tagesreisen ab einem Wert von 500 Euro dem Schutz
des Gesetzes unterstellt, weil in dieser Größenordnung
auch eine Gleichwertigkeit mit anderen Reiseprodukten,
die unter die Richtlinie fallen, gegeben ist .
Fragen des Verbraucherschutzes haben einen breiten
Raum in der Debatte eingenommen . Es gibt unbestritten
gute Argumente, einen umfassenderen Verbraucherschutz
festzuschreiben . Auf der anderen Seite würde dies aber
auch ein Mehr an Beratungs- und Informationspflichten
mit sich bringen . Unter Abwägung aller Interessen haben
wir uns für den jetzt gefundenen Weg entschieden und
nicht einseitig nur die Interessen der Reisebranche oder
nur die Interessen der Verbraucher berücksichtigt .
Auf die Reisebüros selbst kommen unbestritten neue
Beratungs- und Dokumentationspflichten zu. Je nachdem
welches Produkt der Reisende kauft, gelten produktbezo-
gene Informationspflichten. Hinzu kommen Schulungs-
kosten für Mitarbeiter . Der Umstellungsaufwand im
Hinblick auf die neuen Formulare und die notwendige
Anpassung von Onlineangeboten ist ebenfalls zu beach-
ten . Allerdings hat das Reisebüro so auch die Möglich-
keit, im Streitfall nachzuweisen, dass der Kunde umfas-
send über seine Rechte informiert worden ist . Insgesamt
bedeutet dies ein Mehr an Rechtssicherheit .
Bei aller berechtigten Kritik an der Richtlinie gibt es
einen entscheidenden Vorteil . Es gelten innerhalb der
Europäischen Union die gleichen Regeln für stationäre
Anbieter wie für Onlineanbieter . Mit der jetzt erfolgten
Umsetzung wird allen Betroffenen ausreichend Zeit ge-
ben, sich rechtzeitig auf die geänderten Bedingungen
ab dem kommenden Jahr einzustellen, und wir werden
genau beobachten, welche Veränderungen mit der neuen
gesetzlichen Regelung einhergehen und diese in die dann
ebenfalls anstehende Evaluierung einbringen .
Kathrin Rösel (CDU/CSU): Wir Deutschen sind ein
reisefreudiges Volk . Die Lust am Verreisen ist nicht nur
ungebrochen, sondern steigt immer mehr . Gern buchen
wir diese Reisen zunehmend im Internet . Das ist bequem,
geht schnell und ist, wenn ich keinen Wert auf eine um-
fassende und qualifizierte Beratung lege, ein guter Weg.
Dieser Markt nimmt rasant zu, und es ist richtig, wenn
hier durch neue rechtliche Regelungen die Nutzer besser
geschützt werden .
Aber es geht eben auch anders . Gerade mein Wahlkreis
in der wunderschönen Lüneburger Heide profitiert von
dem neuen Trend, sich nicht in ein Flugzeug zu setzen,
sondern den Urlaub hier in Deutschland zu verbringen .
Daneben werden auch die Auslandsreisen zunehmend
individuell geplant und aus einzelnen Bausteinen zusam-
mengesetzt . Bei der Planung dieser Urlaubsformen wird
dann nicht das Internet zurate gezogen, sondern man ver-
traut da gern der Kompetenz der Reisebüros oder greift
auf die Dienstleistungen der Tourismusinformationsbü-
ros zurück .
Die Strukturen hier in Deutschland sind – was die
Existenz von unabhängigen mittelständischen Reisebü-
ros betrifft – anders als in den anderen Staaten der Euro-
päischen Union . Daher sind die Verhandlungen über die
Umsetzung der EU-Pauschalreiserichtlinie nicht ganz
einfach gewesen . Zum einen sind unsere individuellen
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724270
(A) (C)
(B) (D)
Gegebenheiten in der Struktur der Reiseanbieter und
-vermittler nicht ausreichend berücksichtigt und zum an-
deren haben wir wegen der Vollharmonisierung in dieser
Richtlinie keinen bzw . nur sehr begrenzten Spielraum,
unsere Interessen in der Umsetzung zu verankern .
Der Union waren bei der Gesetzesformulierung zwei
Dinge wichtig: Zum einen wollten wir die Existenz un-
serer 10 000 mittelständischen Reisebüros und die damit
verbundenen Arbeitsplätze nicht aufs Spiel setzen, und
zum anderen war uns wichtig, dass die Verbraucherinnen
und Verbraucher weiterhin bestmöglich geschützt sind .
Darüber hinaus schätze ich als Abgeordnete eines Wahl-
kreises, in dem der Tourismus eine bedeutende Rolle
spielt, die Arbeit der regionalen Tourismusinformationen
sehr . Auch deren Existenzsicherung ist mir wichtig .
An dem ursprünglichen Gesetzentwurf gab es drei we-
sentliche Kritikpunkte:
Erstens . Wenn ein kleines Reisebüro einem Kunden
eine Reise aus verschiedenen Bausteinen individuell zu-
sammenstellt, sollte der Kunde jeden dieser Bausteine
separat bezahlen, wenn der Vermittler nicht in die Ge-
samthaftung geraten möchte . Da muss man kein Experte
sein, um die Unsinnigkeit dieser Regelung zu erkennen .
Wir haben erreicht, dass wie bisher ein einheitlicher Be-
zahlvorgang möglich ist, wenn nachher auf der Gesamt-
rechnung die Bausteine einzeln aufgeführt sind .
Zweitens . Ursprünglich sollte der bewährte Siche-
rungsschein abgeschafft werden. Er ist im vorliegenden
Gesetz wieder enthalten .
Drittens . Es ist nun auch klar formuliert, wo die Gren-
ze zwischen Vermittlung und In-Kontakt-Bringen liegt .
Ein Tourismusbüro kann also weiterhin einem Kunden
sagen, wo noch freie Hotelkapazitäten sind, ohne gleich
in eine Haftung für die Hotelleistungen zu geraten . Wie
wichtig das ist, haben mir die Gespräche mit Tourismus-
büros gezeigt .
Über diese Punkte hinaus war es uns wichtig, dass wir
die Pauschalreiserichtlinie nicht noch verschärfen . Insbe-
sondere die Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen woll-
ten noch Regelungen in der Richtlinie verankert wissen,
die die Reisebüros mit noch mehr Vorschriften belastet
hätten . Lassen Sie mich dazu sagen, dass Urlauber, die
ein Ferienhaus mieten oder einen Tagesausflug mit dem
Bus unternehmen wollen, sich nicht in einem rechtsfrei-
en Raum bewegen . Auch hier gibt es verbindliche Verträ-
ge . Wozu dann bitte noch zusätzliche Regelungen?
Viele Reisebüros sagen nun, dass die neuen reiserecht-
lichen Regelungen zu wenig die deutschen Strukturen be-
rücksichtigen . Aber: Wir als Union haben dafür gesorgt,
dass wesentliche Vorschriften entschärft wurden . Reise-
büros können diese Regelungen sinnvoll anwenden, und
auch Verbraucher sind weiterhin geschützt . Wir haben
damit das Maximum im Rahmen der vorgeschriebenen
Vollharmonisierung herausgeholt .
Daher bitte ich um Zustimmung zu diesem Gesetz .
Sabine Dittmar (SPD): Bedenkt man den geringen
Spielraum, den eine Vollharmonisierung einer EU-Richt-
linie mit sich bringt, waren unsere Verhandlungen zur
Pauschalreiserichtlinie doch umfangreich und langwie-
rig . Bis wir nun zur heutigen zweiten und dritten Lesung
gelangen konnten, haben wir diesen Spielraum ausführ-
lich ausgelotet .
Trotz einiger notwendiger Kompromisse, die eine Ko-
alition mit sich bringt, ist es uns gelungen, die Richtlinie
so umzusetzen, dass es künftig mehr Verbraucherschutz
für Reisende und faire und europaweit einheitliche Wett-
bewerbsbedingungen im Reisemarkt zwischen Onlinean-
bietern und Reisebüros geben wird .
Erinnern wir uns an die anfängliche Verunsicherung
und die Kritik der Reisebranche, als es daran ging, die
Umsetzung einzuleiten . Verunsicherung und Kritik wa-
ren durchaus sehr gut nachvollziehbar, denn die gewach-
sene Struktur unserer deutschen Reisebürolandschaft
wurde viel zu wenig berücksichtigt . Es fehlte zuallererst
eine eindeutige Definition des Pauschalreisebegriffs, und
kleine und mittelständische Reisebürobetreiber befürch-
teten zu Recht, dass sie künftig keine einzelnen Rei-
seleistungen mehr vermitteln könnten, ohne automatisch
oder versehentlich in die Veranstalterhaftung mit allen
rechtlichen Konsequenzen zu geraten . Hier konnte für
Abhilfe gesorgt werden, auch wenn es einen gewissen
Mehraufwand für Reisebüros bedeutet .
Für Herrn Staudinger, den Präsidenten der Deutschen
Gesellschaft für Reiserecht, hält sich der künftige finan-
zielle und bürokratische Aufwand der Reisebüros aber in
Grenzen. Er sieht in den Informationspflichten und For-
mularen auch die Absicherung für die Reisebüros, ein-
fach den Nachweis führen zu können, dass dem Kunden
die rechtlichen Konsequenzen genau aufgezeigt wurden .
Ein bürokratischer Mehraufwand für Vertrieb und
Kunden, den wir hingegen auf keinen Fall so akzeptie-
ren konnten, war die ursprünglich vorgesehene Regelung
der Bezahlung . Jede einzeln gebuchte Reiseleistung hätte
demnach auch einzeln bezahlt werden müssen . Andern-
falls hätte man als Reisebüro eine Pauschalreise mit ent-
sprechender Veranstalterhaftung verkauft . Hier wurde
auf Betreiben der SPD-Fraktion das Ministerium noch-
mals in Brüssel aktiv – und zwar erfolgreich . Allein das
gemeinsame Bezahlen einzeln gebuchter Reiseleistun-
gen begründet künftig noch keine Pauschalreise .
Hier eine Lösung zu finden, war uns wirklich beson-
ders wichtig; denn natürlich schätzen und unterstützen
wir als Sozialdemokraten kleine Reisebüros . Schließlich
wird hier verbraucherfreundlich individuell und kompe-
tent beraten .
Mit viel Überzeugungsarbeit ist es uns gelungen,
zugunsten der Verbraucherinnen und Verbraucher
durchzusetzen, dass auch Tagesreisen ab einem Wert
von 500 Euro unter das Pauschalreiserecht fallen . Ich
selbst hätte zwar einen niedrigeren Wert, etwa 75 oder
150 Euro, begrüßt . Aber in Anbetracht der Tatsache, dass
Tagesreisen im ursprünglichen Kabinettsentwurf über-
haupt nicht mehr enthalten waren, erscheint mir der nun
erreichte Kompromiss für vertretbar . So sind Verbrau-
cherinnen und Verbraucher zumindest bei teuren Tages-
reisen bei Ausfall oder Insolvenz des Veranstalters besser
abgesichert und haben Erstattungsansprüche .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24271
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(B) (D)
Leider ist es und nicht gelungen, aus bisheriger Recht-
sprechung zu Reiseeinzelleistungen eine gesetzliche
Regelung zu formulieren . Ich hätte es begrüßt, eine Re-
gelung zur analogen Anwendbarkeit des Pauschalreise-
rechts auf veranstaltermäßig vertriebene Reiseeinzelleis-
tungen – wie etwa Ferienhäuser – in der Richtlinie zu
haben . Diese Regelung kommt leider nicht, obwohl sie
eine sinnvolle Stärkung des Verbraucherschutzes darge-
stellt hätte .
Immerhin konnten wir aber erreichen, dass die Bun-
desregierung gebeten wird, die Marktentwicklung betref-
fend veranstaltermäßig vertriebener Reiseeinzelleistun-
gen ab Geltung der neuen Regelungen zu beobachten,
um etwaige Missstände aufzudecken, sowie hierüber
innerhalb des Zeitraums von zwei Jahren zu berichten .
Wir bitten die Bundesregierung außerdem, gegenüber
den Reiseunternehmen weiter dafür zu werben, dass die-
se eine brancheneigene Verbraucherschlichtungsstelle
einrichten .
Dies sind zwei richtige Schritte Richtung eines ver-
besserten Verbraucherschutzes .
Erlauben Sie mir abschließend noch wenige Sät-
ze zum vereinzelt gehörten Vorwurf, wir würden diese
Richtlinie nun übereilt durchs Parlament peitschen . Wer
kann so etwas nach 17 Monaten Bearbeitungs- und Ver-
handlungszeit guten Gewissens behaupten? Wir haben
uns in Workshops, Gesprächen und Anhörungen im Ver-
braucherschutz- und Petitionsausschuss mit den Verbän-
den intensiv mit der Umsetzung der EU-Pauschalreise-
richtlinie befasst und haben auch innerhalb der Koalition
intensiv verhandelt .
Ich bleibe dabei: Nun liegt ein Gesetz vor, das im
Rahmen des Harmonisierungsspielraums dieser Richt-
linie sowohl für die Tourismusbranche als auch für die
Verbraucherinnen und Verbraucher Verbesserungen mit
sich bringt und dem man zustimmen kann .
Elvira Drobinski-Weiß (SPD): Die Umsetzung der
EU-Richtlinie über Pauschal- und Bausteinreisen in na-
tionales Recht wird bis heute sehr emotional und kon-
trovers diskutiert . Unter dem Motto „Überführung des
Pauschalreiserechts ins digitale Zeitalter“ ist die EU an-
getreten, das Reiserecht transparent und EU-einheitlich
zu regeln . Viele Anpassungen waren tatsächlich dringend
notwendig .
Und ja: Es sind einige Verbesserungen für die Verbrau-
cher in der Richtlinie vorgesehen . Ich denke da zum Bei-
spiel an die Verlängerung des Gewährleistungszeitraums
oder an die neu eingeführte Kategorie der verbundenen
Reiseleistungen . Aber leider enthält die EU-Richtlinie
auch wesentliche Verschlechterungen, und zwar: Der
Reiseveranstalter kann die Reise bis zum Reiseantritt än-
dern; der Reiseveranstalter kann einseitig Preiserhöhun-
gen bis 8 Prozent des Reisepreises vornehmen – vorher
5 Prozent –, und Preiserhöhungen können noch 20 Tage
vor Reiseantritt erfolgen .
Diese Regelungen senken signifikant das bestehende
Verbraucherschutzniveau; aber die teilweise erhobene
Forderung, die EU-Richtlinie zu ändern bzw . nicht um-
zusetzen, war und ist völlig unmöglich, auch wenn der
Abgeordnete Christian Freiherr von Stetten und Marija
Linnhoff vom Verband unabhängiger selbstständiger
Reisebüros bis heute versuchen, den Eindruck zu erwe-
cken, wir könnten die Umsetzung verhindern . Diese eben
genannten tatsächlichen Verschlechterungen für Verbrau-
cher stehen aufgrund der Vollharmonisierung nicht zur
Diskussion .
Tatsächlich aber hätten wir an anderen Stellen noch
sehr viel mehr für die Verbraucher erreichen können .
Stichworte sind: Tagesreisen, Einzelleistungen – Bu-
chung von Ferienhäusern – oder gar die Aufnahme des
Passus, dass Werbeaussagen und Prospektinformationen
tatsächlich bei Buchung Vertragsbestandteil sein müssen,
und, und, und .
Leider gab es hier überhaupt keine Unterstützung
seitens der CDU/CSU-Fraktion – nicht ansatzweise von
den Abgeordneten oder gar von Frau Linnhoff und ih-
rem Verband, keine eigenen Anträge, Vorschläge etc ., um
Verbraucher bei der Durchsetzung ihrer Rechte zu unter-
stützen . Lediglich zu einer Protokollnotiz „Evaluierung
in zwei Jahren“ war die CDU/CSU bereit . Wirkliches
Engagement für Verbraucher sieht anders aus .
Nach langen, zähen Verhandlungen auf verschiede-
nen Ebenen konnte sich die SPD am Ende durchsetzen,
wenigstens hochwertige Tagesreisen über 500 Euro doch
ins Gesetz aufzunehmen . Wir wissen, dass dies ein Trop-
fen auf den heißen Stein ist und die meisten Tagesreisen
nie in den Genuss dieses Schutzes gelangen. Hier hoffe
ich nun wirklich, dass die Evaluierung in zwei Jahren zu
einer Änderung führt und auch weniger wertige Reisen
wieder unter Schutz gestellt werden .
Ganz anders diskutiert wurde das Problem „Bezahlen
von Reiseleistungen, die getrennt ausgewählt werden“,
also wo sich der Kunde auch getrennt zur Zahlung jeder
einzelnen Reiseleistung verpflichtet hat. Die Forderun-
gen der Reisebranche, diese verschiedenen Leistungen
am Ende mit einem Zahlungsvorgang abwickeln zu kön-
nen und dennoch nicht in den Status „verbundene Rei-
seleistung“ oder „Pauschalreise“ zu fallen, haben wir
fraktionsübergreifend geteilt .
Wir sind froh, dass nach intensiven Bemühungen des
Bundesministeriums für Recht und Verbraucherschutz
nach mehreren Gesprächsrunden jetzt eine europarecht-
lich sehr wahrscheinlich tragfähige und gleichzeitig für
die Reisebüros und Verbraucherinnen und Verbraucher
praktikable Lösung erzielt wurde . Dass die gefundene
Lösung einen etwas größeren bürokratischen Aufwand
in den Reisebüros nach sich zieht und Schulungen für
Mitarbeiter vielleicht nötig sind, sehe ich auch . Aber die
Schulungskosten sind in der Regel gut investiert und nur
einmalig; die Formulare und Informationsblätter erlau-
ben es dem Reisebüro, in einem eventuellen Gerichts-
verfahren den Nachweis zu führen, den Kunden richtig
informiert zu haben .
Dem vorliegenden Kompromiss stimmen wir zu . Die
Aufnahme der Einzelleistungen und die Senkung der
Tagesreisenpauschale werden wir in der nächsten Wahl-
periode wieder einfordern .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724272
(A) (C)
(B) (D)
Karin Binder (DIE LINKE): Der Gesetzentwurf von
Union und SPD zum Reiserecht ist eine eindeutige Ab-
sage an den Verbraucherschutz . Im Gegenteil, das Gesetz
ist die Einladung zur Abzocke von Urlaubern:
Reiseveranstalter haben künftig noch weitergehende
Rechte, einseitig den mit Ihnen abgeschlossenen Reise-
vertrag noch kurz vor Reiseantritt zu ändern . Der Rei-
severanstalter kann kurzfristig noch eine Preiserhöhung
um bis zu 8 Prozent vornehmen . Bisher waren immerhin
nur 5 Prozent Aufschlag zulässig . Und bisher waren sol-
che Preiserhöhungen innerhalb von vier Monaten nach
Vertragsschluss untersagt . Künftig darf der Veranstalter
Ihnen aber noch zwanzig Tage vor Reiseantritt diese Teu-
erung zumuten .
Die Bundesregierung legt aber noch ein paar Scheite
drauf und verschlechtert den Verbraucherschutz weiter:
Einzelne Reiseleistungen, zum Beispiel die Miete von
Ferienhäusern gewerblicher Anbieter, fallen nicht mehr
unter den Schutz des Pauschalreiserechts, obwohl das
vom Bundesgerichtshof in Urteilen sogar gefordert wur-
de .
Tagesreisen, zum Beispiel Städtereise mit Programm,
werden erst ab einem Reisepreis von 500 Euro vom Pau-
schalreiserecht abgedeckt . Das ist absurd; denn damit ist
der überwiegende Teil aller Tagesreisen aus dem Reise-
rechtsschutz ausgenommen . Das ist Verbraucherschutz
für Bestverdienende . Welcher Rentner, welche Rentnerin
kann sich eine Tagesreise für 500 Euro leisten?
Jedes Jahr werden circa 50 Millionen Tagesreisen in
Deutschland gebucht, vor allem von Rentnerinnen und
Rentnern . Diese werden jetzt der Abzocke von skrupel-
losen Geschäftemachern endgültig ausgeliefert . Die Ver-
braucherzentralen sprechen von einem höchst unseriösen
Markt der sogenannten Kaffeefahrten. Mit diesen kos-
tenlosen oder vermeintlich billigen Werbeverkaufsver-
anstaltungen werden Millionen Menschen mit kleinem
Geldbeutel angelockt, und dann, wenn sie nicht genug
der überteuerten Produkte im Laufe der Fahrt kaufen,
wird ihnen der schöne Teil der Reiseleistung, zum Bei-
spiel die versprochene Besichtigung oder die Bootsfahrt,
verwehrt .
Ein aktuelles Beispiel: Eine Tagesreise mit dem Bus
zur Bundesgartenschau nach Berlin kostet 48 Euro .
Wurde nicht genug Umsatz gemacht, geht’s eben ohne
Besuch der Gartenschau wieder nach Hause . Die Bun-
desregierung macht damit die Abzocke zum gängigen
Geschäftsmodell .
Das Reiserecht muss unbedingt auch die Buchung
einzelner Reiseleistungen schützen . Dieses Verbraucher-
recht wurde auch vom Bundesgerichtshof gefordert und
hat sich in der Praxis seit Jahrzehnten bewährt . Aber
der Schutz der Verbraucher ist ja nicht umsatzsteigernd .
Deshalb hat die EU-Kommission die Lockerung des Ver-
braucherschutzes auf ausdrücklichen Wunsch Deutsch-
lands in die Richtlinie aufgenommen . Die Linke sagt:
Wer die Abzocke von Rentnerinnen und Rentnern oder
Geringverdienern gesetzlich fördert, sollte sich schämen .
Der Gesetzentwurf weist aber noch mehr Defizite im
Verbraucherschutz auf: Die Höchstgrenze der Absiche-
rung gegen die Insolvenz eines Reiseunternehmens ist
mit 110 Millionen Euro viel zu gering . Das sind Werte
von vor 20 Jahren . Wenn der Veranstalter pleitegeht, wer-
den viele Kunden ihre Anzahlung nie wiedersehen .
Wir fordern außerdem mehr Ehrlichkeit . Sachliche
Angaben in der Prospektwerbung oder auf Onlineporta-
len müssen zum Vertragsbestandteil werden . Sonst wer-
den Tricks und Täuschungen Tür und Tor geöffnet. Und:
Es bedarf einer verbraucherfreundlicheren Regelung für
den Fall, dass ich meine Reise an eine andere Person
übertragen möchte . Dafür dürfen höchstens die tatsäch-
lich entstandenen Verwaltungs- und Bearbeitungsgebüh-
ren, also tatsächlich entstandene Kosten, in Rechnung
gestellt werden . Die jetzige unkonkrete Regelung wird
zu einem kundenunfreundlichen Umbuchungswucher
führen .
Es darf nicht sein, dass den Reisenden ständig mehr
Geld aus der Tasche gezogen wird, während die großen
Reiseveranstalter tun und lassen können, was sie wollen .
Auch viele kleine Reisebüros und selbstständige Rei-
seunternehmen kommen nur schwer mit dem neuen Bü-
rokratiemonster klar . Sie müssen für jeden Baustein einer
Reise eigenständige Rechnungen ausstellen . Über jeden
Reisebaustein muss künftig zusätzlich auch einzeln in-
formiert werden .
Gerade kleine Reisebüros und selbstständige Reiseun-
ternehmen werden mit den künftig kurzfristig möglichen
Preiserhöhungen der Reiseveranstalter zu kämpfen ha-
ben . Aus Gründen der Kundenbindung werden sie den
Aufschlag nicht an ihre Kunden weitergeben . Daher be-
lastet diese Verteuerung durch den Veranstalter die Rei-
sebüros empfindlich und bedroht teilweise auch deren
Existenz .
Wichtig wäre stattdessen, dass Verbraucherinnen und
Verbraucher ihre Ansprüche direkt beim Reiseveranstal-
ter geltend machen können, anstatt die kleinen Reisebü-
ros zu belasten .
Mein Fazit: Die Interessen der Verbraucherinnen
und Verbraucher sind der Bundesregierung völlig egal .
Hauptsache, die großen Reiseveranstalter und Touris-
tikkonzerne können ungestört Kasse machen . Die Linke
lehnt den Gesetzendwurf daher ab .
Markus Tressel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ziel
der Novellierung der Pauschalreiserichtlinie war es ja,
eine Gleichbehandlung zwischen stationären Reisebüros
und Onlineportalen sowie ein hohes Verbraucherschutz-
niveau zu erreichen . Es war aber sicherlich nicht Sinn
der Sache, Reisebüros und Tourismusinformationszen-
tren unverhältnismäßig stark zu belasten; aber genau das
ist passiert . Und: Im Gegensatz zum ersten Entwurf ha-
ben wir nun auch noch eine Absenkung des Verbraucher-
schutzniveaus, und das ohne erkennbare Not .
Als vollharmonisierende Richtlinie und der damit ver-
bundenen Eins-zu-eins-Umsetzung in nationales Recht
schafft es die Pauschalreiserichtlinie nicht, auf die Be-
sonderheiten des deutschen Marktes einzugehen . Es ist
der Bundesregierung nicht gelungen, auf Regelungen
hinzuwirken, die die Bedeutung der Reisebüros oder die
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24273
(A) (C)
(B) (D)
Stellung der lokalen Tourismusinformationszentren im
europäischen Gesetzestext ausreichend berücksichtigen .
Auch die betroffenen Verbände haben sich anfangs leider
zu zaghaft in den Prozess eingeschaltet und den Diskurs
mit den politisch Verantwortlichen zu spät gesucht . Das
wird zukünftig sicher besser laufen .
Der vorliegende Gesetzentwurf begünstigt den kon-
zerngebundenen Reisevertrieb . Das fördert Monopole
und ist schlecht für unsere kleinen und mittelständischen
Reisebüros sowie die Verbraucherinnen und Verbraucher .
Eine solche Entwicklung lehnen wir entschieden ab .
Wie stellt sich die konkrete Situation für den deutschen
Reisemarkt im Rahmen der Gesetzesnovelle dar? Reise-
büros sind die Gekniffenen und treffen auf mehr Büro-
kratie, da bei der Buchung vor Ort nun zusätzlich – je
nach Situation – sieben verschieden Informationsblätter
ausgefüllt werden müssen. Auch treffen Anbieter verbun-
dener Reiseleistungen unter Umständen Insolvenzsiche-
rungspflichten, was bedeutet, dass sie einen nicht un-
wesentlichen Teil ihres Umsatzes in eine Versicherung
investieren müssen . Das kann ein rentables Wirtschaften
gerade für kleine Reisebüros erschweren . Da macht es
natürlich einen Unterschied, ob ich ein familiengeführtes
Unternehmen habe oder ob ein Konzern dahintersteht .
Ein kleiner Teil der Bürokratie wurde ja doch noch
mit Brüssel herausverhandelt, sodass wenigstens ein
einheitlicher Bezahlvorgang bei der Buchung einzelner
Reiseleistungen nun zumindest auf dem Papier möglich
ist . Wir begrüßen das . Allerdings geben wir zu bedenken,
dass die getroffenen Vereinbarungen nicht zu rechtsver-
bindlichen Vorgaben oder Auslegungshilfen vor Gericht
führen und eine Entscheidung darüber letztlich nur vom
Gerichtshof der Europäischen Union getroffen werden
kann .
Wenn man in Brüssel keine Aufhebung der Richtli-
nie beantragen will, muss man die genannten kritischen
Punkte umsetzen . Das ist mehr als bedauerlich . Aber wir
müssen laufend ein Auge auf die Auswirkungen der Ge-
setzesnovelle haben, um den Reisemarkt in Deutschland
und besonders kleine und mittelständische Unternehmen
durch rechtzeitiges Gegensteuern vor Schaden zu bewah-
ren . Dies ist besonders wichtig, da Strukturen verloren
zu gehen drohen, die, einmal abgerissen, nicht so schnell
wieder aufgebaut werden können . Eine frühestmögliche
Evaluierung auf nationaler und europäischer Ebene ist
Pflicht.
Neben Punkten, die wir als Gesetzgeber nicht ändern
können, gibt es aber auch jene, auf die wir sehr wohl Ein-
fluss haben und auf die die Kolleginnen und Kollegen der
CDU/CSU und SPD ohne Not zulasten der Verbrauche-
rinnen und Verbraucher Einfluss genommen haben. Wenn
es nach ihnen geht, sollen die strengeren, für Verbrauche-
rinnen und Verbraucher günstigen Haftungsregeln des
Pauschalreiserechts weder für Reiseeinzelleistungen wie
Ferienhäuser noch für Tagesreisen unter 500 Euro gelten .
Sie senken mit ihrem Gesetzentwurf den Verbraucher-
schutz deutlich unter den heute geltenden gesetzlichen
Standard. Das ist eine signifikante Verschlechterung, und
zwar – ich sage es noch mal – ohne Not . Das wirkt ein
Stück weit wie eine Placebo-Änderung, um die Betroffe-
nen zu vertrösten bzw . milde zu stimmen .
Mit unserem Antrag, der auch heute abzustimmen
ist, lade ich dazu ein, diesen Fehler zu korrigieren . Die
Bürgerinnen und Bürger werden es danken . Wenn es den
Kolleginnen und Kollegen der SPD um die Sache geht,
haben wir zusammen mit der Linken eine Mehrheit, um
den Verbraucherschutz zu stärken .
Das von der Bundesregierung so vorgeschlagene Ge-
setz lehnen wir ab .
Anlage 26
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Axel E. Fischer (Karlsru-
he-Land) und Olav Gutting (beide CDU/CSU) zu
der Abstimmung über den von der Bundesregie-
rung eingebrachten Entwurf eines Dritten Geset-
zes zur Änderung reiserechtlicher Vorschriften
(Tagesordnungspunkt 31)
Im Rahmen der Abstimmung am 1 . Juni 2017 werden
wir dem von der Bundesregierung vorgelegten Gesetz
zur Umsetzung der EU-Pauschalreiserichtlinie in natio-
nales Recht nicht zustimmen .
Wir befürchten, dass diese Richtlinie bei falscher
Ausrichtung über kurz oder lang zum Todesurteil für in
deutschsprachigen Ländern der EU verbreitete, mittel-
ständisch geführte Reisebüros werden kann . Trotz der
Warnungen aus Politik und Wirtschaft wurde auf der
EU-Ebene eine Richtlinie verabschiedet, die weder dem
Verbraucherschutz noch den wirtschaftlichen Interessen
der mittelständischen deutschen Wirtschaft Rechnung
trägt .
Aufgrund der Entscheidung zur Vollharmonisierung
dieser EU-Richtlinie war es auf nationaler Ebene fast un-
möglich, parlamentarisch für den deutschen Verbraucher
und den deutschen Mittelstand noch etwas ins Positive
zu lenken . Da die Richtlinie also juristisch weitgehend
ausgereizt war, argumentieren die Bundesregierung und
viele Politiker, man könne diese Richtlinie nun national
umsetzen .
An dieser Stelle widersprechen wir in aller Form und
wollen Ihnen drei Gründe nennen, warum wir nicht zu-
stimmen können:
Erstens. Schon bei der öffentlichen Anhörung im Aus-
schuss für Recht und Verbraucherschutz wurde klar, dass
die touristische Großindustrie mit eigener Direktver-
marktung durch die Haftungsproblematik bei den klei-
nen und mittelständischen Reisemittlern auf eine deutli-
che Verschlankung der Vertriebslinie und damit deutliche
Gewinnsteigerungen hoffen kann. In Gesprächen mit
ehemaligen Spitzenvertretern der Tourismusbranche
wurde uns glaubhaft versichert, dass der ehemaligen
Vizepräsidentin der Europäischen Kommission Viviane
Reding bereits die Zusage zu einer Gesamtrücknahme
der EU-Pauschalreiserichtlinie aus dem laufenden Ge-
setzgebungsprozess entlockt wurde . Es war der Druck
von Unternehmen, die ihren Stammsitz in Großbritanni-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724274
(A) (C)
(B) (D)
en haben, die dann die Rücknahmeabsichten der Kom-
missarin verstummen ließen . Heute, einige Jahre später,
stehen die damaligen Unternehmensleitungen an der
Spitze der beiden Branchenverbände und beraten die Po-
litik auf Bundes- und Europaebene . Auch die Tatsache,
dass die Branchenverbände schon Wochen und Monate
vor den Fachpolitikern über Formulierungsvorschläge
aus der EU-Kommission in Brüssel und aus den Bundes-
ministerien verfügten, legt nahe, dass das ganze Gesetz
industrie- und lobbynah entstanden ist . Etwaige Parteizu-
gehörigkeiten und enge Parteikontakte sind hier unseres
Erachtens kein Zufall . Zusätzlich haben große Teile die-
ser Tourismusindustrie bereits einen Haupt- bzw . Verwal-
tungssitz in Großbritannien . Mit diesem Gesetz machen
wir also hier Industriepolitik für ein Land, das die Euro-
päische Union verlassen will .
Zweitens . In den intensiv geführten Nachverhandlun-
gen der Bundesregierung mit der EU konnte nach unserer
Einschätzung trotzdem keine volle Rechtssicherheit für
die deutsche Reisebürobranche bei den Fragen Veranstal-
terhaftung und getrennte Bezahlvorgänge erreicht wer-
den . Die vorgelegten juristischen Formelkompromisse
sind unseres Erachtens nur weiße Salbe zur Beruhigung
des Mittelstands . Ob und inwieweit diese angeblichen
Verbesserungen gegenüber der Richtlinie einer rechtli-
chen Überprüfung durch die Gerichte standhalten wer-
den, wurde von Rechtsexperten bereits bei der Anhörung
stark in Zweifel gezogen . Damit ist die Reisebürobranche
mit etwa 10 000 Büros in Teilen existenziell gefährdet .
