Präsident Dr. Norbert Lammert
        (A) (C)
        (B) (D)
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24187
        Anlagen zum Stenografischen Bericht
        Anlage 1
        Liste der entschuldigten Abgeordneten
        Abgeordnete(r)
        entschuldigt bis
        einschließlich
        Albsteiger, Katrin CDU/CSU 01 .06 .2017
        Amtsberg, Luise BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        01 .06 .2017
        Bluhm, Heidrun DIE LINKE 01 .06 .2017
        Färber, Hermann CDU/CSU 01 .06 .2017
        Gabriel, Sigmar SPD 01 .06 .2017
        Groth, Annette DIE LINKE 01 .06 .2017
        Hornhues, Bettina CDU/CSU 01 .06 .2017
        Jung, Andreas CDU/CSU 01 .06 .2017
        Kolbe, Daniela SPD 01 .06 .2017
        Notz, Dr . Konstantin
        von
        BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        01 .06 .2017
        Paus, Lisa BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        01 .06 .2017
        Vries, Kees de CDU/CSU 01 .06 .2017
        Wawzyniak, Halina DIE LINKE 01 .06 .2017
        Weinberg, Harald DIE LINKE 01 .06 .2017
        Wicklein, Andrea SPD 01 .06 .2017
        Wiese, Dirk SPD 01 .06 .2017
        Wunderlich, Jörn DIE LINKE 01 .06 .2017
        Anlage 2
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Dr. h. c. Edelgard Bulmahn,
        Dr. h. c. Gernot Erler, Ulrich Hampel, Ralf
        Kapschack, Dr. Matthias Miersch, Bettina Müller,
        Bernd Rützel, Dr. Hans-Joachim Schabedoth und
        Kerstin Tack (alle SPD) zu den namentlichen Ab-
        stimmungen über
        a) den von der Bundesregierung eingebrachten
        Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
        Grundgesetzes (Artikel 90, 91c, 104b, 104c,
        107, 108, 109a, 114, 125c, 143d, 143e, 143f,
        143g)
        b) den von der Bundesregierung eingebrachten
        Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des
        bundesstaatlichen Finanzausgleichssystems
        ab dem Jahr 2020 und zur Änderung haus-
        haltsrechtlicher Vorschriften
        die Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu
        c) dem Antrag der Abgeordneten Sabine Leidig,
        Roland Claus, Caren Lay, weiterer Abgeord-
        neter und der Fraktion DIE LINKE: Auto-
        bahnprivatisierungen im Grundgesetz aus-
        schließen
        und die Abstimmungen über die Beschlussempfeh-
        lungen zu
        d) dem Antrag der Abgeordneten Dr. Rosemarie
        Hein, Sigrid Hupach, Eva Bulling-Schröter,
        weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
        LINKE
        Bildungsherausforderungen gemeinsam ver-
        antworten – Kooperationsverbot in der Bil-
        dung endlich aufheben
        dem Antrag der Abgeordneten Nicole Gohlke,
        Roland Claus, Sigrid Hupach, weiterer Abge-
        ordneter und der Fraktion DIE LINKE
        Finanzierung der Wissenschaft auf eine ar-
        beitsfähige Basis stellen – Bildung und For-
        schung in förderbedürftigen Regionen solide
        ausstatten
        dem Antrag der Abgeordneten Kai Gehring,
        Ekin Deligöz, Christian Kühn (Tübingen),
        weiterer Abgeordneter und der Fraktion
        BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
        In die Zukunft investieren – Ein Wissen-
        schaftswunder initiieren
        (Tagesordnungspunkt 9)
        Der Deutsche Bundestag stimmt heute über die Neu-
        regelung des bundesstaatlichen Finanzausgleichssystems
        ab . Im parlamentarischen Verfahren ist es der SPD-Bun-
        destagsfraktion gelungen, wichtige Änderungen am ur-
        sprünglich eingebrachten Gesetzentwurf durchzusetzen:
        Erstens . Zunächst ist zu beachten, dass der Bundes-
        tag über ein Regelungspaket zu entscheiden hat, das im
        Vorfeld bereits zwischen allen Ministerpräsidenten und
        der Bundesregierung abgestimmt worden ist . Da die
        Länder in den Finanzbeziehungen Erleichterungen durch
        den Bund erfahren haben, haben sie im Gegenzug zuge-
        standen, ein Stück ihrer Kompetenz im Bildungsbereich
        wieder an den Bund zu geben und in diesem Zusam-
        menhang auch Bau, Planung und Verwaltung von Bun-
        desstraßen bzw . Autobahnen dem Bund zu übertragen .
        Diese Verhandlung auf einer von der Verfassung nicht
        vorgesehenen Ebene zwischen Länderregierungen und
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724188
        (A) (C)
        (B) (D)
        Bundesregierung halten wir für äußerst kritikwürdig .
        Die Beratungen des Bundestages wurden deutlich da-
        durch erschwert, dass die Ministerpräsidenten gemein-
        sam mit der Bundesregierung ein Gesamtpaket völlig
        unterschiedlicher Regelungsbereiche verabschiedeten,
        die im Parlament faktisch nicht mehr entkoppelt werden
        können . Umso beachtlicher sind die Veränderungen, die
        nun zur Abstimmung stehen. Unabhängig davon hoffen
        wir aber, dass alle Parteien aus dieser Situation zukünftig
        lernen .
        Zweitens . Aus SPD-Sicht war in dem Regelungspaket
        von Anfang an die Ausweitung des Unterhaltsvorschus-
        ses zu begrüßen . Für fast 1 Million alleinerziehende El-
        tern und ihre Kinder stellt es einen wichtigen Fortschritt
        dar, dass berufstätige Alleinerziehende, bei denen der un-
        terhaltspflichtige Elternteil seinen Verpflichtungen nicht
        nachkommt, eine Erweiterung des Anspruches auf staat-
        liche Unterstützung erfahren . Die Altersgrenze wird von
        jetzt 12 Jahre auf 18 Jahre angehoben und die zeitliche
        Befristung von maximal sechs Jahren abgeschafft. Dieses
        wird dazu führen, dass die Doppelbelastung von Job und
        Kinderbetreuung besser bewältigt werden kann .
        Drittens . Ein großer Erfolg ist auch das Aufbrechen
        des Kooperationsverbotes im Bildungsbereich . Der
        Bund wird in die Lage versetzt, 3,5 Milliarden Euro für
        Bildungsinvestitionen in finanzschwachen Kommunen
        bereitzustellen. Eine vollständige Abschaffung des Ko-
        operationsverbots im Bildungsbereich bleibt ein wich-
        tiges Ziel sozialdemokratischer Politik . Bildung ist eine
        gesamtstaatliche Aufgabe . Dies ist aber zwischen den
        Koalitionspartnern umstritten .
        Viertens . In der Fassung des Regelungspaketes, die in
        erster Lesung im Parlament beraten wurde, haben sich
        die Länder in Artikel 90 des Grundgesetzes verpflich-
        tet, unter anderem die Verwaltung der Bundesautobah-
        nen an den Bund zu geben . Ferner war vorgesehen, dass
        der Bund sich dafür einer Gesellschaft privaten Rechts
        bedienen könne . Bereits in dieser Fassung war geregelt,
        dass das Eigentum des Bundes an den Autobahnen und
        Bundesstraßen unveräußerlich ist . Allerdings befürchte-
        ten viele Bürgerinnen und Bürger in diesem Zusammen-
        hang, dass private Investoren über eine Beteiligung an
        der Gesellschaft zumindest mittelbar eine Privatisierung
        durch die Hintertür erreichen könnten . Die Verlautba-
        rungen aus Bundesfinanzministerium und Bundesver-
        kehrsministerium verstärkten diesen Verdacht . Auch
        zivilgesellschaftliche Organisationen und der Bundes-
        rechnungshof kritisierten das Vorhaben scharf . Die Ge-
        werkschaft Verdi problematisierte insbesondere Fragen
        beim Personalübergang .
        Nach wochenlangen Verhandlungen liegt nun eine
        Ergänzung des Verfassungstextes vor, der eine unmit-
        telbare oder mittelbare Beteiligung Privater an der Ge-
        sellschaft und deren Tochtergesellschaften ausdrücklich
        ausschließt . Dem Engagement der SPD-Bundestagsfrak-
        tion ist es zu verdanken, dass somit alle Hintertüren für
        eine mögliche Privatisierung in der Verfassung selbst ge-
        schlossen worden sind . Zudem ist es gelungen, dass alle
        wechselbereiten Beschäftigten der Straßenbauverwaltun-
        gen der Länder vom Bund übernommen und grundsätz-
        lich dort eingesetzt werden, wo sie bisher arbeiten . Die
        Verkehrsinfrastrukturgesellschaft ist verpflichtet, Tarif-
        verträge für alle Beschäftigen abzuschließen . Wir emp-
        finden es als Bestätigung dieser Position, dass auch die
        Gewerkschaft Verdi sowie der Bundesrechnungshof die
        Erfolge des parlamentarischen Verfahrens ausdrücklich
        anerkennen .
        Darüber hinaus werden in der Debatte sogenannte öf-
        fentlich-private Partnerschaften (ÖPP) problematisiert .
        Die Partnerschaften gibt es bereits – sie werden nicht
        erst durch das hier vorliegende Regelungspaket ermög-
        licht . Doch selbst in diesem Bereich konnte nun durch
        das parlamentarische Verfahren eine Verbesserung er-
        reicht werden: Erstmalig werden in der Verfassung öf-
        fentlich-private Partnerschaften für ganze Streckennetze
        oder wesentliche Teile explizit ausgeschlossen . Damit
        wird im Grundgesetz selbst ein klares Zeichen gegen die
        Ausweitung von ÖPP gesetzt .
        Die SPD-Bundestagsfraktion hätte sich eine noch wei-
        tergehende Regelung gewünscht . Dies war jedoch mit
        der CDU/CSU-Fraktion nicht möglich .
        Deshalb stimmen wir dem Gesetzespaket zu .
        Demokratie und das Ringen im parlamentarischen
        Verfahren bringen selten Ergebnisse, die zu 100 Prozent
        den Forderungen einer einzelnen Fraktion entsprechen .
        Wer künftig ÖPP vollständig verhindern will, muss dafür
        eintreten, dass der Staat mehr Mittel in die Infrastruk-
        tur investiert, wie es die SPD fordert . Ein völliger Aus-
        schluss von ÖPP im Grundgesetz, der einer Zweidrittel-
        mehrheit in Bundestag und Bundesrat bedarf, war in der
        bestehenden Koalition nicht realisierbar . Deshalb wer-
        ben wir für die Anerkennung der Verhandlungserfolge
        im parlamentarischen Verfahren und die Erhöhung des
        Drucks auf all die politischen Kräfte, die eine schwarze
        Null im Bundeshaushalt über politische Gestaltungsmög-
        lichkeiten stellen .
        Anlage 3
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Martin Burkert, Petra Crone,
        Elvira Drobinski-Weiß, Dagmar Freitag, Birgit
        Kömpel, Anette Kramme, Petra Rode-Bosse und
        Dagmar Ziegler (alle SPD) zu den namentlichen
        Abstimmungen über
        a) den von der Bundesregierung eingebrachten
        Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
        Grundgesetzes (Artikel 90, 91c, 104b, 104c,
        107, 108, 109a, 114, 125c, 143d, 143e, 143f,
        143g)
        b) den von der Bundesregierung eingebrachten
        Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des
        bundesstaatlichen Finanzausgleichssystems
        ab dem Jahr 2020 und zur Änderung haus-
        haltsrechtlicher Vorschriften
        die Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu
        c) dem Antrag der Abgeordneten Sabine Leidig,
        Roland Claus, Caren Lay, weiterer Abgeord-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24189
        (A) (C)
        (B) (D)
        neter und der Fraktion DIE LINKE: Auto-
        bahnprivatisierungen im Grundgesetz aus-
        schließen
        und die Abstimmungen über die Beschlussempfeh-
        lungen zu
        d) dem Antrag der Abgeordneten Dr. Rosemarie
        Hein, Sigrid Hupach, Eva Bulling-Schröter,
        weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
        LINKE
        Bildungsherausforderungen gemeinsam ver-
        antworten – Kooperationsverbot in der Bil-
        dung endlich aufheben
        dem Antrag der Abgeordneten Nicole Gohlke,
        Roland Claus, Sigrid Hupach, weiterer Abge-
        ordneter und der Fraktion DIE LINKE
        Finanzierung der Wissenschaft auf eine ar-
        beitsfähige Basis stellen – Bildung und For-
        schung in förderbedürftigen Regionen solide
        ausstatten
        dem Antrag der Abgeordneten Kai Gehring,
        Ekin Deligöz, Christian Kühn (Tübingen),
        weiterer Abgeordneter und der Fraktion
        BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
        In die Zukunft investieren – Ein Wissen-
        schaftswunder initiieren
        (Tagesordnungspunkt 9)
        Dieser Bundestag hat für die Finanzierung der Ver-
        kehrsinfrastruktur in den letzten Jahren deutlich mehr
        Mittel zur Verfügung gestellt, auch um den Investitions-
        stau bei unseren Straßen zu beenden .
        Organisatorische Mängel verhindern häufig, dass das
        zur Verfügung stehende Geld für den Bau von Bundes-
        fernstraßen zielgenau und an verkehrlichen Maßstäben
        orientiert abfließen kann. Auch bei Planung und Betrieb
        gibt es vielerorts unbestreitbaren Optimierungsbedarf .
        Das ist auf nahezu allen politischen Ebenen erkannt und
        benannt worden . Eine Reform dieser Strukturen ist des-
        halb dringend geboten .
        Neben einer Reform der Auftragsverwaltung war hier-
        zu schon länger die Gründung einer Bundesfernstraßen-
        gesellschaft im Gespräch, die Planung, Bau und Betrieb
        in die Hände des Bundes legt . Da der Bund am besten in
        der Lage ist, seine eigenen Prioritäten umzusetzen und
        ich das angesichts des Nachholbedarfs in der Verkehrs-
        infrastruktur für notwendig erachte, habe ich diese Idee
        immer befürwortet . Ein entsprechendes Konzept, wie es
        die Arbeitsgruppen Verkehr, Wirtschaft und Haushalt der
        SPD-Bundestagsfraktion vorgelegt haben, fand und fin-
        det meine volle Unterstützung .
        Der von der Bundesregierung ursprünglich vorgelegte
        Entwurf hat den verkehrspolitischen Anforderungen je-
        doch zum einen nicht ausreichend Rechnung getragen,
        zum anderen gravierende Mängel hinsichtlich Privatisie-
        rung, Struktur, Beteiligung der Politik und Mitarbeiter-
        rechten aufgewiesen . Er war daher nicht zustimmungs-
        fähig . Deshalb haben wir in langen Verhandlungen aus
        meiner Sicht wesentliche Änderungen durchgesetzt .
        Der häufigste Vorwurf gegen den vorliegenden Vor-
        schlag zur Bundesfernstraßengesellschaft ist der, er
        ermögliche Privatisierungen durch die Hintertür . Fest-
        gemacht wird dies an der Rechtsform der Gesellschaft
        mit beschränkter Haftung . Es gibt aber genug Praxisbei-
        spiele – zum Beispiel die Verkehrsinfrastrukturfinanzie-
        rungsgesellschaft (VIFG) oder die Gesellschaft für Inter-
        nationale Zusammenarbeit (GIZ) –, die beweisen, dass
        eine GmbH in öffentlichem Besitz nicht gewinnorientiert
        sein muss . Hierfür galt es die notwendigen Schranken
        dauerhaft zu setzen . Die von der SPD verhandelten Be-
        grenzungen für die Privatisierung sind daher für mich
        eine notwendige Voraussetzung für meine Zustimmung .
        Der Einfluss von öffentlich-privaten Partnerschaf-
        ten (ÖPP) wird mit der vorliegenden Reform weiter
        beschränkt . ÖPP für Streckennetze, die das gesamte
        Bundesautobahnnetz oder das gesamte Netz sonstiger
        Bundesfernstraßen in einem Land oder wesentlicher
        Teile davon umfassen, sind ausgeschlossen . Es werden
        Möglichkeiten zur Einbeziehung privater Betreiber und
        institutioneller Investoren ausgeschlossen, die bislang
        noch bestehen . Hier ist der Gesetzentwurf ein echter
        Fortschritt . Dem Deutschen Bundestag – namentlich dem
        Haushalts- und dem Verkehrsausschuss – werden durch
        die Reform neue Kontrollmöglichkeiten eingeräumt, die
        dieser auch im Sinne des Interesses der Bürgerinnen und
        Bürger nutzen wird .
        Bereits vor dieser Reform hat die Koalition im aktu-
        ellen Bundesverkehrswegeplan den Anreiz für ÖPP ge-
        mindert, da Gelder nicht mehr nach Ländern, sondern
        nach Prioritäten vergeben werden . Auch durch die neu
        eingeführten, realistischeren Wirtschaftlichkeitsberech-
        nungen werden ÖPP reduziert, ebenso wie das in der
        neuen Gesellschaft eingeführte Planungsprinzip nach der
        Lebenszeit .
        Wichtig für mich ist auch, dass mit der vorliegen-
        den Reform das wirtschaftliche Eigentum der Bundes-
        fernstraßen unveräußerlich beim Bund bleibt . Die neue
        Gesellschaft ist lediglich für die Verwaltung zuständig .
        Auch die Übertragung von Nießbrauchrechten – also die
        gewinnbringende Nutzung durch die Gesellschaft – ist
        ausgeschlossen . Die Gesellschaft wird nicht als Maut-
        gläubigerin auftreten . Eine funktionale Privatisierung
        durch die Übertragung eigener Aufgaben der Gesell-
        schaft auf Dritte ist ebenfalls nicht möglich .
        In enger Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften
        haben wir zudem die Rechte der Beschäftigten beim
        geplanten Personalübergang von den Straßenbauver-
        waltungen der Länder auf den Bund festgeschrieben . So
        gibt es zum Beispiel ein Widerspruchsrecht gegen den
        Übergang, und die besondere Situation des beamteten
        Personals wird berücksichtigt . Auch das ist für mich eine
        notwendige Voraussetzung für meine Zustimmung .
        Bedenken habe ich allerdings, ob ein Wechsel des
        Systems ohne größere Friktionen möglich ist und ob in
        absehbarer Zeit die gewünschte größere Effizienz und
        Effektivität tatsächlich erreicht werden kann. Vielmehr
        sind durch die Umstellung deutliche Verzögerungen und
        Effizienzverluste möglich. Wichtig ist nun, dass der Ge-
        sellschaftsvertrag im Sinne einer effizienten Arbeitswei-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724190
        (A) (C)
        (B) (D)
        se der neuen Gesellschaft entsprechend gestaltet wird .
        Durch unsere Änderungen am Gesetz wird hierfür das
        Parlament zuständig sein .
        Obwohl ich weiterhin nicht sicher bin, dass die er-
        hofften Verbesserungen mit der vorliegenden Reform der
        Straßenbauverwaltung tatsächlich erreicht werden kön-
        nen, habe ich bei meiner Entscheidung auch die anderen
        Aspekte dieses Gesetzes zu berücksichtigen . Die um-
        fassende Reform der Bund-Länder-Beziehungen ist ein
        wichtiger Schritt zu einer nachhaltigen Finanzierung der
        Länder . Zusätzlich sind die Einschränkung des Koopera-
        tionsverbots, das Investitionsprogramm für Kommunen
        und der Unterhaltsvorschuss für Alleinerziehende wich-
        tige Zukunftsprojekte, die das Leben vieler Menschen
        spürbar verbessern werden . In Abwägung dieser Dinge
        und angesichts der Tatsache, dass die wesentlichen Män-
        gel der Infrastrukturgesellschaft Verkehr einfachgesetz-
        lich behoben werden können, stimme ich dem Gesetz-
        entwurf zu .
        Anlage 4
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Dr. Hendrik Hoppenstedt und
        Dr. Sabine Sütterlin-Waack (beide CDU/CSU) zu
        den namentlichen Abstimmungen über
        a) den von der Bundesregierung eingebrachten
        Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
        Grundgesetzes (Artikel 90, 91c, 104b, 104c,
        107, 108, 109a, 114, 125c, 143d, 143e, 143f,
        143g)
        b) den von der Bundesregierung eingebrachten
        Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des
        bundesstaatlichen Finanzausgleichssystems
        ab dem Jahr 2020 und zur Änderung haus-
        haltsrechtlicher Vorschriften
        die Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu
        c) dem Antrag der Abgeordneten Sabine Leidig,
        Roland Claus, Caren Lay, weiterer Abgeord-
        neter und der Fraktion DIE LINKE: Auto-
        bahnprivatisierungen im Grundgesetz aus-
        schließen
        und die Abstimmungen über die Beschlussempfeh-
        lungen zu
        d) dem Antrag der Abgeordneten Dr. Rosemarie
        Hein, Sigrid Hupach, Eva Bulling-Schröter,
        weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
        LINKE
        Bildungsherausforderungen gemeinsam ver-
        antworten – Kooperationsverbot in der Bil-
        dung endlich aufheben
        dem Antrag der Abgeordneten Nicole Gohlke,
        Roland Claus, Sigrid Hupach, weiterer Abge-
        ordneter und der Fraktion DIE LINKE
        Finanzierung der Wissenschaft auf eine ar-
        beitsfähige Basis stellen – Bildung und For-
        schung in förderbedürftigen Regionen solide
        ausstatten
        dem Antrag der Abgeordneten Kai Gehring,
        Ekin Deligöz, Christian Kühn (Tübingen),
        weiterer Abgeordneter und der Fraktion
        BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
        In die Zukunft investieren – Ein Wissen-
        schaftswunder initiieren
        (Tagesordnungspunkt 9)
        In unserer bundesstaatlichen Kompetenzverteilung
        gab es seit 1949 stete Veränderungen . Die Verfassungs-
        geber haben 1949 noch eine relativ klare Trennung zwi-
        schen den Verantwortlichkeiten von Bund und Ländern
        gezogen . Grundsätzlich sind die Ausübung der staatli-
        chen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Auf-
        gaben Ländersache, vergleiche Artikel 30, 70 Absatz 1,
        83 GG .
        In den folgenden Jahrzehnten gab es – bedingt durch
        Urteile des Bundesverfassungsgerichtes und ab 1969
        durch verschiedene Änderungen des Grundgesetzes –
        eine Verschiebung hin zu einem kooperativen Föderalis-
        mus, der das Kompetenzgefüge zugunsten des Bundes
        und zulasten der Länder verschob . Im Gegenzug er-
        hielten die Bundesländer bei der Gesetzgebung größere
        Mitwirkungsrechte in Bundesangelegenheiten über den
        Bundesrat . Im Ergebnis führte dies zu Intransparenz und
        Unklarheiten bei der Verantwortlichkeit, die es Bürgerin-
        nen und Bürgern erschwert, sich ein Urteil über die poli-
        tischen Akteure der jeweiligen Entscheidungsebenen zu
        bilden und anschließend auf dieser Grundlage ihre demo-
        kratischen Teilhaberechte in Wahlen und Abstimmungen
        auszuüben .
        Unser demokratisches Gemeinwesen war stets dann
        besonders stark, wenn Bürgerinnen und Bürger in einem
        überschaubaren Rahmen Entscheidungen treffen können.
        Ein lebendiger Föderalismus garantiert dies . Umso wich-
        tiger war 2006 daher die Föderalismusreform I, die Fehl-
        entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte versucht hat
        zu korrigieren, um wieder eine deutlichere Trennung der
        Verantwortlichkeiten zu schaffen.
        Mit den heute zur namentlichen Abstimmung gestell-
        ten insgesamt 13 Änderungen des Grundgesetzes werden
        die mit der Föderalismusreform I verbundenen Reform-
        bemühungen teilweise konterkariert . Mit der Neufassung
        des Länderfinanzausgleiches werden die Bundesländer
        noch stärker zu Kostgängern des Bundes . Gleichzeitig
        steigt die finanzielle Belastung des Bundes signifikant.
        Mit der Überführung von Bundesautobahnen in die
        bundesunmittelbare Verwaltung wird den Ländern eine
        erhebliche Kompetenz im Verwaltungsvollzug genom-
        men . Schließlich verlieren die Länder über die Änderun-
        gen im Rahmen des Artikel 104c GG ihre ausschließli-
        che Zuständigkeit für das Schulwesen, indem der Bund
        Finanzhilfen für besonders sanierungsbedürftige Schulen
        leistet .
        All diese Veränderungen halte ich in der Summe für
        ablehnungswürdig . Ich muss allerdings zur Kenntnis
        nehmen, dass alle 16 Bundesländer diese grundgesetz-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24191
        (A) (C)
        (B) (D)
        lichen Veränderungen nicht nur akzeptiert, sondern zum
        Teil erbeten haben . Es ist zu konstatieren, dass nicht alle
        Länder mehr willens und in der Lage sind, ihrer Verant-
        wortung vollumfänglich nachzukommen . Das manifes-
        tiert sich darin, dass kaum noch leistungsfähige Lan-
        desverwaltungen für die Planung und den Unterhalt für
        Bundesautobahnen bestehen . Auch dass der kommunale
        Finanzausgleich nicht so gestaltet wird, dass besonders
        finanzschwache Kommunen in die Lage versetzt werden,
        ihre Schulgebäude zu unterhalten, unterstreicht dies .
        Als Abgeordnete des Deutschen Bundestages ste-
        he ich daher vor der Frage, entweder aus verfassungs-
        politischen Gründen die Änderung abzulehnen und die
        entstandenen Missstände, die zu einem immer größeren
        Gefälle zwischen unseren Bundesländern führten, zu
        akzeptieren . Die Alternative ist, den grundgesetzlichen
        Änderungen zuzustimmen und damit hinzunehmen, dass
        unsere bundesstaatliche Ordnung sich wieder in eine
        Richtung entwickelt, die ich für schädlich halte . Als be-
        sonders schwerwiegend empfinde ich den Eingriff des
        Artikel 104c GG, mit dem der Bund in die Finanzierung
        von Schulen hineinwirkt .
        Um die erheblichen Folgen des Reformstaus bei den
        Bundesländern abzuwenden, entscheide ich mich schwe-
        ren Herzens dafür, zuzustimmen . Ich verbinde damit die
        Hoffnung, dass wir im Dialog zwischen Bund und Län-
        dern zukünftig wieder einen Konsens finden, um eine
        weitere Aushöhlung unseres föderalen Systems zu ver-
        hindern .
        Anlage 5
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Florian Post und Claudia
        Tausend (beide SPD) zu den namentlichen Abstim-
        mungen über
        a) den von der Bundesregierung eingebrachten
        Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
        Grundgesetzes (Artikel 90, 91c, 104b, 104c,
        107, 108, 109a, 114, 125c, 143d, 143e, 143f,
        143g )
        b) den von der Bundesregierung eingebrachten
        Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des
        bundesstaatlichen Finanzausgleichssystems
        ab dem Jahr 2020 und zur Änderung haus-
        haltsrechtlicher Vorschriften
        die Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu
        c) dem Antrag der Abgeordneten Sabine Leidig,
        Roland Claus, Caren Lay, weiterer Abgeord-
        neter und der Fraktion DIE LINKE: Auto-
        bahnprivatisierungen im Grundgesetz aus-
        schließen
        und die Abstimmungen über die Beschlussempfeh-
        lungen zu
        d) dem Antrag der Abgeordneten Dr. Rosemarie
        Hein, Sigrid Hupach, Eva Bulling-Schröter,
        weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
        LINKE
        Bildungsherausforderungen gemeinsam ver-
        antworten – Kooperationsverbot in der Bil-
        dung endlich aufheben
        dem Antrag der Abgeordneten Nicole Gohlke,
        Roland Claus, Sigrid Hupach, weiterer Abge-
        ordneter und der Fraktion DIE LINKE
        Finanzierung der Wissenschaft auf eine ar-
        beitsfähige Basis stellen – Bildung und For-
        schung in förderbedürftigen Regionen solide
        ausstatten
        dem Antrag der Abgeordneten Kai Gehring,
        Ekin Deligöz, Christian Kühn (Tübingen),
        weiterer Abgeordneter und der Fraktion
        BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
        In die Zukunft investieren – Ein Wissen-
        schaftswunder initiieren
        (Tagesordnungspunkt 9)
        Nach den Erfahrungen mit der Privatisierung unter
        anderem der Post, der Telekom und der Bahn lehnen wir
        eine private Rechtsform der Verwaltung der Bundesauto-
        bahnen ab und stimmen daher gegen die entsprechenden
        geplanten Änderungen des Grundgesetzes .
        Auch wenn es gelungen ist, eine unmittelbare oder
        mittelbare Beteiligung Dritter an der geplanten Infra-
        strukturgesellschaft und möglicher Tochtergesellschaften
        im Grundgesetz auszuschließen, kann zu einem späteren
        Zeitpunkt eine Umwandlung der geplanten GmbH in
        eine Aktiengesellschaft durch einfachgesetzliche Rege-
        lung erfolgen .
        ÖPP-Modelle haben nach Berichten des Bundes-
        rechnungshofes in der Vergangenheit immer zu einem
        erheblichen Mehraufwand für den Bund und damit den
        Steuerzahler geführt . Auch mit der neuen Formulierung
        in Artikel 90 Absatz 2 des Grundgesetzes, die den aus-
        legungsfähigen Begriff „wesentliche Teile“ verwendet,
        werden ÖPP möglich bleiben . Wir kritisieren, dass die
        nähere Begrenzung wiederum nur einfachgesetzlich ge-
        regelt wird . Wir sehen die Gefahr, dass ÖPP künftig bei
        Autobahnprojekten Standard werden .
        Ebenfalls nur einfachgesetzlich wird die Kreditfähig-
        keit der neuen Infrastrukturgesellschaft und möglicher
        Tochtergesellschaften geregelt; sie kann von anderen
        Mehrheiten jederzeit geändert werden . Somit bleibt aus
        unserer Sicht eine grundgesetzlich verankerte Privatisie-
        rung der Rechtsform der Bundesautobahnen mit einer
        nicht auszuschließenden späteren Kapitalprivatisierung
        der Bundesfernstraßen, der wir nicht zustimmen können .
        Anlage 6
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Ursula Schulte und Gülistan
        Yüksel (beide SPD) zu den namentlichen Abstim-
        mungen über
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724192
        (A) (C)
        (B) (D)
        a) den von der Bundesregierung eingebrachten
        Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
        Grundgesetzes (Artikel 90, 91c, 104b, 104c,
        107, 108, 109a, 114, 125c, 143d, 143e, 143f,
        143g )
        b) den von der Bundesregierung eingebrachten
        Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des
        bundesstaatlichen Finanzausgleichssystems
        ab dem Jahr 2020 und zur Änderung haus-
        haltsrechtlicher Vorschriften
        die Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu
        c) dem Antrag der Abgeordneten Sabine Leidig,
        Roland Claus, Caren Lay, weiterer Abgeord-
        neter und der Fraktion DIE LINKE: Auto-
        bahnprivatisierungen im Grundgesetz aus-
        schließen
        und die Abstimmungen über die Beschlussempfeh-
        lungen zu
        d) dem Antrag der Abgeordneten Dr. Rosemarie
        Hein, Sigrid Hupach, Eva Bulling-Schröter,
        weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
        LINKE
        Bildungsherausforderungen gemeinsam ver-
        antworten – Kooperationsverbot in der Bil-
        dung endlich aufheben
        dem Antrag der Abgeordneten Nicole Gohlke,
        Roland Claus, Sigrid Hupach, weiterer Abge-
        ordneter und der Fraktion DIE LINKE
        Finanzierung der Wissenschaft auf eine ar-
        beitsfähige Basis stellen – Bildung und For-
        schung in förderbedürftigen Regionen solide
        ausstatten
        dem Antrag der Abgeordneten Kai Gehring,
        Ekin Deligöz, Christian Kühn (Tübingen),
        weiterer Abgeordneter und der Fraktion
        BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
        In die Zukunft investieren – Ein Wissen-
        schaftswunder initiieren
        (Tagesordnungspunkt 9)
        Der Bundestag stimmt heute ab über den „Entwurf ei-
        nes Gesetzes zur Neuregelung des bundesstaatlichen Fi-
        nanzausgleichssystems ab dem Jahr 2020 und zur Ände-
        rung haushaltsrechtlicher Vorschriften“ . Dabei handelt es
        sich um ein Gesetzespaket, das verschiedene politische
        Vorhaben miteinander verknüpft:
        – die Gründung einer Infrastrukturgesellschaft für Au-
        tobahnen und andere Bundesfernstraßen,
        – die Neuordnung des Finanzausgleichs zwischen
        Bund und Ländern,
        – die Ausweitung des Unterhaltsvorschusses für Al-
        leinerziehende und
        – Bildungsinvestitionen des Bundes zur Schulsanie-
        rung in finanzschwachen Kommunen.
        In dem Gesetzespaket wurden also Themen miteinan-
        der verknüpft, die inhaltlich in keinem Zusammenhang
        stehen . So gut und wichtig vor allem Bildungsinvestiti-
        onen auch seitens des Bundes und eine Ausweitung des
        Unterhaltsvorschusses sind, so kritisch stehe ich der Ge-
        fahr einer Autobahnprivatisierung gegenüber . Diese wird
        durch den Gesetzentwurf nicht gänzlich ausgeschlossen .
        Deswegen werde ich dem Regierungsentwurf – trotz
        zahlreicher Verbesserungen durch die SPD-Fraktion im
        parlamentarischen Verfahren – nicht zustimmen .
        Ich erkenne ausdrücklich an, dass unsere Fraktion
        im Ringen um einen Kompromiss viele entscheidende
        Änderungen erreichen konnte . Der ursprüngliche Ge-
        setzentwurf von Wolfgang Schäuble (CDU) sah eine
        staatsferne Autobahngesellschaft vor, der es möglich
        sein sollte, Schulden neben dem Staatshaushalt aufzu-
        nehmen . Auf diese Weise hätten die vom Volk gewählten
        Parlamentarier keinen Einfluss mehr auf die Schulden-
        aufnahme gehabt . Außerdem wäre der unbegrenzte Ein-
        bezug privater Investoren möglich gewesen . Dazu wird
        es dank der kritischen Öffentlichkeit und des vehemen-
        ten Einsatzes der SPD-Fraktion nun nicht kommen . So
        wird im Grundgesetz ausdrücklich festgeschrieben, dass
        der Bund hundertprozentiger Eigentümer sowohl der
        Bundesfernstraßen als auch der Infrastrukturgesellschaft
        bleibt . Eine unmittelbare oder mittelbare Beteiligung
        privater Investoren an der Infrastrukturgesellschaft oder
        möglichen Tochtergesellschaften ist grundgesetzlich
        ebenfalls ausgeschlossen .
        Trotz dieser Verbesserungen werde ich dem Entwurf
        nicht zustimmen . Denn: Eine funktionale Privatisierung
        durch die Übertragung eigener Aufgaben der Gesell-
        schaft auf Dritte, etwa durch öffentlich-private Partner-
        schaft (ÖPP), wird im Grundgesetz nur teilweise aus-
        geschlossen . Wörtlich soll im Grundgesetz Folgendes
        festgeschrieben werden: „Eine Beteiligung Privater im
        Rahmen von Öffentlich-Privaten Partnerschaften ist aus-
        geschlossen für Streckennetze, die das gesamte Bundes-
        autobahnnetz oder das gesamte Netz sonstiger Bundes-
        fernstraßen in einem Land oder wesentliche Teile davon
        umfassen .“ Unklar bleibt, was unter der Formulierung
        „wesentliche Teile“ gemeint ist . Genaueres hierzu ist
        nur einfachgesetzlich geregelt – könnte also auch durch
        eine etwaige schwarz-gelbe Regierung geändert werden .
        Vorerst würden ÖPPs nach der Gesetzesänderung nur auf
        nicht miteinander verbundenen Teilstrecken von maxi-
        mal 100 Kilometer möglich gemacht . Dieser möglichen
        Form der Teilprivatisierung – geschweige denn der Er-
        möglichung der zukünftigen Ausweitung im Umfang –
        kann ich nicht zustimmen .
        Ich bin davon überzeugt, dass wir die Alleinerzie-
        henden in unserem Land besser unterstützen und unsere
        Schulen sanieren müssen . Ich plädiere dafür, schnellst-
        möglich ein solches umfangreiches Konjunkturpro-
        gramm zur Sanierung unserer Schulen umzusetzen . Dies
        wäre möglich, ohne im Gegenzug weitreichende Grund-
        gesetzänderungen zu beschließen .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24193
        (A) (C)
        (B) (D)
        Anlage 7
        Erklärungen nach § 31 GO
        zu den namentlichen Abstimmungen über
        a) den von der Bundesregierung eingebrachten
        Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
        Grundgesetzes (Artikel 90, 91c, 104b, 104c,
        107, 108, 109a, 114, 125c, 143d, 143e, 143f,
        143g)
        b) den von der Bundesregierung eingebrachten
        Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des
        bundesstaatlichen Finanzausgleichssystems
        ab dem Jahr 2020 und zur Änderung haus-
        haltsrechtlicher Vorschriften
        die Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu
        c) dem Antrag der Abgeordneten Sabine Leidig,
        Roland Claus, Caren Lay, weiterer Abgeord-
        neter und der Fraktion DIE LINKE: Auto-
        bahnprivatisierungen im Grundgesetz aus-
        schließen
        und die Abstimmungen über die Beschlussempfeh-
        lungen zu
        d) dem Antrag der Abgeordneten Dr. Rosemarie
        Hein, Sigrid Hupach, Eva Bulling-Schröter,
        weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
        LINKE
        Bildungsherausforderungen gemeinsam ver-
        antworten – Kooperationsverbot in der Bil-
        dung endlich aufheben
        dem Antrag der Abgeordneten Nicole Gohlke,
        Roland Claus, Sigrid Hupach, weiterer Abge-
        ordneter und der Fraktion DIE LINKE
        Finanzierung der Wissenschaft auf eine ar-
        beitsfähige Basis stellen – Bildung und For-
        schung in förderbedürftigen Regionen solide
        ausstatten
        dem Antrag der Abgeordneten Kai Gehring,
        Ekin Deligöz, Christian Kühn (Tübingen),
        weiterer Abgeordneter und der Fraktion
        BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
        In die Zukunft investieren – Ein Wissen-
        schaftswunder initiieren
        (Tagesordnungspunkt 9)
        Ingrid Arndt-Brauer (SPD): In den letzten Monaten
        und Wochen wurde intensiv über eine Reform der Auf-
        tragsverwaltung bei den Bundesfernstraßen diskutiert .
        Darüber hinaus wurde um ein Modell gerungen, mit dem
        zusätzliches privates Kapital für öffentliche Investitionen
        in die Bundesfernstraßen mobilisiert werden kann . Dabei
        war für die SPD die Errichtung einer Infrastrukturgesell-
        schaft des Bundes eine Option, um die beiden Ziele zu
        erreichen . Im Kontext dieser Debatte haben wir als SPD
        immer betont, dass es eine Privatisierung der Bundes-
        fernstraßen nicht geben wird. Investitionen in die öffent-
        liche Verkehrsinfrastruktur sind für uns Bestandteil der
        öffentlichen Daseinsvorsorge. ÖPP (öffentlich-private
        Partnerschaft) – also die Beteiligung privaten Kapitals –
        ist nur (noch) auf Teilabschnitten (maximal 100 Kilo-
        meter Länge) möglich, die nur unwesentliche Teile des
        Autobahnnetzes betreffen dürfen.
        Ungeachtet dessen habe ich mich aus nachfolgend
        aufgeführten Gründen entschlossen, bei den heutigen
        Abstimmungen mit Nein zu stimmen:
        Die Errichtung der Bundesfernstraßengesellschaft
        stellt kein isoliertes Gesetzesvorhaben dar, sondern ist
        mit der Neuregelung des bundesstaatlichen Finanzaus-
        gleichssystems ab dem Jahr 2020 verknüpft . An den Ver-
        handlungen zwischen Bund und Ländern war der Bun-
        destag, das heißt auch ich als Parlamentarierin, zu keiner
        Phase beteiligt . Ich darf also nur noch über ein fertiges
        Gesetzespaket abstimmen . Der mit 16 : 0 Länderstim-
        men erreichte Kompromiss beinhaltet eine grundlegende
        Änderung des Länderfinanzausgleichs. Den Ausgleich
        der unterschiedlichen Finanzkraft übernimmt zukünftig
        der Bund, indem er die Mehrkosten trägt . Dieses wider-
        spricht meines Erachtens dem Grundgedanken der Soli-
        darität der Länder untereinander, bei dem die Stärkeren
        die Schwächeren unterstützen . Ein stärkerer Geist der
        Solidarität würde unserer Gesellschaft insgesamt gut-
        tun; der jetzige Beschluss wirkt diesbezüglich „mental“
        kontraproduktiv . Die Sachverständigen in der Anhörung
        haben deutlich gemacht, dass das neue Finanzausgleichs-
        system keinen Beitrag dazu liefern wird, die gewünschte
        Konvergenz der unterschiedlichen Lebensverhältnisse zu
        befördern .
        Die Errichtung der Bundesverkehrsstraßengesell-
        schaft wird in vielen Einzelheiten im Grundgesetz festge-
        schrieben . Damit entsteht für kommende Parlamente eine
        Bindungswirkung, die sehr schwer aufzulösen sein wird
        (Zweidrittelmehrheit in Bundestag/Bundesrat nötig) .
        Dadurch geht einem zukünftigen Bundestag als Gesetz-
        geber Handlungsspielraum verloren, was den Parlamen-
        tarismus und den Demokratiegedanken per se schwächt:
        nämlich, dass wechselnde parlamentarische Mehrheiten
        ihre politischen Vorstellungen realisieren können . Die
        Bürgerinnen und Bürgern sollten an der Wahlurne ent-
        scheiden können, ob und wie weit eine private Finan-
        zierung von Autobahnen/Bundesstraßen gewünscht ist
        oder nicht . Eine einfachgesetzliche – das heißt leichter
        änderbare – Regelung hätte dieses besser ermöglicht . Die
        jetzige Zementierung im Grundgesetz halte ich daher für
        einen Fehler . Sie ist zudem praxisfern: Was geschieht ei-
        gentlich, wenn ein ÖPP-Teilabschnitt doch einmal etwas
        länger als 100 Kilometer sein muss?
        Kurze Anmerkung am Rande: ÖPPs stellen keine
        „Privatisierung“ dar und sind nicht a priori schlecht . Es
        gab in der Vergangenheit sogar rein private Finanzierun-
        gen . Niemand kann verlässlich vorhersagen, ob wir als
        Staat auch zukünftig genügend Investitionsmittel werden
        bereitstellen können, um notwendige Straßenbaumaß-
        nahmen umzusetzen . Niedrigzinsen und gute konjunk-
        turelle Bedingungen können (und werden) sich mit an
        Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit irgendwann
        auch wieder ändern .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724194
        (A) (C)
        (B) (D)
        Das vorliegende Gesetzespaket wurde mit „artfremden
        Gesetzen“ verknüpft, namentlich mit der Verlängerung
        des Unterhaltsvorschusses und Hilfen für finanzschwa-
        che Kommunen bei der Schulinfrastruktur in Höhe von
        3,5 Milliarden Euro (teilweise Aufhebung Kooperations-
        verbot!) . Für diese beiden Gesetzesänderungen hatte sich
        die SPD sehr stark und erfolgreich engagiert .
        Ich lehne eine solche Verknüpfung aber aus Prinzip
        entschieden ab . Als Abgeordnete gerate ich so unver-
        meidbar in einen Konflikt, dass ich bei Ablehnung des
        gesamten Gesetzespaketes auch sinnvolle und von mir
        ausdrücklich gewünschte Vorhaben negiere/verhindere .
        Bärbel Bas (SPD): Der Deutsche Bundestag stimmt
        heute über die Neuregelung des bundesstaatlichen
        Finanz ausgleichssystems ab . Im parlamentarischen
        Verfahren ist es der SPD-Bundestagsfraktion gelungen,
        wichtige Änderungen am ursprünglich eingebrachten
        Gesetzentwurf durchzusetzen:
        Erstens . Zunächst ist zu beachten, dass der Bundes-
        tag über ein Regelungspaket zu entscheiden hat, das im
        Vorfeld bereits zwischen allen Ministerpräsidentinnen
        und Ministerpräsidenten und der Bundesregierung abge-
        stimmt worden ist . Da die Länder in den Finanzbezie-
        hungen Erleichterungen durch den Bund erfahren haben,
        haben sie im Gegenzug zugestanden, ein Stück ihrer
        Kompetenz im Bildungsbereich wieder an den Bund zu
        geben und in diesem Zusammenhang auch Bau, Planung
        und Verwaltung von Bundesstraßen bzw . Autobahnen
        dem Bund zu übertragen . Diese Verhandlung auf einer
        von der Verfassung nicht vorgesehenen Ebene zwischen
        Länderregierungen und Bundesregierung halte ich für
        äußerst kritikwürdig . Die Beratungen des Bundestages
        wurden deutlich dadurch erschwert, dass die Ministerprä-
        sidentinnen und Ministerpräsidenten gemeinsam mit der
        Bundesregierung ein Gesamtpaket völlig unterschied-
        licher Regelungsbereiche verabschiedeten, die im Par-
        lament faktisch nicht mehr entkoppelt werden können .
        Umso beachtlicher sind die Veränderungen, die nun zur
        Abstimmung stehen. Unabhängig davon hoffe ich aber,
        dass alle Parteien aus dieser Situation zukünftig lernen .
        Zweitens . Aus SPD-Sicht war in dem Regelungspaket
        von Anfang an die Ausweitung des Unterhaltsvorschus-
        ses zu begrüßen . Für fast eine Million alleinerziehende
        Eltern und ihre Kinder stellt es einen wichtigen Fort-
        schritt dar, dass berufstätige Alleinerziehende, bei denen
        der unterhaltspflichtige Elternteil seinen Verpflichtungen
        nicht nachkommt, eine Erweiterung des Anspruches auf
        staatliche Unterstützung erfahren . Die Altersgrenze wird
        von jetzt 12 Jahre auf 18 Jahre angehoben und die zeit-
        liche Befristung von maximal sechs Jahren abgeschafft.
        Dieses wird auch in Duisburg dazu führen, dass Allein-
        erziehende die Doppelbelastung von Job und Kinderbe-
        treuung besser bewältigen können .
        Drittens . Ein großer Erfolg ist auch das Aufbrechen
        des Kooperationsverbotes im Bildungsbereich . Der Bund
        wird in die Lage versetzt, 3,5 Milliarden Euro für Bil-
        dungsinvestitionen in finanzschwachen Kommunen be-
        reitzustellen . Diese Investitionen werden auch Duisburgs
        Schulen zugute kommen. Eine vollständige Abschaffung
        des Kooperationsverbots im Bildungsbereich bleibt ein
        wichtiges Ziel sozialdemokratischer Politik . Bildung ist
        eine gesamtstaatliche Aufgabe . Dies ist aber zwischen
        den Koalitionspartnern umstritten .
        Viertens . In der Fassung des Regelungspaketes, die in
        erster Lesung im Parlament beraten wurde, haben sich
        die Länder in Artikel 90 des Grundgesetzes verpflich-
        tet, unter anderem die Verwaltung der Bundesautobah-
        nen an den Bund zu geben . Ferner war vorgesehen, dass
        der Bund sich dafür einer Gesellschaft privaten Rechts
        bedienen könne . Bereits in dieser Fassung war geregelt,
        dass das Eigentum des Bundes an den Autobahnen und
        Bundesstraßen unveräußerlich ist . Allerdings befürchte-
        ten viele Bürgerinnen und Bürger in diesem Zusammen-
        hang, dass private Investorinnen und Investoren über eine
        Beteiligung an der Gesellschaft zumindest mittelbar eine
        Privatisierung durch die Hintertür erreichen könnten .
        Die Verlautbarungen aus Bundesfinanzministerium und
        Bundesverkehrsministerium verstärkten diesen Verdacht .
        Auch zivilgesellschaftliche Organisationen und der Bun-
        desrechnungshof kritisierten das Vorhaben scharf . Die
        Gewerkschaft Verdi problematisierte insbesondere Fra-
        gen beim Personalübergang .
        Nach wochenlangen Verhandlungen liegt nun eine
        Ergänzung des Verfassungstextes vor, der eine unmit-
        telbare oder mittelbare Beteiligung Privater an der Ge-
        sellschaft und deren Tochtergesellschaften ausdrücklich
        ausschließt . Dem Engagement der SPD-Bundestagsfrak-
        tion ist es zu verdanken, dass somit alle Hintertüren für
        eine mögliche Privatisierung in der Verfassung selbst ge-
        schlossen worden sind . Zudem ist es gelungen, dass alle
        wechselbereiten Beschäftigten der Straßenbauverwaltun-
        gen der Länder vom Bund übernommen und grundsätz-
        lich dort eingesetzt werden, wo sie bisher arbeiten . Die
        Verkehrsinfrastrukturgesellschaft ist verpflichtet, Tarif-
        verträge für alle Beschäftigen abzuschließen . Ich emp-
        finde es als Bestätigung dieser Position, dass auch die
        Gewerkschaft Verdi sowie der Bundesrechnungshof die
        Erfolge des parlamentarischen Verfahrens ausdrücklich
        anerkennen .
        Darüber hinaus werden in der Debatte sogenannte öf-
        fentlich-private Partnerschaften (ÖPP) problematisiert .
        Die Partnerschaften gibt es bereits – sie werden nicht erst
        durch das hier vorliegende Regelungspaket ermöglicht .
        Doch selbst in diesem Bereich konnte nun durch das par-
        lamentarische Verfahren eine Verbesserung erreicht wer-
        den: Erstmalig werden in der Verfassung öffentlich-pri-
        vate Partnerschaften für ganze Streckennetze oder
        wesentliche Teile explizit ausgeschlossen . Damit wird im
        Grundgesetz selbst ein klares Zeichen gegen die Auswei-
        tung von ÖPP gesetzt . Die SPD-Bundestagsfraktion hätte
        sich eine noch weitergehende Regelung gewünscht . Dies
        war jedoch mit der CDU/CSU-Fraktion nicht möglich .
        Ich stimme dem Gesetzespaket zu .
        Demokratie und das Ringen im parlamentarischen
        Verfahren bringen selten Ergebnisse, die zu 100 Prozent
        den Forderungen einer einzelnen Fraktion entsprechen .
        Wer künftig ÖPP vollständig verhindern will, muss dafür
        eintreten, dass der Staat mehr Mittel in die Infrastruk-
        tur investiert, wie es die SPD fordert . Ein völliger Aus-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24195
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        schluss von ÖPP im Grundgesetz, der einer Zweidrittel-
        mehrheit in Bundestag und Bundesrat bedarf, war in der
        bestehenden Koalition nicht realisierbar . Deshalb werbe
        ich für die Anerkennung der Verhandlungserfolge im par-
        lamentarischen Verfahren und die Erhöhung des Drucks
        auf all die politischen Kräfte, die eine schwarze Null im
        Bundeshaushalt über politische Gestaltungsmöglichkei-
        ten stellen .
        Ich stimme aufgrund der Verhandlungserfolge zu .
        Veronika Bellmann (CDU/CSU): Ich kann aus ganz
        grundsätzlichen Erwägungen heraus den vorliegenden
        Grundgesetzänderungen nicht zustimmen und werde
        mich der Stimme enthalten .
        Natürlich müssen die Bund-Länder-Finanzbeziehun-
        gen infolge Auslaufen des Solidarpaktes neu geregelt
        werden . Die inhaltlichen Vorgaben dazu und zu den
        anderen vorgeschlagenen Regelungen (Unterhaltsvor-
        schuss, Infrastruktur, Bildung usw .) sind auch akzeptabel
        und in sich schlüssig, was das Verhältnis „Mehr Geld des
        Bundes an die Länder“ gegen „Mehr Kontrollrechte des
        Bundes“ angeht .
        Aber dass mit dieser Reform das Grundgesetz an ins-
        gesamt 14 Stellen geändert werden soll, ist eben nicht ak-
        zeptabel. Ähnlich weitreichende Eingriffe in das Grund-
        gesetz gab es zuletzt bei den Föderalismusreformen nach
        umfangreichen und tiefgreifenden Debatten einer eigens
        zu diesem Zweck gegründeten Föderalismuskommis-
        sion . Seinerzeit ist es darum gegangen, die Eigenstän-
        digkeit und Selbstverantwortung der Länder zu stärken .
        Nun wird diese erst vor einigen wenigen Jahren justierte
        bundesstaatliche Grundordnung konterkariert, indem der
        Bund immer mehr Finanzverantwortung für Aufgaben
        der Länder übernimmt, die diese aus den verschiedensten
        politischen Gründen nur allzu gerne abgeben . Das sind
        unter dem Deckmäntelchen eines vermeintlichen Födera-
        lismus daherkommende erste Schritte in einen Zentral-
        staat . Dabei ist die Neuordnung der Finanzbeziehungen,
        die eigentlich Ziel der Reform war, zunehmend aus dem
        Blick geraten .
        Das Grundgesetz soll Regelungen enthalten, die für
        „möglichst immer“ gelten, das heißt, eine sogenannte
        Ewigkeitsgarantie besitzen . Diese bestimmt auch, dass
        Regeln des politischen Tagesgeschäfts – und seien sie
        noch so hochkomplex und numerische Aufzählungen –
        nichts im Grundgesetz zu suchen haben . Stattdessen wer-
        den jetzt Milliardenzuschüsse von 3,5 Milliarden Euro
        für Schulen in finanzschwachen Kommunen ausgegeben
        (– damit werden jahrelange Versäumnisse bzw . das Un-
        vermögen bei Investitionen in die Bildungsinfrastruktur
        durch SPD-regierte Bundesländer ausgeglichen –) und
        die Ausgestaltung einer Autobahngesellschaft geregelt .
        Hier wie bei den weiteren Neuerungen wären einzelge-
        setzliche Regelungen vollkommen ausreichend gewesen .
        Dann könnte es jederzeit Evaluationen und nachfolgend,
        falls notwendig, auch Korrekturen geben . Wir blieben
        politisch relativ handlungsfähig, da die im Ergebnis um-
        strittenen Neuregelungen durch Änderungen des Grund-
        gesetzes praktisch nicht irreversibel gemacht würden .
        Stattdessen wird durch ein Sammelsurium von Rege-
        lungen das Grundgesetz inflationiert und quasi entwertet.
        Stattdessen werden Forderungen, die ohne Frage Verfas-
        sungsrang haben, wie die Aufnahme der deutschen Spra-
        che ins Grundgesetz, trotz einer breiten Unterstützung der
        Öffentlichkeit (vom Deutschen Kulturrat über den Verein
        Deutsche Sprache e . V . bis hin zu CDU-Parteitagsbe-
        schlüssen und sogar entsprechenden Unterstützungszu-
        sagen der Bundeskanzlerin in mehreren Veranstaltungen)
        regelmäßig von Grundgesetzänderungen ausgenommen .
        Marco Bülow (SPD): Heute beschließt der Deutsche
        Bundestag den neuen Bund-Länder-Finanzausgleich, der
        auch die Regelungen zur Errichtung einer Infrastruktur-
        gesellschaft enthält. Nach reiflicher Abwägung habe ich
        mich dazu entschieden, gegen dieses Paket zu stimmen .
        Dieses Gesetzespaket enthält umfassende Änderungen
        des Grundgesetzes sowie einfachgesetzliche Änderun-
        gen . Es geht zurück auf eine Einigung zwischen der Bun-
        desregierung und den Ländern vom Dezember 2016 als
        Ersatz für die derzeitigen Regelungen zum Bund-Län-
        der-Finanzausgleich, die 2019 auslaufen .
        Der Hauptgrund für mich, dem Gesetzespaket mei-
        ne Zustimmung zu verweigern, ist die darin enthaltene
        Einführung einer Infrastrukturgesellschaft zur Sicher-
        stellung der Finanzierung und Effizienz bei Bau und
        Verwaltung der Bundesautobahnen. Die Schaffung ei-
        ner Gesellschaft privaten Rechts widerspricht meinem
        Grundsatz, dass die Bereitstellung öffentlicher Güter, wie
        der öffentlichen Verkehrsinfrastruktur, in die öffentliche
        Hand gehört . Einer Infrastrukturgesellschaft könnte ich
        nur zustimmen, wenn diese die Form einer Gesellschaft
        öffentlichen Rechts hat. Das ist in dem vorliegenden
        Kompromiss nicht der Fall . CDU/CSU haben dies vehe-
        ment abgelehnt .
        Ich halte das für einen großen Fehler . Eine späte-
        re Privatisierung von Teilen des Autobahnnetzes bleibt
        nicht ausgeschlossen . Da für eine erneute Änderung eine
        Zweidrittelmehrheit nötig ist, wird diese Entscheidung so
        gut wie nicht mehr umkehrbar sein . Damit haben erneut
        einzelne Lobbyinteressen den Vorzug vor dem Allge-
        meinwohl erhalten .
        Zudem wird der Bundestag ein weiteres Mal entmach-
        tet . Dies setzt den schon länger bestehenden Prozess der
        schleichenden Entmachtung der gewählten Volksvertre-
        terinnen und Volksvertreter fort, bei dem immer mehr
        Befugnisse auf andere Ebenen übertragen werden . Des-
        halb werde ich mich weiterhin gegen die Entmachtung
        des Parlamentes und gegen den Ausverkauf von originä-
        ren Staatsaufgaben zugunsten von Einzelinteressen zur
        Wehr setzen .
        Meine Fraktionskollegen und -kolleginnen haben
        lange und hart verhandelt, um möglichst viele Privati-
        sierungsschranken einzubauen . So wurden auch Ände-
        rungen bereits im Grundgesetz hineinverhandelt, durch
        die die mittelbare und unmittelbare Beteiligung Dritter
        an der Infrastrukturgesellschaft und deren Tochterge-
        sellschaften ausgeschlossen wird . Außerdem ist aus-
        geschlossen, dass sich Private im Rahmen von öffent-
        lich-privaten Partnerschaften (ÖPP) für Streckennetze,
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724196
        (A) (C)
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        die das gesamte Bundesautobahnnetz oder wesentliche
        Teile davon betreffen, beteiligen. Insbesondere Bundes-
        verkehrsminister Dobrindt wollte ursprünglich sogar bis
        zu 49 Prozent der Gesellschaft an private Investoren ver-
        äußern . Dies ist unglaublich . Trotz der Veränderungen
        im aktuellen Gesetz besteht aber immer noch die Mög-
        lichkeit, ÖPP in höherem Maße durchzuführen . Zudem
        ist der Begriff „wesentliche Teile“ zu unkonkret, als dass
        damit ein wirklicher Ausschluss Privater garantiert ist .
        Darüber hinaus wird erstmals geradezu dazu aufgeru-
        fen, dass die Sanierung und der Bau von Schulen durch
        ÖPP-Vorhaben umgesetzt werden . Diesem widerspreche
        ich mit aller Entschiedenheit . Die Bereitstellung von Bil-
        dungsinfrastruktur ist elementare Aufgabe des Staates .
        Des Weiteren ist ein möglicher Wechsel der Rechts-
        form, zum Beispiel der GmbH in eine AG, lediglich
        einfachgesetzlich geregelt . Das bedeutet, eine andere
        Bundesregierung kann diese Umwandlung ohne eine
        Änderung des Grundgesetzes mit einfacher Mehrheit
        vollziehen . Gleiches gilt für die Kreditfähigkeit der Ge-
        sellschaft . Es ist zwar nicht erlaubt, dass diese selbst
        Kredite aufnimmt, aber dieser Punkt ist ebenfalls nur
        einfachgesetzlich geregelt . Gleiches gilt für den vorge-
        sehenen Parlamentsvorbehalt, der damit ebenso durch
        eine andere politische Mehrheit jederzeit verändert wer-
        den kann . Auch die Übernahme des Angestellten ist nur
        einfachgesetzlich abgesichert, so dass die Gefahr besteht,
        dass eine andere politische Mehrheit den Abbau von bis-
        lang gesicherten Arbeitsplätzen mit Tariflöhnen und gu-
        ter Mitbestimmung organisiert .
        Ich halte es ebenso unter demokratischen Gesichts-
        punkten für höchst problematisch, weitgehend unbe-
        merkt von der breiten Öffentlichkeit nicht weniger als
        13 Grundgesetzänderungen in einer Abstimmung im
        Paket zu beschließen . Hier geht es nicht nur um die
        Bund-Länder-Finanzierung, sondern eben auch um die
        Autobahnprivatisierung oder den Unterhaltsvorschuss .
        Alles wichtige Gesetze, für die man sich die Zeit nehmen
        sollte, sie einzeln zu diskutieren .
        Der Unterhaltsvorschuss beispielsweise wird ausge-
        weitet und zukünftig bis zum 18 . Lebensjahr gezahlt .
        Die Begrenzung auf sechs Jahre soll entfallen . Es ist eine
        wichtige Regelung, wenn der unterhaltspflichtige Eltern-
        teil nicht oder nicht regelmäßig zahlt . Bund und Länder
        haben das gemeinsam vereinbart . Wir müssen aber auf
        jeden Fall dafür sorgen, dass die Mehrkosten bei den
        Kommunen zukünftig aufgefangen werden . Ein wichti-
        ger Fortschritt, der aber nicht gemeinsam mit den ande-
        ren Punkten in einem Paket beschlossen werden darf .
        Für mich ist klar: Die Union wollte von Anfang an eine
        echte Privatisierung der Autobahnen und wird das auch
        weiterhin vorantreiben . Der vorliegende Kompromiss
        schließt dies nicht vollumfänglich aus, und daher kann
        ich ihm nicht zustimmen . Den weiteren Regelungen, die
        sich beispielsweise auf die Neuordnung des Finanzaus-
        gleichs oder das Aufheben des Kooperationsverbotes im
        Bildungsbereich beziehen, werde ich zustimmen .
        Zu den einzelnen namentlichen Abstimmungen:
        1 .: Änderungsantrag der Linken zu Artikel 90 GG –
        Autobahngesellschaft:
        Votum: Enthaltung
        2 .: Änderungsantrag von Bündnis 90/Die Grünen:
        Votum: Enthaltung
        3 .: Änderungsantrag von Bündnis 90/Die Grünen zu
        den Artikeln 90 und 143e GG – Autobahngesellschaft:
        Votum: Enthaltung
        4 .: Änderung des Artikel 90 GG – Autobahngesell-
        schaft:
        Votum: Nein
        5 .: Änderung des Artikel 107 GG –Steuern:
        Votum: Ja
        6 .: Änderung des Artikel 125c GG – Verlängerung Ge-
        meindeverkehrsfinanzierung und Hilfen für Bremen und
        Saarland:
        Votum: Ja
        7 .: Änderung des Artikel 143e GG –Verbleib der Bun-
        desautobahnen in Länderverwaltung:
        Votum: Enthaltung
        8 .: Gesamtgesetz – Änderung von insgesamt 13 Arti-
        keln des GG:
        Votum: Nein
        Dr. Daniela De Ridder (SPD): Dieser Bundestag
        hat für die Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur in den
        letzten Jahren deutlich mehr Mittel zur Verfügung ge-
        stellt, auch um den Investitionsstau bei unseren Straßen
        zu beenden .
        Organisatorische Mängel verhindern häufig, dass das
        zur Verfügung stehende Geld für den Bau von Bundes-
        fernstraßen zielgenau und an verkehrlichen Maßstäben
        orientiert abfließen kann. Auch bei Planung und Betrieb
        gibt es vielerorts unbestreitbaren Optimierungsbedarf .
        Das ist auf nahezu allen politischen Ebenen erkannt und
        benannt worden . Eine Reform dieser Strukturen ist des-
        halb dringend geboten .
        Neben einer Reform der Auftragsverwaltung war hier-
        zu schon länger die Gründung einer Bundesfernstraßen-
        gesellschaft im Gespräch, die Planung, Bau und Betrieb
        in die Hände des Bundes legt . Da der Bund am besten in
        der Lage ist, seine eigenen Prioritäten umzusetzen und
        ich das angesichts des Nachholbedarfs in der Verkehrs-
        infrastruktur für notwendig erachte, habe ich diese Idee
        immer befürwortet . Ein entsprechendes Konzept, wie es
        die Arbeitsgruppen Verkehr, Wirtschaft und Haushalt der
        SPD-Bundestagsfraktion vorgelegt haben, fand und fin-
        det meine volle Unterstützung .
        Der von der Bundesregierung ursprünglich vorgelegte
        Entwurf hat den verkehrspolitischen Anforderungen je-
        doch zum einen nicht ausreichend Rechnung getragen,
        zum anderen gravierende Mängel hinsichtlich Privatisie-
        rung, Struktur, Beteiligung der Politik und Mitarbeiter-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24197
        (A) (C)
        (B) (D)
        rechten aufgewiesen . Er war daher nicht zustimmungs-
        fähig . Deshalb haben wir in langen Verhandlungen aus
        meiner Sicht wesentliche Änderungen durchgesetzt .
        Der häufigste Vorwurf gegen den vorliegenden Vor-
        schlag zur Bundesfernstraßengesellschaft ist der, er
        ermögliche Privatisierungen durch die Hintertür . Fest-
        gemacht wird dies an der Rechtsform der Gesellschaft
        mit beschränkter Haftung . Es gibt aber genug Praxisbei-
        spiele – zum Beispiel die Verkehrsinfrastrukturfinanzie-
        rungsgesellschaft (VIFG) oder die Gesellschaft für Inter-
        nationale Zusammenarbeit (GIZ) –, die beweisen, dass
        eine GmbH in öffentlichem Besitz nicht gewinnorientiert
        sein muss . Hierfür galt es die notwendigen Schranken
        dauerhaft zu setzen . Die von der SPD verhandelten Be-
        grenzungen für die Privatisierung sind daher für mich
        eine notwendige Voraussetzung für meine Zustimmung .
        Wichtig für mich ist auch, dass mit der vorliegen-
        den Reform das wirtschaftliche Eigentum der Bundes-
        fernstraßen unveräußerlich beim Bund bleibt . Die neue
        Gesellschaft ist lediglich für die Verwaltung zuständig .
        Auch die Übertragung von Nießbrauchrechten – also die
        gewinnbringende Nutzung durch die Gesellschaft – ist
        ausgeschlossen . Die Gesellschaft wird nicht als Maut-
        gläubigerin auftreten . Eine funktionale Privatisierung
        durch die Übertragung eigener Aufgaben der Gesell-
        schaft auf Dritte ist ebenfalls nicht möglich .
        In enger Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften
        haben wir zudem die Rechte der Beschäftigten beim
        geplanten Personalübergang von den Straßenbauver-
        waltungen der Länder auf den Bund festgeschrieben . So
        gibt es zum Beispiel ein Widerspruchsrecht gegen den
        Übergang, und die besondere Situation des beamteten
        Personals wird berücksichtigt . Auch das ist für mich eine
        notwendige Voraussetzung für meine Zustimmung .
        Bedenken habe ich allerdings, ob ein Wechsel des
        Systems ohne größere Friktionen möglich ist und ob in
        absehbarer Zeit die gewünschte größere Effizienz und Ef-
        fektivität tatsächlich erreicht werden können . Vielmehr
        sind durch die Umstellung deutliche Verzögerungen und
        Effizienzverluste möglich. Wichtig ist nun, dass der Ge-
        sellschaftsvertrag im Sinne einer effizienten Arbeitswei-
        se der neuen Gesellschaft entsprechend gestaltet wird .
        Durch unsere Änderungen am Gesetz wird hierfür das
        Parlament zuständig sein .
        Obwohl ich weiterhin nicht sicher bin, dass die er-
        hofften Verbesserungen mit der vorliegenden Reform der
        Straßenbauverwaltung tatsächlich erreicht werden kön-
        nen, habe ich bei meiner Entscheidung auch die anderen
        Aspekte dieses Gesetzes zu berücksichtigen . Die um-
        fassende Reform der Bund-Länder-Beziehungen ist ein
        wichtiger Schritt zu einer nachhaltigen Finanzierung der
        Länder . Zusätzlich sind die Einschränkung des Koopera-
        tionsverbots, das Investitionsprogramm für Kommunen
        und der Unterhaltsvorschuss für Alleinerziehende wich-
        tige Zukunftsprojekte, die das Leben vieler Menschen
        spürbar verbessern werden .
        Schließlich wollen wir es im Rahmen unserer Verant-
        wortung in der Bildungspolitik nicht hinnehmen, dass
        finanzschwache Kommunen nicht mithalten können:
        Lebenschancen werden auch durch den Zugang zu Bil-
        dungsangeboten bestimmt, und diese dürfen nicht vom
        Portemonnaie der Eltern oder der Finanzkraft der Kom-
        mune abhängen . Daher sehe ich den Bund hier in der Ver-
        antwortung, ein qualitativ hochwertiges Bildungssystem
        und die damit verbundenen Chancen allen Menschen
        gleichberechtigt zur Verfügung zu stellen . Auch wenn
        ich mich für eine vollständige Abschaffung des Koope-
        rationsverbotes einsetze, sehe ich in der nun realisierten
        Aufweichung einen wichtigen Schritt in Richtung einer
        zukunftsfähigen, gerechten und modernen Schulland-
        schaft . Als Bildungspolitikerin sehe ich mich aber auch
        nach der heutigen Entscheidung verpflichtet, an der Auf-
        hebung des Kooperationsverbotes mit aller Kraft weiter-
        zuarbeiten .
        Auch die Neuregelung des Unterhaltsvorschusses ist
        für mich ein besonders wichtiges Anliegen, da wir durch
        die Verlängerung des Bezugsrechts für Eltern von Kin-
        der und Jugendliche im Alter zwischen 12 und 18 Jahren
        die Alleinerziehenden spürbar entlasten . Das ist dringend
        notwendig, weil unter den Alleinerziehenden zumeist
        Frauen in der Verantwortung stehen und folglich eine
        größere finanzielle Last tragen. Alleinerziehende Müt-
        ter sind doppelt belastet: Sie verdienen im Durchschnitt
        immer noch weniger als Männer pro Arbeitsstunde, was
        wir alljährlich beim „Equal Pay Day“ beklagen müs-
        sen. Darüber hinaus sind Alleinerziehende auch häufig
        aufgrund ihrer familiären Situation lediglich in Teilzeit
        beschäftigt . Das hat auch bittere Konsequenzen für die
        individuelle Rente; so sind besonders Frauen von der Al-
        tersarmut bedroht . Als Bundespolitikerin werde ich mich
        in der Gleichstellungspolitik auch weiterhin einsetzen .
        Die Reform des Unterhaltsvorschusses ist da ein wichti-
        ger Schritt in die richtige Richtung, den ich ausdrücklich
        unterstütze .