Drittens . Wir sind große Freunde der Europäischen
Union, aber auf der EU-Ebene werden zunehmend
Gesetze beschlossen, die vermeintlich dem Verbrau-
cherschutz dienen, und am Ende werden die Verbrau-
cherschutzrechte unserer Bürger durch den Zwang zur
Vollharmonisierung und unsere selbstverursachten Feh-
ler vehement beschnitten . In Zukunft werden Preisnach-
schläge von den Reiseveranstaltern von bis zu 8 Prozent
bis 20 Tage vor Reiseantritt möglich . Mehr als 30 Jahre
konnten sich deutsche Urlauber nach einer Rechtspre-
chung des Bundesgerichtshofes auf den Schutz gegen
Zahlungsausfälle und Reisemängel bei der Anmietung
von Ferienwohnungen und Ferienhäusern verlassen . Die
Bundesregierung wird diesen Schutz mit diesem Gesetz
abbauen . Und Tagesreisen fallen in Zukunft nur noch un-
ter den Schutz des Reiserechts bei einem Reisepreis ab
500 Euro . Der Verbraucherzentrale Bundesverband e . V .
schreibt am 11 . Mai diesen Jahres auf seiner Internetseite
deshalb: „Der vzbv tritt zwar nicht für eine grundsätz-
liche Aufhebung und Neuverhandlung der Pauschalrei-
serichtlinie ein . Sollte der deutsche Gesetzgeber aber
weiter daran festhalten, dass Tagesreisen bis zu einem
Preis von 500,00 Euro und Ferienhäuser aus dem Rei-
serechtsschutz fallen, sieht das anders aus . Dann bringt
das neue Reiserecht den deutschen Verbraucherinnen und
Verbrauchern an dieser Stelle keinen Mehrwert und man
kann in der Tat darüber nachdenken, die Richtlinie in
Brüssel neu zu verhandeln“ . Eine Forderung, die wir aus
den oben genannten Gründen seit Sommer letzten Jahres
offen vertreten haben.
Zusammenfassend kann man unseres Erachtens sa-
gen: Mit diesem Gesetz wird ein wirtschaftlich intakter
Marktteilnehmer, wie das deutsche Reisebüro, existen-
ziell gefährdet, die touristische Großindustrie gestärkt
und der Verbraucherschutz signifikant herabgesetzt. Das
Gesetz ist praxisfremd und wird die Zweifel der Men-
schen an der EU und der Politik insgesamt befeuern . An
solchen Gesetzen wollen und werden wir uns nicht mehr
beteiligen .
Anlage 27
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Gabriele Hiller-Ohm und
Michael Roth (Heringen)1 (beide SPD) zu der
Abstimmung über den von der Bundesregie-
rung eingebrachten Entwurf eines Dritten Geset-
zes zur Änderung reiserechtlicher Vorschriften
(Tagesordnungspunkt 31)
Der Deutsche Bundestag stimmt heute über die Um-
setzung der EU-Pauschalreiserichtlinie in deutsches
Recht ab . Ich bedauere, dass dieses wichtige Gesetz an-
gesichts der Fülle von Tagesordnungspunkten nicht zu
einer öffentlichkeitswirksameren Zeit im Plenum debat-
tiert werden kann .
Die EU-Pauschalreiserichtlinie, die zwingend um-
zusetzen ist, verlangt eine Vollharmonisierung durch
die EU-Mitgliedstaaten . Die Koalitionsfraktionen ha-
ben sich nach intensiven Beratungen mit der Branche
und Verbraucherschutzverbänden gemeinsam auf den
vorliegenden Gesetzentwurf in geänderter Fassung ver-
ständigt . Angesichts des geringen Spielraums für Verän-
derungen haben die parlamentarischen Beratungen ein
ausgewogenes Gesetz erbracht, das die Interessen der
Reisebranche sowie der Verbraucherinnen und Verbrau-
cher berücksichtigt . In den Beratungen der zuständigen
Fachausschüsse wurde ein breiter Konsens – teils über
die Koalitionsfraktionen hinaus – erreicht .
Da mehrere Reiseleistungen nun dank der Änderun-
gen am ursprünglichen Gesetzentwurf gemeinsam be-
zahlt werden können, ist den deutschen Reisebüros de-
ren ursprünglich durchaus berechtigte Sorge genommen,
durch einen einheitlichen Zahlvorgang zum haftenden
Reiseanbieter zu werden . Die Dachverbände der Tou-
rismuswirtschaft sprechen deshalb zu Recht von einem
Erfolg für die Reisebüros .
Das Gesetz bringt auch für Verbraucherinnen und
Verbraucher Vorteile: Künftig kann der Reiseveranstal-
ter eine Erhöhung des Reisepreises nur bei wenigen und
im Gesetz ausdrücklich benannten Kostenpositionen
wie Benzinkosten oder Hafengebühren verlangen . Diese
müssen ausdrücklich nachgewiesen werden . Diese Kos-
tenpositionen sind einfach nachprüfbar . Wenn die Kosten
sinken, können Reisende nun sogar eine Erstattung ver-
langen . Die Gewährleistungsfrist wird von einem Monat
auf 24 Monate verlängert .
Darüber hinaus profitieren Verbraucherinnen und Ver-
braucher davon, dass eine völlig neue Reisekategorie
1) Siehe Berichtigung, 239 . Sitzung, Seite 24462 D
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24275
(A) (C)
(B) (D)
der sogenannten verbundenen Reiseleistungen erstmalig
geregelt wird . Wer früher eine Reise im Reisebüro oder
online individuell zusammenstellte, war nicht vom Rei-
serecht geschützt – jetzt schon .
Im ursprünglichen Gesetzentwurf standen Tagesreisen
nicht mehr unter dem gleichen Insolvenzschutz wie Pau-
schalreisen . Wir konnten in den parlamentarischen Bera-
tungen zumindest erreichen, dass hochwertige Tagesrei-
sen ab 500 Euro wieder Insolvenzschutz genießen . Leider
haben CDU und CSU sich der Aufnahme von Tagesrei-
sen bereits ab einem deutlich geringeren Wert, wie von
der SPD gefordert, verweigert . Auch die SPD-Forderung
nach der Einbeziehung von Ferienhäusern in das Reise-
recht, wie es in Deutschland seit langem praktiziert wird,
hat die Union kategorisch abgelehnt .
Dennoch gebe ich dem Gesetzentwurf in der Gesamt-
abwägung meine Zustimmung .
Anlage 28
Erklärungen nach § 31 GO
zu der Abstimmung über den von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurf eines Dritten Ge-
setzes zur Änderung reiserechtlicher Vorschriften
(Tagesordnungspunkt 31)
Klaus Brähmig (CDU/CSU): Im Rahmen der Ab-
stimmung am 1 . Juni 2017 werde ich dem von der Bun-
desregierung vorgelegten Gesetz zur Umsetzung der
EU-Pauschalreiserichtlinie in nationales Recht nicht zu-
stimmen .
Persönlich habe ich schon 2015 davor gewarnt, dass
diese Richtlinie bei falscher Ausrichtung über kurz oder
lang zum Todesurteil für das in deutschsprachigen Län-
dern der EU verbreitete mittelständisch geführte Reise-
büro werden kann . Trotz der Warnungen aus Politik und
Wirtschaft wurde dann auf der EU-Ebene eine Richtlinie
verabschiedet, die weder dem Verbraucherschutz noch
den wirtschaftlichen Interessen der mittelständischen
deutschen Wirtschaft Rechnung trägt .
Aufgrund der Entscheidung zur Vollharmonisierung
dieser EU-Richtlinie war es uns als Fachpolitikern aus
den Bereichen Recht und Verbraucherschutz, Tourismus
und Wirtschaft auf nationaler Ebene damit fast unmög-
lich, für den deutschen Verbraucher und den deutschen
Mittelstand noch etwas ins Positive zu lenken . Da die
Richtlinie also juristisch weitgehend ausgereizt war, ar-
gumentieren die Bundesregierung und viele Politiker,
man könne diese Richtlinie nun national umsetzen .
An dieser Stelle widerspreche ich in aller Form und
will Ihnen drei Gründe nennen, warum ich nicht zustim-
men kann:
1. Schon bei der öffentlichen Anhörung im Ausschuss
für Recht und Verbraucherschutz wurde klar, dass
die touristische Großindustrie mit eigener Direkt-
vermarktung durch die Haftungsproblematik bei den
kleinen und mittelständischen Reisemittlern auf eine
deutliche Verschlankung der Vertriebslinie und damit
deutliche Gewinnsteigerungen hoffen kann. In Ge-
sprächen mit ehemaligen Spitzenvertretern der Tou-
rismusbranche wurde mir glaubhaft versichert, dass
der ehemaligen Vizepräsidentin der Europäischen
Kommission Viviane Reding bereits die Zusage zu
einer Gesamtrücknahme der EU-Pauschalreiserichtli-
nie aus dem laufenden Gesetzgebungsprozess entlockt
wurde . Es war der Druck von Unternehmen, die ih-
ren Stammsitz in Großbritannien haben, die dann die
Rücknahmeabsichten der Kommissarin verstummen
ließen . Heute, einige Jahre später, stehen die damali-
gen Unternehmensleitungen an der Spitze der beiden
Branchenverbände und beraten die Politik auf Bun-
des- und Europaebene . Auch die Tatsache, dass die
Branchenverbände schon Wochen und Monate vor den
Fachpolitikern über Formulierungsvorschläge aus der
EU-Kommission in Brüssel und aus den Bundesmi-
nisterien verfügten, legt nahe, dass das ganze Gesetz
industrie- und lobbynah entstanden ist . Etwaige Par-
teizugehörigkeiten und enge Parteikontakte sind hier
meines Erachtens kein Zufall . Zusätzlich haben große
Teile dieser Tourismusindustrie bereits einen Haupt-
bzw . Verwaltungssitz in Großbritannien . Mit diesem
Gesetz machen wir also hier Industriepolitik für ein
Land, das die Europäische Union verlassen will .
2 . In den intensiv geführten Nachverhandlungen der
Bundesregierung mit der EU konnte nach meiner Ein-
schätzung trotzdem keine volle Rechtssicherheit für
die deutsche Reisebürobranche bei den Fragen Veran-
stalterhaftung und getrennte Bezahlvorgänge erreicht
werden . Die vorgelegten juristischen Formelkom-
promisse sind meines Erachtens nur weiße Salbe zur
Beruhigung des Mittelstands . Ob und inwieweit diese
angeblichen Verbesserungen gegenüber der Richtli-
nie einer rechtlichen Überprüfung durch die Gerichte
standhalten werden, wurde von Rechtsexperten bereits
bei der Anhörung stark in Zweifel gezogen . Damit ist
die Reisebürobranche mit etwa 10 000 Büros in Teilen
existenziell gefährdet .
3 . Ich bin ein großer Freund der Europäischen Union,
aber auf der EU-Ebene werden zunehmend Gesetze
beschlossen, die vermeintlich dem Verbraucherschutz
dienen, und am Ende werden die Verbraucherschutz-
rechte unserer Bürger durch den Zwang zur Vollhar-
monisierung und unsere selbstverursachten Fehler
vehement beschnitten . In Zukunft werden Preisnach-
schläge von den Reiseveranstaltern von bis zu 8 Pro-
zent bis 20 Tage vor Reiseantritt möglich . Mehr als 30
Jahre konnten sich deutsche Urlauber nach einer
Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes auf den
Schutz gegen Zahlungsausfälle und Reisemängel bei
der Anmietung von Ferienwohnungen und Ferien-
häusern verlassen . Die Bundesregierung wird diesen
Schutz mit diesem Gesetz abbauen . Und Tagesreisen
fallen in Zukunft nur noch unter den Schutz des Reise-
rechts bei einem Reisepreis ab 500 Euro . Der Verbrau-
cherzentrale Bundesverband e . V . schreibt am 11 . Mai
dieses Jahres auf seiner Internetseite deshalb:
Der vzbv tritt zwar nicht für eine grundsätzliche
Aufhebung und Neuverhandlung der Pauschalrei-
serichtlinie ein . Sollte der deutsche Gesetzgeber
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724276
(A) (C)
(B) (D)
aber weiter daran festhalten, dass Tagesreisen bis
zu einem Preis von 500,00 Euro und Ferienhäuser
aus dem Reiserechtsschutz fallen, sieht das anders
aus . Dann bringt das neue Reiserecht den deutschen
Verbraucherinnen und Verbrauchern an dieser Stelle
keinen Mehrwert und man kann in der Tat darüber
nachdenken, die Richtlinie in Brüssel neu zu ver-
handeln .
Eine Forderung, die ich aus den oben genannten Grün-
den seit Sommer letzten Jahres offen vertreten habe.
Zusammenfassend kann man meines Erachtens sagen:
Mit diesem Gesetz wird ein wirtschaftlich intakter Markt-
teilnehmer, wie das deutsche Reisebüro, existenziell ge-
fährdet, die touristische Großindustrie gestärkt und der
Verbraucherschutz signifikant herabgesetzt. Das Gesetz
ist praxisfremd und wird die Zweifel der Menschen an
der EU und der Politik insgesamt befeuern . An solchen
Gesetzen will und werde ich mich nicht mehr beteiligen .
Ronja Kemmer (CDU/CSU): Der Deutsche Bundes-
tag stimmt heute über den Entwurf eines Dritten Geset-
zes zur Änderung reiserechtlicher Vorschriften ab . Die
Verabschiedung dieses Gesetzes erfolgt, da Deutschland
zur Umsetzung der EU-Pauschalreiserichtlinie verpflich-
tet ist .
Ich halte die EU-Pauschalreiserichtlinie für nicht
sachdienlich, da sie weder dem Verbraucherschutz noch
den wirtschaftlichen Interessen der mittelständischen
deutschen Reisewirtschaft Rechnung trägt . Begünstigt
werden durch diese Richtlinie große Reisekonzerne, von
denen viele bereits über einen Haupt- bzw . Verwaltungs-
sitz in Großbritannien verfügen, einem Land, das die Eu-
ropäische Union gerade verlassen will .
Nach meiner Auffassung hat das SPD-geführte Jus-
tizministerium bei den Verhandlungen in Brüssel hier
die Interessen der deutschen Reiseunternehmen nicht
hinreichend vertreten . Einen Beigeschmack hat für
mich hierbei, dass der SPD mit dem SPD-ReiseService
(Einer Marke der FFR Ferien-, Freizeit- und ReiseSer-
vice GmbH, eine 100-Prozent-Tochter der SPD-Holding
DDVG-mbH) ein Reiseveranstalter mit Direktvertrieb
gehört . Reiseveranstalter mit eigenem Direktvertreib
sind aber die prognostizierten Profiteure der Richtlinie.
Ich habe mich daher zusammen mit anderen Kollegen
aus dem Parlamentskreis „Mittelstand“ dafür eingesetzt,
den Entwurf zugunsten der deutschen Reiseindustrie
zu verbessern . Dabei konnten wir weitergehende Zuge-
ständnisse und Änderungen erreichen, als dies in anderen
EU-Ländern der Fall war . Das macht das Gesetz aus mei-
ner Sicht nicht sachdienlich, es stellt aber eine bessere
Umsetzung der EU-Richtlinie dar . Eine Verschiebung
des Gesetzes, für die sich einige Kollegen ausgesprochen
hatten, wurde von der SPD abgelehnt .
Gemeinsam mit anderen Kollegen setze ich mich da-
für ein, dass eine Überarbeitung der EU-Reiserichtlinie
ins Wahlprogramm der CDU aufgenommen wird, als fes-
tes Ziel und Auftrag für die nächste Legislaturperiode .
Wir brauchen eine bessere und fairere EU-Reiserichtli-
nie . Daran führt kein Weg vorbei .
Heute stimme ich trotz entsprechender Bedenken dem
vorliegenden Gesetzentwurf zu und werde mich gleich-
zeitig dafür einsetzen, dass die aus meiner Sicht für die
deutsche Reiseindustrie schlechten Punkte durch eine
Änderung der EU-Reiserichtlinie verbessert werden .
Ingo Wellenreuther (CDU/CSU): Im Rahmen der
Abstimmung am 1 . Juni 2017 werde ich dem von der
Bundesregierung vorgelegten Gesetz zur Umsetzung der
EU-Pauschalreiserichtlinie in nationales Recht nicht zu-
stimmen .
Diese Richtlinie wird bei falscher Ausrichtung über
kurz oder lang zum Todesurteil für in deutschsprachigen
Ländern der EU verbreitete, mittelständisch geführte
Reisebüros werden . Trotz der Warnungen aus Politik und
Wirtschaft wurde auf der EU-Ebene eine Richtlinie ver-
abschiedet, die weder dem Verbraucherschutz noch den
wirtschaftlichen Interessen der mittelständischen deut-
schen Wirtschaft Rechnung trägt .
Aufgrund der Entscheidung zur Vollharmonisierung
dieser EU-Richtlinie war es auf nationaler Ebene fast un-
möglich, parlamentarisch für den deutschen Verbraucher
und den deutschen Mittelstand noch etwas ins Positive
zu lenken . Da die Richtlinie also juristisch weitgehend
ausgereizt war . argumentieren die Bundesregierung und
viele Politiker, man könne diese Richtlinie nun national
umsetzen .
An dieser Stelle widerspreche ich in aller Form und
will Ihnen drei Gründe nennen, warum ich nicht zustim-
men kann:
Erstens. Schon bei der öffentlichen Anhörung im Aus-
schuss für Recht und Verbraucherschutz wurde klar, dass
die touristische Großindustrie mit eigener Direktver-
marktung durch die Haftungsproblematik bei den klei-
nen und mittelständischen Reisemittlern auf eine deutli-
che Verschlankung der Vertriebslinie und damit deutliche
Gewinnsteigerungen hoffen kann. In Gesprächen mit
ehemaligen Spitzenvertretern der Tourismusbranche
wurde mir glaubhaft versichert, dass der ehemaligen
Vizepräsidentin der Europäischen Kommission Viviane
Reding bereits die Zusage zu einer Gesamtrücknahme
der EU-Pauschalreiserichtlinie aus dem laufenden Ge-
setzgebungsprozess entlockt wurde . Es war der Druck
von Unternehmen . die ihren Stammsitz in Großbritanni-
en haben, die dann die Rücknahmeabsichten der Kom-
missarin verstummen ließen . Heute, einige Jahre später,
stehen die damaligen Unternehmensleitungen an der
Spitze der beiden Branchenverbände und beraten die Po-
litik auf Bundes- und Europaebene . Auch die Tatsache,
dass die Branchenverbände schon Wochen und Monate
vor den Fachpolitikern über Formulierungsvorschläge
aus der EU Kommission in Brüssel und aus den Bundes-
ministerien verfügten, legt nahe, dass das ganze Gesetz
industrie- und lobbynah entstanden ist . Etwaige Parteizu-
gehörigkeiten und enge Parteikontakte sind hier meines
Erachtens kein Zufall . Zusätzlich haben große Teile die-
ser Tourismusindustrie bereits einen Haupt- bzw . Verwal-
tungssitz in Großbritannien . Mit diesem Gesetz machen
wir also hier Industriepolitik für ein Land, das die Euro-
päische Union verlassen will .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24277
(A) (C)
(B) (D)
Zweitens . In den intensiv geführten Nachverhandlun-
gen der Bundesregierung mit der EU konnte nach meiner
Einschätzung trotzdem keine volle Rechtssicherheit für
die deutsche Reisebürobranche bei den Fragen Veranstal-
terhaftung und getrennte Bezahlvorgänge erreicht wer-
den . Die vorgelegten juristischen Formelkompromisse
sind meines Erachtens nur weiße Salbe zur Beruhigung
des Mittelstands . Ob und inwieweit diese angeblichen
Verbesserungen gegenüber der Richtlinie einer rechtli-
chen Überprüfung durch die Gerichte standhalten wer-
den, wurde von Rechtsexperten bereits bei der Anhörung
stark in Zweifel gezogen . Damit ist die Reisebürobranche
mit etwa 10 000 Büros in Teilen existenziell gefährdet .
Drittens . Ich bin ein großer Freund der Europäischen
Union, aber auf der EU-Ebene werden zunehmend
Gesetze beschlossen, die vermeintlich dem Verbrau-
cherschutz dienen, und am Ende werden die Verbrau-
cherschutzrechte unserer Bürger durch den Zwang zur
Vollharmonisierung und unsere selbstverursachten Feh-
ler vehement beschnitten . In Zukunft werden Preisnach-
schlage von den Reiseveranstaltern von bis zu 8 Prozent
bis 20 Tage vor Reiseantritt möglich . Mehr als 30 Jahre
konnten sich deutsche Urlauber nach einer Rechtspre-
chung des Bundesgerichtshofes auf den Schutz gegen
Zahlungsausfälle und Reisemängel bei der Anmietung
von Ferienwohnungen und Ferienhäusern verlassen . Die
Bundesregierung wird diesen Schutz mit diesem Gesetz
abbauen . Und Tagesreisen fallen in Zukunft nur noch un-
ter den Schutz des Reiserechts bei einem Reisepreis ab
500 Euro . Der Verbraucherzentrale Bundesverband e . V .
schreibt am 11 . Mai dieses Jahres auf seiner Internetseite
deshalb: „Der vzbv tritt zwar nicht für eine grundsätz-
liche Aufhebung und Neuverhandlung der Pauschalrei-
serichtlinie ein . Sollte der deutsche Gesetzgeber aber
weiter daran festhalten, dass Tagesreisen bis zu einem
Preis von 500,00 Euro und Ferienhäuser aus dem Rei-
serechtsschutz fallen, sieht das anders aus . Dann bringt
das neue Reiserecht den deutschen Verbraucherinnen und
Verbrauchern an dieser Stelle keinen Mehrwert und man
kann in der Tat darüber nachdenken, die Richtlinie in
Brüssel neu zu verhandeln“ . Eine Forderung, die ich aus
den oben genannten Gründen seit Sommer letzten Jahres
offen vertreten habe.
Zusammenfassend kann ich sagen: Mit diesem Gesetz
wird ein wirtschaftlich intakter Marktteilnehmer, wie das
deutsche Reisebüro, existenziell gefährdet, die touristi-
sche Großindustrie gestärkt und der Verbraucherschutz
signifikant herabgesetzt. Das Gesetz ist praxisfremd und
wird die Zweifel der Menschen an der EU und der Politik
insgesamt befeuern . An einem Zustandekommen eines
solchen Gesetzes werde ich mich nicht beteiligen .
Anlage 29
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Finanzausschusses zu der Verord-
nung des Bundesministeriums der Finanzen:
Verordnung zur Bestimmung der technischen
Anforderungen an elektronische Aufzeichnungs-
und Sicherungssysteme im Geschäftsverkehr
(Kassensicherungsverordnung – KassenSichV)
(Tagesordnungspunkt 32)
Uwe Feiler (CDU/CSU): Es ist nicht alltäglich, dass
sich der Deutsche Bundestag die Zustimmung zu einer
Verordnung vorbehält . Im Falle der näheren Ausgestal-
tung der technischen Anforderungen an elektronische
Kassensysteme haben wir bei der Kassensicherungsver-
ordnung aus guten Gründen davon Gebrauch gemacht .
Mit unserer Grundsatzentscheidung vom 22 . Dezem-
ber letzten Jahres haben wir die Voraussetzungen dafür
geschaffen, Umsatzsteuerbetrug wirksam zu bekämpfen
und Manipulationen an digitalen Grundaufzeichnungen
zu unterbinden . Es muss ausgeschlossen sein, dass tech-
nisch findige Nutzer von elektronischen Registrierkassen
zulasten des Fiskus Daten unerkannt löschen oder verän-
dern können .
Die heutige Zustimmung zu dieser Verordnung schaltet
das Gesetz scharf, weil wir die Anforderungen des § 146a
der Abgabenordnung präzisieren und den Finanzbehör-
den die Instrumente an die Hand geben, um das Bundes-
amt für Sicherheit in der Informationstechnik mit der Ent-
wicklung der technischen Standards zu beauftragen .
Dankbar bin ich dem Bundesfinanzministerium, dass
es durch eine Protokollerklärung noch einmal deutlich
gemacht hat, dass einerseits Pfandautomaten nicht zum
Anwendungsbereich der Verordnung gehören, da es sich
bei diesen nicht um Kassensysteme handelt, die auf den
Verkauf von Waren und Dienstleistungen gerichtet sind .
Andererseits hat uns das Bundesfinanzministerium zu-
gesagt, bis Mitte des kommenden Jahres einen Vorschlag
zu unterbreiten in welcher Art und Weise auch andere
betrugsanfällige kassenähnliche Systeme in den Anwen-
dungsbereich der Verordnung mit aufgenommen werden
können . Damit trägt das BMF sowohl dem Wunsch der
Landesfinanzbehörden Rechnung als auch der Forderung
von Verbänden, die für ihre Branchen die Aufnahme in
die Verordnung anstreben .
Im Fokus der Verordnung stehen jedoch zunächst
elektronische oder computergestützte Kassensysteme,
die künftig über eine zertifizierte technische Sicherheits-
einrichtung verfügen müssen . Ebenso stellen wir klar,
dass zum Beispiel Fahrscheinautomaten und -drucker,
Geldautomaten, Geld- und Warenspielsysteme, aber auch
Taxameter und Wegstreckenzähler nicht unter die Ver-
ordnung fallen . Damit erfassen wir Millionen von Ge-
räten; und die Landesfinanzbehörden müssen Millionen
von Datensätzen auswerten . Von daher ist es richtig mit
den Kassen zu beginnen, Erfahrungen zu sammeln und
gegebenenfalls nachzusteuern .
Um Lücken zu schließen bzw . diese bei einer Prü-
fung sofort sichtbar werden zu lassen, muss zukünftig
ab dem ersten Tastendruck jeder aufzeichnungspflichtige
Geschäftsvorfall unmittelbar erfasst und in einer einheit-
lichen Transaktion zusammengeführt werden, die den
Zeitpunkt des Vorgangsbeginns, eine fortlaufende Trans-
aktionsnummer, die Art des Vorgangs, die Daten des
Vorgangs, den Zeitpunkt der Vorgangsbeendigung und
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724278
(A) (C)
(B) (D)
einen Prüfwert enthält . Diese Datensätze erleichtern den
Prüfern die Arbeiten zukünftig enorm, da mithilfe des
Zeitstempels und der fortlaufenden Transaktionsnummer
Geschäftsvorfälle eindeutig identifiziert werden können.
Bei der Festlegung der Zeitquelle ließ sich das Bun-
desfinanzministerium wiederum von dem für meine
Fraktion wichtigen Grundsatz der technologieoffenen
Lösung leiten . Damit können verschiedene technische
Ansätze mitberücksichtigt werden .
Darüber hinaus regelt die Verordnung insbesondere
die Anforderungen an die einheitliche digitale Schnitt-
stelle, die Speichermedien, die technische Sicherheits-
einrichtung, den Beleg und den Zertifizierungsprozess.
Dadurch wird Rechtssicherheit sowohl für die Nutzer
von Kassensystemen als auch die mit der Kassennach-
schau oder der Außenprüfung betrauten Mitarbeiter der
Finanzverwaltung geschaffen.
Wichtig ist mir zu betonen, dass die Verordnung ledig-
lich vorgibt wie die Datensätze aufgebaut sein müssen
und wie die technischen Richtlinien und Schutzprofile
auszugestalten sind . Der Nutzer hat es folglich selbst in
der Hand, von welchem Anbieter er sein System bezieht,
solange es diese Standards erfüllt .
Mit dieser Verordnung schließen wir in dieser Wahl-
periode einen langen Diskussionsprozess über technische
Vorkehrungen ab, um Steuerbetrug mittels Kassensyste-
men zu begegnen . Gleichwohl bin ich mir sicher, dass
wir uns auch nach den Wahlen weiter mit diesem Thema
befassen werden .
Ich bedanke mich bei den Kolleginnen und Kollegen
für die guten Beratungen und beim Bundesfinanzminis-
terium für die stets gute Zusammenarbeit und Unterstüt-
zung .
Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Der Kassen-
betrug in Deutschland richtet Jahr für Jahr einen großen
finanziellen Schaden an, insbesondere für den Fiskus,
also die Gemeinschaft, den Staat . Nach konservativen
Schätzungen des Bundesrechnungshofs (BRH) gehen
dem Staat auf diese Weise 10 Milliarden Euro pro Jahr
verloren . Die Deutsche Steuer-Gewerkschaft und auch
einige Länderfinanzministerien halten auch weit höhe-
re Ausfälle in einer Größenordnung von 50 Milliarden
Euro für realistisch . Da bis zum Dezember 2016 keine
gesetzliche Regelung vorlag, welche die Korrektheit
und Vollständigkeit von Kassendaten sichergestellt hat,
war es notwendig, ein entsprechendes Gesetz zu schaf-
fen . Das wollten CDU und CSU zunächst nicht . Erst
als die Finanzminister der SPD-geführten Länder, vor
allem Norbert Walter-Borjans aus NRW, die Dimension
des Kassenbetrugs in die Öffentlichkeit trugen und so-
mit öffentlichen Druck auf das Bundesfinanzministerium
(BMF) aufbauten, entstand ein Gesetzentwurf .
Dieser Gesetzentwurf enthielt eine Reihe von Schlupf-
löchern, die auch weiterhin Kassenbetrug zugelassen
hätten . Einige davon konnten wir in den Verhandlungen
schließen . Aber die brettharte Blockadehaltung der CDU/
CSU und des Bundesfinanzministeriums hat dafür ge-
sorgt, dass noch immer einige Schlupflöcher verblieben
sind .
Das Gesetz weist einen leeren Anwendungsbereich
auf, weil die Geräte, auf welche die Regelungen Anwen-
dung finden sollen, erst später in der jetzt vorgelegten
Verordnung festgelegt werden und mit INSIKA die ein-
zige schon heute verfügbare technische Lösung für Kas-
sensysteme verhindert wurde .
Auch eine Registrierkassenpflicht war mit der Union
nicht zu machen . Wer nun weiterhin betrügen möchte,
trägt seine Kasse auf den Schrottplatz .
Dennoch haben wir diesem Gesetz zugestimmt, weil
nur so sichergestellt ist, dass überhaupt eine gesetzliche
Regelung existiert . Diese muss nun zwar unbedingt ver-
bessert, aber immerhin nicht neu geschaffen werden.
Darüber hinaus wurde vereinbart, dass dem Gesetz im
Nachgang eine Verordnung folgen soll, welche das Ge-
setz mit Leben füllt und die technischen Anforderungen
an Kassensysteme regelt . Über diese Verordnung stim-
men wir nun im Bundestag ab . Leider hält die Verord-
nung nicht, was das Bundesfinanzministerium verspro-
chen hat . Die technischen Anforderungen werden auch
jetzt nicht klar geregelt . Diese Aufgabe wird nun an das
Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik
(BSI) übertragen .
In den Gesetzesberatungen hat das BMF stets betont,
eine technologieoffene Lösung schaffen zu wollen. Wir
hatten damals schon ernste Zweifel an dieser Absicht,
vor allem weil die gegenwärtig einzig einsetzbare Soft-
ware INSIKA verhindert wurde . Nun sieht die Verord-
nung vor, dass die Kassensysteme eine Zeitquelle zur
Protokollierung des Vorgangs aufweisen müssen . Diese
Anforderung zementiert den Ausschluss der bestehenden
Technologie INSIKA . Damit ist die Verordnung gerade
nicht technologieoffen; denn sie schließt eine bestehende
und erprobte Technologie gezielt aus .
Die Verordnung schließt ebenfalls die Aufnahme von
Taxametern in den Anwendungsbereich des Gesetzes aus .
Dabei handelt es sich hier um eine Branche, in der Kas-
senbetrug vielfach passiert . Im Rahmen der Anhörung
der Sachverständigen haben die Taxiverbände explizit
darum gebeten, die Taxameter mit in den Anwendungs-
bereich dieses Gesetzes einzubeziehen und dem Kassen-
betrug zu begegnen . Denn dieser Steuerbetrug schadet
nicht nur dem Staat, sondern auch einem funktionieren-
den und fairen Wettbewerb . Die guten Erfahrungen der
Länder mit einer Regulierung der Taxameter werden da-
bei schlicht ignoriert . Das macht die Entscheidung erst
Recht unverständlich .
Des Weiteren hat das BMF auf die hohen Kosten und
den technischen Aufwand für die Taxibetreiber verwie-
sen, wenn diese sich erst einen Drucker für ihr Taxi be-
sorgen müssten . Ein solches Gerät ist bereits für unter
200 Euro auf dem Markt erhältlich . Auch dieses Argu-
ment überzeugt nicht .
Das BMF hatte in den Gesetzesberatungen in Aussicht
gestellt, mit der Verordnung „klarstellend“ die Aufnah-
me von kassenähnlichen Systemen in den Anwendungs-
bereich des Gesetzes zu regeln . Die Verordnung schließt
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24279
(A) (C)
(B) (D)
diese Systeme nun ausdrücklich aus . Das ist umso unver-
ständlicher, als eine Mehrzahl der Länder, deren Steuer-
verwaltungen mit ihren Prüfern und Steuerfahndern Tag
für Tag mit Kassenbetrug konfrontiert sind, im Vorfeld
massive Bedenken gegen den Verordnungsentwurf vor-
gebracht haben . Die Länder haben insbesondere den An-
wendungsbereich kritisiert . Das BMF hat das ignoriert .
Warum stimmt eigentlich die SPD-Fraktion einem
solch schlechten, jedenfalls für den Fiskus schlechten
Gesetz zu? Weil schon mit wenigen Änderungen und
Streichungen sowohl der Anwendungsbereich definiert
werden kann als auch der Zeitpunkt des Inkrafttretens –
eine Aufgabe für neue Mehrheiten in der neuen Legisla-
turperiode .
Diese Verordnung ist trotz allem ein erster Schritt, die
Grundvoraussetzung zu schaffen, um die Regelungen
des Kassengesetzes mit Leben zu füllen . Es ist jedoch
erforderlich, dass in einem zweiten Schritt der Anwen-
dungsbereich ausgedehnt wird und zumindest Taxame-
ter Bestandteil der Regelungen werden . Daher stimmen
wir widerwillig dieser Verordnung zu, fordern das BMF
aber zugleich auf, sofort mit den Vorbereitungen für eine
Überarbeitung der Verordnung zu beginnen . Der zweite
Schritt hin zu einer echten technologieoffenen Lösung
soll zeitnah gemacht werden . Das BMF muss dabei auf
die Experten aus den Ländern hören .
Vor diesem Hintergrund begrüßen wir ausdrücklich,
dass das BMF eine Protokollerklärung abgegeben hat,
mit der es sich zur Nachbesserung bis Mitte nächsten
Jahres verpflichtet – in enger Abstimmung mit den Län-
dern . Es ist nicht übertrieben, zu sagen: Unser Druck war
dabei sehr hilfreich. – Ich hoffe, das BMF überwindet die
Verharmlosung von Betrug und nimmt seine Selbstver-
pflichtung ernst.
Bei entsprechenden Mehrheitsverhältnissen werden
wir jedenfalls das Kassengesetz und die Kassensiche-
rungsverordnung möglichst bald auf Wirksamkeit um-
stellen .
Andreas Schwarz (SPD): Wir beschließen heute zu
später Stunde die Kassensicherungsverordnung . Damit
präzisieren wir die Details des Gesetzes zur Bekämpfung
von Steuerhinterziehung durch manipulierte Kassensys-
teme, das wir erst kürzlich nach langem und intensivem
Ringen beschlossen haben .
Der Schaden durch Steuerhinterziehung durch ma-
nipulierte Kassensysteme beträgt jährlich mindestens
10 Milliarden Euro . Manche Experten schätzen sogar
deutlich mehr .
Es ist dem Hohen Hause bekannt, dass wir als
SPD-Bundestagsfraktion schon das eigentliche Gesetz
kritisch sehen . Und auch heute geraten wir nicht in die
Euphorie, die manch anderer über diese Verordnung
glaubt haben zu müssen . Nein, sie hat Mängel . Sie ist
nicht sonderlich konkret. Sie ist nicht sonderlich effektiv.
Sie lässt viele technologische Möglichkeiten vollkom-
men ungenutzt, die bereits am Markt existieren, und sie
ignoriert vorhandene Projekte, die funktionieren .
Immerhin konnten wir Sozialdemokraten erreichen,
dass sich das Bundesfinanzministerium mit einer Proto-
kollerklärung zur zeitnahen Nachbesserung verpflichtet.
Gemeinsam mit den Ländern werden wir nun noch im
ersten Halbjahr 2018 Verbesserungen erreichen .
Diesen Nachbesserungsbedarf sehen wir insbesondere
beim Taxigewerbe . Der Verordnungsentwurf von Bun-
desfinanzminister Wolfgang Schäuble enttäuscht hier auf
ganzer Linie und verfehlt sein Ziel . Wir, die SPD-Bun-
destagsfraktion, die Länder und sogar die beiden großen
Taxiverbände haben bereits bei der Ressortabstimmung
vom Bundesfinanzministerium gefordert, dass der An-
wendungsbereich wenigstens auf Taxameter ausgedehnt
wird . Obwohl Hamburg Steuerbetrug im Taxigewerbe
erfolgreich unterbindet, verhindert das Bundesfinanzmi-
nisterium weiterhin, dieses Modell bundesweit wirksam
einzusetzen .
Nicht zuletzt verhindert die Verordnung auch eine
bereits am Markt vorhandene Lösung: INSIKA . Diese
funktioniert nicht nur sofort, sondern ist zudem auch noch
kostengünstig. Falls durch dieses offenkundig bewusste
Verhindern nun Lösungen am Markt entwickelt werden,
die vermutlich deutlich teurer sein werden als INSIKA,
dann trägt allein Bundesfinanzminister Schäuble dafür
die Verantwortung . Ich bin gespannt, wie die Kollegin-
nen und Kollegen von der Union den Händlern erklären
wollen, dass sie gegen den Willen der SPD eine teurere
und bürokratischere Lösung durchgesetzt haben .
Experten aus den Steuerverwaltungen der Länder
haben außerdem auf zahlreiche technische Mängel hin-
gewiesen . Diese Bedenken wurden vom BMF ignoriert .
Hier wird die Evaluation schnell zeigen, wo es zu Pro-
blemen kommen wird . Diese müssen dann umgehend
behoben werden .
Wir stimmen mit großen Bauchschmerzen der Ver-
ordnung zu . Trotz der benannten Mängel bietet sie die
Möglichkeit, unter anderen Mehrheitsverhältnissen im
Bundestag und in der Hausführung des BMF aus ihr und
dem Gesetz tatsächlich ein wirkungsvolles Instrument
gegen Steuerbetrug zu machen, so wie es sich Minister
Schäuble zumindest in seinen Presseerklärungen immer
wünscht . Wir werden den Ankündigungen des Kollegen
Dr . Schäuble unsere Taten folgen lassen .
Richard Pitterle (DIE LINKE): Um es gleich vor-
wegzunehmen: Diese Verordnung ist nicht nur kein gro-
ßer Wurf, sondern ein schlechter Witz; denn der Rege-
lungsgehalt der Verordnung geht gegen null . Die große
Koalition legt damit wieder einmal den Schluss nahe,
dass ihr der Kampf gegen Steuerbetrug nicht sonderlich
wichtig ist .
Noch einmal zum Hintergrund der Verordnung:
10 Milliarden Euro jährlich gehen dem Fiskus nach
Schätzungen aufgrund von Steuerbetrug durch Kassen-
manipulation verloren . Diese Kassenmanipulation ge-
schieht alltäglich, zum Beispiel in der Gastronomie . Man
zahlt das Essen, der Kellner kassiert, auf der Abrechnung
des Lokals für das Finanzamt taucht die Flasche Wein
dann aber plötzlich nicht mehr auf . Das ist ganz einfach,
es gibt sogar extra Software, die die in die Registrierkasse
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eingegebenen Umsätze frisiert und nach unten schraubt .
Wer gar keine Registrierkasse hat, kann letztlich sowieso
angeben, was er will .
Vor einem halben Jahr hat der Bundestag deswegen
das sogenannte Gesetz zum Schutz vor Manipulationen
an digitalen Grundaufzeichnungen beschlossen . Auf Be-
treiben der großen Koalition war das Gesetz leider kein
großer Wurf . Gute Ansätze waren zwar vorhanden . Wir
Linke haben da aber bereits die Schlupflöcher im Gesetz
bemängelt; denn leider fehlt eine grundsätzliche Regis-
trierkassenpflicht, und auch die Belegausgabepflicht
kann umgangen werden .
Auch hat die große Koalition damals darauf verzich-
tet, das INSIKA-Verfahren in das Gesetz zu übernehmen .
Mit INSIKA hätte aber eigentlich ein fertiges, bewährtes
technisches Konzept zur Umsetzung des Schutzes vor
Kassenmanipulationen bestanden . Stattdessen wurde das
Gesetz laut großer Koalition technologieoffen gestaltet.
„Technologiefern“ hätte es besser getroffen.
Die jetzige Verordnung sollte diese Lücke eigentlich
schließen und die Anforderungen an die technische Um-
setzung des Schutzes vor Kassenmanipulation festlegen .
Weil diese Frage der technischen Umsetzung von großer
Bedeutung ist, wurde im vorausgegangenen Gesetz auch
extra geregelt, dass die jetzige Verordnung der Zustim-
mung des Bundestages bedarf . Es wurde sogar explizit
in den § 146a der Abgabenordnung geschrieben, dass die
Verordnung unter anderem die Anforderungen an das Si-
cherheitsmodul, das Speichermedium und die einheitli-
che digitale Schnittstelle enthalten soll .
Schaut man nun in die Verordnung, fällt sogleich auf,
dass sie sehr dünn geraten ist . Der eigentliche Rege-
lungstext umfasst gerade einmal drei Seiten . Noch dazu
wurde vieles einfach aus dem vorausgegangenen Gesetz
kopiert und wiederholt . Wenn man nun die eben erwähn-
ten Anforderungen an das Sicherheitsmodul, das Spei-
chermedium und die einheitliche digitale Schnittstelle
sucht, so findet sich in § 5 der Verordnung Folgendes:
Die Festlegung dieser Anforderungen ist einfach an das
Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik
und das Bundesfinanzministerium weitergegeben wor-
den . Damit wird die Verordnung wirklich ad absurdum
geführt . Wenn wir als Bundestag vorher festlegen, was
diese Verordnung zu enthalten hat, dann muss sich das
Bundesfinanzministerium auch danach richten, ob es
Herrn Schäuble passt oder nicht .
Wenn wir uns als Bundestag ernst nehmen, dann kön-
nen wir dieser Verordnung schlicht nicht zustimmen . Mit
dieser Verordnung wird nichts geregelt . Man könnte das
gar als eine Verhöhnung des Parlamentes bezeichnen, das
nur kurz abnicken soll, dass die eigentlich wichtigen Ent-
scheidungen woanders getroffen werden. Die Linke wird
dabei nicht mitmachen . Wir lehnen dieses Nullum von
einer Verordnung daher ab .
Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Nachdem der Deutsche Bundestag im Dezem-
ber 2016 ein Gesetz zum Schutz vor Manipulationen an
Registrierkassen verabschiedet hat, liegt uns heute die
technische Durchführungsverordnung zur Beschlussfas-
sung vor .
Bereits vor 13 Jahren stellte der Bundesrechnungshof
fest, dass durch manipulierte Registrierkassen massiv
Steuerbetrug und Schwarzgelderwirtschaftung betrieben
wird . In Registrierkassen gespeicherte Daten können in
vielen Systemen beliebig, ohne die geringsten Spuren
zu hinterlassen, verändert werden . Durch den Betrug
mit manipulierten Kassen entgehen den Haushalten von
Bund und Ländern Jahr für Jahr schätzungsweise 10 Mil-
liarden Euro . Problemverschärfend ist, dass steuerloyale
Unternehmen zunehmend unter den Wettbewerbsnach-
teilen gegenüber steuerunehrlichen Konkurrenten leiden .
Das Grundprinzip unseres Wirtschaftssystems, der freie
und faire Wettbewerb, ist in bestimmten Wirtschafts-
zweigen stark gefährdet . Die Bundesregierung hat sich
mit der Lösung dieses Problems viel zu lange Zeit gelas-
sen, anstatt entschlossen zu handeln . Ein solcher Zeitbe-
darf bis zum Vorliegen einer ersten Regelung ist in einem
sich stürmisch entwickelnden digitalen Bereich deutlich
zu groß .
Dies gilt auch für die Bekämpfung des Umsatzsteu-
erbetrugs auf digitalen Handelsplattformen . Dabei ist
dieses Problem bereits seit Monaten bekannt, und der
damit verbundene Schaden beläuft sich nach einer Schät-
zung der Deutschen Steuer-Gewerkschaft auf mindestens
1 Milliarde Euro pro Jahr . Auch bei diesem Problem sind
die Lösungsmöglichkeiten allen Verantwortlichen be-
kannt, aber die Bundesregierung verschiebt die Entschei-
dung auch in dieser Frage in die Zukunft .
In der heute vorliegenden Kassensicherungsver-
ordnung werden unter anderem die elektronischen
Aufzeichnungssysteme festgelegt, die zukünftig über
eine zertifizierte Sicherheitseinrichtung im Sinne des
§ 146 AO verfügen müssen . Demnach werden die Re-
gelungen zum Schutz vor Manipulationen an digitalen
Grundaufzeichnungen lediglich auf elektronische oder
computergestützte Kassensysteme Anwendung finden.
Explizit ausgenommen werden Fahrscheinautomaten,
Fahrscheindrucker, elektronische Buchhaltungsprogram-
me, Waren- und Dienstleistungsautomaten, Geldauto-
maten, Taxameter und Wegstreckenzähler sowie Geld-
und Warenspielgeräte . Diese Auswahlentscheidung ist
in dieser Form nicht nachvollziehbar . Eine Ausweitung
auf weitere Geräte, zum Beispiel Taxameter, Geld- und
Warenspielgeräte, wäre zudem zukünftig nur durch eine
Änderung der Verordnung möglich .
Grundlage für die Entscheidung über die Aufnahme
von elektronischen Aufzeichnungsgeräten in die Defini-
tion des § 1 KassenSichV hätte eine sorgfältige, trans-
parente und nachvollziehbare Abwägung zwischen dem
Manipulationsrisiko und dem erforderlichen Aufwand
für den Steuerpflichtigen sein müssen. Wäre die Bundes-
regierung so vorgegangen, wäre die Ausnahmeregelung
für Taxameter und Wegstreckenzähler sowie Geld- und
Warenspielgeräte nicht zu rechtfertigen gewesen . Denn
die Erfahrungen mit dem Einsatz digitaler Sicherungs-
systeme im Bereich der Taxiunternehmen in Hamburg so-
wie zuletzt in Berlin belegen eindrucksvoll, in welchem
Umfang in dieser Branche durch unehrliche Marktteil-
nehmer Steuern und Abgaben hinterzogen werden . Laut
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24281
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einem im Auftrag der Stadt Berlin erstellten Gutachten
hat eine Plausibilitätsprüfung ergeben, dass 80 Prozent
der Berliner Taxibetriebe jenseits der betriebswirtschaft-
lichen Plausibilität arbeiten . Mit dieser Wettbewerbsver-
zerrung scheint die Bundesregierung kein Problem zu ha-
ben, sonst hätte sie Taxameter und Wegstreckenzähler ja
nicht von der Liste der aufzeichnungspflichtigen Geräte
ausgenommen .
Übrigens müssen aktuelle Taxameter laut EU-Richt-
linie 2004/22/EG bzw . EU-Richtlinie 2014/32/EG be-
reits heute Einzelaufzeichnungen führen . Die Taxameter
könnten über eine ebenfalls bereits heute vorgeschriebe-
ne Datenschnittstelle unproblematisch mit einer techni-
schen Sicherheitseinrichtung verbunden werden, um Ma-
nipulationen zu verhindern .
Weiterhin kritisch zu bewerten sind die Sicherheitsan-
forderungen bezüglich der Protokollierung von digitalen
Grundaufzeichnungen in der Verordnung . Sicherheits-
systeme, die diese Anforderungen erfüllen, sind noch
nicht auf dem Markt, sondern müssen in den kommen-
den Jahren entwickelt, getestet und vom Bundesamt für
Sicherheit in der Informationstechnik zertifiziert werden.
Wann diese Verfahren überhaupt praxistauglich einsatz-
fähig sind, ist völlig ungewiss . Diese Situation wäre
aber vermeidbar gewesen, wenn auf das einzig bekann-
te Verfahren zum Schutz vor Manipulationen an Kassen
zurückgegriffen worden wäre. Das bislang einzig nutz-
bare System zur Verhinderung von Manipulationen an
Kassensystemen, das sogenannte INSIKA-System, wird
durch die Verordnung praktisch unbrauchbar, da es in der
jetzigen Form die Voraussetzungen, die in der Verord-
nung an eine zertifizierte Sicherheitseinrichtung gestellt
werden, nicht erfüllen kann .
Vor dem Hintergrund, dass erstens das INSIKA-Ver-
fahren über Jahre von einer Bund-Länder-Arbeitsgrup-
pe in Zusammenarbeit mit der PTB entwickelt und vom
BMWi gefördert wurde, dass zweitens das INSIKA-Ver-
fahren in Hamburg erfolgreich in der Praxis funktioniert
hat, ist der faktische Ausschluss des INSIKA-Verfahrens
nicht nachvollziehbar . Die von der Bundesregierung vor-
gebrachten Argumente gegen das INSIKA-Verfahren
überzeugen nicht . Im Gegenteil, das von der Bundesre-
gierung präferierte System einer zertifizierten Sicher-
heitseinrichtung weckt nicht nur bei uns, sondern auch
auf Fachebene bei den Steuerprüfern und den Kassen-
herstellern erhebliche Zweifel hinsichtlich Wirksamkeit,
Umsetzbarkeit und Prüfaufwand .
In diesem Zusammenhang möchte ich auch nochmal
auf unsere kritischen Fragen zu den Kosten der Zertifi-
zierungslösung hinweisen . Im Raum stehen Beträge von
75 000 Euro für die Kassenhersteller . Es ist völlig klar,
dass die Kassenhersteller diese Kosten auf Kassenkäufer
abwälzen werden . Nicht nur nach unserer Einschätzung,
sondern auch nach Meinung aller Experten wäre die
INSIKA-Lösung deutlich preiswerter für die Wirtschaft
gewesen .
Da die vorgelegte Verordnung weder den Stand der
Technik widerspiegelt noch die Problematik inhaltlich
aufgreift, werden wir sie ablehnen müssen . Ich gehe da-
von aus, dass der Finanzausschuss sich mit diesem The-
ma zukünftig noch intensiv beschäftigen wird .
Anlage 30
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Än-
derung des Telemediengesetzes (Tagesordnungs-
punkt 33)
Hansjörg Durz (CDU/CSU): Im Koalitionsvertrag
haben wir vereinbart:
Die Potenziale von lokalen Funknetzen (WLAN)
als Zugang zum Internet im öffentlichen Raum müs-
sen ausgeschöpft werden . . . . Rechtssicherheit für
WLAN-Betreiber ist dringend geboten, etwa durch
Klarstellung der Haftungsregelungen (Analog zu
Accessprovidern) .
Im vergangenen Sommer haben wir deshalb das
Zweite Gesetz zur Änderung des Telemediengesetzes
verabschiedet und darin einen Gleichklang sowie eine
Gleichbehandlung von WLAN-Anbietern und Zugangs-
providern festgelegt . Damit wurde der politische Wille,
wie er im Koalitionsvertrag zum Ausdruck kam, umge-
setzt .
Nachdem die Änderung des Telemediengesetzes im
Deutschen Bundestag beschlossen war, hat der EuGH im
Fall „McFadden“ entschieden und ist dabei nicht – wie
von vielen erwartet – dem Generalanwalt gefolgt . Auf-
grund dieses Urteils ist nun die Bundesregierung zu der
Auffassung gekommen, dass das geänderte Gesetz noch-
mals verändert werden müsse . Das Bundeswirtschafts-
ministerium hat daraufhin den heute zu beratenden Ent-
wurf vorgelegt . Der Gesetzentwurf wird sehr kontrovers
diskutiert, insbesondere werden die darin enthaltenen
Sperren stark kritisiert .
Nach ersten intensiven Beratungen innerhalb der
Arbeitsgruppen, mit Juristen und Experten aus den ver-
schiedenen Branchen, mit Verbänden und Unternehmen,
lässt sich festhalten, dass aktuell drei Optionen auf dem
Tisch liegen:
Erstens . Erhalt des Status-quo/Passwort-Verschlüsse-
lung: Bei der ersten Option erfolgt die Sicherung eines
offenen WLAN durch Passwortverschlüsselung. Die
Verschlüsselung muss vom Betreiber aber erst dann ein-
gerichtet werden, nachdem er hierzu nach erster (richter-
licher) Anordnung infolge einer Rechtsverletzung durch
Dritte aufgefordert wurde . Erfolgt keine Rechtsverlet-
zung, muss der Betreiber auch keine Sicherungsmaßnah-
men ergreifen. Zudem fallen bei der ersten Aufforderung
für den WLAN-Betreiber keinerlei Kosten, etwa Pro-
zesskosten etc ., an . Bei dieser Option bleibt also der Sta-
tus quo aus dem Zweiten TMG-Änderungsgesetz erhal-
ten . Sie folgt gleichsam den sich aus dem EuGH-Urteil
„McFadden“ ergebenden Anforderungen zur Sicherung
eines offenen WLAN-Anschlusses.
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Zweitens. Abschaffung der Störerhaftung in Verbin-
dung mit Seitensperrungen: Diese Option entspricht dem
vorliegenden, neuen Gesetzentwurf: die Abschaffung
jeglicher Haftungsrisiken für die Betreiber von offe-
nem WLAN . Gleichzeitig räumt der Gesetzentwurf den
Rechteinhabern jedoch einen Rechtsanspruch gegenüber
den WLAN-Anbietern ein, bestimmte Seiten zu sperren .
In der Konsequenz sind die Betreiber bei dieser Option
von der Haftung befreit . Auf der anderen Seite kann es
aber zu einer Art „Löschung auf Zuruf“, also zu unver-
hältnismäßigen Sperrungen von Webseiten und Portsper-
rungen am Router oder auch zu Datenmengenbegrenzun-
gen, kommen .
Drittens. Komplette Abschaffung der Störerhaftung
ohne weitere Auflagen: Die dritte und letzte Option wird
aus Sicht bestimmter Anbieter und von Teilen der Netz-
gemeinde favorisiert: eine komplette Abschaffung der
Störerhaftung ohne jegliche verpflichtende Auflagen für
die WLAN-Betreiber .
Diese dritte, vermeintlich einfachste Variante, näm-
lich die Abschaffung der Störerhaftung ohne Auflagen,
ist schlicht nicht umsetzbar, da sie den Schutz der Rech-
teinhaber vollkommen unberücksichtigt lässt und gegen
Europarecht verstößt . Diese Lösung – das müssen wir
klipp und klar sagen – ist nicht europarechtskonform und
verstößt gegen die bestehende EU-Urheberrechtsrichtli-
nie. Dieser Ansatz der kompletten Abschaffung der Stö-
rerhaftung ohne jegliche Haftungsregelungen und damit
ohne jegliche Möglichkeit der Durchsetzung von Rech-
ten bei Rechtsverletzungen durch Dritte ist nicht umzu-
setzen . Es wäre nicht mit geltendem EU-Recht konform .
Zudem haben wir auch in der Vergangenheit immer be-
tont, dass gegenüber dem berechtigten politischen Anlie-
gen einer schnellen Verbreitung von offenem WLAN die
Rechte von Urhebern nicht zur Disposition stehen . Und
sicherheitspolitische Aspekte gäbe es bei dieser Lösung
auch noch zu diskutieren .
Wir müssen uns daher intensiv mit den Möglichkeiten
der beiden ersten Optionen, nämlich der Beibehaltung
des Status quo oder aber der Abschaffung der Störerhaf-
tung in Verbindung mit Sperren, befassen .
Unser Ziel war immer: mehr offenes WLAN bei
gleichzeitiger Rechtssicherheit für Nutzer, Betreiber und
Rechteinhaber . Mit welchem der beiden Varianten errei-
chen wir dieses Ziel besser?
Im Zuge der Gespräche mit Fachleuten und Sachver-
ständigen zu dem neuerlichen Gesetzentwurf hat sich
keine eindeutige Einschätzung herauskristallisiert . Es
gibt die eine Seite, die für die Beibehaltung des Status
quo plädiert, und die andere, die für die vorgeschlagene
dritte Änderung des Telemediengesetzes argumentiert .
Diese beiden Sichtweisen gilt es im nun folgenden parla-
mentarischen Verfahren abzuwägen .
Trotz des Willens, möglichst schnell zu einer Lösung
zu kommen, müssen wir doch sehr sorgfältig abwägen,
welche Vorgehensweise tatsächlich mehr Rechtssicher-
heit schafft.
Axel Knoerig (CDU/CSU): Mit der Änderung des
Telemediengesetzes im letzten Sommer haben wir die
Ausweitung freier WLAN-Netze hierzulande vorange-
trieben .
Auch in meinem Wahlkreis wird zunehmend kostenlo-
ses Internet angeboten: Immer mehr Kommunen stellen
an zentralen Plätzen oder in öffentlichen Einrichtungen
einen WLAN-Zugang bereit, zum Beispiel in Freibä-
dern, Jugendzentren und Mehrgenerationenhäusern . Das
kommt dem Ausbau einer modernen Infrastruktur und
dem Tourismus bei uns im ländlichen Raum zugute .
Mit dem Gesetz wurden auch viele innovative Projek-
te angestoßen: So wurden im Rahmen des Luther-Jahres
in der Stadt Wittenberg insgesamt 20 Hotspots eingerich-
tet . Und bei Hannover gibt es bereits die ersten Parkbän-
ke mit WLAN-Anschluss .
Ganz aktuell in diesem Zusammenhang plant die EU
ein neues Förderprogramm: Mit 120 Millionen Euro sol-
len bis zu 8 000 Kommunen gefördert werden, um öffent-
liche Internetzugänge bereitzustellen .
Trotz dieser erfolgreichen Entwicklung sieht das Bun-
deswirtschaftsministerium weiterhin Nachbesserungsbe-
darf: Mit dem vorliegenden Entwurf des 3 . Telemedie-
nänderungsgesetzes soll noch mehr Rechtssicherheit für
WLAN-Anbieter geschaffen werden. Dabei müssen sie
bereits seit der letzten Gesetzesänderung keine teuren
Abmahngebühren mehr fürchten, sofern ein Rechtsver-
stoß erstmals erfolgt .
Diese Novelle, die noch dazu in kürzester Zeit ver-
abschiedet werden soll, bringt viele Nachteile mit sich:
Besonders kritisch ist der Punkt, dass künftig nicht nur
WLAN-Anbieter von Unterlassungs- und Beseitigungs-
ansprüchen befreit werden . Vielmehr sollen alle Zu-
gangsanbieter davon entbunden werden, also auch die
großen Telekommunikationsfirmen. Das würde klar zu-
lasten von Rechteinhabern wie Künstlern oder Verlagen
gehen .
Diese wiederum sollen durch eine andere Neurege-
lung gestärkt werden: So will man WLAN-Betreiber un-
ter anderem dazu verpflichten, den Zugang zu bestimm-
ten Webseiten zu sperren . Dabei ist aber Folgendes zu
beachten:
Erstens . Eine völlige Befreiung von Unterlassungs-
und Beseitigungsansprüchen verstößt gegen europäi-
sches Recht .
Zweitens . Netzsperren sind erfahrungsgemäß wenig
wirksam . Sie bedeuten zugleich einen hohen Aufwand
für WLAN-Betreiber, da Sperrungen immer aktualisiert
werden müssen . Die Folge sind neue Rechtsunsicherhei-
ten und Einschränkungen der Informationsfreiheit .
Wir haben also in der Koalition noch einiges zu dis-
kutieren .
Das Thema WLAN ist mit dem Thema Breitbandaus-
bau eng verknüpft . Daher möchte ich auch hierzu etwas
sagen: Mit unserem Bundesprogramm fördern wir den
Breitbandausbau in ländlichen Region . Wir investieren
4 Milliarden Euro bis 2018 für flächendeckendes schnel-
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les Internet. Auch der Landkreis Diepholz profitiert von
einer Förderung in Höhe von 15 Millionen Euro .
Im Zuge der Planungen in den verschiedenen Regio-
nen wird inzwischen eine Tendenz deutlich, die unsere
Aufmerksamkeit erfordert: Und zwar zeigen einzelne
Netzbetreiber nach Zusage der Fördermittel doch Inte-
resse daran, zuvor als „weiße Flecken“ definierte Gebiete
auszubauen . Dadurch werden viele bereits geplante Be-
treibermodelle nachträglich unwirtschaftlich . Mit dieser
Art von unfairer Vorteilsnahme wird der Breitbandaus-
bau in ganzen ländlichen Regionen gefährdet . Hier be-
steht ein Problem auf den Glasfasermärkten, das wir
dringend angehen müssen . Nur so können wir schnelles
Internet und WLAN in ganz Deutschland bekommen .
Marcus Held (SPD): Wir behandeln heute in erster
Lesung den Entwurf eines mittlerweile Dritten Gesetzes
zur Änderung des Telemediengesetzes .
Es ist noch nicht so lange her, dass wir den Zweiten
Entwurf in ein Gesetz gegossen hatten . Jedoch hatte am
15 . September 2016 dann der Europäische Gerichts-
hof so entschieden, dass es für WLAN-Betreiber er-
neut keine Rechtssicherheit mehr gab . Das wollen wir
mit vorliegendem Gesetzentwurf nun endgültig ändern .
WLAN-Betreiberinnen und -betreiber benötigen Rechts-
sicherheit, wenn diese ihren WLAN-Zugang für die Öf-
fentlichkeit zur Verfügung stellen .
Und wir brauchen mehr öffentliches WLAN in
Deutschland . Immer noch gibt es die WLAN-Wüste
Deutschland . Der Zugang zum Internet gehört meiner
Meinung nach mittlerweile zur öffentlichen Daseinsvor-
sorge . Schulen, Bibliotheken, Cafés, aber auch Unterneh-
men profitieren in hohem Maße davon. Insofern plädie-
re ich dafür, schnellstmöglich diese Rechtssicherheit zu
schaffen. Auch wenn es zeitlich ziemlich knapp ist, sollte
das in dieser Legislaturperiode noch möglich sein . Dazu
hat das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie
einen sehr guten Vorschlag gemacht, auf dessen Grund-
lage wir in der Koalition im Juni nun beraten können .
Mir ist bewusst, dass es aufseiten der Innen- und Kul-
turexperten Bedenken gegen das Gesetz gibt, weil eben
Urheberrechtsverletzungen oder auch Sicherheitsrisiken
gesehen werden, wenn es vermehrt offene WLAN-Netze
gibt . Auch mit diesen Bedenken wollen wir uns während
des Gesetzgebungsprozesses auseinandersetzen, um die-
se auszuräumen . Hierzu besteht zumindest schon einmal
das Instrumentarium der Evaluation des Gesetzes nach
einer bestimmten Jahresfrist .
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass sich Gäste aus
anderen europäischen Ländern, die ich oft hier in Ber-
lin oder auch im Wahlkreis begrüßen darf, über das
WLAN-unfreundliche Deutschland wundern . Besonders
die ausländische Tourismusbranche schüttelt hier den
Kopf, wie ich es alljährlich auf der Tourismusmesse ITB
vernehmen kann .
Als jemand, der aus einer touristisch aufstrebenden
Region, nämlich Rheinhessen, kommt, ist es mir ein
Herzensanliegen, dass wir hier zu einem guten Ergebnis
kommen, wo wir es am Ende schaffen, es gesetzlich so
rechtssicher zu machen, dass es zu keiner weiteren Ände-
rung des Telemediengesetzes mehr kommen muss .
Ich freue mich auf die anstehenden Beratungen mit
meinen Fraktions- und Unionskollegen und danke dem
Bundeswirtschaftsministerium schon einmal herzlich für
seinen guten Gesetzentwurf .
Lars Klingbeil (SPD): Der heute in erster Lesung
zu beratende Entwurf für ein Drittes Gesetz zur Ände-
rung des Telemediengesetzes (3 . TMGÄndG) ist not-
wendig geworden, nachdem eine Entscheidung des Eu-
ropäischen Gerichtshofes (EuGH) vom 15 . September
2016 erneut Fragen hinsichtlich der Rechtssicherheit für
WLAN-Hotspots aufgeworfen hat . Der Gesetzentwurf
der Bundesregierung ist eine gute Grundlage, um das mit
dem 2 . Telemedienänderungsgesetz verfolgte Ziel auch
nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes
zu erreichen .
Mit dem 2 . Telemedienänderungsgesetz hat der Deut-
sche Bundestag klargestellt, dass auch WLAN-Anbieter
die volle Haftungsprivilegierung als Internetzugangsan-
bieter (Access-Provider) genießen . Durch die Gleich-
stellung von WLAN-Anbietern mit Access-Providern ist
eine Haftung eines WLAN-Anbieters für Rechtsverlet-
zungen Dritter ausgeschlossen . Ein Internetzugangsan-
bieter kann damit weder zur Zahlung von Schadenersatz
noch zur Tragung der Abmahnkosten und der gerichtli-
chen oder außergerichtlichen Kosten im Zusammenhang
mit der von einem Dritten begangenen Rechtsverletzung
verpflichtet werden. Die Privilegierung der WLAN-Be-
treiber schließt auch eine Inanspruchnahme auf Beseiti-
gung und Unterlassung aus .
Nicht ausgeschlossen hat auch das 2 . Telemedienän-
derungsgesetz die Möglichkeit einer gerichtlichen An-
ordnung, wie sie das europäische Recht vorgibt . Diese
Anordnung darf aber nicht eine Verschlüsselungs- und/
oder Registrierungspflicht zur Folge haben. Zwar hat der
EuGH dies im Grundsatz bestätigt . Zugleich hat er aber
festgestellt, dass ein Gericht oder eine nationale Behörde
gegen einen WLAN-Betreiber eine Anordnung erlassen
kann, um der Wiederholung einer Rechtsverletzung vor-
zubeugen . Dies könne beispielsweise eine Anordnung
zur Verpflichtung zur Verschlüsselung des Netzes und
zur Registrierung der Nutzerinnen und Nutzer erreicht
werden, wobei zahlreiche andere – weniger weitreichen-
de – Möglichkeiten in dem Urteil nicht erwähnt werden .
Unklarheit besteht darüber, wer die Kosten für eine sol-
che gerichtliche Anordnung tragen muss .
Das Urteil hat damit erneut Rechtsunsicherheit hervor-
gerufen, da Anbieter nun fürchten, ihren WLAN-Hotspot
verschlüsseln zu müssen und abgemahnt zu werden . Dies
könnte beispielsweise dazu führen, dass Kommunen
Investitionen in offene WLAN-Hotspots zurückstellen,
weil sie befürchten müssen, dass ein Gericht ihnen diese
Auflagen anordnet und sie sie schlichtweg nicht erfüllen
können .
Diese Rechtsunsicherheit soll durch die erneute An-
passung des Telemediengesetzes beseitigt werden . Ich
danke der Bundeswirtschaftsministerin Brigitte Zypries,
dass sie die Initiative ergriffen und diesen Gesetzentwurf
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724284
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vorgelegt hat, um das wichtige Ziel der Koalitionsverein-
barung und der Digitalen Agenda der Bundesregierung,
Rechtssicherheit für WLAN-Betreiber zu schaffen, errei-
chen zu können . Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
wird der Umfang der Haftungsbeschränkung für Inter-
netzugangsanbieter klar geregelt . Darüber hinaus werden
diese weitgehend von der Kostentragungspflicht, insbe-
sondere bei Abmahnungen, befreit . Schließlich sieht der
Gesetzentwurf eine Klarstellung vor, dass WLAN-Be-
treiber nicht von einer Behörde verpflichtet werden dür-
fen, Nutzer zu registrieren, ihr WLAN nicht mehr anzu-
bieten oder die Eingabe eines Passworts zu verlangen .
Da die europarechtlichen Vorgaben der Urheber-
rechts- und der Durchsetzungsrichtlinie explizit gericht-
liche Anordnungen gegen Diensteanbieter vorschreiben,
sieht der Gesetzentwurf zugleich vor, dass Rechteinhaber
von den Diensteanbietern die „Sperrung der Nutzung der
Information verlangen können, um die Wiederholung der
Rechtsverletzung zu verhindern“ . Hierfür soll mit dem
Entwurf eine „Anspruchsgrundlage für gerichtliche An-
ordnungen“ gegen Access-Provider geschaffen werden.
Ich sehe zwei Punkte, über die im parlamentarischen
Verfahren noch geredet werden müsste: Der eine betrifft
die Anspruchsgrundlage für gerichtliche Anordnungen .
Eine solche Anordnung bedarf einer Grundrechtsab-
wägung, weswegen ihr zwingend eine konstitutive ge-
richtliche Anordnung vorausgehen muss . Damit einher
geht die Frage der Kostentragung . Der zweite Punkt
betrifft die notwendige Klarstellung, dass auch Gerichte
WLAN-Anbieter nicht dazu verpflichten dürfen, die Ge-
währung des Zugangs von a) der Registrierung der Nut-
zer, b) der Verschlüsselung des WLAN-Netzes abhängig
zu machen oder c) die Einstellung des WLAN-Angebots
zu fordern . Diese Änderungen, die in ähnlicher Form
auch seitens des Bundesrates gefordert werden, entspre-
chen dem, worauf sich die Koalitionsfraktionen bereits
mit dem 2 . Telemedienänderungsgesetz verständigt ha-
ben . Von daher spricht aus meiner Sicht nichts dagegen,
den Entwurf mit diesen Änderungen schnell zu beschlie-
ßen und so wieder Rechtssicherheit für WLAN-Hotspots
zu schaffen.