        In Abwägung dieser Dinge und angesichts der Tat-
        sache, dass die wesentlichen Mängel der Infrastruktur-
        gesellschaft Verkehr einfachgesetzlich behoben werden
        können, stimme ich dem Gesetzentwurf zu .
        Dr. Karamba Diaby (SPD): Dieser Bundestag hat für
        die Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur in den letzten
        Jahren deutlich mehr Mittel zur Verfügung gestellt, auch
        um den Investitionsstau bei unseren Straßen zu beenden .
        Organisatorische Mängel verhindern häufig, dass das
        zur Verfügung stehende Geld für den Bau von Bundes-
        fernstraßen zielgenau und an verkehrlichen Maßstäben
        orientiert abfließen kann. Auch bei Planung und Betrieb
        gibt es vielerorts unbestreitbaren Optimierungsbedarf .
        Das ist auf nahezu allen politischen Ebenen erkannt und
        benannt worden . Eine Reform dieser Strukturen ist des-
        halb dringend geboten .
        Neben einer Reform der Auftragsverwaltung war hier-
        zu schon länger die Gründung einer Bundesfernstraßen-
        gesellschaft im Gespräch, die Planung, Bau und Betrieb
        in die Hände des Bundes legt . Da der Bund am besten in
        der Lage ist, seine eigenen Prioritäten umzusetzen und
        ich das angesichts des Nachholbedarfs in der Verkehrs-
        infrastruktur für notwendig erachte, habe ich diese Idee
        immer befürwortet . Ein entsprechendes Konzept, wie es
        die Arbeitsgruppen Verkehr, Wirtschaft und Haushalt der
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724198
        (A) (C)
        (B) (D)
        SPD-Bundestagsfraktion vorgelegt haben, fand und fin-
        det meine volle Unterstützung .
        Der von der Bundesregierung ursprünglich vorgelegte
        Entwurf hat den verkehrspolitischen Anforderungen je-
        doch zum einen nicht ausreichend Rechnung getragen,
        zum anderen gravierende Mängel hinsichtlich Privatisie-
        rung, Struktur, Beteiligung der Politik und Mitarbeiter-
        rechten aufgewiesen . Er war daher nicht zustimmungs-
        fähig . Deshalb haben wir in langen Verhandlungen aus
        meiner Sicht wesentliche Änderungen durchgesetzt .
        Der häufigste Vorwurf gegen den vorliegenden Vor-
        schlag zur Bundesfernstraßengesellschaft ist der, er
        ermögliche Privatisierungen durch die Hintertür . Fest-
        gemacht wird dies an der Rechtsform der Gesellschaft
        mit beschränkter Haftung . Es gibt aber genug Praxisbei-
        spiele – zum Beispiel die Verkehrsinfrastrukturfinanzie-
        rungsgesellschaft (VIFG) oder die Gesellschaft für Inter-
        nationale Zusammenarbeit (GIZ) –, die beweisen, dass
        eine GmbH in öffentlichem Besitz nicht gewinnorientiert
        sein muss . Hierfür galt es die notwendigen Schranken
        dauerhaft zu setzen . Die von der SPD verhandelten Be-
        grenzungen für die Privatisierung sind daher für mich
        eine notwendige Voraussetzung für meine Zustimmung .
        Den Einfluss von öffentlich-privaten Partnerschaf-
        ten (ÖPP) wird mit der vorliegenden Reform weiter
        beschränkt . ÖPP für Streckennetze, die das gesamte
        Bundesautobahnnetz oder das gesamte Netz sonstiger
        Bundesfernstraßen in einem Land oder wesentlicher
        Teile davon umfassen, sind ausgeschlossen . Es werden
        Möglichkeiten zur Einbeziehung privater Betreiber und
        institutioneller Investoren ausgeschlossen, die bislang
        noch bestehen . Hier ist der Gesetzentwurf ein echter
        Fortschritt . Dem Deutschen Bundestag – namentlich dem
        Haushalts- und dem Verkehrsausschuss – werden durch
        die Reform neue Kontrollmöglichkeiten eingeräumt, die
        dieser auch im Sinne des Interesses der Bürgerinnen und
        Bürger nutzen wird .
        Bereits vor dieser Reform hat die Koalition im aktu-
        ellen Bundesverkehrswegeplan den Anreiz für ÖPP ge-
        mindert, da Gelder nicht mehr nach Ländern, sondern
        nach Prioritäten vergeben werden . Auch durch die neu
        eingeführten, realistischeren Wirtschaftlichkeitsberech-
        nungen werden ÖPP reduziert, ebenso wie das in der
        neuen Gesellschaft eingeführte Planungsprinzip nach der
        Lebenszeit .
        Wichtig für mich ist auch, dass mit der vorliegen-
        den Reform das wirtschaftliche Eigentum der Bundes-
        fernstraßen unveräußerlich beim Bund bleibt . Die neue
        Gesellschaft ist lediglich für die Verwaltung zuständig .
        Auch die Übertragung von Nießbrauchrechten – also die
        gewinnbringende Nutzung durch die Gesellschaft – ist
        ausgeschlossen . Die Gesellschaft wird nicht als Maut-
        gläubigerin auftreten . Eine funktionale Privatisierung
        durch die Übertragung eigener Aufgaben der Gesell-
        schaft auf Dritte ist ebenfalls nicht möglich .
        In enger Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften
        haben wir zudem die Rechte der Beschäftigten beim
        geplanten Personalübergang von den Straßenbauver-
        waltungen der Länder auf den Bund festgeschrieben . So
        gibt es zum Beispiel ein Widerspruchsrecht gegen den
        Übergang, und die besondere Situation des beamteten
        Personals wird berücksichtigt . Auch das ist für mich eine
        notwendige Voraussetzung für meine Zustimmung .
        Bedenken habe ich allerdings, ob ein Wechsel des
        Systems ohne größere Friktionen möglich ist und ob in
        absehbarer Zeit die gewünschte größere Effizienz und
        Effektivität tatsächlich erreicht werden kann. Vielmehr
        sind durch die Umstellung deutliche Verzögerungen und
        Effizienzverluste möglich. Wichtig ist nun, dass der Ge-
        sellschaftsvertrag im Sinne einer effizienten Arbeitswei-
        se der neuen Gesellschaft entsprechend gestaltet wird .
        Durch unsere Änderungen am Gesetz wird hierfür das
        Parlament zuständig sein .
        Obwohl ich weiterhin nicht sicher bin, dass die er-
        hofften Verbesserungen mit der vorliegenden Reform
        der Straßenbauverwaltung tatsächlich erreicht werden
        können, habe ich bei meiner Entscheidung auch die an-
        deren Aspekte dieses Gesetzes zu berücksichtigen . Die
        umfassende Reform der Bund-Länder-Beziehungen ist
        ein wichtiger Schritt zu einer nachhaltigen Finanzierung
        der Länder . Zusätzlich sind gerade auch für mich als
        Bildungspolitiker die Einschränkung des Kooperations-
        verbots und die damit verbundene Zurverfügungstellung
        von 3,5 Milliarden Euro zur Sanierung von Schulen und
        Turnhallen für finanzschwache Kommunen sowie der
        Unterhaltsvorschuss für Alleinerziehende wichtige Zu-
        kunftsprojekte, die das Leben vieler Menschen spürbar
        verbessern werden .
        In Abwägung dieser Dinge und angesichts der Tat-
        sache, dass die wesentlichen Mängel der Infrastruktur-
        gesellschaft Verkehr einfachgesetzlich behoben werden
        können, stimme ich dem Gesetzentwurf zu .
        Thomas Dörflinger (CDU/CSU): Ich werde heute
        den beiden von der Bundesregierung vorgelegten Ge-
        setzentwürfen nach reiflicher Überlegung meine Zustim-
        mung erteilen . Dies geschieht unter Zurückstellung fol-
        gender schwerwiegender Bedenken:
        Erstens . Der Deutsche Bundestag und der Bundesrat
        haben seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland
        das Grundgesetz in insgesamt 52 Fällen geändert . Die
        allermeisten dieser Änderungen waren rechtstechnisch
        überschaubar, auch wenn die politische Bedeutung eine
        andere gewesen sein mag . Im vorliegenden Fall ist dies
        anders . Ich betrachte diese Verfassungsänderung als eine
        der umfangreichsten seit der Verabschiedung des Grund-
        gesetzes . Die wesentlichen Eckpunkte hierzu wurden in
        einem Beratungsformat erarbeitet, dem die Ministerprä-
        sidentenkonferenz der Länder, Vertreter der Bundesre-
        gierung sowie einige wenige Abgeordnete des Deutschen
        Bundestages angehörten . Die Funktion des Deutschen
        Bundestages als Legislativorgan ist für mich nicht in aus-
        reichender Weise abgebildet . Demokratietheoretisch und
        verfassungsrechtlich halte ich ein solches Prozedere für
        in hohem Maße problematisch .
        Zweitens . Der bisher bestehende sogenannte hori-
        zontale Länderfinanzausgleich hatte erwiesenermaßen
        deutliche Schwächen, weil er finanzstarke Bundesländer
        auf Dauer zu Gebern und finanzschwächere Bundeslän-
        der auf Dauer zu Nehmern machte und keinerlei Anreize
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24199
        (A) (C)
        (B) (D)
        setzte, diese Ungleichbehandlung mittel- und langfristig
        zu beheben . Diese Tatsache führte bekanntermaßen zu
        mehreren Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht .
        Anstatt das prinzipiell vernünftige System des horizonta-
        len Länderfinanzausgleichs so angemessen zu reformie-
        ren, dass sich die unterschiedlichen Interessen von bis-
        herigen Nehmer- und Geberländern darin wiederfinden,
        beseitigt der Gesetzgeber nun den horizontalen Länderfi-
        nanzausgleich in seiner bisherigen Form und ersetzt ihn
        durch eine deutliche Stärkung bisher schon vorhandener
        vertikaler Systeme zwischen dem Bund und den Län-
        dern . Diese setzen aber keinerlei Anreiz zur Haushalts-
        konsolidierung bei den Ländern und laufen mittelfristig
        auf eine deutliche Mehrbelastung des Bundeshaushalts
        hinaus . Das ist ordnungspolitisch falsch .
        Drittens . Die Verfassungsrealität der Bundesrepublik
        Deutschland versteht die Kommunen als Teil der Bun-
        desländer . Daraus folgt erstens, dass originär die Bun-
        desländer für die Finanzausstattung der Kommunen
        zuständig sind, und zweitens, dass der Bund gegenüber
        den Kommunen grundsätzlich keine direkten, eigenen
        Finanzbeziehungen unterhält . Durch die vorliegenden
        Gesetzentwürfe wird das Gegenteil dessen ermöglicht .
        Dies ist nach meiner Einschätzung verfassungsrechtlich
        höchst bedenklich .
        Viertens . Bundesrat und Bundestag haben in den zu-
        rückliegenden Jahren in zwei Föderalismuskommissio-
        nen aus meiner Sicht erfolgreich den Versuch unternom-
        men, die Finanzbeziehungen zwischen dem Bund und
        den Ländern zu entflechten, auch wenn der Status quo
        noch nicht als optimal bezeichnet werden kann . Die vor-
        liegenden Gesetzentwürfe bedeuten faktisch die Rückab-
        wicklung dessen, was durch die Arbeit der Föderalismus-
        kommissionen erreicht worden ist .
        Fünftens . Politisch gesehen bereitet der Gesetzgeber
        den Weg weg vom föderalen Staatsaufbau hin zur Zen-
        traladministration . Dies haben die Eltern des Grundge-
        setzes nach meiner Meinung aus guten Gründen nicht
        gewollt . Die Bundesländer werden in ihrer Entschei-
        dungshoheit geschwächt und finden sich finanziell gese-
        hen stattdessen am „goldenen Zügel“ des Bundes wie-
        der . Ob dies den Interessen der Bundesländer strukturell
        dient, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden, auch
        wenn der temporäre finanzielle Nutzen für sie eindeutig
        ist .
        Wenn ich den vorgelegten Gesetzentwürfen trotz der
        vorgetragenen Bedenken heute zustimme, dann geschieht
        dies aus folgenden Überlegungen:
        Die Praxis in Planung und Bau von Bundesautobah-
        nen hat sich im System der Auftragsverwaltung durch die
        Länder schon seit geraumer Zeit sowohl in finanzieller
        als auch in organisationstechnischer und zeitlicher Hin-
        sicht als ineffizient erwiesen. Der Ansatz, die Kompe-
        tenzen für Finanzierung, Planung, Bau und Betrieb von
        Bundesautobahnen auf der Bundesebene zu bündeln,
        ist also grundsätzlich richtig . Ebenso ist es meines Er-
        achtens richtig, den Vollzug dieser Punkte in einer Inf-
        rastrukturgesellschaft des Bundes vorzusehen und damit
        dem Vorbild Österreichs (ASFINAG) zu folgen . Dabei
        ist sicherzustellen, dass der Bund bei der Realisierung
        von Bundesautobahnen personell in den Regionen ange-
        messen präsent bleibt . Die Berücksichtigung möglicher
        regionaler Besonderheiten und die Sicherstellung der
        Akzeptanz der Bevölkerung sind in einem Verfahren, das
        bundesweit von Berlin aus gesteuert werden soll, nicht
        möglich . Es hätte aber aus ordnungspolitischen Gründen
        noch mehr Sinn gemacht, auch die Bundesstraßen unter
        diesem Dach zusammenzufassen . Künftig werden so das
        bisherige System der Auftragsverwaltung für Bundes-
        straßen und die Infrastrukturgesellschaft für Bundesau-
        tobahnen nebeneinander bestehen .
        Michaela Engelmeier (SPD): Der Deutsche Bun-
        destag stimmt heute über den Gesetzentwurf zur Neu-
        regelung des bundesstaatlichen Finanzausgleichsystems
        ab. Ich finde es bedauerlich, dass diese Beratung und
        Abstimmung nur im Paket erfolgt, weil dadurch in der
        Öffentlichkeit keine Differenzierung und Akzentuierung
        der unterschiedlichen Themenbereiche Autobahnrege-
        lungen, Veränderung des Kooperationsverbotes in der
        Bildung und Unterhaltsregelungen möglich sind .
        Ausgangspunkt dieses Gesetzgebungsverfahrens
        war eine Einigung zwischen allen 16 Landesregierun-
        gen und der Bundesregierung im Oktober und Dezem-
        ber 2016 über ein Paket von Maßnahmen, die zum Teil
        Änderungen des Grundgesetzes erfordern, zum Teil ein-
        fachgesetzlich geregelt werden . Kernpunkt des Pakets
        ist die Neuregelung des Länderfinanzausgleichs ab dem
        Jahr 2020 . In dem Paket enthalten ist auch eine Locke-
        rung des Kooperationsverbots im Bildungsbereich, die es
        dem Bund ermöglicht, Geld für Bildungsinfrastruktur in
        finanzschwachen Kommunen zur Verfügung zu stellen,
        um beispielsweise Schulgebäude zu sanieren und zu mo-
        dernisieren
        Des Weiteren wird im Rahmen des Pakets der Unter-
        haltsvorschuss neu geregelt, den Alleinerziehende erhal-
        ten, wenn der eigentlich unterhaltspflichtige Elternteil
        nicht zahlt: Künftig wird nicht nur bis zum 12 . Geburts-
        tag des Kindes gezahlt, sondern bis zum 18 . Geburtstag,
        und während bislang maximal sechs Jahre lang gezahlt
        wurde, entfällt diese Befristung künftig komplett .
        Weil mein Votum klar für die Regelungen in den Bil-
        dungsbereichen und zur Unterhaltsregelung steht, stim-
        me ich deshalb trotz persönlicher Bedenken den Auto-
        bahnregelungen zu .
        Daher mache ich in dieser Erklärung deutlich, dass ich
        mich persönlich und auch die SPD Fraktion sich immer
        gegen eine Privatisierung der deutschen Autobahnen und
        Bundesstraßen gestellt und diese Position auch im Ge-
        setzgebungsverfahren zur Neuregelung der Bund-Län-
        der-Finanzbeziehungen durchgesetzt hat .
        Schon innerhalb der Bundesregierung ist es der SPD
        gelungen, eine doppelte Privatisierungsschranke im Ge-
        setzentwurf der Regierung zur Änderung des Grundge-
        setzes durchzusetzen . Im Grundgesetz selbst wird des-
        wegen in Artikel 90 geregelt werden, dass nicht nur die
        Bundesfernstraßen selbst im unveräußerlichen, hundert-
        prozentigen Eigentum des Bundes stehen, sondern auch
        die Infrastrukturgesellschaft, die für deren Planung, Bau
        und Betrieb zuständig sein wird .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724200
        (A) (C)
        (B) (D)
        In intensiven und schwierigen Verhandlungen mit
        CDU/CSU haben wir als SPD-Bundestagsfraktion nun
        zwei weitere Grundgesetzänderungen durchgesetzt .
        Erstens . Eine unmittelbare oder mittelbare Beteiligung
        Dritter an der Infrastrukturgesellschaft und deren Toch-
        tergesellschaften wird in Artikel 90 Absatz 2 des Grund-
        gesetzes ausgeschlossen . Damit ist klar: Die Gesellschaft
        bleibt zu 100 Prozent staatlich, 0 Prozent privat .
        Zweitens . Ausgeschlossen wird auch eine funktionale
        Privatisierung durch die Übertragung eigener Aufgaben
        der Gesellschaft auf Dritte, zum Beispiel durch soge-
        nannte Teilnetz-ÖPP . In Artikel 90 Absatz 2 des Grund-
        gesetzes wird dazu der Satz eingefügt: „Eine Beteiligung
        Privater im Rahmen von Öffentlich-Privaten Partner-
        schaften ist ausgeschlossen für Streckennetze, die das ge-
        samte Bundesautobahnnetz oder das gesamte Netz sons-
        tiger Bundesfernstraßen in einem Land oder wesentliche
        Teile davon umfassen .“ Einfachgesetzlich wird geregelt,
        dass öffentlich-private Partnerschaften (ÖPP) nur auf der
        Ebene von Einzelprojekten bis maximal 100 Kilometer
        Länge erfolgen, die nicht räumlich miteinander verbun-
        den sein dürfen .
        Mit diesen Grundgesetzänderungen und vielen ein-
        fachgesetzlichen Änderungen stellen wir sicher, dass
        auch theoretisch mögliche Hintertüren für eine Privati-
        sierung fest verschlossen sind . Vieles, was bislang recht-
        lich möglich gewesen wäre bei der Einbeziehung privater
        Betreiber und institutioneller Investoren, ist jetzt erstmals
        rechtlich ausgeschlossen . Manche Kritiker und manche
        Kampagne haben absurderweise gerade uns als SPD in
        den letzten Wochen unterstellt, mit den Grundgesetzän-
        derungen würden wir die Türen für eine Privatisierung
        öffnen. Das Gegenteil ist richtig: Wir schließen Türen,
        die bislang offen standen.
        Dies bestätigt uns auch der Bundesrechnungshof
        (BRH), der das Gesetzgebungsverfahren mit mehreren
        Berichten begleitet hat .
        Im Ergebnis haben wir als SPD die doppelte Priva-
        tisierungsschranke des Regierungsentwurfs – Bund ist
        hundertprozentiger Eigentümer erstens der Autobahnen
        und zweitens der Autobahngesellschaft – mit weiteren
        Privatisierungsschranken verstärkt .
        Neben den beiden Grundgesetzänderungen verweise
        ich auf folgende Punkte, die in der öffentlichen Diskus-
        sion immer wieder auftauchen und oft falsch dargestellt
        werden:
        – Die Gesellschaft wird nicht kreditfähig . Damit ist die
        Gefahr einer Aufnahme von privatem Kapital zu ho-
        hen Zinsen gebannt. Um effizient wirtschaften und
        „atmen“ zu können, kann die Gesellschaft aber Liqui-
        ditätshilfen – zinslose Darlehen – aus dem Bundes-
        haushalt erhalten, wie andere Bundesgesellschaften
        auch .
        – Eine Übertragung von sogenannten Altschulden auf
        die Gesellschaft wird ausgeschlossen .
        – Das wirtschaftliche Eigentum an den Bundesautobah-
        nen geht nicht an die Gesellschaft über, sondern bleibt
        beim Bund . Die Übertragung und die Überlassung von
        Nießbrauchrechten und anderen Rechten werden aus-
        geschlossen .
        – Mautgläubiger der Lkw-Maut und der Pkw-Maut
        bleibt der Bund . Die Option, dass die Gesellschaft das
        Mautaufkommen direkt vereinnahmen kann, wird ge-
        strichen .
        – Die neue Gesellschaft wird als GmbH errichtet und
        damit als juristische Person des privaten Rechts . Es ist
        aber grob irreführend, „privatrechtlich“ mit „Privati-
        sierung“ gleichzusetzen . Deutschland organisiert zum
        Beispiel einen Großteil seiner internationalen Ent-
        wicklungshilfe über die Deutsche Gesellschaft für In-
        ternationale Zusammenarbeit (GIZ), die ebenfalls eine
        GmbH ist . Trotzdem hat wohl noch niemand ernsthaft
        behauptet, Deutschland habe seine Entwicklungshilfe
        privatisiert .
        – Genauso irreführend ist die Behauptung, durch die
        Zulässigkeit einzelner ÖPP-Projekte werde die Priva-
        tisierung eben doch noch ermöglicht . Erstens: Eine öf-
        fentlich-private Partnerschaft ist nicht das gleiche wie
        Privatisierung . Aber selbst wenn man das annehmen
        möchte, gilt zweitens: ÖPP sind immer nur dann er-
        laubt, wenn sie wirtschaftlicher sind als die herkömm-
        liche Beschaffung (Staat bzw. Gesellschaft bauen und
        betreiben selbst) – was bei einer effizient arbeitenden
        neuen Gesellschaft seltener der Fall sein wird als in
        den jetzigen Strukturen (weswegen beispielsweise die
        österreichische Autobahngesellschaft ASFINAG kein
        einziges ÖPP-Projekt macht, obwohl sie könnte) . Drit-
        tens und aus meiner Sicht am Wichtigsten: ÖPP bleibt
        auf Einzelprojekte beschränkt, und durch die von uns
        durchgesetzte Grundgesetzänderung ist es dauerhaft
        verboten, ein ÖPP-Projekt an das andere zu setzen,
        bis irgendwann wesentliche Teile des Autobahnnetzes
        oder des Bundesstraßennetzes in einem Bundesland
        als ÖPP betrieben werden .
        Uns Sozialdemokraten war aber nicht nur der Aus-
        schluss von Privatisierungsoptionen wichtig, sondern
        auch die Zukunft der Beschäftigten, die gegenwärtig in
        den Straßenbauverwaltungen der Länder beschäftigt sind
        und künftig zum Bund wechseln sollen .
        In der Summe ergibt sich damit ein Gesetz, dem ich
        mit guten Gewissens zustimmen kann . Die im Regie-
        rungsentwurf angelegte Reform und teilweise Been-
        digung der Auftragsverwaltung für die Autobahnen ist
        sinnvoll . Die bundeseigene Verwaltung verspricht zügi-
        gere Baumaßnahmen und einen effizienteren Mittelein-
        satz . Der Bund ist künftig durch die zentrale Steuerung
        weniger abhängig von der Kooperationsbereitschaft und
        der Leistungsfähigkeit von Landesstraßenbauverwaltun-
        gen, um seine Prioritätensetzungen bei den Verkehrsin-
        vestitionen umzusetzen . Ferner wird der Lebenszyklus
        einer Bundesautobahn in den Fokus gerückt .
        Entscheidend sind aber die Verbesserungen, die wir
        im parlamentarischen Verfahren erreicht haben . Erstens .
        Eine Privatisierung der Autobahnen und Bundesstraßen
        findet nicht statt; mit dem Gesetz errichten wir Schran-
        ken, wo es vorher keine gab, auch im Grundgesetz .
        Zweitens . Wir haben die berechtigten Interessen der Be-
        schäftigten geschützt und schaffen eine leistungsfähige
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24201
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        neue Organisation, die ein attraktiver Arbeitgeber wird .
        Drittens. Der Einfluss des demokratisch gewählten Parla-
        ments auf die Verkehrsinvestitionen bleibt gewahrt .
        Thorsten Frei (CDU/CSU): Die Neuregelung der
        Bund-Länder-Finanzbeziehungen ist ein elementar wich-
        tiges Vorhaben der laufenden Wahlperiode . Dabei ist es
        richtig und wichtig, das Gesetzgebungsverfahren noch in
        dieser Wahlperiode abzuschließen, damit alle Beteiligten
        mit ausreichendem Vorlauf Planungssicherheit haben .
        Das großzügige finanzielle Engagement des Bundes ist
        für viele Kommunen eine große Hilfe, auch wenn Misch-
        zuständigkeiten und Mischfinanzierungen zu keiner Klä-
        rung von Verantwortung führen, oft als „goldener Zügel“
        wirken und die grundgesetzlich garantierte kommunale
        Selbstverwaltung eher einschränken .
        Auch wenn ich den Entwürfen insgesamt zustimmen
        werde, möchte ich Folgendes anmerken:
        Die Einfügung des Artikel 104c GG setzt ein schwie-
        riges Signal und falsche Anreize . Statt Bundeshilfen für
        finanzschwache Kommunen im Grundgesetz zu normie-
        ren, sollten die finanziell zuständigen Länder alles da-
        ransetzen, die Finanzschwäche von Kommunen zu be-
        heben . Das eigentliche Ziel müsste es sein, dass es keine
        finanzschwachen Kommunen gibt. Stattdessen werden
        finanzschwache Kommunen jetzt sogar in der Verfassung
        verankert .
        Ziel der Föderalismusreform 2006 ist gewesen, klare
        Strukturen und Verantwortlichkeiten in der Aufgaben-
        wahrnehmung durch Bund und Länder zu schaffen. Die-
        ses Ziel war richtig und ist weiterhin richtig . Mit Arti-
        kel 104c GG wird dieses Ziel ein Stück aus den Augen
        verloren . Am Grundsatz, dass für eine aufgabenange-
        messene auskömmliche Finanzausstattung der Kommu-
        nen die jeweiligen Bundesländer verantwortlich und zu-
        ständig sind, ist festzuhalten . Dies gilt nicht nur für den
        Bereich der Bildungsinfrastruktur, sondern insgesamt
        für alle von den Kommunen auszuführenden Aufgaben .
        Aus dieser Sicht besteht durch die Einfügung des Arti-
        kel 104c GG die Gefahr, dass ein dauerhafter Fehlanreiz
        gesetzt wird, dass Länder künftig Kommunen bei Inves-
        titionsbedarf an den Bund verweisen und somit aus der
        Erweiterung der Mitfinanzierungsmöglichkeit eine Mitfi-
        nanzierungszuständigkeit wird . Wir werden dies kritisch
        beobachten . Gut ist auch, dass der Bundesrechnungshof
        im Rahmen von Mischfinanzierungen künftig stärkere
        Prüfungsrechte hat .
        Wir müssen in Zukunft auch aufpassen, dass aus dem
        ersten Schritt des Artikel 104c GG mit der Mitfinanzie-
        rungsmöglichkeit für den Bund in der Bildungsinfrastruk-
        tur finanzschwacher Kommunen keine Allgemeinzustän-
        digkeit des Bundes für alle Probleme vor Ort wird . Das
        Argument, die Menschen würden es nicht verstehen, dass
        der Bund nicht für marode Schulen zuständig sei, ließe
        sich genauso auf marode Straßen und Brücken, andere
        öffentliche Einrichtungen oder geschlossene Schwimm-
        bäder ausdehnen . Der Bund wird aber nicht in der Lage
        sein, alle Missstände vor Ort zu lösen – erst recht nicht,
        wenn Länder die Hilfen des Bundes unterlaufen und den
        Kommunen immer größere Lasten aufbürden, um den
        eigenen Landeshaushalt zu schonen . Die SPD-Landesre-
        gierungen in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz
        haben vorgemacht, wie dieses schlechte Spiel zulasten
        der Kommunen funktioniert .
        Mit dem neuen Artikel 104c GG ist auch die Aufsto-
        ckung des Kommunalinvestitionsförderprogramms von
        3,5 Milliarden Euro auf 7 Milliarden Euro verbunden .
        Das ist immerhin einmal mehr ein Zeichen, dass wir als
        CDU/CSU-geführte Regierung bereit sind, den Kommu-
        nen zu helfen – wie wir dies in dieser Wahlperiode bereits
        vielfältig getan haben .
        Bei aller strukturellen Kritik ergeben sich aus kommu-
        naler Sicht aber auch Chancen aus der Neuordnung der
        Bund-Länder-Finanzbeziehungen: Die stärkere Berück-
        sichtigung der kommunalen Finanzkraft bei der Zutei-
        lung der Finanzmittel auf die Länder in Artikel 107 GG
        ist ein wichtiger Schritt zur Behebung struktureller kom-
        munaler Finanzschwäche . Dabei ist zwingend darauf zu
        achten, dass höhere Zuweisungen an die Länder tatsäch-
        lich dazu genutzt werden, die Steuerkraftunterschiede
        auf Gemeindeebene auszugleichen . Keinesfalls darf aus
        Artikel 107 GG ein Anreiz entstehen, die Steuerkraft
        der Kommunen zu senken, um höhere Beträge aus der
        Verteilung der Finanzmittel auf die Länder zu erhalten,
        um diese Finanzmittel dann im Landeshaushalt zu ver-
        buchen .
        Wichtig ist, dass die vom Bund für die Kommunen be-
        reitgestellten Finanzmittel von den Ländern an die Kom-
        munen weitergeleitet werden und dann auch ungekürzt
        und zusätzlich vor Ort ankommen. Kommunalfinanzen
        sind kein Beitrag zur Konsolidierung von Landeshaus-
        halten . Eine gekürzte Weiterleitung der Bundesmittel
        oder eine Verrechnung im Zuge des kommunalen Finanz-
        ausgleichs sind ebenso inakzeptabel wie der Ersatz von
        Landesmitteln durch Bundeshilfen beispielsweise bei
        Investitionszuschüssen . Die vom Bund zur Verfügung
        gestellten Mittel müssen seitens der Länder ungekürzt
        und zusätzlich den Kommunen zur Verfügung gestellt
        werden, um – in Umsetzung der Bundesintention – deren
        Finanzkraft zu stärken . Auch eine Verrechnung im Rah-
        men des kommunalen Finanzausgleichs ist unzulässig
        und mit der Absicht, die kommunale Selbstverwaltung zu
        stärken, unvereinbar . Entsprechende Regelungen in Fi-
        nanzausgleichsgesetzen der Länder sind zu korrigieren .
        Auch der in der Änderung des Kommunalinvestitions-
        förderungsgesetzes fortgeschriebene Verteilungsschlüs-
        sel zur Zuteilung der zur Stärkung der kommunalen In-
        vestitionskraft vorgesehenen 3,5 Milliarden Euro auf die
        Länder ist alles andere als unumstritten . Eine Einbezie-
        hung der kommunalen Kassenkredite in den Verteilungs-
        schlüssel greift in der vorgenommenen Form für eine
        dauerhafte Lösung zu kurz und setzt falsche Anreize . Es
        ist Aufgabe der Länder, für eine ausreichende Finanzaus-
        stattung der Kommunen zu sorgen und deren Liquidität
        zu sichern, sodass die Aufnahme von Kassenkrediten und
        ein Ausweichen auf Anleihen und Wertpapierverschul-
        dung erst gar nicht erforderlich werden . Haushalterische
        Disziplin darf nicht bestraft werden – ebenso wenig An-
        sätze der Länder, ihre Kommunen zu entschulden und
        vor struktureller Finanzschwäche zu bewahren . Es wäre
        schön gewesen, einen besseren Verteilungsschlüssel zu
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        finden; letztlich ist dies angesichts der vielschichtigen
        Interessenslage dieses Mal aber nicht gelungen .
        Zur Verantwortung und Zuständigkeit der Länder
        für eine aufgabenangemessene Finanzausstattung der
        Kommunen gehört auch, Mehrbelastungen aus Aufga-
        benübertragungen im Rahmen der Konnexität auszu-
        gleichen . Dies gilt insbesondere für die Mehrbelastung
        aus der Umsetzung des Unterhaltsvorschussgesetzes .
        Wenn die Länder im Bundesrat einer Regelung zustim-
        men, die zu Mehrausgaben bei den Kommunen führen,
        können sie anschließend nicht auf den Bund verweisen,
        sondern müssen diese Mehrausgaben selber ausgleichen .
        Der Bund hat seinen Beitrag durch eine Erhöhung des
        Bundesanteils an den Leistungsausgaben des Unterhalts-
        vorschussgesetzes auf 40 Prozent geleistet . Dies allein
        wird jedoch nicht reichen, die Ausgabensteigerungen bei
        den Kommunen, bei denen zu den reinen Auszahlungen
        noch Kosten für Personal und Sachmittel hinzukommen,
        auszugleichen . Hier sind die Länder gefordert, die Betei-
        ligung der Kommunen an den vom Land zu tragenden
        60 Prozent so zu gestalten, dass es nicht zu kommunalen
        Ausgabensteigerungen kommt . Das gilt insbesondere für
        Nordrhein-Westfalen mit der mit 80 Prozent höchsten
        Beteiligungsquote der Kommunen am Unterhaltsvor-
        schussgesetz .
        Im Rahmen der Neuordnung der Bund-Länder-Fi-
        nanzbeziehungen werden die bislang vom Bund bereit-
        gestellten Entflechtungsmittel – ehemals unter anderem
        GVFG, sozialer Wohnungsbau – ab dem Jahr 2020 nicht
        mehr als eigenes Bundesprogramm, sondern über einen
        höheren Umsatzsteueranteil der Länder bereitgestellt .
        Das bedeutet, dass nicht nur die investive Zweckbindung
        entfällt, sondern dass die Gefahr droht, dass diese Mittel
        auch im allgemeinen Haushaltsaufkommen der Länder
        zunächst untergehen . Die Länder müssen die bislang in
        den Entflechtungsmitteln enthaltenen Finanzhilfen des
        Bundes zur Verbesserung der Verkehrsverhältnisse der
        Gemeinden künftig den Kommunen über entsprechende
        Landesprogramme zur Verfügung stellen. Die Auflösung
        der Entflechtungsmittel zugunsten eines höheren Län-
        deranteils an der Umsatzsteuer darf auf keinen Fall dazu
        führen, dass die bislang bereitstehenden Mittel künftig
        nicht mehr zur Verfügung stehen und in Landeshaushal-
        ten versickern .
        Josef Göppel (CDU/CSU): Das Abstimmungspaket
        widerspricht in zwei zentralen Punkten den ordnungspo-
        litischen Grundvorstellungen der Unionsparteien .
        Erstens . Subsidiarität und Finanzbeziehungen: Wenn
        einzelne Länder ihre Aufgaben nicht mehr bewältigen
        können und ein horizontaler Finanzausgleich nicht mehr
        gewollt wird, wäre die nächste Stufe der Subsidiarität
        eine Länderreform zur Herstellung annähernd gleich
        starker Einheiten. Der Durchgriff des Bundes auf die
        Kommunen mit dem goldenen Zügel ist für die Länder
        ein vergiftetes Geschenk . Es ist der Weg in den Zentral-
        staat .
        Zweitens . Privatisierung der Autobahnverwaltung:
        Mit der Errichtung einer Gesellschaft privaten Rechts für
        die Autobahnverwaltung überträgt der Bund den Wachs-
        tumszwang des privaten Kapitals auf einen wesentlichen
        Teil der staatlichen Infrastruktur. Öffentliche Einrichtun-
        gen sollen auf ein raumordnerisches Optimum hin aus-
        gebaut werden, doch der fortlaufende Ertragsanspruch
        privater Gläubiger verlangt unaufhörlich weitere Stra-
        ßenbauinvestitionen zur Verbreiterung der gewinnbrin-
        genden Kapitalbasis . Das widerspricht elementar dem
        Prinzip der Nachhaltigkeit .
        Gleichzeitig nimmt die demokratische Kontrollierbar-
        keit durch gewählte Volksvertreter ab . Das ist auch des-
        wegen von Nachteil, weil unternehmerisches Kalkül im-
        mer auf die rentierlichsten Investitionen zielt . Vertreter
        peripherer Räume mit wenig Mauteinnahmen werden es
        noch schwerer haben, ihre Anliegen durchzusetzen .
        Mit der Maut bezahlt die Gesamtheit der Bürger letzt-
        endlich doch die Zinserträge privater Investitionen . Die
        Schaffung von Anlagemöglichkeiten für privates Kapital
        in öffentliche Güter ist jedoch kein Gemeinwohlziel.
        Aus diesen Gründen lehne ich die beantragten Grund-
        gesetzänderungen und das Gesetz zur Neuregelung des
        bundesstaatlichen Finanzausgleichssystems einschließ-
        lich der Schaffung einer Infrastrukturgesellschaft ab.
        Ursula Groden-Kranich (CDU/CSU): Dem Gesetz-
        entwurf der Bundesregierung zur Änderung des Grund-
        gesetzes werde ich in der Ausschussfassung zustimmen .
        Entscheidend ist dabei für mich, dass den finanz-
        schwachen Städten und Gemeinden – und damit den
        Bürgern vor Ort – künftig leichter von Bundesseite
        aus geholfen werden kann . Ich bedauere es, dass diese
        Grundgesetzänderung nötig geworden ist . Jedoch muss
        ich feststellen, dass einige Bundesländer in der Vergan-
        genheit ihrer Verantwortung, für eine auskömmliche
        Finanzausstattung der Kommunen zu sorgen, nicht in
        erforderlichem Umfang nachgekommen sind . Der Bund
        springt nunmehr hier ein und stellt den Ländern ab 2020
        jährlich mindestens 9,5 Milliarden Euro zusätzlich zur
        Verfügung . Meine Zustimmung zu diesem Gesetz ver-
        binde ich mit der Aufforderung an die Landesregierun-
        gen, explizit den Kommunen zugewiesene Bundesmittel
        diesen auch ungekürzt zukommen zu lassen .
        Mit der Errichtung einer Infrastrukturgesellschaft des
        Bundes leiten wir heute zudem einen Paradigmenwech-
        sel in der Verwaltung der bundeseigenen Straßen ein .
        Durch die Gesetzesänderung alleine wird jedoch noch
        keine einzige Straße in Rheinland-Pfalz schneller ge-
        baut oder die Schiersteiner Brücke zügiger saniert . Hier
        kommt es nach wie vor auch auf den politischen Willen
        der jeweiligen Landesregierung an . Insbesondere an die-
        ser Stelle hätte ich mir klarere Verantwortlichkeiten und
        Zuständigkeiten gewünscht .
        Nach intensiven Beratungen stellen wir die Finanzbe-
        ziehungen zwischen Bund und Ländern heute auf eine
        neue Grundlage und schließen damit eines der wichtigs-
        ten Reformvorhaben dieser Koalition ab . Im Vordergrund
        dieser Reform steht für mich die gesamtstaatliche Ent-
        scheidungs- und Handlungsfähigkeit . Daher stimme ich
        dem Gesetzentwurf zu .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24203
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        Gabriele Groneberg (SPD): Dieser Bundestag hat
        für die Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur in den
        letzten Jahren deutlich mehr Mittel zur Verfügung ge-
        stellt, auch um den Investitionsstau bei unseren Straßen
        zu beenden .
        Organisatorische Mängel verhindern häufig, dass das
        zur Verfügung stehende Geld für den Bau von Bundes-
        fernstraßen zielgenau und an verkehrlichen Maßstäben
        orientiert abfließen kann. Auch bei Planung und Betrieb
        gibt es vielerorts unbestreitbaren Optimierungsbedarf .
        Das ist auf nahezu allen politischen Ebenen erkannt und
        benannt worden . Eine Reform dieser Strukturen ist des-
        halb dringend geboten .
        Neben einer Reform der Auftragsverwaltung war hier-
        zu schon länger die Gründung einer Bundesfernstraßen-
        gesellschaft im Gespräch, die Planung, Bau und Betrieb
        in die Hände des Bundes legt . Da der Bund am besten in
        der Lage ist, seine eigenen Prioritäten umzusetzen und
        ich das angesichts des Nachholbedarfs in der Verkehrsin-
        frastruktur für notwendig erachte, halte ich eine Reform
        grundsätzlich für notwendig . Ein entsprechendes Kon-
        zept, wie es die Arbeitsgruppen Verkehr, Wirtschaft und
        Haushalt der SPD-Bundestagsfraktion vorgelegt haben,
        fand und findet meine Unterstützung.
        Der von der Bundesregierung ursprünglich vorgelegte
        Entwurf hat den verkehrspolitischen Anforderungen je-
        doch zum einen nicht ausreichend Rechnung getragen,
        zum anderen gravierende Mängel hinsichtlich Privatisie-
        rung, Struktur, Beteiligung der Politik und Mitarbeiter-
        rechten aufgewiesen . Er war daher nicht zustimmungsfä-
        hig . Deshalb haben die Mitglieder der SPD-Fraktion bei
        den Beratungen im Bundestag aus meiner Sicht wichtige
        wesentliche Änderungen durchgesetzt .
        Der häufigste Vorwurf gegen den vorliegenden Vor-
        schlag zur Bundesfernstraßengesellschaft ist der, er
        ermögliche Privatisierungen durch die Hintertür . Fest-
        gemacht wird dies an der Rechtsform der Gesellschaft
        mit beschränkter Haftung . Es gibt aber genug Praxisbei-
        spiele – zum Beispiel die Verkehrsinfrastrukturfinanzie-
        rungsgesellschaft (VIFG) oder die Gesellschaft für Inter-
        nationale Zusammenarbeit (GIZ) –, die beweisen, dass
        eine GmbH in öffentlichem Besitz nicht gewinnorientiert
        sein muss . Hierfür galt es die notwendigen Schranken
        dauerhaft zu setzen .
        Der Einfluss von öffentlich-privaten Partnerschaf-
        ten (ÖPP) wird mit der vorliegenden Reform weiter
        beschränkt . ÖPP für Streckennetze, die das gesamte
        Bundesautobahnnetz oder das gesamte Netz sonstiger
        Bundesfernstraßen in einem Land oder wesentlicher
        Teile davon umfassen, sind ausgeschlossen . Es werden
        Möglichkeiten zur Einbeziehung privater Betreiber und
        institutioneller Investoren ausgeschlossen, die bislang
        noch bestehen . Hier ist der Gesetzentwurf ein echter
        Fortschritt .
        Bereits vor dieser Reform hat die Koalition im aktu-
        ellen Bundesverkehrswegeplan den Anreiz für ÖPP ge-
        mindert, da Gelder nicht mehr nach Ländern, sondern
        nach Prioritäten vergeben werden . Auch durch die neu
        eingeführten, realistischeren Wirtschaftlichkeitsberech-
        nungen werden ÖPP reduziert, ebenso wie das in der
        neuen Gesellschaft eingeführte Planungsprinzip nach der
        Lebenszeit .
        Wichtig für mich ist auch, dass mit der vorliegen-
        den Reform das wirtschaftliche Eigentum der Bundes-
        fernstraßen unveräußerlich beim Bund bleibt . Die neue
        Gesellschaft ist lediglich für die Verwaltung zuständig .
        Auch die Übertragung von Nießbrauchrechten – also die
        gewinnbringende Nutzung durch die Gesellschaft – ist
        ausgeschlossen . Die Gesellschaft wird nicht als Maut-
        gläubigerin auftreten . Eine funktionale Privatisierung
        durch die Übertragung eigener Aufgaben der Gesell-
        schaft auf Dritte ist ebenfalls nicht möglich .
        In enger Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften
        haben wir zudem die Rechte der Beschäftigten beim ge-
        planten Personalübergang von den Straßenbauverwaltun-
        gen der Länder auf den Bund festgeschrieben . So gibt
        es zum Beispiel ein Widerspruchsrecht gegen den Über-
        gang, und die besondere Situation des beamteten Perso-
        nals wird berücksichtigt .
        Bedenken habe ich allerdings, ob ein Wechsel des
        Systems ohne größere Friktionen möglich ist und ob in
        absehbarer Zeit die gewünschte größere Effizienz und
        Effektivität tatsächlich erreicht werden kann. Vielmehr
        sind durch die Umstellung deutliche Verzögerungen und
        Effizienzverluste möglich.
        Dem Deutschen Bundestag – namentlich dem Haus-
        halts- und dem Verkehrsausschuss – werden durch die
        Reform neue Kontrollmöglichkeiten eingeräumt, die
        dieser auch im Sinne des Interesses der Bürgerinnen und
        Bürger nutzen kann . Dies ist in einer Hinsicht selbstver-
        ständlich positiv; dennoch können durch einfachgesetz-
        liche Änderungen unsere heutigen Intentionen konterka-
        riert werden .
        Die umfassende Reform der Bund-Länder-Beziehun-
        gen ist ein wichtiger Schritt zu einer nachhaltigen Fi-
        nanzierung der Länder . Durch die Übernahme weiterer
        finanzieller Verpflichtungen durch den Bund sehe ich
        allerdings dessen Handlungsspielräume für die Zukunft
        drastisch eingeschränkt, vor allem wenn sich die Finanz-
        lage sehr verschlechtert .
        Die Einschränkung des Kooperationsverbots betrach-
        te ich als positiven Beginn einer neuen Zusammenarbeit .
        Hierbei sehe ich es als unzureichend an, dass dies nur für
        Kommunen in besonderen Haushaltslagen gelten wird .
        Das Investitionsprogramm für Kommunen, vor allem
        die neue Regelung des Unterhaltsvorschusses für Allein-
        erziehende, sind für mich persönlich positive Aspekte
        dieses Paketes – wichtige Zukunftsprojekte, welche das
        Leben vieler Menschen spürbar verbessern werden .
        Dennoch stimme ich dem Gesetzespaket, vor allem
        wegen der Mängel bei der geplanten Infrastrukturgesell-
        schaft Verkehr, nicht zu .
        Michael Groß (SPD): Heute hat der Deutsche Bun-
        destag den neuen Bund-Länder-Finanzausgleich be-
        schlossen, der auch die Regelungen zur Errichtung einer
        Infrastrukturgesellschaft enthält. Nach reiflicher Ab-
        wägung habe ich mich dazu entschieden, gegen dieses
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        Paket zu stimmen . Dieses Gesetzespaket enthält umfas-
        sende Änderungen des Grundgesetzes sowie einfachge-
        setzliche Änderungen . Es geht zurück auf eine Einigung
        zwischen der Bundesregierung und den Ländern vom
        Dezember 2016 als Ersatz für das Auslaufen der Rege-
        lungen zum Bund-Länder-Finanzausgleich 2019 .
        Der Grund für mich, dem Gesetzpaket meine Zustim-
        mung zu verweigern, ist die darin enthaltene Einführung
        einer Infrastrukturgesellschaft zur Sicherstellung der Fi-
        nanzierung und Effizienz bei Bau und Verwaltung der
        Bundesautobahnen. Die Schaffung einer Gesellschaft
        privaten Rechts widerspricht meinem Grundsatz, dass
        die Bereitstellung öffentlicher Güter, wie der öffentlichen
        Verkehrsinfrastruktur, in die öffentliche Hand gehört. Ei-
        ner Infrastrukturgesellschaft könnte ich nur zustimmen,
        wenn diese die Form einer Gesellschaft öffentlichen
        Rechts hat . Das ist in dem vorliegenden Kompromiss
        nicht der Fall . CDU/CSU haben dies vehement abge-
        lehnt .
        Meine Fraktionskollegen und -kolleginnen haben lan-
        ge und hart verhandelt, um möglichst viele Privatisie-
        rungsschranken einzubauen . So wurden auch Änderun-
        gen bereits im Grundgesetz hineinverhandelt, dass die
        mittelbare und unmittelbare Beteiligung Dritter an der
        Infrastrukturgesellschaft und deren Tochtergesellschaf-
        ten ausgeschlossen wird . Außerdem ist ausgeschlossen,
        dass sich Private im Rahmen von öffentlich-privaten
        Partnerschaften (ÖPP) für Streckennetze, die das gesam-
        te Bundesautobahnnetz oder wesentliche Teile davon
        betreffen, beteiligen. Wenn man bedenkt, dass insbe-
        sondere Bundesverkehrsminister Dobrindt ursprünglich
        bis zu 49 Prozent der Gesellschaft an private Investoren
        veräußern wollte, ist das ein erstaunliches Verhandlungs-
        ergebnis .
        Mir persönlich geht das aber nicht weit genug . Denn
        das bedeutet auch, dass auf der anderen Seite die Mög-
        lichkeit besteht, ÖPP in höherem Maße durchzuführen .
        Zudem ist der Begriff „wesentliche Teile“ zu unkonkret,
        als dass damit ein wirklicher Ausschluss von Privatisie-
        rung garantiert ist . Darüber hinaus wird erstmals gera-
        dezu dazu aufgerufen, dass die Sanierung und der Bau
        von Schulen durch ÖPP-Vorhaben umgesetzt werden .
        Diesem widerspreche ich mit aller Entschiedenheit . Die
        Bereitstellung von Bildungsinfrastruktur ist elementare
        Aufgabe des Staates .
        Des Weiteren ist ein möglicher Wechsel der Rechts-
        form, zum Beispiel der GmbH in eine AG, lediglich ein-
        fachgesetzlich geregelt . Das heißt, eine andere Bundes-
        regierung kann diese Umwandlung ohne eine Änderung
        des Grundgesetzes mit einfacher Mehrheit vollziehen .
        Gleiches gilt für die Kreditfähigkeit der Gesellschaft .
        Es ist zwar nicht erlaubt, dass diese selbst Kredite auf-
        nimmt, aber dieser Punkt ist ebenfalls nur einfachgesetz-
        lich geregelt . Auch der vorgesehene Parlamentsvorbehalt
        ist lediglich einfachgesetzlich geregelt und kann durch
        eine andere politische Mehrheit jederzeit verändert wer-
        den . Auch die Übernahme des Angestellten ist nur ein-
        fachgesetzlich abgesichert . Auch hier besteht die Gefahr,
        dass eine andere politische Mehrheit den Abbau von bis-
        lang gesicherten Arbeitsplätzen mit Tariflöhnen und gu-
        ter Mitbestimmung organisiert .
        Für mich ist klar: Die Union wollte von Anfang an
        eine echte Privatisierung der Autobahnen und wird das
        auch weiterhin vorantreiben . Der vorliegende Kompro-
        miss schließt dies nicht vollumfänglich aus, und daher
        habe ich ihm nicht zugestimmt . Den weiteren Regelun-
        gen, die sich beispielsweise auf die Neuordnung des
        neuen Finanzausgleichs oder das Aufheben des Koope-
        rationsverbotes im Bildungsbereich beziehen, werde ich
        zustimmen .
        Sebastian Hartmann (SPD): Der Deutsche Bundes-
        tag stimmt heute über die Neuregelung des bundesstaatli-
        chen Finanzausgleichssystems ab . Im parlamentarischen
        Verfahren ist es der SPD-Bundestagsfraktion gelungen,
        wichtige Änderungen am ursprünglich eingebrachten
        Gesetzentwurf durchzusetzen:
        Erstens . Der Bundestag entscheidet über ein Rege-
        lungspaket, das im Vorfeld bereits zwischen allen Mi-
        nisterpräsidenten und der Bundesregierung abgestimmt
        worden ist . Da die Länder in den Finanzbeziehungen
        Erleichterungen durch den Bund erfahren haben, haben
        sie im Gegenzug zugestanden, ein Stück ihrer Kompe-
        tenz im Bildungsbereich wieder an den Bund zu geben
        und in diesem Zusammenhang auch Bau, Planung und
        Verwaltung von Bundesstraßen bzw . Autobahnen dem
        Bund zu übertragen . Diese Verhandlung auf einer von
        der Verfassung nicht vorgesehenen Ebene zwischen
        Länderregierungen und Bundesregierung halte ich für
        äußerst kritikwürdig . Die Beratungen des Bundestages
        wurden deutlich dadurch erschwert, dass die Minister-
        präsidenten gemeinsam mit der Bundesregierung ein Ge-
        samtpaket völlig unterschiedlicher Regelungsbereiche
        verabschiedeten, die im Parlament faktisch nicht mehr
        entkoppelt werden können . Der Argumentation, man
        könne sich dem heute zu entscheidenden „Gesamtpa-
        ket“ an Verfassungsänderungen nicht verschließen, da es
        auch sehr viele gute Punkte enthalte, entziehe ich mich
        nicht, sondern nehme sie zum Ausgangspunkt meiner
        Überlegungen und Argumentation . Deswegen stimme
        ich ausdrücklich beispielsweise den Veränderungen im
        Bereich der Verbesserungen in der Bildungskooperati-
        on sowie zum Unterhaltsvorschuss zu . Dennoch bleibt
        das gewählte Verfahren selbst problematisch, eine so
        umfangreiche Verfassungsänderung den Abgeordneten
        nur im Gesamtpaket vorzulegen . Es widerspricht mei-
        nem Verständnis parlamentarischer Arbeit hinsichtlich
        so weitreichender Veränderungen der bundesstaatlichen
        (Finanz-)beziehungen bis hin zu fachpolitischen Einzel-
        fragen und ihrer Regelung in der Verfassung . Aber ich
        bin eben nicht der Auffassung, dass es „keine Alternati-
        ve“ gebe . Auch andere Verfassungsänderungen wurden
        schlussendlich noch einmal geöffnet oder „Paketlösun-
        gen“ vermieden . Für zukünftige Verfassungsänderungen
        böte sich daher erst recht an, diese in Teilabschnitten
        abzustimmen beziehungsweise auch in solchen Blöcken
        vorzubereiten . Es böte sich ebenso an, die Zeit einer ge-
        samten Legislaturperiode für die Zusammenarbeit zwi-
        schen den Delegierten der Länder(parlamente) und des
        Bundestages in anderen Strukturen zu nutzen, um dies
        vorzuberaten und Fragen des bundesstaatlichen Zusam-
        menwirkens zu debattieren . Es kann ja nicht sein, dass
        nur der Zusammenschluss zweier sehr großer Fraktionen
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24205
        (A) (C)
        (B) (D)
        aufgrund ihrer Mehrheit wie in dieser Legislaturperiode
        überhaupt eine Verfassungsänderung ermöglicht . Dem
        stehen schon mutmaßlich andere Mehrheitsverhältnissen
        in den Landtagen und damit im Bundesrat argumenta-
        tiv entgegen . Im Gegenteil ist dies doch dem Gedanken
        der Verfassung selbst geschuldet und der notwendigen
        breiten verfassungsändernden Mehrheiten in Bundestag
        und Bundesrat . Dort muss es letztendlich zum Zusam-
        menwirken vieler politischer Fraktionen in Ländern und
        im Bund kommen – nicht getrennt in Opposition und re-
        gierungstragende Mehrheiten, sondern entlang der Sache
        der verfassungsrechtlich zu regelnden Fragen .
        Zweitens . Jenseits der Würdigungen des Verfahrens
        der Verfassungsänderung sind die Veränderungen her-
        auszustellen, die nun zur Abstimmung stehen . Aus SPD-
        Sicht war in dem Regelungspaket von Anfang an die
        Ausweitung des Unterhaltsvorschusses zu begrüßen . Für
        fast eine Million alleinerziehende Eltern und ihre Kinder
        stellt es einen wichtigen Fortschritt dar, dass berufstäti-
        ge Alleinerziehende, bei denen das unterhaltspflichtige
        Elternteil seinen Verpflichtungen nicht nachkommt, eine
        Erweiterung des Anspruches auf staatliche Unterstützung
        erfahren . Die Altersgrenze wird von jetzt 12 Jahre auf
        18 Jahre angehoben und die zeitliche Befristung von ma-
        ximal sechs Jahren abgeschafft. Dieses wird dazu führen,
        dass die Doppelbelastung von Job und Kinderbetreuung
        besser bewältigt werden kann .
        Drittens . Ein großer Erfolg ist auch das Aufbrechen
        des Kooperationsverbotes im Bildungsbereich . Der
        Bund wird in die Lage versetzt, 3,5 Milliarden Euro für
        Bildungsinvestitionen in finanzschwachen Kommunen
        bereitzustellen. Eine vollständige Abschaffung des Ko-
        operationsverbots im Bildungsbereich bleibt ein wich-
        tiges Ziel sozialdemokratischer Politik . Bildung ist eine
        gesamtstaatliche Aufgabe . Dies ist aber zwischen den
        Koalitionspartnern umstritten .
        Viertens . In der Fassung des Regelungspaketes, die in
        erster Lesung im Parlament beraten wurde, haben sich
        die Länder in Artikel 90 des Grundgesetzes verpflichtet,
        unter anderem die Verwaltung der Bundesautobahnen
        an den Bund zu geben . Ferner war vorgesehen, dass der
        Bund sich dafür einer Gesellschaft privaten in hundert-
        prozentigem Bundeseigentum bedienen kann . Allerdings
        befürchteten viele Bürgerinnen und Bürger in diesem
        Zusammenhang, dass private Investoren über eine Be-
        teiligung an der Gesellschaft zumindest mittelbar eine
        Privatisierung durch die Hintertür erreichen könnten .
        Die Verlautbarungen aus Bundesfinanzministerium und
        Bundesverkehrsministerium verstärkten diesen Verdacht .
        Auch zivilgesellschaftliche Organisationen und der
        Bundesrechnungshof kritisierten das Vorhaben scharf .
        Die Gewerkschaft Verdi problematisierte insbesonde-
        re Fragen beim Personalübergang . Nach wochenlangen
        Verhandlungen liegt nun eine Ergänzung des Verfas-
        sungstextes vor, der eine unmittelbare oder mittelbare
        Beteiligung Privater an der Gesellschaft und deren Toch-
        tergesellschaften ausdrücklich ausschließt . Es ist gelun-
        gen, dass alle wechselbereiten Beschäftigten der Stra-
        ßenbauverwaltungen der Länder vom Bund übernommen
        und grundsätzlich dort eingesetzt werden, wo sie bisher
        arbeiten. Ich empfinde es als Bestätigung dieser Position,
        dass auch die Gewerkschaft Verdi sowie der Bundesrech-
        nungshof die Erfolge des parlamentarischen Verfahrens
        ausdrücklich anerkennen . Darüber hinaus werden in der
        Debatte sogenannte öffentlich-private Partnerschaften
        (ÖPP) problematisiert . Die Partnerschaften gibt es be-
        reits – sie werden nicht erst durch das hier vorliegende
        Regelungspaket ermöglicht . ÖPP für ganze Streckennet-
        ze oder wesentliche Teile werden in der Verfassung ex-
        plizit ausgeschlossen . Die SPD-Bundestagsfraktion hätte
        sich eine noch weitergehende Regelung gewünscht . Dies
        war jedoch mit der CDU/CSU-Fraktion nicht möglich .
        Meine Ablehnung der Infrastrukturgesellschaft Ver-
        kehr fußt auf drei Kernpunkten: Erstens halte ich die
        nun verabredete und gefundene Struktur für nicht effi-
        zient und leistungsfähig . So wurde die Übergangsphase
        entgegen dem Rat des Bundesrechnungshofes und von
        Experten um ein weiteres Jahr verkürzt . Damit droht ein
        lähmender und nicht die Funktionsfähigkeiten erhalten-
        der Übergangsprozess . Der zweite Punkt ist in der man-
        gelnden Absicherung der späteren Finanzierungsstruktur
        zu sehen. Zwar wird die Möglichkeit der Beschaffungs-
        variante ÖPP deutlich eingeschränkt und auch erstmalig
        im Verfassungsrang geklärt . Dennoch ist keine Staatsga-
        rantie für die Gesellschaft in die Verfassung aufgenom-
        men worden und das Kreditaufnahmeverbot nur einfach-
        gesetzlich geregelt . Ein späterer Gesetzgeber kann dies
        verändern . Man mag argumentieren, dass ein Gesetzge-
        ber alle einfachen Bundesgesetze ändern kann . In diesem
        konkreten Fall wird aber durch eine Verfassungsände-
        rung der Auftragsverwaltung eine neue Möglichkeit er-
        öffnet. Ohne eine Staatsgarantie sind jedoch Kredite der
        Gesellschaft teurer als die reine staatliche Finanzierung
        durch den Bundeshaushalt . Das dritte Argument fasst
        die beiden Problemkreise zusammen . In Kombination
        mit einer nicht leistungsfähigen Gesellschaft und einer
        nicht ausreichenden Kreditabsicherung droht nach dem
        möglichen Willen eines späteren Gesetzgebers eine zu
        teure Beschaffung der Infrastruktur. Die verkehrspo-
        litischen Bedenken bezüglich zukünftig zugeordneter
        Netzstrukturen – aus Bundesautobahnen und willkürlich
        gewählten Bundesstraßen – bis hin zu einer begrenzten
        Zahl regionaler Strukturen mit Tochtergesellschaften –
        die in dieser Form nicht sinnvoll sind – bedrohen auch
        die Leistungsfähigkeit der Gesellschaft . Umgekehrt wird
        dadurch die Beschaffungsvariante in Form öffentlich-pri-
        vater Partnerschaften leider attraktiver . Denn in der Bun-
        desrepublik sind Einzel-ÖPP-Projekte nach wie vor als
        Hauptkonkurrenz zu konventionellen Beschaffungen des
        Staates zu betrachten – auch wenn sie zu teuer sind .
        Zusammengefasst ist festzuhalten: Im Gesetzgebungs-
        verfahren wurden wesentliche Verbesserungen erreicht
        und im aktuellen Entwurf Privatisierungsmöglichkeiten
        so weit wie nie zuvor ausgeschlossen . Gleichwohl über-
        zeugt mich die Gesamtkonstruktion nicht . Eine geteilte
        Aufgabenverantwortung zwischen Bund und Ländern
        für die öffentliche Infrastruktur wäre nach Vorschlägen
        der Bodewig-II-Kommission jedenfalls in anderer Form
        möglich gewesen .
        Es ist mir wichtig, abschließend deutlich herauszustel-
        len, dass die öffentlich geführte Debatte um eine angeb-
        liche „Privatisierung durch die Hintertür“ am Kern der
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724206
        (A) (C)
        (B) (D)
        Fragestellung vorbeigeht . Diese Kampagne kann für die
        Entscheidungsfindung nicht ausschlaggebend sein.
        In der Abwägung aller vorgenannten Argumente ha-
        ben mich konkrete Verhandlungsergebnisse, aber vor al-
        lem das verbundene Verfahren zur Grundgesetzänderung
        dieses Umfangs zweifeln lassen . Die Sorge um die ge-
        wählte Konstruktion und die leistungsfähige Infrastruk-
        turgesellschaft waren der Schlusspunkt meiner Entschei-
        dung .
        Gustav Herzog (SPD): Nach zweijährigen Verhand-
        lungen hat sich die Bundeskanzlerin am 14 .10 .2016 mit
        den 16 Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten
        der Länder auf ein „Reformpaket“ geeinigt . An diesen
        Beratungen war der Deutsche Bundestag nicht beteiligt .
        Das Gesetzespaket beinhaltet neben der Neuordnung
        der Bund-Länder-Finanzen auch die finanzielle Unter-
        stützung für finanzschwache Kommunen, die Auswei-
        tung des Unterhaltsvorschusses für Alleinerziehende und
        die Übertragung der Bundesautobahnen von der Auf-
        tragsverwaltung der Länder auf den Bund .
        Die Führungsspitzen der Koalitionsfraktionen haben
        sich der Vorgabe der „16+1-Runde“ angeschlossen, das
        Reformprojekt nur als Paket abzustimmen .
        Bis auf die Umstrukturierung der Autobahnverwal-
        tung finden die Gesetzesänderungen meine volle Unter-
        stützung:
        Erstens. Wir sichern die finanzielle Handlungsfähig-
        keit von Ländern und Kommunen nach Auslaufen des
        Solidarpakts .
        Zweitens . Wir brechen das Kooperationsverbot auf
        und versetzen den Bund in die Lage, 3,5 Milliarden Euro
        in Bildungsinfrastruktur von finanzschwachen Kommu-
        nen zu investieren .
        Drittens . Wir weiten den Unterhaltsvorschuss aus und
        unterstützen damit berufstätige Alleinerziehende und
        ihre Kinder .
        Die Neuorganisation von Planung, Bau, Unterhal-
        tung und Betrieb der Bundesautobahnen ist nach meiner
        persönlichen Auffassung aber der falsche Weg, um die
        bestehenden Infrastrukturprobleme zu beheben und den
        dringend notwendigen Investitionshochlauf voranzubrin-
        gen . Ich befürchte, dass die Jahre der Neuorganisation
        für einen Stillstand statt für einen Mobilitätsschub sorgen
        werden .
        Seit vielen Jahren engagiere ich mich in meiner parla-
        mentarischen Arbeit für mehr Effizienz in der Verkehrs-
        politik und kann deshalb der geplanten Bundesverwal-
        tung und damit dem Gesamtpaket nicht zustimmen .
        An dieser Stelle möchte ich mich aber ausdrücklich
        bei meinen Kolleginnen und Kollegen bedanken, die im
        parlamentarischen Verfahren erhebliche Verbesserungen
        des Gesetzentwurfs erarbeiten konnten .
        Erstens . Eine Privatisierung der Autobahnen und Bun-
        desstraßen findet nicht statt; mit dem Gesetz errichten
        wir Schranken, wo es vorher keine gab, auch im Grund-
        gesetz .
        Zweitens . Wir haben die berechtigten Interessen der
        Beschäftigten geschützt .
        Drittens. Der Einfluss des demokratisch gewählten
        Parlaments auf die Verkehrsinvestitionen bleibt gewahrt
        und wird meines Erachtens gegenüber heute sogar ver-
        bessert .
        Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Der Deutsche Bundes-
        tag stimmt heute über die Neuregelung des bundesstaatli-
        chen Finanzausgleichssystems ab . Im parlamentarischen
        Verfahren ist es der SPD-Bundestagsfraktion gelungen,
        wichtige Änderungen am ursprünglich eingebrachten
        Gesetzentwurf durchzusetzen:
        Erstens . Zunächst ist zu beachten, dass der Bundes-
        tag über ein Regelungspaket zu entscheiden hat, das im
        Vorfeld bereits zwischen allen Ministerpräsidentinnen
        und Ministerpräsidenten und der Bundesregierung abge-
        stimmt worden ist . Da die Länder in den Finanzbezie-
        hungen Erleichterungen durch den Bund erfahren haben,
        haben sie im Gegenzug zugestanden, ein Stück ihrer
        Kompetenz im Bildungsbereich wieder an den Bund zu
        geben und in diesem Zusammenhang auch Bau, Planung
        und Verwaltung von Bundesstraßen bzw . Autobahnen
        dem Bund zu übertragen . Diese Verhandlung auf einer
        von der Verfassung nicht vorgesehenen Ebene zwischen
        Länderregierungen und Bundesregierung halte ich für
        äußerst kritikwürdig . Die Beratungen des Bundestages
        wurden deutlich dadurch erschwert, dass die Ministerprä-
        sidentinnen und Ministerpräsidenten gemeinsam mit der
        Bundesregierung ein Gesamtpaket völlig unterschied-
        licher Regelungsbereiche verabschiedeten, die im Par-
        lament faktisch nicht mehr entkoppelt werden können .
        Umso beachtlicher sind die Veränderungen, die nun zur
        Abstimmung stehen. Unabhängig davon hoffe ich aber,
        dass alle Parteien aus dieser Situation zukünftig lernen .
        Zweitens . Aus SPD-Sicht war in dem Regelungspaket
        von Anfang an die Ausweitung des Unterhaltsvorschus-
        ses zu begrüßen . Für fast 1 Million alleinerziehende El-
        tern und ihre Kinder stellt es einen wichtigen Fortschritt
        dar, dass berufstätige Alleinerziehende, bei denen der un-
        terhaltspflichtige Elternteil seinen Verpflichtungen nicht
        nachkommt, eine Erweiterung des Anspruches auf staat-
        liche Unterstützung erfahren . Die Altersgrenze wird von
        jetzt 12 Jahre auf 18 Jahre angehoben und die zeitliche
        Befristung von maximal sechs Jahren abgeschafft. Dieses
        wird dazu führen, dass die Doppelbelastung von Job und
        Kinderbetreuung besser bewältigt werden kann .
        Drittens . Ein großer Erfolg ist auch das Aufbrechen
        des Kooperationsverbotes im Bildungsbereich . Der Bund
        wird in die Lage versetzt, 3,5 Milliarden Euro für Bil-
        dungsinvestitionen in finanzschwachen Kommunen be-
        reitzustellen . Das Geld geht vom Bund über die Länder
        an die Kommunen, die dann vor Ort entscheiden, wie es
        investiert wird. Eine vollständige Abschaffung des Ko-
        operationsverbots im Bildungsbereich bleibt ein wich-
        tiges Ziel sozialdemokratischer Politik . Bildung ist eine
        gesamtstaatliche Aufgabe . Leider sträuben sich CDU und
        CSU vehement dagegen .
        Viertens . In der Fassung des Regelungspaketes, die in
        erster Lesung im Parlament beraten wurde, haben sich
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24207
        (A) (C)
        (B) (D)
        die Länder in Artikel 90 des Grundgesetzes verpflich-
        tet, unter anderem die Verwaltung der Bundesautobah-
        nen an den Bund zu geben . Ferner war vorgesehen, dass
        der Bund sich dafür einer Gesellschaft privaten Rechts
        bedienen könne . Bereits in dieser Fassung war geregelt,
        dass das Eigentum des Bundes an den Autobahnen und
        Bundesstraßen unveräußerlich ist . Allerdings befürchte-
        ten viele Bürgerinnen und Bürger in diesem Zusammen-
        hang, dass private Investoren über eine Beteiligung an
        der Gesellschaft zumindest mittelbar eine Privatisierung
        durch die Hintertür erreichen könnten . Die Verlautba-
        rungen aus Bundesfinanzministerium und Bundesver-
        kehrsministerium verstärkten diesen Verdacht . Auch
        zivilgesellschaftliche Organisationen und der Bundes-
        rechnungshof kritisierten das Vorhaben scharf . Die Ge-
        werkschaft Verdi problematisierte insbesondere Fragen
        beim Personalübergang .
        Nach wochenlangen Verhandlungen liegt nun eine
        Ergänzung des Verfassungstextes vor, der eine unmit-
        telbare oder mittelbare Beteiligung Privater an der Ge-
        sellschaft und deren Tochtergesellschaften ausdrücklich
        ausschließt . Dem Engagement der SPD-Bundestagsfrak-
        tion ist es zu verdanken, dass somit alle Hintertüren für
        eine mögliche Privatisierung in der Verfassung selbst ge-
        schlossen worden sind . Zudem ist es gelungen, dass alle
        wechselbereiten Beschäftigten der Straßenbauverwal-
        tungen der Länder vom Bund übernommen und grund-
        sätzlich dort eingesetzt werden, wo sie bisher arbeiten .
        Die Verkehrsinfrastrukturgesellschaft ist verpflichtet,
        Tarifverträge für alle Beschäftigten abzuschließen . Ich
        empfinde es als Bestätigung dieser Position, dass auch
        die Gewerkschaft Verdi sowie der Bundesrechnungshof
        die Erfolge des parlamentarischen Verfahrens ausdrück-
        lich anerkennen .
        Darüber hinaus werden in der Debatte sogenannte öf-
        fentlich-private Partnerschaften (ÖPP) problematisiert .
        Diese Partnerschaften gibt es bereits bei Autobahnpro-
        jekten – sie werden nicht erst durch das hier vorliegende
        Regelungspaket ermöglicht . Die SPD-Bundestagsfrak-
        tion hat sich im parlamentarischen Verfahren dafür ein-
        gesetzt, dass der Einfluss von ÖPP mit der vorliegenden
        Reform weiter beschränkt wird: Erstmalig werden in der
        Verfassung öffentlich-private Partnerschaften für ganze
        Streckennetze oder wesentliche Teile explizit ausge-
        schlossen . Damit wird im Grundgesetz selbst ein klares
        Zeichen gegen die Ausweitung von ÖPP gesetzt . Es wer-
        den Möglichkeiten zur Einbeziehung privater Betreiber
        und institutioneller Investoren ausgeschlossen, die bis-
        lang noch bestehen . Dem Deutschen Bundestag – na-
        mentlich dem Haushalts- und dem Verkehrsausschuss –
        werden durch die Reform neue Kontrollmöglichkeiten
        eingeräumt, die dieser auch im Sinne des Interesses der
        Bürgerinnen und Bürger nutzen wird .
        ÖPP sind zudem immer nur dann erlaubt, wenn sie
        wirtschaftlicher sind als die herkömmliche Beschaffung
        (Staat bzw . Gesellschaft bauen und betreiben selbst) –
        was bei einer effizient arbeitenden neuen Gesellschaft
        seltener der Fall sein wird als in den jetzigen Struktu-
        ren (weswegen beispielsweise die österreichische Auto-
        bahngesellschaft ASFINAG kein einziges ÖPP-Projekt
        macht, obwohl sie könnte) . ÖPP bleibt mit der Neure-
        gelung auf Einzelprojekte beschränkt, und durch die von
        uns durchgesetzte Grundgesetzänderung ist es dauerhaft
        verboten, ein ÖPP-Projekt an das andere zu setzen, bis
        irgendwann wesentliche Teile des Autobahnnetzes in ei-
        nem Bundesland als ÖPP betrieben würden .
        Bereits vor dieser Reform hat die Koalition im aktu-
        ellen Bundesverkehrswegeplan 2030 den Anreiz für ÖPP
        gemindert, da Gelder nicht mehr nach Ländern, sondern
        nach Prioritäten vergeben werden . Auch durch die neu
        eingeführten, realistischeren Wirtschaftlichkeitsberech-
        nungen werden ÖPP reduziert, ebenso wie das in der
        neuen Gesellschaft eingeführte Planungsprinzip nach der
        Lebenszeit .
        Gemeinsam mit der SPD-Bundestagsfraktion hätte ich
        mir dennoch eine weitergehende Eindämmung von ÖPP
        gewünscht . Demokratie und das Ringen im parlamenta-
        rischen Verfahren bringen jedoch selten Ergebnisse, die
        zu 100 Prozent den Forderungen einer einzelnen Fraktion
        entsprechen . Ein völliger Ausschluss von ÖPP im Grund-
        gesetz, der einer Zweidrittelmehrheit in Bundestag und
        Bundesrat bedarf, war in der bestehenden Koalition mit
        CDU und CSU leider nicht realisierbar . Wer künftig ÖPP
        vollständig verhindern will, muss dafür eintreten, dass
        der Staat noch mehr Mittel in die Infrastruktur investiert,
        wie wir es als SPD fordern .
        Den Gesetzentwürfen stimme ich in der Gesamtab-
        wägung der Erfolge und Fortschritte, die die SPD damit
        erreicht hat, zu .
        Dr. Heribert Hirte (CDU/CSU): Dem Gesetz zur
        Neuregelung des bundesstaatlichen Finanzausgleichsys-
        tems ab dem Jahre 2020 und zur Änderung haushalts-
        rechtlicher Vorschriften stimme ich zu .
        Nach eingehender Prüfung überwiegen für mich die
        politischen Vorteile des Gesetzes gegenüber den wei-
        terhin bestehenden verfahrenstechnischen, verfassungs-
        rechtlichen und inhaltlichen Bedenken .
        1 . Verfahrenstechnische Bedenken
        Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf werden massive
        Änderungen an der gelebten Verfassungswirklichkeit
        vorgenommen . Insbesondere die (weitere) Abkehr von
        dem Kooperationsverbot und die faktische Abschaf-
        fung des horizontalen Länderfinanzausgleichs greifen
        deutlich in die bisherige Organisation unseres Staates
        ein .
        Wie bereits bei den letzten beiden Föderalismusrefor-
        men der letzten Dekade wäre hier eine frühere Betei-
        ligung sowohl des Deutschen Bundestages als auch
        der Länderparlamente aufgrund der hohen Bedeutung
        der Entscheidung angebracht gewesen . Dies gilt umso
        mehr, als die zu regelnden Finanzbeziehungen auf un-
        absehbar lange Zeit festgelegt werden .
        2 . Verfassungsrechtliche Bedenken
        Durch die getroffenen Regeln wird massiv in die föde-
        rale Struktur der Bundesrepublik Deutschland einge-
        griffen, die mit den Föderalismuskommissionen I und
        II auf verlässliche und klare Säulen gestellt wurden .
        Die klare Trennung zwischen Aufgaben und Verant-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724208
        (A) (C)
        (B) (D)
        wortlichkeiten von Bund und Ländern wird wieder zu-
        rückgenommen und in Teilen sogar aufgegeben .
        So erlaubt Artikel 104b Absatz 2-neu nun dem Bund,
        Bestimmungen über die Ausgestaltung der jeweiligen
        Länderprogramme zur Verwendung der Finanzhilfen
        vorzusehen und greift damit massiv in die Verwal-
        tungshoheit der Länder ein .
        Durch die Abschaffung des horizontalen Länderfinanz-
        ausgleiches zugunsten einer vertikalen Verteilung wer-
        den die Länder faktisch zu Untereinheiten des Bundes,
        von dessen Finanzausstattung sie abhängen; Anreize
        für eine Solidarität unter den Bundesländern gehen
        damit verloren .
        Auch die Finanzausstattung von finanzschwachen
        Kommunen im Bereich der Bildung begegnet massi-
        ven Bedenken, handelt es sich doch bei Bildung ne-
        ben der Inneren Sicherheit um die Kernkompetenz der
        Bundesländer, die ausgehöhlt wird .
        In gleicher Weise wird mit der Übertragung der Bun-
        desfernstraßenverwaltung von den Ländern auf den
        Bund den jeweiligen Ländern eine für jeden Bürger
        sichtbare Differenzierungsmöglichkeit – und damit
        auch ein Teil ihrer Staatlichkeit – genommen .
        Eine verfassungsrechtlich sauberere Ausgestaltung zur
        Steigerung der Qualität wäre hierbei eine bessere Fi-
        nanzausstattung der Länder in Form von höheren An-
        teilen an Bundessteuern bzw . die Übertragung (weite-
        rer) eigener, auch anpassbarer Steuern gewesen .
        Ausdrücklich keine verfassungsrechtlichen Bedenken
        bestehen bei der nun auch ausdrücklich möglichen
        Teilprivatisierung der Autobahnverwaltung .
        3 . Inhaltliche Bedenken
        Durch das (erneute) Vermischen von Landes- und Bun-
        desaufgaben wird die politische Landschaft sowohl für
        Bürger als auch für Mandatsträger deutlich komplexer
        und schwerer zu durchschauen . Unter weiterer Be-
        rücksichtigung möglicher EU-Förderungen sind nun
        zum Beispiel im Schulbereich vier Ebenen mit der
        Finanzierung der Infrastruktur betraut (Kommune/
        Landkreis als Schulträger, Land, Bund, Europäische
        Union) . Nachdem dies jedoch gewollt zu sein scheint,
        sollte in Zukunft etwaige Kritik an der Aufgaben- und
        Finanzierungsübernahme durch die Europäische Uni-
        on wohlbedacht sein .
        Die Ausstattung finanzschwacher Kommunen mit
        Bundesmitteln im Bereich der Bildung setzt deutliche
        Fehlanreize: Zum einen werden Kommunen, die sau-
        ber wirtschaften, faktisch benachteiligt, da sie gerade
        nicht von Bundeszuschüssen profitieren können. Zum
        anderen ist davon auszugehen, dass sich bei einer ver-
        stetigten Bundesförderung die Kommunen faktisch
        aus der Schulausstattung zurückziehen und eigentlich
        dafür vorgesehene Gelder anderweitig verplant wer-
        den .
        Die Übertragung der Kompetenz für die Bundesfern-
        straßenverwaltung auf den Bund wird nicht notwen-
        digerweise zu einer grundsätzlichen Verbesserung der
        Planungs- und Unterhaltungssituation führen . Viel-
        mehr ist – nach dem Beispiel der Bundeswasserstra-
        ßenverwaltung – zu befürchten, dass sich das Niveau
        auf einem zwar bundeseinheitlichen, aber für viele
        Bundesländer deutlich niedrigeren Niveau einpendeln
        wird; aufgrund höherer Tarife im Bereich des Bundes
        ist zudem von deutlich höheren Personalkosten auszu-
        gehen, die letztlich zulasten des Netzes gehen werden .
        Auch die Möglichkeit, in beschränkten Teilnetzen öf-
        fentlich-private Partnerschaften zur Finanzierung des
        Baus und der Unterhaltung einzugehen, überzeugen
        nicht . Vielmehr hätte man in diesem Bereich einen
        mutigen Schritt weiter zur völligen Öffnung für pri-
        vates Investment gehen müssen . Dabei geht es gerade
        nicht darum, Verdienstchancen für Private zu steigern,
        sondern die erweiterten Möglichkeiten der Privatwirt-
        schaft, aber auch deren Haftung in Anspruch zu neh-
        men . Dagegen sprechen auch nicht bisherige Beispiele
        für missglückte und überteuerte privat(vor-)finanzierte
        Projekte. Auch rein öffentlich strukturierte Projekte
        wie der Berliner Flughafen, die Elbphilharmonie oder
        Stuttgart 21 können völlig aus dem finanziellen Ru-
        der laufen. Darum hätte eine vollständige Öffnung für
        öffentlich-private Partnerschaften mit einer deutlichen
        Steigerung der Kontrolldichte einhergehen müssen,
        um sicherzustellen, dass die Leistung eines Privaten
        billiger und besser als eine staatliche Leistung wäre .
        Alexander Hoffmann (CDU/CSU): Die Neuordnung
        der Bund-Länder-Finanzbeziehungen ist eines der wich-
        tigsten Reformvorhaben dieser Koalition . Deshalb stim-
        me ich den damit verbundenen Grundgesetzänderungen
        auch zu . Allerdings möchte ich nicht unerwähnt lassen,
        dass ich einige nicht unerhebliche Bedenken habe – gera-
        de was die Bundeshilfen für finanzschwache Kommunen
        durch den neuen Artikel 104c GG angeht .
        So richtig die Absicht ist, die kommunale Bildungsin-
        frastruktur zu verbessern, eine faktische teilweise Aufhe-
        bung des Kooperationsverbots ist aus meiner Sicht nicht
        der richtige Weg . Die Tatsache, dass für eine angemesse-
        ne finanzielle Ausstattung der Kommunen das jeweilige
        Bundesland zuständig ist, könnte somit in der Wahrneh-
        mung eher noch ab- als zunehmen .
        Ich habe die Sorge, dass die politischen Zuständigkei-
        ten verwässert und dadurch unübersichtlicher werden .
        Künftig werden finanzschwache bzw. schlecht regier-
        te Bundesländer einfach mit dem Finger auf den Bund
        zeigen, wenn Kommunen um Mittel für Sanierungen an
        Schulen bitten – und somit von der eigenen Verantwor-
        tung ablenken .
        Ziel der Föderalismusreform im Jahr 2006 war die
        Entflechtung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen, also
        die Schaffung klarer Strukturen und Verantwortlichkei-
        ten in der Aufgabenwahrnehmung . Mit Artikel 104c GG
        setzen wir ein widersprüchliches Signal – und falsche
        Anreize .
        Wir dürfen an dieser Stelle nicht vergessen, dass nicht
        nur der Bund sondern auch die Länder sowie die Kom-
        munen in den zurückliegenden Jahren von der hervor-
        ragenden wirtschaftlichen Lage und von stets steigen-
        den Steuermehreinnahmen kräftig profitiert haben und
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24209
        (A) (C)
        (B) (D)
        weiter enorm profitieren. Zudem hat der Bund in dieser
        sowie bereits in der zurückliegenden Legislaturperio-
        de die Länder und Kommunen durch eine ganze Reihe
        von Beschlüssen – etwa die vollständige Übernahme der
        Grundsicherung im Alter und bei Erwerbslosigkeit – in
        nie dagewesener Form finanziell entlastet.
        Ulrich Kelber (SPD): Der Deutsche Bundestag
        stimmt heute über die Neuregelung des bundesstaatli-
        chen Finanzausgleichssystems ab . Im parlamentarischen
        Verfahren ist es der SPD-Bundestagsfraktion gelungen,
        wichtige Änderungen am ursprünglich eingebrachten
        Gesetzentwurf durchzusetzen:
        Erstens . Zunächst ist zu beachten, dass der Bundes-
        tag über ein Regelungspaket zu entscheiden hat, das im
        Vorfeld bereits zwischen allen Ministerpräsidenten und
        der Bundesregierung abgestimmt worden ist . Da die Län-
        der in den Finanzbeziehungen Erleichterungen durch den
        Bund erfahren haben, haben sie im Gegenzug zugestan-
        den, ein Stück ihrer Kompetenz im Bildungsbereich wie-
        der an den Bund zu geben und in diesem Zusammenhang
        auch Bau, Planung und Verwaltung von Bundesstraßen
        bzw . Autobahnen dem Bund zu übertragen .
        Diese Verhandlung auf einer von der Verfassung nicht
        vorgesehenen Ebene zwischen Länderregierungen und
        Bundesregierung halte ich für kritikwürdig . Die Beratun-
        gen des Bundestages wurden deutlich dadurch erschwert,
        dass die Ministerpräsidenten gemeinsam mit der Bun-
        desregierung ein Gesamtpaket völlig unterschiedlicher
        Regelungsbereiche verabschiedeten, die im Parlament
        faktisch nicht mehr entkoppelt werden können . Umso
        beachtlicher sind die durch die SPD erreichten Verände-
        rungen, die nun zur Abstimmung stehen . Unabhängig da-
        von hoffe ich aber, dass alle Parteien aus dieser Situation
        zukünftig lernen .
        Zweitens . Aus SPD-Sicht war in dem Regelungspaket
        von Anfang an die Ausweitung des Unterhaltsvorschus-
        ses zu begrüßen . Für fast 1 Million alleinerziehende El-
        tern und ihre Kinder stellt es einen wichtigen Fortschritt
        dar, dass berufstätige Alleinerziehende, bei denen der un-
        terhaltspflichtige Elternteil seinen Verpflichtungen nicht
        nachkommt, eine Erweiterung des Anspruches auf staat-
        liche Unterstützung erfahren . Die Altersgrenze wird von
        jetzt 12 Jahre auf 18 Jahre angehoben und die zeitliche
        Befristung von maximal sechs Jahren abgeschafft. Dieses
        wird dazu führen, dass die Doppelbelastung von Job und
        Kinderbetreuung besser bewältigt werden kann .
        Drittens . Ein großer Erfolg ist auch das Aufbrechen
        des Kooperationsverbotes im Bildungsbereich . Der Bund
        wird in die Lage versetzt, sofort ein erstes Programm in
        Höhe von 3,5 Milliarden Euro für Bildungsinvestitionen
        in finanzschwachen Kommunen bereitzustellen.
        Viertens . In der Fassung des Regelungspaketes, die in
        erster Lesung im Parlament beraten wurde, haben sich
        die Länder in Artikel 90 des Grundgesetzes verpflich-
        tet, unter anderem die Verwaltung der Bundesautobah-
        nen an den Bund zu geben . Ferner war vorgesehen, dass
        der Bund sich dafür einer Gesellschaft privaten Rechts
        bedienen könne . Bereits in dieser Fassung war geregelt,
        dass das Eigentum des Bundes an den Autobahnen und
        Bundesstraßen unveräußerlich ist .
        Allerdings befürchteten viele Bürgerinnen und Bürger
        in diesem Zusammenhang, dass private Investoren über
        eine Beteiligung an der Gesellschaft zumindest mittelbar
        eine Privatisierung durch die Hintertür erreichen könn-
        ten. Die ersten Verlautbarungen aus Bundesfinanzminis-
        terium und Bundesverkehrsministerium verstärkten die-
        sen Verdacht . Auch zivilgesellschaftliche Organisationen
        und der Bundesrechnungshof kritisierten das Vorhaben
        scharf .
        Heute aber liegt nun eine Ergänzung des Verfassungs-
        textes vor, der eine unmittelbare oder mittelbare Beteili-
        gung Privater an der Gesellschaft und deren Tochterge-
        sellschaften ausdrücklich ausschließt . Dem Engagement
        der SPD-Bundestagsfraktion ist es zu verdanken, dass
        somit alle Hintertüren für eine mögliche Privatisierung
        in der Verfassung selbst geschlossen worden sind .
        Ich empfinde es als Bestätigung dieser Position, dass
        auch die Gewerkschaft Verdi sowie der Bundesrech-
        nungshof ihre Bedenken aufgrund dieser Änderungen als
        ausgeräumt betrachten .
        Darüber hinaus wurden in der Debatte sogenannte öf-
        fentlich-private Partnerschaften (ÖPP) problematisiert .
        Die Partnerschaften gibt es bereits, sie werden nicht
        erst durch das hier vorliegende Regelungspaket ermög-
        licht . Doch selbst in diesem Bereich konnte nun durch
        das parlamentarische Verfahren eine Verbesserung er-
        reicht werden: Erstmalig werden in der Verfassung öf-
        fentlich-private Partnerschaften für ganze Streckennetze
        oder wesentliche Teile explizit ausgeschlossen . Damit
        wird im Grundgesetz selbst ein klares Zeichen gegen die
        Ausweitung von ÖPP gesetzt .
        Die SPD-Bundestagsfraktion hätte sich eine noch wei-
        tergehendere Regelung gewünscht . Dies war jedoch mit
        der CDU/CSU-Fraktion nicht möglich . Ein Nein zum
        Gesetzesentwurf würde aber auf alle Eingrenzungen von
        ÖPP verzichten .
        Daher stimme ich den Grundgesetzänderungen heute
        zu .
        Helga Kühn-Mengel (SPD): Der Deutsche Bundes-
        tag stimmt heute über die Neuregelung des bundesstaatli-
        chen Finanzausgleichssystems ab . Im parlamentarischen
        Verfahren ist es der SPD-Bundestagsfraktion gelungen,
        wichtige Änderungen am ursprünglich eingebrachten
        Gesetzentwurf durchzusetzen:
        Erstens . Zunächst ist zu beachten, dass der Bundes-
        tag über ein Regelungspaket zu entscheiden hat, das im
        Vorfeld bereits zwischen allen Ministerpräsidenten und
        der Bundesregierung abgestimmt worden ist . Da die
        Länder in den Finanzbeziehungen Erleichterungen durch
        den Bund erfahren haben, haben sie im Gegenzug zuge-
        standen, ein Stück ihrer Kompetenz im Bildungsbereich
        wieder an den Bund zu geben und in diesem Zusam-
        menhang auch Bau, Planung und Verwaltung von Bun-
        desstraßen bzw . Autobahnen dem Bund zu übertragen .
        Diese Verhandlung auf einer von der Verfassung nicht
        vorgesehenen Ebene zwischen Länderregierungen und
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724210
        (A) (C)
        (B) (D)
        Bundesregierung halte ich für äußerst kritikwürdig . Die
        Beratungen des Bundestages wurden deutlich dadurch er-
        schwert, dass die Ministerpräsidenten gemeinsam mit der
        Bundesregierung ein Gesamtpaket völlig unterschiedli-
        cher Regelungsbereiche verabschiedeten, die im Par-
        lament faktisch nicht mehr entkoppelt werden können .
        Umso beachtlicher sind die Veränderungen, die nun zur
        Abstimmung stehen. Unabhängig davon hoffe ich aber,
        dass alle Parteien aus dieser Situation zukünftig lernen .
        Zweitens . Aus SPD-Sicht war in dem Regelungspaket
        von Anfang an die Ausweitung des Unterhaltsvorschus-
        ses zu begrüßen . Für fast 1 Million alleinerziehende El-
        tern und ihre Kinder stellt es einen wichtigen Fortschritt
        dar, dass berufstätige Alleinerziehende, bei denen der un-
        terhaltspflichtige Elternteil seinen Verpflichtungen nicht
        nachkommt, eine Erweiterung des Anspruches auf staat-
        liche Unterstützung erfahren . Die Altersgrenze wird von
        jetzt 12 Jahre auf 18 Jahre angehoben und die zeitliche
        Befristung von maximal sechs Jahren abgeschafft. Dieses
        wird dazu führen, dass die Doppelbelastung von Job und
        Kinderbetreuung besser bewältigt werden kann .
        Drittens . Ein großer Erfolg ist auch das Aufbrechen
        des Kooperationsverbotes im Bildungsbereich . Der
        Bund wird in die Lage versetzt, 3,5 Milliarden Euro für
        Bildungsinvestitionen in finanzschwachen Kommunen
        bereitzustellen. Eine vollständige Abschaffung des Ko-
        operationsverbots im Bildungsbereich bleibt ein wich-
        tiges Ziel sozialdemokratischer Politik . Bildung ist eine
        gesamtstaatliche Aufgabe . Dies ist aber zwischen den
        Koalitionspartnern umstritten .
        Viertens . In der Fassung des Regelungspaketes, die in
        erster Lesung im Parlament beraten wurde, haben sich
        die Länder in Artikel 90 des Grundgesetzes verpflich-
        tet, unter anderem die Verwaltung der Bundesautobah-
        nen an den Bund zu geben . Ferner war vorgesehen, dass
        der Bund sich dafür einer Gesellschaft privaten Rechts
        bedienen könne . Bereits in dieser Fassung war geregelt,
        dass das Eigentum des Bundes an den Autobahnen und
        Bundesstraßen unveräußerlich ist . Allerdings befürchte-
        ten viele Bürgerinnen und Bürger in diesem Zusammen-
        hang, dass private Investoren über eine Beteiligung an
        der Gesellschaft zumindest mittelbar eine Privatisierung
        durch die Hintertür erreichen könnten . Die Verlautba-
        rungen aus Bundesfinanzministerium und Bundesver-
        kehrsministerium verstärkten diesen Verdacht . Auch
        zivilgesellschaftliche Organisationen und der Bundes-
        rechnungshof kritisierten das Vorhaben scharf . Die Ge-
        werkschaft Verdi problematisierte insbesondere Fragen
        beim Personalübergang .
        Nach wochenlangen Verhandlungen liegt nun eine
        Ergänzung des Verfassungstextes vor, der eine unmit-
        telbare oder mittelbare Beteiligung Privater an der Ge-
        sellschaft und deren Tochtergesellschaften ausdrücklich
        ausschließt . Dem Engagement der SPD-Bundestagsfrak-
        tion ist es zu verdanken, dass somit alle Hintertüren für
        eine mögliche Privatisierung in der Verfassung selbst ge-
        schlossen worden sind . Zudem ist es gelungen, dass alle
        wechselbereiten Beschäftigten der Straßenbauverwaltun-
        gen der Länder vom Bund übernommen und grundsätz-
        lich dort eingesetzt werden, wo sie bisher arbeiten . Die
        Verkehrsinfrastrukturgesellschaft ist verpflichtet, Tarif-
        verträge für alle Beschäftigen abzuschließen . Ich emp-
        finde es als Bestätigung dieser Position, dass auch die
        Gewerkschaft Verdi sowie der Bundesrechnungshof die
        Erfolge des parlamentarischen Verfahrens ausdrücklich
        anerkennen .
        Darüber hinaus werden in der Debatte sogenannte öf-
        fentlich-private Partnerschaften (ÖPP) problematisiert .
        Die Partnerschaften gibt es bereits – sie werden nicht
        erst durch das hier vorliegende Regelungspaket ermög-
        licht . Doch selbst in diesem Bereich konnte nun durch
        das parlamentarische Verfahren eine Verbesserung er-
        reicht werden: Erstmalig werden in der Verfassung öf-
        fentlich-private Partnerschaften für ganze Streckennetze
        oder wesentliche Teile explizit ausgeschlossen . Damit
        wird im Grundgesetz selbst ein klares Zeichen gegen die
        Ausweitung von ÖPP gesetzt .
        Die SPD-Bundestagsfraktion hätte sich eine noch wei-
        tergehende Regelung gewünscht . Dies war jedoch mit
        der CDU/CSU-Fraktion nicht möglich .
        Demokratie und das Ringen im parlamentarischen
        Verfahren bringen selten Ergebnisse, die zu 100 Prozent
        den Forderungen einer einzelnen Fraktion entsprechen .
        Wer künftig ÖPP vollständig verhindern will, muss dafür
        eintreten, dass der Staat mehr Mittel in die Infrastruk-
        tur investiert, wie es die SPD fordert . Ein völliger Aus-
        schluss von ÖPP im Grundgesetz, der einer Zweidrittel-
        mehrheit in Bundestag und Bundesrat bedarf, war in der
        bestehenden Koalition nicht realisierbar . Deshalb werbe
        ich für die Anerkennung der Verhandlungserfolge im par-
        lamentarischen Verfahren und die Erhöhung des Drucks
        auf all die politischen Kräfte, die eine schwarze Null im
        Bundeshaushalt über politische Gestaltungsmöglichkei-
        ten stellen .
        Ich stimme dem Gesetz zu .
        Dr. Norbert Lammert (CDU/CSU): Dem Gesetz zur
        Neuregelung des bundesstaatlichen Finanzausgleichs-
        systems ab dem Jahr 2020 und zur Änderung haushalts-
        rechtlicher Vorschriften mit den damit verbundenen
        GG-Änderungen stimme ich nicht zu .
        An den zweifellos schwierigen Verhandlungen zwi-
        schen Bund und Ländern waren – anders als bei den bei-
        den Föderalismuskommissionen – Parlamente auf beiden
        Seiten nicht beteiligt . Umso wichtiger und zwingend
        notwendig ist aber, dass das Resultat dieser Verhandlun-
        gen in angemessener Weise parlamentarisch bewertet
        wird, zumal es die Finanzbeziehungen zwischen Bund
        und Ländern auf unabsehbar lange Zeit festlegt . Das gilt
        nicht zuletzt mit Blick auf die im Gesamtpaket dieses
        Regelwerkes vorgesehenen Verfassungsänderungen, die
        mit mehr als einem Dutzend vorgesehener Ergänzungen
        und Änderungen des Grundgesetzes im Umfang, Rege-
        lungsehrgeiz und Zeitplan in fast jeder Beziehung aus
        dem Rahmen fallen .
        Erstens . Der von den Regierungen des Bundes und
        der Länder am Ende gefundene Konsens ist im finanzi-
        ellen wie vor allem im politischen Sinne viel zu teuer
        und verändert die Architektur unserer föderalen Verfas-
        sungsordnung nachhaltig . Im Ergebnis ist festzustellen,
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24211
        (A) (C)
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        dass der – bei allen Schwächen im Grundsatz bewähr-
        te – horizontale Länderfinanzausgleich zugunsten einer
        neuen, vertikalen Finanzbeziehung zwischen Bund und
        Ländern abgeschafft wird. Solidarverpflichtungen mit
        Ausgleichsansprüchen zwischen den Ländern wird es
        künftig nicht mehr geben . Die Länder werden mehr denn
        je zu Kostgängern des Bundes . Sie bezahlen diese An-
        sprüche, die sie gegen den Bund erwerben, einmal mehr
        mit der Abtretung eigener Kompetenzen an den Bund
        und geben erneut Gestaltungsrechte auf, die sie in den
        sogenannten „Föderalismusreformen“ erst vor wenigen
        Jahren mit Nachdruck eingefordert hatten .
        Zweitens. Trotz der weitreichenden finanziellen Ver-
        pflichtungen verweigern die Länder dem Bund weiterhin
        die seit langem überfällige bundeseinheitliche Steuer-
        verwaltung . Dagegen wird ohne zwingenden Grund und
        systemwidrig eine Finanzierungsverpflichtung des Bun-
        des gegenüber „finanzschwachen Gemeinden im Bereich
        der kommunalen Bildungsinfrastruktur“ begründet, für
        die er weder fachlich noch bundesstaatlich eine origi-
        näre Verantwortung hat; sie wird zu einer dauerhaften
        Alimentierung kommunaler Finanzierungsschwächen
        führen ohne wirksamen Einfluss und Aussicht auf ihre
        Überwindung .
        Drittens . Der mühsam gefundene Kompromiss zwi-
        schen Bund und Ländern zur Neuregelung des bundes-
        staatlichen Finanzausgleichssystems trägt gegenüber
        dem bestehenden System zu keiner wesentlichen Ver-
        besserung mit Blick auf Gleichwertigkeit der Lebensver-
        hältnisse, Transparenz oder Leistungsgerechtigkeit bei .
        Im Gegenteil: Die Abhängigkeit der Länder vom Bund
        wird noch stärker . Dies ist verfassungsrechtlich wie auch
        finanziell hochgradig riskant. Gerade erst überwundene
        Verflechtungen von Entscheidungsstrukturen werden in
        anderer Form wieder eingeführt . Als Folge drohen Ent-
        scheidungsblockaden und Ineffizienz. Die gerade deshalb
        unverzichtbare Möglichkeit einer Korrektur ungewollter
        Wirkungen wird mit über einem Dutzend in der Form in-
        diskutabler und in der Sache teilweise höchst zweifelhaf-
        ter GG-Änderungen verfassungsrechtlich betoniert und
        damit faktisch irreversibel .
        Philipp Graf Lerchenfeld (CDU/CSU): Ich stimme
        dem Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes nur mit
        großen Bedenken zu .
        Durch die verschiedenen Änderungen unseres Grund-
        gesetzes im Rahmen der Neuordnung des Länderfinanz-
        ausgleichs wird der Föderalismus in Deutschland merk-
        lich geschwächt .
        Eine wesentliche Säule des Föderalismus, die gegen-
        seitige Solidarität der Bundesländer, wird aus rein finan-
        ziellen Interessen der Bundesländer aufgegeben . Hinzu
        kommt, dass die Mischfinanzierung staatlicher Aufgaben
        durch den Bund und die Bundesländer weiter ausgewei-
        tet wird . Das wird dazu führen, dass die im Grundgesetz
        definierten Verantwortlichkeiten für die unterschiedli-
        chen Aufgaben von Bund und Bundesländern in Zukunft
        noch weniger erkennbar sein werden .
        Die Bundesländer haben bisher die alleinige Verant-
        wortung für ihre Kommunen . Dieses Prinzip der Verant-
        wortlichkeit der Bundesländer für ihre Kommunen wird
        mit den Änderungen des Grundgesetzes nun durchbro-
        chen . Weitergehende Informations- und Prüfungsrechte
        des Bundes können dies nicht ausgleichen .
        Meine Zustimmung zu dieser Änderung des Grundge-
        setzes kann ich nur geben, weil die Bundesländer durch
        ihr Modell zur Neuordnung des Länderfinanzausgleichs
        im Jahr 2015, auf dem diese Änderung des Grundgeset-
        zes basiert, selbst diese Schwächung des Föderalismus
        herbeigeführt haben .
        Zudem kann es durchaus auch aus Gründen der bun-
        desstaatlichen Solidarität zweckmäßig sein, finanz-
        schwache Kommunen, die von ihrem jeweiligen Bundes-
        land finanziell nicht ausreichend ausgestattet werden, bei
        der Erfüllung notwendiger Aufgaben zu unterstützen . Es
        wäre aber besser gewesen, die Gelegenheit zu ergreifen,
        die Finanzverfassung insgesamt neu zu ordnen und dabei
        die öffentlichen Körperschaften zur Erfüllung ihrer je-
        weiligen Aufgaben entsprechend finanziell auszustatten.
        Antje Lezius (CDU/CSU): Ich stimme dem Ge-
        setzentwurf zu, gebe aber hiermit meine Bedenken zur
        Kenntnis .
        Ich halte das System des Föderalismus für richtig und
        wichtig . Kommunen und Landesregierungen sollten so
        aufgestellt werden und sein, dass sie selbstverantwortlich
        für die ihnen ureigenen Aufgaben im Sinne der Bürgerin-
        nen und Bürger handeln können . Ich stimme der Aussage
        unseres Bundestagspräsidenten Lammert zu, der in einem
        Interview im Handelsblatt Folgendes geäußert hat: „Mit
        dieser Regelung werden finanzschwache Kommunen in
        Zukunft versuchen, möglichst lange finanzschwach zu
        gelten, um sich Hilfen des Bundes zu sichern .“
        Schon immer klagten die Bundesländer über zu wenig
        Geld vom Bund . Mit vielen Projekten haben wir in der
        Vergangenheit schon an den Ländern vorbei versucht,
        den Kommunen finanziell zu helfen, zum Beispiel die
        Schulen mit modernsten Computern auszustatten . Wir
        sehen sehr wohl die Notwendigkeit, dass wir, wenn wir
        weiterhin eine führende Rolle nach außen beanspruchen
        und das Bestmögliche für unsere Bürger und Bürgerin-
        nen in unserem Land wollen, eingreifen müssen . Schon
        deshalb, weil wir im Moment in der einer guten konjunk-
        turellen Lage sind, können wir dies auch tun .
        Mein heutiges Stimmverhalten ist eine Ausnahme .
        Dies kann und sollte nicht die Regel sein .
        Mir ist für die Zustimmung wichtig, dass wir in Zu-
        kunft mehr Kompetenzen sowie Steuerungs- und Kon-
        trollrechte gegenüber den Ländern haben, darüber hinaus
        als Ergänzung ein Kündigungsrecht für den Bundestag .
        Verkehrsinfrastruktur muss effizienter und effektiver
        werden . Aber eine Privatisierung lehne ich ab .
        Die Bildungsinfrastruktur gerade auch in meiner Hei-
        mat muss unterstützt werden . Auch die Digitalisierung
        muss vorangebracht werden . Hierfür müssen ausreichen-
        de Mittel zur Verfügung stehen .
        Die Verhandlungen waren angesichts des komplexen
        Interessengeflechts nicht einfach. Wenn ich das Ergebnis
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        aber gesamtstaatlich sehe, ist es notwendig, hier begrenzt
        einzugreifen .
        Ingbert Liebing (CDU/CSU): Die Neuregelung der
        Bund-Länder-Finanzbeziehungen ist ein elementar wich-
        tiges Vorhaben der laufenden Wahlperiode . Dabei ist es
        richtig und wichtig, das Gesetzgebungsverfahren noch in
        dieser Wahlperiode abzuschließen, damit alle Beteiligten
        mit ausreichendem Vorlauf Planungssicherheit haben .
        Das großzügige finanzielle Engagement des Bundes ist
        für viele Kommunen eine große Hilfe, auch wenn Misch-
        zuständigkeiten und Mischfinanzierungen zu keiner Klä-
        rung von Verantwortung führen, oft als „goldener Zügel“
        wirken und die grundgesetzlich garantierte kommunale
        Selbstverwaltung eher einschränken . In der Gesamtschau
        ist das vorliegende Gesetzespaket wichtig und verdient
        deshalb Zustimmung . Dennoch: Teile wecken auch
        Skepsis .
        Die Einfügung des Artikels 104c GG setzt ein schwie-
        riges Signal und falsche Anreize . Statt Bundeshilfen für
        finanzschwache Kommunen im Grundgesetz zu normie-
        ren, sollten die finanziell zuständigen Länder alles da-
        ransetzen, die Finanzschwäche von Kommunen zu be-
        heben . Das eigentliche Ziel müsste es sein, dass es keine
        finanzschwachen Kommunen gibt. Stattdessen werden
        finanzschwache Kommunen jetzt sogar in der Verfassung
        verankert .
        Ziel der Föderalismusreform 2006 ist gewesen, klare
        Strukturen und Verantwortlichkeiten in der Aufgaben-
        wahrnehmung durch Bund und Länder zu schaffen. Die-
        ses Ziel war richtig und ist weiterhin richtig . Mit Arti-
        kel 104c GG wird dieses Ziel ein Stück aus den Augen
        verloren . Am Grundsatz, dass für eine aufgabenange-
        messene auskömmliche Finanzausstattung der Kommu-
        nen die jeweiligen Bundesländer verantwortlich und zu-
        ständig sind, ist festzuhalten . Dies gilt nicht nur für den
        Bereich der Bildungsinfrastruktur, sondern insgesamt
        für alle von den Kommunen auszuführenden Aufgaben .
        Aus dieser Sicht besteht durch die Einfügung des Arti-
        kel 104c GG die Gefahr, dass ein dauerhafter Fehlanreiz
        gesetzt wird, dass Länder künftig Kommunen bei Inves-
        titionsbedarf an den Bund verweisen und somit aus der
        Erweiterung der Mitfinanzierungsmöglichkeit eine Mitfi-
        nanzierungszuständigkeit wird . Wir werden dies kritisch
        beobachten . Gut ist auch, dass der Bundesrechnungshof
        im Rahmen von Mischfinanzierungen künftig stärkere
        Prüfungsrechte hat .
        Wir müssen in Zukunft auch aufpassen, dass aus dem
        ersten Schritt des Artikel 104c GG mit der Mitfinanzie-
        rungsmöglichkeit für den Bund in der Bildungsinfrastruk-
        tur finanzschwacher Kommunen keine Allgemeinzustän-
        digkeit des Bundes für alle Probleme vor Ort wird . Das
        Argument, die Menschen würden es nicht verstehen, dass
        der Bund nicht für marode Schulen zuständig sei, ließe
        sich genauso auf marode Straßen und Brücken, andere
        öffentliche Einrichtungen oder geschlossene Schwimm-
        bäder ausdehnen . Der Bund wird aber nicht in der Lage
        sein, alle Missstände vor Ort zu lösen – erst recht nicht,
        wenn Länder die Hilfen des Bundes unterlaufen und den
        Kommunen immer größere Lasten aufbürden, um den
        eigenen Landeshaushalt zu schonen . Die SPD-Landesre-
        gierungen in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz
        haben vorgemacht, wie dieses schlechte Spiel zulasten
        der Kommunen funktioniert .
        Mit dem neuen Artikel 104c GG ist auch die Aufsto-
        ckung des Kommunalinvestitionsförderprogramms von
        3,5 Milliarden Euro auf 7 Milliarden Euro verbunden .
        Das ist immerhin einmal mehr ein Zeichen, dass wir als
        CDU/CSU-geführte Regierungskoalition bereit sind, den
        Kommunen zu helfen – wie wir dies in dieser Wahlperio-
        de bereits vielfältig getan haben .
        Bei aller strukturellen Kritik ergeben sich aus kommu-
        naler Sicht aber auch Chancen aus der Neuordnung der
        Bund-Länder-Finanzbeziehungen: Die stärkere Berück-
        sichtigung der kommunalen Finanzkraft bei der Zutei-
        lung der Finanzmittel auf die Länder in Artikel 107 GG
        ist ein wichtiger Schritt zur Behebung struktureller kom-
        munaler Finanzschwäche . Dabei ist zwingend darauf zu
        achten, dass höhere Zuweisungen an die Länder tatsäch-
        lich dazu genutzt werden, die Steuerkraftunterschiede
        auf Gemeindeebene auszugleichen . Keinesfalls darf aus
        Artikel 107 GG ein Anreiz entstehen, die Steuerkraft
        der Kommunen zu senken, um höhere Beträge aus der
        Verteilung der Finanzmittel auf die Länder zu erhalten,
        um diese Finanzmittel dann im Landeshaushalt zu ver-
        buchen .
        Wichtig ist, dass die vom Bund für die Kommunen be-
        reitgestellten Finanzmittel von den Ländern an die Kom-
        munen weitergeleitet werden und dann auch ungekürzt
        und zusätzlich vor Ort ankommen. Kommunalfinanzen
        sind kein Beitrag zur Konsolidierung von Landeshaus-
        halten . Eine gekürzte Weiterleitung der Bundesmittel
        oder eine Verrechnung im Zuge des kommunalen Finanz-
        ausgleichs sind ebenso inakzeptabel wie der Ersatz von
        Landesmitteln durch Bundeshilfen beispielsweise bei
        Investitionszuschüssen . Die vom Bund zur Verfügung
        gestellten Mittel müssen seitens der Länder ungekürzt
        und zusätzlich den Kommunen zur Verfügung gestellt
        werden, um – in Umsetzung der Bundesintention – deren
        Finanzkraft zu stärken . Auch eine Verrechnung im Rah-
        men des kommunalen Finanzausgleichs ist unzulässig
        und mit der Absicht, die kommunale Selbstverwaltung zu
        stärken, unvereinbar . Entsprechende Regelungen in Fi-
        nanzausgleichsgesetzen der Länder sind zu korrigieren .
        Auch der in der Änderung des Kommunalinvestitions-
        förderungsgesetzes fortgeschriebene Verteilungsschlüs-
        sel zur Zuteilung der zur Stärkung der kommunalen In-
        vestitionskraft vorgesehenen 3,5 Milliarden Euro auf die
        Länder ist alles andere als unumstritten . Eine Einbezie-
        hung der kommunalen Kassenkredite in den Verteilungs-
        schlüssel greift in der vorgenommenen Form für eine
        dauerhafte Lösung zu kurz und setzt falsche Anreize . Es
        ist Aufgabe der Länder, für eine ausreichende Finanzaus-
        stattung der Kommunen zu sorgen und deren Liquidität
        zu sichern, sodass die Aufnahme von Kassenkrediten und
        ein Ausweichen auf Anleihen und Wertpapierverschul-
        dung erst gar nicht erforderlich werden . Haushalterische
        Disziplin darf nicht bestraft werden – ebenso wenig An-
        sätze der Länder, ihre Kommunen zu entschulden und
        vor struktureller Finanzschwäche zu bewahren . Es wäre
        schön gewesen, einen besseren Verteilungsschlüssel zu
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24213
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        finden; letztlich ist dies angesichts der vielschichtigen
        Interessenslage dieses Mal aber nicht gelungen .
        Zur Verantwortung und Zuständigkeit der Länder
        für eine aufgabenangemessene Finanzausstattung der
        Kommunen gehört auch, Mehrbelastungen aus Aufga-
        benübertragungen im Rahmen der Konnexität auszu-
        gleichen . Dies gilt insbesondere für die Mehrbelastung
        aus der Umsetzung des Unterhaltsvorschussgesetzes .
        Wenn die Länder im Bundesrat einer Regelung zustim-
        men, die zu Mehrausgaben bei den Kommunen führen,
        können sie anschließend nicht auf den Bund verweisen,
        sondern müssen diese Mehrausgaben selber ausgleichen .
        Der Bund hat seinen Beitrag durch eine Erhöhung des
        Bundesanteils an den Leistungsausgaben des Unterhalts-
        vorschussgesetzes auf 40 Prozent geleistet . Dies allein
        wird jedoch nicht reichen, die Ausgabensteigerungen bei
        den Kommunen, bei denen zu den reinen Auszahlungen
        noch Kosten für Personal und Sachmittel hinzukommen,
        auszugleichen . Hier sind die Länder gefordert, die Betei-
        ligung der Kommunen an den vom Land zu tragenden
        60 Prozent so zu gestalten, dass es nicht zu kommunalen
        Ausgabensteigerungen kommt . Das gilt insbesondere für
        Nordrhein-Westfalen mit der mit 80 Prozent höchsten
        Beteiligungsquote der Kommunen am Unterhaltsvor-
        schussgesetz .
        Im Rahmen der Neuordnung der Bund-Länder-Fi-
        nanzbeziehungen werden die bislang vom Bund bereit-
        gestellten Entflechtungsmittel – ehemals unter anderem
        GVFG, sozialer Wohnungsbau – ab dem Jahr 2020 nicht
        mehr als eigenes Bundesprogramm, sondern über einen
        höheren Umsatzsteueranteil der Länder bereitgestellt .
        Das bedeutet, dass nicht nur die investive Zweckbindung
        entfällt, sondern dass die Gefahr droht, dass diese Mittel
        auch im allgemeinen Haushaltsaufkommen der Länder
        zunächst untergehen . Die Länder müssen die bislang in
        den Entflechtungsmitteln enthaltenen Finanzhilfen des
        Bundes zur Verbesserung der Verkehrsverhältnisse der
        Gemeinden künftig den Kommunen über entsprechende
        Landesprogramme zur Verfügung stellen. Die Auflösung
        der Entflechtungsmittel zugunsten eines höheren Län-
        deranteils an der Umsatzsteuer darf auf keinen Fall dazu
        führen, dass die bislang bereitstehenden Mittel künftig
        nicht mehr zur Verfügung stehen und in Landeshaushal-
        ten versickern .
        Dr. Claudia Lücking-Michel (CDU/CSU): Nach ein-
        gehender Prüfung überwiegen für mich die politischen
        Vorteile des Gesetzes gegenüber den weiterhin bestehen-
        den verfahrenstechnischen, verfassungsrechtlichen und
        inhaltlichen Bedenken . Ich stimme dem Gesetz deshalb
        trotz großer Vorbehalte zu .
        Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf werden massive
        Änderungen an der gelebten Verfassungswirklichkeit
        vorgenommen . Insbesondere die (weitere) Abkehr vom
        Kooperationsverbot und die faktische Abschaffung des
        horizontalen Länderfinanzausgleichs zugunsten einer
        neuen vertikalen Finanzbeziehung greifen deutlich in die
        bisherige Organisation des Staates ein . Hier wäre eine
        stärkere Beteiligung von Anfang an sowohl des Deut-
        schen Bundestages als auch der einzelnen Länderparla-
        mente aufgrund der hohen Bedeutung der Entscheidung
        angebracht gewesen .
        Die vorgesehenen Grundgesetzänderungen beein-
        trächtigen in erheblichem Umfang die föderale Struktur
        unseres Landes und heben die gesetzlichen Regelungen
        in der Folge der Arbeit der Föderalismuskommissionen I
        und II mit dem Ziel, die Regelungsverantwortung für bis
        dahin gemeinschaftlich wahrgenommenen Aufgaben zu
        trennen, teilweise wieder auf . Die klare Trennung zwi-
        schen Aufgaben und Verantwortlichkeiten von Bund und
        Ländern wird wieder zurückgenommen und in Teilen so-
        gar aufgegeben .
        Die jetzt zu beschließende Inanspruchnahme des Bun-
        des bei der Finanzierung der kommunalen Bildungsin-
        frastruktur in sogenannten finanzschwachen Kommunen
        ohne Möglichkeiten der Einflussnahme des Bundes auf
        die Rahmenbedingungen in den geförderten Kommunen
        führt zu einer Verschlechterung der Position des Bundes,
        der lediglich zahlen soll . Zum anderen wird die Bildungs-
        politik als Kernkompetenz der Bundesländer ausgehöhlt .
        Die Länder geben erneut Gestaltungsrechte auf .
        Den Ländern wird mit diesem Regelungspaket zuge-
        standen, dass sie ihre Verantwortung für ureigene Län-
        derangelegenheiten gegen Geldzahlungen des Bundes
        abgeben . Die Abhängigkeit der Länder vom Bund wird
        noch stärker . Der richtige Weg wäre gewesen, die Finan-
        zausstattung der Länder so zu verbessern, dass sie ihren
        ureigenen Aufgaben gegenüber finanzschwachen Kom-
        munen besser nachkommen könnten . Dass Länder Zu-
        wendungen des Bundes mit dem Zweck, Kommunen zu
        unterstützen, vielfach nur teilweise weitergegeben haben
        und teilweise anderweitig verwendet haben, wäre mit an-
        deren Mitteln zu unterbinden .
        Auf der anderen Seite ist es unstreitig, dass die
        Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in Deutschland
        eine politisch zentrale Aufgabe ist, bei der sich auch der
        Bund nicht einfach aus der Verantwortung ziehen kann .
        Durch erhebliche Unterschiede bei der Bildungsausstat-
        tung wäre diese Gleichwertigkeit auch langfristig massiv
        beeinträchtigt . Diesen gesamtstaatlichen Auftrag anders
        als durch die hier zu entscheidenden gesetzlichen Rege-
        lungen wahrzunehmen, ist gegenwärtig leider nicht mög-
        lich . Erst recht als Bildungspolitikerin könnte ich es ge-
        genüber den Schulen zum Beispiel in meinem Wahlkreis
        nicht verantworten, ihnen durch eine Ablehnung heute
        mögliche Verbesserungen des Lernumfelds vorzuenthal-
        ten, für die es sonst kaum eine Chance gäbe .
        Kirsten Lühmann (SPD): Dieser Bundestag hat für
        die Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur in den letzten
        Jahren deutlich mehr Mittel zur Verfügung gestellt, auch
        um den Investitionsstau bei unseren Straßen zu beenden .
        Organisatorische Mängel verhindern häufig, dass das
        zur Verfügung stehende Geld für den Bau von Bundes-
        fernstraßen zielgenau und an verkehrlichen Maßstäben
        orientiert abfließen kann. Auch bei Planung und Betrieb
        gibt es vielerorts unbestreitbaren Optimierungsbedarf .
        Das ist auf nahezu allen politischen Ebenen erkannt und
        benannt worden . Eine Reform dieser Strukturen ist des-
        halb dringend geboten .
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        Neben einer Reform der Auftragsverwaltung war hier-
        zu schon länger die Gründung einer Bundesfernstraßen-
        gesellschaft im Gespräch, die Planung, Bau und Betrieb
        in die Hände des Bundes legt . Da der Bund am besten in
        der Lage ist, seine eigenen Prioritäten umzusetzen, und
        ich das angesichts des Nachholbedarfs in der Verkehrs-
        infrastruktur für notwendig erachte, habe ich diese Idee
        immer befürwortet . Ein entsprechendes Konzept, wie es
        die Arbeitsgruppen Verkehr, Wirtschaft und Haushalt der
        SPD-Bundestagsfraktion vorgelegt haben, fand und fin-
        det meine volle Unterstützung .
        Der von der Bundesregierung ursprünglich vorgelegte
        Entwurf hat den verkehrspolitischen Anforderungen je-
        doch zum einen nicht ausreichend Rechnung getragen,
        zum anderen gravierende Mängel hinsichtlich Privatisie-
        rung, Struktur, Beteiligung der Politik und Mitarbeiter-
        rechten aufgewiesen . Er war daher nicht zustimmungs-
        fähig . Deshalb haben wir in langen Verhandlungen aus
        meiner Sicht wesentliche Änderungen durchgesetzt .
        Der häufigste Vorwurf gegen den vorliegenden Vor-
        schlag zur Bundesfernstraßengesellschaft ist der, er
        ermögliche Privatisierungen durch die Hintertür . Fest-
        gemacht wird dies an der Rechtsform der Gesellschaft
        mit beschränkter Haftung . Es gibt aber genug Praxisbei-
        spiele – zum Beispiel die Verkehrsinfrastrukturfinanzie-
        rungsgesellschaft (VIFG) oder die Gesellschaft für Inter-
        nationale Zusammenarbeit (GIZ) –, die beweisen, dass
        eine GmbH in öffentlichem Besitz nicht gewinnorientiert
        sein muss . Hierfür galt es, die notwendigen Schranken
        dauerhaft zu setzen . Die von der SPD verhandelten Be-
        grenzungen für die Privatisierung sind daher für mich
        eine notwendige Voraussetzung für meine Zustimmung .
        Den Einfluss von öffentlich-privaten Partnerschaf-
        ten (ÖPP) wird mit der vorliegenden Reform weiter
        beschränkt . ÖPP für Streckennetze, die das gesamte
        Bundesautobahnnetz oder das gesamte Netz sonstiger
        Bundesfernstraßen in einem Land oder wesentlicher
        Teile davon umfassen, sind ausgeschlossen . Es werden
        Möglichkeiten zur Einbeziehung privater Betreiber und
        institutioneller Investoren ausgeschlossen, die bislang
        noch bestehen . Hier ist der Gesetzentwurf ein echter
        Fortschritt . Dem Deutschen Bundestag – namentlich dem
        Haushalts- und dem Verkehrsausschuss – werden durch
        die Reform neue Kontrollmöglichkeiten eingeräumt, die
        dieser auch im Sinne des Interesses der Bürgerinnen und
        Bürger nutzen wird .
        Bereits vor dieser Reform hat die Koalition im aktu-
        ellen Bundesverkehrswegeplan den Anreiz für ÖPP ge-
        mindert, da Gelder nicht mehr nach Ländern, sondern
        nach Prioritäten vergeben werden . Auch durch die neu
        eingeführten, realistischeren Wirtschaftlichkeitsberech-
        nungen werden ÖPP reduziert, ebenso wie das in der
        neuen Gesellschaft eingeführte Planungsprinzip nach der
        Lebenszeit .
        Wichtig für mich ist auch, dass mit der vorliegen-
        den Reform das wirtschaftliche Eigentum der Bundes-
        fernstraßen unveräußerlich beim Bund bleibt . Die neue
        Gesellschaft ist lediglich für die Verwaltung zuständig,
        auch die Übertragung von Nießbrauchrechten – also die
        gewinnbringende Nutzung durch die Gesellschaft – ist
        ausgeschlossen . Die Gesellschaft wird auch nicht als
        Mautgläubigerin auftreten . Auch eine funktionale Pri-
        vatisierung durch die Übertragung eigener Aufgaben der
        Gesellschaft auf Dritte ist nicht möglich .
        In enger Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften
        haben wir zudem die Rechte der Beschäftigten beim
        geplanten Personalübergang von den Straßenbauver-
        waltungen der Länder auf den Bund festgeschrieben . So
        gibt es zum Beispiel ein Widerspruchsrecht gegen den
        Übergang, und die besondere Situation des beamteten
        Personals wird berücksichtigt . Auch das ist für mich eine
        notwendige Voraussetzung für meine Zustimmung .
        Bedenken habe ich allerdings, ob ein Wechsel des
        Systems ohne größere Friktionen möglich ist und in ab-
        sehbarer Zeit die gewünschte größere Effizienz und Ef-
        fektivität tatsächlich erreicht werden können . Vielmehr
        sind durch die Umstellung deutliche Verzögerungen und
        Effizienzverluste möglich. Wichtig ist nun, dass der Ge-
        sellschaftsvertrag entsprechend im Sinne einer effizien-
        ten Arbeitsweise der neuen Gesellschaft gestaltet wird .
        Durch unsere Änderungen am Gesetz wird hierfür das
        Parlament zuständig sein .
        Obwohl ich weiterhin nicht sicher bin, dass die er-
        hofften Verbesserungen mit der vorliegenden Reform der
        Straßenbauverwaltung tatsächlich erreicht werden kön-
        nen, habe ich bei meiner Entscheidung auch die anderen
        Aspekte dieses Gesetzes zu berücksichtigen . Die um-
        fassende Reform der Bund-Länder-Beziehungen ist ein
        wichtiger Schritt zu einer nachhaltigen Finanzierung der
        Länder . Zusätzlich sind die Einschränkung des Koopera-
        tionsverbots, das Investitionsprogramm für Kommunen
        und der Unterhaltsvorschuss für Alleinerziehende wich-
        tige Zukunftsprojekte, die das Leben vieler Menschen
        spürbar verbessern werden . In Abwägung dieser Dinge
        und angesichts der Tatsache, dass die wesentlichen Män-
        gel der Infrastrukturgesellschaft Verkehr einfachgesetz-
        lich behoben werden können, stimme ich dem Gesetz-
        entwurf zu .
        Matern von Marschall (CDU/CSU): Dem Gesetzes-
        paket stimme ich zu, allerdings nur unter größten Beden-
        ken .
        Insbesondere der Aushöhlung des Subsidiaritätsprin-
        zips und einer damit einhergehenden Schwächung des
        Föderalismus wird dadurch der Weg bereitet, der Weg in
        den Zentralstaat . Gerade die Unterstützung sogenannter
        finanzschwacher Kommunen durch den Bund, statt wie
        bisher durch die Länder, Artikel 104c, ist hier ein Ein-
        fallstor für künftig immer neue Forderungen nach mehr
        Übertragung von Pflichten und Kompetenzen an den
        Bund. Die – finanzschwachen – Länder werden in Zu-
        kunft abhängig sein von der Zahlungskraft und dem Wil-
        len des Bundes . Diese Schwächung der Länder entspricht
        allerdings ihrem eigenen Wunsch . Auch das erscheint
        mir falsch und kurzsichtig .
        Zudem gerät das Prinzip der Solidarität der Länder un-
        tereinander in Gefahr .
        Da weiterhin das Land für die Mitteleinsetzung zu-
        ständig bleibt, verschiebt sich nun die Kompetenz der
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24215
        (A) (C)
        (B) (D)
        Mittelzuweisung auf Bundesebene . Die Länder sind wei-
        terhin verantwortlich dafür, welche Gemeinden und Ge-
        meindeverbände förderfähig sind . In der Überzeugung,
        dass unsere Bundesländer bewusst mit dieser Kompetenz
        umgehen werden, kann ich meine Zustimmung erteilen .
        Wir müssen aber an die Länder appellieren, diese
        Neustrukturierung nicht als Anreiz zu nehmen, fahrlässig
        Schulden anzuhäufen .
        Weiterhin muss gelten, dass keine Kommune auf der
        Strecke bleiben darf . Ich bin gegen die vollständige Auf-
        gabe des Föderalismus in Deutschland und nur dort für
        eine zentralistische Regelung, wo sie nötig oder sinnvoll
        erscheint .
        Susanne Mittag (SPD): Dieser Bundestag hat für
        die Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur in den letzten
        Jahren deutlich mehr Mittel zur Verfügung gestellt, auch
        um den Investitionsstau bei unseren Straßen zu beenden .
        Organisatorische Mängel verhindern häufig, dass das
        zur Verfügung stehende Geld für den Bau von Bundes-
        fernstraßen zielgenau und an verkehrlichen Maßstäben
        orientiert abfließen kann. Auch bei Planung und Betrieb
        gibt es vielerorts unbestreitbaren Optimierungsbedarf .
        Das ist auf nahezu allen politischen Ebenen erkannt und
        benannt worden . Eine Reform dieser Strukturen ist des-
        halb dringend geboten .
        Neben einer Reform der Auftragsverwaltung war hier-
        zu schon länger die Gründung einer Bundesfernstraßen-
        gesellschaft im Gespräch, die Planung, Bau und Betrieb
        in die Hände des Bundes legt . Da der Bund am besten in
        der Lage ist, seine eigenen Prioritäten umzusetzen und
        ich das angesichts des Nachholbedarfs in der Verkehrs-
        infrastruktur für notwendig erachte, habe ich diese Idee
        befürwortet . Ein entsprechendes Konzept, wie es die
        Arbeitsgruppen Verkehr, Wirtschaft und Haushalt der
        SPD-Bundestagsfraktion vorgelegt haben, fand und fin-
        det meine volle Unterstützung .
        Der von der Bundesregierung ursprünglich vorgelegte
        Entwurf hat den verkehrspolitischen Anforderungen je-
        doch zum einen nicht ausreichend Rechnung getragen,
        zum anderen gravierende Mängel hinsichtlich Privatisie-
        rung, Struktur, Beteiligung der Politik und Mitarbeiter-
        rechten aufgewiesen . Er war daher nicht zustimmungs-
        fähig . Deshalb haben wir in langen Verhandlungen aus
        meiner Sicht wesentliche Änderungen durchgesetzt .
        Der häufigste Vorwurf gegen den vorliegenden Vor-
        schlag zur Bundesfernstraßengesellschaft ist der, er
        ermögliche Privatisierungen durch die Hintertür . Fest-
        gemacht wird dies an der Rechtsform der Gesellschaft
        mit beschränkter Haftung . Es gibt aber genug Praxisbei-
        spiele – zum Beispiel die Verkehrsinfrastrukturfinanzie-
        rungsgesellschaft (VIFG) oder die Gesellschaft für Inter-
        nationale Zusammenarbeit (GIZ) –, die beweisen, dass
        eine GmbH in öffentlichem Besitz nicht gewinnorientiert
        sein muss . Hierfür galt es, die notwendigen Schranken
        dauerhaft zu setzen . Die von der SPD verhandelten Be-
        grenzungen für die Privatisierung sind daher für mich
        eine notwendige Voraussetzung für meine Zustimmung .
        Den Einfluss von öffentlich-privaten Partnerschaf-
        ten (ÖPP) wird mit der vorliegenden Reform weiter
        beschränkt . ÖPP für Streckennetze, die das gesamte
        Bundesautobahnnetz oder das gesamte Netz sonstiger
        Bundesfernstraßen in einem Land oder wesentlicher
        Teile davon umfassen, sind ausgeschlossen . Es werden
        Möglichkeiten zur Einbeziehung privater Betreiber und
        institutioneller Investoren ausgeschlossen, die bislang
        noch bestehen . Hier ist der Gesetzentwurf ein echter
        Fortschritt . Dem Deutschen Bundestag – namentlich dem
        Haushalts- und dem Verkehrsausschuss – werden durch
        die Reform neue Kontrollmöglichkeiten eingeräumt, die
        dieser auch im Sinne des Interesses der Bürgerinnen und
        Bürger nutzen wird .
        Bereits vor dieser Reform hat die Koalition im aktu-
        ellen Bundesverkehrswegeplan den Anreiz für ÖPP ge-
        mindert, da Gelder nicht mehr nach Ländern, sondern
        nach Prioritäten vergeben werden . Auch durch die neu
        eingeführten, realistischeren Wirtschaftlichkeitsberech-
        nungen werden ÖPP reduziert, ebenso wie das in der
        neuen Gesellschaft eingeführte Planungsprinzip nach der
        Lebenszeit .
        Wichtig für mich ist auch, dass mit der vorliegen-
        den Reform das wirtschaftliche Eigentum der Bundes-
        fernstraßen unveräußerlich beim Bund bleibt . Die neue
        Gesellschaft ist lediglich für die Verwaltung zuständig .
        Auch die Übertragung von Nießbrauchrechten – also die
        gewinnbringende Nutzung durch die Gesellschaft – ist
        ausgeschlossen . Die Gesellschaft wird nicht als Maut-
        gläubigerin auftreten . Eine funktionale Privatisierung
        durch die Übertragung eigener Aufgaben der Gesell-
        schaft auf Dritte ist ebenfalls nicht möglich .
        In enger Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften
        haben wir zudem die Rechte der Beschäftigten beim
        geplanten Personalübergang von den Straßenbauver-
        waltungen der Länder auf den Bund festgeschrieben . So
        gibt es zum Beispiel ein Widerspruchsrecht gegen den
        Übergang, und die besondere Situation des beamteten
        Personals wird berücksichtigt . Auch das ist für mich eine
        notwendige Voraussetzung für meine Zustimmung .
        Bedenken habe ich allerdings, ob ein Wechsel des
        Systems ohne größere Friktionen möglich ist und ob in
        absehbarer Zeit die gewünschte größere Effizienz und
        Effektivität tatsächlich erreicht werden kann. Vielmehr
        sind durch die Umstellung deutliche Verzögerungen und
        Effizienzverluste möglich. Wichtig ist nun, dass der Ge-
        sellschaftsvertrag im Sinne einer effizienten Arbeitswei-
        se der neuen Gesellschaft entsprechend gestaltet wird .
        Durch unsere Änderungen am Gesetz wird hierfür das
        Parlament zuständig sein .
        Obwohl ich weiterhin nicht sicher bin, dass die er-
        hofften Verbesserungen mit der vorliegenden Reform der
        Straßenbauverwaltung tatsächlich erreicht werden kön-
        nen, habe ich bei meiner Entscheidung auch die anderen
        Aspekte dieses Gesetzes zu berücksichtigen . Die um-
        fassende Reform der Bund-Länder-Beziehungen ist ein
        wichtiger Schritt zu einer nachhaltigen Finanzierung der
        Länder . Zusätzlich sind die Einschränkung des Koopera-
        tionsverbots, das Investitionsprogramm für Kommunen
        und der Unterhaltsvorschuss für Alleinerziehende wich-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724216
        (A) (C)
        (B) (D)
        tige Zukunftsprojekte, die das Leben vieler Menschen
        spürbar verbessern werden . Damit kann der Bund end-
        lich auch in gute Schulen mit moderner IT-Ausstattung
        und moderne Klassenräume investieren . Die Finanzmit-
        tel in Höhe von insgesamt 3,5 Milliarden Euro bis zum
        Jahr 2020 helfen den Ländern und Kommunen, den mas-
        siven Sanierungsstau an deutschen Schulen abzubauen .
        In Abwägung dieser Dinge und angesichts der Tatsache,
        dass die wesentlichen Mängel der Infrastrukturgesell-
        schaft Verkehr einfachgesetzlich behoben werden kön-
        nen, stimme ich dem Gesetzentwurf zu .
        Karsten Möring (CDU/CSU): Ich stimme dem Ge-
        setz trotz erheblicher Vorbehalte zu . Meine Gründe erläu-
        tere ich nachfolgend .
        Die Grundgesetzänderungen beeinträchtigen in er-
        heblichem Umfang die föderalistische Struktur unseres
        Landes. Der zukünftige Länderfinanzausgleich bekommt
        statt der horizontalen Struktur eine vertikale, indem der
        Bund in erheblichem Umfang die Länder alimentiert und
        der bisherige Solidarausgleich zwischen den Bundeslän-
        dern dahinter zurücktritt .
        Die gesetzlichen Regelungen in der Folge der Arbeit
        der Föderalismuskommissionen I und II mit dem Ziel, die
        Regelungsverantwortung für bis dahin gemeinschaftlich
        wahrgenommene Aufgaben zu trennen, werden teilweise
        aufgehoben . Die jetzt zu beschließende Inanspruchnah-
        me des Bundes bei der Finanzierung der kommunalen
        Bildungsinfrastruktur in sogenannten finanzschwachen
        Kommunen ohne Möglichkeiten der Einflussnahme des
        Bundes auf die Rahmenbedingungen in den geförderten
        Kommunen führt zudem zu einer Verschlechterung der
        Position des Bundes, der lediglich zahlen soll .
        Den Ländern wird mit diesem Regelungspaket zuge-
        standen, dass sie ihre Verantwortung für ureigene Län-
        derangelegenheiten gegen Geldzahlungen des Bundes
        abgeben .
        Es wäre besser gewesen, die Finanzausstattung der
        Länder so zu verbessern, dass sie ihren ureigenen Auf-
        gaben gegenüber finanzschwachen Kommunen besser
        nachkommen könnten . Dass Länder Zuwendungen des
        Bundes mit dem Zweck, Kommunen zu unterstützen,
        vielfach nur teilweise weitergegeben haben und teilweise
        anderweitig verwendet haben, wäre mit anderen Mitteln
        zu unterbinden .
        Auf der anderen Seite ist es unstreitig, dass die
        Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in Deutschland
        durch erhebliche Unterschiede bei der Bildungsausstat-
        tung auch langfristig massiv beeinträchtigt wäre . Diesen
        gesamtstaatlichen Auftrag anders als durch die hier zu
        entscheidenden gesetzlichen Regelungen wahrzuneh-
        men, ist gegenwärtig leider nicht möglich . Erst recht
        als ehemaliger Schulleiter könnte ich es den Schulen in
        meinem Wahlkreis gegenüber nicht verantworten, ihnen
        durch eine Ablehnung heute mögliche Verbesserungen
        des Lernumfelds vorzuenthalten, für die es sonst kaum
        eine Chance gäbe .
        Ulli Nissen (SPD): Der Deutsche Bundestag stimmt
        heute über die Neuregelung des bundesstaatlichen
        Finanz ausgleichssystems ab . Im parlamentarischen
        Verfahren ist es der SPD-Bundestagsfraktion gelungen,
        wichtige Änderungen am ursprünglich eingebrachten
        Gesetzentwurf durchzusetzen:
        Erstens . Zunächst ist zu beachten, dass der Bundes-
        tag über ein Regelungspaket zu entscheiden hat, das im
        Vorfeld bereits zwischen allen Ministerpräsidenten und
        der Bundesregierung abgestimmt worden ist . Da die
        Länder in den Finanzbeziehungen Erleichterungen durch
        den Bund erfahren haben, haben sie im Gegenzug zuge-
        standen, ein Stück ihrer Kompetenz im Bildungsbereich
        wieder an den Bund zu geben und in diesem Zusam-
        menhang auch Bau, Planung und Verwaltung von Bun-
        desstraßen bzw . Autobahnen dem Bund zu übertragen .
        Diese Verhandlung auf einer von der Verfassung nicht
        vorgesehenen Ebene zwischen Länderregierungen und
        Bundesregierung halte ich für äußerst kritikwürdig . Die
        Beratungen des Bundestages wurden deutlich dadurch er-
        schwert, dass die Ministerpräsidenten gemeinsam mit der
        Bundesregierung ein Gesamtpaket völlig unterschiedli-
        cher Regelungsbereiche verabschiedeten, die im Parla-
        ment faktisch nicht mehr entkoppelt werden können .
        Zweitens . Die Ausweitung des Unterhaltsvorschusses
        begrüße ich ausdrücklich . Sie war längst überfällig . Für
        fast 1 Million alleinerziehende Eltern und ihre Kinder
        stellt es einen wichtigen Fortschritt dar, dass berufstätige
        Alleinerziehende, bei denen der unterhaltspflichtige El-
        ternteil seinen Verpflichtungen nicht nachkommt, eine
        Erweiterung des Anspruches auf staatliche Unterstüt-
        zung erfahren . Die Altersgrenze wird von jetzt 12 Jahre
        auf 18 Jahre angehoben und die zeitliche Befristung von
        maximal sechs Jahren abgeschafft. Berufstätige Alleiner-
        ziehende werden so zum 1 . Juli mehr Geld in der Tasche
        haben . Dieses wird dazu führen, dass die Doppelbelas-
        tung von Job und Kinderbetreuung besser bewältigt wer-
        den kann .