Wir haben einen knappen Zeitplan, um das Gesetz
noch bis zur Sommerpause zu verabschieden und um ein
zentrales Vorhaben der Digitalen Agenda umzusetzen . Es
ist gut, dass es der Bundeswirtschaftsministerin gelun-
gen ist, diesen Kompromiss zu erreichen und diesen Ge-
setzentwurf der Bundesregierung auf den Weg zu brin-
gen . Nun liegt es an unserem Koalitionspartner, dieses
wichtige Vorhaben nicht zu gefährden. Offenbar gibt es
aber Überlegungen in der Unionsfraktion, diesen in der
Bundesregierung gefundenen Kompromiss grundsätzlich
infrage zu stellen .
Aus Sicht der SPD-Fraktion kann ich daher nur fest-
stellen, dass die rote Linie für uns der bereits mit dem
2 . Telemedienänderungsgesetz gefundene Kompromiss
darstellt, den der Gesetzentwurf nochmals klarstellt .
Auf dieser Grundlage können wir uns im Parlament sehr
schnell auf eine weitere Novellierung des Telemedienge-
setzes verständigen, um auch nach dem Urteil des EuGH
Rechtssicherheit für öffentliche WLAN-Hotspots sicher-
zustellen . Eine Verschlechterung der jetzigen Rechtslage
darf es auf keinen Fall geben . Dies widerspräche auch
diametral dem Koalitionsvertrag und der Digitalen Agen-
da .
Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Die Störerhaftung für
WLAN-Betreiber ist ein Paradebeispiel dafür, wie man es
sich als Gesetzgeber mit einem sehr einfachen Problem
sehr lange sehr schwer machen kann . Das Problem: Wer
in Deutschland ein für die Öffentlichkeit zugängliches
WLAN betreibt, setzt sich der Gefahr aus, für Rechts-
verstöße geradestehen zu müssen, die andere unter Be-
nutzung dieser Internetverbindung begehen . Die Folge:
Offene WLAN-Netze sind in Deutschland im Vergleich
zu anderen Ländern Mangelware, obwohl sie einen wich-
tigen Baustein für den Zugang zu digitaler Infrastruktur
darstellen .
Spätestens seit einem Urteil des BGH von 2010 ist
auch klar, dass der Gesetzgeber gefordert ist, sich dieses
Problems anzunehmen . So einfach wie das Problem ist,
so simpel wäre auch die Lösung: Es braucht nichts ande-
res als eine gesetzliche Klarstellung, dass WLAN-Betrei-
ber in dieser Hinsicht genauso zu behandeln sind wie alle
anderen Zugangsanbieter . Das Problem schien dann ir-
gendwann auch erkannt gewesen zu sein: Jedenfalls kün-
digt der Koalitionsvertrag von 2013 an, Rechtssicherheit
für WLAN-Betreiber zu schaffen und sie bei der Haftung
analog zu anderen Zugangsanbietern zu behandeln .
Passiert ist dann erst einmal nichts . 2014 kam die Di-
gitale Agenda; da haben Sie das noch einmal bekräftigt
und einen Gesetzentwurf „in Kürze“ angekündigt . Kurz
danach haben wir selbst einen Gesetzentwurf einge-
bracht, der das Problem vollumfänglich gelöst hätte . Den
haben Sie natürlich abgelehnt .
Erst 2016 kam dann Ihr Gesetzentwurf . Nur ist der an
das Gesetz so halbgar herangegangen, dass das eigentli-
che Problem immer noch nicht gelöst wurde, selbst nach-
dem einiger, noch größerer Unfug daraus entfernt wurde .
Damals habe ich im Plenum dazu gesprochen und Ihnen
angekündigt, dass mit Ihrem Entwurf weitere Rechts-
streitigkeiten folgen werden, weil Sie immer noch keine
Haftungsfeststellung für Unterlassungsansprüche vor-
sehen . Damals haben die Kollegen von CDU und SPD
dazwischengerufen – ich habe noch einmal ins Protokoll
gesehen –, das würde alles gar nicht stimmen und wäre
ein völlig falsches Rechtsverständnis .
Jetzt – ein Jahr später – legt die Bundesregierung ei-
nen Gesetzentwurf vor, in dem sie feststellt, dass wei-
tere Rechtsstreitigkeiten gefolgt sind und dass es jetzt
notwendig wäre, eine Haftungsfreistellung für Unter-
lassungsansprüche vorzusehen . Welche Überraschung!
Gerne würde ich mich darüber freuen, dass nun endlich
das erreicht ist, was schon vor Jahren sehr leicht zu ha-
ben gewesen wäre . Aber Sie haben es zustande gebracht,
auch in diesen Entwurf schon wieder einen Fallstrick
einzuflechten: Die Anbieter von WLAN-Zugängen sol-
len nun ausgerechnet zur Einrichtung von Netzsperren
verpflichtet werden können.
Und da fallen wir nach dem großen Bogen von 2010
zu heute auf einmal auf den Diskussionsstand von 2009
zurück und müssen wohl ernsthaft wieder über Löschen
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statt Sperren reden . Meine Damen und Herren: Wir müs-
sen uns vielleicht Sisyphos als glücklichen Menschen
vorstellen . Aber bitte nicht als vorbildlichen Netzpoliti-
ker .
Dieter Janecek (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Dass die digitale Infrastruktur in diesem Land längst
noch nicht da ist, wo wir sie alle gerne sehen würden, hat
einen Grund: Und zwar diese Bundesregierung .
Ausnahmsweise möchten wir in diesem Zusammen-
hang nicht Herrn Dobrindt in die Pflicht nehmen, sondern
was das bis heute andauernde Versagen der Bundesregie-
rung betrifft, endlich Rechtssicherheit für Betreiber von
öffentlichem WLAN herzustellen, so heißen die verant-
wortlichen Ministerinnen und Minister Zypries, Gabriel,
Rösler und Brüderle .
Die verschiedenen Namen zeigen schon einmal die
zeitliche Dimension des Problems; zu den inhaltlichen
Dimensionen komme ich später:
Das Versprechen der Bundesregierung von Frau
Merkel, die sogenannte Störerhaftung zu beseitigen und
endlich eine rechtssichere Bereitstellung von öffentli-
chem WLAN zu ermöglichen, ist über den Zeitraum
von mittlerweile beinahe zwei Legislaturperioden im-
mer wieder erneuert worden . Weil es immer noch nicht
eingelöst wurde und leider auch der vorliegende Gesetz-
entwurf einmal mehr am Ziel vorbeischießt, wird dieses
Versprechen durchaus zu Recht schon als Running Gag
der Digitalpolitik dieser Bundesregierung bezeichnet .
Das Spiel war und ist dasselbe: Grundsätzlich unter-
stützenswerte Vorhaben werden im Zuge der digitalpoli-
tischen Gehversuche dieser Bundesregierung in gesetzli-
che Regelungen übersetzt, die diesen Vorhaben ganz und
gar nicht gerecht werden oder aber an den entscheiden-
den Stellen so unpräzise sind, dass sie auf die Auslegung
von Gerichten angewiesen sind. Auf die offensichtlichen
Fehler der Vergangenheit wird dann eine Form von re-
gulativem Pflaster geklebt, im selben Zuge dann aber
wiederum völlig ohne Not ein bisher noch ungesehenes
regulatives Gespenst in die Debatte gezerrt, das abermals
zu Verwirrung und Rechtsunsicherheiten führt .
Auch im vorliegenden Gesetzentwurf ist das grund-
sätzlich formulierte Vorhaben der Bundesregierung nicht
nur begrüßenswert, sondern das, worauf wir seit Jahren
warten: Dass eine längst überfällige Befreiung der Diens-
teanbieter von Haftung und Abmahnkosten im Zusam-
menhang mit Rechtsverstößen Dritter bereits das Ziel
der letzten Änderungen am Telemediengesetz durch die
Bundesregierung im vergangenen Jahr war, sagt die Bun-
desregierung an dieser Stelle selbst .
Neben der wichtigen Klarstellung, dass die Haftungs-
befreiung auch für die Kosten für gerichtliche Unterlas-
sungsanordnungen gilt, sollen WLAN-Betreiber zudem
nicht von Behörden verpflichtet werden können, Nutzer
zu registrieren oder eine Passworteingabe zu verlangen .
Bedauerlicherweise sind entsprechende Anordnungen
durch Gerichte aber nach wie vor möglich . Hier hat die
Bundesregierung auch eine entsprechende Anregung des
Bundesrates abgelehnt .
Wiederum völlig ohne Not bringt sie im vorliegenden
Entwurf gleich zwei neue Gespenster in die parlamenta-
rische und öffentliche Debatte ein:
Erstens sollen WLAN-Betreiber durch Anordnun-
gen einer Behörde nun zur temporären Einstellung ihrer
Dienste verpflichtet werden können. Die vagen Verweise
auf die Abwehr von Gefahren und entsprechende Rechts-
grundlagen erwecken nicht den Eindruck, als ob hierbei
zukünftig kritische Interpretationsspielräume ausge-
schlossen seien .
Zweitens schafft die Bundesregierung einen Anspruch
von Rechteinhabern gegenüber Zugangsanbietern, die
Sperrung der Nutzung von Informationen zu verlangen,
und bringt in diesem Zusammenhang von sich aus Netz-
sperren von bestimmten Ports und Seitenzugriffen ins
Spiel . Davon abgesehen, dass Netzsperren nicht umsonst
höchst umstritten sind: Entgegen der eigentlichen Ziel-
vorgabe dieses Gesetzentwurfs müssten WLAN-Betrei-
ber die Kosten eines verlorenen Widerspruchs tragen,
wenn sie sich sozusagen dem „Zuruf“ eines Rechtein-
habers und dessen Forderung eine Netzsperre entziehen
und der Rechteinhaber vor Gericht gewinnen sollte .
Wohin das führt, haben Verbraucherschützer, Bür-
gerrechtlerinnen und Wirtschaftsverbände in ihrer doch
sehr deutlichen Kritik dargelegt: Große Diensteanbieter
befürchten, bevorzugtes Ziel von Sperranforderungen zu
werden; kleine und private WLAN-Betreiber fürchten,
aufgrund des mit Sperranforderungen einhergehenden
technischen und bürokratischen Aufwands sowie auf-
grund des finanziellen Risikos kein offenes WLAN an-
bieten zu können . Ich befürchte, beide haben Recht .
In jedem Fall führt diese Regelung zu Wettbewerbs-
verzerrungen . Zusätzlich zum Risiko eines Overblock-
ing, von dem zumal auch einige vielfach genutzte legale
Angebote betroffen sein dürften, besteht durch die mög-
licherweise drohenden Gerichtskosten genau eines nicht:
Rechtssicherheit .
Da hilft es auch nicht, dass sich die Bundesregierung
in ihrem Legislaturbericht Digitale Agenda, zu dem wir
ja auch morgen noch diskutieren werden, bereits ausführ-
lich dafür lobt, einen sicheren Rechtsrahmen für WLAN
geschafft zu haben – noch vor dem aktuell hier laufenden
parlamentarischen Verfahren . Was hier auf Hochglanzpa-
pier gedruckt wurde, ist nicht mehr als das, was es seit
nunmehr bald sieben Jahren ist: ein uneingelöstes Ver-
sprechen .
Anlage 31
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Bundesversorgungsgesetzes und anderer Vor-
schriften (Tagesordnungspunkt 34)
Jutta Eckenbach (CDU/CSU): Der Staat hat die
Aufgabe, den Opfern unter unseren Soldaten, Wehr-
dienstleistenden oder Opfern von Gewalttaten mit staat-
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lichen Leistungen zu helfen . Unter anderem ist diese
Aufgabe im Bundesversorgungsgesetz geregelt . Die Hil-
fen können vielfältiger Art sein, und es ist ein besonders
wichtiger Aspekt, dass es beim zusätzlichen Bezug von
Sozialleistungen auch einen entsprechenden angemesse-
nen, nicht anrechenbaren Vermögensfreibetrag gibt .
Den Freibetrag im Sozialgesetzbuch XII haben wir
bereits im Rahmen des Bundesteilhabegesetzes angeho-
ben, um auch dem Personenkreis im Sozialgesetzbuch
XII eine Verbesserung zu verschaffen, welche wir der
Gruppe von relativ gut verdienenden Arbeitnehmern mit
Behinderungen durch höhere Einkommensfreigrenzen in
der Eingliederungshilfe auch gegeben hatten . Nun stel-
len wir auch bei den Leistungsempfängern nach dem
Bundesversorgungsgesetz und den Gesetzen, die eine
Anwendung des BVG vorsehen, also unter anderem dem
Opferentschädigungsgesetz, sicher, dass der Vermögens-
schonbetrag angehoben wird .
Diesen Gesetzentwurf nutzen wir zugleich, um eine
ganze Reihe von Änderungsanträgen anzuhängen, wel-
che eine enorme Bandbreite widerspiegeln .
Wir ändern das Opferentschädigungsgesetz, um deut-
schen Opfern von Gewalttaten im Ausland – die hof-
fentlich nicht stattfinden werden – eine höhere Leistung
zukommen zu lassen . Diese Beträge sind seit 2009 nicht
verändert worden, und wir halten diese Erhöhung für not-
wendig und angemessen . Weitere Änderungen im OEG
besprechen und diskutieren wir seit langem, und wir sind
auf einem guten Weg, diese intensiven Vorbereitungen
abzuschließen . Dann können wir in der kommenden
Wahlperiode dieses wichtige Projekt auf Grundlage die-
ser langwierigen Vorarbeit angehen .
Eine andere wichtige Änderung betrifft das Asylrecht.
Bereits 2015 gab es Hinweise von Leistungsbehörden,
zum Beispiel Jobcentern, die bei unklarer Identität des
Antragstellers gerne eine Überprüfung der Fingerabdrü-
cke durchführen wollten . Das gab die Rechtslage aber
nicht her . Nun wird es möglich sein, dass bei Bezug von
Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz und
bei Zweifeln über die Identität ein Fingerabdruckscan
vorgenommen werden kann . Damit werden Leistungs-
missbrauch und – was genauso wichtig ist – Mehrfach-
identitäten verhindert .
Der Mindestlohn begleitet uns durch die gesamte
Wahlperiode, und wir werden nun eine ganz besondere
Lücke schließen . Viele freie Träger zum Beispiel in der
Jugendhilfe beteiligen sich an Ausschreibungen für Aus-
und Weiterbildungsdienstleistungen nach den Sozialge-
setzbüchern II und III bei der Bundesagentur für Arbeit
und gerieten immer wieder ins Hintertreffen, wenn sie mit
bestimmten anderen Anbietern konkurrieren mussten . Es
gab immer wieder Anbieter – die BA spricht von circa
16 Prozent –, die den in der Weiterbildungsbranche gere-
gelten tariflichen Mindestlohn nicht zahlen müssen und
somit auch nicht in das Angebot einfließen ließen, wenn
sie die ausgeschriebene Dienstleistung nicht überwie-
gend, also zu mindestens 50 Prozent, angeboten hatten .
Dieses Überwiegensprinzip verursachte also eine Lücke
in der Kalkulation zulasten der Träger, die den tariflichen
Mindestlohn zahlen . Diese Lücke schließen wir nun, in-
dem bei öffentlichen Aufträgen alle zur Zahlung des ta-
riflichen Mindestlohns verpflichtet werden können. Das
ist im Interesse der bisher benachteiligten Träger, aber
auch insgesamt aller Beschäftigten bei allen Trägern . Die
öffentliche Anhörung hat ergeben, dass auch von einer
Qualitätssteigerung auszugehen ist, da mithilfe dieser
Neuregelung die Fachkräftegewinnung leichter wird .
Außerdem passen wir das Steuerverfahrensrecht an
die EU-Datenschutz-Grundverordnung an, die zum
25 . Mai 2018 in Kraft treten wird . Im Bereich der Sozial-
daten gab es in der öffentlichen Anhörung keine Zweifel,
dass unser hohes Datenschutzniveau erhalten bleibt .
Eine große Baustelle sind die Arbeitsbedingungen in
der Fleischwirtschaft. Da die Selbstverpflichtung der In-
dustrie nicht wirklich viel gebracht hat, werden wir heute
eine eigens für die Fleischindustrie geschaffene gesetzli-
che Regelung verabschieden . Hier wird es Änderungen
geben, die die Rechte der Beschäftigten stärken . So soll
vermieden werden, dass die Beschäftigten beispielsweise
Arbeitsschutzkleidung selbst bezahlen sollen . Auch die
Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen soll sicher-
gestellt werden durch die Einführung einer Beitragshaf-
tung. Wichtig ist auch die Verpflichtung zur Aufzeich-
nung der Arbeitszeiten .
Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU): Die Verbes-
serungen, die wir mit dem Bundesteilhabegesetz bei der
Anrechnung von Einkommen und Vermögen erreichen
konnten, waren immens. Es profitieren nun vor allem die-
jenigen, die Eingliederungshilfe beziehen und auf dem
ersten Arbeitsmarkt tätig sind . Uns war es aber ebenfalls
immer ein großes Anliegen, dass auch die von der Re-
form profitieren, die nicht selbst für sich sorgen können –
oft sind das geistig und psychisch behinderte Menschen
in Werkstätten . Deshalb wurde der Vermögensschonbe-
trag für Grundsicherungsempfänger des SGB XII ange-
hoben . Per Verordnung wurde der Sparerfreibetrag zum
1 . April dieses Jahres von 2 600 Euro auf 5 000 Euro fast
verdoppelt. Das ist eine gute Sache für die Betroffenen!
Wie so oft bei Änderungen in Sozialgesetzbüchern
bedingt das eine jedoch auch anderes . An den Vermö-
gensschonbeträgen in der Sozialhilfe orientieren sich
zum Beispiel auch die Schonbeträge im Bundesversor-
gungsgesetz und der Kriegsopferfürsorge . Dort sind sie
allerdings grundsätzlich etwas großzügiger gestaltet,
um dem Aufopferungsgedanken angemessen Rechnung
zu tragen . Durch die Erhöhung der Beträge im SGB XII
wäre dieser Personenkreis nun schlechtergestellt worden .
Daher wird auch das Schonvermögen im Bundesversor-
gungsgesetz und in der Kriegsopferfürsorge-Verordnung
angehoben . Das ist nicht nur eine logische Anschlussän-
derung, sondern eine Selbstverständlichkeit im Umgang
mit den Betroffenen.
Das vorliegende Gesetz beinhaltet jedoch noch einen
großen Anhang an weiteren Gesetzesänderungen . Neben
vielen redaktionellen Ausbesserungen stehen dabei vor
allem folgende Änderungen im Mittelpunkt:
Erstens . Es wird eine Mindestlohnlücke geschlossen .
Träger von Aus- und Weiterbildungsdienstleistungen
nach SGB II oder SGB III können nun bei der Ausfüh-
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rung öffentlicher Aufträge zur Zahlung des Mindestlohns
verpflichtet werden. Gerade an dieser sensiblen Stelle
können nun also gerechte Löhne garantiert werden . Da-
rüber hinaus werden explizit die Rechte der Beschäftig-
ten in der Fleischindustrie gestärkt . Das ist nötig, weil die
Fleischindustrie nicht ohne Grund öfter für ihre Arbeits-
bedingungen kritisiert wird .
Zweitens . Im nächsten Jahr wird die EU-Daten-
schutz-Grundverordnung unmittelbar geltendes Recht in
allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union . Das ge-
samte deutsche Datenschutzrecht muss deshalb auf seine
Vereinbarkeit mit der Verordnung überprüft werden . Än-
derungsbedarf wurde bereits im Steuerverfahrensrecht
und beim Sozialdatenschutz erkannt . Besagte Gesetze
werden deshalb im Sinne der Datenschutzverordnung
angepasst .
Drittens . Behörden erhalten nun die Möglichkeit, bei
Zweifeln über die Identität eines Asylbewerbers per Fin-
gerabdruckscanner seine Identität prüfen zu lassen . Ziel
ist es, einen Leistungsmissbrauch durch Identitätstäu-
schung zu vermeiden . Alle Sozialbehörden sollen mit
einem solchen Scanner ausgestattet werden . Gerade vor
dem Hintergrund der jüngsten Geschehnisse ist eine sol-
che Möglichkeit wichtig . Der Sozialstaat darf sich nicht
auf der Nase herumtanzen lassen . Der Leistungsberech-
tigte hat dabei eine Mitwirkungspflicht. Ihm drohen also
Kürzung oder Entzug der Leistungen, wenn er seinen
Fingerabdruck nicht zur Verfügung stellt .
Alles in allem werden mit dem zu beschließenden Ge-
setz also keine Paradigmenwechsel eingeleitet . Es wer-
den aber sinnvolle und notwendige Änderungen und Er-
gänzungen vorgenommen, weil Gutes immer noch besser
gemacht werden kann!
Dr. Matthias Bartke (SPD): Es ist jetzt genau ein
halbes Jahr her, dass wir im Deutschen Bundestag das
Bundesteilhabegesetz beschlossen haben . Dieses Gesetz
ist aus den verschiedensten Gründen ein ganz besonde-
res . Dazu zählt vor allem, dass wir schon beim Entste-
hungsprozess dem Motto gefolgt sind: „Nichts über uns
ohne uns“ . Das Bundesteilhabegesetz ist aber auch ein
besonders eindrucksvolles Beispiel für das Struck’sche
Gesetz: „Kein Gesetz kommt aus dem Parlament so he-
raus, wie es eingebracht worden ist .“
Zu den zahlreichen Verbesserungen, die wir im parla-
mentarischen Verfahren erreicht haben, gehört auch die
Anhebung des Vermögensschonbetrags in der Sozialhil-
fe . Statt wie bisher 2 600 Euro gelten nun 5 000 Euro als
kleinere Barbeträge oder sonstige Geldwerte . Von Ver-
mögen in dieser Höhe darf die Sozialhilfe nicht abhängig
gemacht werden .
Damit haben wir den finanziellen Freiraum für Bezie-
her von Sozialhilfe deutlich erhöht . Das gilt vor allem
für Beschäftigte in Werkstätten für Menschen mit Behin-
derungen, wenn sie auf Leistungen der Grundsicherung
angewiesen sind . Sie können nun auch auf eine größere
Anschaffung sparen – ganz nach eigenem Gutdünken.
Vermögensschonbeträge sind aber nicht nur für die
Sozialhilfe geregelt. Sie findet man auch im Bundes-
versorgungsgesetz und in der Verordnung zur Kriegs-
opferfürsorge . Diese Regelungen sind aber schon seit
Jahrzehnten günstiger ausgestaltet als die Regelungen
zur Sozialhilfe . Und das nicht ohne Grund: Das Bundes-
versorgungsgesetz regelt die staatlichen Leistungen für
Personen, die durch Krieg, militärischen oder militärähn-
lichen Dienst einen gesundheitlichen Schaden erlitten
haben . Es regelt auch die Leistungen für ihre Hinterblie-
benen . Die höheren Schonbeträge sollen dem Gedanken
des Sonderopfers Rechnung tragen .
Dabei soll es auch in Zukunft bleiben . Wir heben da-
her auch die Vermögensschonbeträge in der Verordnung
zur Kriegsopferfürsorge an . Damit werden wir weiterhin
der besonderen Lebenslage der Betroffenen und dem
Charakter des sozialen Entschädigungsrechts gerecht .
Dem Gesetzentwurf geben wir außerdem eine ganze
Reihe von Änderungen mit auf den Weg . Dazu zählen
unter anderem gleich mehrere redaktionelle Änderungen,
vor allem im Bundesteilhabegesetz . Wo gehobelt wird,
da fallen Späne. Und manchmal fliegen die Späne eben
auch in die falsche Richtung . Es ist deswegen gut, dass
wir sie hier wieder einsammeln und entsprechende re-
daktionelle Anpassungen vornehmen .
Der Änderungsantrag gibt aber nicht nur Raum für
die Berichtigung von Redaktionsversehen . Wir setzen
damit noch verschiedenste Vorhaben um, die uns zum
Teil schon eine ganze Weile durch die Legislatur beglei-
ten. Dazu gehört der vergabespezifische Mindestlohn
für Aus- und Weiterbildungsdienstleistungen nach dem
Zweiten und Dritten Buch Sozialgesetzbuch . Das Gesetz
zur Modernisierung des Vergaberechts haben wir schon
Ende 2015 beschlossen . Durch diese Reform haben wir
soziale Aspekte bei der Beschaffung umfassend gestärkt.
In Bezug auf die Arbeitsmarktdienstleistungen konnten
wir außerdem konkrete Qualitätskriterien durchsetzen .
Damit haben wir einen großen Schritt gemacht für mehr
Qualität bei Aus- und Weiterbildungsdienstleistungen .
Das war für uns in der SPD von höchster Priorität .
An einem Punkt haben wir uns aber doch noch ge-
rieben: Den Zuschlag bekommt nach wie vor das wirt-
schaftlichste Angebot, was sich eben nach dem besten
Preis-Leistungs-Verhältnis bestimmt . Damit bleibt beim
Vergabeverfahren im Zweifelsfall derjenige zurück, der
nach besserem Tariflohn zahlt und daher einen höheren
Preis verlangt .
Zwar gibt es einen Mindestlohn für die Aus- und Wei-
terbildungsbranche . Das sogenannte Überwiegensprin-
zip ist aber der Grund, weshalb nicht alle Träger diesen
Tariflohn zahlen müssen. Die Arbeitgeber sind zur Ent-
lohnung nach Tarifvertrag nämlich nur dann verpflich-
tet, wenn mindestens 50 Prozent der Arbeitszeit in ihrem
Betrieb auf die vom Tarifvertrag erfassten Tätigkeiten
entfallen .
Viele Weiterbildungseinrichtungen bieten ihre Leis-
tungen aber auch für private Unternehmen oder im Rah-
men von europäischen Förderprogrammen an . Wenn sie
ihre Angebotspalette auf diese Weise vergrößern, fällt der
Anteil ihrer Dienstleistungen im Bereich der Aus- und
Weiterbildung nach dem SGB II und SGB III schnell un-
ter die 50 Prozent . Sie müssen dann also nicht den Min-
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destlohn der Aus- und Weiterbildungsbranche bezahlen
und haben damit einen Kostenvorteil bei der Vergabe .
Das Resultat ist ein Preiswettbewerb, der auf Kosten der
Qualität und des Personals geht .
Es ist klar, dass uns das in der SPD ein Dorn im Auge
blieb . Im Zuge der Vergaberechtsmodernisierung konn-
ten wir dieses Problem leider noch nicht lösen . Ein Pro-
blem, das außerdem mit europarechtlichen Bedenken
behaftet war . Ich bin froh, dass wir diese – auch durch
unsere große Beharrlichkeit – endlich aus dem Weg ge-
räumt und eine Lösung gefunden haben .
Durch den nun vorgesehenen Vergabemindestlohn
werden auch die Träger zur Entlohnung nach Tarifvertrag
verpflichtet, die nicht dem Tariflohn der Aus- und Wei-
terbildungsbranche unterliegen . Damit sichern wir die
faire Entlohnung des Personals. Wir erhoffen uns, dass
die bessere Bezahlung die Motivation der Beschäftigten
steigert und es zu weniger Personalfluktuation kommt.
Mit dem Vergabemindestlohn verhindern wir außerdem
ungerechtfertigte Preisvorteile. Das schafft mehr Chan-
cengleichheit zwischen den Trägern .
Am Ende gewinnt die Qualität. Davon profitieren in
jedem Jahr Tausende von Menschen, deren Aus- und
Weiterbildung über ihre Beschäftigungsmöglichkeiten,
ihre Jobsicherheit und Aufstiegschancen entscheidet .
Ich habe an dieser Stelle nur eine der zahlreichen Än-
derungen vorgestellt . Ich will Ihnen aber versichern, dass
jede einzelne wohl bedacht ist . Ich freue mich, dass sie
nicht der wenig verbliebenen Zeit bis zum Ende der Le-
gislatur zum Opfer fielen, sondern in gemeinsamer An-
strengung heute zur Abstimmung gebracht wurden .
Frank Junge (SPD): Im vergangenen Jahr hat der
Deutsche Bundestag mit dem Steuermodernisierungs-
gesetz die rechtlichen Voraussetzungen für den umfas-
senden Einsatz der elektronischen Datenverarbeitung im
Besteuerungsverfahren geschaffen. Dadurch wird künf-
tig die Abgabe der Steuererklärung vereinfacht und die
Arbeit der Finanzämter effizienter gemacht. Einen ent-
scheidenden Teil haben wir im damaligen Gesetz jedoch
bewusst ausgeklammert: das Thema Datenschutz . Grund
war damals, dass wir die Implementierung der europäi-
schen Datenschutz-Grundverordnung abwarten wollten,
um anschließend die spezifischen datenschutzrechtlichen
Regelungen für das Besteuerungsverfahren optimal an-
passen zu können . Diese Datenschutz-Grundverordnung
tritt nun am 25 . Mai 2018 in Kraft .
Da sich das zunächst geplante Anpassungsgesetz unter
der Federführung des Bundesministeriums des Inneren
verzögert, nehmen wir die das Besteuerungsverfahren
betreffenden Änderungen nun im Rahmen des Gesetzes
zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes und an-
derer Vorschriften vor. Ich sage ganz offen: Ich bin mit
dieser Vorgehensweise nicht glücklich . Ich hätte mir ge-
wünscht, wir hätten uns ausführlicher mit dem Thema
und den notwendigen gesetzlichen Änderungen ausei-
nandersetzen können .
Es gibt aber auch einen guten Grund, das Gesetzge-
bungsverfahren noch in dieser Legislaturperiode abzu-
schließen. Auf diese Weise schaffen wir Klarheit über
die datenschutzrechtlichen Regelungen, auf die sich die
Finanzverwaltung und die Steuerpflichtigen einstellen
müssen .
Ich bin der Auffassung, dass die vorliegenden An-
passungen im Bereich des Datenschutzes sinnvoll und
vertretbar sind. Wir treffen mit dem Gesetz wesentliche
Regelungen zu den Informationspflichten der Finanz-
behörden und den Auskunfts-, Berichtigungs- und Lö-
schungsrechten der Betroffenen. Die Steuerpflichtigen
haben ein umfassendes Auskunftsrecht über ihre Daten
gegenüber der Finanzbehörde .
Bei der Auskunftserteilung müssen allerdings die Be-
lange des Steuerpflichtigen mit den Erfordernissen einer
wirkungsvollen Bekämpfung der Steuerhinterziehung
abgewogen werden . Ich halte es deshalb für richtig, dass
die Auskunftserteilung dann verweigert werden kann,
wenn die Informationen den Steuerpflichtigen in die
Lage versetzen könnten, steuerlich bedeutsame Sachver-
halte zu verschleiern oder Spuren zu verwischen .
Die Finanzbehörden müssen die Ablehnung der Aus-
kunftserteilung begründen. Zudem kann der Betroffene
Widerspruch beim Bundesdatenschutzbeauftragten ein-
reichen .
Auf Drängen der SPD-Fraktion konnten zwei ent-
scheidende Erfolge in den Beratungen mit dem Koaliti-
onspartner und im Finanzausschuss erzielt werden:
Zum einen haben wir dafür gesorgt, dass die Behör-
de des Bundesdatenschutzbeauftragten, die künftig die
Zuständigkeit über die Aufsicht der Finanzbehörden hin-
sichtlich der Verarbeitung personenbezogener Daten inne
hat, auch mit entsprechenden Mitteln ausgestattet wer-
den soll . Hierzu heißt es im Bericht des federführenden
Ausschusses für Arbeit und Soziales: „Die Bundesbeauf-
tragte wird für die sachgerechte Ausübung ihrer neuen
Kompetenzen allerdings zusätzliches Personal und zu-
sätzliche Sachmitteln benötigen . Hierfür ist hinreichende
Haushaltsvorsorge zu treffen.“ Ich erwarte deshalb, dass
die Behörde mit ausreichend Personal und Sachmitteln
ausgestattet wird .
Des Weiteren ist es uns gelungen, die Rechte der Steu-
erpflichtigen gegenüber der Finanzbehörde noch einmal
zu stärken . Wir haben etwa im Bericht des federführen-
den Ausschusses Beispiele für die „geeigneten Maß-
nahmen“ aufgenommen, die die Finanzbehörden zum
Schutz der betroffenen Personen ergreifen sollen, wenn
eine Auskunft durch die Behörde unterbleibt . Dies ist
zum einen die Bereitstellung allgemeiner Informatio-
nen für die Öffentlichkeit, zum Beispiel in Form einer
Informationsbroschüre oder einer Veröffentlichung auf
der Website der Finanzverwaltung . Zum Zweiten muss
die Informationsausgabe der Finanzbehörden umgehend
erfolgen, sobald der Hinderungsgrund der Nichtausgabe
der Information entfallen ist .
Auch wenn man über das Verfahren streiten kann, so
bin ich überzeugt, dass wir an dieser Stelle eine sachge-
rechte Anpassung der Datenschutzregelungen im Bereich
des Steuerrechts erzielt haben . Ich bitte deshalb um Zu-
stimmung zum Gesetz .
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Jutta Krellmann (DIE LINKE): Wir Linke haben die
Behandlung der Dutzenden von vorliegenden Änderun-
gen an dem Bundesversorgungsgesetz als Omnibus-Än-
derungsantrag schon mehrfach kritisiert . Es kann nicht
sein, dass wir Änderungen unter anderem am Handels-
gesetzbuch, am Genossenschaftsgesetz, am Patentgesetz,
an den Sozialgesetzbüchern I, II, III, VII, IX, X sowie
XII – es sind noch viele andere mehr – zu unterschiedli-
chen Zwecken in einem Tagesordnungspunkt behandeln,
und dann noch nicht mal eine Debatte im Bundestag dazu
führen .
Omnibusverfahren wie diese erschweren es uns Ab-
geordnete, die zur Abstimmung vorgelegten Gesetzesin-
itiativen ordnungsgemäß und gewissenhaft im Interesse
der Allgemeinheit zu prüfen . Und sie erleichtern es Lob-
byisten, Änderungen zugunsten von Partikularinteressen
unbemerkt durchzudrücken . Wenn Demokratie funk-
tionieren soll, wenn vor allem auch die Politik für die
Bürgerinnen und Bürger nachvollziehbar sein soll, muss
Gründlichkeit vor Schnelligkeit gehen .