        Drittens . Ein großer Erfolg ist auch das Aufbrechen
        des Kooperationsverbotes im Bildungsbereich . Der
        Bund wird in die Lage versetzt, 3,5 Milliarden Euro für
        Bildungsinvestitionen in finanzschwachen Kommunen
        bereitzustellen. Eine vollständige Abschaffung des Ko-
        operationsverbots im Bildungsbereich bleibt ein wich-
        tiges Ziel sozialdemokratischer Politik . Bildung ist eine
        gesamtstaatliche Aufgabe . Das ist aber zwischen den Ko-
        alitionspartnern umstritten .
        Viertens . In der Fassung des Regelungspaketes, die in
        erster Lesung im Parlament beraten wurde, haben sich
        die Länder in Artikel 90 des Grundgesetzes verpflich-
        tet, unter anderem die Verwaltung der Bundesautobah-
        nen an den Bund zu geben . Ferner war vorgesehen, dass
        der Bund sich dafür einer Gesellschaft privaten Rechts
        bedienen könne . Bereits in dieser Fassung war geregelt,
        dass das Eigentum des Bundes an den Autobahnen und
        Bundesstraßen unveräußerlich ist . Allerdings befürchte-
        ten viele Bürgerinnen und Bürger in diesem Zusammen-
        hang, dass private Investoren über eine Beteiligung an
        der Gesellschaft zumindest mittelbar eine Privatisierung
        durch die Hintertür erreichen könnten . Die Verlautba-
        rungen aus Bundesfinanzministerium und Bundesver-
        kehrsministerium verstärkten diesen Verdacht . Auch
        zivilgesellschaftliche Organisationen und der Bundes-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24217
        (A) (C)
        (B) (D)
        rechnungshof kritisierten das Vorhaben scharf . Die Ge-
        werkschaft Verdi problematisierte insbesondere Fragen
        beim Personalübergang .
        Nach wochenlangen Verhandlungen liegt nun eine
        Ergänzung des Verfassungstextes vor, der eine unmit-
        telbare oder mittelbare Beteiligung Privater an der Ge-
        sellschaft und deren Tochtergesellschaften ausdrücklich
        ausschließt . Zudem ist es gelungen, dass alle wechsel-
        bereiten Beschäftigten der Straßenbauverwaltungen der
        Länder vom Bund übernommen und grundsätzlich dort
        eingesetzt werden, wo sie bisher arbeiten . Die Verkehr-
        sinfrastrukturgesellschaft ist verpflichtet, Tarifverträge
        für alle Beschäftigen abzuschließen .
        Dennoch gehen mir die Regelungen zur Eingrenzung
        der Privatisierung bei den Bundesstraßen nicht weit ge-
        nug . Wesentliche Regelungen zur Eingrenzung werden
        in Artikelgesetzen geregelt, diese können bei anderen
        Mehrheiten im Parlament geändert werden . Auch gehen
        mir die Regelungen zu den sogenannten öffentlich-pri-
        vaten Partnerschaften (ÖPP) nicht weit genug . Deshalb
        werde ich bei den Grundgesetzänderungen in Artikel 90
        und 143e mit Nein stimmen .
        Dem Gesamtpaket jedoch habe ich zugestimmt . Für
        mich überwiegt das Interesse an der Reform des Unter-
        haltsvorschusses, das Interesse an erheblichen Bildungs-
        investitionen und das Interesse an der Neuordnung der
        Bund-Länder-Finanzen gegenüber der Einführung einer
        Infrastrukturgesellschaft, die die Auftragsverwaltung für
        Bundesstraßen übernehmen soll .
        Eckhard Pols (CDU/CSU): Im Rahmen der heutigen
        namentlichen Abstimmung stimme ich dem Gesetzent-
        wurf der Bundesregierung, Drucksache 18/11131, zu .
        Meine Zustimmung zum neuen Artikel 104c Grund-
        gesetz resultiert dabei aus meiner tiefen Überzeugung,
        dass alle Menschen das Recht auf gute Bildung haben,
        was eine gute Bildungsinfrastruktur voraussetzt . Dies
        sollte grundsätzlich nicht am Geld scheitern . Der Bund
        ist sich seiner Verantwortung bewusst und verdoppelt in
        Verbindung mit der Einführung des Artikels 104c Grund-
        gesetz seinen Kommunalinvestitionsförderungsfonds zur
        Unterstützung finanzschwacher Kommunen auf 7 Milli-
        arden Euro . Das ist sehr gut, und das unterstütze ich .
        Kritisch sehe ich dagegen, dass Artikel 104c Län-
        der dazu animieren könnte, sich aus der Finanzierung
        der Kommunen weiter zurückzuziehen, wozu ihnen die
        Misch zuständigkeit und Mischfinanzierung im Bereich
        der kommunalen Bildungsinfrastruktur eine Gelegen-
        heit bietet . Vor allem hinsichtlich der von SPD und den
        Grünen regierten Länder habe ich diese Sorge, wenn ich
        einen Blick in die Vergangenheit werfe . Ich habe die
        ernsthafte Befürchtung, dass Länder bei Investitionsbe-
        darf regelmäßig an den Bund verweisen und sich die Er-
        weiterung der Mitfinanzierungsmöglichkeit zu einer fak-
        tischen Mitfinanzierungspflicht entwickelt, obwohl die
        Kommunen ausdrücklich Gliederungen der Länder sind,
        nicht des Bundes . Die Föderalismusreform von 2006 hat-
        te das Ziel, solche für die Bürgerinnen und Bürger ver-
        wirrenden Situationen durch klare Verhältnisse zwischen
        Bund und Ländern zu vermeiden . Von dieser Maxime
        kehrt man nun aber leider ein Stück weit ab .
        Ebenso werden die Mischzuständigkeit und Mischfi-
        nanzierung der kommunalen Bildungsinfrastruktur wie
        „goldene Zügel“ wirken, die die grundgesetzlich garan-
        tierte kommunale Selbstverwaltung unterhöhlen . Als en-
        gagierter Kommunalpolitiker sehe ich diese Entwicklung
        mit Skepsis und stimme dem Gesetzentwurf daher auch
        nur unter dem beschriebenen Vorbehalt zu .
        Mechthild Rawert (SPD): Im Deutschen Bundestag
        wird am 1 . Juni 2017 über ein komplexes Gesetzespaket
        abgestimmt, welches aus vier keineswegs miteinander in
        Verbindung stehenden Regelungsbereichen besteht . Das
        ist durchaus ein Problem für mich, und erforderte harte
        Abwägungsprozesse . Insgesamt gibt es neun Abstim-
        mungen . In der dritten Lesung werde ich dem Gesamt-
        paket zustimmen – vor allem auch, weil damit wichtige
        Änderungen in Kraft treten, von denen wir in Berlin stark
        profitieren werden. Tempelhof-Schöneberg und Berlin
        sind nicht nur mein politisches und privates Zuhause .
        Für das Wohlergehen der Tempelhof-Schöneberger und
        -Schönebergerinnen und Berliner und Berlinerinnen tra-
        ge ich eine besondere Verantwortung .
        Das Gesetzespaket ist das Ergebnis langjähriger Ver-
        handlungen und der Einigung zwischen allen Minister-
        präsidenten und Ministerpräsidentinnen und dem Bund .
        Kernpunkt des Pakets ist die Neuregelung des Bund-Län-
        der-Finanzausgleichs ab dem Jahr 2020 . Zusätzlich wer-
        den ab 2020 den Ländern und Kommunen insgesamt
        9,7 Milliarden Euro vom Bund zur Verfügung gestellt,
        an die allerdings an strukturelle Veränderungen geknüpft
        sind. Die finanziellen Mittel dienen nicht nur der Sanie-
        rung von Schulen, sondern auch der Digitalisierung und
        Modernisierung der Verwaltung .
        Mit der von uns Sozialdemokraten und Sozialdemo-
        kratinnen hart erkämpften Auflockerung des Kooperati-
        onsverbotes zwischen Bund und Ländern im Bildungs-
        bereich werden Gelder für die Bildungsinfrastruktur in
        finanzschwachen Kommunen zur Verfügung gestellt, um
        beispielsweise Schulgebäude zu sanieren und zu moder-
        nisieren . Dafür stehen weitere 3,5 Milliarden Euro zur
        Verfügung . Das Geld geht vom Bund über die Länder
        an die Kommunen, die dann vor Ort entscheiden, wie
        es investiert wird . Die Neuregelung bringt für Berlin
        Rechts- und Planungssicherheit für den Zeitraum von
        2020 bis 2030 . Ohne die Neuregelung würden Berlin cir-
        ca 495 Millionen Euro pro Jahr fehlen . Der Wegfall der
        Solidarpaktmittel, Entflechtungsmittel und Konsolidie-
        rungshilfen würde zu schweren Risiken im Landeshaus-
        halt führen und wichtige Investitionen verhindern . Für
        uns Berliner und Berlinerinnen bedeutet die Neuregelung
        im Klartext, dass wir die Finanzierung unseres 5-Milli-
        arden-Schulsanierungsprogramms in den nächsten zehn
        Jahren sichergestellt haben .
        Ein weiterer Punkt ist die Neuregelung des Unter-
        haltsvorschusses für Alleinerziehende . Viele haben ein
        Riesenproblem, wenn der unterhaltspflichtige Elternteil
        nicht zahlt . Mit der Neuregelung wird der Unterhalt dem-
        nächst über das 12 . Lebensjahr hinaus bis zum 18 . Le-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724218
        (A) (C)
        (B) (D)
        bensjahr des Kindes sichergestellt . Dies ist eine immense
        Hilfe für viele alleinerziehende Eltern, die einem großen
        Armutsrisiko ausgesetzt sind . Von dieser Verbesserung
        werden bundesweit über 260 000 Kinder profitieren. Ich
        freue mich darüber, dass diese von uns Sozialdemokra-
        ten und Sozialdemokratinnen erkämpften Investitionen
        direkt bei den Familien ankommen .
        Der sicherlich umstrittenste und schwierigste Teil des
        Gesetzespaketes ist die Infrastrukturgesellschaft Verkehr .
        Der ursprüngliche Gesetzentwurf der Bundesregierung
        hatte hier die Tür für massive Privatisierungen geöffnet,
        die bei uns Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen
        und vielen anderen Vereinen, Verbänden und Organi-
        sationen auf massiven Widerstand gestoßen sind . Als
        SPD-Bundestagsfraktion konnten wir bei den parlamen-
        tarischen Beratungen nun aber Regelungen durchsetzen,
        die die Privatisierung des Bundesautobahn- und Bun-
        desfernstraßennetzes verhindern . Ich habe mich für eine
        Infrastrukturgesellschaft Verkehr als Anstalt des öffentli-
        chen Rechts und nicht in einer privaten Rechtsform ein-
        gesetzt . Deswegen habe ich in der zweiten Lesung gegen
        diese Änderung des Grundgesetzes gestimmt .
        Im Laufe der Verhandlungen über die Verwaltung und
        den Bau von Autobahnen und Bundesfernstraßen konnte
        die SPD-Fraktion eine doppelte Privatisierungsschranke
        im Grundgesetz verankern, die mögliche Privatisierungs-
        risiken unterbindet . Dadurch werden nicht nur die Bun-
        desfernstraßen selbst im unveräußerlichen und hundert-
        prozentigen Eigentum des Bundes bleiben, sondern auch
        die Infrastrukturgesellschaft, die für deren Planung, Bau
        und Betrieb zuständig sein wird . Eine unmittelbare oder
        mittelbare Beteiligung Dritter an der Infrastrukturgesell-
        schaft oder deren Tochtergesellschaften wird ebenfalls
        ausgeschlossen . Außerdem wird auch die funktionale Pri-
        vatisierung durch die Übertragung eigener Aufgaben der
        Gesellschaft auf Dritte, zum Beispiel durch sogenannte
        Teilnetz-ÖPPs verhindert . Ein vollständiger Ausschluss
        von öffentlich-privaten Partnerschaften (ÖPP) war gegen
        den Widerstand von CDU/CSU nicht durchsetzbar . Die
        erreichte Begrenzung auf Teilstücke ist aber ein deutli-
        cher Fortschritt gegenüber dem bestehenden Rechtsrah-
        men . ÖPP werden im Grundgesetz nun zum ersten Mal
        überhaupt eingeschränkt .
        Das wirtschaftliche Eigentum an den Bundesfern-
        straßen bleibt beim Bund, dieser ist Mautgläubiger der
        Lkw-Maut und der Pkw-Maut . Die neue bundeseigene
        Infrastrukturgesellschaft wird vollständig staatlich über
        den Bundeshaushalt finanziert und darf keine Kredite
        von Dritten aufnehmen .
        Die demokratische Kontrolle ist auch gesichert: Mit-
        glieder des Deutschen Bundestages werden im Auf-
        sichtsrat der Infrastrukturgesellschaft vertreten sein, und
        der Bundesrechnungshof kontrolliert die Gesellschaft .
        Mit diesen Änderungen können wir sicherstellen, dass
        die theoretisch möglichen Hintertüren für eine Privatisie-
        rung fest verschlossen sind .
        Als Sozialdemokratin liegt mir die Zukunft der circa
        11 000 Beschäftigten, die von den Straßenbauverwaltun-
        gen der Länder künftig zum Bund wechseln sollen, sehr
        am Herzen . Wir konnten die Kernforderungen der Ge-
        werkschaften nach Überleitungstarifverträgen durchset-
        zen und die Interessen der Beschäftigten unter Wahrung
        ihrer Besitzstände schützen . Wir haben viel erreicht: Das
        wurde uns von Verdi auf der SPD-Fraktionssitzung am
        30 .05 .2017 auch bestätigt .
        Auch der Bundesrechnungshof und andere Sachver-
        ständige, die den ursprünglichen Entwurf der Bundes-
        regierung zu Recht scharf kritisierten, haben uns ihre
        positive Bewertung durch die Änderungen des Gesetz-
        entwurfes bestätigt .
        Unter Abwägung aller Gesichtspunkte kann ich sagen,
        dass im Ergebnis ein Gesetzespaket zustande kam, dem
        ich als Berliner SPD-Abgeordnete zustimmen kann . Er-
        reicht wird vor allem ein großer Erfolg für Berlin, von
        dem unsere Schulen, unsere Verwaltung und die Berliner
        Familien in hohem Maße profitieren werden.
        Andreas Rimkus (SPD): Heute stimmen wir über
        das Gesetzespaket zur Neuregelung des bundesstaatli-
        chen Finanzausgleichs ab . Ausgangspunkt dieses Ge-
        setzgebungsverfahrens war eine Einigung zwischen al-
        len 16 Landesregierungen und der Bundesregierung im
        Oktober und Dezember 2016 über ein Paket von Maß-
        nahmen, die zum Teil Änderungen des Grundgesetzes
        erfordern, zum Teil einfachgesetzlich geregelt werden .
        Kernpunkt des Pakets ist die Neuregelung des Länderfi-
        nanzausgleichs ab dem Jahr 2020 . In dem Paket enthalten
        ist auch eine Lockerung des Kooperationsverbots im Bil-
        dungsbereich, die es dem Bund ermöglicht, Geld für Bil-
        dungsinfrastruktur in finanzschwachen Kommunen zur
        Verfügung zu stellen, um beispielsweise Schulgebäude
        zu sanieren und zu modernisieren . 3,5 Milliarden Euro
        stehen dafür zur Verfügung . Das Geld geht vom Bund
        über die Länder an die Kommunen, die dann vor Ort ent-
        scheiden, wie es investiert wird .
        Des Weiteren wird im Rahmen des Pakets der Unter-
        haltsvorschuss neu geregelt, den Alleinerziehende erhal-
        ten, wenn der eigentlich unterhaltspflichtige Elternteil
        nicht zahlt: Künftig wird nicht nur bis zum 12 . Geburts-
        tag des Kindes gezahlt, sondern bis zum 18 . Geburtstag,
        und während bislang maximal sechs Jahre lang gezahlt
        wurde, entfällt diese Befristung künftig komplett .
        Ein weiteres Element des Paketes sind die Gesetzent-
        würfe, mit denen Verwaltung und Bau von Autobahnen
        und sonstigen Bundesfernstraßen in Deutschland neu ge-
        ordnet werden . Schon mit dem Kabinettsbeschluss ist es
        der SPD gelungen, eine doppelte Privatisierungsschran-
        ke im Gesetzentwurf der Regierung zur Änderung des
        Grundgesetzes durchzusetzen . Im Grundgesetz selbst
        wird deswegen in Artikel 90 geregelt werden, dass nicht
        nur die Bundesfernstraßen selbst im unveräußerlichen,
        hundertprozentigen Eigentum des Bundes stehen, son-
        dern auch die Infrastrukturgesellschaft, die für deren Pla-
        nung, Bau und Betrieb zuständig sein wird . CDU-Finanz-
        minister Schäuble und CSU-Verkehrsminister Dobrindt
        wären bereit gewesen, 49 Prozent dieser Gesellschaft an
        private Investoren zu verkaufen . Das haben wir schon
        verhindert, noch bevor das Gesetzgebungsverfahren den
        Bundestag erreicht hat .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24219
        (A) (C)
        (B) (D)
        Ich habe viele Zuschriften zu diesem Thema erhalten .
        Viele Bürgerinnen und Bürger haben mich gebeten, ei-
        ner Autobahnprivatisierung nicht zuzustimmen . Für die
        SPD-Fraktion war dies wichtiger Rückenwind in den
        Verhandlungen mit der Unionsfraktion, die bereit gewe-
        sen wäre, einen wesentlichen Teil dieser Gesellschaft an
        private Investoren zu verkaufen . Dies hat die SPD erfolg-
        reich verhindert und zusätzlich harte Schranken für Pri-
        vatisierungsvorhaben geschaffen.
        Auch die wichtige Aufweichung des Kooperations-
        verbotes, die es uns endlich ermöglicht, in Schulinfra-
        struktur zu investieren und somit in die Zukunft unserer
        Kinder, sowie die Neuregelung des Unterhaltsvorschus-
        ses, die eine echte Entlastung für viele Alleinerziehende
        in diesem Land ist, wiegen so schwer, dass ich diesem
        Paket zustimmen werde . Als Sozialdemokrat kann ich
        die Schülerinnen und Schüler sowie alleinerziehende
        Väter und Mütter an dieser Stelle nicht im Stich lassen .
        Am Ende ist das verkehrspolitische Ziel der SPD, die
        neue Gesellschaft so zu gestalten, dass sie als gemein-
        wohlorientierte Einrichtung für ein effizientes Auto-
        bahnnetz in Deutschland sorgt, das allen Menschen in
        unserem Land zugute kommt . Ein Ausverkauf unserer
        Verkehrsinfrastruktur wird es mit einer Regierungsbetei-
        ligung der SPD auch in Zukunft nicht geben .
        Die SPD hat sich im Laufe des gesamten Verfahrens
        gegen eine Privatisierung der deutschen Autobahnen und
        Bundesstraßen gestellt und diese Position auch im Ge-
        setzgebungsverfahren zur Neuregelung der Bund-Län-
        der-Finanzbeziehungen durchgesetzt .
        In intensiven und schwierigen Verhandlungen mit
        CDU/CSU haben wir als SPD-Bundestagsfraktion nun
        zwei weitere Grundgesetzänderungen durchgesetzt, ob-
        wohl die Union dies vorher ausdrücklich ausgeschlossen
        hat . Dies ist ein besonderer Erfolg der SPD!
        Eine unmittelbare oder mittelbare Beteiligung Dritter
        an der Infrastrukturgesellschaft und deren Tochtergesell-
        schaften wird in Artikel 90 Absatz 2 des Grundgesetzes
        ausgeschlossen . Damit ist klar: Die Gesellschaft bleibt zu
        100 Prozent staatlich, null Prozent privat .
        Ausgeschlossen wird auch eine funktionale Priva-
        tisierung durch die Übertragung eigener Aufgaben der
        Gesellschaft auf Dritte, zum Beispiel durch sogenannte
        Teilnetz-ÖPP . In Artikel 90 Absatz 2 des Grundgesetzes
        wird dazu der Satz eingefügt: „Eine Beteiligung Priva-
        ter im Rahmen von Öffentlich-Privaten Partnerschaften
        ist ausgeschlossen für Streckennetze, die das gesamte
        Bundesautobahnnetz oder das gesamte Netz sonstiger
        Bundesfernstraßen in einem Land oder wesentliche Teile
        davon umfassen .“ Einfachgesetzlich wird geregelt, dass
        öffentlich-private Partnerschaften (ÖPP) nur auf der Ebe-
        ne von Einzelprojekten bis maximal 100 Kilometer Län-
        ge erfolgen, die nicht räumlich miteinander verbunden
        sein dürfen .
        Mit diesen Grundgesetzänderungen und vielen ein-
        fachgesetzlichen Änderungen stellen wir sicher, dass
        auch theoretisch mögliche Hintertüren für eine Privati-
        sierung fest verschlossen sind . Vieles, was bislang recht-
        lich möglich gewesen wäre bei der Einbeziehung privater
        Betreiber und institutioneller Investoren, ist jetzt erstmals
        rechtlich ausgeschlossen . Manche Kritiker und manche
        Kampagne haben absurderweise gerade uns als SPD in
        den letzten Wochen unterstellt, mit den Grundgesetzän-
        derungen würden wir die Türen für eine Privatisierung
        öffnen. Das Gegenteil ist richtig: Wir schließen Türen,
        die bislang offen standen!
        Dies bestätigt uns auch der Bundesrechnungshof
        (BRH), der das Gesetzgebungsverfahren mit mehreren
        Berichten begleitet hat . In seinem jüngsten Bericht vom
        24 . Mai 2017 gleicht der BRH die Empfehlungen aus
        seinen Berichten mit den Änderungsanträgen der Koa-
        litionsfraktionen ab und kommt zusammenfassend unter
        anderem zu folgenden Ergebnissen:
        Der Änderungsantrag berücksichtigt in weiten Tei-
        len die Anregungen des Bundesrechnungshofes zur
        Organisation der Infrastrukturgesellschaft . Danach
        muss das Parlament einem möglichen Rechtsform-
        wechsel der Infrastrukturgesellschaft zustimmen .
        Darüber hinaus ist jegliche Privatisierung der Bun-
        desautobahnen ausgeschlossen . Die Gründung von
        regionalen Tochtergesellschaften ist nicht mehr
        zwingend vorgegeben, sondern steht nunmehr im
        Ermessen der Infrastrukturgesellschaft . Der Ände-
        rungsantrag enthält Regelungen zur Finanzierung
        der Infrastrukturgesellschaft, die die Empfehlun-
        gen des Bundesrechnungshofes berücksichtigen . So
        soll auch künftig der Bundesautobahnbau über den
        Bundeshaushalt finanziert werden. Dazu sollen der
        Infrastrukturgesellschaft Mauteinnahmen zur Ver-
        fügung gestellt werden. Überdies soll der Einfluss
        des Parlamentes auf die Verwaltung der Bundes-
        autobahnen gewahrt bleiben . Anstatt der ursprüng-
        lich geplanten staatsfernen soll eine staatsnahe In-
        frastrukturgesellschaft entstehen . Zudem sollen die
        Kreditfähigkeit der Infrastrukturgesellschaft einge-
        schränkt sowie stille Gesellschaften und Unterbetei-
        ligungen verhindert werden .
        Im Ergebnis haben wir als SPD die doppelte Privati-
        sierungsschranke des Regierungsentwurfs (Bund ist hun-
        dertprozentiger Eigentümer erstens der Autobahnen und
        zweitens der Autobahngesellschaft) mit weiteren Privati-
        sierungsschranken verstärkt .
        Neben den beiden Grundgesetzänderungen verweise
        ich auf folgende Punkte, die in der öffentlichen Diskus-
        sion immer wieder auftauchen und oft falsch dargestellt
        werden:
        Die Gesellschaft wird nicht kreditfähig . Damit ist die
        Gefahr einer Aufnahme von privatem Kapital zu hohen
        Zinsen gebannt. Um effizient wirtschaften und „atmen“
        zu können, kann die Gesellschaft aber Liquiditätshilfen
        (zinslose Darlehen) aus dem Bundeshaushalt erhalten,
        wie andere Bundesgesellschaften auch .
        Eine Übertragung von sogenannten Altschulden auf
        die Gesellschaft wird ausgeschlossen .
        Das wirtschaftliche Eigentum an den Bundesautobah-
        nen geht nicht auf die Gesellschaft über, sondern bleibt
        beim Bund . Die Übertragung und die Überlassung von
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724220
        (A) (C)
        (B) (D)
        Nießbrauchrechten und anderen Rechten werden ausge-
        schlossen .
        Mautgläubiger der Lkw-Maut und der Pkw-Maut
        bleibt der Bund . Die Option, dass die Gesellschaft das
        Mautaufkommen direkt vereinnahmen kann, wird gestri-
        chen .
        Die neue Gesellschaft wird als GmbH errichtet und da-
        mit als juristische Person des privaten Rechts . Es ist aber
        grob irreführend, „privatrechtlich“ mit „Privatisierung“
        gleichzusetzen . Deutschland organisiert zum Beispiel
        einen Großteil seiner internationalen Entwicklungshilfe
        über die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusam-
        menarbeit (GIZ), die ebenfalls eine GmbH ist . Trotzdem
        hat wohl noch niemand ernsthaft behauptet, Deutschland
        habe seine Entwicklungshilfe privatisiert .
        Genauso irreführend ist die Behauptung, durch die
        Zulässigkeit einzelner ÖPP-Projekte werde die Privati-
        sierung eben doch noch ermöglicht .
        Erstens. Eine öffentlich-private Partnerschaft ist nicht
        das Gleiche wie Privatisierung .
        Aber selbst wenn man das annehmen möchte, gilt
        zweitens: ÖPP sind immer nur dann erlaubt, wenn sie
        wirtschaftlicher sind als die herkömmliche Beschaffung
        (Staat bzw . Gesellschaft bauen und betreiben selbst) –
        was bei einer effizient arbeitenden neuen Gesellschaft
        seltener der Fall sein wird als in den jetzigen Struktu-
        ren (weswegen beispielsweise die österreichische Auto-
        bahngesellschaft ASFINAG kein einziges ÖPP-Projekt
        macht, obwohl sie könnte) .
        Drittens und aus meiner Sicht am wichtigsten: ÖPP
        bleibt auf Einzelprojekte beschränkt, und durch die von
        uns durchgesetzte Grundgesetzänderung ist es dauerhaft
        verboten, ein ÖPP-Projekt an das andere zu setzen, bis
        irgendwann wesentliche Teile des Autobahnnetzes oder
        des Bundesstraßennetzes in einem Bundesland als ÖPP
        betrieben werden .
        Uns Sozialdemokraten war aber nicht nur der Aus-
        schluss von Privatisierungsoptionen wichtig, sondern
        auch die Zukunft der Beschäftigten, die gegenwärtig
        in den Straßenbauverwaltungen der Länder beschäftigt
        sind und künftig zum Bund wechseln sollen . Wir haben
        Kernforderungen der Gewerkschaften durchgesetzt, um
        die berechtigten Interessen der Beschäftigten zu schützen
        und eine leistungsfähige neue Organisation zu schaffen,
        die ein attraktiver Arbeitgeber wird . So wird der Bund
        alle wechselbereiten Beschäftigten (Beamte, Arbeitneh-
        mer und Auszubildende) unter Wahrung ihrer Besitzstän-
        de übernehmen (keine „Rosinenpickerei“) . Nicht wech-
        selbereite Beschäftigte bei Ländern und Kommunen
        werden weiterbeschäftigt, deren Personalkosten werden
        voll erstattet . Für die Beschäftigten bei der Gesellschaft
        sind Tarifverträge abzuschließen . Für die Überleitung
        der Beschäftigten werden Überleitungstarifverträge
        angestrebt . Beides wird gesetzlich geregelt . Die Perso-
        nalvertretungen werden an der Arbeit des begleitenden
        Bund-Länder-Gremiums beteiligt, sofern Belange der
        Beschäftigten berührt sind .
        Zu guter Letzt war uns wichtig, dass die Reform nicht
        zu weniger demokratischer Kontrolle und Einflussnahme
        führt, sondern dass die Informations- und Steuerungs-
        rechte des Bundestages gewahrt bleiben . So bedürfen
        zum Beispiel der Gesellschaftsvertrag der GmbH und
        wesentliche Änderungen der vorherigen Zustimmung
        durch den Haushaltsausschuss und den Verkehrsaus-
        schuss des Deutschen Bundestages . Mitglieder des Deut-
        schen Bundestages werden im Aufsichtsrat der Gesell-
        schaft vertreten sein . Der fünfjährige Finanzierungs- und
        Realisierungsplan der Gesellschaft bedarf der vorherigen
        Zustimmung durch den Haushaltsausschuss und den Ver-
        kehrsausschuss des Deutschen Bundestages . Eine unab-
        hängige externe Prüfung der Haushalts- und Wirtschafts-
        führung der Gesellschaft sowie möglicher Töchter wird
        sichergestellt, indem entsprechende Prüfrechte des Bun-
        desrechnungshofes verankert werden . Aus der ursprüng-
        lich geplanten staatsfernen Gesellschaft ist somit eine
        staatliche Gesellschaft geworden, die demokratischer
        Kontrolle unterliegt .
        Entscheidend sind am Ende die Verbesserungen, die
        die SPD-Fraktion im parlamentarischen Verfahren er-
        reicht hat:
        Eine Privatisierung der Autobahnen und Bundes-
        straßen findet nicht statt; mit dem Gesetz errichten wir
        Schranken, wo es vorher keine gab, auch im Grundge-
        setz .
        Wir haben die berechtigten Interessen der Beschäf-
        tigten geschützt und schaffen eine leistungsfähige neue
        Organisation, die ein attraktiver Arbeitgeber wird .
        Der Einfluss des demokratisch gewählten Parlaments
        auf die Verkehrsinvestitionen bleibt gewahrt .
        Annette Sawade (SPD): Der Deutsche Bundestag
        stimmt heute über die Neuregelung des bundesstaatli-
        chen Finanzausgleichssystems ab . Im parlamentarischen
        Verfahren ist es der SPD-Bundestagsfraktion gelungen,
        wichtige Änderungen am ursprünglich eingebrachten
        Gesetzentwurf durchzusetzen:
        Erstens . Zunächst ist zu beachten, dass der Bundes-
        tag über ein Regelungspaket zu entscheiden hat, das im
        Vorfeld bereits zwischen allen Ministerpräsidenten und
        der Bundesregierung abgestimmt worden ist . Da die
        Länder in den Finanzbeziehungen Erleichterungen durch
        den Bund erfahren haben, haben sie im Gegenzug zuge-
        standen, ein Stück ihrer Kompetenz im Bildungsbereich
        wieder an den Bund zu geben und in diesem Zusam-
        menhang auch Bau, Planung und Verwaltung von Bun-
        desstraßen bzw . Autobahnen dem Bund zu übertragen .
        Diese Verhandlung auf einer von der Verfassung nicht
        vorgesehenen Ebene zwischen Länderregierungen und
        Bundesregierung halte ich für äußerst kritikwürdig . Die
        Beratungen des Bundestages wurden deutlich dadurch er-
        schwert, dass die Ministerpräsidenten gemeinsam mit der
        Bundesregierung ein Gesamtpaket völlig unterschiedli-
        cher Regelungsbereiche verabschiedeten, die im Par-
        lament faktisch nicht mehr entkoppelt werden können .
        Umso beachtlicher sind die Veränderungen, die nun zur
        Abstimmung stehen. Unabhängig davon hoffe ich aber,
        dass alle Parteien aus dieser Situation zukünftig lernen .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24221
        (A) (C)
        (B) (D)
        Zweitens . Aus SPD-Sicht war in dem Regelungspaket
        von Anfang an die Ausweitung des Unterhaltsvorschus-
        ses zu begrüßen . Für fast 1 Million alleinerziehende El-
        tern und ihre Kinder stellt es einen wichtigen Fortschritt
        dar, dass berufstätige Alleinerziehende, bei denen der un-
        terhaltspflichtige Elternteil seinen Verpflichtungen nicht
        nachkommt, eine Erweiterung des Anspruches auf staat-
        liche Unterstützung erfahren . Die Altersgrenze wird von
        jetzt 12 Jahre auf 18 Jahre angehoben und die zeitliche
        Befristung von maximal sechs Jahren abgeschafft. Dieses
        wird dazu führen, dass die Doppelbelastung von Job und
        Kinderbetreuung besser bewältigt werden kann .
        Drittens . Ein großer Erfolg ist auch das Aufbrechen
        des Kooperationsverbotes im Bildungsbereich . Der
        Bund wird in die Lage versetzt, 3,5 Milliarden Euro für
        Bildungsinvestitionen in finanzschwachen Kommunen
        bereitzustellen. Eine vollständige Abschaffung des Ko-
        operationsverbots im Bildungsbereich bleibt ein wich-
        tiges Ziel sozialdemokratischer Politik . Bildung ist eine
        gesamtstaatliche Aufgabe . Dies ist aber zwischen den
        Koalitionspartnern umstritten .
        Viertens . In der Fassung des Regelungspaketes, die in
        erster Lesung im Parlament beraten wurde, haben sich
        die Länder in Artikel 90 des Grundgesetzes verpflich-
        tet, unter anderem die Verwaltung der Bundesautobah-
        nen an den Bund zu geben . Ferner war vorgesehen, dass
        der Bund sich dafür einer Gesellschaft privaten Rechts
        bedienen könne . Bereits in dieser Fassung war geregelt,
        dass das Eigentum des Bundes an den Autobahnen und
        Bundesstraßen unveräußerlich ist . Allerdings befürchte-
        ten viele Bürgerinnen und Bürger in diesem Zusammen-
        hang, dass private Investoren über eine Beteiligung an
        der Gesellschaft zumindest mittelbar eine Privatisierung
        durch die Hintertür erreichen könnten .
        Nach wochenlangen Verhandlungen liegt nun eine
        Ergänzung des Verfassungstextes vor, der eine unmit-
        telbare oder mittelbare Beteiligung Privater an der Ge-
        sellschaft und deren Tochtergesellschaften ausdrücklich
        ausschließt . Der SPD-Bundestagsfraktion ist es zu ver-
        danken, dass somit alle Hintertüren für eine mögliche
        Privatisierung in der Verfassung selbst geschlossen wor-
        den sind .
        Öffentlich-private Partnerschaften gibt es bereits – sie
        werden nicht erst durch das hier vorliegende Regelungs-
        paket ermöglicht. Der Einfluss von öffentlich-privaten
        Partnerschaften (ÖPP) wird mit der vorliegenden Reform
        weiter beschränkt . ÖPP für Streckennetze, die das ge-
        samte Bundesautobahnnetz oder das gesamte Netz sons-
        tiger Bundesfernstraßen in einem Land oder wesentlicher
        Teile davon umfassen, sind ausgeschlossen . Es werden
        Möglichkeiten zur Einbeziehung privater Betreiber und
        institutioneller Investoren ausgeschlossen, die bislang
        noch bestehen . Hier ist der Gesetzentwurf ein echter
        Fortschritt . Dem Deutschen Bundestag – namentlich dem
        Haushalts- und dem Verkehrsausschuss – werden durch
        die Reform neue Kontrollmöglichkeiten eingeräumt, die
        dieser auch im Sinne des Interesses der Bürgerinnen und
        Bürger nutzen wird .
        Bereits vor dieser Reform hat die Koalition im aktu-
        ellen Bundesverkehrswegeplan den Anreiz für ÖPP ge-
        mindert, da Gelder nicht mehr nach Ländern, sondern
        nach Prioritäten vergeben werden . Auch durch die neu
        eingeführten, realistischeren Wirtschaftlichkeitsberech-
        nungen werden ÖPP reduziert, ebenso wie das in der
        neuen Gesellschaft eingeführte Planungsprinzip nach der
        Lebenszeit .
        Wichtig für mich ist auch, dass mit der vorliegen-
        den Reform das wirtschaftliche Eigentum der Bundes-
        fernstraßen unveräußerlich beim Bund bleibt . Die neue
        Gesellschaft ist lediglich für die Verwaltung zuständig,
        auch die Übertragung von Nießbrauchrechten – also die
        gewinnbringende Nutzung durch die Gesellschaft – ist
        ausgeschlossen . Die Gesellschaft wird auch nicht als
        Mautgläubigerin auftreten . Auch eine funktionale Pri-
        vatisierung durch die Übertragung eigener Aufgaben der
        Gesellschaft auf Dritte ist nicht möglich .
        In enger Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften
        haben wir zudem die Rechte der Beschäftigten beim
        geplanten Personalübergang von den Straßenbauver-
        waltungen der Länder auf den Bund festgeschrieben . So
        gibt es zum Beispiel ein Widerspruchsrecht gegen den
        Übergang, und die besondere Situation des beamteten
        Personals wird berücksichtigt . Auch das ist für mich eine
        notwendige Voraussetzung für meine Zustimmung .
        Bedenken habe ich allerdings, ob ein Wechsel des
        Systems ohne größere Friktionen möglich ist und in ab-
        sehbarer Zeit die gewünschte größere Effizienz und Ef-
        fektivität tatsächlich erreicht werden können . Vielmehr
        sind durch die Umstellung deutliche Verzögerungen und
        Effizienzverluste möglich. Wichtig ist nun, dass der Ge-
        sellschaftsvertrag entsprechend im Sinne einer effizien-
        ten Arbeitsweise der neuen Gesellschaft gestaltet wird .
        Durch unsere Änderungen am Gesetz wird hierfür das
        Parlament zuständig sein .
        Obwohl ich weiterhin nicht sicher bin, dass die er-
        hofften Verbesserungen mit der vorliegenden Reform der
        Straßenbauverwaltung tatsächlich erreicht werden kön-
        nen, habe ich bei meiner Entscheidung auch die anderen
        Aspekte dieses Gesetzes zu berücksichtigen . Die um-
        fassende Reform der Bund-Länder-Beziehungen ist ein
        wichtiger Schritt zu einer nachhaltigen Finanzierung der
        Länder . Zusätzlich sind die Einschränkung des Koopera-
        tionsverbots, das Investitionsprogramm für Kommunen
        und der Unterhaltsvorschuss für Alleinerziehende wich-
        tige Zukunftsprojekte, die das Leben vieler Menschen
        spürbar verbessern werden . In Abwägung dieser Dinge
        und angesichts der Tatsache, dass die wesentlichen Män-
        gel der Infrastrukturgesellschaft Verkehr einfachgesetz-
        lich behoben werden können, stimme ich dem Gesetz-
        entwurf zu .
        Dr. Nina Scheer (SPD): Der Deutsche Bundestag
        stimmt heute über die Entwürfe der Bundesregierung
        zur Änderung des Grundgesetzes und zur Neuregelung
        des bundesstaatlichen Finanzausgleichssystems ab dem
        Jahr 2020 ab .
        Erstens . Nach mehr als zwei Jahren Verhandlungen
        hatten sich Länder und Bundesregierung – ohne Beteili-
        gung des Parlaments – im Dezember 2016 auf eine Neu-
        ordnung der Finanzbeziehungen für die Zeit nach 2019
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724222
        (A) (C)
        (B) (D)
        verständigt . Danach übernimmt der Bund im Ergebnis
        künftig eine deutlich stärkere Rolle beim Ausgleich der
        Finanzkraft zwischen den Bundesländern . Finanzstar-
        ke Länder sollen dabei entlastet werden . Diesen Ansatz
        sehe ich kritisch; ich halte es für nicht sachgerecht, dass
        ein solch wesentlich die Ausgeglichenheit von Lebens-
        verhältnissen und Entwicklungsperspektiven innerhalb
        Deutschlands mitbestimmendes Regelwerk ohne inhalt-
        liche Beteiligung des Deutschen Bundestages erfolgt .
        Zugleich drängt die Zeit und Notwendigkeit einer Neu-
        regelung des Bund-Länder-Finanzausgleichs, da die bis-
        herige Solidarsystematik ausläuft . So verbleibt bis heute
        nur die Möglichkeit, die bereits zwischen den Ländern
        und der Bundesregierung geeinigte Neuregelung seitens
        des Bundestages zu beschließen .
        Zweitens . Ferner enthalten ist die Gründung einer Ver-
        kehrsinfrastrukturgesellschaft des Bundes, die den Bau,
        die Planung und Verwaltung der Autobahnen und weiterer
        Bundesstraßen neu organisieren soll . Auf Druck der SPD
        wurden die Pläne von CDU-Finanzminister Schäuble
        und CSU-Verkehrsminister Dobrindt, private Unterneh-
        men umfangreich an den Autobahnen in Deutschland be-
        teiligen zu können, entscheidend entschärft . Die Position
        der SPD hat sich im parlamentarischen Verfahren nicht
        geändert: Von Beginn an haben wir uns klar gegen eine
        Privatisierung der Verkehrsinfrastruktur ausgesprochen
        und entsprechende Änderungen an den Gesetzentwür-
        fen eingefordert . In mehreren Verhandlungsrunden mit
        dem Koalitionspartner konnten wir somit umfangreiche
        Änderungen durchsetzen und Privatisierungsschranken
        einziehen .
        Zusammengefasst konnten wir diesbezüglich Folgen-
        des durchsetzen:
        1 . „Eine unmittelbare oder mittelbare Beteiligung
        Dritter an der Infrastrukturgesellschaft und möglichen
        Tochtergesellschaften ist ausgeschlossen .“ Dies wird
        verfassungsrechtlich und einfachgesetzlich geregelt .
        2 . Eine funktionale Privatisierung durch die Übertra-
        gung eigener Aufgaben der Gesellschaft auf Dritte, zum
        Beispiel durch Teilnetz-ÖPP, wird ausgeschlossen . In Ar-
        tikel 90 Absatz 2 des Grundgesetzes wird dazu der Satz
        eingefügt: „Eine Beteiligung Privater im Rahmen von
        Öffentlich-Privaten Partnerschaften ist ausgeschlossen
        für Streckennetze, die das gesamte Bundesautobahnnetz
        oder das gesamte Netz sonstiger Bundesfernstraßen in ei-
        nem Land oder wesentliche Teile davon umfassen .“
        3 . Eine Übertragung von Altschulden auf die Gesell-
        schaft wird ausgeschlossen .
        4 . Die Gesellschaft wird nicht kreditfähig . Damit ist
        die Gefahr einer Aufnahme von privatem Kapital zu
        hohen Zinsen gebannt. Um effizient wirtschaften und
        „atmen“ zu können, kann die Gesellschaft aber Liquidi-
        tätshilfen – zinslose Darlehen – aus dem Bundeshaushalt
        erhalten – wie andere Bundesgesellschaften auch .
        5 . Das wirtschaftliche Eigentum an den Fernstraßen
        geht nicht an die Gesellschaft über, sondern bleibt beim
        Bund . Die Übertragung und die Überlassung von (Nieß-
        brauch-)Rechten werden ausgeschlossen .
        6 . Mautgläubiger bleibt der Bund – für Lkw-Maut und
        Pkw-Maut . Die Option, dass die Gesellschaft das Maut-
        aufkommen direkt vereinnahmen kann, ist gestrichen .
        Die zweckgebundenen Einnahmen – Lkw-Maut, Pkw-
        Maut – fließen der Gesellschaft wie bisher über den Bun-
        deshaushalt zu .
        7 . Das Verkehrsministerium kann Befugnisse und
        Aufgaben der Gesellschaft und des Fernstraßen-Bundes-
        amtes nur dann auf andere vom Bund gegründete Ge-
        sellschaften übertragen, wenn diese im ausschließlichen
        Eigentum des Bundes stehen .
        8 . Spartengesellschaften sind ausgeschlossen . Zur
        Herstellung der Präsenz in der Fläche kann die Gesell-
        schaft aber bedarfsgerecht bis zu zehn regionale Toch-
        tergesellschaften gründen, die denselben Restriktionen
        unterliegen wie die Muttergesellschaft .
        9 . Die Gesellschaft wird als GmbH errichtet . Die
        Evaluationsklausel, die eine einfache Umwandlung zur
        AG ermöglicht hätte, wird gestrichen .
        10 . Der Gesellschaftsvertrag (= Satzung) der GmbH
        und wesentliche Änderungen bedürfen der vorherigen
        Zustimmung durch den Haushaltsausschuss und den Ver-
        kehrsausschuss des Deutschen Bundestages .
        11 . Eine unabhängige externe Prüfung der Haushalts-
        und Wirtschaftsführung der Gesellschaft sowie mögli-
        cher Töchter wird sichergestellt, indem entsprechende
        Prüfrechte des Bundesrechnungshofes verankert werden .
        12. Kontroll- und Einflussmöglichkeiten des Parla-
        ments auf Verkehrsinvestitionen bleiben vollumfänglich
        erhalten .
        13 . Der fünfjährige Finanzierungs- und Realisierungs-
        plan für Verkehrsinvestitionen der Gesellschaft bedarf
        der vorherigen Zustimmung durch den Haushaltsaus-
        schuss und den Verkehrsausschuss des Deutschen Bun-
        destages – während dieser Fünfjahresplan nach heutigem
        Recht den Ausschüssen vom Verkehrsministerium nur
        „zur Kenntnis“ und damit ohne Zustimmungsvorbehalt
        vorgelegt wird .
        Für die circa 11 000 Beschäftigten der Straßenbauver-
        waltungen der Länder, die in den nächsten Jahren ver-
        mutlich überwiegend zum Bund wechseln werden, konn-
        ten wir folgende Verbesserungen erreichen:
        1 . Zum Personalübergang von den Straßenbauverwal-
        tungen der Länder werden – abweichend vom Regie-
        rungsentwurf – die Mitbestimmung der Beschäftigten
        gestärkt, die Freiwilligkeit zum Prinzip erhoben und
        die vorgesehenen Eingriffe in die Tarifautonomie kor-
        rigiert – Kernforderungen der Gewerkschaften werden
        damit umgesetzt .
        2 . Der Bund wird alle wechselbereiten Beschäftig-
        ten – bis zu 11 000 Beamte, Arbeitnehmer und Auszubil-
        dende – übernehmen . Nicht wechselbereite Beschäftigte
        bei Ländern und Kommunen werden weiterbeschäftigt,
        deren Personalkosten werden den Ländern voll erstattet .
        3 . Das Widerspruchsrecht wird unmissverständlich
        verankert: Die Vorschriften des § 613a BGB über den
        Betriebsübergang finden analog Anwendung. Die Wei-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24223
        (A) (C)
        (B) (D)
        terverwendung erfolgt grundsätzlich am bisherigen Ar-
        beitsplatz und Arbeitsort .
        4 . Für die Beschäftigten bei der Gesellschaft sind Ta-
        rifverträge abzuschließen . Für die Überleitung der Be-
        schäftigten werden Überleitungstarifverträge angestrebt .
        Beides wird gesetzlich geregelt .
        5 . Die Personalvertretungen werden an der Arbeit des
        begleitenden Bund-Länder-Gremiums beteiligt, sofern
        Belange der Beschäftigten berührt sind .
        6 . Der Übergang erfolgt zügig, die neue Struktur soll
        schnell leistungsfähig sein . Die Gesellschaft soll deutlich
        früher den Betrieb aufnehmen als zum 1 . Januar 2021,
        wie im Regierungsentwurf vorgesehen . Sie wird 2018
        gegründet. Ferner wird die Verkehrsinfrastrukturfinan-
        zierungsgesellschaft (VIFG) zum 1 . Januar 2019 auf die
        neue Gesellschaft verschmolzen, anstatt ihre Aufgaben
        scheibchenweise zu übertragen und die VIFG dann auf-
        zulösen .
        7 . Die Auftragsverwaltung kann schon vor dem
        31 . Dezember 2020 beendet werden . Die Gesellschaft
        kann ab dem 1 . Januar 2020 im Einvernehmen mit dem
        jeweiligen Land die Planung und den Bau von Bundesau-
        tobahnen wahrnehmen .
        8 . Sobald ein Land sein auf die Gesellschaft zu über-
        tragendes Personal und die Sachmittel vollständig über-
        tragen hat, übernimmt der Bund auch vor 2021 die Kos-
        ten für die vom Bund veranlassten Planungen . Damit
        wird Fehlanreizen für die Länder bei ihren Planungsleis-
        tungen entgegengesteuert .
        Drittens . Mit einem weiteren Baustein des Gesetzespa-
        kets werden 3,5 Milliarden Euro für die Bildungsinfra-
        struktur in finanzschwachen Kommunen zur Verfügung
        gestellt . Dadurch kann der teils massive Sanierungsstau
        an deutschen Schulen – zumindest teilweise – beseitigt
        werden . Ermöglicht wird dies durch den Aufbruch des im
        Grundgesetz verankerten Kooperationsverbots . Dies hat
        die SPD durchgesetzt .
        Viertens. Im Gesamtpaket findet sich eine wesentliche
        Erleichterung für alle Alleinerziehenden und ihre Kin-
        der: Der Unterhaltsvorschuss wird deutlich ausgebaut .
        Zum einen wird die Altersgrenze angehoben von jetzt 12
        auf 18 Jahre . Zum anderen wird die bisherige zeitliche
        Befristung von maximal sechs Jahren Bezugsdauer ab-
        geschafft. Der Bund beteiligt sich nach der Ausweitung
        deutlich mehr an den Kosten des Unterhaltsvorschusses .
        Da es für Alleinerziehende besonders schwer ist, Er-
        werbsarbeit und Kinderbetreuung miteinander zu verein-
        baren, ist diese Reform ein großes Stück mehr Gerechtig-
        keit in unserem Land .
        Insgesamt stimme ich dem Gesetzespaket in einer Ab-
        wägung, wonach die Verbesserungen gegenüber even-
        tuell eintretenden Verschlechterungen überwiegen, zu .
        Zwar war ein völliger Ausschluss von ÖPP im Grundge-
        setz mit dem Koalitionspartner nicht zu realisieren . Mit
        den ergänzenden einfachgesetzlichen Schranken wird
        aber eine Eingrenzung von ÖPP vorgenommen, die es
        mit der bisherigen Rechtslage nicht gab . ÖPP wird somit
        nun weitgehend ausgeschlossen .
        Gleichwohl besteht die Gefahr, dass unter einer zu-
        künftigen schwarz-gelben Koalition im Deutschen Bun-
        destag die gesetzlichen Restriktionen, die wir von der
        SPD eingebracht haben und heute für die Verkehrsinfra-
        strukturgesellschaft des Bundes beschließen, ausgehebelt
        werden könnten . Mit dem vorliegenden Gesetzespaket
        konnten wir leider nicht so weitgehende Privatisierungs-
        schranken grundgesetzlich sichern, dass nicht mit an-
        deren Mehrheitsverhältnissen und einfachgesetzlichen
        Änderungen einige jetzt eingezogenen Schranken wieder
        aufgebrochen werden können . Die Unionsfraktion hat
        leider alle noch weitergehenden Schranken verweigert .
        Eben dieser Aspekt, wie auch die Frage, ob die zu grün-
        dende Infrastrukturgesellschaft zu zeitlichen Verzöge-
        rungen in der Umsetzung von anstehenden Bauvorhaben
        führen kann, wirken als politische Aufgabe fort und soll-
        ten als Appell verstanden werden, mit der anstehenden
        Bundestageswahl kein Mehrheitsverhältnis zu ermögli-
        chen, das für Privatisierung spräche .
        Udo Schiefner (SPD): Deutschland braucht eine
        leistungsfähige und flächendeckende Verkehrsinfrastruk-
        tur . Dieser Bundestag hat für die Finanzierung der Ver-
        kehrsinfrastruktur in den letzten Jahren deutlich mehr
        Mittel zur Verfügung gestellt . Es braucht jedoch nicht
        nur Geld, sondern das Geld muss auch effizient einge-
        setzt werden . Planung, Bau und Erhalt der Bundesauto-
        bahnen und Bundesfernstraßen in der jetzigen Auftrags-
        verwaltung der Länder funktionieren aber nicht optimal .
        Das ist auf allen politischen Ebenen erkannt und benannt
        worden . Eine Reform dieser Strukturen ist dringend ge-
        boten . Deshalb ist eine veränderte Auftragsverwaltung
        nun Teil eines umfangreichen Pakets zur Änderung der
        Bund-Länder-Finanzbeziehungen, das zwischen Bund
        und allen Bundesländern einstimmig verabredet wurde .
        Neben der Reform der Auftragsverwaltung war hierzu
        schon länger die Gründung einer Bundesfernstraßenge-
        sellschaft im Gespräch . Ein entsprechendes Konzept, wie
        es die Arbeitsgruppen Verkehr, Wirtschaft und Haushalt
        der SPD-Bundestagsfraktion vorgelegt hatten, fand und
        findet meine volle Unterstützung. Der von der Bundes-
        regierung ursprünglich vorgelegte Entwurf hatte unseren
        verkehrspolitischen Anforderungen allerdings zum ei-
        nen nicht ausreichend Rechnung getragen; zum anderen
        wies er gravierende Mängel hinsichtlich Privatisierung,
        Struktur, Beteiligung der Politik und Mitarbeiterrechten
        auf . Er war nicht zustimmungsfähig . Deshalb haben wir
        in langen Verhandlungen aus meiner Sicht wesentliche
        Änderungen durchgesetzt .
        Es wird behauptet, die Bundesfernstraßengesellschaft
        schaffe Hintertüren zur Privatisierung. Dies tue sie vor
        allem, weil sie eine GmbH, also eine juristische Person
        des privaten Rechts, sein werde. Eine GmbH in öffent-
        lichem Besitz ist jedoch nicht per se gewinnorientiert .
        Die Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft oder
        die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit zum
        Beispiel oder auch kommunale Unternehmen, wie Stadt-
        werke, sind dies ebenfalls nicht . Die dafür notwendigen
        Schranken haben wir durchgesetzt . Die Behauptung, es
        bestünden weiterhin Hintertüren zur Privatisierung, ist
        unzutreffend. Die von uns durchgesetzten Änderungen
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724224
        (A) (C)
        (B) (D)
        an den Grundgesetzartikeln und den dazugehörigen Be-
        gleitgesetzen verhindern ebendies dauerhaft . Auch der
        Einfluss von öffentlich-privaten Partnerschaften wird mit
        der vorliegenden Reform weiter beschränkt . Möglichkei-
        ten zur Einbeziehung privater Betreiber und institutionel-
        ler Investoren, die bislang noch bestehen, werden ausge-
        schlossen . Hier stellt der jetzt vorliegende Gesetzentwurf
        einen echten Fortschritt dar . Dem Deutschen Bundestag,
        dem Haushalts- und dem Verkehrsausschuss, werden
        durch die Reform weitreichende neue Kontroll- und Mit-
        wirkungsmöglichkeiten eingeräumt . Das wirtschaftliche
        Eigentum der Bundesfernstraßen bleibt zudem unveräu-
        ßerlich beim Bund . Die neue Gesellschaft ist lediglich
        für die Verwaltung zuständig . Auch eine funktionale Pri-
        vatisierung durch die Übertragung eigener Aufgaben der
        Gesellschaft auf Dritte ist nicht möglich .
        Die SPD-Bundestagsfraktion musste und konnte sich
        in zentralen Punkten gegenüber ihren Koalitionspartnern
        durchsetzen . Im Ergebnis führt die Reform nun nicht
        mehr zu weniger demokratischer Kontrolle und Einfluss-
        nahme, sondern die Informations- und Steuerungsrechte
        des Bundestages werden gestärkt . Der Bundesrechnungs-
        hof unterstreicht die Verhandlungserfolge der SPD-Bun-
        destagsfraktion: „Anstatt der ursprünglich geplanten
        staatsfernen soll eine staatsnahe Infrastrukturgesellschaft
        entstehen .“ Die bundeseigene Verwaltung verspricht zü-
        gigere Baumaßnahmen, und ich erwarte eine neue Ge-
        sellschaft, die gemeinwohlorientiert für ein effizienteres
        Autobahnnetz in Deutschland sorgen kann . So kann ich
        den Gesetzesänderungen heute zustimmen .
        Dr. Dorothee Schlegel (SPD): Der Deutsche Bun-
        destag stimmt heute über die Neuregelung des bundes-
        staatlichen Finanzausgleichssystems ab . Im parlamen-
        tarischen Verfahren ist es der SPD-Bundestagsfraktion
        gelungen, wichtige Änderungen am ursprünglich einge-
        brachten Gesetzentwurf durchzusetzen:
        Erstens . Zunächst ist zu beachten, dass der Bundes-
        tag über ein Regelungspaket zu entscheiden hat, das im
        Vorfeld bereits zwischen allen Ministerpräsidenten und
        der Bundesregierung abgestimmt worden ist . Da die
        Länder in den Finanzbeziehungen Erleichterungen durch
        den Bund erfahren haben, haben sie im Gegenzug zuge-
        standen, ein Stück ihrer Kompetenz im Bildungsbereich
        wieder an den Bund zu geben und in diesem Zusam-
        menhang auch Bau, Planung und Verwaltung von Bun-
        desstraßen bzw . Autobahnen dem Bund zu übertragen .
        Diese Verhandlung auf einer von der Verfassung nicht
        vorgesehenen Ebene zwischen Länderregierungen und
        Bundesregierung halte ich für äußerst kritikwürdig . Die
        Beratungen des Bundestages wurden deutlich dadurch er-
        schwert, dass die Ministerpräsidenten gemeinsam mit der
        Bundesregierung ein Gesamtpaket völlig unterschiedli-
        cher Regelungsbereiche verabschiedeten, die im Par-
        lament faktisch nicht mehr entkoppelt werden können .
        Umso beachtlicher sind die Veränderungen, die nun zur
        Abstimmung stehen. Unabhängig davon hoffe ich aber,
        dass alle Parteien aus dieser Situation zukünftig lernen .
        Zweitens . Aus SPD-Sicht war in dem Regelungspaket
        von Anfang an die Ausweitung des Unterhaltsvorschus-
        ses zu begrüßen . Für fast 1 Million alleinerziehende El-
        tern und ihre Kinder stellt es einen wichtigen Fortschritt
        dar, dass berufstätige Alleinerziehende, bei denen der un-
        terhaltspflichtige Elternteil seinen Verpflichtungen nicht
        nachkommt, eine Erweiterung des Anspruches auf staat-
        liche Unterstützung erfahren . Die Altersgrenze wird von
        jetzt 12 Jahre auf 18 Jahre angehoben und die zeitliche
        Befristung von maximal sechs Jahren abgeschafft. Dieses
        wird dazu führen, dass die Doppelbelastung von Job und
        Kinderbetreuung besser bewältigt werden kann .
        Drittens . Ein großer Erfolg ist auch das Aufbrechen
        des Kooperationsverbotes im Bildungsbereich . Der
        Bund wird in die Lage versetzt, 3,5 Milliarden Euro für
        Bildungsinvestitionen in finanzschwachen Kommunen
        bereitzustellen. Eine vollständige Abschaffung des Ko-
        operationsverbots im Bildungsbereich bleibt ein wich-
        tiges Ziel sozialdemokratischer Politik . Bildung ist eine
        gesamtstaatliche Aufgabe . Dies ist aber zwischen den
        Koalitionspartnern umstritten .
        Viertens . In der Fassung des Regelungspaketes, die in
        erster Lesung im Parlament beraten wurde, haben sich
        die Länder in Artikel 90 des Grundgesetzes verpflich-
        tet, unter anderem die Verwaltung der Bundesautobah-
        nen an den Bund zu geben . Ferner war vorgesehen, dass
        der Bund sich dafür einer Gesellschaft privaten Rechts
        bedienen könne . Bereits in dieser Fassung war geregelt,
        dass das Eigentum des Bundes an den Autobahnen und
        Bundesstraßen unveräußerlich ist . Allerdings befürchte-
        ten viele Bürgerinnen und Bürger in diesem Zusammen-
        hang, dass private Investoren über eine Beteiligung an
        der Gesellschaft zumindest mittelbar eine Privatisierung
        durch die Hintertür erreichen könnten . Die Verlautba-
        rungen aus Bundesfinanzministerium und Bundesver-
        kehrsministerium verstärkten diesen Verdacht . Auch
        zivilgesellschaftliche Organisationen und der Bundes-
        rechnungshof kritisierten das Vorhaben scharf . Die Ge-
        werkschaft Verdi problematisierte insbesondere Fragen
        beim Personalübergang .
        Nach wochenlangen Verhandlungen liegt nun eine
        Ergänzung des Verfassungstextes vor, der eine unmit-
        telbare oder mittelbare Beteiligung Privater an der Ge-
        sellschaft und deren Tochtergesellschaften ausdrücklich
        ausschließt . Dem Engagement der SPD-Bundestagsfrak-
        tion ist es zu verdanken, dass somit alle Hintertüren für
        eine mögliche Privatisierung in der Verfassung selbst ge-
        schlossen worden sind . Zudem ist es gelungen, dass alle
        wechselbereiten Beschäftigten der Straßenbauverwal-
        tungen der Länder vom Bund übernommen und grund-
        sätzlich dort eingesetzt werden, wo sie bisher arbeiten .
        Die Verkehrsinfrastrukturgesellschaft ist verpflichtet,
        Tarifverträge für alle Beschäftigten abzuschließen . Ich
        empfinde es als Bestätigung dieser Position, dass auch
        die Gewerkschaft Verdi sowie der Bundesrechnungshof
        die Erfolge des parlamentarischen Verfahrens ausdrück-
        lich anerkennen .
        Darüber hinaus werden in der Debatte sogenannte öf-
        fentlich-private Partnerschaften (ÖPP) problematisiert .
        Die Partnerschaften gibt es bereits – sie werden nicht
        erst durch das hier vorliegende Regelungspaket ermög-
        licht . Doch selbst in diesem Bereich konnte nun durch
        das parlamentarische Verfahren eine Verbesserung er-
        reicht werden: Erstmalig werden in der Verfassung öf-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24225
        (A) (C)
        (B) (D)
        fentlich-private Partnerschaften für ganze Streckennetze
        oder wesentliche Teile explizit ausgeschlossen . Damit
        wird im Grundgesetz selbst ein klares Zeichen gegen die
        Ausweitung von ÖPP gesetzt .
        Die SPD-Bundestagsfraktion hätte sich eine noch wei-
        tergehende Regelung gewünscht . Dies war jedoch mit
        der CDU/CSU-Fraktion nicht möglich .
        Ich stimme dem Gesetzespaket dennoch zu .
        Demokratie und das Ringen im parlamentarischen
        Verfahren bringen selten Ergebnisse, die zu 100 Prozent
        den Forderungen einer einzelnen Fraktion entsprechen .
        Wer künftig ÖPP vollständig verhindern will, muss dafür
        eintreten, dass der Staat mehr Mittel in die Infrastruk-
        tur investiert, wie es die SPD fordert . Ein völliger Aus-
        schluss von ÖPP im Grundgesetz, der einer Zweidrittel-
        mehrheit in Bundestag und Bundesrat bedarf, war in der
        bestehenden Koalition nicht realisierbar . Deshalb werbe
        ich für die Anerkennung der Verhandlungserfolge im par-
        lamentarischen Verfahren und die Erhöhung des Drucks
        auf all die politischen Kräfte, die eine schwarze Null im
        Bundeshaushalt über politische Gestaltungsmöglichkei-
        ten stellen .
        Swen Schulz (Spandau) (SPD): Ich werde der erziel-
        ten Einigung über die Neuordnung der Finanzbeziehun-
        gen von Bund und Ländern zustimmen . Auf der Basis
        dieser Vereinbarungen steht ein Gesetzespaket mit vier
        Regelungskomplexen zur Abstimmung . In allen vier
        Komplexen hat sich die SPD-Bundestagsfraktion in we-
        sentlichen Fragen mit ihren Positionen durchsetzen kön-
        nen . Hinzu kommt, dass gerade für Berlinerinnen und
        Berliner erhebliche Vorteile erreicht wurden .
        Allerdings sehe ich auch schwierige Bestandteile des
        Gesetzespaketes . Das ist bei einem Kompromiss nicht
        nur innerhalb einer Koalition, sondern auch zwischen
        dem Bund und den 16 Bundesländern nicht anders zu er-
        warten . In der Gesamtbetrachtung überwiegen jedoch die
        positiven Elemente .
        Im Einzelnen:
        Die finanzielle Handlungsfähigkeit von Ländern und
        Kommunen wird nach dem Auslaufen des Solidarpaktes
        im Jahr 2019 gesichert . Das ist ein zentrales Anliegen
        der SPD-Bundestagsfraktion . Für Berlin ist diese Eini-
        gung nachgerade finanziell überlebenswichtig. Die Neu-
        regelung bedeutet jährliche Mehreinnahmen von etwa
        500 Millionen Euro gegenüber einer Nichteinigung .
        Wir haben erreicht, dass das bisher im Grundgesetz
        verankerte Kooperationsverbot von Bund und Ländern
        in der Bildung dauerhaft aufgebrochen wird . Darüber hi-
        naus werden ganz konkret 3,5 Milliarden Euro für Bil-
        dungsinvestitionen in finanzschwachen Kommunen zur
        Verfügung gestellt, um Schulgebäude zu sanieren und zu
        modernisieren . Das hat die SPD nach langen und intensi-
        ven Diskussionen gegen viele Widerstände durchgesetzt .
        Ich bin sicher, dass die Bildungskooperation eine wich-
        tige Weichenstellung für die Zukunft unseres Landes ist .
        Im Gesetzespaket enthalten ist außerdem die Aus-
        weitung des Unterhaltsvorschusses für Kinder über
        das 12 . Lebensjahr hinaus bis zur Volljährigkeit . Der
        SPD-Bundestagsfraktion war wichtig, auf diesem Weg
        Alleinerziehende und ihre Kinder besser zu unterstützen .
        Von der Verbesserung werden über 260 000 Kinder pro-
        fitieren.
        Der sicherlich umstrittenste und aus meiner Sicht auch
        schwierigste Teil des Gesetzespaketes ist die Infrastruk-
        turgesellschaft Verkehr . Der ursprüngliche Gesetzent-
        wurf der Bundesregierung hatte hier die Tür für massive
        Privatisierungen geöffnet. Hier haben wir bei den parla-
        mentarischen Beratungen nun Regelungen durchgesetzt,
        die die Privatisierung des Bundesautobahn- und Bundes-
        fernstraßennetzes verhindern .
        Im Grundgesetz selbst wird deswegen geregelt, dass
        nicht nur die Bundesfernstraßen selbst im unveräußerli-
        chen, hundertprozentigen Eigentum des Bundes stehen,
        sondern auch die Infrastrukturgesellschaft, die für de-
        ren Planung, Bau und Betrieb zuständig sein wird . An
        ihr können sich Private weder mittel- noch unmittelbar
        beteiligen . Auch Privatisierungen von Teilnetzen sind
        durch die Änderung des Grundgesetzes künftig ausge-
        schlossen .
        Das wirtschaftliche Eigentum an den Bundesfernstra-
        ßen bleibt beim Bund . Die neue bundeseigene Infrastruk-
        turgesellschaft wird vollständig staatlich über den Bun-
        deshaushalt finanziert und darf keine Kredite von Dritten
        aufnehmen . Die Kontrolle der Gesellschaft wird künftig
        durch den Bundesrechnungshof ebenso wie die Beteili-
        gung des Deutschen Bundestages sichergestellt .
        Der SPD-Bundestagsfraktion ist die Zukunft der rund
        11 000 Beschäftigten, die von den Straßenbauverwaltun-
        gen der Länder künftig zum Bund wechseln, sehr wich-
        tig . Wir konnten die Kernforderungen der Gewerkschaf-
        ten nach Überleitungstarifverträgen durchsetzen und die
        Interessen der Beschäftigten unter Wahrung ihrer Besitz-
        stände schützen .
        In der unter dem Strich positiven Bewertung der Än-
        derungen des Gesetzentwurfes werde ich übrigens vom
        Bundesrechnungshof, von Verdi sowie von weiteren
        Sachverständigen, die den ursprünglichen Entwurf der
        Bundesregierung scharf kritisiert hatten, bestätigt .
        Persönlich hätte ich mir noch mehr vorstellen können,
        nämlich den vollständigen Ausschluss von öffentlich-pri-
        vaten Partnerschaften (ÖPP) . Dafür fehlt jedoch die
        nötige Zweidrittelmehrheit zur Änderung des Grundge-
        setzes . Die erreichte Begrenzung auf Teilstücke ist aber
        ein deutlicher Fortschritt gegenüber dem bestehenden
        Rechtsrahmen, denn nun werden ÖPP zum ersten Mal
        eingeschränkt . Wir schließen Türen für Privatisierungen,
        die bislang offen standen.
        Ewald Schurer (SPD): Mit der heutigen Sitzung
        des Deutschen Bundestags wird die Neuordnung der
        Bund-Länder-Finanzbeziehungen beschlossen . Diese
        immens umfangreichen Gesetzesänderungen beinhalten
        unter anderem 13 Grundgesetzänderungen sowie zahlrei-
        che weitere einfachgesetzliche Regelungen . Das nun vor-
        liegende Gesetzespaket geht zurück auf eine Einigung
        zwischen der Bundesregierung und den Ländern vom
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724226
        (A) (C)
        (B) (D)
        Dezember 2016 als Ersatz für die auslaufenden Regelun-
        gen zum Bund-Länder-Finanzausgleich 2019 . Nach reif-
        licher Abwägung habe ich mich dazu entschieden, gegen
        dieses Paket zu stimmen .
        Der Grund für mich, dem Gesetzpaket meine Zustim-
        mung zu verweigern, ist die darin enthaltene Einführung
        einer Infrastrukturgesellschaft zur Sicherstellung der Fi-
        nanzierung der Bundesautobahnen . Bereits letztes Jahr
        habe ich mich zu diesem Thema klar positioniert: Einer
        Infrastrukturgesellschaft kann ich nur zustimmen, wenn
        diese die Form einer Gesellschaft öffentlichen Rechts hat
        und eine Privatisierung der Bundesautobahnen rechtssi-
        cher und unwiderruflich ausgeschlossen wird. Das ist in
        dem vorliegenden Kompromiss jedoch leider nicht der
        Fall .
        Zunächst möchte ich betonen, dass die SPD-Bundes-
        tagsfraktion sich in den Verhandlungen während der ver-
        gangenen Monate mit allem Nachdruck und unter zähem
        Ringen mit den Koalitionspartnern von CDU und CSU in
        zahlreichen wichtigen Punkten durchgesetzt und den ur-
        sprünglichen Inhalt des Regierungsentwurfs um nahezu
        180 Grad zugunsten des Allgemeinwohls und der parla-
        mentarischen Mitbestimmung gedreht hat .
        In dem Paket enthalten ist auch eine Lockerung des
        Kooperationsverbots im Bildungsbereich, die es dem
        Bund ermöglicht, Geld für Bildungsinfrastruktur in fi-
        nanzschwachen Kommunen zur Verfügung zu stellen,
        um beispielsweise Schulgebäude zu sanieren und zu mo-
        dernisieren . 3,5 Milliarden Euro stehen dafür zur Verfü-
        gung . Das Geld geht vom Bund über die Länder an die
        Kommunen, die dann vor Ort entscheiden, wie es inves-
        tiert wird .
        Des Weiteren wird im Rahmen des Pakets der Unter-
        haltsvorschuss neu geregelt, den Alleinerziehende erhal-
        ten, wenn der eigentlich unterhaltspflichtige Elternteil
        nicht zahlt: Künftig wird nicht nur bis zum 12 . Geburts-
        tag des Kindes gezahlt, sondern bis zum 18 . Geburtstag,
        und während bislang maximal sechs Jahre lang gezahlt
        wurde, entfällt diese Befristung künftig komplett . Ein
        sehr wichtiger Meilenstein zur Stärkung alleinerziehen-
        der Eltern und ihrer Kinder!
        Ein weiteres Element des Paketes sind die Gesetz-
        entwürfe, mit denen Verwaltung und Bau von Autobah-
        nen und sonstigen Bundesfernstraßen in Deutschland
        neu geordnet werden . Die SPD-Bundestagsfraktion hat
        lange und hart verhandelt, um möglichst viele Privati-
        sierungsschranken einzubauen . So wurden auch Grund-
        gesetzänderungen hineinverhandelt, mithilfe derer die
        mittelbare und unmittelbare Beteiligung Dritter an der
        Infrastrukturgesellschaft und deren Tochtergesellschaf-
        ten ausgeschlossen wird . Außerdem ist ausgeschlossen,
        dass sich Private im Rahmen von öffentlich-privaten
        Partnerschaften (ÖPP) für Streckennetze, die das gesam-
        te Bundesautobahnnetz oder wesentliche Teile davon
        betreffen, beteiligen. Wenn man bedenkt, dass insbe-
        sondere Bundesverkehrsminister Dobrindt ursprünglich
        bis zu 49 Prozent der Gesellschaft an private Investoren
        veräußern wollte, ist das ein erstaunliches Verhandlungs-
        ergebnis .
        Mir persönlich geht das aber nicht weit genug . Denn
        das bedeutet auch, dass auf der anderen Seite die Mög-
        lichkeit besteht, ÖPP auf Strecken von einer Länge von
        maximal 100 Kilometern umzusetzen . Zudem ist der Be-
        griff „wesentliche Teile“ zu unkonkret, als dass damit ein
        wirklicher Ausschluss Privater garantiert ist . Ich lehne
        ÖPP unter anderem deshalb grundsätzlich ab, da für mich
        die Daseinsfürsorge – und dazu zählen auch von Steuer-
        geld finanzierte Autobahnen – in staatliche und nicht in
        private Hand gehört .
        Des Weiteren ist der Ausschluss eines möglichen
        Wechsels der Rechtsform, zum Beispiel der nun zu grün-
        denden privatrechtlichen GmbH in eine Aktiengesell-
        schaft, lediglich einfachgesetzlich geregelt . Das heißt,
        eine andere Bundesregierung könnte diese Umwandlung
        ohne eine Änderung des Grundgesetzes – und der damit
        verbundenen erforderlichen Zweidrittelmehrheit – mit
        einfacher Mehrheit vollziehen . Gleiches gilt für die Kre-
        ditfähigkeit der Gesellschaft . Es ist zwar nicht erlaubt,
        dass diese selbst Kredite aufnimmt, aber dieser Punkt ist
        ebenfalls nur einfachgesetzlich geregelt .
        Für mich ist deshalb klar: Die Union wollte von An-
        fang an eine echte Privatisierung der Autobahnen und
        wird das auch weiterhin vorantreiben . Der vorliegende
        Kompromiss schließt dies nicht zu 100 Prozent aus, auch
        wenn sich die SPD-Bundestagsfraktion in wichtigen As-
        pekten durchsetzen und eine wie von der Union gewollte
        Privatisierung im großen Stil verhindern konnte .
        Aufgrund dieser Bedenken kann ich daher den Geset-
        zesänderungen in dieser Form nicht zustimmen .
        Reinhold Sendker (CDU/CSU): Die Neuregelung
        der Bund-Länder-Finanzbeziehungen ist ein elementar
        wichtiges Vorhaben der laufenden Wahlperiode . Es ist
        richtig und wichtig, das Gesetzgebungsverfahren noch
        in dieser Wahlperiode abzuschließen, damit alle Betei-
        ligten mit ausreichendem Vorlauf Planungssicherheit ha-
        ben . Ich begrüße außerordentlich, dass mit der erzielten
        Einigung auch die Schaffung einer Bundesinfrastruktur-
        gesellschaft beschlossen wurde . Damit werden wir be-
        stehende Planungsengpässe in den Ländern beseitigen .
        Unser Land braucht eine gesunde Verkehrsinfrastruktur,
        denn diese wird zu mehr Sicherheit im Straßenverkehr,
        Wachstum und Wohlstand führen . Deshalb habe ich dem
        Gesetzentwurf trotz meiner im Folgenden aufgeführten
        Bedenken zugestimmt .
        Das großzügige finanzielle Engagement des Bundes
        ist für viele Kommunen eine große Hilfe . Gleichzeitig
        führen Mischzuständigkeiten und Mischfinanzierungen
        zu keiner Klärung von Verantwortung, wirken oft als
        „goldener Zügel“ und schränken die grundgesetzlich ga-
        rantierte kommunale Selbstverwaltung ein .
        Die Einfügung des Artikel 104c GG setzt zudem ein
        schwieriges Signal . Das eigentliche Ziel müsste sein,
        bundesweit keine finanzschwachen Kommunen mehr zu
        finden. Stattdessen werden finanzschwache Kommunen
        jetzt sogar in der Verfassung verankert . Statt Bundeshil-
        fen für finanzschwache Kommunen im Grundgesetz zu
        normieren, sollten die finanziell zuständigen Länder al-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24227
        (A) (C)
        (B) (D)
        les daransetzen, die Finanzschwäche von Kommunen zu
        beheben .
        Der Bund kann nicht alle Missstände vor Ort zu lö-
        sen – erst recht nicht, wenn Länder die Hilfen des Bundes
        unterlaufen, Mittel des Bundes nicht an die Kommunen
        weiterleiten und diesen dann auch noch immer größere
        Lasten aufbürden, um den eigenen Landeshaushalt zu
        schonen . Aus dem ersten Schritt des Artikel 104c GG
        mit der Mitfinanzierungsmöglichkeit für den Bund in der
        Bildungsinfrastruktur finanzschwacher Kommunen darf
        keine Allgemeinzuständigkeit des Bundes für alle Pro-
        bleme vor Ort werden . Letzten Endes würde eine Ver-
        stetigung dieser Praxis dazu führen, das föderale System
        der Bundesrepublik und somit einen grundlegenden Teil
        des politischen Systems der Bundesrepublik obsolet zu
        machen .
        Ziel der Föderalismusreform 2006 war, klare Struk-
        turen und Verantwortlichkeiten in der Aufgabenwahr-
        nehmung durch Bund und Länder zu schaffen. Mit Ar-
        tikel 104c GG wird dieses Ziel ein Stück aus den Augen
        verloren . Am Grundsatz, dass für eine aufgabenange-
        messene auskömmliche Finanzausstattung der Kommu-
        nen die jeweiligen Bundesländer verantwortlich und zu-
        ständig sind, ist festzuhalten . Dies gilt nicht nur für den
        Bereich der Bildungsinfrastruktur, sondern insgesamt
        für alle von den Kommunen auszuführenden Aufgaben .
        Aus dieser Sicht besteht durch die Einfügung des Arti-
        kel 104c GG die Gefahr, dass ein dauerhafter Fehlanreiz
        gesetzt wird, dass Länder künftig Kommunen bei Inves-
        titionsbedarf an den Bund verweisen und somit aus der
        Erweiterung der Mitfinanzierungsmöglichkeit eine Mit-
        finanzierungszuständigkeit wird.
        Dies werde ich in Zukunft kritisch beobachten .
        Norbert Spinrath (SPD): Der Deutsche Bundestag
        stimmt heute über die Neuregelung des bundesstaatli-
        chen Finanzausgleichssystems ab . Im parlamentarischen
        Verfahren ist es der SPD-Bundestagsfraktion gelungen,
        wichtige Änderungen am ursprünglich eingebrachten
        Gesetzentwurf durchzusetzen:
        Erstens . Zunächst ist zu beachten, dass der Bundes-
        tag über ein Regelungspaket zu entscheiden hat, das im
        Vorfeld bereits zwischen allen Ministerpräsidenten und
        der Bundesregierung abgestimmt worden ist . Da die
        Länder in den Finanzbeziehungen Erleichterungen durch
        den Bund erfahren haben, haben sie im Gegenzug zuge-
        standen, ein Stück ihrer Kompetenz im Bildungsbereich
        wieder an den Bund zu geben und in diesem Zusam-
        menhang auch Bau, Planung und Verwaltung von Bun-
        desstraßen bzw . Autobahnen dem Bund zu übertragen .
        Diese Verhandlung auf einer von der Verfassung nicht
        vorgesehenen Ebene zwischen Länderregierungen und
        Bundesregierung halte ich für äußerst kritikwürdig . Die
        Beratungen des Bundestages wurden deutlich dadurch er-
        schwert, dass die Ministerpräsidenten gemeinsam mit der
        Bundesregierung ein Gesamtpaket völlig unterschiedli-
        cher Regelungsbereiche verabschiedeten, die im Par-
        lament faktisch nicht mehr entkoppelt werden können .
        Umso beachtlicher sind die Veränderungen, die nun zur
        Abstimmung stehen. Unabhängig davon hoffe ich aber,
        dass alle Parteien aus dieser Situation zukünftig lernen .
        Zweitens . Aus SPD-Sicht war in dem Regelungspaket
        von Anfang an die Ausweitung des Unterhaltsvorschus-
        ses zu begrüßen . Für fast 1 Million alleinerziehende El-
        tern und ihre Kinder stellt es einen wichtigen Fortschritt
        dar, dass berufstätige Alleinerziehende, bei denen der un-
        terhaltspflichtige Elternteil seinen Verpflichtungen nicht
        nachkommt, eine Erweiterung des Anspruches auf staat-
        liche Unterstützung erfahren . Die Altersgrenze wird von
        jetzt 12 Jahre auf 18 Jahre angehoben und die zeitliche
        Befristung von maximal sechs Jahren abgeschafft. Dieses
        wird dazu führen, dass die Doppelbelastung von Job und
        Kinderbetreuung besser bewältigt werden kann .
        Drittens . Ein großer Erfolg ist auch das Aufbrechen
        des Kooperationsverbotes im Bildungsbereich . Der
        Bund wird in die Lage versetzt, 3,5 Milliarden Euro für
        Bildungsinvestitionen in finanzschwachen Kommunen
        bereitzustellen. Eine vollständige Abschaffung des Ko-
        operationsverbots im Bildungsbereich bleibt ein wich-
        tiges Ziel sozialdemokratischer Politik . Bildung ist eine
        gesamtstaatliche Aufgabe . Dies ist aber zwischen den
        Koalitionspartnern umstritten .
        Viertens . In der Fassung des Regelungspaketes, die in
        erster Lesung im Parlament beraten wurde, haben sich
        die Länder in Artikel 90 des Grundgesetzes verpflich-
        tet, unter anderem die Verwaltung der Bundesautobah-
        nen an den Bund zu geben . Ferner war vorgesehen, dass
        der Bund sich dafür einer Gesellschaft privaten Rechts
        bedienen könne . Bereits in dieser Fassung war geregelt,
        dass das Eigentum des Bundes an den Autobahnen und
        Bundesstraßen unveräußerlich ist . Allerdings befürchte-
        ten viele Bürgerinnen und Bürger in diesem Zusammen-
        hang, dass private Investoren über eine Beteiligung an
        der Gesellschaft zumindest mittelbar eine Privatisierung
        durch die Hintertür erreichen könnten . Die Verlautba-
        rungen aus Bundesfinanzministerium und Bundesver-
        kehrsministerium verstärkten diesen Verdacht . Auch
        zivilgesellschaftliche Organisationen und der Bundes-
        rechnungshof kritisierten das Vorhaben scharf . Die Ge-
        werkschaft Verdi problematisierte insbesondere Fragen
        beim Personalübergang .
        Nach wochenlangen Verhandlungen liegt nun eine
        Ergänzung des Verfassungstextes vor, der eine unmit-
        telbare oder mittelbare Beteiligung Privater an der Ge-
        sellschaft und deren Tochtergesellschaften ausdrücklich
        ausschließt . Dem Engagement der SPD-Bundestagsfrak-
        tion ist es zu verdanken, dass somit alle Hintertüren für
        eine mögliche Privatisierung in der Verfassung selbst ge-
        schlossen worden sind . Zudem ist es gelungen, dass alle
        wechselbereiten Beschäftigten der Straßenbauverwal-
        tungen der Länder vom Bund übernommen und grund-
        sätzlich dort eingesetzt werden, wo sie bisher arbeiten .
        Die Verkehrsinfrastrukturgesellschaft ist verpflichtet,
        Tarifverträge für alle Beschäftigten abzuschließen . Ich
        empfinde es als Bestätigung dieser Position, dass auch
        die Gewerkschaft Verdi sowie der Bundesrechnungshof
        die Erfolge des parlamentarischen Verfahrens ausdrück-
        lich anerkennen .
        https://de.wikipedia.org/wiki/Politisches_System_Deutschlands
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724228
        (A) (C)
        (B) (D)
        Darüber hinaus werden in der Debatte sogenannte öf-
        fentlich-private Partnerschaften (ÖPP) problematisiert .
        Die Partnerschaften gibt es bereits – sie werden nicht
        erst durch das hier vorliegende Regelungspaket ermög-
        licht . Doch selbst in diesem Bereich konnte nun durch
        das parlamentarische Verfahren eine Verbesserung er-
        reicht werden: Erstmalig werden in der Verfassung öf-
        fentlich-private Partnerschaften für ganze Streckennetze
        oder wesentliche Teile explizit ausgeschlossen . Damit
        wird im Grundgesetz selbst ein klares Zeichen gegen die
        Ausweitung von ÖPP gesetzt .
        Die SPD-Bundestagsfraktion hätte sich eine noch wei-
        tergehende Regelung gewünscht . Dies war jedoch mit
        der CDU/CSU-Fraktion nicht möglich .
        Demokratie und das Ringen im parlamentarischen
        Verfahren bringen selten Ergebnisse, die zu 100 Prozent
        den Forderungen einer einzelnen Fraktion entsprechen .
        Wer künftig ÖPP vollständig verhindern will, muss dafür
        eintreten, dass der Staat mehr Mittel in die Infrastruk-
        tur investiert, wie es die SPD fordert . Ein völliger Aus-
        schluss von ÖPP im Grundgesetz, der einer Zweidrittel-
        mehrheit in Bundestag und Bundesrat bedarf, war in der
        bestehenden Koalition nicht realisierbar . Deshalb werbe
        ich für die Anerkennung der Verhandlungserfolge im par-
        lamentarischen Verfahren und die Erhöhung des Drucks
        auf all die politischen Kräfte, die eine schwarze Null im
        Bundeshaushalt über politische Gestaltungsmöglichkei-
        ten stellen .
        Deshalb stimme ich dem Gesetzesvorhaben zu .
        Svenja Stadler (SPD): Der Deutsche Bundestag
        stimmt heute über die Neuregelung des bundesstaatli-
        chen Finanzausgleichssystems ab . Im parlamentarischen
        Verfahren ist es der SPD-Bundestagsfraktion gelungen,
        wichtige Änderungen am ursprünglich eingebrachten
        Gesetzentwurf durchzusetzen:
        Zunächst ist zu beachten, dass der Bundestag über
        ein Regelungspaket zu entscheiden hat, das im Vorfeld
        bereits zwischen allen Ministerpräsidenten und der Bun-
        desregierung abgestimmt worden ist . Da die Länder in
        den Finanzbeziehungen Erleichterungen durch den Bund
        erfahren haben, haben sie im Gegenzug zugestanden, ein
        Stück ihrer Kompetenz im Bildungsbereich wieder an
        den Bund zu geben und in diesem Zusammenhang auch
        Bau, Planung und Verwaltung von Bundesstraßen bzw .
        Autobahnen dem Bund zu übertragen . Diese Verhandlung
        auf einer von der Verfassung nicht vorgesehenen Ebene
        zwischen Länderregierungen und Bundesregierung halte
        ich für äußerst kritikwürdig . Die Beratungen des Bundes-
        tages wurden deutlich dadurch erschwert, dass die Minis-
        terpräsidenten gemeinsam mit der Bundesregierung ein
        Gesamtpaket völlig unterschiedlicher Regelungsbereiche
        verabschiedeten, die im Parlament faktisch nicht mehr
        entkoppelt werden können . Umso beachtlicher sind die
        Veränderungen, die nun zur Abstimmung stehen . Unab-
        hängig davon hoffe ich aber, dass alle Parteien aus dieser
        Situation zukünftig lernen .
        Aus SPD-Sicht war in dem Regelungspaket von An-
        fang an die Ausweitung des Unterhaltsvorschusses zu
        begrüßen . Für fast 1 Million alleinerziehende Eltern und
        ihre Kinder stellt es einen wichtigen Fortschritt dar, dass
        berufstätige Alleinerziehende, bei denen der unterhalts-
        pflichtige Elternteil seinen Verpflichtungen nicht nach-
        kommt, eine Erweiterung des Anspruches auf staatliche
        Unterstützung erfahren . Die Altersgrenze wird von jetzt
        12 Jahre auf 18 Jahre angehoben und die zeitliche Be-
        fristung von maximal sechs Jahren abgeschafft. Dieses
        wird dazu führen, dass die Doppelbelastung von Job und
        Kinderbetreuung besser bewältigt werden kann .
        Ein großer Erfolg ist auch das Aufbrechen des Koope-
        rationsverbotes im Bildungsbereich . Der Bund wird in
        die Lage versetzt, 3,5 Milliarden Euro für Bildungsinves-
        titionen in finanzschwachen Kommunen bereitzustellen.
        Eine vollständige Abschaffung des Kooperationsverbots
        im Bildungsbereich bleibt ein wichtiges Ziel sozialde-
        mokratischer Politik . Bildung ist eine gesamtstaatliche
        Aufgabe . Dies ist aber zwischen den Koalitionspartnern
        umstritten .
        In der Fassung des Regelungspaketes, die in erster Le-
        sung im Parlament beraten wurde, haben sich die Länder
        in Artikel 90 des Grundgesetzes verpflichtet, unter ande-
        rem die Verwaltung der Bundesautobahnen an den Bund
        zu geben . Ferner war vorgesehen, dass der Bund sich da-
        für einer Gesellschaft privaten Rechts bedienen könne .
        Bereits in dieser Fassung war geregelt, dass das Eigen-
        tum des Bundes an den Autobahnen und Bundesstraßen
        unveräußerlich ist . Allerdings befürchteten viele Bürge-
        rinnen und Bürger in diesem Zusammenhang, dass priva-
        te Investoren über eine Beteiligung an der Gesellschaft
        zumindest mittelbar eine Privatisierung durch die Hin-
        tertür erreichen könnten . Die Verlautbarungen aus Bun-
        desfinanzministerium und Bundesverkehrsministerium
        verstärkten diesen Verdacht . Auch zivilgesellschaftliche
        Organisationen und der Bundesrechnungshof kritisierten
        das Vorhaben scharf . Die Gewerkschaft Verdi problema-
        tisierte insbesondere Fragen beim Personalübergang .
        Nach wochenlangen Verhandlungen liegt nun eine
        Ergänzung des Verfassungstextes vor, der eine unmit-
        telbare oder mittelbare Beteiligung Privater an der Ge-
        sellschaft und deren Tochtergesellschaften ausdrücklich
        ausschließt . Dem Engagement der SPD-Bundestagsfrak-
        tion ist es zu verdanken, dass somit alle Hintertüren für
        eine mögliche Privatisierung in der Verfassung selbst ge-
        schlossen worden sind . Zudem ist es gelungen, dass alle
        wechselbereiten Beschäftigten der Straßenbauverwal-
        tungen der Länder vom Bund übernommen und grund-
        sätzlich dort eingesetzt werden, wo sie bisher arbeiten .
        Die Verkehrsinfrastrukturgesellschaft ist verpflichtet,
        Tarifverträge für alle Beschäftigten abzuschließen . Ich
        empfinde es als Bestätigung dieser Position, dass auch
        die Gewerkschaft Verdi sowie der Bundesrechnungshof
        die Erfolge des parlamentarischen Verfahrens ausdrück-
        lich anerkennen .
        Darüber hinaus werden in der Debatte sogenannte öf-
        fentlich-private Partnerschaften (ÖPP) problematisiert .
        Die Partnerschaften gibt es bereits – sie werden nicht
        erst durch das hier vorliegende Regelungspaket ermög-
        licht . Doch selbst in diesem Bereich konnte nun durch
        das parlamentarische Verfahren eine Verbesserung er-
        reicht werden: Erstmalig werden in der Verfassung öf-
        fentlich-private Partnerschaften für ganze Streckennetze
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24229
        (A) (C)
        (B) (D)
        oder wesentliche Teile explizit ausgeschlossen . Damit
        wird im Grundgesetz selbst ein klares Zeichen gegen die
        Ausweitung von ÖPP gesetzt .
        Die SPD-Bundestagsfraktion hätte sich eine noch wei-
        tergehende Regelung gewünscht . Dies war jedoch mit
        der CDU/CSU-Fraktion nicht möglich .
        Demokratie und das Ringen im parlamentarischen
        Verfahren bringen selten Ergebnisse, die zu 100 Prozent
        den Forderungen einer einzelnen Fraktion entsprechen .
        Wer künftig ÖPP vollständig verhindern will, muss dafür
        eintreten, dass der Staat mehr Mittel in die Infrastruk-
        tur investiert, wie es die SPD fordert . Ein völliger Aus-
        schluss von ÖPP im Grundgesetz, der einer Zweidrittel-
        mehrheit in Bundestag und Bundesrat bedarf, war in der
        bestehenden Koalition nicht realisierbar . Deshalb werbe
        ich für die Anerkennung der Verhandlungserfolge im par-
        lamentarischen Verfahren und die Erhöhung des Drucks
        auf all die politischen Kräfte, die eine schwarze Null im
        Bundeshaushalt über politische Gestaltungsmöglichkei-
        ten stellen .
        Christoph Strässer (SPD): Heute hat der Deutsche
        Bundestag den neuen Bund-Länder-Finanzausgleich
        beschlossen, der innerhalb eines umfangreichen Pakets
        auch die Regelungen zur Errichtung einer Infrastruktur-
        gesellschaft enthält. Nach reiflicher Abwägung habe ich
        mich dafür entschieden, gegen dieses Paket zu stimmen .
        Dieses Gesetzespaket enthält umfassende Änderungen
        des Grundgesetzes sowie einfachgesetzliche Änderun-
        gen . Es geht zurück auf eine Einigung zwischen der Bun-
        desregierung und den Ländern vom Dezember 2016 als
        Ersatz für das Auslaufen der Regelungen zum Bund-Län-
        der-Finanzausgleich 2019 .
        Der Grund für mich, dem Gesetzpaket meine Zustim-
        mung zu verweigern, ist die darin enthaltene Einführung
        einer Infrastrukturgesellschaft zur Sicherstellung der Fi-
        nanzierung und Effizienz bei Bau und Verwaltung der
        Bundesautobahnen. Die Schaffung einer Gesellschaft
        privaten Rechts widerspricht dem Grundsatz, dass die
        Bereitstellung öffentlicher Güter, wie der öffentlichen
        Verkehrsinfrastruktur, in die öffentliche Hand gehört.
        Dieses Prinzip ist eine wesentliche Errungenschaft sozi-
        aldemokratischer Politik und ein hohes verfassungsrecht-
        liches Gut . Der Errichtung einer Infrastrukturgesellschaft
        könnte ich daher nur zustimmen, wenn diese die Form
        einer Gesellschaft öffentlichen Rechts hätte. Das ist in
        dem vorliegenden Kompromiss nicht der Fall . CDU/
        CSU haben dies vehement abgelehnt .
        Meine Fraktionskollegen und -kolleginnen haben
        lange, gut und hart verhandelt, um möglichst viele Pri-
        vatisierungsschranken einzubauen . So wurden auch Än-
        derungen in das Grundgesetz hineinverhandelt, die die
        mittelbare und unmittelbare Beteiligung Dritter an der
        Infrastrukturgesellschaft und deren Tochtergesellschaf-
        ten ausschließen . Außerdem ist ausgeschlossen, dass
        sich Private im Rahmen von öffentlich-privaten Part-
        nerschaften (ÖPP) für Streckennetze, die das gesamte
        Bundesautobahnnetz oder wesentliche Teile davon be-
        treffen, beteiligen. Wenn man bedenkt, dass insbeson-
        dere Bundesverkehrsminister Dobrindt ursprünglich bis
        zu 49 Prozent der Gesellschaft an private Investoren ver-
        äußern wollte, ist das ein erstaunliches Verhandlungser-
        gebnis, für das unseren Verhandlungsführern Dank und
        Respekt gebührt .
        Mir persönlich geht das aber nicht weit genug . Denn
        das bedeutet auch, dass auf der anderen Seite die Mög-
        lichkeit besteht, ÖPP in höherem Maße durchzuführen .
        Zudem ist der Begriff „wesentliche Teile“ zu unkonkret,
        als dass damit ein wirklicher Ausschluss Privater garan-
        tiert ist . Darüber hinaus wird erstmals geradezu dazu
        aufgerufen, dass die Sanierung und der Bau von Schulen
        durch ÖPP-Vorhaben umgesetzt werden . Diesem wider-
        spreche ich mit aller Entschiedenheit . Die Bereitstellung
        von Bildungsinfrastruktur ist elementare Aufgabe des
        Staates .
        Auch ist ein möglicher Wechsel der Rechtsform, zum
        Beispiel der GmbH in eine AG, lediglich einfachgesetz-
        lich geregelt . Das heißt, eine andere Bundesregierung
        kann diese Umwandlung ohne eine Änderung des Grund-
        gesetzes mit einfacher Mehrheit vollziehen . Gleiches gilt
        für die Kreditfähigkeit der Gesellschaft . Es ist zwar nicht
        erlaubt, dass diese selbst Kredite aufnimmt, aber dieser
        Punkt ist ebenfalls nur einfachgesetzlich geregelt . Der
        vorgesehene Parlamentsvorbehalt ist lediglich einfach-
        gesetzlich geregelt und kann durch eine andere politische
        Mehrheit jederzeit verändert werden . Das gilt auch für
        die Übernahme der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen .
        Auch hier besteht die Gefahr, dass eine andere politische
        Mehrheit den Abbau von bislang gesicherten Arbeitsplät-
        zen mit Tariflöhnen und guter Mitbestimmung organi-
        siert .
        Für mich ist klar: Die Union wollte von Anfang an eine
        echte Privatisierung der Autobahnen und wird das auch
        weiterhin vorantreiben . Der vorliegende Kompromiss
        schließt dies nicht vollumfänglich aus, und daher habe
        ich ihm nicht zugestimmt . Den weiteren Regelungen, die
        sich beispielsweise auf die Neuordnung des Finanzaus-
        gleichs oder das Aufheben des Kooperationsverbotes im
        Bildungsbereich beziehen, stimme ich selbstverständlich
        zu . Ich bedaure es deshalb sehr, dass in einer Schluss-
        abstimmung über alle Grundgesetzänderungen im Paket
        abgestimmt wird, nachdem bereits über die dargestellten
        Einzelbereiche auch jeweils namentlich votiert worden
        ist .
        Wegen der überragenden Bedeutung der Veränderung
        des Artikel 90 GG ist mir eine Zustimmung zum Gesamt-
        paket aus den vorstehenden Gründen nicht möglich .
        Dr. Karin Thissen (SPD): Der Deutsche Bundestag
        stimmt heute über die Neuregelung des bundesstaatli-
        chen Finanzausgleichssystems ab . Im parlamentarischen
        Verfahren ist es der SPD-Bundestagsfraktion gelungen,
        wichtige Änderungen am ursprünglich eingebrachten
        Gesetzentwurf durchzusetzen:
        Erstens . Aus SPD-Sicht war in dem Regelungspaket
        von Anfang an die Ausweitung des Unterhaltsvorschus-
        ses zu begrüßen . Für fast 1 Million alleinerziehende El-
        tern und ihre Kinder stellt es einen wichtigen Fortschritt
        dar, dass berufstätige Alleinerziehende, bei denen der un-
        terhaltspflichtige Elternteil seinen Verpflichtungen nicht
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724230
        (A) (C)
        (B) (D)
        nachkommt, eine Erweiterung des Anspruches auf staat-
        liche Unterstützung erfahren . Die Altersgrenze wird von
        jetzt 12 Jahre auf 18 Jahre angehoben und die zeitliche
        Befristung von maximal sechs Jahren abgeschafft. Dieses
        wird dazu führen, dass die Doppelbelastung von Job und
        Kinderbetreuung besser bewältigt werden kann .
        Zweitens . Ein großer Erfolg ist auch das Aufbrechen
        des Kooperationsverbotes im Bildungsbereich . Der Bund
        wird in die Lage versetzt, 3,5 Milliarden Euro für Bil-
        dungsinvestitionen in finanzschwachen Kommunen be-
        reitzustellen. Eine vollständige Abschaffung des Koope-
        rationsverbots im Bildungsbereich bleibt ein wichtiges
        Ziel sozialdemokratischer Politik . Bildung ist eine ge-
        samtstaatliche Aufgabe . Dies ist aber zwischen den Koa-
        litionspartnern umstritten .
        Drittens . In der Fassung des Regelungspaketes, die in
        erster Lesung im Parlament beraten wurde, haben sich
        die Länder in Artikel 90 des Grundgesetzes verpflich-
        tet, unter anderem die Verwaltung der Bundesautobah-
        nen an den Bund zu geben . Ferner war vorgesehen, dass
        der Bund sich dafür einer Gesellschaft privaten Rechts
        bedienen könne . Bereits in dieser Fassung war geregelt,
        dass das Eigentum des Bundes an den Autobahnen und
        Bundesstraßen unveräußerlich ist . Allerdings befürchte-
        ten viele Bürgerinnen und Bürger in diesem Zusammen-
        hang, dass private Investoren über eine Beteiligung an
        der Gesellschaft zumindest mittelbar eine Privatisierung
        durch die Hintertür erreichen könnten . Die Verlautba-
        rungen aus Bundesfinanzministerium und Bundesver-
        kehrsministerium verstärkten diesen Verdacht . Auch
        zivilgesellschaftliche Organisationen und der Bundes-
        rechnungshof kritisierten das Vorhaben scharf . Die Ge-
        werkschaft Verdi problematisierte insbesondere Fragen
        beim Personalübergang .
        Nach wochenlangen Verhandlungen liegt nun eine
        Ergänzung des Verfassungstextes vor, der eine unmit-
        telbare oder mittelbare Beteiligung Privater an der Ge-
        sellschaft und deren Tochtergesellschaften ausdrücklich
        ausschließt . Dem Engagement der SPD-Bundestagsfrak-
        tion ist es zu verdanken, dass somit alle Hintertüren für
        eine mögliche Privatisierung in der Verfassung selbst ge-
        schlossen worden sind . Zudem ist es gelungen, dass alle
        wechselbereiten Beschäftigten der Straßenbauverwal-
        tungen der Länder vom Bund übernommen und grund-
        sätzlich dort eingesetzt werden, wo sie bisher arbeiten .
        Die Verkehrsinfrastrukturgesellschaft ist verpflichtet,
        Tarifverträge für alle Beschäftigten abzuschließen . Ich
        empfinde es als Bestätigung dieser Position, dass auch
        die Gewerkschaft Verdi sowie der Bundesrechnungshof
        die Erfolge des parlamentarischen Verfahrens ausdrück-
        lich anerkennen .
        Darüber hinaus werden in der Debatte sogenannte öf-
        fentlich-private Partnerschaften (ÖPP) problematisiert .
        Die Partnerschaften gibt es bereits – sie werden nicht erst
        durch das hier vorliegende Regelungspaket ermöglicht .
        Doch selbst in diesem Bereich konnte nun durch das par-
        lamentarische Verfahren eine Verbesserung erreicht wer-
        den: Erstmalig werden in der Verfassung öffentlich-pri-
        vate Partnerschaften für ganze Streckennetze oder
        wesentliche Teile explizit ausgeschlossen . Damit wird im
        Grundgesetz selbst ein klares Zeichen gegen die Auswei-
        tung von ÖPP gesetzt . Die SPD-Bundestagsfraktion hätte
        sich eine noch weitergehende Regelung gewünscht . Dies
        war jedoch mit der CDU/CSU-Fraktion nicht möglich .
        Demokratie und das Ringen im parlamentarischen
        Verfahren bringen selten Ergebnisse, die zu 100 Prozent
        den Forderungen einer einzelnen Fraktion entsprechen .
        Wer künftig ÖPP vollständig verhindern will, muss dafür
        eintreten, dass der Staat mehr Mittel in die Infrastruk-
        tur investiert, wie es die SPD fordert . Ein völliger Aus-
        schluss von ÖPP im Grundgesetz, der einer Zweidrittel-
        mehrheit in Bundestag und Bundesrat bedarf, war in der
        bestehenden Koalition nicht realisierbar . Deshalb werbe
        ich für die Anerkennung der Verhandlungserfolge im par-
        lamentarischen Verfahren und die Erhöhung des Drucks
        auf all die politischen Kräfte, die eine schwarze Null im
        Bundeshaushalt über politische Gestaltungsmöglichkei-
        ten stellen .
        Michael Vietz (CDU/CSU): Dieses umfangreiche Pa-
        ket an Änderungen des Grundgesetzes birgt unter dem
        Strich ein wenig mehr Licht denn Schatten, sodass ich
        letzten Endes trotz größerer grundsätzlicher Bedenken
        diesem zustimme .
        Die gesamtstaatliche Entscheidungs- und Handlungs-
        fähigkeit der Bundesrepublik Deutschland muss zweifel-
        los zu jeder Zeit und auf jeder staatlichen Ebene gegeben
        sein. Ebenso die klare Definition von Zuständigkeit und
        letztendlicher Verantwortung für Entscheidungsprozesse .
        Entscheidend hierfür ist die finanzielle Planungssicher-
        heit von Bund und Ländern .
        Dieser Gesetzentwurf ist die gelebte finanzielle Soli-
        darität des Bundes mit den Ländern . Ungeachtet der Tat-
        sache, dass ein Gutteil der Steuereinnahmen in Deutsch-
        land bereits den Ländern zu ihrer Aufgabenerfüllung
        zufließt.
        Die Länder werden von manchen Aufgaben, so zum
        Beispiel der Bundesauftragsverwaltung für die Bundes-
        autobahnen, entlastet. Dies gibt die Hoffnung, dass sich
        Unterhaltung und Ausbau des Autobahnnetzes durch die
        einheitliche Führung durch den Bund signifikant verbes-
        sern werden . Eine von vielen Bürgerinnen und Bürgern
        befürchtete Privatisierung der Bundesautobahnen sehe
        ich hier nicht, diese bleiben unveräußerliches Bundesei-
        gentum . Allerdings komme ich nicht umhin, festzustel-
        len, dass in den Ländern mit einer guten funktionieren-
        den Auftragsverwaltung wie Niedersachsen zukünftig
        Synergieeffekte für effektive Straßenverwaltung und
        Straßenbau wegfallen werden .
        Durch die Einführung eines Ausnahmetatbestands
        zu Artikel 104b GG kann der Bund für gesamtstaatlich
        bedeutsame Investitionen im Bereich der Bildungsinfra-
        struktur Finanzhilfen gewähren . Damit wird die grund-
        sätzlich gegebene ausschließliche Gesetzgebungskompe-
        tenz der Länder aufgrund des grundsätzlich bundesweit
        festzustellenden, je nach Bundesland und Kommune aber
        doch erheblich variierenden Sanierungs- und Moderni-
        sierungsbedarfs im Interesse einer angemessenen und
        zeitgemäßen Bildung unserer Kinder durchbrochen .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24231
        (A) (C)
        (B) (D)
        Diejenigen, die in der Vergangenheit hier, aus welchen
        Gründen auch immer, nachlässig waren, können zukünf-
        tig Hilfe vom Bund erhalten – mit allen nachvollziehba-
        ren Irritationen bei denjenigen, die ihrer Verantwortung
        bislang aus eigener Kraft nachgekommen sind . Ebenso
        mit dem Risiko, dass teilweises leichtsinniges Unterlas-
        sen bei der eigenen Aufgabenerfüllung zukünftig vom
        Bund mit Förderung belohnt wird .
        Aus der Sicht des Bundes ist dabei sicherlich zu be-
        grüßen, dass die Kriterien für die Bestimmung der för-
        derberechtigten finanzschwachen Kommunen durch
        Bundesgesetz oder in den abzuschließenden Verwal-
        tungsvereinbarungen festgelegt werden sollen .
        Dies gilt auch für die Ergänzung des Artikel 104b
        GG, die dem Bund nun die Möglichkeit eröffnet, über
        die bei der Gewährung von Finanzhilfen vorgesehene
        Festlegung der Investitionsbereiche und der Art der zu
        fördernden Investitionen hinaus auch die Grundzüge der
        Ausgestaltung der Länderprogramme zur Verwendung
        der Finanzhilfen festzulegen .
        Ein weiterer aus der Sicht des Bundes begrüßenswerter
        Aspekt ist die Ermächtigung des Bundesrechnungshofs
        in Artikel 114 GG, im Rahmen der ihm obliegenden Prü-
        fung der Haushalts- und Wirtschaftsführung des Bundes
        hinsichtlich der zweckentsprechenden Verwendung von
        Bundesmitteln im Bereich von Mischfinanzierungstatbe-
        ständen auch Erhebungen bei den mit der Mittelbewirt-
        schaftung beauftragten Dienststellen der Landesverwal-
        tung durchzuführen . Dies ist ein begrüßenswerter Schritt
        zur Verbesserung der Transparenz der Verwendung der
        vom Bund den Ländern zur Verfügung gestellten Mittel .
        Diese aus der Vielzahl der Maßnahmen zur Gewähr-
        leistung der gesamtstaatlichen Entscheidungs- und Hand-
        lungsfähigkeit herausgegriffenen Aspekte illustrieren
        deutlich die immer weiter zunehmende – und in Anbe-
        tracht des Zustimmungsbedürfnisses durch den Bundes-
        rat faktisch irreversible – Bereitschaft der Länder, Teile
        ihrer Souveränität gegen finanzielle Vorteile aufzugeben.
        Sie lassen sich damit in einem immer größeren Maße
        vom Bund an dem berühmten „goldenen Zügel“ führen
        und gefährden damit langfristig den föderalen Staatsauf-
        bau unseres Landes .
        Des Weiteren ist zu befürchten, dass dieser Akt der So-
        lidarität des Bundes als Belohnung verantwortungslosen
        Handelns aufgefasst wird. Ich bin der Auffassung, dass
        derjenige, der aufgrund falscher Prioritäten die Funkti-
        onsunfähigkeit wichtiger Lebensbereiche herbeiführt,
        nicht automatisch auf die Hilfe des Bundes setzen kann
        und darf . Alles andere wäre ein falscher Anreiz .
        Diese zukünftig grundgesetzlich festgelegten Maß-
        nahmen sind faktisch irreversibel . Eine Evaluierung und
        gegebenenfalls erforderliche Korrektur bzw . Rücknahme
        ist zwar nicht aus rechtlichen, aber doch aus tatsächli-
        chen Gründen wenig wahrscheinlich . Bewährt sich eine
        dieser Regelungen nicht, so wird der Bund sie nur mit
        noch größeren Zugeständnissen an die Länder korrigie-
        ren können . Damit ist ein derzeit noch nicht abschätzba-
        res Erpressungspotenzial gegeben .
        Vor diesem Hintergrund hätte ich eine abstrakt-gene-
        relle Regelung im Grundgesetz mit einer einfachgesetzli-
        chen Konkretisierung deutlich bevorzugt .
        Trotz dieser Bedenken und Sorgen stimme ich letzt-
        endlich dieser umfassenden Änderung des Grundge-
        setzes zu. Ich hege die Hoffnung, dass die Vielzahl der
        Maßnahmen zur Stabilisierung der Finanzen der Bundes-
        länder – und ihrer Kommunen – auf Sicht greifen wer-
        den . Die Vorteile und Chancen der in diesem Gesetzent-
        wurf enthaltenen Maßnahmen übertreffen die Nachteile
        und Risiken in meiner Einschätzung um einen winzigen
        Hauch .
        Barbara Woltmann (CDU/CSU): Ich möchte mit
        dieser persönlichen Erklärung zum Ausdruck bringen,
        dass ich zwar dem Gesetz zustimmen werde, dennoch
        betreffend einzelner Aspekte der Gesetzesentwürfe er-
        hebliche Zweifel habe . So habe ich unter anderem Sorge,
        dass sich mit der Änderungen des Artikel 104c GG mit
        der Mitfinanzierungsmöglichkeit für den Bund in der
        Bildungsinfrastruktur finanzschwacher Kommunen eine
        Allgemeinzuständigkeit des Bundes für alle Probleme
        vor Ort entwickeln wird . Es besteht die Gefahr eines ers-
        ten Schrittes in Richtung Zentralisierung .
        Änderungen des Grundgesetzes sollen eigentlich nur
        dann erfolgen, wenn es sich um dauerhafte Änderungen
        handelt. Die Festschreibung des Begriffs „finanzschwa-
        che Kommunen“ im Grundgesetz steht im Widerspruch
        zum einst verfassungsrechtlich beschlossenen „Koopera-
        tionsverbot“ in der Bildungspolitik . Statt Bundeshilfen
        für „finanzschwache Kommunen“ im Grundgesetz fest-
        zuschreiben, sollten die finanziell zuständigen Länder
        alles daransetzen, die Finanzschwäche von Kommunen
        zu beheben . Weiter darf es kein erstrebenswerter Zustand
        sein, möglichst lange als „finanzschwache Kommune“
        zu gelten, um sich hohe Beträge an Fördergeldern des
        Bundes zu sichern . Das eigentliche Ziel muss es sein,
        dass es keine finanzschwachen Kommunen gibt. Statt-
        dessen werden finanzschwache Kommunen nun sogar im
        Grundgesetz verankert .
        Anlage 8
        Erklärung nach § 31 GO
        des Abgeordneten Stefan Liebich (DIE LINKE) zu
        der sechsten namentlichen Abstimmung über den
        von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf
        eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes
        (Artikel 125c) (Tagesordnungspunkt 9)
        Ich habe versehentlich mit Nein gestimmt . Mein Vo-
        tum lautet Enthaltung .
        Anlage 9
        Erklärung nach § 31 GO
        des Abgeordneten Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN) zu der achten namentlichen Ab-
        stimmung über den von der Bundesregierung ein-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724232
        (A) (C)
        (B) (D)
        gebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung
        des Grundgesetzes (Artikel 90, 91c, 104b, 104c,
        107, 108, 109a, 114, 125c, 143d, 143e, 143f, 143g)
        (Tagesordnungspunkt 9)
        Ich habe versehentlich mit Nein gestimmt . Mein Vo-
        tum lautet Enthaltung .
        Anlage 10
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Birgit Wöllert, Kerstin Kassner
        und Kersten Steinke (alle DIE LINKE) zu der Ab-
        stimmung über die Beschlussempfehlung des Petiti-
        onsausschusses: Sammelübersicht 443 zu Petitionen
        (Beschlussempfehlung 1, laufende Nummer 1–11,
        Leitakte 2-18-15-2124-005471, Frau Skott u. a.) (Heb-
        ammen) (Tagesordnungspunkt 47 u)
        Die genannte Petition fordert, einen entsprechenden
        bundesrechtlichen Rahmen zu schaffen, durch den jeder
        Frau die freie Wahl des Geburtsortes sowie die Geburts-
        begleitung durch eine Hebamme ihres Vertrauens ge-
        währleistet und die Neuordnung des Vergütungssystems
        in der Geburtshilfe erreicht wird .
        Die Beschlussempfehlung, die Petition dem Bundes-
        ministerium für Gesundheit lediglich zu überweisen,
        soweit darin die Verbesserung der Datenlage hinsicht-
        lich der bundesweiten Versorgung mit Hebammenhilfe
        begehrt wird und dann abzuschließen, reicht bei weitem
        nicht aus .
        Die Darstellung in der Begründung der Beschluss-
        empfehlung des Ausschusses, das Anliegen der Petentin
        und der 41 397 Mitzeichnerinnen und Mitzeichner sei
        teilweise erfüllt, stimmt in der Realität weder mit dem
        Arbeitsalltag der Hebammen noch mit der Erfahrung vie-
        ler werdender Mütter überein .
        Einer Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes
        des Bundestages zur „personellen Ausstattung . . . in sta-
        tionären Geburtshilfeeinrichtungen“ zufolge ergab eine
        „Untersuchung von 23 Studien aus 16 Ländern“, dass
        eine „Eins-zu-eins-Betreuung während der Geburt eine
        Absenkung von Interventionsraten zur Folge hat“ (https://
        www .bundestag .de/blob/498952/e6d987867d45e-
        a04396edc12a38aa6d3/wd-9-079-16-pdf-data .pdf; S . 6) .
        Jedoch muss in Deutschland „fast die Hälfte der Hebam-
        men … drei Frauen gleichzeitig während der Geburt“ be-
        treuen (ebenda) . Infolge der mangelhaften Arbeits- und
        Entlohnungsbedingungen hat laut Deutscher Kranken-
        hausgesellschaft (DKG) „fast jedes zweite Krankenhaus
        mit einer Geburtshilfeabteilung Schwierigkeiten …, of-
        fene Hebammenstellen zu besetzen“ (ebenda) .
        Von der Begleitung durch eine Hebamme während
        der Geburt (regelhafte 1 : 1-Betreuung) ist Deutschland
        weit entfernt . Die freie Wahl des Geburtsortes kann nicht
        mehr gewährleistet werden . Insgesamt ist ein ganzer Be-
        rufsstand qualifizierter und hochmotivierter Hebammen
        und Entbindungspfleger existenziell gefährdet.
        Auch eine nachhaltige Lösung für die Haftpflichtpro-
        blematik der Hebammen ist seitens der Bundesregierung
        bis heute nicht erzielt worden . Eine grundlegende Maß-
        nahme würde in der Einführung eines steuerfinanzierten
        Haftungsfonds für alle Gesundheitsberufe bestehen (sie-
        he Drucksache 18/1483) .
        Zudem ist eine zeitgemäße Ausgestaltung von Heb-
        ammenleistungen dringend erforderlich, in der die Heb-
        ammen als erste Ansprechpartnerinnen für Frauen in
        Schwangerschaft, Geburt und Mutterschaft benannt und
        weitergehende Leistungen unter Berücksichtigung ge-
        sundheitsfördernder und psychosozialer Aspekte ermög-
        licht werden . Dieses Verständnis eines neuen Berufsbil-
        des sollte sich auch in der Vergütung niederschlagen .
        Die Versorgung mit Hebammenleistungen gehört zur
        Grundversorgung der Bevölkerung – wie die Versorgung
        mit Hausärztinnen und Hausärzten . Sie muss wohnort-
        nah erfolgen, zum Beispiel über integrierte Lösungen
        (Versorgungszentren, Hebammenstützpunkte, Koopera-
        tionen) . Eine wissenschaftlich fundierte, kleinräumige
        und konsequent an der gesundheitlichen Versorgung aus-
        gerichtete Bedarfsplanung für alle Gesundheitsberufe ist
        zwingend erforderlich .
        Aus den vorgenannten Gründen stimmen wir gegen
        die in der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses
        empfohlene einfache Überweisung und den Abschluss
        des Petitionsverfahrens .
        Anlage 11
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Katja Keul und Beate Müller-
        Gemmeke (beide BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zu
        der namentlichen Abstimmung über den von der
        Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Ge-
        setzes über den Abschluss der Rentenüberleitung
        (Rentenüberleitungs-Abschlussgesetz) (Tagesord-
        nungspunkt 12 a)
        Es ist schier unglaublich, was selbst im 21 . Jahrhun-
        dert in Deutschland möglich ist . Im Jahr 2017 gibt es in
        Deutschland Krankenschwestern, die von ihrer Schwes-
        ternschaft beim Deutschen Roten Kreuz an Krankenhäu-
        ser entliehen werden . Sie sind Leiharbeitnehmerinnen .
        Das hat selbst der Europäische Gerichtshof festgestellt .
        Doch sie werden nicht als solche behandelt .
        Die Rotkreuzschwestern pflegen Menschen, versor-
        gen Wunden und legen Verbände an, sie sprechen kran-
        ken Menschen Mut zu und kümmern sich professionell
        um alles, was eine Krankenschwester eben tut . Doch die-
        se Frauen sind rechtlich gesehen keine Arbeitnehmerin-
        nen . Denn sie tun ihren Dienst angeblich völlig selbstlos
        und bescheiden . So sah es zumindest die Vereinssatzung
        des Deutschen Roten Kreuzes in den 50er-Jahren . Und
        so sieht es seither das Bundesarbeitsgericht . Denn auch
        das BAG meint, DRK-Schwestern sind keine Arbeitneh-
        merinnen .
        Das heißt, im 21 . Jahrhundert gibt es in Deutschland
        Beschäftigte, die keinerlei Rechte haben . Diese Kranken-
        https://www.bundestag.de/blob/498952/e6d987867d45ea04396edc12a38aa6d3/wd-9-079-16-pdf-data.pdf
        https://www.bundestag.de/blob/498952/e6d987867d45ea04396edc12a38aa6d3/wd-9-079-16-pdf-data.pdf
        https://www.bundestag.de/blob/498952/e6d987867d45ea04396edc12a38aa6d3/wd-9-079-16-pdf-data.pdf
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24233
        (A) (C)
        (B) (D)
        schwestern dürfen nicht streiken, sie haben keinen Kündi-
        gungsschutz, sie können keinen Betriebsrat wählen, und
        sie können kein Arbeitsgericht anrufen, wenn ihnen ge-
        kündigt wird . Tritt eine Schwester aus der DRK-Schwes-
        ternschaft aus, so darf sie zwei Jahre lang in keinem
        DRK-Krankenhaus mehr arbeiten . Dieser Tatbestand ist
        völlig inakzeptabel . Wie kann eine Gesellschaft wie die
        unsere solch ein recht- und schutzloses Arbeitsverhältnis
        einfach hinnehmen?
        Immerhin haben sich die DRK-Schwestern in Essen
        gewehrt . Dort wandte sich der Betriebsrat gegen die un-
        befristete Entleihung einer Rotkreuzschwester, mit dem
        Verweis, das sei Leiharbeit und die sei nur vorüberge-
        hend gestattet . Der Fall ging bis vor den Europäischen
        Gerichtshof . Und der gab dem Essener Betriebsrat Recht .
        Der Sonderstatus der Rotkreuzschwestern sei nicht mit
        der europäischen Leiharbeitsrichtlinie vereinbar, urteilte
        er .
        Das Bundesarbeitsgericht schloss sich dieser Rechts-
        auffassung an. Theoretisch müsste das von Nahles durch-
        gesetzte neue Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, das am
        1 . April in Kraft getreten ist, damit auch für die Rotkreuz-
        schwestern gelten . Dieses Gesetz kritisiere ich noch im-
        mer . Aber im Falle der DRK-Schwestern könnte die neue
        Höchstüberlassungsdauer nach 18 Monaten dazu führen,
        dass die Schwestern von den Gestellungspartnern über-
        nommen werden; denn in dieser Branche werden ja im-
        merhin händeringend Fachkräfte gesucht . Damit hätten
        die Schwestern endlich einen regulären Arbeitsvertrag
        und damit auch alle Arbeitnehmer- und Arbeitnehmerin-
        nenrechte, wie alle anderen Beschäftigten auch .
        Doch dazu wird es nicht kommen . Denn das Deutsche
        Rote Kreuz pochte auf seinen Sonderstatus – und fand
        bei Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles und den Re-
        gierungsfraktionen Gehör . Flugs wurde ein Änderungs-
        antrag geschrieben, mit dem das DRK-Gesetz geändert
        wird, und zwar in einem einzigen Punkt: Die 18-mona-
        tige Höchstüberlassungsdauer gilt künftig nur für Rot-
        kreuzschwestern nicht . In einer Nacht-und-Nebel-Aktion
        wurde diese Gesetzesänderung jetzt versteckt in einem
        Gesetz zur Rentenüberleitung (Omnibusverfahren) in das
        parlamentarische Verfahren eingebracht .
        Diese Gesetzesänderung lehne ich strikt ab . Denn die
        DRK-Schwestern müssen endlich als normale Arbeit-
        nehmerinnen anerkannt werden, mit allen Rechten und
        Pflichten. Mit dieser Gesetzesänderung passiert aber
        genau das Gegenteil . Das ist nicht zeitgemäß und auch
        nicht europarechtskonform .
        Anlage 12
        Erklärung nach § 31 GO
        des Abgeordneten Roderich Kiesewetter (CDU/
        CSU) zu der namentlichen Abstimmung über die
        Beschlussempfehlung zu dem Antrag der Abgeord-
        neten Luise Amtsberg, Omid Nouripour, Volker
        Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Frak-
        tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Abschiebung
        nach Afghanistan aussetzen (Tagesordnungs-
        punkt 47 n)
        Ich habe versehentlich mit Nein gestimmt . Mein Vo-
        tum lautet Ja .
        Anlage 13
        Erklärung nach § 31 GO
        des Abgeordneten Johannes Kahrs (SPD) zu der
        namentlichen Abstimmung über den Antrag der
        Fraktion Die Linke: Sofortiger Abschiebestopp
        nach Afghanistan (Zusatztagesordnungspunkt 10)
        Ich habe versehentlich mit Ja gestimmt . Mein Votum
        lautet Nein .
        Anlage 14
        Erklärung nach § 31 GO
        des Abgeordneten Johannes Kahrs (SPD) zu der
        namentlichen Abstimmung über den Antrag der
        Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Neue Lagebe-
        urteilung für Afghanistan (Zusatztagesordnungs-
        punkt 11)
        Ich habe versehentlich mit Nein gestimmt . Mein Vo-
        tum lautet Ja .
        Anlage 15
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung:
        – des von der Bundesregierung eingebrachten
        Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der
        Zweiten Zahlungsdiensterichtlinie
        – der Beschlussempfehlung und des Berichts
        des Finanzausschusses zu dem Antrag der Ab-
        geordneten Nicole Maisch, Luise Amtsberg,
        Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und
        der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
        Kontogebühren – Transparenz und Verbrau-
        cherschutz erhöhen
        (Tagesordnungspunkt 20 a und b)
        Matthias Hauer (CDU/CSU): Nach den umfangrei-
        chen Beratungen der letzten Wochen bringen wir heute
        die Umsetzung der Zweiten Zahlungsdiensterichtlinie
        zum Abschluss . Wir wollen damit erreichen, dass derje-
        nige, der elektronisch bargeldlos zahlt, dies in Zukunft
        noch bequemer und sicherer tun kann . Mit dem Gesetz
        passen wir den Rechtsrahmen an den technologischen
        Fortschritt an und fördern Innovationen im Bereich der
        elektronischen und mobilen Zahlungen . Gleichzeitig
        stärken wir den Verbraucherschutz und erhöhen die Si-
        cherheit von Zahlungen .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724234
        (A) (C)
        (B) (D)
        Mit dem Gesetz gehen wir zudem einige Themen au-
        ßerhalb des Zahlungsverkehrs an . Beispielsweise sorgen
        wir dafür, dass bei Anschlussfinanzierungen und Um-
        schuldungen für Wohnimmobilienkredite künftig grund-
        sätzlich keine erneute Kreditwürdigkeitsprüfung mehr
        notwendig sein wird . Vor allem geht es bei dem Gesetz
        aber um das Thema Zahlungsverkehr: Wir beschließen
        heute wesentliche Verbesserungen für elektronische Zah-
        lungen .
        Auf drei wesentliche Themen möchte ich näher ein-
        gehen:
        Erstens . Wir ermöglichen der BaFin, auch neuartige
        Finanzdienstleister zu beaufsichtigen . Zweitens . Wir
        machen elektronische Zahlungen sicherer . Drittens . Wir
        verbieten Preisaufschläge für den Einsatz gängiger Zah-
        lungsmittel .
        Zu Punkt 1, der erweiterten Aufsicht: Wer seine Bank-
        geschäfte auf dem Smartphone erledigt, der nutzt dafür
        vielleicht schon heute eine App, die ihm einen Überblick
        über seine Konten bei verschiedenen Banken ermöglicht .
        Solche Kontoinformationsdienste verschaffen schnell
        einen Überblick über die eigenen Finanzen . Aber nicht
        nur der Blick auf die eigenen Konten, sondern auch der
        Geldtransfer von diesen eigenen Konten erfolgt immer
        häufiger elektronisch.
        Wenn ein Kunde zum Beispiel seinen Onlineeinkauf
        per Sofortüberweisung bezahlen möchte, prüft der Dienst
        erst, ob der Kunde genug Geld auf dem Konto hat, und
        veranlasst dann die Zahlung . Solche Zahlungsauslöse-
        dienste machen das Bezahlen im Internet einfacher . Mit
        diesem technologischen Fortschritt gehen aber auch Ge-
        fahren einher, vor allem wenn es um sensible Kontodaten
        geht .
        Früher war das eine Sache zwischen dem Kontoinha-
        ber auf der einen Seite und seiner Bank auf der anderen
        Seite . Wenn heute ein Dienst dazwischentritt, dann muss
        klar sein, dass Kontoinformationen nur über sichere Ka-
        näle übertragen werden, Informationen nur im benötigten
        Maße abgefragt und gespeichert werden und dass genau
        nachverfolgt werden kann, wer wann auf das Konto zu-
        gegriffen hat. Hohe Sicherheitsanforderungen und stren-
        ger Datenschutz müssen hier selbstverständlich sein und
        können mit dem heutigen Gesetz endlich auch durch die
        Aufsicht der BaFin sichergestellt werden . Damit stärken
        wir nachhaltig den Verbraucherschutz .
        Wir erhöhen die Sicherheit aber auch bei elektroni-
        schen Zahlungen, bei denen kein Zahlungsauslösedienst
        zwischengeschaltet ist . Damit komme ich zu Punkt 2, der
        vor allem normale Onlineüberweisungen betrifft. Hierbei
        wird die Identität des Kontoinhabers künftig durch zwei
        Merkmale überprüft . Das kann etwa das PIN/TAN-Ver-
        fahren sein – als ein klassisches Beispiel einer starken
        Kundenauthentifizierung. Mit diesen Maßnahmen wol-
        len wir die Anzahl missbräuchlich ausgelöster elektro-
        nischer Zahlungen weiter reduzieren . Die Details zur
        starken Kundenauthentifizierung werden gerade auf eu-
        ropäischer Ebene ausgearbeitet . Wichtig ist uns als CDU/
        CSU hierbei besonders, dass Komfort und Sicherheit im
        Einklang miteinander stehen .
        Sollte es doch einmal dazu kommen, dass eine nicht
        autorisierte Zahlung ausgelöst wird, so kann sich der Ver-
        braucher auch hier darauf verlassen, dass ihn die neuen
        Regelungen schützen . Wir verbessern dazu die Haftungs-
        verteilung, vor allem bei Kreditkartenmissbrauch . Der
        Verbraucher haftet anstatt gegenwärtig mit 150 Euro in
        Zukunft maximal mit 50 Euro . Auch das ist ein weiterer
        Schritt zu mehr Verbraucherschutz im Zahlungsverkehr .
        Abschließend – damit komme ich zu Punkt 3 – gehen
        wir das Problem der Zahlungsmittelentgelte an . Bis heute
        kommt es oft bei Zahlungen im Internet zu bösen Überra-
        schungen: Wer zum Beispiel online ein Bahnticket oder
        eine Flugreise bucht, der wird bei der Zahlung etwa per
        Kreditkarte häufig mit Zusatzkosten zur Kasse gebeten.
        Wir schieben mit dem Gesetz solchen Preisaufschlägen
        für Überweisungen, Lastschriften und die Nutzung gän-
        giger Zahlungskarten einen Riegel vor . Anbieter nicht
        gängiger Zahlungsmittel fordern wir auf, ihre Preis- und
        Vertragsstruktur so anzupassen, dass die Händler in die
        Lage versetzt werden, auch diese in Zukunft entgeltfrei
        anzubieten .
        Mit dem Gesetz schaffen wir zahlreiche Verbesserun-
        gen für Verbraucherinnen und Verbraucher . Wir vergrö-
        ßern das Angebot an regulierten Zahlungsmethoden und
        erhöhen somit gleichzeitig Sicherheit und Komfort für
        die Kunden . Wir passen die Rechtslage an neue Techno-
        logien an und halten mit Innovationen Schritt . Deshalb
        bitte ich Sie um Zustimmung zu diesem Gesetz .
        Dr. Frank Steffel (CDU/CSU): Mein Kollege Hauer
        hat bereits seine Ausführungen zur Umsetzung der Zah-
        lungsdiensterichtlinie gemacht, ich beschränke mich da-
        her auf das Thema „Kleinanlegerschutzgesetz“ .
        Im Jahr 2015 haben wir ein Gesetz zum Schutz der
        Bürgerinnen und Bürger, hier im Besonderen der Klein-
        anleger, verabschiedet, das gut war, gut ist und deshalb
        auch in die richtige Richtung weist . Kurz: Das Gesetz
        wirkt! Es ist gut, weil wir vor zwei Jahren ein Gesetz
        beschlossen haben, bei dem wir auf praktisch alle Einga-
        ben – ob von Verbänden, Organisationen, Kirchen, Bür-
        gerinitiativen, Sportvereinen, Kulturprojekten oder frei-
        en Schulen – eingegangen sind und diese weitestgehend
        berücksichtigt haben . Es ist gut, weil wir Kleinanlegern
        damit die Chance gewahrt haben, individuell und gut in-
        formiert Produkte am Kapitalmarkt auszuwählen .
        Es ist gut, weil wir Warnhinweise verschärft, aber
        gleichzeitig seriöse Werbung in den Medien nicht ein-
        geschränkt haben . Es ist gut, weil wir die Grenze für
        die Prospektpflicht von 1 auf 2,5 Millionen Euro erhöht
        haben, was Bürokratie und Kosten gerade für soziale
        Projekte reduziert . Es ist gut, weil wir unzählige Sport-
        vereine, zahlreiche Kulturprojekte und auch viele freie
        Schulen mit einer Sonderregelung für gemeinnützige
        Organisationen vor größeren bürokratischen Aufgaben
        bewahrt haben . Ehrenamtliche sollen ihr Engagement
        entfalten, nicht Schriftsätze und Fragebögen falten! Und
        es ist auch gut, weil Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen
        der Opposition, mit Ihrer Enthaltung, der höchsten Form
        der Zustimmung, die in einer parlamentarischen Demo-
        kratie üblich ist, das Gesetz unterstützt haben! Wir sen-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24235
        (A) (C)
        (B) (D)
        den ein klares Signal an die Start-up-Unternehmen und
        potenzielle Gründer: Wir ermöglichen auch innovative
        Finanzierungen .
        Aber – lassen Sie mich auch das sagen –: Das Gute
        ist des Besseren Feind! Wir sind nach eingehender Be-
        wertung der Überzeugung, dass der Anwendungszeit-
        raum der betreffenden Vorschriften zu kurz gewesen sein
        könnte, um eine abschließende Beurteilung aller Aspekte
        und Auswirkungen zu ermöglichen . Deshalb haben wir
        beschlossen, dieses Gesetz weiter zu evaluieren, also re-
        gelmäßig zu verbessern .
        Zusammenfassend stelle ich fest: Wir haben den Ver-
        braucherschutz gestärkt und damit den grauen Kapital-
        markt weiter reguliert! Wir haben mit Augenmaß den
        Schutz der Kleinanleger gestärkt, das heißt, dass bei-
        spielsweise Regelungen für soziale und gemeinnützige
        Projekte sowie Religionsgemeinschaften beibehalten
        werden . Das Widerrufsrecht bleibt vollständig erhalten .
        Die Werbung in sozialen Medien bleibt ohne Änderung,
        und das Vermögensinformationsbeiblatt wird optimiert .
        Wir haben mit dem Kleinanlegerschutzgesetz die Grund-
        lage für innovative Finanzanlagen gelegt .
        Geben wir dem Markt die Möglichkeit, sich zu ent-
        falten . Geben wir den Anlegern die Möglichkeit, sich zu
        beteiligen . Geben wir uns die Zeit, erneut zu evaluieren .
        Sarah Ryglewski (SPD): Aller Wahrscheinlichkeit
        nach zum letzten Mal in dieser Legislaturperiode befas-
        sen wir uns heute auch mit der Wohnimmobilienkredit-
        richtlinie . Denn wir nehmen das vorliegende Gesetz zum
        Anlass, um einen letzten offenen Punkt zu klären.
        Worum geht es? Bereits Anfang 2016 beschlossen wir
        Regeln, um Verbraucherinnen und Verbraucher wirksa-
        mer vor Überschuldung zu schützen .
        Nachdem das Gesetz mit der neuen Kreditwürdig-
        keitsprüfung in Kraft war, erhielt so mancher durchaus
        solvente Verbraucher plötzlich keinen Kredit mehr zur
        Immobilienfinanzierung. Schuld waren Unsicherheiten
        aufseiten der Banken . Deshalb legten wir im März dieses
        Jahres nach und stellten einige Regelungen des Gesetzes
        klar .
        Einen offenen Punkt konnten wir im März jedoch
        nicht klären, da wir zunächst den europarechtlichen
        Spielraum klären wollten . Es geht darum, ob auch bei
        Anschlussfinanzierungen und Umschuldungen eine Kre-
        ditwürdigkeitsprüfung notwendig ist . Die Sorge dahinter
        ist Folgende: Wer bereits einen Darlehensvertrag abge-
        schlossen hat, würde durch eine erneute Kreditwürdig-
        keitsprüfung nicht geschützt, sondern es bestünde im Ge-
        genteil die Gefahr, durch einen negativen Bescheid erst
        in Existenznöte zu geraten .
        Deshalb stellen wir heute klar, dass in diesen Fällen
        keine erneute Kreditwürdigkeitsprüfung notwendig ist,
        sofern der Vertrag mit demselben Kreditinstitut abge-
        schlossen wird .
        Von dieser Regel machen wir im Sinne der Verbrau-
        cher nur zwei Ausnahmen: Eine Prüfung ist auch dann
        weiterhin notwendig, wenn der Nettodarlehensbetrag
        deutlich erhöht wird oder aber wenn die Bank weiß, dass
        der Darlehensnehmer die neue Finanzierung nicht dauer-
        haft tragen können würde .
        Die SPD trägt damit den Interessen der Verbraucher
        Rechnung und erfüllt den Zweck der europäischen Vor-
        gaben: Das Risiko, dass Verbraucher wegen einer zu
        strengen Interpretation der Pflicht zur Kreditwürdig-
        keitsprüfung ihre Immobilie vorzeitig veräußern müssen,
        entfällt . Den Schutz der Verbraucher vor Überschuldung
        halten wir aufrecht . Denn natürlich gelten auch in diesem
        Fall die Sanktionen bei fehlerhafter Kreditwürdigkeits-
        prüfung, damit die Banken einen Anreiz haben, sich an
        die Regeln zu halten .
        Christian Petry (SPD): Mit der Umsetzung des
        Kleinanlegerschutzgesetzes hat die Große Koalition im
        Sommer 2015 den Schutz von Verbraucherinnen und
        Verbrauchern am Kapitalmarkt verbessert . Wir haben da-
        mals unter anderem festgelegt, dass bei Abschluss einer
        Anlageinvestition Anlegern ein sogenanntes Vermögens-
        informationsblatt (VIB) vorgelegt werden muss . Dieses
        Infoblatt muss alle wesentlichen Inhalte der Vermögens-
        anlage umfassen und abbilden . Darüber hinaus haben wir
        den kollektiven Verbraucherschutz als Aufsichtsziel der
        BaFin fest verankert – eine wegweisende Stärkung des
        finanziellen Verbraucherschutzes!
        Bei allen Regelungen war es uns aber immer wichtig,
        dass wir bürgerschaftliches Engagement nicht erschwe-
        ren . Deshalb haben wir Ausnahmetatbestände geschaf-
        fen, die der Vielfalt sozialer und gemeinnütziger Projekte
        Rechnung tragen .
        Anbieter von Crowdinvestments im Internet haben
        wir von diversen Anforderungen befreit . Diese Plattfor-
        men unterstützen gezielt kleinere und mittlere Unterneh-
        men sowie Start-ups .
        Die Bundesregierung hat nun diese Ausnahmetatbe-
        stände evaluiert . Die Praxistauglichkeit der Regelungen
        des Kleinanlegerschutzgesetzes haben wir deshalb disku-
        tiert und Änderungen beschlossen:
        Das Widerrufsrecht hat sich bewährt .
        Zukünftig darf der Emittent eines Anlageprodukts nicht
        gleichzeitig auch Betreiber der Crowdfunding-Plattform
        im Internet sein, auf der das Produkt beworben wird . Da-
        mit wird verhindert, dass Internetplattformen nicht ob-
        jektiv über Vermögensanlagen informieren .
        Die Qualität des Vermögensinformationsblatts haben
        wir darüber hinaus verbessert: Zukünftig muss eine feste
        Reihenfolge an Mindestangaben bei der Erstellung des
        Infoblatts befolgt werden . Dadurch wird die Vergleich-
        barkeit der Vermögensinformationsblätter für Anleger
        gewährleistet .
        Eine weitere wichtige Änderung betrifft das Wertpa-
        pierprospektgesetz . Bislang besteht bei der Genehmi-
        gung eines solchen Prospektes bei der BaFin die Pflicht,
        den Prospekt auch in Papierform einzureichen . Diese
        Pflicht haben wir für Wertpapieremittenten abgeschafft.
        Gerade mit Blick auf den Brexit soll sich die Attraktivi-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724236
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        tät des Standorts Deutschland für Wertpapieremittenten
        dadurch erhöhen .
        Aufgrund der kurzen Praxiserfahrung mit dem Klein-
        anlegerschutzgesetz haben wir uns darauf verständigt,
        Anfang 2019 die genannten Ausnahmevorschriften er-
        neut unter die Lupe zu nehmen . Mögliche Änderungen
        werden wir hiernach konstruktiv diskutieren .
        Schlussendlich bleibt zu sagen, dass das Kleinanle-
        gerschutzgesetz den Verbraucherschutz am Kapitalmarkt
        nachhaltig verbessert und die Märkte allgemein stabiler
        gemacht hat .