Den Gesetzentwurf sowie den Änderungsantrag der
Koalition müssen wir ablehnen, denn es ist zu viel Frag-
liches dabei . Ich kann hier aber nur auf einzelne Punkte
eingehen .
Zu den Änderungen im Asylbewerberleistungsgesetz:
Sie sind schlicht überflüssig. Der mehrfache Leistungs-
bezug infolge ungeklärter Identitäten war ein Übergangs-
phänomen der Jahre 2015 und 2016, als die Behörden mit
der korrekten Erfassung vieler Asylsuchender nicht nach-
gekommen sind . Nach Angaben der Bundesregierung ist
aber mittlerweile die Identifizierung aller Asylsuchenden
sichergestellt, Mehrfachmeldungen unter unterschiedli-
chen Identitäten würden bereits bei Antragstellung auf-
gedeckt . Die wenigen Missbrauchsfälle, die überhaupt
noch denkbar sind, rechtfertigen die geschätzten Kosten
von 4 Millionen Euro bei weitem nicht .
Zudem drohen diese sinnlosen Regelungen einen Pau-
schalverdacht gegen Geflüchtete zu legitimieren. Damit
sind sie Wasser auf die Mühlen der Rechten, genauso wie
die skandalösen Asylrechtsverschärfungen des letzten
Jahres . Die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU
und SPD sollten aufhören, rechte Stammtischparolen in
Gesetzesform zu gießen .
Das vorgeschlagene Gesetz zur Sicherung von Arbeit-
nehmerrechten in der Fleischwirtschaft ist dementgegen
zu begrüßen . Als Abgeordnete aus Niedersachsen weiß
ich genau, dass die Ausbeutung in der Fleischindustrie
schon lange besonders verheerend ist . Der Anteil der
Beschäftigten im Niedriglohnbereich lag 2014 in der
Branche bei 41 Prozent – fast doppelt so hoch wie in der
Gesamtwirtschaft bei 22 Prozent .
Gerade in der Fleischindustrie, wo das Arbeitsvo-
lumen sinkt, die Produktion aber steigt, gilt: Der Profit
einiger weniger wird auf dem Rücken der Beschäftigten
erwirtschaftet . Die deutschen Fleischbarone sind dabei,
den europäischen Markt zu erobern – auf dem Rücken
der Beschäftigten . Die Massentierhaltung und die Dum-
pinglöhne in der Fleischindustrie ermöglichen, dass
40 Prozent des in Deutschland produzierten Fleisches,
über 3 Millionen Tonnen pro Jahr, exportiert werden .
Der Durchschnittslohn der Kernerwerbstätigen liegt
in der Branche bei 1 977 Euro – ein Lohn, der bei weitem
nicht ausreicht, um nach 45 Jahren eine Rente oberhalb
der Grundsicherung zu bekommen .
Es ist dem langen Atem der Gewerkschaft NGG und
den Betriebsräten zu verdanken, dass flächendeckender
Missbrauch von Werkverträgen und unwürdige Arbeits-
bedingungen nicht mehr unter den Teppich gekehrt wer-
den konnten .
Aus der Antwort auf eine Kleine Anfrage unserer
Fraktion wissen wir, dass 2015 bundesweit 171 Ord-
nungswidrigkeitsverfahren und 256 Strafverfahren ein-
geleitet wurden, unter anderem wegen Verstößen gegen
die Aufzeichnungs- und Aufbewahrungspflicht von Ar-
beitszeiten oder, weil vorgeschriebene Arbeitsbedingun-
gen durch Tarifvertrag missachtet werden . Die Verfahren
bilden aber nur die Spitze des Eisberges; denn aufgrund
fehlender Beweismaterialien werden die meisten Fälle
nie verfolgt. Eine verpflichtende Zeiterfassung morgens
bei Arbeitsbeginn, wie vom Gesetz vorgesehen, würde es
den Behörden erleichtern, gegen Verstöße von Arbeitge-
berseite zu ermitteln . Dies ist ein erster Schritt und ist
längst überfällig .
Es muss aber noch viel mehr getan werden, damit alle
Beschäftigten, auch in der Fleischindustrie, ein würdiges
Leben führen können . Es ist Zeit für ein neues Normalar-
beitsverhältnis: Unbefristete sozialversicherungspflichti-
ge Jobs, die unter Tarifverträge fallen und angemessen
bezahlt werden, dürfen nicht länger die Ausnahme sein,
sondern müssen wieder zur selbstverständlichen Regel
werden . Deswegen fordert die Linke umfassende gesetz-
liche Regelungen gegen den Missbrauch von Werkver-
trägen und Leiharbeit sowie ein umfassendes Mitbestim-
mungsrecht für Betriebs- und Personalräte . Auch bedarf
es dringend eines Mindestlohns von 12 Euro . Nur so
können wir sicherstellen, dass alle ihrer Arbeit in Würde
nachgehen können .
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN): Die Große Koalition mutet dem Bun-
destag mit dem Gesetzentwurf, den wir hier heute dis-
kutieren, enorm viel zu; denn eigentlich ist es auch nicht
ein Gesetzentwurf, sondern ein sogenannter Omnibus,
das heißt, es handelt sich um einen Gesetzentwurf, an
den weitere Gesetzentwürfe angehängt wurden – in die-
sem Fall viele Gesetzentwürfe . Das Verfahren ist eines,
das ich in der Zeit, die ich im Bundestag bin, noch nicht
erlebt habe . Der ursprüngliche Gesetzentwurf enthielt
zehn Seiten . Dabei ging es um einfache Anpassungen
wie die Anhebung der Schonvermögen im Bundesver-
sorgungsgesetz und der Kriegsopferfürsorge, die wir als
grüne Bundestagsfraktion begrüßen und mittragen . Doch
dann legte man kurz vor der Anhörung im Ausschuss für
Arbeit und Soziales einen ersten Änderungsantrag vor,
der nicht weniger als 75 Seiten umfasste . Dazu gehör-
ten hochkomplexe und grundlegende Veränderungen des
Sozial- und Finanzdatenschutzes insbesondere im SGB I
sowie in der Abgabenordnung . Hinzu kam noch die um-
fangreiche zweite Tranche der Umsetzung der DGSVO,
der Datenschutz-Grundverordnung . Der eigentlich für
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724290
(A) (C)
(B) (D)
Datenschutz zuständige Innenausschuss wusste davon
nichts .
Hinzu kam eine äußerst ungewöhnliche Sachverstän-
digenanhörung . So gab es zu manchen Teilen, wie den
Änderungen zum Asylbewerberleistungsgesetz, nur ei-
nen einzigen Sachverständigen, der sich dazu geäußert
hat . Die Bundesdatenschutzbeauftragte und der Hambur-
ger Datenschutzbeauftragte betonten in ihren schriftli-
chen Stellungnahmen, dass sie wegen der Kürze der Zeit
nur zu ausgewählten Fragen und nur kursorisch Stellung
nehmen konnten . Hinzu kam, dass die große Koalition
weniger als 24 Stunden vor der Ausschussberatung einen
weiteren, 90-seitigen Änderungsantrag vorlegte . Alles
zusammen genommen ist das ein Verfahren, das formal
noch korrekt ist, aber eigentlich ist es unmöglich, die
Gesetzestexte bei einem solchen Verfahren noch ausrei-
chend zu prüfen .
Ich schiebe das vorweg und betone das, weil es einen
Teil unserer Ablehnung heute erklärt, obwohl es einige
Aspekte in dem Gesetzentwurf gibt, die wir richtig finden
und ausdrücklich unterstützen . Dass wir den ursprüngli-
chen Gesetzentwurf unterstützt hätten, hatte ich schon
gesagt . Positiv an den Änderungsanträgen ist außerdem
die Einführung eines vergabespezifischen Mindestent-
geltes für Aus- und Weiterbildungsdienstleistungen im
SGB II und III zu bewerten .
Vor allem begrüßen wir als grüne Bundestagsfrakti-
on das Gesetz zur Sicherung von Arbeitnehmerrechten
in der Fleischwirtschaft . Gerade die Fleischwirtschafts-
branche ist mit ihrer hohen Dichte an mafiösen Struktu-
ren und den oftmals katastrophalen Arbeits- und Lohn-
bedingungen seit Jahren ein Problem . Eigentlich gelobte
die Fleischbranche Besserung . Doch sind die Zustände
in der Fleischindustrie noch immer verheerend . Noch
immer gibt es zahlreiche Klagen von Beschäftigten über
ausbeuterische Arbeitsbedingungen . Die Wohn- und Le-
benssituationen sind höchst prekär . Es geht um Steuer-
und Sozialversicherungsbetrug . In diesem Industriezweig
wird ein gnadenloser Konkurrenzkampf ausgetragen,
und zwar ausschließlich auf dem Rücken der Beschäf-
tigten . Der Branchenmindestlohn reicht da nicht aus, und
deshalb fordern wir Grünen schon lange weitergehende
Regelungen . Der Gesetzentwurf greift unsere jahrelange
Kritik endlich auf . Deshalb begrüßen wir, dass jetzt ein
Gesetz zur Sicherung der Arbeitnehmerrechte innerhalb
der Fleischwirtschaft geschaffen wird. Die vorgelegten
Vorschläge wurden auch von den Sachverständigen in
der Anhörung unterstützt. Wir hoffen sehr, dass das Ge-
setz auch tatsächlich Wirkung zeigt . Wir haben deshalb
im Ausschuss in getrennter Abstimmung auch dafür ge-
stimmt .
Zweifel haben wir an den Vorschlägen beim Asyl-
bewerberleistungsgesetz . Hier geht es um verbesserte
Möglichkeiten von Behörden, Fingerabdrücke von Asyl-
bewerber und Asylbewerberinnen zu nehmen, um deren
Identität zu überprüfen . Hintergrund der Änderungen sind
die Mehrfachidentitäten von Anis Amri . Es geht also um
das Schließen von Sicherheitslücken – und nicht, wie in
der Begründung steht, um Sozialmissbrauch . Das scheint
einerseits sinnvoll, andererseits bleiben datenschutz-
rechtliche Zweifel, der Hauch eines Generalverdachtes
gegenüber Geflüchteten sowie fehlende Lösungsansätze,
was die praktische Umsetzung des Gesetzes bezüglich
Sachmittel und Personalausstattung betrifft. Wir haben
uns deswegen im Ausschuss dazu enthalten .
Neben dem beschriebenen Verfahren sind es vor al-
lem die Datenschutzbedenken, die auch durch die beiden
Datenschutzbeauftragten in der Anhörung betont wur-
den, die für uns zu einer Gesamtablehnung führen . Der
Gesetzentwurf drängt die Datenschutzrechte Betroffener,
die in der Datenschutz-Grundverordnung durch unmittel-
bar geltendes EU-Recht geschaffen wurden, deutlich zu-
rück . Die Beschränkungen der Rechte auf Auskunft und
Information, der Ausschluss des Rechts auf Widerspruch,
die Einschränkung des Rechts auf Löschung – all das
geht weit über das von der DSGVO erlaubte Maß hinaus .
Wir lehnen dieses Omnibus-Gesetz ab und sollten –
egal in welcher Konstellation – in der nächsten Legisla-
turperiode dafür sorgen, dass es solche Omnibusgesetz-
verfahren, wie wir es hier erlebt haben, nicht mehr gibt .
Anlage 32
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Beate Müller-Gemmeke und
Katja Keul (beide BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
zu der Abstimmung über den von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung des Bundesversorgungsgesetzes und an-
derer Vorschriften (Tagesordnungspunkt 34)
Das Bundesversorgungsgesetz muss für viel herhal-
ten . Insgesamt 30 weitere Artikel beinhaltet das Gesetz,
allesamt Gesetzesänderungen, die ganz andere Dinge
betreffen, als im Bundesversorgungsgesetz geregelt sind.
Omnibusverfahren nennen wir das im Bundestag . Auf
die Schnelle versucht die Große Koalition, auf diese Wei-
se möglichst viele Gesetzesänderungen noch eben kurz
vor dem Ende der Legislaturperiode durch den Bundes-
tag zu jagen und abzuschließen .
So finden sich im Bundesversorgungsgesetz, das heu-
te beschlossen wurde, unter anderem höchst umstrittene
Datenschutzregelungen, denen wir als grüne Bundestags-
fraktion auf keinen Fall zustimmen können . Daher haben
wir als Fraktion beschlossen, dass wir dem gesamten Ge-
setzespaket mit all seinen 30 Artikeln nicht zustimmen
können .
Für uns ist das an einer Stelle fatal . Denn mit Arti-
kel 30 innerhalb des Bundesversorgungsgesetzes wird ein
Gesetz zur Sicherung der Arbeitnehmerrechte innerhalb
der Fleischwirtschaft geschaffen. Und diesem Gesetz
können wir aus ganzem Herzen zustimmen; denn hier
werden wirklich gute Regelungen für die Beschäftigten
in der Fleischwirtschaft getroffen. Leider stimmen wir
im Bundestag aber nicht über einzelne Artikel innerhalb
eines Gesetzes ab, sondern nur über das ganze Gesetz .
Deshalb konnten wir diesem Artikel zwar im Ausschuss
zustimmen, aber im Plenum nicht . Die Zustimmung ist
uns aber wichtig . Deshalb möchten wir die Zustimmung
in dieser persönlichen Erklärung auch dokumentieren .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24291
(A) (C)
(B) (D)
Die verheerenden Zustände in der Fleischindustrie
sind bekannt . Die Medien sprechen längst schon von
Sklavenhaltermethoden . Das System des Anwerbens und
Unterbringens ausländischer Beschäftigter, von Steuer-
und Sozialversicherungsbetrug ist viel zu gut eingespielt .
In diesem Industriezweig wird ein gnadenloser Konkur-
renzkampf ausgetragen – und zwar ausschließlich auf
dem Rücken der Beschäftigten . Dem soll mit dem Gesetz
jetzt ein Riegel vorgeschoben werden .
Künftig haften danach auftraggebende Unternehmen
für die Sozialversicherungsbeiträge ihrer Subunterneh-
mer . Eine solche Regelung existiert bisher nur im Bau-
gewerbe, und hier bewirkt sie einiges . Außerdem müs-
sen Arbeitgeber ihren Beschäftigten künftig alle nötigen
Arbeitsmittel unentgeltlich zur Verfügung stellen und sie
instand halten . Hierzu zählen zum Beispiel Sägen, Mes-
ser, Wetzstahl, Kettenhandschuhe oder Kettenschürzen .
Bisher müssen Beschäftigte in der Fleischwirtschaft ihre
Arbeitsmittel häufig selbst bezahlen. Doch natürlich be-
steht auch in der Fleischindustrie eine Fürsorgepflicht der
Arbeitgeber . Da Arbeitszeiten in der Fleischwirtschaft
oft nicht eingehalten werden, werden mit dem Gesetz die
Dokumentationspflichten zur Arbeitszeit verschärft.
Diese Regelungen sind wichtig, um gegen die drasti-
schen Missstände in der Fleischwirtschaft endlich wirk-
sam vorzugehen . Deshalb bedanken wir uns auch bei den
Initiatoren dieser Gesetzesinitiative .
Anlage 33
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– des von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Fortschreibung der
Vorschriften für Blut- und Gewebezubereitun-
gen und zur Änderung anderer Vorschriften
– der Beschlussempfehlung und des Berichts des
Ausschusses für Gesundheit zu dem Antrag
der Abgeordneten Elisabeth Scharfenberg,
Kordula Schulz-Asche, Renate Künast, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN: Pflege-TÜV hat versagt – Jetzt
echte Transparenz schaffen: Pflegenoten ausset-
zen und Ergebnisqualität voranbringen
(Tagesordnungspunkt 35 a und b)
Rudolf Henke (CDU/CSU): Zu später Stunde wer-
den wir heute mit dem Gesetz zur Fortschreibung der
Vorschriften für Blut- und Gewebezubereitungen und
zur Änderung anderer Vorschriften eines der letzten und
aufgrund der zusätzlichen zahlreichen fachfremden Än-
derungen ein sehr vielseitiges Vorhaben der Koalitions-
fraktionen verabschieden .
Mit dem ursprünglichen Regierungsentwurf werden
die Rahmenbedingungen für die Zubereitung von Blut-
und Gewebeprodukten fachlich und rechtlich angepasst .
Auch im Bereich der Nutzung von Arzneimitteln für
neuartige Therapien werden wir die Erfahrungen der
Länder und des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI) aufgreifen
und Genehmigungs- und Herstellungsverfahren klarer
regeln .
Das parlamentarische Verfahren zu diesem Vorhaben
wurde ohne große inhaltliche Auseinandersetzungen in
der Sache durchgeführt, was insgesamt dafür spricht,
dass wir fraktionsübergreifend alle das Interesse verfol-
gen, die gesundheitliche Versorgung, ihre Erforschung
und Weiterentwicklung samt Genehmigungsverfahren
den heutigen Gegebenheiten anzupassen . Das ist in der
Sache eine erfreuliche Bestandsaufnahme .
Neben diesen Entscheidungen haben wir das parla-
mentarische Verfahren dazu genutzt, zahlreiche fach-
fremde Änderungen aufzunehmen, um auf Entwick-
lungen und Missstände zu reagieren, die sich im Laufe
der letzten Monate bemerkbar gemacht haben . Mit der
notwendigen Sorgfalt haben wir in wichtigen Punkten
Einigungen erzielen können, sodass die entsprechenden
Regelungen vor dem Ende der Legislaturperiode noch in
Kraft treten können .
Diese Regelungen, auf die mein Kollege Dietrich
Monstadt in seiner Rede noch näher eingehen wird, be-
treffen etwa die planungsrelevanten Qualitätsindikatoren
im Krankenhaussektor . Wir haben uns darauf verständigt,
dass wir die Vorgabe machen, dass die Maßstäbe und Kri-
terien der Qualitätsindikatoren eine Bewertung der Qua-
lität von Krankenhäusern insbesondere im Hinblick da-
rauf ermöglichen müssen, ob eine in einem erheblichen
Maße unzureichende Qualität vorliegt . Die Länder, das
ist im Kontext sich verändernder Kompetenzteilung zwi-
schen Bund und Ländern vielleicht nicht unwichtig zu
betonen, bleiben weiterhin planungskompetent im Kran-
kenhauswesen, da sie bei Bedarf von diesen Empfehlun-
gen des Gemeinsamen Bundesausschusses abweichen
können . Des Weiteren zählen zu diesem Themenkomplex
auch die Ausnahme vom Darlehensaufnahmeverbot für
bestandsgeschützte Eigeneinrichtungen der Kranken-
kassen und die Vergütungskürzung bei Personalunterde-
ckung und bei der Nichteinhaltung tariflicher Löhne in
der stationären Pflege. Hier wurde eine Lösung ähnlich
der bereits geltenden Regelungen im Altenpflegebereich
gefunden .
Besonders hervorheben möchte ich ein Paket von Än-
derungsanträgen in Bezug auf eine Reform der Stiftung
Humanitäre Hilfen für durch Blutprodukte HIV-infizierte
Personen. Die Betroffenen des Blutprodukteskandals vor
mehr als 30 Jahren sollen sich darauf verlassen können,
dass sie lebenslang finanzielle Hilfen erhalten. Für sie ist
es eine wichtige Botschaft, dass wir uns innerhalb der
Koalitionsfraktionen auf eine Änderung des HIV-Hilfe-
gesetzes verständigt haben, wodurch ab dem Jahr 2019
der Bund die Finanzierung der HIV-Stiftung allein über-
nehmen wird . Bisher waren neben dem Bund und den
Ländern dafür auch pharmazeutische Unternehmen und
das Deutsche Rote Kreuz verantwortlich, die Zusagen
wurden jedoch immer nur für die Dauer gewährt, für die
die Mittel ausreichten .
Die Leistungen werden über die nicht mehr begrenzte
Dauer hinaus entsprechend der Anpassung in der gesetz-
lichen Rentenversicherung dynamisiert .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724292
(A) (C)
(B) (D)
Bis zum Inkrafttreten der neuen Regelungen sind die
finanziellen Hilfen der Betroffenen nach dem bisheri-
gen Finanzierungssystem gesichert . Da die Leistungen
künftig entsprechend den Anpassungen in der gesetzli-
chen Rentenversicherung dynamisiert werden, stellt der
Bund in den nächsten Jahren 8 bis 10 Millionen Euro für
die Entschädigungen zur Verfügung. Damit schaffen wir
endlich die lange erhoffte Sicherheit für die Betroffenen
und deren unterhaltsberechtigte Angehörige .
Offen gestanden erfüllt mich das auch als Mitglied des
Kuratoriums der Aidshilfe NRW mit großer Freude .
Dietrich Monstadt (CDU/CSU): Heute beraten wir
abschließend das Gesetz für Blut- und Gewebezube-
reitungen und zur Änderung anderer Vorschriften von
Arzneimitteln für neuartige Therapien (ATMP) wie Gen-
oder Zelltherapeutika .
Basierend auf den gesammelten Erfahrungen der Län-
der und des Paul-Ehrlich-Instituts werden die bestehen-
den Vorschriften im Bereich Blut- und Gewebezuberei-
tungen und ATMP an die aktuellen wissenschaftlichen
und technischen Entwicklungen angepasst . Gleichzeitig
vereinfachen wir die Genehmigungsverfahren, erhöhen
die Sicherheit dieser besonderen Arzneimittel und straf-
fen die gesetzlichen Regelungen zur Marktüberwachung .
Diese Änderungen schaffen mehr Transparenz und
verbessern weiter die sehr hohen Sicherheitsstandards
für Blut- und Gewebezubereitungen sowie für Arznei-
mittel für neuartige Therapien . Darauf wurde bereits aus-
führlich von meinen Kollegen eingegangen .
Im Rahmen dieses Gesetzes haben wir auch einige
sachfremde Änderungseinträge eingebracht, auf die ich
an dieser Stelle zum Teil eingehen möchte .
§ 188 Absatz 4 SGB V wird um eine Sonderregelung
für Saisonarbeitnehmer ergänzt, die vorübergehend für
eine auf bis zu acht Monate befristete sozialversiche-
rungspflichtige Beschäftigung nach Deutschland gekom-
men sind . Die bisherige Praxis hat gezeigt, dass es hier zu
Fehlanreizen innerhalb der gesetzlichen Krankenkassen
kommen kann . Krankenkassen konnten in diesen Fäl-
len Versicherungszeiten für den Risikostrukturausgleich
melden und Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds er-
halten, ohne dass den Zuweisungen mögliche Leistungs-
ausgaben gegenüberstanden . Dies soll mit dieser Rege-
lung abgestellt werden . Ab dem 1 . Januar 2018 werden
Saisonarbeitnehmer nach dem Ende ihrer versicherungs-
pflichtigen Beschäftigung gemäß § 188 Absatz 4 SGB V
nur noch dann als freiwillige Mitglieder weiter versi-
chert, wenn sie nach dem Ausscheiden aus der Pflicht-
versicherung innerhalb von drei Monaten eine ausdrück-
liche Beitrittserklärung abgeben und ihren Wohnsitz oder
ständigen Aufenthalt in Deutschland nachweisen . Wir
beseitigen damit weitere Fehlanreize im Risikostruktur-
ausgleich .
Mit dem vorliegenden Gesetz erweitern wir die
Maßstäbe und Kriterien für eine Bewertung der Quali-
tätsergebnisse von Krankenhäusern nach dem Kranken-
hausstrukturgesetzes (KHSG) vom 10 . Dezember 2015 .
Qualität und Transparenz müssen in der Gesundheits-
versorgung stets oberste Priorität haben . Im Rahmen des
KHSG haben wir planungsrelevante Qualitätsindikatoren
des Gemeinsamen Bundesausschusses für die Länder auf
den Weg gebracht . Im Sinne eines „lernenden“ Systems
bzw . Gesetzes hat sich gezeigt, dass diese konkretisiert
werden müssen . Die planungsrelevanten Qualitätsindika-
toren müssen nun so gestaltet werden, dass unzureichen-
de Qualitätsergebnisse „in erheblichem Maß“ feststellbar
sind .
Die Planungshoheit liegt und bleibt damit weiterhin
bei den Ländern . Diese erhalten durch die neue Regelung
eine fundierte fachliche Grundlage, auf die sie die Pla-
nungsentscheidungen nach § 8 Absatz 1a und 1b KHG
stützen können . Die Länder müssen hier ihrer Verantwor-
tung nachkommen . Sie sind ganz klar aufgefordert, die
notwendigen Qualitätsanforderungen – im Sinne einer
hochwertigen medizinischen Versorgung aller Patientin-
nen und Patienten – zum Gegenstand der Krankenhaus-
planung zu machen .
Wir ergänzen mit diesem Gesetz auch die bestehenden
Regelungen im Hinblick auf etwaige Vergütungskürzun-
gen bei Personalunterdeckung in stationärer Pflege sowie
bei Nichteinhaltung tariflicher Bezahlung.
Eine qualitativ hochwertige Versorgung gelingt nur,
wenn ausreichend Personal zur Verfügung steht . Auf-
grund des demografischen Wandels stehen wir gerade im
Bereich der Pflege vor großen Herausforderungen. Die
Träger der stationären Pflegeeinrichtungen sind jederzeit
zur Sicherstellung der Versorgung der Pflegebedürftigen
mit der vereinbarten personellen Ausstattung – unabhän-
gig von Personalengpässen oder -ausfällen – verpflichtet.
Um dies auch nachhaltig sicherzustellen, ergänzen wir
die bestehende gesetzliche Regelung in § 115 SGB XI
mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts vom
12 . September 2012: Bei einer Unterschreitung der ver-
einbarten Personalausstattung um mindestens 8 Prozent
über mehrere Monate hinweg oder bei vorsätzlicher
Unterschreitung der vereinbarten Personalausstattung
seitens des Einrichtungsträgers kann eine rückwirkende
Kürzung der Pflegevergütung bis hin zur Kündigung des
Versorgungsvertrages nach § 115 Absatz 2 und 3 SGB XI
erfolgen .
Mit der gleichzeitig vereinbarten Tarifbindung stellen
wir sicher, dass alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mer in diesem Bereich die gleiche Bezahlung erhalten,
unabhängig davon, ob sie in einer Stadt oder ländlichen
Region tätig sind. Die Konkurrenz um Pflegepersonal –
zwischen urbanen und ländlichen Regionen, zwischen
wirtschaftlich starken und schwachen Regionen – wird
auch dadurch ein Stück weit abgebaut .
Das Gesetz für Blut- und Gewebezubereitungen und
zur Änderung anderer Vorschriften führt zu einer besse-
ren Versorgung, zum Beispiel durch den Einsatz neuer
Therapien . Darüber hinaus werden Fehlanreize weiter
abgebaut . Dies führt insgesamt zu einer noch besseren
Versorgungssicherheit im Sinne der Patientinnen und Pa-
tienten . Deshalb werbe ich um Ihre Zustimmung .
Hilde Mattheis (SPD): Wir beraten heute abschlie-
ßend das Gesetz zur Fortschreibung der Vorschriften für
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24293
(A) (C)
(B) (D)
Blut- und Gewebezubereitungen und zur Änderung an-
derer Vorschriften . Ich möchte im Folgenden vor allem
auf die vielen fachfremden Änderungen eingehen, die
wir an dieses Gesetz im Laufe der Beratung angehängt
haben und die mit dem eigentlichen Regelungsinhalt, der
Änderung des Gewebegesetzes, nur mittelbar etwas zu
tun haben .
Den Inhalt des eigentlichen Gesetzes, nämlich Ver-
fahrensvereinfachung für Arzneimittel für neuartige
Therapien, sogenannte ATMP, sowie neue Maßnahmen
zur besseren Behandlung von Hämophiliepatientinnen
und -patienten haben wir nur in einzelnen Punkten geän-
dert, zum Beispiel eine genauere Definition des Begriffes
„pharmazeutischer Unternehmer“ vorgenommen . Das
Ministerium hat hier aber schon gute Vorarbeit geleistet,
was unsere Arbeit erleichtert hat . Vielen Dank dafür .
Aus der Palette der sogenannten fachfremden Ände-
rungen möchte ich zunächst eine für meine Fraktion sehr
wichtige gesetzliche Klarstellung im Bereich der Perso-
nalausstattung in stationären Pflegeeinrichtungen anfüh-
ren. Die Träger solcher Pflegeheime sind verpflichtet,
die Sicherstellung der Versorgung der Pflegebedürftigen
durch entsprechendes Personal zu gewährleisten . Das
heißt, es muss genug und ausreichend geschultes Perso-
nal jederzeit in der Einrichtung arbeiten, um die Qualität
der Betreuung fortlaufend zu sichern . Der Träger muss
natürlich etwaigen Ausfall des Personal, zum Beispiel
aufgrund Krankheit oder Urlaub, mit einkalkulieren . Tut
er das nicht oder spart er aus welchen Gründen auch im-
mer am Personal, spart er gleichzeitig an der Pflegequa-
lität und gefährdet damit das Wohlergehen der Patientin-
nen und Patienten . Das Bundessozialgericht hatte 2012
festgestellt, dass in einem solchen Fall rückwirkende
Kürzungen der Pflegevergütung vorgenommen werden
können . Dies werden wir nun auch gesetzlich festhalten .
Das Signal ist hier klar und sollte auch deutlich ver-
standen werden: Wir werden mutwillige oder gar betrü-
gerische Verstöße gegen die Personalverbeinbarungen
nicht tolerieren . Ein permanenter Personalmangel in den
Pflegeeinrichtungen ist eine Gefahr für die Menschen:
einerseits für die Pflegebedürftigen, die eine menschen-
würdige Pflege zu Recht erwarten, und andererseits für
das Personal, das mit Überstunden und Mehraufwand
versucht, den Personalmangel auszugleichen und daran
womöglich krank wird . Wer als Träger so handelt, wird
bestraft, indem die Vergütung für Pflegeleistungen ge-
kürzt wird .
Gleiches gilt bei Nichteinhaltung der tariflich verein-
barten Vergütung oder von Vereinbarungen nach kirch-
lichem Arbeitsrecht . Wir alle wissen aus zahlreichen
Gesprächen, Besuchen und Briefen, wie stressig der
Arbeitsalltag als Pflegekraft sein kann. Diese Menschen
verdienen eine ordentliche Bezahlung . Wenn der Arbeit-
geber seine Angestellten um ihr hart verdientes Geld
prellt, ist das kein Bagatelldelikt, sondern eine klare
Missachtung ihrer Leistungen für die pflegebedürftigen
Menschen in diesem Land . Das können und dürfen wir
nicht tolerieren; daher muss auch hier der Arbeitgeber
spürbar bestraft werden . Das setzen wir nun um .
Diese Regelungen fördern gute Arbeit in der Pflege.
Ich gehe davon, dass wir uns dazu alle hier im Haus be-
kennen. Wir haben mit den Pflegestärkungsgesetzen hier
bereits einige Bausteine eingesetzt, zum Beispiel, indem
wir sichergestellt haben, dass tatsächlich gezahlte Tarif-
entgelte in den Vergütungsverhandlungen für die ambu-
lante und stationäre Pflege nicht als unwirtschaftlich be-
wertet dürfen . Auch für die Vergütungsverhandlungen im
Bereich der häuslichen Krankenpflege wird es zukünftig
Pflichten zum Nachweis tatsächlich gezahlter Tariflöhne
oder Arbeitsentgelte geben . Die Krankenhäuser erhalten
einen Ausgleich für den Fall, dass Tarifabschlüsse die
Obergrenze für die Preiszuwächse der Krankenhäuser
übersteigen. Wer Tariflohn zahlt, darf dafür nicht bestraft
werden . Wer sich dem aber verweigert, wird mit Strafe
rechnen müssen .
Wir erwarten, dass sich Tarifvergütungen in der Pfle-
ge in Zukunft verbreiten, und unterstützen die Gewerk-
schaften ausdrücklich in deren Bestreben, Tarifverträge
abzuschließen . Eine ordentliche Bezahlung und eine
Absicherung durch starke Gewerkschaften machen den
Pflegeberuf attraktiver für junge Menschen. Sie können
sich so sicherer sein, dass ihre Arbeit als wertvoll aner-
kannt wird . Und das schlägt sich auch konkret in der Be-
zahlung nieder . Dieses Gesetz ist daher ein klares Signal
für gute Arbeit in der Pflege.
Wir werden mit dem Gesetz außerdem eine Änderung
des Versicherungsschutzes für Saisonarbeitnehmerinnen
und -arbeitnehmer vornehmen. Nach der Definition des
Gesetzes sind dies Arbeitnehmer, die aus dem Ausland
nur für wenige Monate zur Arbeit nach Deutschland
kommen, beispielsweise Erntehelfer . Da diese Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer sehr häufig nicht planen,
länger in Deutschland zu bleiben, und wieder in ihr Hei-
matland zurückkehren, ist ein dauerhafter Versicherungs-
schutz bei den Krankenkassen nicht nötig . Die Kassen
hatten aber in der Vergangenheit das Problem, dass die-
se Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei ihnen als
Versicherte registriert sind und sich nach Ausreise aus
Deutschland nicht wieder abgemeldet hatten und somit
quasi als Versicherte bei den Krankenkassen verbleiben
und sich Beitragsschulden anhäufen .
Daher werden wir nun das Regel-Ausnahme-Verhält-
nis umdrehen . Saisonarbeitnehmer werden automatisch
nach Beendigung ihrer Beschäftigung bei der Kranken-
kasse abgemeldet, es sei denn, sie melden sich spätestens
drei Monate nach Ende der Versicherungspflicht als frei-
willige Mitglieder der Krankenversicherung an oder wei-
sen nach, dass ihr ständiger Wohnsitz in Deutschland ist .