        Dr. Jens Zimmermann (SPD): Mit dem vorliegen-
        den Gesetzentwurf setzen wir als nationaler Gesetzge-
        ber die Zweite EU-Zahlungsdiensterichtlinie um . Es ist
        ein wichtiges Gesetzgebungsvorhaben, weil so gut wie
        alle Bürgerinnen und Bürger von den enthaltenen Maß-
        nahmen betroffen sind; denn es werden neue Regeln für
        das elektronische Bezahlen eingeführt . Es ist ein gutes
        Gesetz, weil wir nicht nur die Sicherheit bei Zahlungen
        erhöhen, sondern auch den Verbraucherschutz im Zah-
        lungsdienstemarkt erhöhen .
        Die Rechte der Kundinnen und Kunden bei Zah-
        lungsvorgängen werden an vielen Stellen gestärkt . So
        wird europaweit ein bedingungsloses Erstattungsrecht
        bei Lastschriften eingeführt . Außerdem wird Kunden-
        haftung bei Kartenmissbrauch von derzeit 150 Euro auf
        zukünftig 50 Euro begrenzt . Zudem wird es ein Verbot
        von Preis aufschlägen durch Händler für Überweisungen,
        Lastschriften und die gängigsten Zahlungskarten geben .
        Damit gibt es keine bösen Überraschungen mehr, wenn
        man am Ende eines Buchungsvorganges mit einer be-
        stimmten Karte bezahlen möchte .
        Bisher gab es bei bestimmten Händlern bei Online-
        zahlungen und Buchungen eine sehr intransparente
        Preisstruktur. Häufig wurde erst am Ende eines Bu-
        chungs- oder Bezahlungsvorganges ersichtlich, dass für
        bestimmte Zahlungsmittel ein Zusatzentgelt fällig wird .
        Hat man in diesem Moment dann keine Möglichkeit, ei-
        nes der kostenlosen Zahlungsmittel zu wählen, ist man
        zur Zahlung von Zusatzgebühren gezwungen . In be-
        stimmten Branchen, beispielsweise beim Fliegen, konn-
        ten das durchaus erhebliche Summen sein .
        Wir als SPD-Fraktion begrüßen es deshalb sehr, dass
        solche Zusatzentgelte zukünftig verboten sein werden;
        denn damit schaffen wir Transparenz bei den Preisen für
        Bahn-, Zug- oder Konzerttickets . Das kommt den Kun-
        den zugute .
        Ausgenommen von dem Verbot für Zusatzentgelte
        sind in Zukunft lediglich noch sogenannte Dreipartei-
        ensysteme . In den parlamentarischen Beratungen ha-
        ben wir mit unserem Koalitionspartner intensiv darüber
        diskutiert, ob das Verbot auf diese Systeme ausgedehnt
        werden soll . Aufgrund der geringen Marktanteile dieser
        Kartenart in Deutschland und weil hier eine vertragliche
        Lösung zwischen Händlern und den Kartenunternehmen
        rechtlich möglich ist, die die Zusatzentgelte vermeidet,
        haben wir uns dafür entschieden, in diesem Punkt die
        Richtlinie eins zu eins umzusetzen .
        Neben den eben dargestellten zivilrechtlichen Än-
        derungen werden mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
        auch viele aufsichtsrechtliche Vorschriften an den tech-
        nologischen Fortschritt angepasst . Finanz- und Bankge-
        schäfte werden längst nicht mehr nur über die traditionel-
        le Filiale oder das Onlinebanking großer Kreditinstitute
        erledigt . Stattdessen bieten immer mehr Unternehmen
        Dienste rund um das Girokonto an, die beispielsweise
        über Kontostände informieren oder Zahlungen ermögli-
        chen, ohne dass von diesen Unternehmen auch das jewei-
        lige Konto angeboten wird .
        Diese sogenannten dritten Zahlungsdienstleister wer-
        den nun der Aufsicht der Bundesanstalt für Finanzdienst-
        leistungsaufsicht unterstellt und unterliegen zukünftig
        einer Erlaubnispflicht. Damit geben wir als Gesetzgeber
        klare Regeln und Anforderungen für diese Dienste vor .
        Hiermit schaffen wir ein höheres Maß an Rechtssicher-
        heit und eröffnen mit klaren Vorgaben auch neue Ge-
        schäftsfelder für Banken und innovative Unternehmen .
        In den parlamentarischen Beratungen haben wir ne-
        ben einigen redaktionellen Änderungen auch einige
        Empfehlungen aus der Sachverständigenanhörung be-
        rücksichtigt . Unter anderem haben wir eine Klarstellung
        bei Zweckgutscheinen vorgenommen, die sowohl den
        Unternehmen als auch den Steuerbehörden hier eine
        bessere Orientierung bei der steuerlichen Bewertung
        dieser Gutscheine geben soll . Außerdem haben wir im
        Ausschussbericht eine Präzisierung festgehalten für be-
        stimmte Leistungen, die Telekommunikationsunterneh-
        men für die Anbieter bestimmter Dienste durchführen .
        Insgesamt werden die Maßnahmen im Gesetzentwurf die
        Regeln für den Zahlungsdienstemarkt zukunftsfest ma-
        chen und viele Verbesserungen für die Verbraucherinnen
        und Verbraucher bewirken . Deshalb stimmen wir dem
        Gesetzentwurf zu . Den Antrag der Grünen zu TOP 20 b
        lehnen wir ab .
        Susanna Karawanskij (DIE LINKE): Zahlungs-
        dienste: Das klingt erst einmal sehr technisch . Doch sie
        spielen eine wichtige Rolle im Alltag der Verbraucher .
        Pro Jahr gibt es im Einzelhandel fast 10 Milliarden unba-
        re Transaktionen . Durch den Gesetzentwurf sollen rund
        133 Millionen Zahlungsdienstrahmenverträge, also zum
        Beispiel Girokonten, reguliert werden . Da muss man
        schon ganz genau hinsehen, dass Verbraucher nicht übers
        Ohr gehauen werden; denn wir kennen alle Fälle aus
        den Medien – vielleicht sind wir aber sogar selbst schon
        Opfer davon geworden –, bei denen sich Unbefugte mit
        immer wieder neuen Tricks Zugang zu Konten verschafft
        haben . Das wird dann als Phishing, Hacking, Skimming
        usw . bezeichnet .
        Mit der Umsetzung der Zweiten Zahlungsdienstericht-
        linie sollen Internetzahlungen weiter vereinfacht, neue
        innovative Bezahlverfahren gefördert, die Sicherheit
        von Zahlungen verbessert und die Rechte der Kunden
        von Zahlungsdienstleistern gestärkt werden . Dies gelingt
        zum Teil, auch wenn es gewiss noch einige Lücken und
        vor allem Unklarheiten gibt .
        Eine bedeutende Rolle in der Debatte spielte der Da-
        tenzugang für Drittanbieter . Geldanbieter sollen ab 2018
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24237
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        sogenannten Fintechs sowie anderen Zahlungsdienstleis-
        tern sämtliche Konteninformationen zugänglich machen
        und dann entsprechend die Zahlungsaufträge weiterlei-
        ten . Was wir hier immer wieder hören: Es bestehen bis
        heute genau an der Schnittstelle zu den Kundenkonten zu
        wenig sichere, einheitliche Standards, bzw . es sind noch
        keine festgesetzt worden . Dies ist ein erhebliches Risiko
        für die Konteninhaber, für den Verbraucher . Hier sollte
        die Bundesregierung noch einmal nacharbeiten .
        Des Weiteren müssen wir aufpassen, dass Kontoinfor-
        mationsdienstleister nur auf Informationen, die der Nut-
        zer tatsächlich gegeben hat, und auf in diesem Zusam-
        menhang stehende Zahlungsvorgänge zugreifen können .
        Dies ist im Gesetzentwurf eigentlich unmissverständlich
        dargestellt und darf auf keinen Fall verwässert werden:
        Eine ganz enge Zweckbindung und starker Datenschutz
        müssen bestehen bleiben, damit dem Missbrauch vorge-
        beugt werden kann .
        Positiv ist für Verbraucher, dass Zahlungsdienstleiser
        und Banken in der Regel keine gesonderten Gebühren
        verlangen dürfen, wenn der Kunde ein Zahlungssystem
        nutzt . Zugleich wird die Kundenhaftung bei Schäden
        aus nicht autorisierten Kartenzahlungen künftig von
        150 Euro auf 50 Euro reduziert – vorausgesetzt, der Kun-
        de hat nicht grob fahrlässig gehandelt . Und genau hier
        gibt es eine Lücke und Schwachstelle; denn in der Praxis
        wird sich hierdurch vermutlich nichts ändern . Wenn eine
        Bank nicht erstatten will, wird sie es einfach nicht tun .
        Sie wird sagen, der Kontoinhaber habe seine Daten grob
        fahrlässig Dritten zugänglich gemacht (zum Beispiel die
        PIN neben der Karte aufbewahrt) und lässt es einfach
        auf eine Klage ankommen . Auf eigene Kosten eine ge-
        richtliche Klärung zu suchen, werden demgegenüber die
        meisten Kunden scheuen . Das ist schlicht zu teuer . Hier
        gilt es also dringend nachzubessern! Wir Linke hätten
        uns gewünscht, dass der Gesetzentwurf klipp und klar re-
        gelt, dass künftig Banken ihren Kunden nicht mehr grobe
        Fahrlässigkeit oder Vorsatz unterstellen können, sondern
        dass die Banken ebendiese ausdrücklich beweisen müs-
        sen .
        In der Gesamtschau kann man den Gesetzentwurf et-
        was provokativ so zusammenfassen: Wir haben es hier
        mit einem „Fintech-Stärkungsgesetz“ zu tun . Diese neu-
        en Anbieter auf dem Markt werden zwar nun reguliert,
        aber dabei auch deutlich gestärkt . Die Regelungen sind
        insofern erfrischend, als dass sich hier nicht in erster Li-
        nie am Bedarf der Banken orientiert wurde . Im Gegenteil:
        Banken haben die Schnittstellen und die Sicherheitsar-
        chitektur zu stellen, und sie treten für die Fehler der Fin-
        techs in Haftung, obwohl sie Regressansprüche geltend
        machen können, weil die neuen Anbieter haftpflichtversi-
        chert sein müssen . Der Aufschrei der Bankenlobby wäre
        sicher vehementer gewesen, wenn sie nicht die Hoffnung
        hätte, auf lange Sicht selbst von den Regelungen zu pro-
        fitieren, weil sie die neuen Geschäftsmodelle auch selbst
        gewinnbringend nutzen bzw . Arbeitsabläufe zeitgemäß
        vereinfachen kann .
        Alles in allem unterstützt die Linke bei der Umsetzung
        der Zweiten Zahlungsdiensterichtlinie notwendige und
        sinnvolle Innovationen, solange der Verbraucherschutz
        sowie die Sicherheit von Zahlungen und damit von Geld,
        das Verbrauchern gehört, sichergestellt ist .
        Noch kurz ein Wort zur Evaluierung des Kleinanle-
        gerschutzgesetzes . Diese wurde auch in der Anhörung
        zu diesem Gesetzentwurf mitberaten . Speziell wurden
        die Befreiungsvorschriften in §§ 2a bis 2c des Vermö-
        gensanlagegesetzes evaluiert, es geht also unter anderem
        um Ausnahmen von der Prospektpflicht für Schwarmfi-
        nanzierungen/Crowdinvesting . Der Abschlussbericht ist
        wirklich interessant, und in vielem kann die Linke auch
        mitgehen . Fest steht zu diesem Zeitpunkt aber auch: Die
        Befreiungsvorschriften für Schwarmfinanzierungen wer-
        den nicht auf sämtliche Vermögensanlagen ausgedehnt .
        Ob man dies will oder nicht – hier besteht noch Diskussi-
        onsbedarf, ebenso bei der Frage, ob man bestimmte Im-
        mobilienprojekte ganz herausnehmen sollte, weil sie für
        Schwarmfinanzierungen ungeeignet sind und ihre Betrei-
        ber nicht zur avisierten Zielgruppe gehören .
        Wir müssen also weiter die Augen offen halten, in-
        wieweit die Ausnahmevorschriften für eine Umgehung
        genutzt werden . Grundsätzlich bedauern wir, dass auf
        absehbare Zeit keine weiteren Verbesserungen beim
        Anlegerschutz vorgesehen sind . Die Bundesregie-
        rung verweist einfach nur auf die nächste Evaluierung .
        Doch Verbraucherschutz – zum Beispiel durch striktere
        Selbstauskunftsverfahren von Crowdinvestingplattfor-
        men – darf wahrlich nicht auf die lange Bank geschoben
        werden .
        Sowohl bei den Zahlungsdienstleistern, die verstärkt
        auf den Markt dringen, als auch bei den Nachrangdarle-
        hen, die manche Start-ups über die Crowdanbieter aus-
        geben, um Geld zu sammeln: Eine präventive Prüfung –
        wie bei Kinderschlitten und Atomkraftwerken – tut not,
        bevor Finanzmarktakteure und Finanzprodukte für den
        Gang auf den Markt zugelassen werden . Man spart auch
        einiges an Bürokratie, wenn man nicht mehr im Nach-
        hinein mittels Hase-und-Igel-Wettlauf immer wieder
        prüfen, kontrollieren und eventuell Produkte oder Emit-
        tenten aus dem Verkehr ziehen muss . Genau dazu hatten
        wir jüngst im Finanzausschuss des Bundestages eine sehr
        gute Anhörung; denn wir als Linke fordern die Einfüh-
        rung einer europäischen verpflichtenden Zulassungsprü-
        fung für Finanzprodukte . Wir fordern einen Finanz-TÜV .
        Triftige Argumente gegen einen solchen TÜV jenseits
        von Ängsten vor zu viel Bürokratie waren nicht zu ver-
        nehmen .
        Mit einem Finanz-TÜV würde man den Verbraucher-
        schutz, aber ebenso Finanzmarktstabilität und Sicherheit
        großschreiben – und etwas anderes will die Zweite Zah-
        lungsdiensterichtlinie im Grunde auch nicht bezwecken .
        Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Im Zahlungsverkehrsbereich ist derzeit viel in Bewegung .
        Fintechs stoßen immer weiter in den Bereich des Bank-
        geschäfts vor und bieten innovative Dienstleistungen an .
        Neue Zahlungsdienste formieren sich und erleichtern die
        Bezahlung im Internet . Kontoinformationsdienste ma-
        chen die Verwaltung unserer Finanzen einfacher . Die EU
        schafft in der Zweiten Zahlungsdiensterichtlinie nun erst-
        mals einen umfassenderen Rechtsrahmen und Aufsichts-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724238
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        und Regulierungsstandards für diese neuen Dienste . Das
        ist gut aus Verbraucherschutzsicht; denn die Haftungsfra-
        ge wird geklärt und die Haftung des Kunden beschränkt .
        Auch aus wettbewerblicher Sicht ist das zu begrü-
        ßen, weil die alteingesessenen Banken sich nicht mehr
        durch die Schaffung bürokratischer Hürden aus ihrer
        Vormachtstellung heraus der Konkurrenz durch die neu-
        en Dienstleister entziehen können . Eine versteckte Hürde
        für einen fairen Wettbewerb, die im Entwurf des Umset-
        zungsgesetz der Bundesregierung noch enthalten war,
        nämlich dass die Zahlungsdienste benötigte Garantien
        nur bei ihren Wettbewerbern, den Banken, einholen dür-
        fen, wurde auf unsere Initiative hin gestrichen .
        Die Zahlungsdiensterichtlinie enthält noch eine Rei-
        he weiterer Verbesserungen für den Verbraucher, zum
        Beispiel die Abschaffung von Aufpreisen bei Onlinezah-
        lungen für die meisten gängigen Zahlungsmittel, eine
        Beweislastumkehr bei missbräuchlichen Zahlungen zu-
        gunsten des Kunden und eine Senkung der Haftung des
        Verbrauchers in solchen Fällen .
        Die EU hat hier eine gute Vorlage geliefert, und bei
        der Umsetzung der Richtlinie hat sich die Koalition keine
        groben Schnitzer geleistet . Doch das Gesetz enthält nicht
        nur die Umsetzung der EU-Richtlinie, sondern Sie haben
        in Ihren 13 Änderungsanträgen noch einiges Sachfrem-
        des an das Gesetz gehängt, unter anderem Regelungen
        zu Wohnimmobilienfinanzierungen, zum Crowdinves-
        ting, zu Abschlussprüfern bei Aktiengesellschaften, zu
        Dividendenzahlungen und Wertpapierprospekten . In der
        kurzen Redezeit kann ich nicht auf all diese Themen ein-
        gehen .
        Deshalb nur kurz zum Thema Crowdinvesting: Hier
        werden bei den Befreiungsvorschriften für Crowdfun-
        ding nach § 2a bis 2c des Vermögensanlagegesetzes ein
        paar wichtige Stellschrauben nachgezogen . Insbeson-
        dere die höhere Transparenz beim Vermögensinforma-
        tionsblatt ist positiv . Auch werden einige weitere Um-
        gehungsmöglichkeiten geschlossen . Leider wurden hier
        aber insgesamt die falschen Prioritäten gesetzt . Bei eini-
        gen Punkten, die bei der Evaluation festgestellt wurden,
        hat die Bundesregierung gesagt: Da gibt es ein Problem .
        Das müssen wir uns aber nochmal genauer anschauen .
        Da lassen wir uns etwas mehr Zeit .
        Gleichzeitig wagt sie aber bei der Regulierung der
        Plattformen einen Schnellschuss . Bei einigen Projekten,
        bei denen es eine Verbindung zwischen Emittent und
        Plattform gab, gab es laut Bundesregierung Missbrauchs-
        fälle, aber nur im Immobilienbereich . Diese Missbrauchs-
        möglichkeit soll nun ausgeschlossen werden . Das ist
        grundsätzlich zu begrüßen . Allerdings ist es problema-
        tisch, dass mit Ihrer Lösung funktionierende Geschäfts-
        modelle, insbesondere im Erneuerbare-Energien-Sektor,
        die bisher auch laut Aussage der Bundesregierung nicht
        von Missbrauchsfällen betroffen waren, kaputtgemacht
        werden . Auch hier hätte man sich etwas mehr Zeit neh-
        men können und sicherlich mit etwas Umsicht und Mühe
        Wege finden können, die sowohl dem Missbrauch Ein-
        halt gebieten als auch die Besonderheiten dieses Sektors
        würdigen, insbesondere da sie selbst sagen – jetzt zitiere
        ich aus dem Ausschussbericht – „dass der Anwendungs-
        zeitraum der betreffenden Vorschriften zu kurz gewesen
        sein könnte, um eine abschließende Beurteilung aller As-
        pekte und Auswirkungen zu ermöglichen .“
        Wenn Sie schon so viele Themen im Rahmen dieses
        Gesetzes angehen, könnten Sie auch das Thema Kon-
        togebühren, bei dem Sie unsere Problemanalyse teilen,
        gleich mitregeln, vor allem weil es thematisch deutlich
        besser in den Rahmen dieses Gesetzes gepasst hätte als
        viele der anderen Anhänge . Verbraucherinnen und Ver-
        braucher werden nach wie vor mit überhöhten Gebühren
        für Kontoleistungen – beim Abheben am Geldautomaten,
        bei den Dispozinsen oder beim Basiskonto – allein gelas-
        sen . Natürlich ist klar, dass Banken und Sparkassen für
        die Dienstleistung „Kontoführung“ eine Gegenleistung
        verlangen . Klar ist auch, dass sie sich für Risiken, zum
        Beispiel beim Einräumen eines Disporahmens, bezahlen
        lassen .
        Aber ein Konto ist eine zentrale Voraussetzung, um
        am Wirtschaftsleben teilhaben zu können . Verbrauche-
        rinnen und Verbraucher haben ein Recht darauf, dass
        die Gebühren für Kontoleistungen nachvollziehbar und
        transparent sind sowie in einem angemessenen Verhältnis
        zum Aufwand und Risiko der Geldinstitute stehen . Die
        Dispozinsen müssen endlich auf ein verträgliches Maß
        reduziert werden . Noch immer sind Dispo- und Überzie-
        hungszinsen von über 10 Prozent keine Seltenheit . Das
        steht in keinem Verhältnis zu den Zinsen, zu denen sich
        Banken und Sparkassen Geld leihen .
        Das Basiskonto, auf das jede/r Verbraucher/in ein An-
        recht hat, muss endlich halten, was es verspricht . Nie-
        mand darf durch zu hohe Gebühren vom Basiskonto aus-
        geschlossen werden . Hier muss endlich Rechtsklarheit
        her!
        Doch all diese Punkte ignorieren Sie weiterhin be-
        harrlich . Die Umsetzung der Zweiten Zahlungsdienste-
        richtlinie hätte ein voller Erfolg werden können . Aber Sie
        sind wieder einmal auf halber Strecke stehen geblieben .
        Bei der Umsetzung der EU-Vorlage haben Sie nicht viel
        falsch gemacht, weshalb wir dem Gesetz zustimmen
        können, aber Ihre Bekenntnisse zum Verbraucherschutz
        scheinen vor allem Lippenbekenntnisse zu sein .
        Anlage 16
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Antrags der Abgeordneten
        Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar
        Bartsch, Dr. Sahra Wagenknecht und der Fraktion
        DIE LINKE:
        Weltfriedenstag als europäischer Feiertag
        (Tagesordnungspunkt 21)
        Dr. Tim Ostermann (CDU/CSU): „Die Einheit Eu-
        ropas war ein Traum von wenigen. Sie wurde eine Hoff-
        nung für viele . Sie ist heute eine Notwendigkeit für uns
        alle.“ Die Worte Konrad Adenauers beschreiben treffend
        die Genese des europäischen Friedensprojektes . Die jün-
        gere europäische Geschichte ist eine Erfolgsgeschichte .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24239
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        Seit über 60 Jahren steht das Friedensprojekt Europa auf
        soliden Füßen . Sukzessive arbeiten alle Mitgliedstaaten
        an diesem Projekt weiter .
        Begonnen hat das europäische Friedensprojekt nach
        dem Zweiten Weltkrieg am 9 . Mai 1950, als der damalige
        französische Außenminister und große Europäer Robert
        Schuman in seiner berühmten Pariser Rede vorschlug,
        eine europäische Produktionsgemeinschaft zu schaffen.
        Die sogenannte „Schuman-Erklärung“ mündete in der
        Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und
        Stahl, auch Montanunion genannt . Der Anfang der Euro-
        päischen Union war gemacht . Der 9 . Mai ist schließlich
        bei einem Gipfeltreffen der damaligen EG-Staats- und
        Regierungschefs im Jahr 1985 in Mailand zum Euro-
        patag der Europäischen Gemeinschaft, später der Euro-
        päischen Union, bestimmt worden. Seitdem finden an
        diesem Tag überall in Europa zahlreiche Veranstaltungen
        und Festlichkeiten statt .
        Zweifelsohne befinden wir uns in einer der schwersten
        Krisen, die die europäische Idee seit langer Zeit durch-
        lebt. Der bevorstehende Brexit ist als vorläufiger Hö-
        hepunkt dieser Krise anzusehen . Es ist an uns allen, die
        EU durch zielgerichtete Reformen wieder attraktiver zu
        machen . Allerdings glaube ich nicht, dass die Einführung
        eines Feiertages, wie die Fraktion Die Linke ihn in ihrem
        Antrag fordert, das Vertrauen der Bürger in die europä-
        ische Idee steigern lässt. Ich bin der Auffassung, dass
        wir mit dem Europatag bereits einen geeigneten europä-
        ischen Feiertag begehen . Da braucht es keinen weiteren
        europäischen Feiertag .
        Unabhängig von unserer grundsätzlichen Ablehnung
        begegnet auch der vorgeschlagene Tag Bedenken: Der
        1 . September wird deshalb vorgeschlagen, da am 1 . Sep-
        tember 1939 bekanntlich der Zweite Weltkrieg mit dem
        Angriff der Wehrmacht auf Polen begann. Sollte man für
        einen „Friedenstag“ nicht eher den Tag des Kriegsendes
        wählen? Lassen Sie mich auch darauf hinweisen, dass es
        bereits einen weltweiten Friedenstag gibt, den die Gene-
        ralversammlung der Vereinten Nationen im Jahr 1981 in
        einer Resolution beschlossen hat . Die Resolution besagt:
        „Dieser Tag soll offiziell benannt und gefeiert werden als
        Weltfriedenstag (International Day of Peace) und soll ge-
        nützt werden, um die Idee des Friedens sowohl innerhalb
        der Länder und Völker als auch zwischen ihnen zu be-
        obachten und zu stärken .“ Seit dem Jahr 2002 wird der
        21. September offiziell weltweit als der „Internationale
        Tag des Friedens“ gefeiert . Wir sollten daher unsere An-
        strengungen darauf ausrichten, diesen Tag stärker zu för-
        dern, anstatt einen europäischen Alleingang zu tätigen .
        Es sprechen außerdem weitere Argumente dafür, Ihren
        Antrag abzulehnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von
        den Linken . Lassen Sie mich zwei konkret benennen:
        Erstens . Die politische Initiative für die Einführung
        eines europäischen Feiertages müsste von der Europäi-
        schen Union ausgehen und nicht vom Deutschen Bun-
        destag . Mein Vorschlag: Bringen Sie doch über Ihre
        Kollegen in Brüssel einen Antrag in das Europäische
        Parlament ein . Das scheint mir der richtige Ort zu sein,
        um sich mit dieser Frage zu beschäftigen .
        Zweitens ist es für mich schwer nachvollziehbar, wenn
        Sie behaupten, dass sich die europäischen Bürger spezi-
        ell an diesem Tag aufmachen, um ihre Nachbarn kennen-
        zulernen . Heutzutage gibt es zum Glück einen überaus
        regen Austausch zwischen den europäischen Staaten, ob
        nun staatlich oder privat organisiert . Diesen gilt es über
        das gesamte Jahr hindurch zu fördern .
        Barbara Woltmann (CDU/CSU): Wer wäre nicht
        für den Frieden! Denn weltweit werden ganze Länder
        durch Kriege ins Chaos gestürzt und Familien zerrissen .
        So wurde international schon 1981 von der UN-Haupt-
        versammlung der 21 . September als Weltfriedenstag aus-
        gewählt . An diesem Tag sind nicht nur jede Regierung,
        sondern auch alle Organisationen und Bürgerinnen und
        Bürger dazu aufgerufen, alle Waffen bedingungslos ru-
        hen zu lassen und darüber nachzudenken, wie Frieden in
        der Welt erreicht werden kann .
        Alle sehnen sich nach Frieden überall auf der Welt .
        Leider sieht die Wirklichkeit anders aus . Das wissen wir
        in Deutschland ganz besonders aus unserer Geschichte,
        aus dem Ersten Weltkrieg und aus dem Zweiten Welt-
        krieg, in dem Hitler mit seinen Schergen Europa in
        Schutt und Asche gelegt hat und mit dem Holocaust ein
        Verbrechen gegen die Menschlichkeit an Juden, Sinti und
        Roma und vielen anderen Menschen verübt hat, indem er
        ganze Völkergruppen ausrotten wollte .
        Seit Beginn der 1950er-Jahre wurde in der DDR der
        1 . September als „Tag des Friedens“ bzw . als „Weltfrie-
        denstag“ bezeichnet – in Erinnerung an den Beginn des
        Zweiten Weltkrieges mit dem deutschen Überfall auf Po-
        len am 1 . September 1939 . Verbunden war der Tag auch
        immer mit einem Fahnenappell . Dieser 1 . September ist
        daher eher ein Antikriegstag . Nicht der Beginn dieses
        Krieges sollte hervorgehoben werden, also der Anfang
        von Gewalt, Tod, Vertreibung und Grauen, vielmehr soll-
        te sein Ende, nämlich das Ende des Tötens und Schre-
        ckens – dazu gehört auch die Befreiung von der Diktatur
        des Nationalsozialismus – betont werden .
        Insbesondere die Aufarbeitung der jüngeren Geschich-
        te unseres Landes bleibt dauerhaft unsere Aufgabe . Dazu
        wollen wir das bewährte Gedenkstättenkonzept des Bun-
        des weiterentwickeln und auch die Zeitzeugenarbeit, die
        politische Bildung und die Wirkung authentischer Orte
        stärker in den Blick nehmen . Unser Bewusstsein für Frei-
        heit, Recht und Demokratie ist unter anderem geprägt
        durch die Erinnerung an die NS-Terrorherrschaft und den
        sich anschließenden Stalinismus und die SED-Diktatur .
        Dem systematischen Völkermord an den europäischen
        Juden sowie an anderen Völkern und Gruppen lassen wir
        in der deutschen Erinnerungskultur eine außerordentli-
        che Bedeutung zukommen . Auch deshalb ist es zuvor-
        derst an uns, die Erinnerung an die Opfer des National-
        sozialismus und den Widerstand gegen das NS-Regime
        aufrechtzuerhalten und auch deren Aufarbeitung in den
        Ministerien und Bundesbehörden voranzutreiben .
        „Frieden in Freiheit“ ist ein Kernthema der Union –
        und für Frieden in Freiheit bedarf es der Stärkung der
        Rechte und Freiheit des Einzelnen . Deshalb lassen Sie
        mich noch deutlicher werden: Wir brauchen keine wei-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724240
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        tere, nur auf Außenwirkung bedachte Aktion für Funk-
        tionäre . Was wir brauchen, ist die Stärkung des indivi-
        duellen Interesses am Austausch über Grenzen hinweg,
        damit die Menschen miteinander ins Gespräch kommen
        und sich besser verstehen lernen .
        Es gibt schon eine Vielzahl von Begegnungs- und
        Austauschprogrammen deutschlandweit, europaweit, ja
        auch weltweit . Ich denke da an die Erasmus- und Schü-
        leraustauschprogramme wie auch an die Angebote der
        Kriegsgräberfürsorge, an denen sich Jugendliche europa-
        weit beteiligen . Hier sollte man mit neuen Ideen ansetzen
        und diese weiterentwickeln, um bei den Menschen das
        Interesse zu stärken, in andere Länder zu reisen, darunter
        auch in europäische Länder, und fremde Menschen ken-
        nenzulernen . Dazu könnte beispielsweise ein kostenloses
        Interrailticket für alle 18-jährigen Europäer beitragen .
        Ein Weltfriedenstag am 1 . September als europäischer
        Feier- oder Gedenktag wird nicht für mehr Frieden sor-
        gen:
        Erstens . Wir haben eine Vielfalt im Erinnern und Ge-
        denken an Krieg und Frieden, je nach Ort und Begeben-
        heit, die dringend erhalten bleiben, ja eher noch betont
        werden sollte . Ich erinnere daran, dass wir allein in dieser
        Wahlperiode unter anderem das Gedenken an 70 Jahre
        Befreiung der Konzentrationslager, das Ende des Zwei-
        ten Weltkrieges und 80 Jahre „Nürnberger Gesetze“ an-
        gemessen begangen haben . Jedes Mal ging es ortsbezo-
        gen, objektbezogen und sachorientiert um Einzelaspekte
        dieser für Deutschland dunklen und furchtbaren Zeit .
        Niemand ist daran gehindert – und das geschieht auch
        so – Gäste aus dem Ausland, auch dem europäischen
        Ausland, dazu einzuladen .
        Zweitens . Krieg und Frieden sind heute global zu den-
        ken, ihre Auswirkungen sind nicht mehr auf Kontinente
        begrenzt . Die Globalisierung ist eine große Herausforde-
        rung und wird dies zukünftig für uns alle bleiben .
        Deutschland ist Teil von Europa, ist Teil in globa-
        lem Zusammenhang . Denken Sie daran, wie nah uns
        die Auswirkungen der Kriege im Nahen Osten auch in
        Deutschland schon jetzt erreichen . Wir haben mit dem
        Weltfriedenstag der UN am 21 . September bereits einen
        Weltfriedenstag . Den müssten wir stärker ins Bewusst-
        sein rücken . Eines europäischen Weltfriedenstages am
        1 . September bedarf es daher nicht .
        Sebastian Hartmann (SPD): Die Linke scheint ein
        recht gutes Modell gegen die EU-Skepsis bei gleichzei-
        tigem Einsatz für den Frieden gefunden zu haben: einen
        weiteren Feiertag . Über eine zunehmende EU-Skepsis in
        der Bevölkerung ist bereits allenthalben gesprochen und
        geschrieben worden . Dabei ist jedoch aktuell ein Gegen-
        trend zu sehen . In der letzten Umfrage des Eurobarome-
        ters gaben 37 Prozent der Deutschen an, die EU habe für
        sie ein gutes Image . Das sind 8 Prozentpunkte mehr als
        bei der letzten Eurobarometerumfrage . Allerdings ist das
        auch immer noch eine klare Minderheit .
        Dabei ist die EU grundsätzlich eine Erfolgsgeschich-
        te – politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich . Noch
        nie hat es eine längere Friedensperiode im EU-Raum ge-
        geben, noch nie haben sich so viele Personen nationen-
        übergreifend verständigen können, und noch nie war der
        europäische Wirtschaftsraum stärker als heute . Ich möch-
        te allerdings die aktuelle Krise der EU nicht verschwei-
        gen . Mit Großbritannien tritt erstmals ein Land aus der
        EU aus, in Südeuropa ist die Jugendarbeitslosigkeit wei-
        terhin zu hoch, und Griechenlands Schuldenlast kann die
        zaghaften Reformen und Aufbruchssignale schnell zu-
        nichtemachen .
        Vielleicht ist ein EU-weiter Feiertag in der Tat eine
        gute Gelegenheit, einmal innezuhalten, sich auf die po-
        sitiven Aspekte der EU zu konzentrieren und sich an der
        europäischen Erfolgsgeschichte zu erfreuen . Allerdings
        gibt es bereits jedes Jahr am 9 . Mai den sogenannten Eu-
        ropatag . Basierend auf der historischen Ansprache des
        damaligen französischen Außenministers Robert Schu-
        man am 9 . Mai 1950 in Paris zur Gründung der Europä-
        ischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), wird
        dieser Tag offiziell als Geburtstag der Europäischen Uni-
        on gefeiert .
        Schuman erklärte damals unter anderem, Europa lasse
        sich nicht mit einem Schlage herstellen und auch nicht
        durch eine einfache Zusammenfassung . Es werde aber
        durch konkrete Tatsachen entstehen, die zunächst eine
        Solidarität der Tat schaffen. Daher schlug Schuman vor,
        die französische und die deutsche Kohle- und Stahlpro-
        duktion einer gemeinsamen Hohen Behörde zu unterstel-
        len, die den anderen europäischen Ländern zum Beitritt
        offenstehe – als erste Etappe der europäischen Födera-
        tion. 1985 wurde in Mailand beim Treffen des Europä-
        ischen Rates offiziell beschlossen, diesen Tag zu feiern.
        Es gibt daher für mich keinen ersichtlichen Grund, den
        1 . September als einen europäischen Feiertag zu bege-
        hen .
        In ihrem Antrag schreiben die Linken zudem, dass
        sie mit diesem Feiertag aktiv die Einstellung der Bevöl-
        kerung gegenüber der EU verbessern möchten . Dabei
        spricht die Linke immer wieder selbst von der EU als
        „undemokratisch, unsozial und in einer tiefen Krise“ .
        Das Verhältnis der Linken zur EU ist innerhalb der eige-
        nen Partei sehr gespalten; daher verwundert der vorlie-
        gende Antrag . Es wäre wünschenswert, wenn die Linke
        mehr im politischen Tagesgeschäft an einem positiven
        EU-Bild arbeiten würde und weniger in solchen Anträ-
        gen . Daher ist der vorliegende Antrag abzulehnen .
        Ein Vorschlag: Die Linke überdenkt ihre Sowohl-als-
        auch-Haltung zu Europa, nimmt von ihren antieuropä-
        ischen Attitüden Abstand, und wir verzichten auf den
        Feiertag .
        Harald Petzold (Havelland) (DIE LINKE): Wir bera-
        ten heute abschließend vier Gesetzentwürfe zur Reform
        bzw . Änderung des Strafgesetzbuches bezüglich von
        Straftaten gegen ausländische Staaten. Alle vier treffen
        sich in einer zentralen Forderung: der § 103 des Straf-
        gesetzbuches muss weg . Und auch, wenn wir am Ende
        nur einen der vier Gesetzentwürfe annehmen werden, ist
        dieser `kleinste gemeinsame Nenner´ tragfähig genug,
        damit – zumindest war das bisher im federführenden
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24241
        (A) (C)
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        Rechtsausschuss der Fall – alle Fraktionen dem ihre Zu-
        stimmung geben werden .
        Die Strafvorschrift des § 103 des Strafgesetzbuches
        (StGB) (Beleidigung von Organen und Vertretern aus-
        ländischer Staaten) bezweckt den Schutz der Ehre von
        ausländischen Staatsoberhäuptern, ausländischen Re-
        gierungsmitgliedern sowie beglaubigten Leitern einer
        ausländischen diplomatischen Vertretung . Der Strafrah-
        men beträgt Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geld-
        strafe, im Falle der verleumderischen Beleidigung Frei-
        heitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren . Für den
        Ehrenschutz von Organen und Vertretern ausländischer
        Staaten erscheinen die Straftatbestände des Vierzehnten
        Abschnitts (Beleidigung), §§ 185 ff. Strafgesetzbuch,
        ausreichend . Insbesondere bedarf es zum Schutz von
        Organen und Vertretern ausländischer Staaten nicht des
        gegenüber den §§ 185 ff. StGB erhöhten Strafrahmens.
        Auch das Völkerrecht verpflichtet die Staaten nicht dazu,
        Sonderstrafnormen zugunsten Repräsentanten ausländi-
        scher Staaten aufzustellen, wie sie § 103 StGB derzeit
        vorsieht . Die Vorstellung, die Repräsentanten ausländi-
        scher Staaten benötigten einen über die §§ 185 ff. StGB
        hinausgehenden Schutz der Ehre, erscheint nicht mehr
        zeitgemäß . Selbst wenn man davon ausgeht, dass der
        Schutzzweck des § 103 in der Wahrung des Interesses der
        Bundesrepublik an einem Mindestbestand funktionieren-
        der Beziehungen zu ausländischen Staaten besteht, so
        wird dieses Anliegen bereits ausreichend durch die Be-
        leidigungsparagrafen 185, 186 und 187 StGB sicherge-
        stellt . Dies hat auch der Deutsche Anwaltsverein in sei-
        ner Stellungnahme vom Januar 2017 festgestellt . § 103
        StGB ist daher entbehrlich und kann aufgehoben werden .
        Allerdings geht uns die Abschaffung des § 103 StGB
        nicht weit genug . In unserem eigenen Gesetzentwurf
        (Bundestagsdrucksache 18/8272) fordern wir neben der
        Abschaffung der Beleidigung von Organen und Vertre-
        tern ausländischer Staaten (§ 103 StGB) die Abschaffung
        weiterer sogenannter Sonderbeleidigungsdelikte . Dabei
        handelt es sich um die Verunglimpfung des Bundesprä-
        sidenten (§ 90 StGB) sowie die üble Nachrede und Ver-
        leumdung gegen Personen des politischen Lebens (§ 188
        StGB) . Diesen Gesetzentwurf werden Sie heute leider
        mit den Stimmen der Großen Koalition bedauerlicher-
        weise ablehnen – und damit werden wieder einmal die
        Grenzen der Gemeinsamkeiten deutlich, die aufzeigen,
        dass die Große Koalition immer nur so viel macht, wie
        sich nicht vermeiden lässt . Politisches Gestalten sieht
        aber anders aus. Nur: dazu fehlt Ihnen offensichtlich so-
        wohl der Mut als auch der Wille .
        Auch die Gesetzentwürfe der Grünen und des Bun-
        desrates konzentrieren sich auf eine Streichung des § 103
        StGB . Darüber hinaus fordern sie die sofortige Inkraft-
        setzung des Gesetzes am Tag seiner Verkündung, und
        nicht erst zum 1 . Januar 2018 . Da wir beides ebenfalls
        fordern, stimmen wir auch beiden Gesetzentwürfen zu .
        Zu den Auswirkungen des späten Inkrafttretens des Ge-
        setzes hat sich bereits der Deutsche Anwaltsverein sehr
        kritisch geäußert: Es sei kein Grund ersichtlich, warum
        gegenwärtig für vergleichbare Fälle anfänglich noch
        eine Strafverfolgung nach § 103 StGB statthaft sein darf .
        Das Gesetz sollte daher am Tag nach seiner Verkündung
        in Kraft treten . Diesem Standpunkt schließen wir uns
        vollumfänglich an . Vor diesem Hintergrund erhält aller-
        dings die Empfehlung der Mehrheit im Rechtsausschuss,
        diese beiden Gesetzentwürfe abzulehnen, einen sehr
        schalen Beigeschmack . Wozu dieser Umgang absoluter
        Arroganz der Macht der Regierungsfraktionen mit der
        parlamentarischen Opposition und der Länderkammer,
        dem Bundesrat? Eine Antwort wird uns die Große Koali-
        tion wahrscheinlich schuldig bleiben .
        Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Die Idee, den Weltfriedenstag zu einem europäischen
        Feiertag zu machen, ist nicht falsch . Selbstverständlich
        könnten sich Menschen an einem solchen Feiertag inner-
        halb der Europäischen Union grenzüberschreitend, spon-
        tan und vielfältig begegnen; sich kennenlernen . Natürlich
        kann das dazu beitragen, dass Vorurteile abgebaut wer-
        den, sich die Zivilgesellschaft stärker vernetzt und aus-
        tauscht . In Zeiten wie diesen ist das wichtig! Die Rechts-
        populisten säen Hass und Missgunst . Sie versuchen, die
        Europäische Union auseinanderzudividieren; denn sie
        verstehen nicht, dass die Probleme des 21 . Jahrhunderts
        nicht im nationalen Alleingang gelöst werden können .
        Nun gibt es verschiedene Weltfriedenstage: In der
        ehemaligen DDR wurde seit den 50-iger Jahren und in
        der BRD seit den 60-iger Jahren am 1 . September des
        Friedens gedacht . Die Katholische Kirche feiert seit 1968
        ihren Weltfriedenstag am 1 . Januar . Seit 1981 gibt es am
        21 . September den „Internationalen Tag des Friedens“
        von den Vereinten Nationen . Angesichts der vielen Kri-
        sen und Kriege in dieser Welt kann es eigentlich nicht
        genügend Tage im Jahr geben, innezuhalten und des Frie-
        dens zu gedenken .
        Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Sie
        schlagen nun vor, den 1 . September als europäischen
        Feiertag in ganz Europa zu begehen . Ich möchte Sie fra-
        gen: Was soll Europa mit einem deutschen Feiertag? Wir
        brauchen einen deutschen Feiertag für Europa genauso
        wenig wie die überhebliche Ansage von Volker Kauder
        vor einigen Jahren: „Auf einmal wird in Europa Deutsch
        gesprochen .“ Europa braucht keine Deutschtümelei . Eu-
        ropa braucht Respekt, Verlässlichkeit und den unumstöß-
        lichen Willen zur Kooperation .
        Deshalb wäre es klüger gewesen, von der Bundesre-
        gierung zu verlangen, sich für einen europäischen Welt-
        friedens-Feiertag am 21 . September 2017 einzusetzen
        und damit ganz klar zum Ausdruck zu bringen: Deutsch-
        land und die EU stehen zu den Vereinten Nationen; denn
        die Herausforderungen des 21 . Jahrhunderts können wir
        nur gemeinsam lösen . Es geht nur miteinander – sowohl
        in der EU als auch auf der internationalen Bühne .
        Die Europäische Union und die Vereinten Natio-
        nen sind die Antwort auf die verheerenden Folgen des
        Zweiten Weltkrieges . Der Kontinent wurde von Na-
        zi-Deutschland in Schutt und Asche gelegt . Über 60 Mil-
        lionen Menschen starben . Juden wurden ermordet, Sinti
        und Roma, Menschen mit Behinderungen, politisch An-
        dersdenkende und Homosexuelle wurden verfolgt und
        umgebracht . Danach war klar: Es geht nicht alleine und
        jeder für sich . Nationale Egoismen, diplomatische Zer-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724242
        (A) (C)
        (B) (D)
        würfnisse, schlechte und unfaire Handelsbeziehungen
        sowie ein permanentes Aufrüsten führen zu Misstrauen,
        Hass und Krieg . Der 21 . September sollte uns daran jedes
        Jahr erinnern .
        Frieden und Eintracht kommen nicht mit nationalen
        Reflexen. Die Vereinten Nationen brauchen die EU, und
        die EU braucht die Vereinten Nationen, und deshalb
        spricht auch nichts dagegen, einen Gedenktag der Verein-
        ten Nationen als europäischen Feiertag zu übernehmen .
        Anlage 17
        Erklärungen nach § 31 GO
        zu der Abstimmung über die Beschlussempfehlung
        des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und
        Geschäftsordnung
        Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen
        Bundestages
        hier: Änderung der Regelung zum Alterspräsiden-
        ten (§ 1 Absatz 2 GO-BT) sowie weitere Ände-
        rungen in den §§ 93, 93a und 93b GO-BT
        (Tagesordnungspunkt 22)
        Klaus Brähmig (CDU/CSU): Im Rahmen der Ab-
        stimmungen am 1 . Juni 2017 werde ich der Beschluss-
        empfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immu-
        nität und Geschäftsordnung und der damit verbundenen
        Änderung der Regelung zum Alterspräsidenten sowie
        weiterer Änderungen der GO-BT nicht zustimmen .
        Lassen Sie mich kurz darlegen, warum ich der Be-
        schlussempfehlung nicht zustimmen kann:
        In zwei Jahren schaut die Bundesrepublik Deutschland
        auf 70 Jahre Demokratie zurück . In diesem Staat wird so-
        ziale und politische Teilhabe für breiteste Schichten des
        Volkes gewährleistet . Weltweit sieht man auf Deutsch-
        land und schaut mit Bewunderung auf ein wirtschaftlich
        erfolgreiches Land, das durch den Einbau eines verfas-
        sungsrechtlichen Kontrollnetzes bereit und fähig ist, die
        freiheitlich-demokratische Grundordnung notfalls auch
        wehrhaft gegen Feinde von innen und außen zu verteidi-
        gen . Seien wir stolz auf dieses Staatswesen!
        Persönlich sind wir als Politiker der sogenannten eta-
        blierten Parteien dazu aufgerufen, unsere Politik an den
        Maßstäben von Menschlichkeit, Wahrheit, Klarheit und
        Transparenz zu orientieren . Wenn die Menschen wieder
        das Gefühl haben, dass wir unsere politischen Maßstäbe
        selber leben und authentisch und sympathisch als Vor-
        bild dem Volk dienen, werden wir keine Probleme mit
        populistischen Ein-Themen-Parteien haben . Wir sollten
        also lieber ein attraktives und maßvolles Politikangebot
        unterbreiten, als mit Taschenspielertricks die demokrati-
        schen Traditionen und Gepflogenheiten unserer Demo-
        kratie zu ändern und damit einen demokratisch gewähl-
        ten Mitbewerber von Teilen der demokratischen Teilhabe
        auszuschließen, die wir für uns in aller Selbstverständ-
        lichkeit einfordern .
        Bei allen Fehlern, die auch aufgetreten sind, haben
        Verfassungsschutz, Nachrichtendienste, Polizei, Staats-
        anwaltschaften und Richter in den letzten Jahrzehnten
        den Nachweis gebracht, dass sie echten Verfassungsfein-
        den von links und rechts vehement und zugleich mit dem
        nötigen Augenmaß entgegentreten . Nach meiner eigenen
        Erfahrung mit einem totalitären Herrschaftssystem be-
        kenne ich mich eigenen zu Voltaires Aussage: „Ich mag
        verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben
        dafür einsetzen, dass du es sagen darfst“ .
        Nach meinem Empfinden schwächt die Große Koaliti-
        on mit dieser Geschäftsordnungsänderung unsere demo-
        kratische Kultur und bietet dem politischen Mitbewerber
        die Möglichkeit, sich als Opfer der etablierten Parteien
        zu gerieren . An einer Änderung der Geschäftsordnung,
        mit der sich die etablierten Parteien keinen Gefallen tun
        und ein Zeichen setzen, dass sie dem Urteilvermögen der
        eigenen Bevölkerung nicht ausreichend vertrauen, will
        und werde ich mich nicht beteiligen .
        Katrin Werner (DIE LINKE): Der Deutsche Bun-
        destag stimmt heute über eine Änderung der Geschäfts-
        ordnung des Bundestages ab . Künftig soll nicht mehr das
        in Jahren älteste Mitglied des Deutschen Bundestages
        das Amt des Alterspräsidenten übernehmen, sondern das
        am längsten dem Parlament angehörende Mitglied, das
        hierzu bereit ist .
        Mit dieser Änderung möchte die Große Koalition
        verhindern, dass Wilhelm von Gottberg (AfD) nach der
        Bundestagswahl möglicherweise das Amt des Altersprä-
        sidenten des Deutschen Bundestages übernimmt . Auch
        wenn es unerträglich und ein Schlag ins Gesicht aller
        Opfer des Nationalsozialismus ist, dass von Gottberg, der
        den Holocaust als „Mythos“ bezeichnete, Alterspräsident
        wird, ist die Änderung der Geschäftsordnung der falsche
        Umgang .
        Denn damit kann dem erstarkenden Rechtspopulismus
        nicht begegnet werden . Das demokratische System darf
        sich nicht vor einem drohenden Einzug der AfD beugen .
        Es bedarf vielmehr einer argumentativen Auseinander-
        setzung mit den Inhalten der AfD und einem deutlichen
        sowie lautem Bekenntnis zu einer solidarischen, demo-
        kratischen und offenen Gesellschaft. Ich stimme daher
        gegen den Antrag der Großen Koalition zur Änderung
        der Geschäftsordnung .
        Anlage 18
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung der Unterrichtung durch den Parla-
        mentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung:
        – Bericht des Parlamentarischen Beirats für nach-
        haltige Entwicklung (Arbeitsbericht der 18. Legis-
        laturperiode) (Tagesordnungspunkt 24)
        Josef Göppel (CDU/CSU): Müssen die Menschen
        in 100 Jahren die Erde verlassen? Mit dieser Botschaft
        erschreckte Stephen Hawking vor einigen Wochen für
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24243
        (A) (C)
        (B) (D)
        einen Moment die Mediengesellschaft . Wirklich ernst
        nimmt das niemand .
        Dabei sind objektive Zeichen einer Überstrapazierung
        der Erde nicht zu übersehen: der Anstieg des CO2-Ge-
        halts der Atmosphäre von 270 auf 400 ppm, die anstei-
        gende Versauerung der Meere, der Schwund fruchtbarer
        Erde .
        Doch es gibt Gegenkräfte: jede Pflanze, die mit Son-
        nenlicht Biomasse aufbaut, und der kontinuierliche Wär-
        mefluss aus dem Innern der Erde, der den globalen Stoff-
        kreislauf antreibt .
        Alexander von Humboldt hat diese Zusammenhänge
        nach der Besteigung des Chimborazo als einer der Ersten
        geahnt . 1845 schrieb er in seinem Kosmos: Die Natur ist
        lebendig, „wie von einem Hauche beseelt von Pol zu Pol
        nur ein Leben ausgegossen ist in Steinen, Pflanzen, Tie-
        ren und in des Menschen schwellender Brust“ .
        Der Mensch bleibt trotz aller Technik auf die produk-
        tive Oberfläche der Erde angewiesen auf ackerfähige Bö-
        den, auf Weideflächen, auf Fischgründe, auf Wälder. Er
        braucht sie zur Erzeugung seiner Lebensmittel im umfas-
        senden Sinn und zur Aufarbeitung seiner Abfälle .
        Das ist das Anliegen dieser Rede: werben für die Ach-
        tung vor dem Land, den offenen, atmenden Boden, die
        fruchtbare Erde .
        Wie gleichgültig nehmen wir es hin, wenn wieder
        ein Stück frisches Land überbaut wird . Der Industriebau
        zum Beispiel muss wegkommen von der landfressenden
        Erdgeschossigkeit, und der Bau von Personenautos mit
        400 PS ist mit einer nachhaltigen Wirtschaftsethik nicht
        mehr vereinbar!
        Ein Kollege sagte in diesem Zusammenhang vor kur-
        zem: „Unsere Kernkompetenz ist aber doch Wirtschaft!“
        Gestatten Sie dazu einen Vergleich aus dem Alltagsleben .
        Ein kleiner Junge sitzt auf dem Arm seines Großvaters .
        Er streckt die Hände hoch und ruft: „Ich bin größer als
        du!“ So wie ihm ist uns oft nicht bewusst, was uns trägt .
        An dieser Stelle ein Appell . Wenn es dem Bundestag
        ernst ist mit der Nachhaltigkeit, dann muss der Beirat da-
        für endlich mit klaren Befugnissen in der Geschäftsord-
        nung verankert werden .
        Der dem Markt innewohnende Wachstumszwang
        hin zum Oligopol schien mit der sozialen Marktwirt-
        schaft gebändigt . Die regelfreie Globalisierung seit den
        90er-Jahren erinnert dagegen an wild dahinbrausende
        Rösser eines antiken Wagenrennens . Irgendwann tragen
        sie den führungslosen Wagen aus der Kurve . Wir brau-
        chen keinen Rückzug, sondern einen Siegeszug der so-
        zialen und ökologischen Marktwirtschaft . Ernst Ulrich
        von Weizsäcker oder Franz Josef Radermacher haben die
        Schritte dahin konkret benannt .
        Eigentlich muss das schon aus ökonomischer Sicht
        gelingen, denn Rohstoffe und Energie werden global ge-
        handelt . Mit den Kosten dafür stehen Städte und Länder
        in direkter globaler Konkurrenz . Wer haushälterischer
        damit umgeht, wird wirtschaftlich stärker .
        Für das alltägliche Handeln gibt es eine klare
        Richtschnur: Immer dann, wenn Sie sich mit einer Maß-
        nahme den Kreisläufen der Natur nähern, liegen Sie rich-
        tig . Nehmen wir die Mühe auf uns, dafür immer wieder
        Anstöße zu geben und andere immer wieder auf dieses
        Ziel hin anzusprechen!
        Am Schluss des Aufrufes an die „Handelnden“ in der
        Umweltenzyklika sagt Papst Franziskus: Allen, die am
        Schutz unseres gemeinsamen Hauses arbeiten, möchte
        ich „meine Anerkennung, meine Ermutigung und meinen
        Dank aussprechen“ .
        Dr. Lars Castellucci (SPD): Vor wenigen Stunden
        hat Donald Trump den Klimavertrag von Paris aufgekün-
        digt . Worüber wir gestern noch gejubelt haben, das ist
        heute gefährdet . Es steht unglaublich viel auf dem Spiel .
        Gleichzeitig: Es ist nun leicht, sich über den ameri-
        kanischen Präsidenten zu erzürnen; doch Nachhaltigkeit
        wird nur umgesetzt werden, wenn alle in ihrem Bereich
        das Mögliche tun und vielleicht noch etwas mehr . Des-
        halb: Konzentrieren wir uns auf unseren eigenen Ein-
        flussbereich und zeigen nicht auf die anderen.
        Wir debattieren Nachhaltigkeit heute im Nachtpro-
        gramm; eigentlich gehört es aber in die Hauptsendezeit .
        Was ist also der Stellenwert von Nachhaltigkeit bei uns in
        Deutschland und im deutschen Parlament? Wir müssen
        deutlich mehr tun .
        Die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie und die vie-
        len Institutionen und Ehrenamtlichen im Bereich der
        Nachhaltigkeit machen uns international sicherlich zu
        einem beispielgebenden Land . Gleichzeitig: Bereits am
        24 . April hatten wir auch in diesem Jahr wieder die uns
        zustehenden Ressourcen verbraucht . Wenn alle so wirt-
        schaften und leben würden, wie wir, bräuchten wir zwei
        weitere Erdbälle im Kofferraum. Haben wir aber nicht.
        Deshalb: Wir müssen deutlich mehr tun .
        Die Menschen kaufen sich Autos, die weniger Sprit
        verbrauchen, und fahren dafür viel mehr Kilometer . He-
        raus kommt der sogenannte Rebound-Effekt. Wir werden
        nicht nachhaltiger über technologische Lösungen allein .
        Wir müssen die Köpfe und Herzen der Menschen errei-
        chen . Nachhaltigkeit muss Freude machen . Wir müssen
        also deutlich mehr tun . Es braucht einen Aufbruch wie zu
        Zeiten der Agenda 21 und eine ineinandergreifende Zu-
        sammenarbeit von Kommunen, Ländern, Bund, der Wirt-
        schaft, Wissenschaft und zivilgesellschaftlicher Akteure .
        Der Parlamentarische Beirat hat in der zurückliegen-
        den Wahlperiode für die Aufnahme der Nachhaltigkeit
        als Staatsziel ins Grundgesetz geworben . Die CDU hat
        dann einen Rückzieher gemacht . Liebe Kolleginnen und
        Kollegen von der Union: Wir müssen deutlich mehr tun .
        Und dafür brauchen wir die Staatszielbestimmung, die
        uns in unserem Handeln leitet und verpflichtet.
        Ich werbe noch für einen weiteren Punkt: Kein Haus-
        hälter hier im Parlament würde es dulden, wenn die
        Regierung beschlösse, dass der Haushalt künftig eine
        Strategie der Regierung darstellt und die Abgeordneten
        diese nur zur Kenntnis nehmen . Die wichtigen Dinge
        gehören ins Parlament . Wir müssen deutlich mehr tun:
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724244
        (A) (C)
        (B) (D)
        Die Nachhaltigkeitsstrategie muss demokratisiert, hier
        im Parlament diskutiert und verabschiedet und durch den
        Parlamentarischen Beirat – mit materiellen Rechten aus-
        gestattet – wirkungsvoll begleitet werden .
        Ein Pfarrer wurde gefragt, wie viel Geld denn in den
        Opferstock gelegt werden solle, damit der liebe Gott zu-
        frieden sei . Dieser antwortete: Wenn du doppelt so viel
        gibst, wie du eigentlich wolltest, hast du die Hälfte von
        dem gegeben, was der liebe Gott von dir erwartet .
        So ist es mit der Nachhaltigkeit: Wir müssen deutlich
        mehr tun .
        Carsten Träger (SPD): Was ist das Gegenteil von
        Nachhaltigkeit? Das Gegenteil von Nachhaltigkeit denkt
        nicht von heute bis morgen früh . Das Gegenteil von
        Nachhaltigkeit trifft politische Entscheidungen beim
        Frühstücksfernsehen und leugnet Realitäten wie den Kli-
        mawandel .
        Gerade hat Donald Trump verkündet, die USA werden
        aus dem Pariser Klimaabkommen aussteigen . Das sind
        schlechte Nachrichten für das Klima, aber auf jeden Fall
        schlechte Nachrichten für die USA . Denn dieser Schritt
        ist nicht nur dumm und rückwärts gewandt, er ist auch
        wirtschaftlich unsinnig . Fossile Energie statt erneuerba-
        re, Nationalismus statt offener Gesellschaft, Konfrontati-
        on statt Vertrauen: verlorene Jahre für die USA, solange
        er Präsident ist . Umso wichtiger für den Rest der Welt,
        zusammenzustehen und noch mehr für Klimaschutz zu
        tun!
        Umso stolzer bin ich auf die Deutsche Nachhaltig-
        keitsstrategie, die ein progressives Dokument ist . Mit
        der Nachhaltigkeitsstrategie bekennt sich die Bundes-
        regierung zur Einhaltung der planetaren Grenzen, der
        Belastungsgrenzen unserer Erde . Daraus resultiert – hier
        zitiere ich die Strategie – „ein Transformationsauftrag:
        Es geht darum, umfassende, beschleunigte Veränderun-
        gen in Wirtschaft und Gesellschaft einzuleiten und vo-
        ranzutreiben: in unserer Art zu leben, zu arbeiten, zu kon-
        sumieren, in Technologien, Institutionen und Praktiken .“
        Das ist ein politisches Bekenntnis mit Weitblick unter
        Anerkennung der Realitäten .
        Es ist ein konkretes Programm: Wir haben bewähr-
        te und neue Indikatoren in allen drei Dimensionen der
        Nachhaltigkeit in der Strategie . Als Sozialdemokrat ist
        mir die soziale Dimension der Nachhaltigkeit besonders
        wichtig . Wir haben hier erstmals einen Armutsindikator
        und einen Indikator für soziale Ungleichheit . Bei den
        ökologischen Indikatoren sind Indikatoren zum Meeres-
        schutz hinzugekommen .
        Deutschland ist mit seiner Architektur der Nachhal-
        tigkeit weltweit beispielgebend . Wir können stolz darauf
        sein, dass wir seit 2002 eine Nationale Nachhaltigkeits-
        strategie haben, dass wir einen Rat für Nachhaltigkeit ha-
        ben, dass wir einen Parlamentarischen Beirat haben – wir
        können stolz auf diese Institutionen und ihre Arbeit sein;
        aber wir müssen sie auch weiterentwickeln .
        Im täglichen Politikbetrieb fällt die Nachhaltigkeit ge-
        rade in Ressorts, die das Prinzip nicht ohnehin schon im-
        mer mitdenken, leider oft hinten runter . Dieses Denken
        wollen wir aufbrechen .
        Wie das gelingen kann, dass die Ministerien über ih-
        ren Tellerrand schauen und zusammenarbeiten, um nach-
        haltige Ziele zu erreichen, das hat die Umweltministe-
        rin im „Integrierten Umweltprogramm“ vorgestellt . Da
        hat Barbara Hendricks einmal bei den Schlüsselthemen
        Energie, Mobilität, Landwirtschaft und Konsum ange-
        setzt und beschrieben, wie die Ministerien zusammenar-
        beiten können . Ein toller Aufschlag und ein Vorbild für
        andere Ressorts .
        Nun sind wir dran . Die Regierung hat ordentlich vor-
        gelegt . Nun muss das Parlament, nun müssen wir nach-
        legen . Ziele und Indikatoren sind das eine; aber die Ziele
        müssen natürlich durch gute Politik erreicht werden . Das
        ist unser Job . Es braucht engagierte, progressive Politik,
        um engagierte, progressive Ziele zu erreichen . Hier ste-
        hen jetzt alle, die bisher Nachhaltigkeit für sich prokla-
        miert haben, in der Verpflichtung
        Auch deshalb wollen wir Nachhaltigkeit im Grund-
        gesetz verankern . Der Parlamentarische Beirat und
        der Rat für nachhaltige Entwicklung haben hier ge-
        meinsam Vorarbeit geleistet . Große Köpfe wie Gesine
        Schwan, Ernst-Ulrich von Weizsäcker, Klaus Töpfer und
        Hans-Jürgen Papier sind mit uns der Auffassung: Nach-
        haltigkeit gehört ins Grundgesetz . Mit einem Staatsziel
        Nachhaltigkeit könnte das Ziel der Nachhaltigkeit noch
        viel stärker in die gesellschaftliche Debatte eingebracht
        werden . Das Staatsziel wäre immer eine Ermahnung,
        auch an längerfristige Wirkungen zu denken .
        Wir alle führen Nachhaltigkeit in den Sonntagsreden
        im Mund . Es ist an der Zeit zu liefern . Wenn wir das
        Grundgesetz für die Verwaltung der Autobahnen ändern
        können, dann sollten wir es für die Sicherung unserer Zu-
        kunft auch können . Alles andere wäre zu kurz gedacht –
        wie ein Tweet beim Frühstücksfernsehen .
        Birgit Menz (DIE LINKE): Auch ich möchte meinen
        Kolleginnen und Kollegen im Parlamentarischen Beirat
        für nachhaltige Entwicklung für die engagierte, kon-
        struktive und freundliche Zusammenarbeit danken .
        Der PBnE hat in seinem Kerngeschäft zuverlässige
        Arbeit geleistet . Wir haben akribisch das Vorhandensein
        von Aussagen über Nachhaltigkeitswirkungen in Geset-
        zesvorhaben kontrolliert und so dazu beigetragen, dass
        solche Aussagen kaum noch vergessen werden . Eine in-
        haltliche Verbesserung dieser Aussagen haben wir nicht
        erreicht .
        Wir haben die Übersetzung der Agenda 2030 in eine
        nationale Strategie mit viel Engagement begleitet . Wir
        haben uns beständig über die Weiterentwicklung der
        Nachhaltigkeitsstrategie informieren lassen . Wir haben
        Gespräche dazu geführt, und wir haben die deutsche
        Nachhaltigkeitspolitik regelmäßig im Parlament zur De-
        batte gestellt .
        Doch nach wie vor bestehen Defizite nicht nur bei der
        Umsetzung wichtiger Maßnahmen, sondern schon bei
        ihrer Entstehung. Die vielzitierten Interessenkonflikte
        werden nach wie vor zu selten thematisiert . Und noch
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24245
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        seltener werden sie anders aufgelöst als zugunsten der
        ökonomischen Dimension .
        Das muss sich ändern . Ja, Nachhaltigkeit denkt sozi-
        ale, ökologische und wirtschaftliche Fragen zusammen .
        Aber es ist ein Irrtum, zu glauben, ihr Verhältnis zuei-
        nander wäre beliebig . Unsere Umwelt gibt einen Rahmen
        vor, der nicht überschritten werden kann . Das Wirtschaf-
        ten muss sich in diesen Rahmen einfügen und sich inner-
        halb der planetaren Grenzen am Menschen orientieren –
        nicht am Profit.
        Deshalb müssen wir den Bruch mit dem Weiter-so,
        den sich die Bundesregierung mit der Nachhaltigkeits-
        strategie zur Aufgabe macht, stärker einfordern .
        Nach all den Auseinandersetzungen um geeignete In-
        dikatoren und Ziele ist es an der Zeit, die entscheidende
        Frage zu beantworten, wie wir diese Ziele eigentlich er-
        reichen wollen . Ich betrachte es als Aufgabe des Beirats,
        diese Frage in den Mittelpunkt der gesellschaftlichen De-
        batte zu stellen .
        Wir müssen aus dem Parlament heraus Ideen entwi-
        ckeln, wie eine deutsche Nachhaltigkeitspolitik aussehen
        soll . Und wir müssen erreichen, dass die politikfeldüber-
        greifende Zusammenarbeit, die wir von den Ministerien
        fordern, auch im Parlament stattfindet. Wir müssen zei-
        gen, wie konstruktiv über Zielkonflikte gestritten werden
        kann und wie sich daraus – auch fraktionsübergreifend –
        konkrete Alternativen entwickeln .
        Ein Weg dahin könnte sein, dass wir uns auf einige
        wenige, aber zentrale Einstiegsprojekte in die Trans-
        formation verständigen: Kernprojekte, die die soziale,
        ökologische und wirtschaftliche Dimension der Nach-
        haltigkeit verbinden, die die deutsche Politik unter dem
        Gesichtspunkt globaler Verantwortung betrachten und
        die die soziale Gerechtigkeit heute mit der Gerechtigkeit
        gegenüber den kommenden Generationen verbinden .
        Ein solches Einstiegsprojekt könnte der Kohleausstieg
        sein, für den man einen klaren Zeitplan und sozial ge-
        rechte Übergänge skizziert . Es könnte um die Zukunft der
        Arbeit gehen oder auch darum, wie die Verantwortung
        der Bürgerinnen und Bürger für eine nachhaltige Gesell-
        schaft mit entsprechenden demokratischen Beteiligungs-
        möglichkeiten verbunden werden kann . Denn wenn wir
        von den Bürgerinnen und Bürgern fordern, Verantwor-
        tung für einen nachhaltigen Konsum zu übernehmen,
        dann müssen wir auch zulassen, dass ihre Verantwortung
        schon vorher beginnt, nämlich mit der Möglichkeit, darü-
        ber mitzuentscheiden, was wir wie produzieren .
        Der PBnE hat es geschafft, sowohl seitens der Bundes-
        regierung als auch in der Gesellschaft in seinem Kernge-
        schäft als wichtiger Akteur wahrgenommen zu werden .
        Das zeigen auch die vielen Forderungen nach einer Stär-
        kung dieses Gremiums, die von Verbänden in ihren Kom-
        mentaren zur Nachhaltigkeitsstrategie erhoben wurden .
        Diese Unterstützung, die wir aus der Gesellschaft he-
        raus erhalten haben, sollten wir als Auftrag verstehen,
        unsere Arbeit, aber auch unser Selbstverständnis wei-
        terzuentwickeln, nicht nur zu bellen, wie der Beirat es
        im Netz ankündigt, sondern, wo nötig, eben auch kräftig
        zuzubeißen .
        Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Heute debattieren wir den Arbeitsbericht des Parlamen-
        tarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung . Mit dem
        zweiten von mir mitverantworteten Arbeitsbericht neigt
        sich meine aktive Zeit im Nachhaltigkeitsbeirat dem
        Ende zu . Deshalb möchte ich heute zwei Dinge tun: Zu-
        rückschauen – und einen Blick in die Zukunft werfen .
        Manches haben wir im Beirat erreicht . Ich möchte hier
        drei Beispiele nennen:
        Den Beschluss zu Hermes-Bürgschaften in der letzten
        Wahlperiode .
        Die Forderung nach einer Elektroquote im Bundestag-
        fuhrpark, die jetzt umgesetzt ist .
        In jedem Bundesressort gibt es jetzt eine Nachhaltig-
        keitsbeauftragte oder einen Nachhaltigkeitsbeauftragten .
        Das ist eine Forderung des Beirats, die von der Bundesre-
        gierung in der neuen Nachhaltigkeitsstrategie umgesetzt
        wurde .
        Die Begleitung der nationalen, seit der Neuauflage im
        Januar deutschen Nachhaltigkeitsstrategie ist eine der
        Hauptaufgaben des Nachhaltigkeitsbeirats . Hier hat sich
        einiges getan . Die Strategie hat sich deutlich fortentwi-
        ckelt. Ich hoffe, dass sie in Zukunft auch ambitionierter
        als bisher umgesetzt wird . Da ist nämlich noch deutlich
        Luft nach oben .
        Zum Beispiel hat auch eine ambitionierte Nachhaltig-
        keitsstrategie nicht verhindert, dass der Bundesverkehrs-
        wegeplan weiterhin zu viele fragwürdige Straßenneubau-
        projekte beinhaltet . Hier müssen wir ran .
        Das bringt mich zur Zukunftsbetrachtung . – Ich zitie-
        re:
        Aus der Agenda 2030 resultiert auch für Deutsch-
        land ein Transformationsauftrag: Es geht darum,
        umfassende, beschleunigte Veränderungen in Wirt-
        schaft und Gesellschaft voranzutreiben: in unserer
        Art zu leben, zu arbeiten, zu konsumieren, in Tech-
        nologien, Institutionen und Praktiken .