Selbstverständlich müssen die Krankenkassen den Ar-
beitnehmer zu Beginn seiner Beschäftigung in Deutsch-
land unverzüglich über diese Konditionen aufklären,
und auch bei einer verspäteten Anmeldung kann eine
nachträgliche Pflichtversicherung begründet werden, um
einen lückenlosen Versicherungsschutz innerhalb der ge-
setzlichen Krankenversicherung zu gewährleisten . Wir
gehen davon aus, dass diese Neuregelung eine Verein-
fachung für die Krankenkassen einerseits, aber auch die
Saisonarbeitnehmer andererseits darstellt, die sich um
eine Abmeldung nicht mehr kümmern müssen .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724294
(A) (C)
(B) (D)
Ich habe bereits bei der ersten Lesung des Gesetzes
das Thema der Stiftung Humanitäre Hilfe für durch Blut-
produkte HIV-infizierte Personen angesprochen, das die
SPD-Fraktion sehr intensiv betreut hat . Ich bin sehr froh,
dass es uns gelungen ist, hier für die Betroffenen ganz
substanzielle Verbesserungen zu erreichen und ihnen mit
diesem Gesetz eine Sicherheit über ihr finanzielles Ein-
kommen zu geben – eine Sicherheit, die den Betroffenen
jahrelang fehlte . Worum geht es? Die Stiftung Humanitä-
re Hilfe wurde infolge des sogenannten Blutspendeskan-
dals eingerichtet. Während der 1980er-Jahre infizierten
sich weltweit mehrere Tausend Menschen aufgrund kon-
taminierter Blutprodukte mit HIV . In Deutschland waren
es mehr als 1 500 Menschen . 1993 hat der Bundestag das
HIV-Hilfegesetz verabschiedet und die erwähnte Stif-
tung Humanitäre Hilfe gegründet . Sie soll den Personen,
die durch Blutprodukte unmittelbar oder mittelbar an
HIV oder infolge dessen an Aids erkrankt sind, und de-
ren unterhaltsberechtigten Angehörigen finanzielle Hilfe
bzw . soziale Leistungen gewähren .
Allerdings wurde damals festgelegt, dass die Stiftung
aufgehoben wird, wenn der Stiftungszweck erfüllt oder
die finanziellen Mittel erschöpft sind. Diese ungünstige
Formulierung führte dazu, dass die rund 1 500 Opfer des
Blutspendeskandals jährlich darauf hoffen mussten, dass
die Mittel durch den Bundestag weiter gewährt werden,
damit sie ihre finanzielle Unterstützung weiter erhalten.
Diese unwürdige Situation werden wir nun endlich be-
enden und sagen ganz klar: Die Opfer dieses Skandals
werden finanzielle und soziale Leistungen bis zu ihrem
Lebensende erhalten . Aufgrund des medizinischen Fort-
schritts ist das hoffentlich noch lang. Die Betroffenen ha-
ben inzwischen eine annähernd gleiche Lebenserwartung
wie ein gesunder Mensch . Nichtsdestotrotz müssen sie
mit der Belastung HIV bzw . AIDS leben, und es ist hier
ganz klar Aufgabe der Politik, sie zu unterstützen .
Wir haben nun festgelegt, dass der Bund alleiniger
Stifter der Stiftung Humanitäre Hilfe wird und die Zah-
lungen an die Erkrankten lebenslang gewährt werden .
Die bisher widersprüchlichen Regelungen des HIV-Hil-
fegesetzes entfallen vollständig . Wir haben außerdem
in den Beratungen ein weiteres wichtiges Anliegen der
Betroffenen aufgenommen: Die Leistungen der Stiftung
werden nicht wie bisher auf gleichbleibendem Niveau
gewährt, sondern dynamisiert, das heißt, sie passen sich
der Inflation an und steigend damit jährlich. Die bisheri-
gen Zahlungen führten effektiv aufgrund von Teuerung
und Inflation zu sinkenden Leistungen. Wir werden nun
mit Wirkung von 2019 die Zahlungen an das Niveau der
gesetzlichen Rentenversicherung koppeln und den aktu-
ellen Rentenwert als Maßstab für die Leistungen der Op-
fer des Blutspendeskandals nehmen .
Ich bin sehr froh, dass es uns gelungen ist, dies zu ver-
einbaren und den Menschen das Signal zu geben, dass
die Politik sie nicht vergessen hat . Ich bedanke mich
gleichzeitig bei den Patientinnen und Patienten bzw . ih-
ren Angehörigen für deren Geduld und Beharrlichkeit,
uns als Bundestag immer wieder zu mahnen, hier eine
Änderung vorzunehmen . Es ist schön, zu sehen, dass dies
gelungen ist .
Ich bedanke mich bei allen Kolleginnen und Kolle-
gen für die konstruktive und zielorientierte Arbeit an
diesem Gesetz . Wir haben damit bewiesen, dass wir bis
zum Schluss der Wahlperiode gute Arbeit leisten und für
viele Versicherte, für Patientinnen und Patienten sowie
Beschäftigte in der Pflege wichtige und gute Neuerungen
erzielen können .
Mechthild Rawert (SPD): Zur großen Pflegereform
dieser Legislatur gehört noch eines: die Vollendung der
Pflegeberufereform. Die SPD kämpft weiterhin hart für
die generalistische Ausbildung in der Pflege.
Mit dem Omnibusgesetz zu Blut- und Gewebezube-
reitungen verabschieden wir auch Neuregelungen im Zu-
sammenhang mit den Pflegestärkungsgesetzen und dem
HIV-Hilfegesetz .
Da wir gesetzgeberische Sorgfalt ernst nehmen, neh-
men wir im Pflegebereich noch einige Anpassungen eher
technischer Art zu den umfangreichen Pflegestärkungs-
gesetzen vor, so zum Beispiel bei den Modellvorhaben
zur kommunalen Pflegeberatung aus dem Dritten Pflege-
stärkungsgesetz. Es ist jetzt möglich, dass Pflegekassen
und Kommunen ergänzende Vereinbarungen treffen und
in der Pflegeberatung kooperieren, wobei die Kommunen
nur koordinierende Aufgaben übernehmen . Dies bedeu-
tet noch mehr Gestaltungsmöglichkeiten .
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten le-
gen großen Wert auf gute und verlässliche Pflegequalität.
Deswegen haben wir mit dem Pflegestärkungsgesetz II
die Qualitätsmessung, die Qualitätsberichterstattung und
die Qualitätsdarstellung reformiert . Die Qualität einer
Einrichtung muss für Pflegebedürftige und ihre Angehö-
rigen zuverlässig überprüfbar sein und transparent darge-
stellt werden . Zuverlässige Indikatoren für Qualität und
ihre Kontrolle helfen Pflegeempfängerinnen und -emp-
fängern, eine für sie passende Einrichtung auszusuchen .
Sie dienen auch der Aufdeckung von Missständen . Wir
entbürokratisieren die Dokumentation durch Pflegekräfte
und helfen ihnen so, ihre Arbeit besser zu bewältigen . Zu-
gleich profitieren die Pflegeempfängerinnen und -emp-
fänger von einer bedarfsgerechteren Dokumentation .
Im Gesetz zu Blut- und Gewebezubereitungen neh-
men wir abermals eine wichtige Regelung zur Verbes-
serung der Pflegequalität vor – in Bezug auf ein Urteil
des Bundessozialgerichts vom 12 . September 2012 . Es
besagt, dass bei Qualitätsmängeln in Einrichtungen eine
rückwirkende Kürzung der Pflegevergütung der Kassen
vorgenommen werden kann . Eine konkrete Feststellung
der Mängel sei dabei entbehrlich, wenn ein planmäßiges
und zielgerichtetes, das heißt vorsätzliches Unterschrei-
ten der vereinbarten Personalausstattung vorliege . Diese
Rechtsprechung nehmen wir ausdrücklich in das Gesetz
auf . Wir sehen in einem solchen Fall nicht nur eine Ver-
gütungskürzung, sondern die Möglichkeit der Kündi-
gung des Versorgungsvertrags vor . Ein Verstoß liegt auch
bei einer nicht nur vorübergehenden Unterschreitung der
Personalausstattung vor .
Wird festgestellt, dass der Einrichtungsträger seine
Beschäftigten nicht in der Höhe bezahlt, die der Verein-
barung der Pflegevergütung an die Einrichtung zugrunde
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24295
(A) (C)
(B) (D)
liegt, erfolgt ebenfalls eine Kürzung der Vergütung . Wir
wollen, dass das Geld der Versicherten dort ankommt,
wo es hingehört: bei den Pflegeempfängerinnen und
-empfängern sowie den Beschäftigten .
Last, but not least hat die SPD-Bundestagsfrakti-
on eine für viele Menschen bedeutsame Änderung des
HIV-Hilfegesetzes durchgesetzt: Es ist Schluss mit dem
Bangen der Betroffenen um die weitere finanzielle Unter-
stützung durch die Stiftung Humanitäre Hilfe für durch
Blutprodukte HIV-infizierte Personen, die im Anschluss
an den Blutprodukteskandal, der vor 30 Jahren das Land
erschütterte, gegründet wurde . Geregelt ist nun, dass
sie diese Unterstützung lebenslang erhalten werden und
diese auch an die Entwicklung der gesetzlichen Renten-
versicherung angepasst ist . Über diesen Erfolg freue ich
mich zusammen mit den Betroffenen sehr.
Kathrin Vogler (DIE LINKE): Mit dem hier vorlie-
genden Gesetzentwurf will die Bundesregierung noch
kurz vor Toresschluss gleich eine Reihe unterschiedli-
cher Sachverhalte regeln . Das macht es natürlich schwie-
rig, in vier Minuten die ganze Bandbreite anzusprechen .
Aber man merkt schon, dass im Ministerium gerade
unter Zeitdruck gearbeitet wird: Auf die Schnelle sind
der Bundesregierung einige Schnitzer passiert, die im
Beratungsverlauf noch korrigiert werden müssten . An
mehreren Stellen finden sich unzulängliche Begriffsbe-
stimmungen, fehlende Differenzierung, uneinheitliche
Sprachregelungen und zum Teil inkonsistente Regelun-
gen zu Genehmigungsverfahren .
Auch wundert es mich, warum die Bundesregierung
Blutstammzellen in Deutschland anders als in der EU
unterschiedlichen Qualitätsanforderungen unterwerfen
will, je nachdem, ob sie aus dem Knochenmark oder
der Nabelschnur stammen . Kann mir da mal jemand den
Sinn erklären?
Eine wissenschaftliche Auswertung der zur Verfü-
gung stehenden Daten für angeborene Blutungskrank-
heiten ist sinnvoll und wird von uns unterstützt . Aber es
bringt für die Betroffenen keinerlei Nutzen, wenn das
bereits existierende Hämophilieregister künftig allein
beim Paul-Ehrlich-Institut liegt und die Betroffenenor-
ganisationen nicht mehr beteiligt sind . Stattdessen sollte
die Bundesregierung ein schlüssiges Konzept für die Da-
tengewinnung und vor allem für die Auswertung der im
DHR gesammelten Daten vorlegen . Aber das leistet ihr
Entwurf nicht .
Insbesondere bereitet in der Praxis große Sorge, dass
die Regelungen zu Blut- und Gewebezubereitungen über
das Transplantationsgesetz, das Transfusionsgesetz und
das Arzneimittelgesetz verteilt sind . Dass dies insbeson-
dere bei Keimzellen zu einer großen Unübersichtlich-
keit führt, beklagen Praktiker und Juristen . Sie sehen
da große Probleme und rechtlichen Klärungsbedarf . Zu-
dem gibt es gerade bei der Reproduktionsmedizin jede
Menge offener Fragen. Bei Keimzellspenden und nicht
zuletzt Embryonenspenden im Ausland kommt es auch
für Kinder, die in Deutschland aufwachsen oder geboren
werden, zu vielen ungeklärten familienrechtlichen Fra-
gen . Einer Klärung geht die Bundesregierung wie beim
Samenspenderegister auch mit diesem Gesetz wieder aus
dem Weg – abermals eine vertane Chance .
Kommen wir zu den Änderungen bei der Pflegebera-
tung:
Im Gesetzentwurf erklärt die Bundesregierung, es
sollen „technische Anpassungen sowie Änderungen der
Regelungen zu den Modellvorhaben zur kommunalen
Beratung im SGB XI vorgenommen“ werden . Das klingt
harmlos und irgendwie unspektakulär . Was Sie aber ge-
nau vorhaben, betrachten wir durchaus kritisch .
Sie wollen die Möglichkeit schaffen, dass Kommu-
nen, die Modellprojekte zur Pflegeberatung durchführen,
besser auf lange gewachsene Strukturen und die Kompe-
tenz der Pflegekassen zurückgreifen können. So sollen
Kommunen künftig darauf verzichten können, die Pfle-
geberatung in eigenen Beratungsstellen durchzuführen,
wozu sie diese Bundesregierung erst im letzten Jahr mit
dem Pflegestärkungsgesetz III verpflichtet hatte – und
zwar unabhängig vom Vorhandensein anderer Möglich-
keiten . Das hört sich ja zunächst mal vernünftig an .
Aber was gar nicht geht, ist, dass Sie die Qualitätsstan-
dards für die Pflegeberatung aufweichen wollen und dass
die Kommunen das so eingesparte Geld behalten dürfen .
Denn erstens brauchen Pflegebedürftige und ihre Ange-
hörigen bestmögliche Beratung und nicht irgendwelche .
Und zweitens gehört dieses Geld den Pflegeversicherten,
nicht der öffentlichen Hand. Deswegen sage ich Ihnen:
Lassen Sie die Finger von der Beratungsqualität und sor-
gen Sie dafür, dass die Beiträge der Pflegeversicherten
wirklich in der Pflege ankommen. Sonst werden wir die-
sem Gesetz nicht zustimmen können .
Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Der vorliegende Gesetzentwurf mit den von der Koali-
tion eingebrachten Änderungsanträgen ist – gemeinsam
mit dem heute schon debattierten Gesetz zur epidemio-
logischen Überwachung übertragbarer Krankheiten – der
große Kehraus der Gesundheitspolitik . Die Regierungs-
koalition versucht kurz vor Toresschluss, schnell noch
ein paar offene Punkte abzuarbeiten. Das ist eigentlich
löblich . Man merkt allerdings an einigen Stellen, dass
Ihre Vorschläge mit heißer Nadel gestrickt sind .
Viele der Gesetzesänderungen im Bereich Blut und
Gewebe sind grundsätzlich sinnvoll und werden daher
von uns unterstützt . Leider lassen Sie weiterhin jede
Gelegenheit verstreichen, andere Mängel in der Gewe-
bemedizin zu beheben . Der aktuelle Gewebebericht der
Bundesregierung zeigt: Rund ein Fünftel der Einrichtun-
gen kommt ihren gesetzlichen Meldepflichten nicht nach.
Zudem sind viele der gemeldeten Zahlen insbesondere
zu muskuloskelettalen Geweben und Hautgeweben nach
eigenen Aussagen der Bundesregierung unplausibel . Es
werden in Deutschland viel mehr dieser Gewebe trans-
plantiert und exportiert als entnommen, ohne dass die
Behörden wissen, wo diese Gewebe eigentlich herkom-
men. Hier ist das Ministerium weiterhin in der Pflicht,
Transparenz herstellen .
Zudem gibt es in Deutschland – ähnlich wie bei Or-
ganspenden – einen Mangel an bestimmten Geweben,
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724296
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(B) (D)
sodass manche Patientinnen und Patienten nicht oder nur
mit erheblicher Verspätung versorgt werden können . In
erster Linie fehlen Augenhornhäute und Herzklappen .
Transparenz gibt es bei der Verteilung dieser Gewebe
aber weiterhin nicht. Es gibt weder öffentliche Vorgaben,
nach welchen Kriterien diese sogenannten Mangelgewe-
be vergeben werden müssen, noch führen die meisten
Einrichtungen und Kliniken Wartelisten . Sie als fachlich
zuständiges Ministerium überlassen es weiterhin dem Er-
messen der Akteure, wer ein Transplantat erhält, obwohl
selbst die Bundesärztekammer hier mehr Transparenz
fordert . Ich frage mich, warum die Bundesregierung in
regelmäßigen Abständen einen Bericht zur Analyse der
Gewebemedizin in Deutschland erstellt, wenn sie die
dort aufgezeigten Mängel stur ignoriert .
Nun zu den anderen Bereichen, die Sie über die Än-
derungsanträge noch schnell angehen: Viele dieser Vor-
schläge, beispielsweise zu Saisonarbeitern oder zur Ka-
renzzeit für Verwaltungsräte der Krankenkassen, sind
sinnvoll . Ausdrücklich zu begrüßen ist die dauerhafte
Finanzierung der Entschädigungszahlungen im Rahmen
des HIV-Hilfegesetzes. Zwar hätten wir uns einen Inflati-
onsausgleich auch für die vergangenen Jahre gewünscht;
auch eine Einbeziehung von Hepatitis-C-Infizierten in
diese Entschädigungsregelung hätten wir uns gewünscht .
Dennoch begrüßen wir die Verstetigung der Hilfe für
durch Blutkonserven HIV-Infizierte, weil sie für diese
endlich Sicherheit schafft.
Abzuwarten bleibt, was das geplante Register aller
Krankenhausärztinnen und -ärzte bringen wird . Ob hier
bürokratischer Aufwand und Nutzen noch in einem an-
gemessenen Verhältnis zueinander stehen, kann man jetzt
noch nicht beurteilen .
Bei den geplanten Änderungen im Bereich Pflege ha-
ben wir in einem Punkt große Bauchschmerzen: Bei der
Erprobung von Personalbemessungsinstrumenten sollen
zukünftig großzügige Ausnahmen von einzelnen Re-
gelungen des SGB XI gelten, einschließlich des neuen
Pflegbedürftigkeitsbegriffs. Das halten wir für fahrlässig.
Hier wird eine Möglichkeit geschaffen, zulasten der zu
Pflegenden von mühsam erkämpften Verbesserungen
wieder abzuweichen. Diese Tür sollten wir nicht öffnen,
zumal man sich fragen muss, welchen Erkenntniswert
ein solches Modellvorhaben für die Regelversorgung ha-
ben soll .
Trotz der in einzelnen Punkten geäußerten Bedenken
hält meine Fraktion die im Gesetz vorgeschlagenen Än-
derungen mehrheitlich für sinnvoll und wird dem Gesetz-
entwurf daher zustimmen .
Anlage 34
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Än-
derung des Telekommunikationsgesetzes (Tages-
ordnungspunkt 36)
Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): Wir beraten heute
in erster Lesung das Vierte Gesetz zur Änderung des Te-
lekommunikationsgesetzes, welches die Digitalisierung
der Hörfunkübertragung zukünftig vorantreiben und re-
geln soll .
Das Radio muss im Wandel der Zeit zukunftsfähig
bleiben . Dafür hat das Bundeskabinett am 3 . Mai 2017
Folgendes beschlossen: Künftig sollen höherwertige Ra-
dioempfangsgeräte nur noch gehandelt werden, wenn
diese zum Empfang digitalisierter Signale geeignet
sind . Die Gesetzesänderung sieht damit vor, eine Aus-
rüstungspflicht in Form einer Schnittstelle einzuführen.
Über diese können digital codierte Inhalte empfangen
und wiedergegeben werden . Das Gesetz greift das von
den Bundesländern bereits im Rahmen der Stellungnah-
me des Bundesrates zum 3 . TKG-Änderungsgesetz for-
mulierte Anliegen auf, die Digitalisierung des Hörfunks
durch die Interoperabilität von Radioempfangsgeräten zu
fördern .
Warum wollen wir diesen Weg nun gehen? Das Radio
ist seit seiner Erfindung eines der meistgenutzten Medien
in Deutschland und hat dadurch eine besondere Bedeu-
tung in unserem Alltag . Rund 80 Prozent aller Deutschen
hören täglich Radio . Aufgrund seiner eigenständigen ter-
restrischen Verbreitungskanäle über erdgebundene Funk-
sender, über UKW (Ultrakurzwellen) und DAB+ (digita-
ler Übertragungsstandard für terrestrischen Empfang von
Digitalradio) kann das Radio in Krisensituationen und
Notlagen wie Katastrophen, bei Unwettern oder Unfäl-
len als verlässliche regionale Echtzeitinformationsquelle
genutzt werden . Einen besonderen Stellenwert haben ak-
tuelle Verkehrs- und Mobilitätsinformationen durch Ra-
dios . Hier nimmt das Radio auch eine Schlüsselstellung
für eine intelligente Verkehrssteuerung ein .
Ein genauerer Blick auf die Nutzung zeigt zudem,
dass das Radio heute noch in erster Linie ein über ana-
loge UKW-Frequenzen verbreitetes Medium ist . Etwa
94 Prozent der über 14-Jährigen in Deutschland emp-
fangen Radio über UKW bzw . analoge Geräte . Etwa drei
Viertel der Menschen in Deutschland bevorzugt auch
weiterhin das Radiohören über UKW . Daran wird sich so
schnell auch nichts ändern .
Daneben hat sich eine Verbreitung über weitere Kanä-
le etabliert: so die Verbreitung über das Internet und das
digital terrestrische Radio DAB+ . Insbesondere junge
Menschen hören überdurchschnittlich viel Radio über In-
ternet und DAB+ . In der Welt der Apps und Plattformen
wird die Verbreitung von Radio auch immer neue Wege
finden. Daher gilt es, einen hybriden Ansatz zu verfol-
gen, der alle für die Nutzer relevanten Verbreitungsoptio-
nen für Radio einschließt .
Der nun vorliegende Gesetzentwurf dient als Baustein,
Hörerinnen und Hörern mit den zusätzlich ausgerüsteten
Geräten ein quantitativ und qualitativ verbessertes Hör-
funkprogramm anbieten zu können . Die Ausrüstungs-
pflicht bezieht sich dabei nur auf höherwertige Geräte,
die den Programmnamen anzeigen können. Der Eingriff
in den Markt ist somit vertretbar . Mobilfunkgeräte wer-
den zudem ausgeklammert bleiben, Autoradios hingegen
erfasst werden .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24297
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Lassen Sie mich aber eines noch einmal ganz klar
sagen: Mir wäre eine europaweit einheitliche Regelung
lieber gewesen . Bislang hat die EU-Kommission der
nationalen Hörfunkübertragung leider keine Binnen-
marktrelevanz zuerkannt . Das ist für mich unverständ-
lich . Stellen Sie sich vor, Sie fahren in den Urlaub nach
Österreich und empfangen aufgrund unterschiedlicher
Empfangstechniken keine Verkehrswarnungen mehr . Der
Grund: Ihr Autoradio besitzt nur einen UKW-Empfän-
ger; es wird aber nur noch digital gesendet . Das kann es
natürlich nicht sein . Wir müssen aus Deutschland heraus
eine Entwicklung hin zu einer EU-weiten Einführung be-
fördern . Dafür sehe ich durchaus eine Chance .
Klaus Barthel (SPD): Mit dem vorliegenden Gesetz-
entwurf der Bundesregierung soll der Digitalisierung des
Hörfunks der Weg bereitet werden . Die Zukunft des Ra-
dios liegt zum Beispiel aus der Sicht der ARD „in der
hybriden Kombination von digitaler Terrestrik und Inter-
net .“ Dies sei „die bestmögliche Lösung im Interesse des
Mediums Radio, der Radiomacher und Radionutzer“ –
so das ARD-Generalsekretariat . Damit sollen die letzten
Tage des guten alten UKW-Radios eingeläutet werden .
Im Rahmen eines Aktionsplans für die Transformation
der Hörfunkverbreitung in das digitale Zeitalter soll sich
der Markt für Digitalradios schneller entwickeln, damit,
wie in Norwegen und Italien, die ersten UKW-Sender
vom Netz gehen können . Beabsichtigt ist, den parallelen
Betrieb des angeblich kostengünstigen DAB+ – Digital
Audio Broadcasting (DAB) ist ein digitaler Übertra-
gungsstandard für terrestrischen Empfang von Digitalra-
dio – und des teuren UKW so kurz wie möglich zu halten .
In der guten neuen digitalen Welt soll natürlich auch
für das Radio alles besser werden, sagen die Befürworter:
Die analoge UKW-Terrestrik sei technisch und pro-
grammlich ausgereizt, für neue Angebote und technische
Innovationen sei kein Platz, der öffentlich-rechtliche
Rundfunk belege aus historischen Gründen zu viele Fre-
quenzen zulasten der kommerziellen Anbieter, so lautet
die Kritik . DAB+ belebe den Wettbewerb zugunsten des
Nutzers und neuer Anbieter .
DAB+ sei die perfekte Ergänzung zum Internet und
umgekehrt; denn anders als das Internet erlaube die ter-
restrische Verbreitung der Radioprogramme deren ano-
nyme und kostenfreie Nutzung ohne Volumenbegren-
zung . Mobiles Internet/LTE sei 40-mal teurer als die
DAB+-Technologie .
DAB+ stehe für Vielfalt, Qualität und Innovation und
komme bei den Hörern an . In einigen Regionen seien be-
reits über 44 Programme zu empfangen, Zusatzdienste
wie Programminformationen, Programmführer, Veran-
staltungstipps und sehr genaue Verkehrsdaten für unter-
wegs könnten angeboten werden . DAB+ sei technisch
stabil, rauschfrei und gewährleiste auch mobil exzellen-
ten Empfang .
DAB+ eröffne den Radiounternehmen schier unbe-
grenzte Möglichkeiten für programmliche Entwicklung
und neue sogenannte Special-Interest-Angebote .
DAB+ sei wichtig für die Gattung Radio; denn anders
als das Internet, das ebenfalls eine große Vielzahl und
Vielfalt an Audioangeboten bietet, seien die Hörfunkpro-
gramme bei terrestrischer Verbreitung besser wahrnehm-
bar und auffindbar. Gerade für die kommerziellen Radio-
unternehmen sei die Aufmerksamkeit der Hörerinnen
und Hörer als entscheidende Währung für Werbeeinnah-
men von existenzieller Bedeutung, womit ein bewährtes
Geschäftsmodell und der Erhalt einer breiten Radioland-
schaft in der Bundesrepublik gesichert würden .
DAB+ sei mehr als Radio und funktioniere auch im
Krisenfall . Radio sei die wichtigste Informationsquelle
im Auto, intelligente Verkehrssysteme der Zukunft sei-
en digital . Die Bundesregierung setze wie andere eu-
ropäische Länder bei der Umsetzung der europäischen
ITS-Richtlinie („Intelligent Traffic Systems“-Richtlinie)
auf DAB+ .
DAB+ gewährleiste im Katastrophen- und Krisenfäl-
len verlässliche Information der Bevölkerung .
DAB+ sei deutschlandweit verfügbar; denn bis
Ende 2016 sei die Zahl der Senderstandorte für die Di-
gitalradiomultiplexe weiter gewachsen . 82 Prozent der
Einwohner würden inhouse und 92 Prozent mobil er-
reicht, die Bundesautobahnen würden mit 98 Prozent
nahezu komplett versorgt . In ländlichen Gebieten sei
DAB+ eine unverzichtbare mobile Quelle bei fehlendem
Ausbau der Mobilfunknetze .
Der Verkauf von DAB+-Geräten nehme überdurch-
schnittlich zu; der Trend zu Geräten, die sowohl UKW
als auch DAB+-fähig sind, sei eindeutig: Der Anteil
DAB+-fähiger Geräte im Verkauf sei im September bei
19 Prozent gelegen gegenüber 13 Prozent im Vorjahr; die
Anzahl der Empfangsgeräte sei 2016 um 1,85 Millionen
bzw . 29 Prozent auf 8,24 Millionen gestiegen .
Die Marktdurchdringung könnte noch gesteigert wer-
den, wenn, wie jetzt im TKG vorgesehen, alle neu auf
den Markt kommenden Radiogeräte mit DAB+-Emp-
fangsmöglichkeit ausgestattet würden .
Europa setze auf DAB+: Die europäischen Nachbar-
länder seien ebenfalls auf dem Weg in die digitale Radio-
zukunft . Norwegen werde 2017 vollständig auf DAB+
umstellen, die Schweiz strebe das für 2020 bis 2024 an .
Andere Länder folgen .
Der gleichzeitige Betrieb von UKW und DAB+
müsse im Zusammenwirken aller Marktbeteiligten und
zeitgleich mit den privaten Programmveranstaltern er-
folgen, weshalb ein abgestimmtes Vorgehen der öffent-
lichen-rechtlichen Sender, des privaten Rundfunks, der
Auto- und Geräteindustrie, der Regulierungsinstitutionen
und des Gesetzgebers erforderlich sei .
Die ARD zum Beispiel setze auf ein Stufenmodell,
bestehend aus Ausbau- und Migrationsphase . Zunächst
sollen die Netze zügig ausgebaut werden, um gemein-
sam mit dem Deutschlandradio das angestrebte Versor-
gungsziel von 95 Prozent der Fläche der Bundesrepublik
zwischen 2018 und 2020 zu erreichen . In der Migrations-
phase solle ein konkretes Verfahren für den Ausstieg aus
UKW vereinbart werden . Das müsse sich aber nicht al-
lein in einem fixen Abschaltdatum für UKW erschöpfen.
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724298
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(B) (D)
Es müsse einen öffentlich kommunizierten Zeitplan
geben; denn nur da in Europa, wo dieser vorgegeben sei,
entwickle sich der Markt für DAB+ schneller als in den
anderen Staaten . Das Bundesministerium für Verkehr und
Infrastruktur habe durch die Gründung eines Digitalradio
Boards ein erstes Signal gesetzt, in das alle Marktbetei-
ligten eingebunden seien . Auch die Kommission zur Er-
mittlung des Finanzbedarfs (KEF) habe die Bewilligung
der Mittel für DAB+ mit einem klaren Appell an die Me-
dienpolitik verbunden, eindeutig Position zu beziehen,
nicht zuletzt um den parallelen Betrieb von kostengüns-
tigem DAB+ und teurem UKW so kurz wie möglich zu
halten . Dies wird von den Bundesländern und dem Bun-
desrat unterstützt . Schon beim dritten Änderungsgesetz
zum TKG vor wenigen Monaten hat der Bundesrat eine
Verpflichtung für Gerätehersteller empfohlen, zukünftig
alle neuen Radiogeräte auch mit DAB+-Empfangsmög-
lichkeit auszustatten . So könne ein maßgeblicher Beitrag
zur Beschleunigung der Digitalisierung des Hörfunks ge-
leistet werden .
So weit, so gut, so könnte die schöne neue Welt also
aussehen . Aber ganz so einfach ist es nicht, wie so oft:
Nach dem bis 2012 geltenden § 63 Absatz 5 TKG sollten
alle Frequenzzuteilungen für den analogen UKW-Hör-
funk bereits bis Ende 2015 widerrufen werden . Die ur-
sprünglich im Zusammenhang mit der Digitalisierung
des Fernsehens abgeleitete Annahme, dass Hörfunk dann
ganz überwiegend digital verbreitet werde, ist aber nicht
eingetreten . Deshalb wurde § 63 Absatz 4 TKG im Ge-
setzgebungsverfahren 2012 – abweichend vom Gesetz-
entwurf der Bundesregierung – erneut geändert . Danach
ist eine Verlängerung mindestens bis Ende 2025 möglich .
Die Entwicklung des analogen UKW-Hörfunks sollte
den medienrechtlichen Überlegungen der Länder fol-
gen, die entscheiden, ob und wann an dieser Art der Pro-
grammverbreitung teilweise oder in Gänze kein Bedarf
mehr besteht, wobei Einigkeit bestand, dass dies von der
Marktentwicklung digitaler Programmverbreitung bzw .
-rezeption abhängen sollte . Die Bundesregierung hatte
2012 zugesagt, im europäischen Rahmen für die rasche
Verbreitung hybrider Endgeräte einzutreten, die sowohl
Digitalradio als auch UKW empfangen können .
Der nun vorliegende Entwurf zu § 48 TKG macht nun
weder das eine noch das andere . Er gibt keinen neuen
Termin für die Umstellung vor, versucht aber, die Ver-
breitung entsprechender Empfangsgeräte nicht auf eu-
ropäischer, sondern lediglich auf nationaler Ebene zu
befördern .
Der Bundesrat hatte schon mit seiner Stellungnahme
zur dritten Änderung des TKG am 23 . September 2016
einen Normvorschlag für eine Verpflichtung über § 48
Absatz 4 TKG vorgelegt, wonach Endgeräteherstelle nur
noch Geräte auf den Markt zu bringen dürfen, die auch
digitalen Empfang ermöglichen – so wie dies auch bei
der Digitalisierung des terrestrischen Fernsehmarktes
erfolgt sei . Die Bundesregierung hat den Beschluss des
Bundesrates damals nicht übernommen – mit Verweis
auf europarechtliche Bedenken und die zu befürchten-
de Zeitverzögerung . Die notwendigen Anpassungen des
TKG an die europäischen Vorgaben zur Netzneutralität
dürften nicht weiter verzögert werden . Der Bundestag ist
dem vor wenigen Wochen mehrheitlich gefolgt und hat
die Änderung des § 48 Absatz 4 TKG wie vom Bundesrat
vorgeschlagen abgelehnt .
Nun schiebt die Bundesregierung eilig eine vierte
Änderung des Telekommunikationsgesetzes hinterher,
um dem Wunsch des Länder und des Bundesrates doch
noch zu folgen . Allerdings: Für den Gesetzentwurf ist ein
Notifizierungsverfahren bei der EU erforderlich, um zu
prüfen, ob der Entwurf Hemmnisse für den freien Waren-
verkehr enthält. Die Notifizierungsfrist wird erst Anfang
August 2017 ablaufen . Die zweite und dritte Lesung des
Gesetzes in einer der letzten Sitzungswochen im Juni,
also noch vor Abschluss des Notifizierungsverfahrens,
halte ich für überaus problematisch .
Wir sehen hier noch Klärungsbedarf . Deshalb bringen
wir eine an sich inhaltlich diskussionswürdige Gesetzes-
änderung ein, wollen aber sowohl die europarechtlichen
als auch die medienpolitischen Aspekte noch gründlich
prüfen .
Thomas Lutze (DIE LINKE): Deutschland hinkt bei
der Digitalisierung des Hörfunks im europäischen Ver-
gleich weit hinterher . Im Jahr 2016 lag die Quote der Ra-
diohörer, die ihr Programm digital empfangen, lediglich
bei etwas über 13 Prozent . Obwohl digitales Radio seit
2005 praktisch überall in Deutschland zu empfangen ist,
läuft die Verbreitung der entsprechenden Empfangsgerä-
te nur sehr schleppend .
Dabei hatte man im letzten Jahrzehnt noch gehofft, bis
2015 eine solch große Verbreitung des digitalen Hörfunks
erreicht zu haben, dass die UKW-Sender abgeschaltet
werden können und so wertvolle Frequenzen für andere
Dienste frei werden . Dieses Ziel wurde deutlich verfehlt .
Die von der Bundesregierung vorgeschlagene Maß-
nahme, für alle höherwertigen Empfangsgeräte die
Schaffung der Möglichkeit des digitalen Empfangs vor-
zuschreiben, kann einen Beitrag dazu leisten, die Markt-
durchdringung digitaler Radiogeräte zu verbessern . Al-
lerdings hat die Bundesregierung durch ihre Definition
dessen, was höherwertige Empfangsgeräte darstellen, ein
großes Schlupfloch offen gelassen. Dies sind laut dem
Gesetzentwurf alle Geräte, die den Sendernamen anzei-
gen können . Will sich ein Hersteller weiterhin die digita-
le Schnittstelle in seinem Gerät sparen, so lässt er einfach
das Display am Radio weg oder unterbindet die Anzeige
des Sendernamens softwareseitig .