        Das Zitat ist übrigens nicht aus dem grünen Wahlpro-
        gramm, sondern aus der deutschen Nachhaltigkeitsstra-
        tegie .
        Um diese Transformation zu erreichen, könnten wir
        hier im Hohen Haus und im Nachhaltigkeitsbeirat zwei
        Dinge in Angriff nehmen:
        Erstens . Nicht nachhaltige Politik muss weh tun, und
        das geht am besten über den Haushalt . Die Verteilung
        von Haushaltsmitteln ist ein äußerst wirksamer Hebel .
        Das kann man sich auch für die Nachhaltigkeit zunutze
        machen .
        Zweitens . Weiterkommen müssen wir auch bei der
        Weiterentwicklung der Prüfung der Gesetzesfolgenab-
        schätzung . Der Beirat prüft bereits seit 2009 jeden Ge-
        setzentwurf formal daraufhin, ob eine Nachhaltigkeits-
        prüfung stattgefunden hat . Das ist wichtig, denn oft
        genug fehlt in den Entwürfen selbst das . Auf Dauer reicht
        das aber nicht . Denn letztlich sagt die formale Prüfung
        überhaupt nichts darüber aus, ob ein Gesetzentwurf oder
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724246
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        eine Verordnung der Nachhaltigkeit dient oder ihr sogar
        schadet . Dafür brauchen wir eine inhaltliche Prüfung .
        Anlage 19
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
        gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einfüh-
        rung eines Wettbewerbsregisters (Tagesordnungs-
        punkt 25)
        Dr. Herlind Gundelach (CDU/CSU): Das Wettbe-
        werbsregister ergänzt die umfassende und äußerst kom-
        plexe Vergaberechtsnovelle aus dem letzten Jahr, mit der
        wir die Grundlage für einen fairen, unbürokratischen und
        transparenten Wettbewerb um Aufträge der öffentlichen
        Hand geschaffen haben. Das Wettbewerbsregister ist das
        letzte Puzzlestück der Novellierung und wird die Firmen
        von Vergaben ausschließen, die in Deutschland gegen
        geltendes Recht verstoßen haben .
        Es kann schließlich nicht sein, dass wir beispielsweise
        eine Firma zum Bau eines öffentlichen Gebäudes beauf-
        tragen, die wegen Schwarzarbeit oder Nichteinhaltung
        des Mindestlohns in Deutschland rechtskräftig verurteilt
        worden ist. Wer Geld aus öffentlichen Kassen für seine
        Arbeit erhält, muss sich an die in Deutschland geltenden
        Gesetze halten. Das Wettbewerbsregister schafft somit
        vor allem auch Chancengleichheit für alle Bewerber .
        Wir haben bei diesem Gesetz mit äußerster Sorgfalt
        gearbeitet . Denn uns ist es durchaus bewusst, welche
        Folgen eine fälschliche Eintragung in ein solches Verga-
        beausschlussregister für ein Unternehmen haben könnte .
        Es war uns wichtig, dass es für dieses Instrument eine
        eindeutige und klare rechtliche Grundlage gibt, die sich
        auf für Vergaben relevante Aspekte beschränkt . Dazu ge-
        hört auch, dass wir Schwellenwerte bestimmt haben, die
        verhältnismäßig sind .
        In Deutschland gibt es bereits Vergabeausschluss-
        listen . Diese sind jedoch nicht einheitlich und manche
        folgen auch nicht der von mir gerade beschriebenen
        Maßgabe . Man hat durchaus teilweise das Gefühl, dass
        Eintragungen ein wenig nach Gutdünken erfolgen . In der
        Folge gibt es in manchen Bundesländern weniger als zehn
        Eintragungen auf der sogenannten schwarzen Liste, wäh-
        rend andere Länder jede Lappalie in ihr Wettbewerbsre-
        gister eintragen . Darüber hinaus gibt es keine klaren
        Bestimmungen zur Selbstreinigung . Diese Situation ist
        nicht hinnehmbar . Uns war daher in den Beratungen, die
        in der Koalition zu jeder Zeit sachlich und sehr einver-
        nehmlich geführt worden sind, wichtig, festzulegen: In
        das beim Bundeskartellamt neu einzurichtende Wettbe-
        werbsregister können nur rechtskräftige strafgerichtliche
        Verurteilungen und Strafbefehle sowie bestandskräftige
        Bußgeldentscheidungen zu einer Eintragung führen . Die-
        sen Punkt stelle ich noch einmal klar, da es dazu immer
        wieder falsche Meldungen – auf gut Neudeutsch: Fake
        News – gegeben hatte .
        Und selbstverständlich muss es einer Firma auch mög-
        lich sein, nach entsprechenden Maßnahmen schnellst-
        möglich wieder aus dem Register gelöscht zu werden .
        Um für diesen Prozess einen fairen und nachvollziehba-
        ren Ablauf gewährleisten zu können, haben wir festge-
        halten, dass die registerführende Behörde Leitlinien für
        die sogenannte Selbstreinigung erlassen muss . Außerdem
        haben wir angeregt, den Gebührenrahmen für ein solches
        Verfahren in einer Höhe festzulegen, den auch kleine und
        mittelständische Unternehmen schultern können .
        Oberste Priorität bei dieser Gesetzgebung hat für uns,
        dass das Wettbewerbsregister für alle Vergabestellen – sei
        es auf Bundes-, Landes- oder Kommunalebene – gelten
        muss . Sonst macht es keinen Sinn . Unternehmen agieren
        oft bundes-, europa- oder sogar weltweit . Daher müssen
        mit dem Wettbewerbsregister des Bundes alle ähnlichen
        Register entfallen, die derzeit in den Bundesländern ge-
        führt werden .
        Das heute zu verabschiedende Gesetz fällt in den Be-
        reich der konkurrierenden Gesetzgebung . Das heißt, dass
        alle Länderlisten gelöscht werden müssen, sobald das
        Gesetz den Bundesrat passiert hat und das Wettbewerbs-
        register einsatzfähig ist . Die bisherigen Listen werden
        nicht übernommen, da diese, wie soeben beschrieben,
        zum Teil nicht unseren Anforderungen und Ansprüchen
        gerecht werden .
        Wie ich eingangs feststellte, findet mit dem Wettbe-
        werbsregister eine umfassende Novellierung des Verga-
        berechts ihren Abschluss, die die betroffenen Unterneh-
        men in erheblichem Umfang von bisher angefallenen
        Bürokratiekosten entlastet, indem es handhabbarer und
        überschaubarer geworden ist . Ich möchte daher an dieser
        Stelle erneut an die Bundesländer appellieren, ihre Ver-
        gabegesetze am neuen Bundesrecht auszurichten bzw .
        das Bundesrecht ganz einfach zu übernehmen, zumal die
        Länder ja umfassend in die Erarbeitung des neuen Verga-
        berechts einbezogen waren und ihm im Bundesrat auch
        ohne Änderungen zugestimmt haben .
        Barbara Lanzinger (CDU/CSU): wir beraten heute
        abschließend den Gesetzentwurf zur Einführung eines
        bundesweiten Wettbewerbsregisters, den letzten Baustein
        der Modernisierung des Vergaberechts . Schon vor einem
        Jahr haben wir das Vergaberechtsmodernisierungsgesetz
        und die Vergaberechtsmodernisierungsverordnung im
        Deutschen Bundestag verabschiedet und damit den Wett-
        bewerb um öffentliche Aufträge gestärkt. Ein erklärtes
        Ziel der Reform war, die Bekämpfung der Wirtschafts-
        kriminalität zu verbessern .
        Bund, Länder und Kommunen vergeben jährlich Auf-
        träge im Wert von über 300 Milliarden Euro an private
        Unternehmen . Das ist eine Riesensumme, und das ist ein
        wichtiger Wirtschaftsfaktor . Außerdem ist es das Geld
        der Steuerzahler, mit dem die öffentliche Hand achtsam
        umgehen soll . Wer sich wegen Wirtschaftsdelikten straf-
        bar gemacht hat, soll deshalb nicht von öffentlichen Auf-
        trägen und Konzessionen profitieren.
        Das Wettbewerbsregister, das wir nun einführen, sorgt
        für mehr Transparenz und einen fairen Wettbewerb: Es
        erleichtert den Auftraggebern, nachzuprüfen, ob Unter-
        nehmen erhebliche Rechtsverstöße begangen haben, und
        sie gegebenenfalls von der Auftragsvergabe auszuschlie-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24247
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        ßen . Das kommt allen Unternehmen zugute, die sich an
        Recht und Gesetz halten . Dabei gehen wir mit Augenmaß
        vor:
        Ab einem Auftragswert von 30 000 Euro müssen öf-
        fentliche Auftraggeber beim Register nachfragen, ob das
        Unternehmen, das den Auftrag erhalten soll, eingetragen
        ist, und zwar bevor sie den Zuschlag erteilen .
        Bei öffentlichen Aufträgen unterhalb von 30 000 Euro
        erhalten Auftraggeber eine Abfragemöglichkeit .
        Nach drei bzw . fünf Jahren, je nach Schwere der Tat,
        muss die Eintragung gelöscht werden .
        Das Gesetz regelt abschließend alle Straftaten oder
        Ordnungswidrigkeiten, die zu einer Eintragung führen,
        zum Beispiel Bestechung, Geldwäsche, Betrug, und an-
        deres . So sorgen wir für Rechtssicherheit .
        Der Katalog enthält Straftaten, die zwingende Aus-
        schlussgründe nach dem Vergaberecht darstellen, und
        fakultative Ausschlussgründe, die die Vergabestellen bis-
        her im Gewerbezentralregister abfragen mussten .
        Die Unternehmen werden vor der Eintragung infor-
        miert und können Einwände erheben .
        Sie haben zudem die Möglichkeit, eine Selbstreini-
        gung vorzunehmen und dann die vorzeitige Löschung
        aus dem Register zu beantragen .
        Für die vorzeitige Löschung sollen dem Unternehmen
        aber nur die zur Deckung des Verwaltungsaufwands un-
        bedingt notwendigen Kosten auferlegt werden; wir wol-
        len keine Sanktionierung durch die Hintertür .
        Die bisher auf Länderebene geführten Register ent-
        fallen, sodass es keine unterschiedlichen Eintragungs-
        voraussetzungen mehr geben wird . Für Auftraggeber
        und betroffene Unternehmen schaffen wir dadurch mehr
        Transparenz und Rechtssicherheit .
        Das Bundekartellamt wird als Registerbehörde be-
        nannt . Bei ihm liegt schon die Zuständigkeit für die Ver-
        gabekammern; deshalb ist sichergestellt, dass die Füh-
        rung des Wettbewerbsregisters in kompetenten Händen
        liegt .
        Wichtig ist uns auch: Kein automatischer Ausschluss
        der Unternehmen von öffentlichen Aufträgen. Die Auf-
        traggeber entscheiden eigenverantwortlich nach Maßga-
        be des Vergaberechts, ob sie ein eingetragenes Unterneh-
        men von der Vergabe ausschließen .
        Vertraulichkeit der Daten: Die Eintragung ins Wett-
        bewerbsregister ist eine sensible Angelegenheit . Wir
        stellen sicher, dass nur öffentliche Auftraggeber Einsicht
        nehmen können, außerdem Stellen, die ein Präqualifi-
        zierungsverzeichnis führen, wenn das Unternehmen ein-
        willigt . So schützen wir das Recht der Unternehmen auf
        informationelle Selbstbestimmung .
        Ich fasse zusammen: Mit diesem wichtigen letzten
        Baustein vervollständigen wir das neue Vergaberecht und
        sorgen für mehr Transparenz und fairen Wettbewerb bei
        der öffentlichen Auftragsvergabe. Schwarze Schafe wer-
        den es künftig schwerer haben, an öffentliche Aufträge zu
        kommen, für Auftraggeber wird es einfacher, Informati-
        onen über Ausschlussgründe einzuholen . Das stärkt die
        Unternehmen, die sich rechtskonform und fair verhalten .
        Ich bitte daher um Zustimmung zu diesem Gesetz .
        Marcus Held (SPD): Ich habe schon ein paar Ge-
        setzentwürfe in dieser Legislaturperiode mitverhandelt;
        keiner ging so schnell wieder dieser – und das, obwohl
        es ein jahrelanges Herzensanliegen meiner SPD-Fraktion
        war . Hut ab, liebe Union! Da dürfen dann auch mal die
        Grünen gerne klatschen; denn meine Fraktion kämpft be-
        reits seit einigen Jahren für die Einführung dieses längst
        überfälligen Gesetzes .
        Mein allerherzlichster Dank gilt insbesondere mei-
        nen beiden Mitstreiterinnen von der Union, Frau
        Dr . Gundelach und Frau Lanzinger . Zusammen haben
        wir auch schon das Vergaberecht auf fruchtbaren Boden
        geführt . Das wiederholen wir nun mit dem vorliegenden
        Gesetzentwurf, welchen wir heute in zweiter und dritter
        Lesung verabschieden wollen .
        Es geht konkret um das Gesetz zur Einführung eines
        Wettbewerbsregisters, ein, wie ich bereits erwähnte, Her-
        zensanliegen der SPD-Bundestagsfraktion . Deutschland
        wird damit Vorreiter in Sachen Korruptionsprävention
        im öffentlichen Auftragswesen. Schwarzen Schafen le-
        gen wir damit das Handwerk . Bisher existieren in ei-
        nigen Bundesländern sogenannte „schwarze Listen“ .
        Diese sollen nun aber in einem noch zu erarbeitenden
        Bundesregister aufgehen . Und das ist auch gut so! Wenn
        die Bundesländer dann auch noch über ihre insgesamt
        14 Landesvergabegesetze nachdenken, dann freuen sich
        die Kolleginnen und Kollegen, die tagtäglich mit dem
        Thema Bürokratieentlastung zu tun haben .
        Das Register wird vom Bundeskartellamt geführt wer-
        den . Das ist eine Behörde mit exzellentem Ruf, die gute
        Arbeit macht und bei der das Register auch bestens auf-
        gehoben sein wird .
        Getreu der Losung des Evangelischen Kirchentages in
        der letzten Woche in Berlin und Wittenberg „Du siehst
        mich“ wird für öffentliche Auftraggeber bei Vergaben
        sofort ersichtlich werden, welche Unternehmen davon
        ausgeschlossen werden können .
        Was werden zukünftig Ausschlussgründe für kriminel-
        le Unternehmen bei öffentlichen Auftragsvergaben sein?
        Ich zähle auf: Bestechung, Terrorismusfinanzierung,
        Geldwäsche, Betrug zulasten öffentlicher Haushalte und
        zulasten des Haushalts der EU, Steuerhinterziehung,
        Kartellrechtsverstöße, Schwarzarbeit und Verstöße ge-
        gen das Mindestlohngesetz . Es ist also eine breite Palet-
        te, die in das Register aufgenommen werden wird, wenn
        es dazu rechtskräftige Verurteilungen von Unternehmen
        gab oder gegen ein Unternehmen Bußgeldbescheide ver-
        hängt wurden .
        Bei einer jährlichen Auftragsvergabe von 300 Milliar-
        den Euro durch Bund, Länder und Kommunen stärken
        wir insbesondere diejenigen Unternehmen, die sich bis-
        her nichts haben zuschulden kommen lassen . Stichwort:
        Fairer Wettbewerb . Für eine soziale Marktwirtschaft ist
        dies unabdingbar .
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        Betonen möchte ich allerdings an dieser Stelle das
        Thema Selbstreinigung . Eingetragene Straftaten können
        nach Ablauf von fünf Jahren, eingetragene Bußgeldent-
        scheidungen spätestens nach Ablauf von drei Jahren ab
        dem Tag der Rechts- oder Bestandskraft der Entschei-
        dung gelöscht werden . In § 8 wird eine vorzeitige Lö-
        schung der Eintragung aus dem Wettbewerbsregister
        geregelt .
        Das Gesetz hätte man an einigen Punkten auch noch
        weiter fassen können . So wird unter anderen moniert,
        dass die Bagatellgrenze bei Bußgeldentscheidungen bei
        50 000 Euro liege und deswegen ein Großteil der Buß-
        geldentscheidungen der Kartellbehörden im Geltungs-
        bereich des Gesetzes nicht erfasst werde . Die Forderung
        von uns war, diese auf 5 000 Euro zu senken . Ich bin da-
        für, dieses Gesetz so, wie es ist, jetzt erst einmal in Kraft
        treten zu lassen und dann in der nächsten Legislaturperi-
        ode zu schauen, ob gegebenenfalls weitere Verbesserun-
        gen vorgenommen werden sollten .
        Ein gutes und wichtiges Gesetz wird heute in diesem
        Hohen Hause verabschiedet . Darauf können wir auch
        alle stolz sein, liebe Kolleginnen und Kollegen .
        Michael Schlecht (DIE LINKE): Generell begrüßen
        wir die Einführung eines Wettbewerbsregisters . Es ist
        längst überfällig und wurde auch von uns bereits in der
        letzten Legislaturperiode unter dem Begriff „Korrupti-
        onsregister“ gefordert. Schließlich dürfen mit öffentli-
        chen Aufträgen und letztlich Steuergeldern nicht auch
        noch solche Unternehmen belohnt werden, die gegen
        Recht und Gesetz verstoßen .
        Allerdings ist das vorliegende Gesetz recht zahnlos
        und lässt viele Lücken. Eine effektive soziale, ökologi-
        sche und rechtsstaatliche Förderung unternehmerischen
        Verhaltens über den Hebel der öffentlichen Auftragsver-
        gabe wird nach wie vor kaum möglich, was auch die Ge-
        werkschaften bemängeln .
        Vieles bleibt leider offen:
        Erstens . Es ist unklar, inwiefern das Bundesgesetz die
        in einigen Bundesländern vorhandenen weitergehenden
        Regelungen oder bereits existierende Systeme der Prü-
        fung der Qualifikation bei der Zulassung zur Teilnahme
        an öffentlichen Ausschreibungen berühren wird. Es muss
        weiterhin klar für die Bundesländer die Möglichkeit ge-
        ben, über das Bundesrecht hinausgehende Regelungen
        bei der Auftragsvergabe in ihren Landesregistern aufzu-
        nehmen .
        Zweitens . Im Wettbewerbsregister ist allein ein Ein-
        trag von Verstößen mit Rechtskraft vorgesehen, um den
        Ausschluss von der Auftragsvergabe zu rechtfertigen .
        Voraussetzung für den Eintrag ist somit die rechtskräf-
        tige Verurteilung eines Mitarbeiters unter anderem für
        Vergehen wie Bestechung, Betrug, Geldwäsche, die Bil-
        dung einer kriminellen Vereinigung oder Terrorismusfi-
        nanzierung . Da es nun aber kein Unternehmensstrafrecht
        in Deutschland gibt, entscheiden Gerichte oder Behörden
        subjektiv bzw . von Fall zu Fall darüber, inwieweit der
        Rechtsverstoß als Tat eines Einzelnen gewertet wird oder
        dem Unternehmen zuzurechnen ist . Nur Letzteres würde
        aber zum Eintrag ins Wettbewerbsregister führen . Das ist
        unzureichend .
        Darüber hinaus wird der zeitnahe Eintrag erschwert
        durch den langjährigen Instanzen- und Behördenweg . Es
        wäre sinnvoll, zumindest die entsprechenden Informati-
        onen zu anhängigen Verfahren wie Straf- und Bußgeld-
        verfahren im Wettbewerbsregister aufzunehmen, zumal
        dies keine Strafe bzw . Vorverurteilung darstellt, sondern
        im Rahmen des Vergaberechts der Sorgfaltspflicht des öf-
        fentlichen Mitteleinsatzes entspricht . So, wie jetzt im Ge-
        setzentwurf vorgesehen, wird während der langjährigen
        Feststellung möglicher Verstöße mit Rechtsbestandskraft
        die öffentliche Hand blind agieren.
        Drittens . Aufnahmegründe in das Wettbewerbsregister
        sind vor allem Verstöße und Betrügereien, die sich pri-
        mär gegen öffentliche Haushalte richten. Es ist aber mehr
        als angebracht, hier auch die Fälle zu erfassen und einen
        Registereintrag zu begründen, in denen die Betrugstat
        zulasten der Kassen der gemeinsamen Einrichtungen der
        Tarifvertragsparteien geht . Darüber hinaus sollte der Ur-
        sachenkatalog über die genannten Verstöße hinaus offen
        gehalten werden und nicht in Form einer abschließenden
        Aufzählung der Straftatbestände und Ordnungswidrig-
        keiten formuliert werden .
        Viertens . Laut Wettbewerbsregister beginnt die Ab-
        fragepflicht der Vergabebörden erst bei einem Auftrags-
        wert von 30 000 Euro . Es gibt zwar im Gesetzentwurf
        eine fakultative Abfragemöglichkeit unterhalb von
        30 000 Euro . Allerdings zeigen die Erfahrungen, dass
        Vergabebehörden von solchen fakultativen Regelungen
        seltener Gebrauch machen. Eine Abfragepflicht unter-
        halb der 30 000-Euro-Grenze ist notwendig, um frühzei-
        tig und lückenlos die Zuverlässigkeit der Unternehmen
        bei der Teilnahme am Vergabeverfahren zu prüfen .
        Ins Wettbewerbsregister aufgenommen wird nur, was
        an Verstößen entdeckt und geahndet wird . Grundvoraus-
        setzung dafür ist wiederum eine ausreichende personelle
        und finanzielle Ausstattung der entsprechenden Ermitt-
        lungsbehörden und der Justiz . Hier gibt es unzählige
        Schwachstellen, die durch die Ausdünnung des öffentli-
        chen Dienstes – Stichworte Zoll, Steuerverwaltung, Jus-
        tiz, Polizei – in den letzten Jahren massiv vergrößert wor-
        den sind, sodass der Gesetzesvollzug nicht hinreichend
        gesichert ist, was nicht allein Wettbewerbsregister und
        Vergabegesetz betrifft. Die finanziellen und personellen
        Ressourcen müssen dringend erhöht werden, um den ef-
        fektiven Einsatz von Steuermitteln und die Gewährleis-
        tung rechtsstaatlichen Verhaltens von Unternehmen in
        der Breite zu sichern . Nur dann lassen sich unfaire Prak-
        tiken, Betrug und Korruption verringern .
        Zusammenfassend: Im Grundsatz begrüßen wir das
        Wettbewerbsregister . Die Umsetzung ist allerdings unge-
        nügend . Daher können wir uns hier nur enthalten .
        Katharina Dröge (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Endlich ist es so weit: Der Bundestag kann nun endlich
        über ein Wettbewerbsregister abstimmen! Dabei muss
        ich sagen: Von der Idee her finde ich, finden wir Grü-
        nen das Register gut . Kein Wunder, wir fordern ein sol-
        ches Register auch schon seit 2002 . Das hat nur leider
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24249
        (A) (C)
        (B) (D)
        die Union bisher immer verhindert . Vier Anläufe haben
        wir gemacht, die alle an der Uneinsichtigkeit der Union
        gescheitert sind .
        Ich würde jetzt „Schwamm drüber“ sagen, hätten Sie
        ein gutes Gesetz vorgelegt . Aber leider hat der Gesetz-
        entwurf Schwächen, über die wir nicht hinwegsehen
        können; denn wir wollen Grundlagen für fairen Wettbe-
        werb schaffen. Fairen Wettbewerb kann es aber nur ge-
        ben, wenn sich alle Wettbewerber an die gleichen Regeln
        halten und wenn diejenigen, die das nicht tun, für ihr
        Fehlverhalten auch bestraft werden . Bleibt eine solche
        Bestrafung aus, schafft das Anreize für Fehlverhalten,
        für Betrug und Korruption . Um nichts anderes geht es
        bei der Schaffung von Wettbewerbsregistern. Wir wollen
        die öffentliche Hand in die Lage versetzen, gegen solche
        Straftäter konsequent vorzugehen und öffentliche Auf-
        träge nur an Unternehmen zu vergeben, die sich an die
        Spielregeln halten .
        Also: Wir wollen ein Korruptionsregister . Aber Ihre
        Umsetzung ist schlicht nicht gut genug . Sie haben die
        Bußgeldhöhe, ab der ein Unternehmen in das Register
        aufgenommen wird, mit 50 000 Euro viel zu hoch an-
        gesetzt . Damit fallen viel zu viele Unternehmen aus der
        Regelung heraus . Aus unserer Sicht – auch der Bun-
        desrat sieht das so – muss eine effektive Schwelle bei
        5 000 Euro liegen .
        Ihr Starrsinn wird nun dazu führen, dass über 90 Pro-
        zent der Bußgeldentscheidungen nicht erfasst werden .
        Das ist gerade auch deswegen bedenklich, da das bun-
        desweite Register die Landesregister ersetzen soll . Durch
        die Höhe von 50 000 Euro werden die meisten Entschei-
        de der Landesbehörden überhaupt nicht mehr berück-
        sichtigt . Flächendeckende Korruptionsbekämpfung sieht
        anders aus .
        Dass mit der Ersetzung der Landesregister durch das
        bundesweite Register auch noch eine Generalamnestie
        einhergeht, weil Sie bestehende Eintragungen nicht über-
        nehmen wollen, ist ein weiterer kritischer Punkt . Hinzu
        kommt: Sie wollen nur solche Unternehmen eintragen,
        die rechtskräftig verurteilt worden sind . Doch das ist zu
        wenig . Strafverfahren wegen Korruptionsdelikten dauern
        regelmäßig vier bis fünf Jahre . Hier bleibt Nachbesse-
        rungsbedarf .
        Auch dass nur Verstöße eingetragen werden, die in
        Deutschland oder der EU geschehen, ist mangelhaft .
        Wir fordern daher, dass auch Unternehmen, die an ande-
        rer Stelle, etwa in der Lieferkette, gegen internationale
        Bestimmungen verstoßen, in das Register aufgenommen
        werden können .
        Ich komme deshalb leider zu dem Ergebnis, dass die-
        ses Gesetz nicht den Ansprüchen genügt . Es genügt nicht
        unseren grünen Ansprüchen, aber es genügt vor allem
        nicht dem Anspruch, Korruption wirksam zu bekämpfen
        und keine staatlichen Aufträge mehr an korrupte Unter-
        nehmer zu vergeben . Das ist traurig, und das ist keine
        verantwortungsvolle Politik gegenüber den Steuerzahle-
        rinnen und Steuerzahlern und gegenüber allen Unterneh-
        men in diesem Land, die fair spielen .
        Deshalb: Obwohl wir einem Korruptionsregister ger-
        ne zustimmen würden, müssen wir uns enthalten . Das
        liegt an Ihrer notdürftigen Umsetzung .
        Anlage 20
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
        brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisie-
        rung der epidemiologischen Überwachung über-
        tragbarer Krankheiten (Tagesordnungspunkt 26)
        Rudolf Henke (CDU/CSU): Infektionskrankheiten
        gehören nach wie vor zu den größten Gefahren für die
        menschliche Gesundheit und sind eine ernstzunehmende
        Herausforderung staatlichen Handelns .
        Die mediale Aufmerksamkeit ist immer dann beson-
        ders groß, wenn es zu internationalen Ausnahmezustän-
        den wie bei der Ebolaepidemie oder der Ausbreitung des
        Zika-Virus kommt, da ihre verheerenden Auswirkungen
        mitsamt einer raschen überregionalen bis globalen Ver-
        breitung uns mit einer gewissen Sorge erfüllen, verbun-
        den mit der Hoffnung, die Infektionskrankheit möge ih-
        ren Weg nicht bis zu uns finden.
        Doch auch bei uns bleibt die Bekämpfung von Infekti-
        onskrankheiten eine gesellschaftliche und politische Auf-
        gabe, die – so wage ich zu behaupten – nicht den Stel-
        lenwert in der Gesellschaft genießt, der eigentlich unser
        Anspruch sein sollte .
        Deshalb ist es gut und richtig, dass wir heute durch
        die Verabschiedung des Gesetzes zur Modernisierung
        der epidemiologischen Überwachung übertragbarer
        Krankheiten auch in diesem Bereich den Weg in die Di-
        gitalisierung gehen und ein datenschutzkonformes Mel-
        de- und Informationssystem von übertragbaren Krank-
        heiten etablieren, zu dem alle an der Versorgung und der
        Forschung beteiligten Akteure Anschluss haben sollen .
        Auf die Schaffung dieses digitalen Meldesystems, seine
        Kompatibilität und seine Nutzung wird meine Kollegin
        Katja Leikert in ihrer Rede näher eingehen .
        Meinen Appell zur besseren personellen wie struktu-
        rellen Ausstattung des öffentlichen Gesundheitsdienstes
        möchte ich an dieser Stelle zum Ende der Legislaturpe-
        riode noch einmal wiederholen: Dieses Gesetz folgt ei-
        ner vielversprechenden Strategie, die Infektionsausbrü-
        che früh erkennen und deren überregionale Verbreitung
        eindämmen soll . Dazu sind wir auf die aktive und ver-
        lässliche Mitwirkung der zuständigen Gesundheitsämter
        angewiesen . Die angespannte Personalsituation in den
        Gesundheitsämtern vor Ort wird von den Betroffenen
        seit langer Zeit moniert . Diese Sorgen sollten wir nicht
        auf die leichte Schulter nehmen . Wenn wir wirklich einen
        effektiven Schutz vor Infektionskrankheiten sicherstellen
        wollen, muss der Gesundheitsdienst mit ausreichend
        Ressourcen ausgestattet werden, damit er seinen Aufga-
        ben pflichtbewusst nachkommen kann.
        Lassen Sie mich – bevor ich auf die fachfremde Än-
        derung zu den Personaluntergrenzen eingehe – noch auf
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724250
        (A) (C)
        (B) (D)
        eine Regelung zu sprechen kommen, die aufgrund ihrer
        Aktualität eine gewisse mediale Wirksamkeit entfaltet
        hat .
        Mit der Verabschiedung des Präventionsgesetzes ha-
        ben wir bereits gesetzlich geregelt, dass bei der Erstauf-
        nahme in eine Kindertageseinrichtung die Sorgeberech-
        tigten einen schriftlichen Nachweis darüber zu erbringen
        haben, dass zeitnah vor der Aufnahme eine ärztliche Be-
        ratung in Bezug auf einen vollständigen, nach den Emp-
        fehlungen der Ständigen Impfkommission ausreichenden
        Impfschutz des Kindes erfolgt ist . Wird dieser Nachweis
        nicht erbracht, kann das Gesundheitsamt die Sorgebe-
        rechtigten zu einer Beratung laden . So ist es geltendes
        Recht seit Inkrafttreten des Präventionsgesetzes Ende
        Juli 2015 .
        Auch ist es nach dem Infektionsschutzgesetz seit
        diesem Zeitpunkt geltendes Recht, dass der- oder die-
        jenige, der diesen Nachweis nicht oder nicht rechtzei-
        tig erbringt – sei es vorsätzlich oder fahrlässig –, ord-
        nungswidrig handelt und dafür mit einer Geldbuße bis zu
        2 500 Euro belangt werden kann .
        In der Gesetzesbegründung des Präventionsgeset-
        zes heißt es dazu ergänzend: „Für Fälle, in denen Per-
        sonenberechtigte den erforderlichen Nachweis auch auf
        wiederholte Aufforderung hin nicht erbringen, wird das
        Gesundheitsamt ermächtigt, die Personenberechtigten zu
        einer Beratung zu laden . Die Kindertageseinrichtung darf
        dazu das Gesundheitsamt entsprechend informieren .“
        Was wir mit dem Präventionsgesetz beabsichtigt ha-
        ben, konkretisieren wir jetzt durch eine gesetzlich ver-
        pflichtende Informationspflicht seitens der Leitung von
        Kindertageseinrichtungen an das Gesundheitsamt, wenn
        Sorgeberechtigte den Nachweis eines Informationsge-
        sprächs nicht erbringen .
        Das ist ein weiterer von vielen notwendigen Schritten
        auf dem Weg zu einer ausreichend hohen Impfquote . Bei
        den Masern liegt die Quote der ersten Impfung bei über
        90 Prozent, das heißt, für diese mehr als 90 Prozent kann
        der Vorwurf einer prinzipiellen ideologischen Gegner-
        schaft zur Impfung nicht gelten . Trotzdem erreichen wir
        bei der zweiten Impfung, die nach der Empfehlung der
        Ständigen Impfkommission bis zum Ende des zweiten
        Lebensjahres durchgeführt werden soll, nicht einmal drei
        von vier Kindern . Diejenigen, die diese Impfung schlicht
        vergessen haben oder die sonst von einer Art Phlegma
        befallen sind, können wir mit der Initiative der Kinder-
        tagesstätten und der von dort ausgelösten Beratung im
        Gesundheitsamt besser erreichen .
        Daneben müssen Impfungen für alle in der Bevölke-
        rung leichter zugänglich und verfügbarer werden, etwa
        auch dadurch, dass auch Betriebs- und Werkärzte Imp-
        fungen im Sinne des Präventionsgesetzes durchführen .
        Ich persönlich halte dazu auch Konzepte für möglich, die
        auf gezielte Anreize setzen, um das Bewusstsein und die
        Motivation für das Impfen zu erhöhen, etwa durch steu-
        erliche Vorteile .
        Abschließend komme ich auf den viel beachteten
        fachfremden Änderungsantrag, der den gesetzlichen
        Auftrag vergibt, sogenannte pflegesensitive Bereiche in
        Krankenhäusern zu identifizieren und für diese Bereiche
        Personaluntergrenzen zu definieren. Diese Entscheidung
        ist ein wichtiger Schritt, das Personal in wesentlichen
        Versorgungsbereichen in Krankenhäusern zu entlasten
        und damit eine qualitativ hochwertige Versorgung sicher-
        zustellen . Des Weiteren beauftragen wir die Selbstver-
        waltungspartner, ein Nachweisverfahren zu vereinbaren,
        das Personalverlagerungen unterbindet . Krankenhäuser,
        die sich nicht an diese Vorgaben halten, müssen mit
        Sanktionen rechnen .
        Es ist wohl Aufgabe der Opposition, die Regelung
        zu den Pflegeuntergrenzen als halbstumpfes Schwert zu
        bezeichnen, da sie zu spät komme und in ihrer Auswir-
        kung viel zu gering bemessen sei . Bisher konnte jedoch
        niemand eine weiterreichende Regelung entwickeln und
        vorlegen. Das Gesetz schafft für die Umsetzung und Aus-
        gestaltung des gesetzlichen Auftrags die Möglichkeit,
        weitere Expertise einzuholen .
        Wir werden die Umsetzung dieser Regelung mit gro-
        ßer Aufmerksamkeit verfolgen . Wir sind optimistisch,
        dass die betroffenen Bereiche von deren Wirksamkeit
        profitieren können. Es ist unser politischer Auftrag, die
        zu Recht eingeforderte Qualität in der gesundheitlichen
        Versorgung mit Personalstrukturen zu verbinden, die da-
        für Sorge tragen, dass diejenigen, die tagtäglich für diese
        Qualität sorgen, nicht über Gebühr belastet werden – im
        Sinne der Patientinnen und Patienten und aller Men-
        schen, die im Gesundheitswesen einen außerordentlich
        guten Job machen .
        Dr. Katja Leikert (CDU/CSU): Mit dem heute vor-
        liegenden Gesetzentwurf zur Modernisierung der epide-
        miologischen Überwachung übertragbarer Krankheiten
        stärken wir den Kampf gegen Infektionskrankheiten .
        In den vorausgegangenen Beratungen ist eines schon
        deutlich geworden: Wir sind uns alle vom Grundsatz her
        einig, dass es beim Thema Infektionsschutz Verbesse-
        rungsbedarf gibt; die Verbesserungen können mit dem
        nun vorliegenden Maßnahmenpaket wirksam auf den
        Weg gebracht werden .
        Die Schritte, die wir mit diesem Gesetz einleiten, sind
        zum einen zeitgemäß und zum anderen notwendig . Sie
        sind zeitgemäß, weil sie die Möglichkeiten der digitalen
        Vernetzung auch im Hinblick auf den Infektionsschutz
        erschließen, und sie sind notwendig, weil neue Erkennt-
        nisse und Erfahrungen, die man im Bund und in den
        Ländern im Zusammenhang mit der Umsetzung des In-
        fektionsschutzgesetzes gesammelt hat, Verbesserungen
        erforderlich machen . Hinzu kommen veränderte interna-
        tionale und europäische Rahmenbedingungen, die eben-
        falls gesetzliche Anpassungen erfordern .
        Im Kern sieht das Gesetz die Einführung eines elektro-
        nischen Melde- und Informationssystems für übertragba-
        re Krankheiten vor . Damit entwickeln wir das existieren-
        de Meldesystem nach dem Infektionsschutzgesetz weiter
        und schaffen ein Instrument zur besseren Bekämpfung
        und Verhütung von Infektionskrankheiten . Mit der Ein-
        richtung dieses elektronischen Meldewesens beauftragen
        wir das Robert-Koch-Institut . Spätestens 2021 soll das
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24251
        (A) (C)
        (B) (D)
        Deutsche Elektronische Meldesystem für Infektions-
        schutz in Betrieb gehen .
        Wir sorgen damit für eine zentrale Zusammenführung
        der Daten . Das heißt, in Zukunft wird für die meldenden
        Ärztinnen und Ärzte und für die Labore genauso wie für
        die Gesundheitsämter und das Robert-Koch-Institut eine
        durchgängige elektronische Informationsverarbeitung
        zur Verfügung stehen . Dadurch verringern wir den büro-
        kratischen Aufwand aufseiten der Meldepflichtigen und
        schaffen eine höhere Datenqualität.
        Wir erleichtern den Datenaustausch und sorgen
        gleichzeitig für eine bessere Zusammenarbeit von Bun-
        des- und Landesbehörden . Das ist für eine funktionie-
        rende Früherkennung essenziell . Im Ernstfall kann so
        in Zukunft schneller reagiert werden und die Einleitung
        entsprechender Maßnahmen erfolgen . Was für die digita-
        le Vernetzung im Gesundheitssystem generell gilt, trifft
        natürlich auch hier zu: Datenschutz und -sicherheit haben
        höchste Priorität .
        Darüber hinaus sieht der Gesetzentwurf weitere Ver-
        besserungen im Infektionsschutzgesetz vor . Darunter
        fällt beispielsweise der Kampf gegen Krankenhausinfek-
        tionen. Um für eine effektivere Aufklärung der Übertra-
        gungswege zu sorgen, erweitern wir deshalb die Melde-
        pflichten von Krankenhäusern.
        Hinzu kommt die Umsetzung der Globalen Polioera-
        dikationsstrategie (GPEI) der Weltgesundheitsorganisati-
        on, für die wir nun die gesetzlichen Grundlagen festlegen .
        So soll unter anderem erfasst werden, wo Poliowildviren,
        Polioimpfviren und Materialien, die Polioviren enthalten
        können, gelagert werden, um diese langfristig zu ver-
        nichten . An dieser Stelle auch noch einmal einen herzli-
        chen Dank an Bundesgesundheitsminister Gröhe für sein
        großes Engagement auf internationaler Ebene!
        Darüber hinaus möchte ich noch einmal auf das The-
        ma Impfen zu sprechen kommen; denn wir sehen leider,
        dass die Impflücken noch immer viel zu groß sind. So
        ist es beispielsweise einfach nicht hinnehmbar, dass in
        diesem Jahr schon innerhalb der ersten drei Monate mehr
        Masernerkrankungen als im gesamten Vorjahr registriert
        wurden: 410 Fälle bis einschließlich März im Vergleich
        zu 325 Fällen in 2016 .
        Allen muss bewusst sein, dass Masern keine harmlose
        Kinderkrankheit sind . Heute weiß man, dass diese Er-
        krankung auch zum Tod führen kann . Wir brauchen eine
        stabile Impfquote von über 95 Prozent für die zweifache
        MMR-Routineimpfung bei Kindern . Erst wenn wir in-
        nerhalb der Bevölkerung eine Immunität gegen Masern
        von mindestens 95 Prozent haben, können wir das Ziel,
        diese gefährliche Krankheit auszurotten, erreichen . Des-
        halb ist es eben auch so wichtig, dass Erwachsene, die
        als Kind nicht die Masern hatten, ihren Impfstatus über-
        prüfen .
        Hier müssen wir mehr tun, und deshalb halte ich es
        für absolut richtig und notwendig, dass wir die Regelun-
        gen, die wir schon im Präventionsgesetz verabschiedet
        haben, nun noch einmal so nachgearbeitet haben, dass
        ihre Umsetzung auch tatsächlich gewährleistet ist; denn
        was bringt uns eine gesetzliche Regelung, an die sich
        niemand hält, weil er keine Konsequenzen zu befürchten
        hat?
        Vor diesem Hintergrund verschärfen wir jetzt die
        Auflagen, die bei einer Verweigerung der Impfberatung
        durch die Eltern vor dem Eintritt ihres Kindes in die Kin-
        dertageseinrichtung entstehen . Es ist richtig und gut, dass
        die Leitung einer Kindertagesstätte nun zur Meldung an
        das zuständige Gesundheitsamt verpflichtet wird, sofern
        Eltern eine Impfberatung verweigern . Das gibt den Ge-
        sundheitsämtern eine Handhabe zur Umsetzung ihrer
        Aufgaben; denn sie können die Eltern nun zu einer Bera-
        tung einladen und gegebenenfalls auch das Bußgeld von
        2 500 Euro durchsetzen, das bereits im Infektionsschutz-
        gesetz vorgesehen ist .
        Hier werden wir auch weiter überprüfen müssen, ob
        die Maßnahmen greifen . Wir können und sollten uns
        nicht damit abfinden, dass die Impfmüdigkeit oder der
        laxe Umgang einiger Eltern mit Impfungen gegen schwe-
        re, zum Teil lebensbedrohliche Krankheiten die Gesund-
        heit der eigenen Kinder und anderer aufs Spiel setzen .
        Insgesamt bringt der Gesetzentwurf die notwendigen
        Anpassungen und Verbesserungen für einen modernen
        Infektionsschutz in Deutschland voran . Ich bitte Sie um
        Ihre Zustimmung zu diesem wichtigen Maßnahmenbün-
        del .
        Sabine Dittmar (SPD): Heute Abend beraten wir ab-
        schließend den Gesetzentwurf zur Modernisierung der
        epidemiologischen Überwachung . Die jüngste Meldung
        über einen erneuten Masern-Todesfall führt uns noch-
        mals vor Augen, dass wir leider weit davon entfernt sind,
        vermeidbare übertragbare Krankheiten auch tatsächlich
        auszurotten .
        Als Medizinerin kann und will ich nicht verstehen,
        warum einige die von der STIKO empfohlenen Schutz-
        impfungen nicht ernst nehmen und sich einem gesund-
        heitlichen Risiko aussetzen . Ich appelliere daher an alle:
        Lassen Sie Ihren Impfstatus überprüfen und sich beraten,
        frischen Sie die Impfungen bei Bedarf auf und lassen Sie
        diese ergänzen .
        Der zentrale fachliche Bestandteil des Gesetzes ist die
        Erweiterung der Meldepflichten und die Verbesserung
        der Meldekette und des Informationsaustausches . Mit
        dem Deutschen Elektronischen Meldesystem für Infek-
        tionsschutz wird der Datentransfer künftig effektiver und
        schneller .
        Entscheidend ist aus meiner Sicht allerdings, dass die
        auf Bundes- und Landesebene beteiligten Stellen und
        insbesondere der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD)
        personell und organisatorisch in die Lage versetzt wer-
        den, ihren stetig wachsenden Aufgaben gerecht zu wer-
        den . Leider wurde in der Vergangenheit gerade bei dem
        so wichtigen ÖGD gespart . Ich möchte daher nochmals
        an den Beschluss „Perspektiven zur Stärkung des ÖGD“
        der 89 . Gesundheitsministerkonferenz erinnern . Diesem
        müssen auf Länderebene endlich Taten folgen .
        Der Gesetzentwurf fungiert als Omnibus für die wich-
        tige und aus sozialdemokratischer Sicht längst überfälli-
        ge Einführung von Personaluntergrenzen in Krankenhäu-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724252
        (A) (C)
        (B) (D)
        sern . Wir setzen damit Mindeststandards fest, die für die
        Patientensicherheit zentral sind .
        Durch das Gesetz werden mit Wirkung zum 1 . Januar
        2019 verbindliche Personaluntergrenzen in pflegesensiti-
        ven Bereichen in Krankenhäusern definiert. Darüber hi-
        naus ist es uns gelungen, klarzustellen, dass die Vorgaben
        auch für solche Betten gelten, die Krankenhausbereichen
        zugeordnet sind, die nicht per se als pflegesensitiv einge-
        stuft sind, der Patient jedoch eine umfassende intensiv-
        pflegerische Versorgung benötigt. Damit verbessern wir
        die Versorgung der Patientinnen und Patienten, wir ver-
        bessern aber gleichzeitig auch die Arbeitsbedingungen
        für die Pflegekräfte, da in Zukunft eindeutig und nach-
        vollziehbar definiert wird, wie viel Personal tatsächlich
        mindestens vorzuhalten ist .
        Diese Untergrenzen sind ein wichtiger Schritt, um die
        Qualität der Betreuung sicherzustellen . Für meine Frakti-
        on ist allerdings klar, dass Untergrenzen wirklich nur der
        Mindeststandard ist, den es nach oben zu einer adäquaten
        und wissenschaftlich fundierten Personalbemessung aus-
        zubauen bzw . weiterzuentwickeln gilt .
        Ich bin dennoch sehr froh, dass es uns so kurz vor
        Ende dieser Legislaturperiode noch gelungen ist, die
        Empfehlungen der Expertenkommission „Pflegepersonal
        im Krankenhaus“ gesetzgeberisch aufzugreifen . Damit
        schlagen wir einen weiteren Pflock ein für gute Pflege
        und gute Arbeitsbedingungen in Krankenhäusern .
        Krankenhäuser, die die Personalvorgaben nicht ein-
        halten, werden mit einem Vergütungsabschlag bestraft .
        Da uns bewusst ist, dass einige Betreiber – sagen wir
        mal – kreative Lösungen suchen könnten, um die Vor-
        gaben zu umgehen, sind Maßnahmen vorgesehen, damit
        es nicht zu Personalverlagerungseffekten kommt. Die
        Einhaltung der Mindeststandards muss daher von einem
        Wirtschaftsprüfer bestätigt werden . Die Vorgaben sind
        im Verhältnis Patient pro examinierten Gesundheits- und
        Krankenpfleger bzw. pro examinierter Gesundheits- und
        Krankenpflegerin mit mindestens drei Jahren Berufsaus-
        bildung darzustellen . Ich denke, es sollte klar sein, dass
        Mindestvorgaben in pflegesensitiven Bereichen nicht
        zulasten der Personalausstattung in anderen Bereichen
        gehen dürfen .
        Besonders zu begrüßen ist zudem die Regelung, dass
        sich, sollten sich die Selbstverwaltungspartner innerhalb
        der vorgegebenen Frist wieder einmal nicht einigen kön-
        nen, die Bundeschiedsstelle automatisch damit befassen
        wird und die ausstehenden Entscheidungen trifft. Eine
        Verschleppung oder Verhinderung von verbindlichen
        Personaluntergrenzen ist damit ausgeschlossen .
        Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf und den zahl-
        reichen dazugehörigen fachlichen und fachfremden Än-
        derungsanträgen verbessern wir den Gesundheitsschutz
        und die Pflege in Krankenhäusern. All dies sind gute
        Gründe, um dem vorliegenden Entwurf zum Wohle der
        Bürgerinnen und Bürger, der Patienten und Pflegekräfte
        zuzustimmen .
        Hilde Mattheis (SPD): Das Gesetz mit dem schwieri-
        gen Titel „Gesetz zur Modernisierung der epidemiologi-
        schen Überwachung übertragbarer Krankheiten“ enthält
        neben dem eigentlichen Regelungsinhalt weitere Ände-
        rungen im Bereich Pflegepersonal im Krankenhaus. Ich
        werde daher im Folgenden auf diese Änderungen einge-
        hen, die für uns als SPD-Fraktion ein zentraler Baustein
        für eine Verbesserung der Versorgungsqualität in Kran-
        kenhäusern sind .
        Die Koalition hat im November 2015 das Kranken-
        hausstrukturgesetz (KHSG) verabschiedet, mit dem wir
        wichtige Reformen zur Neustrukturierung der Kranken-
        hauslandschaft und zur Finanzierung der Krankenhäu-
        ser beschlossen haben . Ein großes Problemfeld bei den
        Beratungen war und ist die Situation der Pflegekräfte in
        Krankenhäusern . Viele Kolleginnen und Kollegen sind
        womöglich bei Besuchen in Kliniken oder durch Zu-
        schriften der Betroffenen bereits mit dem Problem kon-
        frontiert worden: Pflegekräfte arbeiten viel und hart. Sie
        klagen über zu viel Stress und ständigen Arbeitsdruck,
        sodass nicht ausreichend Zeit für eine qualitativ hoch-
        wertige Pflege für die Patientinnen und Patienten bleibt.
        Ganz offensichtlich fehlen in verschiedenen Bereichen
        im Krankenhaus Pflegekräfte, womit die Arbeit besser
        auf mehr Schultern verteilt werden könnte und der Ar-
        beitsdruck insgesamt sinkt . Die SPD-Fraktion hat sich
        daher bemüht, dieses Problem an verschiedenen Stellen
        anzugehen . Wir haben im Krankenhausstrukturgesetz
        eine bessere Finanzierung der Krankenhäuser für Pfle-
        gekräfte vereinbart, einerseits über ein Pflegestellenför-
        derprogramm, mit dem jährlich 330 Millionen Euro an
        die Krankenhäuser für Pflege am Bett fließen. Außerdem
        haben wir damals den umstrittenen Versorgungszuschlag
        in einen Pflegezuschlag umgewandelt. Wir haben also
        500 Millionen Euro zusätzlich an die Krankenhäuser ge-
        zahlt, die keine Pflegestellen abgebaut haben bzw. neue
        Pflegestellen aufbauen und diese anständig bezahlen.
        Diese Maßnahmen stellten quasi eine kurzfristige mo-
        netäre Unterstützung für bessere Pflege im Krankenhaus
        dar .
        Allerdings war uns auch klar, dass das nur ein Tropfen
        auf den heißen Stein ist und das Problem natürlich nicht
        vollständig löst . Die grundsätzliche Frage, nämlich wie
        Pflegeleistungen besser in der Krankenhausvergütung,
        den sogenannten DRGs, dargestellt werden können, und
        ob es nicht verbindliche Personalstandards im Kranken-
        haus braucht, wurde damit nicht gelöst . Dafür haben wir
        auf die Einrichtung einer Expertenkommission gedrängt,
        die mit dem KHSG beschlossen wurde . Diese Kommissi-
        on wurde vom Bundesgesundheitsminister eingesetzt und
        tagte im vergangenen Jahr unter Beteiligung der Deut-
        schen Krankenhausgesellschaft, der Gewerkschaften, der
        Politik und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern .
        Nach intensiver Arbeit konnte die Kommission Anfang
        dieses Jahres ihre Ergebnisse vorlegen .
        Nun setzen wir in diesem Gesetz eine erste gesetzge-
        berische Maßnahme um, nämlich die Einrichtung von
        Personaluntergrenzen im Krankenhaus . Wir beauftragen
        nun den GKV-Spitzenverband und die Deutsche Kran-
        kenhausgesellschaft (DKG) im Benehmen mit der PKV
        die Bereiche im Krankenhaus zu definieren, die einen
        erhöhten Pflegeaufwand haben, also sogenannte pfle-
        gesensitive Bereiche sind. Auf Grundlage dieser Defi-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24253
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        nition müssen die Verhandlungspartner GKV und DKG
        bis zum 30. Juni 2018 Personaluntergrenzen definieren.
        Diese Vorgaben gelten dann ab dem 1 . Januar 2019 . Ab
        diesem Zeitpunkt gelten also bundesweit Mindestvor-
        gaben für das Pflegepersonal in allen vorher definierten
        Bereichen . Um sicherzugehen, dass dieser Zeitplan auch
        eingehalten wird, werden die Verhandlungspartner bis
        zum August dieses Jahres einen Zeitplan vorlegen und zu
        Beginn 2018 einen Zwischenbericht vorlegen . Sollte die
        Selbstverwaltung es nicht schaffen, sich bis 2019 auf die
        Untergrenzen zu einigen, wird das Bundesgesundheits-
        ministerium diese Vorgaben festlegen . Wir setzen hier
        auch ein klares Signal an die Selbstverwaltung: Die In-
        stitutionen haben die Möglichkeit und den Auftrag, sich
        auf klare Vorgaben zu einigen . Aber da es in der Vergan-
        genheit hier leider immer wieder Probleme mit Fristein-
        haltungen gegeben hat, wird die Politik im Zweifel selbst
        regeln . Klar ist: Die Untergrenzen kommen 2019, davon
        dürfen wir nicht abweichen .
        Wir haben uns in den Verhandlungen dafür eingesetzt,
        die Definition von pflegesensitiven Bereichen nicht zu
        restriktiv zu gestalten . Es müssen hier bei der Festlegung
        der Untergrenzen der Nachtdienst und die dazugehörigen
        Intensiveinheiten berücksichtigt werden . Wir haben er-
        reicht, dass, wenn es notwendig ist, auch in anderen Be-
        reichen für den Nachtdienst und die Intensivversorgung
        diese Untergrenzen gelten .
        Ein ganz wichtiger Punkt ist außerdem der Ausschluss
        von Personalverlagerungen innerhalb des Krankenhau-
        ses . Sinn der Untergrenzen ist ja, dass im Zweifel neues
        Personal eingestellt werden muss, um die Betreuungs-
        qualität zu garantieren und das Personal zu entlasten .
        Das dürfen die Krankenhäuser nicht dadurch unterlau-
        fen, dass sie Personal von einer Station abziehen und
        in eine andere transferieren . Um das auszuschließen,
        haben wir konkrete Nachweispflichten vereinbart. Die
        Krankenhäuser müssen jährlich nachweisen, dass sie die
        Personalmindeststandards einhalten und dass es nicht zu
        Verlagerungseffekten kommt.
        Selbstverständlich bleibt es nicht bei freundlichen
        Appellen zur Einhaltung der Personalvorgaben . Diese
        sind verbindlich für die Häuser . Wenn diese nicht einge-
        halten werden, wird den Krankenhäusern die Vergütung
        gekürzt. Ich hoffe, dass dies nicht nötig sein wird, aber es
        ist richtig, hier auch Druck auf die Häuser auszuüben, um
        die Personalsituation nachhaltig zu verbessern .
        Zur Frage der Finanzierung von Pflegepersonal wer-
        den wir die von mir eingangs erwähnten Mittel des
        Pflegestellenförderprogramms dauerhaft in den Pfle-
        gezuschlag überführen . Den Kliniken stehen also nun
        jährlich bis zu 830 Millionen Euro für die Einstellung
        und Bezahlung von Pflegepersonal zur Verfügung. Diese
        Mittelvergabe durch den Bund verbinde ich mit einem
        nochmaligen Appell an die Länder, das Ihrige zu tun, um
        die Finanzmittel für die Krankenhäuser zu erhöhen, so
        wie es gesetzlich ihre Aufgabe ist! Nur wenn die Kran-
        kenhäuser auch ausreichend Gelder bekommen, können
        sie Personal einstellen . Das ist die Grundvoraussetzung
        für gute Pflege im Krankenhaus.
        Schließlich haben wir vereinbart, dass das Bundesge-
        sundheitsministerium bis 2022 dem Bundestag eine wis-
        senschaftlich fundierte Evaluation zur Wirksamkeit der
        Personaluntergrenzen vorlegen wird . Dies ist unbedingt
        notwendig, um die Wirksamkeit des Instruments bewer-
        ten und Verbesserungen vorzunehmen zu können .
        Ich bin sehr froh, dass wir diesen wichtigen Einstieg
        in ein Personalbemessungssystem in deutschen Kran-
        kenhäusern mit diesem Gesetz geschafft haben. Es ist
        ein wichtiger Einstieg, für den die SPD lange gekämpft
        hat . Die Personaluntergrenzen sind ein ganz wichtiger
        Schritt, um die Versorgungsqualität in deutschen Kran-
        kenhäusern nachhaltig zu verbessern. Davon profitieren
        alle Patientinnen und Patienten und natürlich auch die
        Pflegekräfte, die dringend eine Entlastung bei ihrer Ar-
        beit brauchen . Ich will abschließend aber auch deutlich
        sagen, dass wir mit diesem Schritt nicht am Ende des
        Weges sind . Die SPD will ein umfassendes Personalbe-
        messungssystem für das gesamte Krankenhaus, nicht nur
        in pflegesensitiven Bereichen. Dies war in dieser Wahl-
        periode nicht mehr zu schaffen. Wir werden daran aber
        festhalten und dies hoffentlich in der kommenden Wahl-
        periode angehen .
        Harald Weinberg (DIE LINKE): Ich blicke jetzt auf
        immerhin zwei Wahlperioden zurück und damit auf einen
        ebenso langen Versuch, Sie hier von der Notwendigkeit
        einer Personalbemessung zur Beseitigung des Pflegenot-
        stands in den Krankenhäusern zu überzeugen . Für dieses
        Thema, das in diesem Omnibusgesetz enthalten ist, will
        ich meine knappe Redezeit verwenden .
        Unter den FDP-Gesundheitsministern Rösler und
        Bahr gab es eher so etwas wie eine offensive Leugnung
        des Pflegenotstands. Das sei allenfalls ein Management-
        problem, und da dürfe man den Krankenhausmanagern
        keineswegs in die Parade fahren . Dann aber, im Zuge des
        aufkommenden Protestes der Pflegekräfte, entstand auch
        in der Politik die Erkenntnis, dass da tatsächlich ein grö-
        ßeres Problem in der Pflege existiert. Einige sogenannte
        Hygieneskandale und Medienberichte unterstützten wohl
        den Erkenntnisprozess .
        Aber die Reaktionen unter der Großen Koalition wa-
        ren eher Scheinlösungen: Der bislang gewährte „Versor-
        gungszuschlag“ wurde in einen „Pflegezuschlag“ um-
        benannt, wobei das den Krankenhäusern gewährte Geld
        nicht zweckgebunden ist, also für anderes als Pflege aus-
        gegeben werden kann. Ein „Pflegeförderprogramm“, das
        zu gering dimensioniert und an Bedingungen geknüpft
        ist, die kleine und mittlere Krankenhäuser nicht erfüllen
        können oder wollen, wurde aufgelegt . Und jetzt, als Er-
        gebnis der „Expertenkommission“, die von Herrn Gröhe
        eingesetzt worden ist, gibt es die „Pflegeuntergrenzen“
        für „pflegeintensive Bereiche“ – Ta-Ta!
        Es ist schwer zu sagen, ob es sich dabei um einen Lö-
        sungsansatz oder doch eher um eine Beruhigungspille
        zum Bundestagswahlkampf handelt . Einerseits erken-
        nen Sie endlich, dass der Personaleinsatz im Kranken-
        haus nicht dem Markt bzw . dem Management überlassen
        werden darf, sondern staatliche Vorgaben gemacht wer-
        den müssen . Die konkrete Umsetzung könnte allerdings
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724254
        (A) (C)
        (B) (D)
        kaum schlechter sein. Der Versuch, „pflegesensitive“
        Bereiche auszumachen, ist pflegewissenschaftlich und
        pflegepolitisch unterirdisch und wird in der Praxis zu
        mannigfaltigen Problemen führen . Aber auf jeden Fall
        ist die Tatsache, dass sich die Regierung hier bewegen
        musste, ein toller Erfolg der Proteste, Aktionen und auch
        der tariflichen Kämpfe der vergangenen Jahre. Hierzu
        kann man den Aktiven nur gratulieren und sie ermuntern,
        nicht nachzulassen .
        Ansonsten gilt für die vorgesehenen Personalunter-
        grenzen: zu spät, zu langsam, zu wenig! Es ist in etwa so,
        als würde ein großes Haus lichterloh brennen . Aber statt
        jetzt alles Verfügbare zu tun, werden nun der Verband
        der Hausbesitzer und der Verband der Feuerversicherung
        gebeten, in Verhandlungen eine Einigung darüber zu er-
        zielen, wie viele Feuerwehrleute denn mindestens in den
        besonders brandgefährdeten Bereichen eingesetzt wer-
        den müssen . Eine absurde Vorstellung? Ja, das ist wahr!
        Dann wird immer das Hohelied der Selbstverwaltung
        angestimmt . Ja, auch wir stehen zur Selbstverwaltung .
        Aber es gibt Situationen, da muss erst einmal gehandelt
        werden . Man wird den Eindruck nicht los, als solle hier
        ein Thema elegant verschoben werden – mithilfe der
        Selbstverwaltung .
        Hinzu kommt, dass mittels der „Expertise“ von Pro-
        fessor Schreyögg „Leitplanken“ eingezogen wurden für
        die Verhandlung zwischen der Deutschen Krankenhaus-
        gesellschaft und dem Spitzenverband der gesetzlichen
        Krankenversicherungen . Es wird zum Beispiel nicht nä-
        her begründet, warum die Anhebung des untersten De-
        zil oder Quartil auf das Niveau des nächsthöheren Dezil
        oder Quartil der Maßstab sein soll . Aber es ist schon be-
        merkenswert, dass Professor Schreyögg bei der Frage des
        zusätzlichen Personalbedarfs in seiner besten Variante in
        dem Rahmen bleibt, den die Regierung durch das Pfle-
        geförderprogramm abgesteckt hat – nicht einmal 10 000
        zusätzliche Stellen . Das erweckt eher den Eindruck ei-
        nes bezahlten Gefälligkeitsgutachtens denn einer pro-
        funden Bedarfsanalyse . Noch einmal: Wir gehen anhand
        der Berechnungen von Professor Simon davon aus, dass
        100 000 Pflegestellen in den Krankenhäusern fehlen. Es
        muss dringend gehandelt, nicht verhandelt werden!
        Was also tun? Hier bleiben wir bei unserer Linie: Es ist
        anzuerkennen, dass Lösungen in der richtigen Richtung
        gesucht werden . Die angewendeten Verfahren und die
        Limitierungen halten wir für nicht zielführend . Und vor
        allem ist der Umfang deutlich zu gering! Wir brauchen
        eine angemessene Personalbemessung in allen Statio-
        nen und Bereichen der Krankenhäuser, und zwar zügig;
        denn es brennt! Wir hatten Sofortmaßnahmen in einem
        Antrag vorgeschlagen, den Sie in der letzten Sitzungs-
        woche sang- und klanglos abgelehnt haben . So schofel
        gehen wir mit Ihrem Antrag nicht um . Wir werden uns
        enthalten .
        Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Als Änderungsantrag zu diesem Gesetz werden
        die Personaluntergrenzen im Krankenhaus verabschie-
        det . Nach vielen Jahren Personalabbau und zunehmen-
        dem Personalmangel gibt es nun eine Minimallösung .
        Untergrenzen, das bedeutet Mindestmaß, und dieses
        Mindestmaß gilt auch nur für bestimmte Bereiche im
        Krankenhaus, sogenannte pflegesensitive Bereiche. Das
        sind Bereiche, in denen mehr Personal zu weniger un-
        erwünschten Zwischenfällen bei den Patientinnen und
        Patienten führt, wie zum Beispiel Infektionen .
        Daran ist zweierlei bemerkenswert . Weniger uner-
        wünschte Zwischenfälle sind ein erster Schritt . Doch zu
        einer guten Pflege gehört noch viel mehr, zum Beispiel
        Kommunikation und verständliche Information, oder an-
        ders ausgedrückt: sich Zeit nehmen, zuhören, erklären,
        bisweilen auch trösten. Pflegekräfte fehlen nicht nur in
        pflegesensitiven Bereichen. Auf jeder Station verbessert
        sich die Qualität in der Pflege, wenn es mehr Personal
        gibt . Daran ist erkennbar, wie willkürlich hier Kriterien
        aufgestellt werden .
        Was wir eigentlich brauchen, ist ein wissenschaftlich
        basiertes Personalbemessungsinstrument, mit dem die
        notwendigen Fachkräfte für die jeweiligen Bereiche er-
        mittelt werden können. Es muss flexibel genug sein, um
        die organisatorischen und baulichen Gegebenheiten der
        Krankenhäuser, das Qualifikationsprofil der entsprechen-
        den Fachkräfte und natürlich den Gesundheitszustand der
        Patientinnen und Patienten berücksichtigen zu können .
        Was wir stattdessen haben, ist eine an sich schon
        schwache Vorgabe, die noch nicht einmal verbindlich ist;
        denn die Personaluntergrenzen werden am Ende nicht
        wissenschaftlich ermittelt, sondern von den Kassen und
        den Krankenhäusern festgelegt, also von denjenigen,
        die handfeste finanzielle Interessen verfolgen und nicht
        so ohne Weiteres geneigt sein dürften, mehr Geld für
        Personal auszugeben . Es gibt auch nach wie vor keine
        Regelung, die sicher dafür sorgt, dass das für Pflege vor-
        gesehene Geld auch tatsächlich beim Pflegepersonal an-
        kommt . Es herrscht wenig Transparenz über die Verwen-
        dung der Mittel. Solange hier keine Klarheit geschaffen
        wird, bleibt die Pflege das Element in der Krankenhaus-
        finanzierung, an dem immer noch gespart werden kann.
        Auch die Regelungen, die eigentlich dazu dienen
        sollten, Personalverlagerungen zu vermeiden, sind nicht
        eindeutig genug . Personalverlagerung bedeutet, dass Per-
        sonal in einem Krankenhaus von einem Bereich in ei-
        nen anderen versetzt wird, damit dort die vorgegebenen
        Personaluntergrenzen eingehalten werden . Zwar müssen
        die Krankenhäuser künftig die Einhaltung der Personal-
        untergrenzen nachweisen und nach Personalgruppen
        differenziert in den Qualitätsberichten darstellen, doch
        es wird nicht definiert, ab wann von Personalverlage-
        rung die Rede ist . Zudem sollen Übergangsregelungen
        und Ausnahmetatbestände definiert werden, bei denen
        die Untergrenzen nicht eingehalten werden müssen . Das
        ist nachvollziehbar, soweit es so etwas wie Wetter- oder
        Umweltkatastrophen oder Epidemien betrifft. Doch auch
        der Fachkräftemangel wird als Grund für Übergangsre-
        gelungen genannt .
        All das hinterlässt einen bitteren Nachgeschmack . Die
        Ergebnisse der Pflegekommission, die jetzt noch schnell
        umgesetzt werden sollen, damit die Koalition sich mit
        Ergebnissen schmücken kann, sind nur eine Pseudover-
        besserung . Sie werden die Qualität der Versorgung nicht
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24255
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        wesentlich verbessern und die Pflegekräfte im Kranken-
        haus nicht entlasten .
        Anlage 21
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
        brachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Än-
        derung des Energiesteuer- und des Stromsteuerge-
        setzes (Tagesordnungspunkt 27)
        Philipp Graf Lerchenfeld (CDU/CSU): Mit dem
        Zweiten Gesetz zur Änderung des Energie- und des
        Stromsteuergesetzes bringt der Bundestag heute einen
        Gesetzentwurf mit einer langen Vorgeschichte zu einem
        erfolgreichen Abschluss .
        Nahezu ein Jahr dauerten die Beratungen innerhalb
        der Bundesregierung, bis aus dem Referentenentwurf ein
        vom Kabinett beschlossener Regierungsentwurf gewor-
        den war . Wir im Bundestag haben diesen dann endlich
        guten Entwurf in nur fünf Sitzungswochen noch weiter
        verbessern können .
        Die mit dem Gesetzentwurf vorgenommene Über-
        arbeitung der energie- und stromsteuerrechtlichen Re-
        gelungen ist nötig geworden, um die darin enthalte-
        nen Begünstigungen dem im Jahr 2014 novellierten
        EU-Beihilferecht und der EU-Energiesteuerrichtlinie
        anzupassen . Außerdem müssen auch Entscheidungen
        des Europäischen Gerichtshofs in die Regelungen des
        Energiesteuer- und des Stromsteuergesetzes eingearbei-
        tet werden .
        Zu diesem Aspekt möchte ich gern einige grundsätzli-
        che Überlegungen äußern: Ich finde es richtig und wich-
        tig, die Steuergesetzgebung auch im Lichte des EU-Bei-
        hilferechts zu betrachten, Anpassungsbedarf regelmäßig
        zu prüfen und, falls notwendig, auch umzusetzen . Dies
        dient insbesondere der Rechtssicherheit der Unterneh-
        men, die von steuerlichen Vergünstigungen profitieren.
        Allerdings habe ich den Eindruck, dass Deutschland
        in vorauseilendem Gehorsam zuweilen übereifrig und
        übervorsichtig agiert und es an Pragmatismus bei der
        Bewertung der Beihilfekonformität von nationalen Re-
        gelungen mangeln lässt . Zu beobachten war dies am ur-
        sprünglich vorgelegten Referentenentwurf .
        Dieser enthielt noch ein allgemeines Kumulierungs-
        verbot von Steuerbegünstigungen mit anderen Beihilfen .
        Zudem sollte die Steuerbefreiung für Strom aus erneuer-
        baren Energieträgern und aus sogenannten Kleinanlagen
        durch eine komplette Neufassung des § 9 StromStG ge-
        strichen werden .
        Von beiden Regelungen hatte die Bundesregierung
        dann im Regierungsentwurf richtigerweise wieder Ab-
        stand genommen . Statt einer Streichung in vorausei-
        lendem Gehorsam wurde die Steuerbefreiung nach § 8
        StromStG der Europäischen Kommission zur beihilfe-
        rechtlichen Prüfung vorgelegt . Das Ergebnis bleibt ab-
        zuwarten .
        Neben den Anpassungen an das Beihilferecht wird mit
        dem Gesetz ein Auftrag des Deutschen Bundestages aus
        dem Sommer 2015 umgesetzt . Seinerzeit haben wir uns
        dafür ausgesprochen, die Steuerbegünstigungen für gas-
        förmige Kraftstoffe – Erdgas und Autogas –, die Ende
        des Jahres 2018 auslaufen, zu überprüfen, mit dem Ziel,
        diese zu verlängern .
        Der Regierungsentwurf erfüllte nur einen Teil dieses
        Auftrags, indem er lediglich eine Verlängerung der Steu-
        erbegünstigung für als Kraftstoff verwendetes Erdgas bis
        Ende 2026 – abschmelzend ab 2024 – vorsah . Dies war
        vor allem aufgrund der Unterstützung von Bundesminis-
        ter Dobrindt möglich, der mit seinem Ressort die hieraus
        resultierenden Steuerausfälle übernimmt .