Weiterhin kritisieren wir, dass den Herstellern und
Händlern mit 12 Monaten bis zum Inkrafttreten des Ge-
setzes eine mehr als großzügige Frist für den Übergang
gewährt wird . Die Bundesregierung schreibt dazu selbst
in ihrem Entwurf, dass diese Frist dem Abverkauf der
rein analogen Geräte dienen soll . Dies bedeutet, dass
der Markt, in dem wir ja eigentlich die Position der di-
gitalen Empfangsgeräte stärken wollen, noch einmal mit
im Preis reduzierten und massiv beworbenen Altgeräten
geflutet wird. Und wie oft kauft man schon ein neues Ra-
dio? In der Regel ist der Kauf einer Stereoanlage eine
Anschaffung für Jahrzehnte.
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24299
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Die Linke unterstützt das Anliegen des Gesetzentwur-
fes, aber ich hoffe, dass wir in den Ausschussberatungen
noch an der einen oder anderen Stelle ein wenig nachbes-
seren können .
Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es
wird ja häufig behauptet, die Opposition würde Geset-
ze der Regierung immer schon aus Prinzip kritisieren .
Heute kann ich mal das Gegenteil beweisen: Mit dem
vorliegenden Gesetz soll festgeschrieben werden, dass
alle neuen Radiogeräte so ausgerüstet sein müssen, dass
sie einen digitalen Empfang ermöglichen – entweder
über DAB+ oder über IP . Das begrüßen wir . Umgekehrt
scheint diese sachliche Debatte von den Vertreterinnen
und Vertretern der Koalitionsfraktionen nicht geführt zu
werden; denn schon seit Jahren mahnen wir dies an . Viel
mehr Menschen würden schon heute digital Radio hö-
ren, und DAB+ hätte wahrscheinlich eine weit größere
Verbreitung, wenn man sich vor Jahren dafür entschieden
hätte, diese Verpflichtung beispielsweise für Autoradios
einzuführen . Aber damals haben die Vertreterinnen und
Vertreter der Koalitionsfraktionen vor der Wirtschaft ge-
kuscht .
Nun ja, sinnvolle Vorschläge setzen sich doch irgend-
wann durch. Hoffentlich ist es nicht zu spät; denn die
Verbreitung von DAB+ ist – noch – sehr gering, und so
mancher Medienpolitiker erklärt diese Technologie in-
zwischen für gescheitert . Dabei ist der DAB+-Empfang
störungsfrei und gewährleistet eine vom Internet unab-
hängige Verbreitung .
Nun wird mit diesem Gesetz also dem technischen
Fortschritt endlich Rechnung getragen und zugleich
mehr Wahlfreiheit für Verbraucherinnen und Verbraucher
ermöglicht . Das ist gut so .
Besonders freut es mich, dass hier eine technikneu-
trale Lösung gefunden wurde . DAB+ wird nicht einseitig
gegenüber IP-Technologie bevorzugt oder umgekehrt,
die Anforderung ist lediglich, dass digitaler Empfang
möglich sein soll – auf die eine oder andere Technolo-
gie gestützt . Wenn sich eine Bürgerin oder ein Bürger
in Zukunft ein neues Radio kaufen, können sie sich also
aussuchen, ob sie lieber ein Internetempfangsgerät ha-
ben wollen oder ein DAB+-Radio . In einer Situation, in
der zumindest unklar ist, ob DAB+ sich als Technologie
durchsetzen wird, scheint mir das eine sachgerechte Lö-
sung .
Wenn dieser parallele Ansatz weiterverfolgt wird, soll-
ten wir allerdings im Bereich des IP-Radios in Zukunft
genauer hinschauen . Sehr viele Menschen hören Radio-
programme vor allem im Auto . Das alte Autoradio wird
aber in neuen Autos inzwischen durch Hightech-Medi-
enplattformen ersetzt, die viel mehr zu bieten haben als
nur das profane Radio . Mehr Auswahl ist grundsätzlich
immer gut .
Es stellt sich aber auch immer dringlicher die Frage,
wer zu welchen Konditionen Zugang zu diesen Plattfor-
men hat und wie leicht oder schwer die jeweiligen An-
gebote erreichbar sind . Es handelt sich schließlich um
vergleichsweise neue Technologien, die in der Regel
nicht unter den Plattformbegriff des Rundfunkstaatsver-
trags fallen, bei denen der Zugang für Rundfunkanbieter
nicht automatisch gegeben ist und die sich der Kontrolle
durch die Landesmedienanstalten weitgehend entziehen .
Trotzdem muss aus meiner Sicht so etwas wie Platt-
formneutralität in einem möglichst weitgehenden Sinne
sichergestellt sein. So wie wir im offenen Internet auf
Netzneutralität beharren, müssen wir auch bei Medien-
plattformen in Autos einen gleichberechtigten Zugang
sicherstellen .
Ich möchte noch einen letzten Punkt ansprechen:
Mich erreichen immer wieder besorgte Briefe von Bür-
gerinnen und Bürgern, die eine UKW-Abschaltung be-
fürchten. Hier muss vor allem Klarheit geschaffen wer-
den angesichts der Debatten über die UKW-Abschaltung
und das Festlegen verschiedener Zeitpunkte in der Ver-
gangenheit . Es muss vor allem langfristig und umfassend
über die UKW-Abschaltung informiert werden . Die recht
kurzfristige Umschaltung von DVB-T auf DVB-T2 hat
gezeigt, dass vor allem die Nutzerinnen und Nutzer das
Nachsehen haben .
Eine Verständigung darüber muss daher mit den
Ländern erfolgen, denn dieses Thema liegt nun mal im
Kompetenzbereich der Bundesländer . Sie sind es auch,
die die Weichen für DAB+ stellen müssen . Wir hier im
Bundestag können aber zumindest dafür sorgen, dass
DAB+ nicht daran scheitert, dass es keine Geräte dafür
zu kaufen gibt .
Anlage 35
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD: 25 Jahre Ostseerat – Das Modell
für eine gelungene Integration von Ost und West
weiterentwickeln (Tagesordnungspunkt 37)
Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): Ich bin Schles-
wig-Holsteiner . Zudem gehörte ich jahrelang der Ostsee-
parlamentarierkonferenz an . Der Ostsee fühle ich mich
eng verbunden . Sie ist für mich ein Stück Heimat . Als
Deutschland im Jahr 2012 die Präsidentschaft im Ost-
seerat führte, erklärte Bundespräsident Joachim Gauck:
„Das Baltische Meer ist ein Meer der Freiheit gewor-
den .“ Das ist großartig, denn es war nicht immer so . Der
Ostseeraum war durchaus Ort beeindruckender Koope-
rationen wie der Gründung der Hanse in der Mitte des
13 . Jahrhunderts . Er war aber vor allem auch Ort wech-
selnder Bündnisse und Kriege um die Vorherrschaft im
Norden Europas . Die Ostsee war zentraler Schauplatz
des Ersten und des Zweiten Weltkrieges, aber auch des
Kalten Krieges . Schätzungen gehen von mindestens
6 500 DDR-Bürgern aus, die über die Ostsee in den Wes-
ten flüchten wollten. Nur etwa 900 von ihnen kamen dort
an .
Das Ende des Kalten Krieges eröffnete auch für die
Ostseestaaten neue Möglichkeiten . Es war die Vision ei-
nes friedlichen und vereinten Ostseeraumes, die den da-
maligen dänischen Außenminister Uffe Ellemann-Jensen
und seinen deutschen Kollegen Hans-Dietrich Genscher
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724300
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(B) (D)
bewogen, den Ostseerat ins Leben zu rufen . Sie ver-
banden damit das Ziel, ein politisches Dialogforum zu
schaffen, in dem die wirtschaftlichen und sozialen Be-
ziehungen der Hanse wiederbelebt werden . Insgesamt
neun Staaten haben geografisch unmittelbaren Zugang
zur Ostsee . In der Tat verbindet die Ostseeanrainerstaa-
ten eine Art nordische Gelassenheit und Toleranz, die zu
vergleichbaren politischen, wirtschaftlichen und kultu-
rellen Einstellungen führte . Selbst das russische Sankt
Petersburg wurde 1703 gegründet, um an dieser Menta-
lität teilzuhaben .
Die Außenminister des Ostseerates werden sich am
20. Juni in Reykjavik treffen, um das 25-jährige Beste-
hen des Ostseerates zu feiern . Ich sehe darin ebenfalls
eine Erfolgsgeschichte . Die Osterweiterung der Europä-
ischen Union um Länder wie Polen und die baltischen
Staaten hat ebenso wie die Ostseestrategie der EU dazu
beigetragen, die Folgen des Kalten Krieges zu überwin-
den . Die Region ist wieder wirtschaftlich und politisch
zusammengewachsen . Der Ostseerat hat diese Arbeit als
Dialogforum unterstützt . Er hat dazu beigetragen, den
Austausch zwischen Menschen zu fördern . Vor allem hat
er auch die schwierige Umweltsituation der Ostsee in den
Blick genommen .
Insgesamt schätze ich die Ergebnisse positiv ein,
die Bilanz bleibt aber dennoch nüchtern . Wir müssen
uns auch im Ostseeraum mit einer neuen Wirklichkeit
konfrontieren . Die Freiheit des Baltischen Meeres, die
Joachim Gauck so lobte, ist heute wieder gefährdet . Ost-
seerat und Ostseeparlamentarier sind in der Tat Formate,
an denen Russland beteiligt ist . Wir sehen aber auch hier,
dass eine positive Einbindung Russlands Grenzen hat .
Zur Wahrheit gehört es, offen auszusprechen, dass
neue Trennlinien in Europa bereits existieren . Russland
hat mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und
der Unterstützung separatistischer Bewegungen in der
Ostukraine Vertrauen zerstört . Russlands Militärausga-
ben haben sich seit 2007 fast verdoppelt, wenn auch be-
dingt durch die Wirtschaftskrise die Ausgaben seit zwei
Jahren wieder sinken . In der Ostsee hat Russland riskante
Militärmanöver durchgeführt . Es wird von Zwischenfäl-
len berichtet, russische Jets hätten Angriffe in unmittel-
barer Nähe von US-Schiffen simuliert. Seit Ausbruch der
Ukraine-Krise beklagen Schweden, Polen und die balti-
schen Staaten, dass mehrfach russische Kampfflugzeuge
in ihren Luftraum eingedrungen seien . Das bisher stark
an Moskau gebundene Belarus möchte sich aus der rus-
sischen Umklammerung lösen . Die belarussische Staats-
führung sucht den Kontakt zum Westen . Die Hauptstadt
Minsk stand als neutraler Boden zur Verfügung, auf dem
die Parteien des Ukraine-Konfliktes miteinander verhan-
deln konnten .
Das alles bleibt nicht ohne Auswirkungen auf den Ost-
seeraum . Die NATO hat ihre Präsenz in der Region ver-
schärft . In militärisch neutralen Ländern wie Schweden
und Finnland werden plötzlich Diskussionen um einen
NATO-Beitritt geführt . Die schwedische Armee wappnet
sich für den Ernstfall . Auf der Insel Gotland stationiert
Schweden seine Soldaten. Ein Offizier berichtet, es sei
in Anbetracht neuer Waffentechnologien schwer, sich ge-
gen die in Kaliningrad stationierten Iskander-Raketen zu
verteidigen . Schweden hat seine Militärausgaben erhöht
und ein Gastabkommen mit der NATO geschlossen .
Die finnische Regierung bereitet sich mit 50 000 zu-
sätzlichen Soldaten auf mögliche Krisenfälle vor . Berich-
ten der finnischen Regierung zufolge habe sich die Si-
cherheitslage in Finnland verschlechtert . Immerhin teilt
das Land fast 1 000 Kilometer Landgrenze mit Russland .
Man sei beunruhigt über die russische Sicht, Sicherheit
auf Einflusszonen aufzubauen. Auch Finnland schloss
einen Vertrag mit den USA über militärische Zusammen-
arbeit ab .
Alle anderen Staaten des Ostseeraumes sind Mit-
glieder der NATO . Die NATO hat ihre Präsenz in den
baltischen Staaten und in Polen massiv erhöht . Unsere
Botschaft ist klar: Wir wollen keine militärische Ausei-
nandersetzung mit Russland . Aber wir stehen zu unserer
Bündnisverpflichtung, wenn Russland einen Mitglied-
staat der Allianz angreift .
Zugleich hat sich die Situation auch in den transat-
lantischen Beziehungen verändert . Die Botschaften des
neuen amerikanischen Präsidenten Donald Trump sind
widersprüchlich, sein Verhalten bleibt unberechenbar .
Mal erklärt er die NATO für obsolet, dann wieder nicht .
Die EU ist in einer Phase der Neuorientierung . Groß-
britannien hat sich entschieden, die EU zu verlassen . In
Frankreich und Österreich drohten rechtspopulistische
Europakritiker die Präsidentschaftswahlen zu gewinnen .
Die Balkanstaaten möchten in die EU aufgenommen
werden . Sie werden von zwischenstaatlichen, ethnischen
und religiösen Konflikten destabilisiert. Offen ist auch,
wie sich unser künftiges Verhältnis zur Türkei gestalten
wird . Die EU muss entscheiden, wie sie mit Erweiterun-
gen und mit der weiteren Vergemeinschaftung ihrer Poli-
tikbereiche umgehen will .
Neben der Ukraine-Krise ist Europa noch mit anderen
Krisen belastet, allen voran mit dem schrecklichen Bür-
gerkrieg in Syrien und dem internationalen Terrorismus .
Welche Schlussfolgerungen sind daraus zu ziehen?
In der Tat ist der Ostseeraum eine der politisch und
wirtschaftlich stabilsten sowie sichersten Regionen der
Welt . Das aggressive Verhalten Russlands hat aber auch
die Ostseeanrainerstaaten verunsichert . Die NATO, die
baltischen Staaten und Polen, aber auch Schweden und
Finnland haben Konsequenzen gezogen und setzen auf
militärische Prävention .
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat richtigerweise da-
rauf hingewiesen, dass „vieles, auf das wir uns bisher wie
selbstverständlich verlassen haben, nicht mehr selbst-
verständlich ist .“ Die Konsequenz aus der Wahl Donald
Trumps und dem Brexit, aus Erdogan, Syrien und dem
internationalen Terrorismus muss lauten: Wir brauchen
ein starkes Europa . Europa muss für sich sorgen können .
Die skandinavischen Länder sind hier gefordert, mehr
Verantwortung zu übernehmen . Eine klar proeuropäische
Haltung vertritt Finnland, das auch den Euro eingeführt
hat . Schweden könnte den Euro einführen, möchte es
aber bisher nicht . Auch Dänemark hat den Euro nicht ein-
geführt und zudem eine Menge Opt-out-Regelungen bei
den europäischen Verträgen . Norwegen hat zwei Volks-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24301
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abstimmungen zum EU-Beitritt durchgeführt . In beiden
Fällen hat die Bevölkerung dagegen votiert .
Es sind starke und stabile Länder, die viel zur EU
beitragen können . Deutschland sollte die Möglichkeiten
des Ostseerates und die Ostseeparlamentarierkonferenz
nutzen, bei den skandinavischen Ländern für diesen Weg
zu werben . Sicherheit und Stabilität im Ostseeraum brau-
chen ein klares Ja zur Europäischen Union .
Der Ostseerat ist eine zwischenstaatliche Organisati-
on, die Chancen und Möglichkeiten eröffnet, zwischen
den Staaten kulturellen Austausch und regionale Zusam-
menarbeit zu vertiefen . Es ist gut, dass auch Russland
hier mit am Tisch sitzt . Andererseits haben die Krisen
der letzten Jahre auch den Ostseeraum verändert . Viele
unserer Hoffnungen aus dem Jahr 1992, dem Jahr der
Gründung des Ostseerates, haben sich nicht erfüllt . Die
Zusammenarbeit mit Russland, so wie es heute ist, hat
Grenzen . Dieses Vakuum kann der Ostseerat nicht füllen .
Die Tatsache, dass seit 2014, dem Jahr der Krim-Anne-
xion, keine gemeinsame Sitzung der Außenminister des
Ostseerates mehr stattgefunden hat, belegt das . Deshalb
hat der Ostseerat in der deutschen Ostpolitik auch eher an
Bedeutung verloren .
Die skandinavischen Länder fühlen sich ebenso wie
Polen und die baltischen Staaten von Russland bedroht .
Heute ist der Ostseeraum eine der sichersten Regionen
der Welt . Derzeit ist dort kein akuter Krisenherd erkenn-
bar . Wir dürfen die Region nicht vernachlässigen . Denn
auch aus Vernachlässigung können Krisen erwachsen .
Dem können die skandinavischen Länder entgegen-
wirken, indem sie erkennen: Ein starkes Europa ist die
Antwort auf alle Krisen unserer Zeit . Hier sehe ich die
Chance für den Ostseerat, aktiv die Zukunft zu gestalten .
Franz Thönnes (SPD): In diesem Jahr begehen alle
Anrainerstaaten der Ostsee das 25-jährige Bestehen des
Ostseerates . Ein Jahr nach dem Silberjubiläum der Ost-
seeparlamentarierkonferenz folgt nun das Pendant der
politischen Kooperation auf Regierungsebene und kann
auf 25 Jahre aktive Politik in der Ostseeregion zurückbli-
cken. In wenigen Tagen, am 20. Juni, findet aus diesem
Anlass ein Treffen der Außenminister des Ostseerates im
Rahmen der aktuellen isländischen Präsidentschaft in
Reykjavik statt .
Über Ostseepolitik zu sprechen heißt, über Koopera-
tions-, Friedens- und Sicherheitspolitik zu sprechen . Das
war vor 25 Jahren so . Und das ist heute auch so . Wir spre-
chen über eine Region mit mehr als 80 Millionen Men-
schen, eine Region, die eine bewegende gemeinsame
Zeit aus der Geschichte der Hanse vom 12 . bis 17 . Jahr-
hundert hinter sich hat, eine Region, in der die Ostsee
für die Nationen nahezu ein halbes Jahrhundert ein Meer
war, das sie trennte .
Dies änderte sich nach dem Wegfall des Eisernen
Vorhanges 1989/90 . Mit starker Kraft keimte wieder die
Hoffnung auf, dass die jahrzehntelange Trennung des
Ostseeraumes aus dem Kalten Krieg überwunden und er
sich wieder zu einer prosperierenden und wohlhabenden
Region entwickeln wird . Diese Vision wurde sowohl von
den Mitgliedern der Parlamente wie auch von den da-
maligen Außenministern Dänemarks und Deutschlands,
Uffe Ellemann-Jensen und Hans-Dietrich Genscher, wie-
derbelebt . Und als Abgeordneter aus Schleswig-Holstein
will ich darauf verweisen, dass dieser Gedanke ebenso
tatkräftig von der damaligen SPD-geführten Landesre-
gierung mit ihrem Ministerpräsidenten Björn Engholm
unterstützt wurde .
Natürlich ging es damals um die Fragen, wie man
gute Nachbarschaft und stabile Demokratien rund um
die Ostsee entwickeln könne . Die erste Zusammenkunft
der Parlamentarier 1991 im Ostseeraum war für die Ab-
geordneten aus unterschiedlichen politischen Systemen
eine ausgezeichnete Möglichkeit zum Dialog und für
einen Blick über den eigenen Tellerrand . Gemeinsame
Interessen wurden deutlich . Im transparenten Dialog ent-
standen neue Ideen, und gemeinsames Handeln wurde
verabredet . Mit der kritischen Beratung des Handelns der
Regierenden, neuen Verbindungen und Kooperationen
erhielt die Ostseezusammenarbeit ihre parlamentarische
Dimension .
Das erste Außenministertreffen des Ostseerates in Ko-
penhagen folgte dann ein Jahr später am 5 . und 6 . März
1992 . Damit wurde die historische Chance wahrgenom-
men, ein Forum der Regierungen für den politischen
Dialog und für eine konstruktive Zusammenarbeit zu
schaffen. Die wirtschaftlichen, sozialen und politischen
Beziehungen auf der Grundlage einer gefestigten Identi-
tät der hanseatischen Geschichte wiederherzustellen, war
das zentrale Ziel . Der Ostseerat sollte dabei das allge-
meine Gremium sein, in dem auf Regierungsebene die
Zusammenarbeit koordiniert wird . Heute ist er in Europa
einzigartig . Acht Mitgliedstaaten der Europäischen Uni-
on, zwei EFTA-Staaten, Russland und die Europäische
Kommission arbeiten auf Augenhöhe in einer zwischen-
staatlichen Form in einer Region eng zusammen .
Natürlich standen damals neben Fragen der wirt-
schaftlichen, politischen und kulturellen Kooperation
die umweltpolitischen Herausforderungen der erheblich
verschmutzen Ostsee im Vordergrund, doch mehr und
mehr kamen auch Infrastruktur, Energie, Arbeitsmarkt,
Tourismus, Gesundheit, Bildung, Wissenschaft und
weiche Sicherheitspolitik auf die Agenda . Wesentliche
Arbeitsinstrumente sind die Ostseestrategie der Europä-
ischen Union und die Politik der Nördlichen Dimensi-
on . Das 1998 gegründete Sekretariat des Ostseerates in
Stockholm koordiniert die Arbeit . Dazu gehören Grup-
pen von Sachverständigen, Netzwerke, Task Forces und
verschiedene Programme . Die Mitgliedstaaten erhalten
bei der Koordinierung und Umsetzung der derzeitigen
drei langfristigen Prioritäten des CBSS Unterstützung .
Dies sind regionale Identität sowie eine nachhaltige, pro-
sperierende und sichere Region . Sie wurden 2010 in der
Erklärung von Vilnius „Eine Vision für den Ostseeraum
bis 2020“ festgelegt .
Es dürfen als Mutmacher für künftige Perspektiven
beispielhaft folgende Erfolge der bisherigen Kooperation
genannt werden:
Durch intensive Zusammenarbeit konnten mit der
Helsinki-Kommission und der Internationalen Seeschiff-
fahrts-Organisation (IMO) strengere Abwasser- und
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724302
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Abgasregeln für Passagierschiffe auf der Ostsee durch-
gesetzt werden . Auch gibt es inzwischen schärfere Vor-
schriften gegen Eutrophierung . Das Konzept „Clean
Baltic Shipping“ mit dem Ziel „Null Emissionen in der
Seefahrt“ führt in mehreren Häfen zur Reduzierung des
Schadstoffausstoßes von Schiffen.
Die Hauptschifffahrtswege der Ostsee wurden siche-
rer .
Auch die EU-Ostseestrategie hat nach 2009 als erste
makro-regionale Strategie neue Formen der Zusammen-
arbeit und der Strategieplanung in der Region zwischen
den Ostseeanrainerstaaten, zwischen Bildungs- und For-
schungseinrichtungen, Verwaltungen, Unternehmen und
Gewerkschaften geschaffen. Bewahrung der Ostsee, An-
bindung der Region sowie Förderung des Wohlstandes
sind aktuell die Schwerpunkte .
Aus dem Leuchtturmprojekt der EU-Ostseestrategie
„Baltic Sea Labour Network“ ist das Baltic Sea Labour
Forum als permanentes Gremium für den sozialen Di-
alog in der Ostseeregion mit über 30 Arbeitgeber- und
Gewerkschaftsorganisationen sowie Partnern entstan-
den, das heute vom Sekretariat des Ostseerates organi-
satorisch begleitet wird . Im sozialen Dialog geht es um
nachhaltige Arbeitsmärkte, faire Arbeitsbedingungen,
Arbeitsmobilität und sozial abgesicherte Bedingungen
für Grenzpendler sowie Bekämpfung der Jugendarbeits-
losigkeit . Derzeit wird gemeinsam das Arbeitsminister-
treffen der Ostseeratsmitglieder am 15. Juni 2017 in Ber-
lin vorbereitet .
Als Erfolg kann auch die im Ostseerat während der
deutschen Ratspräsidentschaft für die projektorientierte
Modernisierung der ostseenahen Gebiete Nordwestruss-
lands 2012 beschlossene Pilot-Finanzierungs-Initiative
(PFI) angesehen werden. Gute Projekte können hier fi-
nanziell schnell angestoßen werden . Gerade in diesen
kritischen Zeiten brauchen wir mehr statt weniger Zu-
sammenarbeit, um die gemeinsamen Herausforderungen
zu bewältigen .
Schließlich bleibt auch auf gemeinsamen Druck aus
der Ostseeregion das Thema Gesundheit in der EU-Ost-
seestrategie bei der EU-Kommission weiterhin ein för-
derfähiges Politikfeld .
Der Ostsee-Jugenddialog – Baltic Sea Youth Dialogue
(BSYD) – ist ebenso eine wichtige Investition in unsere
gemeinsame Region, gerade wenn man an die Langfrist-
priorität der regionalen Identität denkt .
Die Gründung des Baltic 2030-Netzwerks war die
rasche Antwort des Ostseerates auf die in den Nachhal-
tigkeitszielen dargelegten globalen Herausforderungen .
Hier geht es um die Entwicklung von Partnerschaften
und Projekten, darum, die Agenda 2030 der Vereinten
Nationen für nachhaltige Entwicklung regional umzuset-
zen und damit auch der zweiten Langfristpriorität einer
„nachhaltigen und prosperierenden Region“ gerecht zu
werden .
Im Rahmen der dritten langfristigen Priorität „eine si-
chere Region“ sind mit der Task Force des Ostseerates
zur Bekämpfung des Menschenhandels, der Experten-
gruppe für gefährdete Kinder und der Ostsee Task Force
zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität gute Ko-
operationsstrukturen geschaffen worden.
Der russisch-ukrainische Konflikt und die militäri-
schen Auseinandersetzungen in der Ostukraine haben
leider auch ihre Auswirkungen auf die Ostseeregion . An-
gesichts des Verhaltens Russlands in der Ukraine wurden
2014 die Ministertreffen sowie das alle zwei Jahre statt-
findende Treffen der Regierungsspitzen des Ostseerates
von den anderen Mitgliedstaaten ausgesetzt . Die Ostsee-
parlamentarierkonferenz hat in ihren letztjährigen Kon-
ferenzen nicht nur zu einer vollständigen Umsetzung der
Minsker Vereinbarungen aufgerufen, sondern ebenso die
Erwartungen an alle Ostseestaaten ausgesprochen, dass
sie alles in ihren Kräften Stehende tun, um sicherzustel-
len, dass „sich die Ostseeregion weiterhin durch intensi-
ve Zusammenarbeit und gute, friedliche Nachbarschaft
auszeichnet .“ Aus diesem Grund forderte die Ostseepar-
lamentarierkonferenz auch „eine Wiederaufnahme der
Ministertreffen des Ostseerates, weil durch diese Treffen
der Dialog gefördert und die Zusammenarbeit gestärkt
werden .“
Es ist daher nur zu begrüßen, dass im Rahmen der letzt-
jährigen polnischen Ostseeratspräsidentschaft erstmalig
wieder Zusammenkünfte der Kultur-, Wissenschafts- und
Vizeaußenminister auf Ostseeratsebene stattfanden und
für diesen Monat Treffen der Arbeits- und Außenminis-
ter geplant sind . Die Bundesregierung hat hierbei unsere
volle Unterstützung .
Gleichwohl gilt es angesichts der erheblichen Zunah-
me russischer Militäraktivitäten in den letzten Jahren in
der Ostseeregion sowie der daraufhin ausgeweiteten mi-
litärischen Präsenz der NATO in ihren Mitgliedstaaten,
alle Anstrengungen zu unternehmen, um sicherzustel-
len, dass die militärischen Bewegungen im Ostseeraum
nicht zu einem neuen Sicherheitsrisiko in Nordeuropa
werden . Notwendig sind Transparenz, der Verzicht auf
militärische und rhetorische Provokationen, die Nutzung
technischer Sicherheitssysteme wie Transponder bei Mi-
litärfliegern und der Dialog sowie die Schaffung neuen
Vertrauens, dass zur Reduzierung des militärischen Po-
tenzials in der Ostseeregion und zur Schaffung einer ge-
meinsamen Sicherheitsarchitektur führt .
Aus meiner jahrzehntelangen politischen Arbeit im
Ostseeraum kann ich nur bestätigen, dass der Geist des
Jahres 1992 von Kopenhagen nach wie vor breit vorhan-
den ist . Und gerade deshalb gilt es angesichts der inter-
nationalen Herausforderungen auch, in internationaler
Kooperation zu handeln und nicht in Nationalismen zu
verfallen oder sich gar zu isolieren . Deshalb fordern die
Koalitionsfraktionen mit ihrem Antrag die Bundesregie-
rung dazu auf, sich in ihrer Ostseeratspolitik in nächster
Zeit auf 14 Punkte zu konzentrieren, von denen ich hier
aus meiner Sicht einige zentrale Felder kurz benenne .
Die Punkte 1 bis 3 der Forderungen unterstreichen das
gerade Formulierte zur Schaffung von mehr Sicherheit
durch Stärkung der Kooperationen für eine friedliche
Entwicklung in der Region und in Europa . Dazu gehört
ebenso die innere Sicherheit, wenn es, wie im Punkt 13
gefordert, darum geht, den Menschenhandel im Ost-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24303
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seeraum wirkungsvoll zu bekämpfen und die Schutzme-
chanismen für potenzielle Opfer zu verbessern .
Der Aufruf zur verstärkten Wahrnehmbarkeit des Ost-
seerates geht nicht nur an die Bundesregierung und die
anderen Mitgliedstaaten, sondern auch an uns selbst .
Gute Arbeit und Erfolge vermitteln sich nicht von allein .
Es gilt die Weisheit: Tue Gutes und rede darüber .
Gerade die soziale Dimension durch eine Auswei-
tung der People-to-People-Kontakte und einer Erhöhung
des Austausches von Jugendlichen, wie in den Ziffern 4
und 5 gefordert, ist eine unverzichtbare Größe, wenn es
darum geht, Offenheit sowie Vertrauen zu stärken und
Feindbilder zu verhindern .
Notwendig ist eine engere Kooperation im Rahmen
der immer schneller stattfindenden Entwicklung eines
grenzüberschreitenden Arbeits- und Ausbildungsmarktes
in der Region . Und zu Recht gilt es, die tripartite Zusam-
menarbeit wie im Baltic Sea Labour Forum von Arbeit-
geberverbänden, Gewerkschaften und Politik zu unter-
stützen. Das gemeinsame Zusammentreffen des Forums
mit den Arbeitsministern in diesem Monat in Berlin ist
hierzu ein wichtiges Zeichen .
Wenn es darum geht die Wettbewerbsfähigkeit der
Ostseeregion zu erhalten und auf die Zukunft auszurich-
ten, so sind eine noch intensivere Kooperation im Wis-
senschafts- und Forschungsbereich sowie eine Digitali-
sierungsoffensive im Ostseeraum erforderlich.
Gleiches gilt für erfolgreiche Antworten auf den Kli-
mawandel und zur Umsetzung der Agenda 2030 eben-
so wie für die Nutzung der Chancen eines nachhaltigen
Tourismus, der die Attraktivität der Region erhöht und
gleichzeitig ihre natürlichen Grundlagen bewahrt .
Das in 25 Jahren guter Ostseekooperation Erreichte
sowie die vor uns liegenden Herausforderungen sollten
Mut und Ansporn sein, um mit Leidenschaft und Enthu-
siasmus an einer friedlichen Weiterentwicklung unseres
gemeinsamen Lebensraumes Ostsee zu arbeiten . Ost-
seepolitik in diesem Sinne ist dann auch weiterhin Ko-
operations-, Sicherheits- und Friedenspolitik zugleich .
Es gibt nur eine Sicherheit für uns alle .
Herbert Behrens (DIE LINKE): Seit 25 Jahren gibt
es mit dem Ostseerat eine Zusammenarbeit zwischen
Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Island, Lett-
land, Litauen, Norwegen, Polen, Russland und Schwe-
den mit dem Ziel der Neugestaltung der Beziehungen
nach dem Ende des Kalten Krieges .
Es waren Jahre des Ausbruchs aus dem Denken und
Handeln der Blockkonfrontation und des Aufbruchs in
eine Zukunft der wirtschaftlichen und politischen Zu-
sammenarbeit an der einstigen Systemgrenze zwischen
Ost und West .
Es waren Jahre der Hoffnungen und Erwartungen der
Menschen in den Ländern des ehemaligen Ostblocks, die
sich jetzt nach Westen orientierten und so schnell wie
möglich den ökonomischen Standard der entwickelten
kapitalistischen Staaten erreichen wollten . Viele Erwar-
tungen haben sich nicht erfüllt . Die Früchte der Zusam-
menarbeit sind ungleich verteilt . Das Pro-Kopf-Ein-
kommen in den EU-Staaten in der Ostsee-Region liegt
zwischen 48 000 Euro in Dänemark und 11 000 Euro in
Polen .
Wenn der Lebensstandard so weit auseinanderklafft
und auch die dadurch mit verursachten Probleme zuneh-
men, dann muss das immer wieder ins Zentrum der Ar-
beit gestellt werden . Ja, es ist richtig, wenn das Thema
Sicherheit im nichtmilitärischen Sinne intensiv bearbei-
tet wird . Organisierte Kriminalität und Menschenhandel
müssen bekämpft und die Arbeit der Expertengruppe für
gefährdete Kinder wirksam unterstützt werden . Doch es
reicht nicht, die Symptome gesellschaftlicher Fehlent-
wicklungen zu bekämpfen . Wer das Geschäft mit der Not
der Menschen unterbinden will, der muss noch viel stär-
ker die Not der Menschen selbst bekämpfen .
Es muss also viel getan werden, um den politischen
Dialog wieder zu verstärken . So steht es richtig im An-
trag der Fraktionen von CDU/CSU und SPD . Es ist gut,
dass unter dem Vorsitz Finnlands im Ostseerat die Ziele
Umwelt, wirtschaftliche Entwicklung, Energie, Bildung
und Kultur sowie zivile Sicherheit neu ausgerichtet wor-
den sind . Jetzt muss die konkrete Zusammenarbeit auf
diesen Feldern gestaltet werden – so hatten es die Mit-
glieder der Ostseeparlamentarierkonferenz (BSPC) vor
zwei Jahren in Rostock beschlossen . Ich bin guter Dinge,
dass diese Forderung in drei Wochen, am 20 . Juni, beim
Ministertreffen des Ostseerates in Reykjavik konkret
wird; denn die Mitglieder des Ostseerates sind auch Mit-
glieder der BSPC .
Die Linksfraktion im Bundestag unterstützt die For-
derung aus dem Antrag, das gegenseitige Vertrauen und
den Dialog in der Ostseeregion wiederherzustellen und
künftig wieder zu regelmäßigen Fachministertreffen zu
kommen . Durch Gespräche und gemeinsame Projekte
wird vertrauensvolle Zusammenarbeit aufgebaut und die
Gefahr von Missverständnissen und neuen Konfrontati-
onen zwischen den Staaten abgebaut . Das halte ich vor
dem Hintergrund der gegenwärtigen militärischen Si-
cherheitspolitik für unabdingbar .
Wo einst in der Ostseeregion vier Staaten des War-
schauer Paktes vier Staaten der Nato gegenüberstanden,
sind es nach der Auflösung des Warschauer Paktes im
Jahr 1991 heute acht Ostseeanrainer, die der Nato ange-
hören . Konservative Kräfte in Finnland spielen ebenfalls
mit dem Gedanken einer Nato-Mitgliedschaft . Der Geist
von Kopenhagen, wie er im Antrag zitiert wird, ist mit
diesem expansiven Wirken der Nato nicht vereinbar . Der
Geist von Kopenhagen muss die Triebkraft für Frieden
und Wohlstand in der Ostseeregion sein und die Arbeit
des Ostseerates prägen . Und er muss eben auch für die
Menschen spürbar sein, wenn er nicht nur deklaratori-
schen Charakter haben soll .
In diesem Sinne unterstützen wir den Antrag der Gro-
ßen Koalition . Ich will aber auch darauf hinweisen, dass
bei diesem Antrag die Opposition hätte einbezogen wer-
den können . Sicher hätten wir als Linksfraktion den Titel
des Antrags verändern wollen . Jetzt lautet er „25 Jahre
Ostseerat – Das Modell für eine gelungene Integration
von Ost und West weiterentwickeln“ . Ich habe darauf
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724304
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hingewiesen, dass von einer gelungenen Integration noch
nicht gesprochen werden kann . Uns eint jedoch der Wille
zu einer friedlichen und freundschaftlichen Zusammen-
arbeit in der Ostseeregion .
Erlauben Sie mir eine Anmerkung zum Schluss: Die
Geschichte der Zusammenarbeit der Ostseestaaten nach
dem Zweiten Weltkrieg beginnt nicht erst im Jahr 1992 .
Wenn auch unter anderen Vorzeichen gab es ein system-
übergreifendes Forum seit den 50er-Jahren bis hinein in
die 70er-Jahre . Die DDR, damals maßgeblich mit dem
Ziel, die Anerkennung als zweiter deutscher Staat zu
erreichen, veranstaltete die internationale Ostseewoche .
Im Gründungsjahr 1958 gab es ein Flottentreffen der
Bundesmarine im Rahmen der Kieler Woche, was den
Menschen sowohl in Deutschland als auch in den skan-
dinavischen Staaten Unbehagen bereitete, heißt es in den
Archivalien des Landesarchivs Greifswald . Und so ging
es damals auch um den Abbau von Konfrontation und
um blockübergreifende Kooperation . „Die Ostsee muss
ein Meer des Friedens sein“ hieß die Losung der Ostsee-
woche . Unabhängig von der Bewertung der damaligen
Aktivitäten in beiden deutschen Staaten: Dass die Ostsee
ein Meer des Friedens bleibt, gehört zu den wichtigen
Zielen der internationalen Zusammenarbeit .
Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Wir beschäftigen uns heute mit einem Antrag der Koa-
lition zum 25-jährigen Bestehen des Ostseerats . Tatsäch-
lich ist die Geschichte der europäischen Integration in
der Ostseeregion seit 1989 eine Erfolgsgeschichte – eine
Erfolgsgeschichte vor allem der EU-Erweiterungspolitik,
mit den für die Region bedeutsamen Erweiterungsrunden
1995 und 2004, aber auch der Integration innerhalb der
Region neben und über die EU hinaus . So verbindet die
Zusammenarbeit im Ostseerat heute eine Region, die seit
Jahrhunderten wirtschaftlich, kulturell und mit der Ost-
see offensichtlich auch ökologisch eng verknüpft ist und
die über die Grenzen der heutigen EU hinausreicht .
Das Besondere an der Ostseeregion ist dabei, dass
diese Region Menschen und Regionen zusammenbindet,
die tatsächlich über sehr große Unterschiede hinweg eine
dynamische Zusammenarbeit pflegen und sich sehr be-
wusst über Gemeinsamkeiten sind . Die Idee der Gemein-
samkeiten in der Ostseeregion, mit einem Zusammen-
gehörigkeitsgefühl über wirtschaftliche und politische
Unterschiede hinweg, kann eine Quelle für sehr viele
wünschenswerte Entwicklungen sein .
Woran macht sich diese Zusammenarbeit fest? Daran,
dass Menschen wie ich sich schlichtweg in Kopenhagen,
Tallin oder Kaliningrad eher zu Hause fühlen als in Stutt-
gart oder Frankfurt am Main? Ja, auch . Der bedeutendste
Ausdruck ist aus meiner Sicht aber die Zusammenarbeit
im zivilgesellschaftlichen Bereich, die im Antrag der Ko-
alition gerade auch in Bezug auf die Zusammenarbeit der
Parlamente, der NGOs und der Jugendarbeit gewürdigt
wird . Diese einmalige Grundlage muss erhalten und ge-
stärkt werden .
Dazu muss man aber auch sagen, dass die Zusammen-
arbeit in der Region in den letzten Jahren durch die re-
pressive Gesetzgebung gegen Zivilgesellschaft und Bür-
gerrechte in Russland erheblich erschwert, ja eigentlich
sogar unmöglich gemacht wurde . Die Lage der Zivilge-
sellschaft, aber auch die Bereitschaft der russischen Sei-
te, entsprechende Themen anzugehen, sind sicherlich an
einem Tiefpunkt angelangt . Gleichzeitig haben der russi-
sche Interventionskrieg in der Ukraine und die russische
Politik, immer wieder mit militärischen Provokationen in
der Region selbst eine ungeschminkt aggressive Seite an
den Tag zu legen, das Vertrauen in die Zusammenarbeit
in der Ostseeregion schwer erschüttert . Das schlägt sich
auch auf die Zusammenarbeit im Ostseerat nieder . Es ist
kaum vorstellbar, dass die Zusammenarbeit in der Regi-
on und auch im Ostseerat sich positiv weiterentwickeln
lässt, solange Russland diese Politik nicht beendet .
Deswegen ist es auch entscheidend, dass Deutschland
seine Haltung unmissverständlich klarmacht: Die Solida-
rität im Ostseeraum gilt in diesen Fragen uneingeschränkt
vor allem denen, die das Opfer bzw . die Adressaten der
russischen Aggression sind . Und die Sanktionen der EU
gegen Russland bleiben richtig und notwendig . Das,
liebe Koalition, hätten Sie in ihrem Antrag so klar auf-
schreiben müssen .
Der Ostseerat wird vor dem Hintergrund der gefährli-
chen russischen Außenpolitik in der Region nicht in der
Lage sein, den Vertrauensverlust der Weltgemeinschaft
in Russland zu kompensieren oder auch nur zu mindern,
der spätestens mit der Verletzung des Budapester Memo-
randums entstanden ist . Aber er kann ein Gesprächsort
für eine pragmatische Zusammenarbeit in der Region und
auch mit Russland in wichtigen Fragen sein . Und damit
meine ich ausdrücklich nicht nur die Zusammenarbeit
im Bereich der wirtschaftlichen Modernisierung, bei der
festzuhalten ist, dass die Missstände weiterhin überwie-
gen und es der russischen Regierung ganz offensichtlich
an Interesse mangelt, tatsächlich die notwendige Rechts-
und Investitionssicherheit herzustellen .
Aber bei Themen wie Sicherheit oder Ökologie kann
der Ostseerat gerade vor dem Hintergrund der schwie-
rigen Ausgangslage der Beziehungen zu Russland ein
hilfreiches Gesprächs- und Zusammenarbeitsforum sein,
an dem wir festhalten und in dem wir auch in Zukunft
zusammenarbeiten wollen .
Deswegen werden wir dem Antrag der Koalition zu-
stimmen .
Anlage 36
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
gebührenrechtlicher Regelungen im Aufenthalts-
recht (Tagesordnungspunkt 38)
Andrea Lindholz (CDU/CSU): Ein wesentliches
Ziel unseres Koalitionsvertrages von 2013 ist die Ent-
lastung der Kommunen . Hier haben wir sehr viel getan .
Allein in diesem Jahr entlastet der Bund die Länder und
Kommunen insgesamt mit rund 73 Milliarden Euro . Das
ist die größte Entlastung aller Zeiten . In diesem kommu-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24305
(A) (C)
(B) (D)
nalpolitischen Zusammenhang ist auch der vorliegende
Gesetzentwurf zu sehen .
Ausgangspunkt für dieses Gesetz war die Beschwer-
de der kommunalen Spitzenverbände und der Länder,
dass die Gebühren im Ausländerrecht nicht die Kosten
decken, die in den Ausländerbehörden zum Beispiel bei
der Verlängerung von Aufenthaltstiteln anfallen . Daher
einigten sich Bund, Länder und Kommunen 2012 auf ein
gemeinsames Projekt, in dem alle im Ausländerrecht gel-
tenden Gebühren gemessen und systematisch evaluiert
werden . Durchgeführt wurde diese Erhebung durch das
Statistische Bundesamt, das bundesweit in repräsentativ
ausgewählten Ausländerbehörden die realen Kosten für
den durchschnittlichen Arbeitsaufwand ermittelte . An-
schließend verglich das Amt den realen Kostenaufwand
mit den erhobenen Gebühren .
Die Evaluation der Daten von 2012/2013 zeigt im Er-
gebnis, dass den Kommunen bundesweit jährlich ein De-
fizit von über 12 Millionen Euro als Folge der teilweise
zu niedrigen Gebühren entsteht . Seit 2012/2013 hat sich
die Nettozuwanderung nach Deutschland nahezu verdop-
pelt. Entsprechend höher fällt heute auch das Defizit in
den Ausländerbehörden aus .
Es besteht also gut begründeter Handlungsbedarf .
Der Beschluss von Bund, Ländern und Kommunen, hier
gegenzusteuern, ist mehr als gerechtfertigt . Dabei gilt
seit jeher der Grundsatz, dass einerseits die Kosten der
öffentlichen Hand mittels Gebühren ausreichend zu de-
cken sind und andererseits die Gebührenschuldner nicht
übermäßig belastet werden sollen . Die Evaluierung hat
aber auch gezeigt, dass manche Gebührensätze zu hoch
angesetzt wurden, wie zum Beispiel die Gebühren für die
Ausstellung einer Blauen Karte EU oder einer Nieder-
lassungserlaubnis . Zu hohe Gebühren soll dieses Gesetz
nach unten korrigieren .
Im Wesentlichen sieht der Gesetzentwurf Änderungen
der §§ 69 und 70 des Aufenthaltsgesetzes vor, in denen
die Gebühren und die Verjährung geregelt werden . Mit
den Änderungen schaffen wir als Parlament die gesetzli-
chen Voraussetzungen, damit der Verordnungsgeber bzw .
die Bundesregierung die Gebühren in der Aufenthalts-
verordnung entsprechend den Ergebnissen der Evalua-
tion durch das Statistische Bundesamt anpassen kann .
Damit werden die Forderungen von Ländern und Kom-
munen erfüllt .
Konkret ändert sich durch den Gesetzentwurf Folgen-
des:
Erstens wird das Kostendeckungsgebot für die Ge-
bührenbemessung gesetzlich festgelegt und das bisheri-
ge Äquivalenzprinzip damit abgelöst . Das bedeutet, der
Preis für ausländerrechtliche öffentliche Leistungen wird
künftig als kostendeckende gesetzlich festgelegte Ge-
bühr nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen ermit-
telt . Der bisherige Grundsatz, dass zwischen dem Wert
einer Verwaltungsleistung und der dafür erhobenen Ge-
bühr ein ausgewogenes Verhältnis bestehen muss, tritt in
den Hintergrund .
Zweitens werden die Gebührenhöchstgrenzen in § 69
Aufenthaltsgesetz punktuell angepasst . In den meisten
Fällen ergeben sich Anhebungen in unterschiedlicher
Höhe . Beispielsweise steigt der Höchstsatz, der für die
Ausstellung einer Aufenthaltserlaubnis zu Forschungs-
zwecken erhoben werden darf, um 20 Euro . Die Ausstel-
lung eines Notreiseausweises sinkt hingegen von 25 auf
18 Euro .
Drittens werden alle Gebührensätze in der Aufent-
haltsverordnung entsprechend der vom Statistischen
Bundesamt ermittelten Durchschnittskosten neu festge-
legt. Zum Beispiel wird die Gebühr für eine Verpflich-
tungsermächtigung mit 4 Euro leicht angehoben . Die
Erneuerung einer Duldung steigt deutlicher von 15 auf
künftig 33 Euro . Allein dieser Punkt hatte 2012/2013 ein
Defizit von über 3,5 Millionen Euro verursacht.
Viertens werden die Gebührenhöchstätze für die Ertei-
lung einer Niederlassungserlaubnis sowie einer Erlaub-
nis zum Daueraufenthalt in der EU reduziert . Die Gebühr
wird jeweils um 60 Euro abgesenkt . Die Evaluierung hat
gezeigt, dass die Gebühren deutlich zu hoch angesetzt
waren .
Fünftens erfolgt eine Harmonisierung mit dem Bun-
desgebührengesetz . Das bislang subsidiär geltende Ver-
waltungskostengesetz wird durch einschlägige Normen
des Bundesgebührengesetzes abgelöst .
Sechstens wird dafür gesorgt, dass Resettle-
ment-Flüchtlinge und subsidiär Geschützte, die in
Deutschland einen Reisepass beantragen, nicht mit zu
hohen Gebühren überfordert werden . Sie werden in
diesem Punkt rechtlich mit GFK-Flüchtlingen gleich-
gestellt . Auch für subsidiär Geschützte gilt künftig der
Grundsatz, dass die Gebühren für einen Reisepass nicht
höher als die Gebühren für die Ausstellung eines deut-
schen Reisepasses liegen dürfen . Das gilt, obwohl die
Reisepässe für diese Gruppe erheblichen verwaltungs-
technischen Mehraufwand verursachen . Ich denke aber,
dass diese Regelung nicht nur den Betroffenen gegenüber
fair ist, sondern auch im ureigenen migrationspolitischen
Interesse der Bundesrepublik liegt .
Siebtens wird der nachvollziehbare Wunsch der Län-
der umgesetzt, und die Gebühren werden auf volle Euro-
beträge gerundet . Das vereinfacht die Arbeit in der Praxis
und die Abrechnungen .
Der Gesetzentwurf war bereits im Frühjahr 2015
ressortabgestimmt . Das Kabinett hätte ihn schon früher
verabschieden und in den Bundestag einbringen können .
Allerdings wurde das Vorhaben aus gutem Grund zurück-
gestellt . Unter dem 2015 massiv ansteigenden Migrati-
onsdruck erhielten viele andere asyl- und aufenthalts-
rechtliche Reformen Vorrang . Es ging zunächst darum,
unser Asylsystem insgesamt zu stabilisieren und unser
Ausländerrecht an die Herausforderungen anzupassen .
Die Gebührenordnung war daher erstmal nachrangig .
Wir haben in den letzten zwei Jahren das deutsche
Asylsystem nachhaltig stabilisiert . Die Migration nach
Deutschland haben wir erfolgreich geordnet, gesteuert
und begrenzt . Jetzt wollen wir auch noch dieses berech-
tigte Vorhaben in dieser Legislatur zu einem Abschluss
bringen .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724306
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Insgesamt halte ich den vorliegenden Gesetzentwurf
für einen gut ausgewogenen Kompromiss, der das Kos-
tendeckungsgebot der öffentlichen Hand einerseits und
die Gebührenbelastung der Betroffenen andererseits in
einen vernünftigen Ausgleich bringt . Ich bitte daher um
Zustimmung .
Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD): Auslän-
derbehörden verzeichnen einen Arbeits- und Aufgaben-
zuwachs – nicht nur aufgrund steigender Migration . Sie
stellen Aufenthaltsdokumente oder Notreiseausweise
aus, übertragen Aufenthaltstitel oder schreiben pass-
rechtliche Dokumente um . All diese Dienstleistungen
sind umfangreich und verursachen Kosten in den Kom-
munen . In bestimmtem Maße werden Personen, die die-
se Dienstleistungen in Anspruch nehmen, auch an den
Kosten beteiligt . Schon lange bemängeln allerdings die
Länder, dass die erhobenen Gebühren nicht mehr die
tatsächlichen Kosten abdecken . Eine wissenschaftliche
Analyse des Statistischen Bundesamtes hat 2013 diese
Analyse bestätigt .
Die Evaluation der bislang im Ausländerrecht gel-
tenden Gebühren durch das Statistische Bundesamt hat
gezeigt, dass die bundeseinheitlichen Gebühren für die
kommunalen Haushalte bisher nicht ausreichend waren
und jährlich für Defizite gesorgt haben. Insgesamt wur-
den durch das Statistische Bundesamt 53 verschiedene
Gebührentatbestände untersucht – dabei haben sich ei-
nige Kosten als zu teuer und andere wiederum als zu
günstig erwiesen . Daher werden nun die bislang gelten-
den Gebührenhöchstgrenzen punktuell angepasst und,
wo notwendig, die Gebühren erhöht . Diese Anpassungen
werden das ermittelte Defizit der Kommunen bei den in
der Ausländerverwaltung anfallenden Kosten von rund
12 Millionen Euro pro Jahr erheblich reduzieren .
Wahrscheinlich war das Defizit aufgrund der zwi-
schenzeitlich stark gestiegenen Fallzahlen in den letzten
beiden Jahren sogar erheblich größer, sodass das zusätz-
liche Volumen in den kommenden Jahren auch entspre-
chend höher ausfällt . Die Anpassung der Gebühren wird
insoweit also auch zu der im Koalitionsvertrag als Ziel
festgehaltenen Entlastung der Kommunen beitragen und
ist damit absolut sinnvoll .
Dabei nehmen wir die Anpassung so vor, dass zwar die
jeweils anfallenden Kosten bestmöglich gedeckt werden,
gleichzeitig die Gebührenzahler aber nicht unverhältnis-
mäßig stark belastet werden . Bisherige Ermäßigungen
oder Befreiungen von den Gebühren bleiben unverändert
bestehen . Auch kann die einzelne Ausländerbehörde im
Einzelfall wie gehabt mit Blick auf die Situation des Ge-
bührenzahlers diese ermäßigen oder ganz erlassen . Da-
mit tragen wir dafür Sorge, dass Ausländer nicht davon
abgehalten werden, Leistungen in Anspruch zu nehmen .
Es bleibt festzuhalten: Wir haben dadurch eine ausge-
wogene und gelungene Regelung gefunden, die tatsäch-
lichen Kosten besser abzubilden und gleichzeitig flexibel
auf Härtefälle reagieren zu können .
Ulla Jelpke (DIE LINKE): Die Bundesregierung will
die Gebührenordnung im Aufenthaltsrecht ändern, ge-
nauer gesagt: Sie will die Gebühren im Ergebnis massiv
erhöhen, angeblich um die Kommunen zu entlasten . Das
hört sich zunächst richtig und nach einem simplen Ver-
waltungsvorgang an . Dieser spiegelt aber zugleich Un-
stimmigkeiten und Probleme des Aufenthaltsrechts selbst
und auch des Umgangs mit Flüchtlingen in Deutschland .
Das vorliegende Gesetz lehnt die Fraktion Die Linke ab,
weil es an den eigentlichen Problemen überhaupt nichts
ändert. Es belastet insbesondere Geflüchtete, nützt aber
den Kommunen kaum, die die Masse der Verwaltungs-
arbeit leisten .
Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes sind die
Gebühren bislang viel zu niedrig angesetzt, sodass etwa
für die Ausstellung von Reiseausweisen für Ausländer
oder für Duldungen oder für die Befristung eines Ein-
reiseverbotes weniger Gebühren erhoben werden, als die
Verwaltungskosten hierfür tatsächlich betragen . Im vori-
gen Jahr sind die Kommunen deswegen auf 12 Millionen
Euro sitzen geblieben .
Im Prinzip ist der Ansatz, dass Gebühren kostende-
ckend sein sollen, zwar verständlich . Ich gebe aber zu
bedenken: Wir reden hier nicht von Verwaltungsvorgän-
gen, die von den betroffenen Ausländerinnen und Aus-
ländern nach Lust und Laune veranlasst werden . Eine
Familie, die zwar ausreisepflichtig ist, aus tatsächlichen
oder rechtlichen Gründen aber nicht abgeschoben wer-
den kann, ist nicht selbst schuld daran, dass sie hier re-
gelmäßig eine Duldung beantragen muss .
Der Preis für eine Duldung soll sich nach dem Wil-
len der Bundesregierung jetzt aber verdoppeln, so dass
eine Erstduldung 58 Euro und jede Verlängerung bis zu
30 Euro kostet . Dabei muss man jedoch eines berück-
sichtigen: Die Duldungszeiträume werden aus politi-
schen Gründen oftmals sehr kurz gehalten, manchmal
auf einen Monat begrenzt . Durch diese staatlich ver-
anlasste Abschreckungspolitik werden die Betroffenen
dazu gezwungen, alle paar Wochen oder Monate diesen
Verwaltungsakt zu beantragen . Dafür müssen die Behör-
denmitarbeiter natürlich Arbeitszeit aufwenden, was für
die Kommunen Mehrausgaben bedeutet .
Aber hier muss man zwei Sachen anmerken:
Zum einen handelt es sich bei dem von der Bundes-
regierung gewählten Ansatz, einfach die Gebühren zu
erhöhen, um die kommunalen Haushalte zu entlasten,
um eine Milchmädchenrechnung; denn die Geduldeten,
die hier vom Asylbewerberleistungsgesetz leben müssen,
verfügen meist gar nicht über die erforderlichen Finanz-
mittel . Für sie springt in der Regel das Sozialamt ein –
also im Ergebnis wiederum die Kommune, die ihre Aus-
gabeposten lediglich umschichten kann, aber am Ende
doch darauf sitzen bleibt .
Zum anderen zeigt sich hier die grundsätzliche Pro-
blematik, im Aufenthaltsrecht den Grundsatz der Kosten-
deckung einzufordern; denn ein großer Anteil der Kosten
resultiert aus Umständen, für die nicht die Betroffenen,
sondern „der Staat“ verantwortlich ist . Die Personalkos-
ten bei den kommunalen Behörden werden teilweise nur
dadurch in die Höhe getrieben, dass das Aufenthaltsrecht
nur so von komplexen, teilweise auch unklaren Regelun-
gen, von einer Vielzahl von Ausnahmetatbeständen usw .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24307
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wimmelt . Das macht die Bearbeitung und Prüfung der je-
weiligen Anträge aufwendig, langwierig und damit auch
teuer . Eine klarere Gesetzgebung und vereinfachte Vor-
schriften würden die Bearbeitung erleichtern und damit
billiger machen .
Die Linke hat stets die Auffassung vertreten, dass die
Kommunen von den Aufgaben der Flüchtlingsaufnah-
me und -versorgung effektiv entlastet werden müssen,
weil der Flüchtlingsschutz in erster Linie eine staatliche
Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland ist. Um
diese Entlastung wirklich zu erreichen, braucht es aber
ein anderes Instrument als das von der Bundesregierung
gewählte . Hier muss grundsätzlich darüber nachgedacht
werden, den Bund mehr in die Pflicht zu nehmen.
Ich will abschließend noch darauf hinweisen, dass
auch der Normenkontrollrat einige kritische Anmerkun-
gen zu diesem Gesetz formuliert hat, die in eine ähnliche
Richtung gehen wie unsere Kritik . So hat er formuliert:
„Durch Rechts- und Verwaltungsvereinfachung könnten
die Vollzugsträger auch auf der Aufwandsseite entlastet
werden . Sofern dies zu spürbar weniger Vollzugsauf-
wand führt, könnten perspektivisch Gebühren auch wie-
der gesenkt werden .“
Der Kontrollrat hat weiter ausgeführt, es müsste „zum
generellen Prinzip erhoben werden, vor einer Gebüh-
renerhöhung zunächst das Vereinfachungspotential in
den Verwaltungsverfahren auszuschöpfen . Anstatt Ge-
bühren in Folge aufwändiger Verwaltungsverfahren zu
erhöhen, sollten Gesetzgeber und Vollzugsträger mehr
Augenmerk auf schlankere Verfahren legen .“
Dem kann ich mich nur anschließen . Das würde in der
Praxis bedeuten, das Aufenthaltsrecht gründlich zu ver-
einfachen, und zwar im Sinne der hier lebenden Auslän-
derinnen und Ausländer .
Einen konkreten Vorschlag hierfür, etwa bei der Dul-
dungserteilung, hat die Fraktion Die Linke schon vor Jah-
ren gemacht, nämlich langjährig Geduldeten endlich ein
dauerhaftes Bleiberecht anzubieten . Wer seit Jahren hier
lebt und voraussichtlich auch noch weiter geduldet wer-
den muss – aus rechtlichen oder humanitären Gründen –,
der soll endlich Sicherheit bekommen . Die beschlossene
Bleiberechtsregelung ist nach allen bisherigen Praxiser-
fahrungen zu restriktiv und weitgehend unwirksam . Das
wäre im Interesse der Flüchtlinge selbst, aber auch der
Kommunen, und zwar nicht nur, weil sie auf die ewige
Wiederholung der Duldungsverlängerung verzichten
könnten, sondern auch weil die Flüchtlinge erst durch
ein Bleiberecht eine reale Chance erhalten, sich in die
Kommune, in der sie leben, erfolgreich zu integrieren
und unabhängig von staatlichen Hilfsleistungen zu leben .
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
„Die Bundesländer kritisieren seit längerem, dass die in
der Aufenthaltsverordnung … für aufenthaltsrechtliche
individuell zurechenbare öffentliche Leistungen festge-
legten Gebühren nicht auskömmlich seien und die kom-
munalen Haushalte in diesem Bereich jährlich erhebliche
Defizite zu verzeichnen hätten. Bund und Länder sind
daher übereingekommen, belastbar zu ermitteln, ob und
inwieweit die einzelnen Gebührentatbestände die tat-
sächlich anfallenden Kosten der Ausländerbehörden an-
gemessen abbilden . Je nach Gebührentatbestand haben
die Kommunen teilweise Überdeckungen, zum größeren
Teil aber Unterdeckungen zu verzeichnen . Bezogen auf
aufenthaltsrechtliche individuell zurechenbare öffentli-
che Leistungen entsteht den Kommunen ausweislich des
Projektergebnisses insgesamt ein jährliches Defizit von
ca . 12 Millionen Euro . … Um künftig die Gebühren im
Ausländerrecht so festlegen zu können, dass sie einer-
seits die für die jeweiligen Leistungen anfallenden Kos-
ten decken und andererseits die Gebührenschuldner nur
im erforderlichen Ausmaße belasten, bedarf es Änderun-
gen der §§ 69 und 70 des Aufenthaltsgesetzes . … Für die
im Ausländerrecht geltenden Gebühren resultiert das Be-
dürfnis nach einer bundeseinheitlichen Festlegung insbe-
sondere aus dem gesamtstaatlichen Interesse für gleiche
Aufenthalts- und Lebensbedingungen von Ausländern im
Bundesgebiet .“ So die Gesetzesbegründung . So weit, so
gut, so halbwegs verständlich . Behördenhandeln kostet
etwas, und es ist legitim, dafür Gebühren zu erheben .
Das gilt allerdings nicht schrankenlos, und dabei ist
höherrangiges Recht zu beachten . Das verkennen oder
verschweigen Sie geflissentlich, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der Koalition . Ich möchte mich heute nicht
darüber auslassen, ob es legitim ist, etwa für die nach-
trägliche Aufhebung eines Einreiseverbots Gebühren in
Höhe von 169 Euro zu verlangen . Das scheint mir zwar
ein wenig zu viel der Abschottung zu sein; doch unsere
Position zu den Einreiseverboten ist ja bekannt und kann
auf Seite 8 der Drucksache 18/5425 nachgelesen werden .
Nein, ich möchte Ihr Augenmerk vielmehr auf die uni-
onsrechtlichen Vorgaben und die völkerrechtlichen Ver-
pflichtungen der Bundesrepublik richten.
In der Mai-Ausgabe des „Informationsbriefs Auslän-
derrecht“ widmen Dr . Tilman Reinhardt und Dr . Rolf
Gutmann den unionsrechtlichen Vorgaben an die Erhe-
bung ausländerrechtlicher Gebühren einen lesenswerten
Beitrag . Ausgangspunkt für ihre Erörterungen ist das
Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom
29 . April 2010, wonach sich aus der Standstill-Klausel
des Assoziierungsabkommens zwischen der Europäi-
schen Union und der Türkei ergibt, dass von assoziati-
onsberechtigten türkischen Staatsangehörigen für die
Ausstellung von Aufenthaltstiteln lediglich Gebühren
verlangt werden können, die mit denjenigen von Uni-
onsbürgern vergleichbar sind . Das ist keine Lappalie,
sondern entlastet türkische Familien in der Europäischen
Union in erheblichem Maße . Das wird auch weiter so
sein müssen, da das Assoziationsrecht Anwendungsvor-
rang vor dem nationalem Recht und somit auch vor ihm
entgegenstehenden gebührenrechtlichen Regelungen hat .
Man fragt sich, ob die Bundesregierung das weiß . In der
Gesetzesbegründung steht davon jedenfalls kein Wort .
Nun kann man sagen: Es leben zwar viele türkische
Staatsangehörige in Deutschland, auf die die Regelungen
des Gesetzes, das heute verabschiedet werden soll, gar
nicht angewandt werden können, aber es lohnt sich den-
noch, das Gesetz zu verabschieden, da sich auch zahl-
reiche Menschen aus anderen Staaten in Deutschland
aufhalten, die man zur Kasse bitten kann . Dann wäre es
zwar ehrlicher, das in der Gesetzesbegründung auch zu
erwähnen . Es ist allerdings so, dass auch Staatsangehöri-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724308
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Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
ge weiterer Staaten sich möglicherweise auf völkerrecht-
liche Standstill-Klauseln berufen können und dann von
den Gebühren gar nicht betroffen sein dürften. Laut Rein-
hardt und Gutmann bestehen solche Vereinbarungen –
halten Sie sich fest – mit Moldawien, der Ukraine, Russ-
land, Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Kasachs tan,
Kirgisistan, Tadschikistan, Usbekistan, Algerien, Ma-
rokko, Tunesien, Albanien, Bosnien und Herzegowina,
Mazedonien, Montenegro, Serbien, Andorra, San Marino
sowie den 79 AKP-Staaten, die Vertragspartei des Coto-
nou-Abkommens sind . Das sind mehr als die Hälfte aller
Drittstaaten! Vor diesem Hintergrund wirkt das Unter-
fangen der Koalition doch wie ein untauglicher Versuch,
einen Flickenteppich notdürftig zu flicken. Rechtswidrig
ist das nicht, wegen des erwähnten Anwendungsvorrangs
des Assoziationsrechts – aber doch ein Stück weit unehr-
lich gegenüber der Öffentlichkeit, aber insbesondere ge-
genüber den Behörden, die das Durcheinander dann aus-
baden müssen . Die Ausländerbehörden sollten jedenfalls
nicht auf die Idee kommen, von den assoziationsrechtlich
begünstigten Drittstaatsangehörigen die höheren Gebüh-
ren zu verlangen, sonst drohen Rückforderungen in be-
trächtlicher Höhe .
Wir haben nichts gegen Gebühren an sich, deshalb
stimmen wir nicht gegen den Gesetzentwurf . Gesetzge-
berisch hätte man das aber einfacher und übersichtlicher
machen müssen . Deshalb enthalten wir uns .
237. Sitzung
Inhaltsverzeichnis
TOP 9, ZP 4 Neuregelung des bundesstaatlichen Finanzausgleichs
TOP 10 Einwanderungsgesetz
TOP 11 Betriebsrentenstärkungsgesetz
TOP 46, ZP 5 Überweisungen im vereinfachten Verfahren
TOP 47, ZP 6 Abschließende Beratungen ohne Aussprache
TOP 12 Abschluss der Rentenüberleitung
TOP 13, ZP 7 Rentenniveau
TOP 14 Jahresbericht 2016 des Wehrbeauftragten
TOP 15 Kohleausstieg
TOP 16 Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen
TOP 17 Mindestlohn
TOP 47 n, ZP 10, 11 Abschiebungen nach Afghanistan
TOP 18 Freiheits- und Einheitsdenkmal
TOP 19 Familiennachzug für subsidiär Geschützte
TOP 20 Umsetzung der Zahlungsdiensterichtlinie
TOP 21 Weltfriedenstag
TOP 22 Änderung der Geschäftsordnung - Alterspräsident
TOP 24 Arbeitsbericht des Parlamentarischen Beirats
TOP 25 Gesetz zur Einführung eines Wettbewerbsregisters
TOP 26 Überwachung übertragbarer Krankheiten
TOP 27 Änderung des Energie- und des Stromsteuergesetzes
TOP 28 Bekämpfung von Kinderehen
TOP 29 Beleidigung von Vertretern ausländischer Staaten
TOP 30 Bekämpfung der organisierten Kriminalität
TOP 31 Änderung reiserechtlicher Vorschriften
TOP 32 Kassensicherungsverordnung
TOP 33 Änderung des Telemediengesetzes
TOP 34 Änderung des Bundesversorgungsgesetzes
TOP 35 Blut- und Gewebezubereitungen, Pflege-TÜV
TOP 36 Änderung des Telekommunikationsgesetzes
TOP 37 25 Jahre Ostseerat
TOP 38 Gebührenrechtliche Regelungen im Aufenthaltsrecht
Anlagen
Anlage 1
Anlage 2
Anlage 3
Anlage 4
Anlage 5
Anlage 6
Anlage 7
Anlage 8
Anlage 9
Anlage 10
Anlage 11
Anlage 12
Anlage 13
Anlage 14
Anlage 15
Anlage 16
Anlage 17
Anlage 18
Anlage 19
Anlage 20
Anlage 21
Anlage 22
Anlage 23
Anlage 24
Anlage 25
Anlage 26
Anlage 27
Anlage 28
Anlage 29
Anlage 30
Anlage 31
Anlage 32
Anlage 33
Anlage 34
Anlage 35
Anlage 36