        Die Erfüllung des zweiten Teils des Antrags, die Ver-
        längerung der Steuerbegünstigung für Autogas (LPG),
        haben die Koalitionsfraktionen selbst in die Hand neh-
        men müssen und nun erfolgreich umgesetzt: Die Ener-
        giesteuerermäßigung für Autogas (LPG) wird bis zum
        31 . Dezember 2022 verlängert, sodass es im Sinne der
        betroffenen 500 000 LPG-Autobesitzer sowie der Un-
        ternehmen, wie Umrüstbetriebe und Tankstellenpächter,
        keinen abrupten Ausstieg aus der Förderung gibt . Damit
        erfüllen wir auch ein politisches Versprechen .
        Die Verlängerung erfolgt in der Weise, dass die Ener-
        giesteuerermäßigung pro Jahr um 20 Prozent abge-
        schmolzen wird . Das schnellere Abschmelzen im Ver-
        gleich zur Begünstigung für Erdgas ist angesichts der
        bereits seit vielen Jahren bestehenden steuerlichen För-
        derung und des daher schon gut ausgebauten Tankstel-
        lennetzes gerechtfertigt . Zudem ist der Einsatz von Auto-
        gas bereits bei dem schon jetzt im Gesetz vorgesehenen
        Normalsteuersatz ohne Steuerermäßigung gegenüber an-
        deren Energieträgern im Kraftfahrzeugbereich günstiger .
        Eine weitere gute Nachricht aus den parlamentari-
        schen Beratungen ist, dass wir die im Regierungsentwurf
        vorgenommene Streichung des § 60 EnergStG wieder
        zurückgenommen haben . Auch diese Streichung war aus
        meiner Sicht einer übervorsichtigen Interpretation des
        EU-Beihilferechts geschuldet . Die Regelung ermöglicht,
        dass zum Beispiel Mineralöllieferanten bei Lieferungen
        an Kunden, in der Regel mittelständische Tankstellen-
        betreiber, bei eventuellen Zahlungsausfällen eine Steu-
        erentlastung für die im Verkaufspreis enthaltene Energie-
        steuer beantragen können .
        Abschließend möchte ich als Landwirt noch meiner
        Freude darüber Ausdruck verleihen, dass auch dank des
        Einsatzes unseres Bundesministers Schmidt die Steu-
        erermäßigung für Biodiesel zur Verwendung in der Land-
        wirtschaft bestehen bleibt . Dies ist eine gute Nachricht
        für die Landwirtschaft, da sowohl als Hersteller als auch
        als Verbraucher davon profitiert.
        Norbert Schindler (CDU/CSU): Heute halte ich
        meine vermutlich letzte Rede hier im Hohen Haus der
        deutschen Demokratie . Fast 23 Jahre lang durfte ich dem
        Deutschen Bundestag angehören, als Abgeordneter der
        Regierungsfraktion und als Oppositionspolitiker . Und ich
        muss sagen: Es hat mir immer sehr viel Spaß gemacht!
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724256
        (A) (C)
        (B) (D)
        Ob Sie an meinen Reden und deren Themen Spaß hatten,
        vermag ich natürlich nicht zu beurteilen .
        Ein Schwerpunktthema, das mich all die Jahre be-
        schäftigt hat, ist die Energiebesteuerung und die Besteu-
        erung der Biokraftstoffe. Auch heute nehme ich dieses
        Thema mit der abschließenden Lesung des Entwurfs der
        Bundesregierung eines Zweiten Gesetzes zur Änderung
        des Energiesteuer- und des Stromsteuergesetzes wieder
        auf . Wie in der Einbringung in den Bundestag schon an-
        gedeutet, ist dieses Gesetz zwingend notwendig, um Vor-
        gaben des Rechts der Europäischen Union in nationales
        Recht umzusetzen .
        Neben diesen notwendigen Anpassungen müssen mit
        dem Gesetz auch Entscheidungen der EU-Kommission
        und des EuGH in die Regelungen des Energiesteuer-
        und Stromsteuergesetzes eingearbeitet werden, was dem
        Bundesfinanzministerium mit entsprechendem Finger-
        spitzengefühl hervorragend gelungen ist . Dafür und für
        die immer gute Zusammenarbeit danke ich den Beamtin-
        nen und Beamten auch im Namen des gesamten Finanz-
        ausschusses!
        Neben der jetzt geschaffenen generellen Rechts- und
        Planungssicherheit im nationalen Energiesteuerrecht
        konnten im Finanzausschuss weitere Anpassungen und
        Glättungen vorgenommen werden, die in erster Linie
        der erleichterten Anwendung und der Entbürokratisie-
        rung dienen . Darüber hinaus werden technologische
        Fortschritte in der Automobilindustrie und in der Spei-
        chertechnologie nachvollzogen und die Grundlage für
        eine elektronische Kommunikation zwischen den Wirt-
        schaftsbeteiligten und der Verwaltung geschaffen.
        Für uns – da spreche ich auch für den Koalitionspart-
        ner – dient das Gesetz jedoch auch der Umsetzung des
        Koalitionsvertrages, der vorgibt, die Steuerbegünstigun-
        gen für gasförmige Kraftstoffe (Erdgas und Autogas), die
        am 31 . Dezember 2018 enden sollen, zu verlängern . Das
        sah der Gesetzentwurf für als Kraftstoff verwendetes Erd-
        gas (CNG/LNG) schon bis Ende 2026 – abschmelzend ab
        2024 – vor . Diese Regelung, deren Ziel es ist, die Dekar-
        bonisierung des Verkehrssektors voranzubringen, wurde
        mit den Stimmen aller Fraktionen im Finanzausschuss
        bestätigt. Damit schaffen wir die Voraussetzungen, damit
        Erdgas als Zukunftstechnologie in Verbrennungsmotoren
        die notwendigen Impulse erhält, um sich dauerhaft und
        mit großer Verbreitung am Markt durchsetzen zu können
        Nach hartem Ringen konnte zudem noch eine ab-
        schmelzende Verlängerung der Steuerbegünstigung für
        Autogas (LPG) bis Ende 2022 aufgenommen werden,
        sodass es im Sinne der Betroffenen und der Unternehmen
        keinen harten Ausstieg aus der Förderung gibt . Bürge-
        rinnen und Bürger erhalten damit Planungssicherheit bei
        Ihren Investitionsentscheidungen .
        Die Begünstigung für Flüssiggas, das als Kraftstoff
        verwendet wird (LPG), wird über die Jahre 2019 bis
        2022 um jeweils 20 Prozent reduziert und läuft somit
        über weitere fünf Jahre aus . Auch diese Maßnahme, die
        dem Fiskus erhebliche Steuerausfälle beschert, wird von
        den Politikern der Koalitionsfraktionen und der Linken
        getragen, um LPG-Autobesitzer, Umrüstbetriebe und
        Tankstellenpächter in der Übergangszeit nicht zu über-
        fordern. Nach 2022 wird es aber definitiv keine Steuer-
        erleichterungen für Autogas mehr geben! Denn auch bei
        dem dann geltenden Normalsteuersatz bleibt der Ein-
        satz von Autogas gegenüber anderen Energieträgern im
        Kraftfahrzeugbereich weiter vorteilhaft!
        Im Bericht des Finanzausschusses wird zudem die
        Bundesregierung aufgefordert, dass für Unternehmen in
        Schwierigkeiten die nationalen Rechtsvorschriften mit
        Augenmaß angewendet und Einschränkungen von Steu-
        erbegünstigungen auf das erforderliche Maß begrenzt
        werden . Der Befürchtung der Verbände, dass Anträge
        auf Steuerbegünstigungen von Unternehmen in Schwie-
        rigkeiten erst gar nicht zur Prüfung zugelassen werden
        könnten, wird mit der Formulierung „Anträge auf Ge-
        währung einer Steuerbegünstigung können nicht ver-
        wehrt werden“ begegnet .
        Nach Kritik an der geplanten Streichung des § 60
        EnergieStG vonseiten der mittelständischen Wirtschaft
        und des Bundesrates habe ich federführend für die CDU/
        CSU-Fraktion dafür gekämpft, diese wieder rückgängig
        zu machen . Auch hier hatte ich die volle Unterstützung
        des gesamten Finanzausschusses . Damit bleibt es da-
        bei, dass vor allem mittelständische Tankstellenpächter
        bei Lieferung an Kunden, hinsichtlich des Energiesteu-
        eranteils bei eventuellen Zahlungsausfällen dieser, von
        der Haftung des Energiesteueranteils befreit sind . Somit
        kann die Versicherungssumme für den Zahlungsausfall
        auf den Warenwert (ohne Energiesteuer) begrenzt blei-
        ben . Dies sichert gerade diesen Unternehmen in einem
        sehr anspruchsvollen Marktumfeld die notwendige Li-
        quidität, indem sie die Energiesteuer nicht zusätzlich ab-
        sichern lassen müssen .
        Leider ist es uns bei den Verhandlungen mit dem Bun-
        desfinanzministerium nicht gelungen, weitere berechtig-
        te Forderungen, wie die Gleichstellung der Industriega-
        seproduktion mit anderem produzierenden Gewerbe, in
        Gesetzesform zu gießen . Hier scheint die Bundesregie-
        rung nicht bereit zu sein, sich auf sicherlich schwierige
        und langwierige Verhandlungen mit der EU-Kommission
        einzulassen .
        Insgesamt ist dieser Gesetzentwurf, den wir hier ab-
        schließend beraten, ein sehr guter, der hoffentlich für
        ein paar Jahre Rechtssicherheit und Klarheit im Verwal-
        tungshandeln garantieren wird . Mit den generellen Rege-
        lungen in Abstimmung mit der EU-Kommission entfällt
        eine Vielzahl von Einzelgenehmigungsanträgen in Brüs-
        sel, auch wenn dadurch nicht mehr jeder Einzelfall bis
        ins letzte Detail gerecht abgewickelt werden kann .
        In diesem Zusammenhang danke ich der Bundesregie-
        rung, dass sie zum Beispiel für Betriebe der Land- und
        Forstwirtschaft die Praxis der teilweisen Steuererstattung
        für „Agrardiesel“ und „Bioagrardiesel“ bis zum Auslau-
        fen der Freistellungsanzeige bei der EU-Kommission auf
        neuer nationaler Rechtsgrundlage weiterführt . Die bisher
        dauernd notwendigen Notifizierungen bei der EU-Kom-
        mission können somit entfallen .
        Meine Mahnung aus der Rede zur ersten Lesung des
        Gesetzentwurfs muss ich heute aus gegebenem Anlass
        wiederholen: Bürokratieabbau im Verhältnis zur EU
        darf aber nicht zu weiterem Bürokratieaufbau bei den
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24257
        (A) (C)
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        Bürgern führen! Wenn im Vorgriff auf dieses Gesetz nun
        für die Beantragung der Steuerrückerstattung für Agrar-
        diesel zu den schon bestehenden und schwer zu verste-
        henden Antragsformularen drei neue eingeführt werden,
        so widerspricht dies dem Sinn des Gesetzes! Deshalb,
        liebes BMF, liebe Generalzolldirektion: Geht in euch
        und schafft auch im Verhältnis zu den Antragstellern den
        schlanken Staat!
        Zum Abschluss danke ich allen Beteiligten, in der
        Spitze der Ministerien BM Schäuble, BM Dobrindt und
        BM Schmidt, den Kolleginnen und Kollegen der AG Fi-
        nanzen meiner Fraktion und deren Mitarbeitern, unserem
        Koalitionspartner und nicht zuletzt den Mitarbeitern mei-
        nes Büros für die gute und vertrauensvolle Zusammenar-
        beit nicht nur bei diesem Gesetz .
        Ich verabschiede mich aus dem Parlament und sage
        vielen Dank und auf Wiedersehen an anderer Stelle!
        Christian Petry (SPD): Heute beraten wir in zweiter
        und dritter Lesung den Entwurf eines zweiten Gesetzes
        zur Änderung des Energiesteuer- und des Stromsteuerge-
        setzes . Ziel des vorliegenden Gesetzes war es, die Steu-
        erermäßigung für Erdgas und Flüssiggas zu verlängern,
        zwingende Vorgaben des Rechts der Europäischen Union
        in nationales Recht umzusetzen sowie technologische
        Fortschritte in der Automobilindustrie im Stromsteuerge-
        setz angemessen abzubilden .
        Dabei liegt ein Schwerpunkt des Gesetzes auf der
        Umsetzung europarechtlicher Vorgaben . Im Kern geht es
        dabei um die neugefasste Allgemeine Gruppenfreistel-
        lungsverordnung (AGVO) . Aufgrund dieser Neufassung
        regelte der Entwurf bereits die europarechtskonforme
        Umsetzung des Herstellerprivilegs oder etwa die Steu-
        erentlastung für Biokraftstoffe. Weiterhin gab es eine
        Vielzahl von Urteilen des EuGH, die in nationales Recht
        umgesetzt werden mussten . All dies war im Gesetzent-
        wurf bereits enthalten . Wir haben aber auch zentrale Än-
        derungen vorgenommen .
        Lassen Sie mich an dieser Stelle auf die Steuerermäßi-
        gung für Erdgas und Flüssiggas eingehen . Hier hatte die
        Kabinettvorlage von Wolfgang Schäuble eine einseitige
        Verlängerung der Steuerermäßigung für Erdgas vorgese-
        hen . Ich bin dabei überzeugt, dass Erdgas ein wichtiger
        alternativer Kraftstoff ist, der durch seine regernative
        Komponente dringend weiter gefördert werden muss .
        Allerdings haben SPD und CDU/CSU im Koalitionsver-
        trag vereinbart, dass beide Kraftstoffe über 2018 hinaus
        steuerlich begünstigt werden .
        Der Entwurf von Wolfang Schäuble beinhaltete da-
        mit einen klaren Bruch des Koalitionsvertrags . Lassen
        Sie mich an dieser Stelle festhalten: Diesen Bruch hat
        die SPD-Fraktion nicht mitgemacht! Ich habe mich daher
        im parlamentarischen Verfahren gemeinsam mit meinem
        CDU-Kollegen Norbert Schindler für eine Weiterführung
        der Steuerbegünstigung starkgemacht . Es war ein harter
        Kampf, an dessen Ende ein gutes Ergebnis steht . Wir
        werden Flüssiggas bis 2022 weiterfördern, Erdgas bis
        2016 . An dieser Stelle möchte ich Norbert Schindler für
        die gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit ausdrück-
        lich danken .
        Neben der Steuerermäßigung für Flüssiggas haben
        wir im parlamentarischen Verfahren noch weitere, we-
        sentliche Änderungen am Gesetz vorgenommen . Exem-
        plarisch möchte ich etwa die Beibehaltung der Ausnah-
        metatbestände des § 60 Energiesteuergesetz nennen .
        Hierbei handelt es sich um eine Sonderregelung im Ener-
        giesteuerrecht, die Verkäufern von bestimmten Kraftstof-
        fen bei Zahlungsunfähigkeit des Warenempfängers eine
        Steuerentlastung für die im Verkaufspreis enthaltende
        Energiesteuer ermöglicht . Diese Regelung sollte zu-
        nächst abgeschafft werden. Die Sachverständigen in der
        Anhörung des Finanzausschusses konnten uns fundiert
        darlegen, dass die Beibehaltung von § 60 Energiesteu-
        ergesetz für viele Tankstellenbetreiber essenziell ist . Wir
        haben diese Bedenken ernst genommen und uns schluss-
        endlich für eine Beibehaltung des Ausnahmetatbestands
        entschieden .
        Darüber hinaus haben wir uns im parlamentarischen
        Verfahren mit einer Fülle weiterer energiesteuer- und
        stromsteuerrechtlicher Themen beschäftigt . Ich denke da
        beispielsweise an die Gewährung von Steuerentlastungen
        beim Verheizen von Gasöl in Standheizungen von Fahr-
        zeugen des ÖPNV. Hier haben wir das Bundesfinanz-
        ministerium aufgefordert, von der im geltenden Gesetz
        vorgesehenen Verordnungsermächtigung Gebrauch zu
        machen und eine solche Steuerentlastung zu gewähren .
        Weiterhin haben wir mit der Einführung von § 9c
        Stromsteuergesetz die im ÖPNV vermehrt eingesetz-
        ten Elektrobusse mit dem bereits steuerlich geförderten
        Schienenverkehr gleichgestellt . Damit haben wir ent-
        scheidend der technologischen Entwicklung im Ver-
        kehrssektor Rechnung getragen und eine zusätzliche
        Entlastung der Stromsteuer in das Gesetz aufgenommen .
        Insgesamt liegt nun ein stimmiges Gesetz vor, das an
        entscheidender Stelle vom Parlament nachgebessert wur-
        de . Dabei möchte ich ausdrücklich die Zusammenarbeit
        mit der Opposition loben . Wir haben aus Ihren Reihen
        breite Unterstützung bei der Weiterförderung des Flüs-
        siggases erhalten .
        Andreas Rimkus (SPD): Zur Energiewende und
        unseren Zielen sowie den Vorhaben, um diese Ziele zu
        erreichen, habe ich im Plenum des Deutschen Bundesta-
        ges schon viel gesagt . So stehen wir vor der Herausforde-
        rung, ein Gesamtkonzept der Energiewende aufzubauen,
        das unseren Ansprüchen an Nachhaltigkeit gerecht wird .
        So sollte dieses Konzept uns helfen, unsere ökologischen
        Ziele zu erreichen und den Wandel in der Arbeitswelt so-
        zialverträglich zu gestalten, und jedem in dieser Gesell-
        schaft die Chance geben, einen Beitrag zum Klimaschutz
        zu leisten .
        Lassen sie mich den letzten Punkt noch einmal deutli-
        cher sagen . Es kann nicht sein, dass die Energiewende nur
        eine Sache des dicken Geldbeutels ist! Die Energiewen-
        de ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, und ich bin
        froh, dass wir in Deutschland – auch im weltweiten Ver-
        gleich – sehr weit damit sind, den Umbruch zu meistern,
        und zwar so zu meistern, dass jeder seinen Beitrag leistet,
        aber eben auch leisten kann, wie beispielsweise durch die
        EEG-Umlage . Daher ist es auch weiterhin wichtig, den-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724258
        (A) (C)
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        jenigen die Tür aufzuhalten, die sich aufgrund der hohen
        Anschaffungskosten kein Elektro- oder Brennstoffzel-
        lenfahrzeug oder eben auch Erdgasfahrzeug leisten kön-
        nen . So war es für uns Sozialdemokraten ein besonderes
        Anliegen, nicht nur die Steuerbegünstigung auf Erdgas,
        sondern auch auf Autogas zu verlängern .
        Wir können doch nicht hinnehmen, dass es keine be-
        zahlbare Form der emissionsreduzierten Mobilität gibt .
        Die Einwände zur Ökobilanz dieser Fahrzeuge mögen
        stimmen, der Erdgasantrieb ist emissionsärmer und er-
        möglicht die Integration erneuerbarer Energien, und si-
        cherlich würde auch ich mir wünschen, dass schon alle
        mit batterieelektrischen oder Brennstoffzellenfahrzeugen
        auf unseren Straßen unterwegs wären . Doch die Kritiker
        von Autogas mögen mir doch bitte erklären, ob es ihnen
        dann lieber wäre – im Lichte unserer Erkenntnisse – lie-
        ber auf Diesel umzusteigen als auf Propangas .
        Aus diesem Grund haben wir die Verlängerung der
        Steuerbegünstigung von Flüssiggas auch bereits im Koa-
        litionsvertrag verankert . Darüber hinaus haben wir einen
        Koalitionsantrag aus dem Parlament heraus verabschie-
        det, der dieses Ziel noch einmal bekräftigt . Umso er-
        staunter war ich, zu sehen, wie Finanzminister Schäuble
        diese klare Positionierung ignorierte und in seinem Ent-
        wurf eine Verlängerung für Erdgas vorsah, jedoch einer
        Verlängerung für Autogas eine Absage erteilte . Ich muss
        gestehen: Unter einer zuverlässigen Vertragspartner-
        schaft verstehe ich etwas anderes! Dies war ein Bruch
        mit dem Koalitionsvertrag und irreführend für die, die
        sich auf unser Versprechen verlassen haben . Erst hinhal-
        ten und dann Versprechen brechen, das ist keine zuver-
        lässige Kooperation und ziemlich schlechter Stil, Herr
        Schäuble .
        Deshalb haben wir als Sozialdemokraten, wie ich auch
        in meiner letzten Rede bereits deutlich gemacht habe, uns
        von Anfang an klar positioniert und sind dafür eingestan-
        den, dass die Steuerbegünstigung auch für Autogas ver-
        längert wird . So steht am Ende eine Verlängerung, die,
        wie es auch sachgerecht ist, kürzer und geringer ausfällt,
        nämlich bis 2022 läuft und ab 2019 jedes Jahr um 20 Pro-
        zentpunkte mehr abschmilzt . So haben wir im Zuge des
        parlamentarischen Verfahrens eine ökologisch vernünfti-
        ge, sozial verträgliche und politisch verlässliche Lösung
        gefunden .
        Herbert Behrens (DIE LINKE): Der vorliegende
        Gesetzentwurf hat gezeigt, dass aus einer krummen Re-
        gierungsvorlage, der meine Fraktion nicht hätte zustim-
        men können, noch etwas Gerades werden kann . Diese Er-
        fahrung habe ich als Verkehrspolitiker leider noch nicht
        machen können – man denke nur an die Pkw-Maut, die
        blinde Einführung automatisierten Fahrens und vor allem
        die heute Morgen von SPD und Unionsfraktion beschlos-
        sene Privatisierung der Autobahnen, die trotz erbittertem
        Widerstand der Opposition ohne Rücksicht auf Verluste
        durchgedrückt wurde .
        Von daher bin ich sehr froh, dass ich nach acht Jahren
        im Bundestag im federführenden Finanzausschuss Zeuge
        werden konnte, dass es auch anders geht . Nach einer sehr
        aufschlussreichen öffentlichen Anhörung und intensiven
        Gesprächen mit Mitgliedern aller Fraktionen liegt jetzt
        eine Beschlussempfehlung vor, die den Entwurf der Bun-
        desregierung in für mich zentralen Punkten ändert und
        der ich ohne Weiteres zustimmen kann .
        Wie ich bereits in der ersten Lesung betont habe, ist
        mit der Linksfraktion die im Gesetzentwurf der Bundes-
        regierung verankerte abrupte Beendigung der Steuerbe-
        günstigung von Autogas nicht zu machen . Zum einen
        würde dadurch der Vertrauensschutz von mehreren Hun-
        derttausend Fahrzeughalterinnen und Fahrzeughaltern
        verletzt, die sich in den letzten Jahren ein Autogasfahr-
        zeug angeschafft oder ihr Auto auf LPG umgestellt ha-
        ben . Diesen Menschen zu sagen, dass die vor Jahren in
        Aussicht gestellte Verlängerung der steuerlichen Förde-
        rung ihres umweltfreundlichen Fahrzeuges lediglich ein
        Aprilscherz ist, war völlig inakzeptabel .
        Zum anderen – das sage ich jetzt als Vorsitzender des
        Untersuchungsausschusses zum Abgasskandal – hat sich
        das von der Bundesregierung als Begründung herange-
        zogene ifeu-Gutachten längst überholt . Ich teile durch-
        aus die Einschätzung der Gutachter, dass Erdgas einen
        größeren Klimanutzen entfalten kann als Autogas . Aber
        wenn die Bundesregierung eine Studie aus 2013 als Be-
        gründung für die Beendigung der LPG-Förderung an-
        führt, blendet sie schlicht und ergreifend aus, dass der
        Automobilindustrie inzwischen massenhafter Betrug bei
        den Stickstoffdioxidemissionen nachgewiesen wurde.
        Diese vom Autoverkehr verursachten Schadstoffbelas-
        tungen sind dafür verantwortlich, dass sich die Menschen
        in diesem Land massiven gesundheitlichen Gefährdun-
        gen ausgesetzt sehen, und dieser Zustand ist untragbar .
        Die Bundesregierung hat in ihrem Entwurf den Beitrag
        völlig verkannt, den mit Autogas betriebene Fahrzeuge
        für die Reduktion von Luftschadstoffen vor allem in in-
        nerstädtischen Bereichen leisten können . Im Vergleich zu
        dem immer noch hochsubventionierten Dieselkraftstoff
        fallen bei der Verbrennung von Autogas nämlich kaum
        Rußpartikel und Stickoxide an, die zur Vermeidung von
        Fahrverboten am besten heute noch drastisch reduziert
        werden müssen .
        Deshalb hat die Linksfraktion einen Änderungsan-
        trag in die öffentliche Anhörung eingebracht, in wel-
        chem die Verlängerung der Steuerbegünstigung für LPG
        festgeschrieben und wie folgt begründet wird: „Um die
        notwendige Reduktion der (Auto)Verkehrsemissionen
        zu befördern, sollte die steuerliche Begünstigung von
        LPG befristet verlängert werden, um den finanziellen
        Anreiz für die Anschaffung von mit Flüssiggas betrie-
        bener Fahrzeuge bzw . eine Umrüstung konventioneller
        Verbrennungsmotoren auf Flüssiggas zu erhalten . Dies
        gilt vor allem in Hinblick auf den Öffentlichen Personen-
        nahverkehr (Busse, Taxis), in dem auf Grund der hohen
        Verkehrsleistung der dort eingesetzten Fahrzeuge großes
        Potenzial für Emissionsreduktionen besteht .“
        Diese Einschätzung und auch unsere Forderungen ha-
        ben sich die Koalitionsfraktionen zu eigen gemacht und
        in einen eigenen Änderungsantrag gegossen, dem wir
        uns uneingeschränkt anschließen. Da Links offensicht-
        lich gewirkt hat und wir sowohl der Koalition als auch
        dem Gesetz ein Stück weit ökologische Vernunft einimp-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24259
        (A) (C)
        (B) (D)
        fen konnten, ziehen wir gerne unseren eigenen Antrag
        zurück und stimmen dem geänderten Gesetzentwurf zu .
        Dr. Julia Verlinden (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Die Energiebesteuerung berücksichtigt kaum, welchen
        Schaden die einzelnen Energieträger verursachen . Ein
        paar Beispiele: Diesel wird mit Milliarden subventio-
        niert, obwohl Dieselabgase die Luft in unseren Städten
        verdrecken . Auf Erdgas zum Heizen fallen umgerech-
        net pro Tonne CO2 mehr Steuern an als auf das klima-
        schädlichere Heizöl . Auf sauberen Ökostrom muss ich
        als Verbraucherin genauso viel Steuern bezahlen wie auf
        schmutzigen Kohlestrom .
        Der Bundesrat weist zu Recht daraufhin, dass es so
        nicht weitergehen kann . Er hat Sie aufgefordert, einen
        Vorschlag vorzulegen, wie zukünftig die Energiebe-
        steuerung zu einem wirksamen Klimaschutzinstrument
        weiterentwickelt werden kann, und zwar indem verursa-
        chungsgerecht alle Energieträger mit einem einheitlichen
        CO2-Preis belegt werden . Nun frage ich Sie, liebe Kolle-
        ginnen und Kollegen von Union und SPD: Wann kommt
        endlich Ihr Vorschlag? Es ist ja nun wirklich nicht das
        erste Mal, dass wir über ökologisch faire Preise sprechen .
        Die Experten, die Sie von der Bundesregierung mit
        dem Monitoring der Energiewende beauftragt haben,
        haben Ihnen genau das bereits letztes Jahr in Ihren Be-
        richt geschrieben: Ein angemessener Preis auf CO2 ist
        notwendig, damit die Klimaschutzziele überhaupt noch
        erreichbar sind .
        Im April hat sich die Initiative für eine nachhaltige
        Finanzreform gegründet. Der ehemalige Bundesfinanz-
        minister Hans Eichel wirbt dafür . Erst vor drei Tagen
        hat eine hochrangige Gruppe von Wissenschaftlern um
        Nicholas Stern und Joseph Stiglitz die G 20 aufgefordert,
        CO2 einen Preis zu geben. Auch die OECD empfiehlt
        Deutschland, Steuervergünstigungen für umweltschädli-
        che Aktivitäten abzuschaffen und Mehreinnahmen durch
        wirkungsvollere Umweltsteuern zu erzielen . Das zeigt
        doch ganz deutlich: Die Zeit ist mehr als reif, dass wir
        hier in Deutschland die Energiebesteuerung endlich kon-
        sequent am Klimaschutz ausrichten!
        Was wir brauchen, ist also mehr als nur Kleinklein .
        Doch Sie von der Bundesregierung doktern nur an ein-
        zelnen Regelungen des Energie- und Stromsteuerge-
        setzes herum . Dabei schielen Sie anscheinend eher auf
        die schwarze Null als auf die ökologischen Folgen Ihrer
        Entscheidungen . Man muss schon froh sein, dass Sie die
        unsinnige Idee, den Eigenverbrauch von erneuerbarem
        Strom zusätzlich zur EEG-Umlage nun auch noch mit
        der Stromsteuer zu belasten, wieder begraben haben .
        Der Eiertanz, den Sie bei der Verlängerung der Steu-
        erbefreiung für Flüssiggas aufgeführt haben, spricht für
        sich. Ich finde Ihre Plan- und Ambitionslosigkeit mehr
        als bedauerlich . Sie verpassen hier nicht nur zum wie-
        derholten Male eine Chance für mehr Klimaschutz . Sie
        versäumen auch die Gelegenheit, den unübersichtlichen
        Förderdschungel wenigstens ein bisschen zu lichten;
        denn das haben wir in der Anhörung auch bestätigt be-
        kommen: Wenn wir die Energiebesteuerung an CO2 aus-
        richten, brauchen wir ganz viele Ausnahmeregelungen
        gar nicht mehr .
        Wir brauchen keine weitere Subventionierung von
        Verzögerungstechnologien, sondern einen Aufbruch für
        ambitionierten Klimaschutz, der Investitionen in Ener-
        giesparen, Energieeffizienz und Erneuerbare Energien
        belohnt . Nur, Ihnen fehlen der Mut, der Wille und die
        Ideen für einen großen Wurf . Darum können wir dem,
        was Sie hier heute zur Abstimmung stellen, nicht zustim-
        men .
        Anlage 22
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Nadine Schön (St. Wendel)
        (CDU/CSU) zu der Abstimmung über den von den
        Fraktionen der CDU/CDU und SPD eingebrachten
        Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung von Kin-
        derehen (Tagesordnungspunkt 28)
        Mit der großen Zahl von Menschen, die aus anderen
        Kulturen zu uns nach Deutschland geflüchtet sind, le-
        ben bei uns zunehmend mehr Ehepaare, bei denen die
        Ehefrau noch Kind bzw . minderjährig ist . Dieses Phäno-
        men stellt sowohl unsere Gesellschaft, aber auch unsere
        Rechtsordnung vor große Herausforderungen .
        Kinderehen verletzen Grundrechte der Kinder und
        Jugendlichen, vor allem das Recht auf freie Entfaltung
        der Persönlichkeit, auf sexuelle Selbstbestimmung und
        auf Bildung . Sie sind mit unserem Verständnis von Ehe,
        die auf einer freien Willensentscheidung und gleichbe-
        rechtigten Partnerschaft von Mann und Frau beruht, nicht
        zu vereinbaren . Auch der zur Rechtfertigung von Kin-
        derehen angeführte Schutz der Mädchen auf ihrer Flucht
        darf nicht den Blick dafür verstellen, dass diese Ehen aus
        purer Not, aber nicht aus freiem Willen eingegangen wer-
        den .
        Wir haben eine Verantwortung für alle in Deutschland
        lebenden Mädchen und Frauen . Daher brauchen wir ein
        Verbot von Kinderehen .
        Aus diesem Grund stimme ich dem Gesetzentwurf zu,
        weil er Ehen Minderjähriger verbietet und den minder-
        jährigen Ehepartnern einen verbesserten Schutz ermög-
        licht .
        Allerdings halte ich die Regelung, dass Ehen gene-
        rell nichtig sind, bei denen einer der Ehegatten bei der
        Eheschließung jünger als 16 Jahre alt ist, für bedenklich .
        Auch diese Ehen sollten – wie die Ehen von Jugendli-
        chen zwischen 16 und 18 Jahren – durch einen richterli-
        chen Hoheitsakt aufgehoben werden müssen . Bei einem
        individuellen Aufhebungsverfahren können alle flan-
        kierenden Rechtsfragen geklärt werden, wie Unterhalts-
        und Erbrechtsfragen sowie Sorgerechtsregelungen für
        gemeinsame Kinder . Anders als die Nichtigkeitslösung
        bietet das Aufhebungsverfahren Rechtssicherheit und
        Rechtsklarheit für die Betroffenen.
        Ich hätte mir die Aufhebungsregelung für alle Ehen
        mit Minderjährigen gewünscht . Dem Gesetz stimme ich
        deshalb zu, weil es die derzeitige Rechtslage verbessert .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724260
        (A) (C)
        (B) (D)
        Der weit überwiegende Teil der Ehen wird von der Auf-
        hebungslösung erfasst sein . Für eine Änderung der Re-
        gelung für die unter 16-Jährigen werde ich mich weiter
        einsetzen .
        Anlage 23
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung:
        – des von der Bundesregierung eingebrach-
        ten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform der
        Straftaten gegen ausländische Staaten
        – des von den Abgeordneten Harald Petzold
        (Havelland), Frank Tempel, Dr. André Hahn,
        weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE
        LINKE eingebrachten Entwurfs eines ... Ge-
        setzes zur Änderung des Strafgesetzbuches –
        Neuordnung der Beleidigungsdelikte
        – des von den Abgeordneten Hans-Christian
        Ströbele, Renate Künast, Dr. Konstantin von
        Notz, weiteren Abgeordneten und der Frakti-
        on BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrach-
        ten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung
        des Strafgesetzbuches zur Streichung des Ma-
        jestätsbeleidigungsparagrafen (§ 103 StGB)
        – des vom Bundesrat eingebrachten
        Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhe-
        bung des § 103 des Strafgesetzbuches
        – Beleidigung von Organen und Vertretern
        ausländischer Staaten –
        (Tagesordnungspunkt 29)
        Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): Angefangen hat
        bekanntermaßen alles am 31 . März 2016 mit der Aus-
        strahlung eines als „Schmähkritik“ bezeichneten Ge-
        dichts des Unterhaltungskünstlers Jan Böhmermann über
        den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan .
        Daran schloss sich eine nationale und internationale Kon-
        troverse an, die im Wesentlichen zwei Schwerpunkte hat:
        zum einen die strafrechtliche Frage, ob Böhmermanns
        Schmähgedicht im Kontext seiner Sendung als Beleidi-
        gung des türkischen Staatspräsidenten zu bewerten sei,
        und zum anderen die politische Frage, ob ein ausländi-
        scher Politiker mit Ermächtigung der Bundesregierung
        die Strafverfolgung wegen Beleidigung bewirken kön-
        nen soll .
        Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesre-
        gierung soll der hierfür relevante § 103 StGB aufgehoben
        werden, da es für diese strafrechtliche Sondernorm kein
        Bedürfnis mehr gibt . Zunächst ist es wichtig, über den
        Sinn der Strafvorschrift nachzudenken, vor allem über
        den mit ihr verfolgten Regelungszweck und die Eigenart
        der von ihr erfassten Fälle, bevor man darüber urteilt, ob
        eine Strafvorschrift richtig oder falsch ist und ob sie ste-
        hen bleiben oder gestrichen werden soll . Nicht nur in der
        Strafrechtswissenschaft gilt als wesentlicher Prüfstein
        für die Legitimität des Strafrechts das Rechtsgut . Auch
        die Kriminalpolitik beruft sich auf die Erforderlichkeit
        der Abwehr von Angriffen auf ein Rechtsgut, wenn be-
        stehende Straftatbestände erweitert, Strafdrohungen ver-
        schärft oder neue Strafvorschriften eingeführt werden
        sollen .
        Für § 103 StGB kommen zwei Rechtsgüter in Be-
        tracht: § 103 StGB schafft zunächst einen besonderen
        Ehrenschutz für Repräsentanten ausländischer Staaten,
        und zwar für ausländische Staatsoberhäupter, auslän-
        dische Regierungsmitglieder sowie beglaubigte Leiter
        einer ausländischen diplomatischen Vertretung . Dies ist
        jedoch nicht der einzige Schutzzweck der Vorschrift,
        sondern ein weiterer Schutzzweck „Störungsfreie Aus-
        landsbeziehungen der Bundesrepublik“ tritt hinzu . Man
        spricht insoweit von einer kumulativen Rechtsgutver-
        doppelung .
        Der Schwerpunkt der Regelung findet sich jedoch
        in § 104a StGB . Denn § 103 StGB ist anders als die
        §§ 185 ff. StGB kein Antrags- und auch kein Privatklage-
        delikt . Es müssen vielmehr zwei objektive Bedingungen
        der Strafbarkeit erfüllt sein: Zum einen muss die Bun-
        desrepublik Deutschland zu dem anderen Staat, dessen
        Organ oder Vertreter beleidigt wurde, diplomatische
        Beziehungen unterhalten, und die Gegenseitigkeit muss
        verbürgt sein sowie zur Zeit der Tat verbürgt gewesen
        sein . Das heißt, dass die Bundesrepublik Deutschland in
        dem betreffenden Auslandsstaat einen entsprechenden
        Rechtsschutz genossen hat oder noch genießen muss . Zu-
        dem müssen zwei Prozessvoraussetzungen erfüllt sein:
        Es muss ein Strafverlangen der ausländischen Regierung
        vorliegen, und die Bundesregierung muss die Ermächti-
        gung zur Strafverfolgung erteilt haben .
        Der Sinn der Vorschrift ist demnach folgender: Die
        mitunter hochpolitische Entscheidung über das „Ob“ ei-
        ner Strafverfolgung soll nicht ohne den Filter der Prüfung
        durch die Bundesregierung getroffen werden. Eine rein
        materiell-rechtliche Prüfung anhand der „Tatumstände“
        könnte sonst dazu führen, dass Strafverfahren stattfinden,
        die den auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik
        Deutschland mehr schaden als nützen, gerade wenn es in
        einem öffentlichen Verfahren darum geht, für Tatsachen-
        behauptungen den Wahrheitsbeweis zu erbringen .
        Weder die völkervertraglichen Übereinkommen,
        Diplomatenschutzkonvention und das Wiener Über-
        einkommen über diplomatische Beziehungen noch das
        Völkergewohnheitsrecht verpflichten die Staaten, sepa-
        rate Tatbestände zur Sanktionierung von Angriffen auf
        Repräsentanten eines ausländischen Staates zu schaffen.
        Die generellen Tatbestände bezüglich der Strafbarkeit
        von Beleidigungen reichen aus .
        Ein besonderer Ehrenschutz für ausländische Reprä-
        sentanten ist völkerrechtlich nicht erforderlich . Völker-
        rechtlich soll zwar jeder Staat die auf seinem Gebiet
        begangenen Angriffe von Privatpersonen auf bestimmte
        Repräsentanten eines ausländischen Staates bestrafen
        oder den Täter ausliefern . Diese völkergewohnheits-
        rechtliche Strafpflicht ist völkervertraglich im Überein-
        kommen über die Verhütung, Verfolgung und Bestrafung
        von Straftaten gegen völkerrechtlich geschützte Personen
        einschließlich Diplomaten verankert . Danach gehören zu
        den völkerrechtlich geschützten Personen neben Diplo-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24261
        (A) (C)
        (B) (D)
        maten auch Staatsoberhäupter, Regierungschefs und Au-
        ßenminister, wenn sie sich in einem fremden Staat auf-
        halten . Für Beleidigungen ausländischer Repräsentanten
        schreibt die Diplomatenschutzkonvention jedoch keine
        besondere Strafpflicht vor.
        Die völkervertraglichen Regelungen zum Schutz von
        Repräsentanten auswärtiger Staaten knüpften regelmä-
        ßig an deren Tätigkeit im Inland an . Gemäß Artikel 29
        des Wiener Übereinkommens über diplomatische Be-
        ziehungen behandelt der Empfangsstaat den Diploma-
        ten mit gebührender Achtung und trifft alle geeigneten
        Maßnahmen, um jeden Angriff auf seine Person, seine
        Freiheit oder seine Würde zu verhindern . Zwar wird man
        Artikel 29 der Wiener Diplomatenkonvention über den
        Wortlaut hinaus auch auf das Amt eines Staatsoberhaupts
        anwenden können, doch dient die Norm in erster Linie
        dem Schutz der Arbeitsfähigkeit eines akkreditierten Di-
        plomaten im Gastland und bezieht sich nicht auf Beein-
        trächtigungen von Repräsentanten fremder Staaten, die
        sich in ihrem Heimatland aufhalten .
        Der deutsche Gesetzgeber hat sich dennoch zur Auf-
        nahme solcher Tatbestände in den §§ 102 ff. StGB ent-
        schlossen. Von der Abschaffung der Tatbestände § 102
        StGB „Angriff gegen Organe und Vertreter ausländischer
        Staaten“ und § 104 StGB „Verletzung von Flaggen und
        Hoheitszeichen ausländischer Staaten“ ist im Entwurf
        keine Rede. Das bedeutet, dass Angriffe auf ausländische
        Staatsoberhäupter auch nach einer Streichung des § 103
        StGB weiterhin in eigenen Tatbeständen unter Strafe ste-
        hen . § 102 StGB wurde als sogenanntes unechtes Unter-
        nehmensdelikt ausgestaltet, das heißt der Angriff auf Re-
        präsentanten eines ausländischen Staates muss lediglich
        auf dessen Verletzung abzielen, die Verletzung braucht
        aber nicht tatsächlich einzutreten . Durch den besonderen
        Tatbestand steht allein der Versuch, den Repräsentanten
        eines ausländischen Staates leicht zu verletzen, unter
        Strafe .
        Mit anderen Worten: Für den Schutz von Ehrverlet-
        zungen des Repräsentanten gelten die gleichen Vorschrif-
        ten wie diejenigen für deutsche Bürger . Für eine Sonder-
        regelung des § 103 StGB besteht in heutiger Zeit keine
        Notwendigkeit mehr . Wichtig ist aber, dass die §§ 102
        StGB, 104 StGB und 104a StGB erhalten bleiben . Sie
        sind für den Schutz der internationalen Beziehungen
        essenziell . Darüber hinaus wird die Beleidigung in Hin-
        blick auf die §§ 185 ff. StGB auch weiterhin verfolgt –
        auch wenn sie sich gegen einen ausländischen Politiker
        richtet, egal welche Funktion dieser hat . In der Praxis
        haben wir gesehen, dass die Justiz hier hinreichend tätig
        wird und ihre Ermittlungen auch sorgsam durchführt .
        Der Gesetzentwurf entscheidet sich, nach einer diffe-
        renzierten Abwägung, zu Recht für die zeitgemäße Ab-
        schaffung des § 103 StGB. Sicherlich lassen sich auch
        andere Meinungen gut vertreten, was die Diskussion in
        der Wissenschaft gezeigt hat . Einen weitreichenden An-
        wendungsbereich gibt es aber für § 103 StGB ohnehin
        nicht, sodass ich hoffe, dass dieser Gesetzentwurf auch
        die Zustimmung vieler Kollegen in diesem Haus finden
        wird .
        Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Am heutigen Tag
        werden wir das Gesetzgebungsverfahren zur Abschaf-
        fung von § 103 StGB abschließen . Die Strafvorschrift
        stellt bislang die Beleidigung von Organen und Vertre-
        tern ausländischer Staaten unter Strafe .
        Entgegen der Ansicht der Fraktion Bündnis 90/Die
        Grünen handelt es sich bei § 103 StGB nicht um den
        „Majestätsbeleidigungsparagrafen“ . Die Strafvorschrift
        schützt ausländische Staaten mit ihren Organen und Ein-
        richtungen vor Beeinträchtigungen . Auf die Staatsform
        kommt es aber nicht an, sodass demokratisch gewählte
        Regierungsvertreter gleichermaßen geschützt werden .
        Die Grünen haben sich zu sehr vom konkreten Einzelfall
        mit dem Staatspräsidenten Erdogan leiten lassen .
        Es war deshalb richtig, dass die Union besonnen re-
        agiert hat . Die Gesetzentwürfe der Fraktionen Bünd-
        nis 90/Die Grünen und Die Linke wollten eine schnellst-
        mögliche Abschaffung erreichen. Dies sollte das leicht
        erkennbare Ziel verfolgen, den auf einer Welle der Sym-
        pathie reitenden Jan Böhmermann vor Strafverfolgung
        zu schützen . Ein Strafverfahren wäre mangels Rechts-
        grundlage sofort einzustellen gewesen .
        Durch die Weigerung der Union konnte die Staatsan-
        waltschaft Mainz den Fall in Ruhe prüfen und kam letzt-
        endlich zu einer Verfahrenseinstellung, da kein strafbares
        Verhalten vorliege . Ich habe bereits in der ersten Lesung
        am 12 . Mai 2016 gemahnt, dass wir kein Einzelfallgesetz
        „Böhmermann“ beschließen sollten . Der Respekt vor ei-
        ner unabhängigen Justiz verbietet es uns als Gesetzgeber,
        in laufende Verfahren einzugreifen . Die Gewaltenteilung
        ist für uns ein hohes Gut, weshalb wir uns mit den rich-
        tigen Gründen einem kurzfristigen und unbesonnenen
        Handeln versperrt haben .
        Mit dieser Debatte möchten wir als Union auch noch-
        mals klarstellen, dass die funktionierenden außenpoli-
        tischen Beziehungen zu anderen Staaten mit der heuti-
        gen Abschaffung von § 103 StGB nicht beeinträchtigt
        werden . Für uns ist der Schutz der diplomatischen Be-
        ziehungen ein hohes Gut . Das Miteinander mit anderen
        Staaten hängt jedoch nicht vom Bestehen strafrechtlicher
        Schutzvorschriften ab . Die Bundesrepublik Deutschland
        hat sich in der Europäischen Union und in anderen Län-
        dern der Welt großes Vertrauen erarbeitet . Deutschland
        wird auch in der Zukunft ein verlässlicher Partner sein .
        Die Abschaffung von § 103 StGB wird daran nichts än-
        dern und soll auch nicht als ein solches Signal verstanden
        werden .
        Es ist richtig, dass es keine völkerrechtliche Verpflich-
        tung gibt, die Strafvorschrift beizubehalten . Eine völ-
        kerrechtliche Verbotsnorm besteht jedoch auch nicht . Es
        liegt deshalb im weiten Ermessensspielraum des Gesetz-
        gebers, über die Erhaltung oder Abschaffung der Straf-
        vorschrift zu entscheiden . Der Schutz der persönlichen
        Ehre ist ein hohes Gut und hat auch Niederschlag in den
        Strafvorschriften zu finden. Trotz Wegfall von § 103
        StGB wird weiterhin die Beleidigung von ausländischen
        Staatsoberhäuptern und Regierungsmitgliedern unter
        Strafe stehen . Der Beleidigungstatbestand in § 185 Straf-
        gesetzbuch schützt die Ehre eines jeden Menschen ohne
        Bezug zu einer Funktion . Auch die Strafverfolgungser-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724262
        (A) (C)
        (B) (D)
        mächtigungen ähneln sich . Korrespondierend zum Straf-
        verlangen bei § 103 StGB ist bei der Beleidigung ein
        Strafantrag notwendig .
        In Anbetracht der Tatsache, dass ein Schutzniveau für
        die persönliche Ehre erhalten bleibt, werde ich dem Ge-
        setzentwurf der Bundesregierung zustimmen können .
        Dr. Matthias Bartke (SPD): Die Legislatur neigt sich
        dem Ende zu, und die Nummern der aktuellen Druck-
        sachen verraten uns, mit wie vielen Anträgen und Ge-
        setzentwürfen wir uns in den vergangenen vier Jahren
        beschäftigt haben . Nach dieser großen Anzahl von par-
        lamentarischen Beratungen fällt beim Gesetzentwurf zur
        Reform der Straftaten gegen ausländische Staaten eine
        Sache in jedem Fall ganz besonders auf: die Kürze .
        Der Gesetzentwurf regelt, dass der § 103 StGB er-
        satzlos aufgehoben wird . Das ist schon alles . Doch auch
        wenn diese Regelung besonders kurz ist, so fehlt es ihr
        nicht an Bedeutung . Es ist allerhöchste Zeit, dass die
        Beleidigung von Organen und Vertretern ausländischer
        Staaten nicht mehr unter besonderer Strafe steht . Ich
        hatte bereits bei der ersten Lesung des Gesetzentwurfs
        deutlich gemacht, dass die Vorschrift ursprünglich die di-
        plomatischen Beziehungen Deutschlands zu auswärtigen
        Staaten besonders schützen sollte . Der Fall Böhmermann
        hat uns deutlich gezeigt, dass § 103 StGB dafür in keiner
        Weise geeignet ist . Im Gegenteil: Die Bundesregierung
        musste zur Strafverfolgung ermächtigen . Damit hat sie
        sich dem Vorwurf ausgesetzt, Erdogans willfähriger Voll-
        strecker zu sein . Hätte sie sich aber gegen eine Ermäch-
        tigung entschieden, so hätte die Türkei sich beklagt, dass
        die Bundesregierung das türkische Staatsoberhaupt nicht
        vor Verunglimpfungen schützen würde .
        Bei der jetzigen Rechtslage gilt also: Wenn die Bun-
        desregierung nicht ermächtigt, so droht außenpolitischer
        Schaden in den Beziehungen zum betroffenen Land.
        Wenn sie aber ermächtigt, so droht innenpolitscher Scha-
        den, weil sie als Büttel des jeweiligen Staatschefs angese-
        hen wird . Also: Wie sie es macht, macht sie es falsch . Es
        soll daher allein Aufgabe der Strafverfolgungsbehörden
        und Gerichte in Deutschland sein, über die Strafwürdig-
        keit des Verhaltens zu urteilen . § 103 StGB war in weiten
        Teilen seiner Existenz geradezu bedeutungslos . Wenn er
        dann aber, wie im letzten Jahr, doch einmal einschlägig
        ist, dann überhöht er die Äußerung einer Privatperson
        geradezu unmäßig . Die Streichung des § 103 StGB ist
        deswegen nur konsequent .
        Meine Kolleginnen und Kollegen von der Union ha-
        ben bei der Einbringung des Gesetzes, aber auch bei der
        Anhörung der Sachverständigen Bedenken geäußert . Sie
        stellen in Frage, ob die Konsequenz eine andere gewe-
        sen wäre, hätte ein Unsympath ein Staatsoberhaupt mit
        hohem internationalem Ansehen beleidigt . Ich sage: Das
        spielt keine Rolle . Vielleicht hätte uns diese Situation
        nicht so deutlich vor Augen geführt, dass der § 103 StGB
        keine Daseinsberechtigung mehr hat, so wie er uns in all
        den Jahren davor eben auch nicht aufgefallen ist . Das
        allein ist aber noch keine Begründung für die Beibehal-
        tung .
        Wegen der Streichung des § 103 StGB müssen wir
        uns im Übrigen auch sonst keine Sorgen machen; denn
        es entsteht keine Strafbarkeitslücke . Die Beleidigung von
        ausländischen Staatsoberhäuptern ist und bleibt strafbar .
        Es wird im Strafmaß nur eben keinen Unterschied mehr
        machen, ob man ausländische Politiker oder den Nach-
        barn von gegenüber beleidigt hat . Auf die Beleidigung
        von Organen und Vertretern ausländischer Staaten dro-
        hen bisher bis zu drei Jahre Haft, bei „gewöhnlichen“ Be-
        leidigungen nur bis zu einem Jahr . Diese Unterscheidung
        wird es mit der Streichung der „Majestätsbeleidigung“,
        wie wir den Paragrafen oft irreführend betiteln, nicht
        mehr geben .
        Wir hätten uns ein früheres Inkrafttreten gewünscht,
        können aber auch mit dem späteren Termin leben . Gut
        Ding will manchmal eben Weile haben .
        Harald Petzold (Havelland) (DIE LINKE): Wir bera-
        ten heute abschließend vier Gesetzentwürfe zur Reform
        bzw . Änderung des Strafgesetzbuches bezüglich von
        Straftaten gegen ausländische Staaten. Alle vier treffen
        sich in einer zentralen Forderung: Der § 103 des Straf-
        gesetzbuches muss weg . Auch wenn wir am Ende nur ei-
        nen der vier Gesetzentwürfe annehmen werden, ist dieser
        „kleinste gemeinsame Nenner“ tragfähig genug, damit –
        zumindest war das bisher im federführenden Rechtsaus-
        schuss der Fall – alle Fraktionen dem ihre Zustimmung
        geben werden .
        Die Strafvorschrift des § 103 des Strafgesetzbuches
        (StGB) – Beleidigung von Organen und Vertretern aus-
        ländischer Staaten – bezweckt den Schutz der Ehre von
        ausländischen Staatsoberhäuptern, ausländischen Regie-
        rungsmitgliedern sowie beglaubigten Leitern einer aus-
        ländischen diplomatischen Vertretung . Der Strafrahmen
        beträgt Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe,
        im Falle der verleumderischen Beleidigung Freiheits-
        strafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren . Für den
        Ehrenschutz von Organen und Vertretern ausländischer
        Staaten erscheinen die Straftatbestände des Vierzehnten
        Abschnitts (Beleidigung), §§ 185 ff. Strafgesetzbuch,
        ausreichend . Insbesondere bedarf es zum Schutz von
        Organen und Vertretern ausländischer Staaten nicht des
        gegenüber den §§ 185 ff. StGB erhöhten Strafrahmens.
        Auch das Völkerrecht verpflichtet die Staaten nicht dazu,
        Sonderstrafnormen zugunsten von Repräsentanten aus-
        ländischer Staaten aufzustellen, wie sie § 103 StGB der-
        zeit vorsieht . Die Vorstellung, die Repräsentanten aus-
        ländischer Staaten benötigten einen über die §§ 185 ff.
        StGB hinausgehenden Schutz der Ehre, erscheint nicht
        mehr zeitgemäß . Selbst wenn man davon ausgeht, dass
        der Schutzzweck des § 103 in der Wahrung des Interesses
        der Bundesrepublik an einem Mindestbestand funktio-
        nierender Beziehungen zu ausländischen Staaten besteht,
        so wird dieses Anliegen bereits ausreichend durch die
        Beleidigungsparagrafen 185, 186 und 187 StGB sicher-
        gestellt . Dies hat auch der Deutsche Anwaltverein in sei-
        ner Stellungnahme vom Januar 2017 festgestellt . § 103
        StGB ist daher entbehrlich und kann aufgehoben werden .
        Allerdings geht uns die Abschaffung des § 103 StGB
        nicht weit genug . In unserem eigenen Gesetzentwurf,
        Bundestagsdrucksache 18/8272, fordern wir neben der
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24263
        (A) (C)
        (B) (D)
        Abschaffung der Beleidigung von Organen und Vertre-
        tern ausländischer Staaten (§ 103 StGB) die Abschaffung
        weiterer sogenannter Sonderbeleidigungsdelikte . Dabei
        handelt es sich um die Verunglimpfung des Bundesprä-
        sidenten (§ 90 StGB) sowie die üble Nachrede und Ver-
        leumdung gegen Personen des politischen Lebens (§ 188
        StGB) . Diesen Gesetzentwurf werden Sie heute leider
        mit den Stimmen der Großen Koalition bedauerlicher-
        weise ablehnen – und damit werden wieder einmal die
        Grenzen der Gemeinsamkeiten deutlich, die aufzeigen,
        dass die Große Koalition immer nur so viel macht, wie
        sich nicht vermeiden lässt . Politisches Gestalten sieht
        aber anders aus. Nur, dazu fehlt Ihnen offensichtlich so-
        wohl der Mut als auch der Wille .
        Auch die Gesetzentwürfe der Grünen und des Bun-
        desrates konzentrieren sich auf eine Streichung des § 103
        StGB . Darüber hinaus fordern sie die sofortige Inkraft-
        setzung des Gesetzes am Tag seiner Verkündung, und
        nicht erst zum 1 . Januar 2018 . Da wir beides ebenfalls
        fordern, stimmen wir auch beiden Gesetzentwürfen zu .
        Zu den Auswirkungen des späten Inkrafttretens des Ge-
        setzes hat sich bereits der Deutsche Anwaltverein sehr
        kritisch geäußert: Es sei kein Grund ersichtlich, warum
        gegenwärtig für vergleichbare Fälle anfänglich noch
        eine Strafverfolgung nach § 103 StGB statthaft sein darf .
        Das Gesetz sollte daher am Tag nach seiner Verkündung
        in Kraft treten . Diesem Standpunkt schließen wir uns
        vollumfänglich an . Vor diesem Hintergrund erhält aller-
        dings die Empfehlung der Mehrheit im Rechtsausschuss,
        diese beiden Gesetzentwürfe abzulehnen, einen sehr
        schalen Beigeschmack . Wozu dieser Umgang absoluter
        Arroganz der Macht der Regierungsfraktionen mit der
        parlamentarischen Opposition und der Länderkammer,
        dem Bundesrat? Eine Antwort wird uns die Große Koali-
        tion wahrscheinlich schuldig bleiben .
        Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): § 103 StGB ist ein Relikt aus der Zeit, als es noch
        einen deutschen Kaiser gab . Die Vorschrift geht zurück
        auf den Tatbestand der „Majestätsbeleidigung“ . Gegen-
        über der Strafbestimmung für Beleidigung in § 185 StGB
        soll die Beleidigung eines ausländischen Staatsoberhaup-
        tes oder eines Regierungsmitgliedes härter bestraft wer-
        den . Erforderlich sind allerdings das Strafverlangen der
        ausländischen Regierung und eine Strafverfolgungser-
        mächtigung durch die Bundesregierung . Damit wird die
        Strafverfolgung zu einem Politikum . Darf die Bundesre-
        gierung einen Unterschied mach zwischen einem guten
        und einem bösen Präsidenten oder Minister und für den
        einen die Ermächtigung verweigern und für den anderen
        nicht? Und sind Erdogan oder Kim Jong Un nun böse
        und Trump oder May nicht? Jedenfalls sind vor dem Ge-
        setz sind nicht mehr alle gleich .
        Die Anwendung von § 103 StGB, der die diplomati-
        schen Beziehungen zu anderen Ländern schützen soll, hat
        immer wieder zu diplomatischen Krisen geführt . Bereits
        in den 60er-Jahren sorgte der § 103 StGB als „Schah-Pa-
        ragraf“ für Ärger, weil sich der Schah von Persien für
        sich und seine Gattin Soraya darauf berief . Er fühlte sich
        von deutschen Studenten beleidigt . Die damalige Bun-
        desregierung war derart unter Druck geraten, dass der
        Bundesinnenminister nach Teheran reisen musste, um
        den Schah dazu zu bringen, von dem Strafverlangen ab-
        zusehen .
        Zu welchen erheblichen Problemen der Tatbestand
        insgesamt führen kann, zeigte jüngst wieder der Fall
        Böhmermann/Erdogan: Die Kanzlerin setzte die Straf-
        verfolgungsermächtigung gegen die Ablehnung der
        SPD-Regierungsmitglieder durch . Sie dürfte sich kaum
        gewundert haben, dass diese Entscheidung angesichts des
        EU-Türkei-Flüchtlingsdeals und ihrer voreiligen Bewer-
        tung des Böhmermann-Schmähgedichts als Einknicken
        vor den Befindlichkeiten Erdogans erschien. Politische
        Überlegungen, wie die „Herumeierei“ der Kanzlerin vor
        der Stimmungslage dieser „Majestät“, dürfen grundsätz-
        lich kein Maßstab der Strafverfolgung sein .
        Die Grünen hatten deshalb die sofortige Aufhebung
        dieses Paragrafen gefordert . Das Völkerrecht steht sei-
        ner Streichung nicht entgegen, und es gibt keinen guten
        Grund, warum die Beleidigung ausländischer Staatsober-
        häupter schwerwiegender sein soll als die von anderen
        Bürgerinnen und Bürgern . Unser damaliger Gesetzesan-
        trag steht heute auch zur Abstimmung .
        Offensichtlich genervt hatte die Kanzlerin damals ver-
        sucht, sich anschließend an die Spitze der Bewegung zu
        setzen, und auch die Abschaffung gefordert. Das haben
        wir sofort begrüßt . Allerdings hatte der Kanzlerinvor-
        schlag einen Schönheitsfehler . Inkrafttreten sollte die
        Abschaffung nicht sofort mit der Gesetzesänderung, son-
        dern erst viel später, am 1. Januar 2018. Offensichtlich
        wollte sie Erdogan nicht noch verärgern und den von
        diesem angestrengten Prozess erst noch weiterlaufen las-
        sen . Die Staatsanwaltschaft hat das Verfahren eingestellt .
        Also viel Getöse für nichts .
        Nun stellt die Bundesregierung ihren damals hastig
        nachgeschobenen Gesetzentwurf mit dem Datum des
        Inkrafttretens zum 1 . Januar 2018 zur Abstimmung . Sie
        hätte auch einfach für unseren früheren Entwurf stimmen
        können . Aber das tut man nicht im Deutschen Bundestag,
        als hätten Oppositionsanträge einen schlechten Geruch .
        Das von der Bundesregierung gewollte Inkrafttreten zum
        1 . Januar 2018 ist unsinnig und nicht praktikabel . Das
        betont auch der Bundesrat in seiner einzeiligen Stellung-
        nahme, in der nur steht, es bestehe kein sachlicher Grund,
        den Wegfall der Norm hinauszuzögern . Die Große Koali-
        tion hält aber weiter am 1 . Januar 2018 fest . Das ist dumm
        und uneinsichtig . Was sollte denn ein Staatsanwalt oder
        ein Gericht noch tun, wenn jetzt noch eine Anzeige mit
        Strafverlangen von Herrn Erdogan oder einem anderen
        ausländischen Staatsoberhaupt eingehen? Das Verfahren
        müsste am 1 . Januar 2018 – sicher vor der Rechtskraft –
        eingestellt werden, weil das Gesetz nicht mehr da ist .
        Alle, Staatsanwälte, Gerichte und auch die Bundesre-
        gierung, die über die Ermächtigung entscheiden müss-
        te, hätten viel Arbeit und Lärm für nichts . Also, lassen
        Sie den Unsinn . Stimmen Sie ganz einfach für unseren
        Gesetzentwurf, dann wird alles gut . Ausländische Staats-
        oberhäupter können sich, wenn sie sich hier beleidigt
        fühlen, einreihen in die Schlange aller anderen Rechts-
        suchenden in Deutschland . Dann wird das Gericht ent-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724264
        (A) (C)
        (B) (D)
        scheiden . So soll es sein, wenn alle vor dem Strafgesetz
        gleich sind .
        Anlage 24
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
        brachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung
        des Strafgesetzbuches – Umsetzung des Rahmen-
        beschlusses 2008/841/JI des Rates vom 24. Oktober
        2008 zur Bekämpfung der organisierten Krimina-
        lität (Tagesordnungspunkt 30)
        Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): Mit dem vor-
        liegenden Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches
        überführen wir die europarechtlichen Vorgaben aus dem
        Rahmenbeschluss 2008/841/JI in das nationale Recht .
        In den Bereichen, in denen durch die europäischen
        Vorgaben Anpassungsbedarf bestand, wurden die not-
        wendigen Veränderungen vorgenommen . Der Rahmen-
        beschluss ist im Wesentlichen bereits schon durch den
        bestehenden § 129 StGB umgesetzt . Allerdings ist der
        Begriff der Vereinigung nach § 129 StGB in der Ausfor-
        mung, die er durch die Rechtsprechung des Bundesge-
        richtshofs erfahren hat, enger als die Definition der Ver-
        einigung in Artikel 1 des Rahmenbeschlusses . Deswegen
        wird eine Angleichung der Definitionen als auch der
        Straftaten vorgenommen, die im Zusammenhang mit der
        Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung begangen
        werden . Hierdurch wird die gegenseitige Anerkennung
        von Urteilen und gerichtlichen Entscheidungen sowie die
        polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit erleichtert .
        Der Entwurf sieht insoweit vor, den Begriff der Ver-
        einigung in § 129 Absatz 2 StGB-E legal zu definieren
        als einen auf längere Dauer angelegten, von einer Festle-
        gung von Rollen der Mitglieder, der Kontinuität der Mit-
        gliedschaft und der Ausprägung der Struktur unabhängi-
        gen organisierten Zusammenschluss von mehr als zwei
        Personen zur Verfolgung eines übergeordneten gemein-
        samen Interesses. Der Begriff ist folglich durch ein per-
        sonelles, zeitliches, organisatorisches sowie voluntatives
        Element charakterisiert . Durch diese ausdrückliche ge-
        setzliche Festlegung, wonach es also weder einer förm-
        lichen Festlegung von Rollen für ihre Mitglieder noch
        der Kontinuität ihrer Mitgliedschaft noch einer bestimm-
        ten Ausprägung ihrer Struktur bedarf, unterscheidet sich
        die Vereinigung im Sinne des § 129 Absatz 1 Satz 1 in
        Verbindung mit Absatz 2 StGB-E von der Vereinigung
        in der Auslegung durch die derzeitige Rechtsprechung .
        Diese versteht unter einer Vereinigung einen auf gewisse
        Dauer angelegten organisatorischen Zusammenschluss
        von mindestens drei Personen, die bei Unterordnung des
        Willens des Einzelnen unter den Willen der Gesamtheit
        gemeinsame Zwecke verfolgen und unter sich derart in
        Beziehung stehen, dass sie sich untereinander als einheit-
        licher Verband fühlen . Dies erfordert ein Mindestmaß an
        fester Organisation mit gegenseitiger Verpflichtung der
        Mitglieder sowie eine verbindlichen Gemeinschaftswil-
        len, der unter Einbindung der einzelnen Mitglieder nach
        verbindlichen Regeln entstanden sein muss .
        Dies lässt deutlich erkennen, dass der Begriff der
        Vereinigung nach § 129 StGB in der Ausformung, die
        er durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs er-
        fahren hat, enger ist. Diese restriktive Definition schließt
        hie rarchische Zusammenschlüsse mit bloßer Durchset-
        zung eines autoritären Anführerwillens mangels Gruppe-
        nidentität aus dem Tatbestand des § 129 StGB aus .
        Doch gerade bei mafiaähnlichen Strukturen, die in-
        tensiv die Abschottung nach innen und außen betreiben,
        besteht ein Problem, den von der Rechtsprechung gefor-
        derten gemeinsamen Täterwillen zur Begehung konkre-
        ter Straftaten nachzuweisen . Dies bedeutet jedoch nicht,
        dass die bloße lose Übereinkunft von mindestens zwei
        Personen genügt . Es ist ausreichend, wenn der Zusam-
        menschluss ein Mindestmaß längerfristiger instrumentel-
        ler Vorausplanung und Koordinierung sowie eine irgend-
        wie geartete regelhafte Willensbildung aufweist . Dies
        stimmt auch mit dem Rahmenbeschluss überein, welcher
        Zusammenschlüsse aus dem Tatbestand ausscheidet, die
        sich zufällig zur unmittelbaren Begehung einer Straftat
        bilden .
        Auch eine Abgrenzung zum Begriff der Bande wird
        hierbei gewährleistet, indem eine möglicherweise nur
        rudimentäre Organisationsstruktur und die Verfolgung
        eines übergeordneten gemeinsamen Interesses zu fordern
        sind . Im Bereich politisch motivierter Kriminalität liegt
        dieses übergeordnete gemeinsame Interesse in der von
        den Mitgliedern der Vereinigung geteilten politischen
        Überzeugung und der Verfolgung politischer Ziele, de-
        nen die Begehung der einzelnen Straftaten dient .
        Zur Vermeidung einer zu weit gehenden Vorfeld-
        strafbarkeit sieht der Entwurf vor, als Bezugstaten nur
        Straftaten einzubeziehen, die im Höchstmaß mindes-
        tens mit Freiheitsstrafe von zwei Jahren bedroht sind .
        Damit wird von der vom Rahmenbeschluss eröffneten
        Möglichkeit der Einschränkung nach der Schwere der
        in Aussicht genommenen Straftaten Gebrauch gemacht .
        Aus dem Schutzzweck der Norm, dem Verhältnismäßig-
        keitsgrundsatz und der Bedeutung von § 129 StGB als
        Katalogtat für bestimmte strafprozessuale Möglichkeiten
        folgt darüber hinaus, dass die von der Vereinigung ge-
        planten oder begangenen Straftaten eine erhebliche Ge-
        fahr für die öffentliche Sicherheit bedeuten und unter die-
        sem Gesichtspunkt von einigem Gewicht sein müssen .
        Weiterhin wird bei den Strafandrohungen des § 129
        Absatz 1 StGB-E zwischen Gründung und Mitglied-
        schaft einerseits und der Werbung und der Unterstützung
        andererseits differenziert. Die Erweiterung des Vereini-
        gungsbegriffs wirkt sich auch auf § 129a StGB aus.
        Nach § 129 Absatz 1 Satz 2 StGB-E werden Personen,
        die für eine kriminelle Vereinigung um Mitglieder oder
        Unterstützer werben oder sie unterstützen, entsprechend
        dem Gewicht ihres Tatbeitrages mit geringerer Strafe –
        das heißt mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit
        Geldstrafe – bedroht werden als Personen, die eine krimi-
        nelle Vereinigung gründen oder ihr als Mitglied angehö-
        ren . In § 129 Absatz 1 Satz 1 StGB-E wird die Gründung
        einer kriminellen Vereinigung und die Mitgliedschaft in
        einer solchen wie bisher mit Freiheitsstrafe bis zu fünf
        Jahren oder mit Geldstrafe bestraft .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24265
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        (B) (D)
        Die Erscheinungsformen der organisierten Kriminali-
        tät sind vielgestaltig . Neben strukturierten, hierarchisch
        aufgebauten Organisationsformen finden sich auf der
        Basis eines Systems persönlicher und geschäftlicher kri-
        minell nutzbarer Verbindungen Straftäterverflechtungen
        mit unterschiedlichem Bindungsgrad der Personen unter-
        einander . Organisierte Kriminalität zeigt sich nicht nur
        im Bereich des internationalen Rauschgifthandels und
        des Rauschgiftschmuggels, sondern in zahlreichen Kri-
        minalitätsbereichen wie Waffenhandel, Falschgeldver-
        breitung, Glücksspiel, Prostitution und Menschenhandel .
        Darüber hinaus gewinnen die Deliktfelder Cybercrime
        und Schleusenkriminalität immer weiter an Bedeutung .
        Ursache hierfür ist die zunehmende Bedeutung des Inter-
        nets und der digitalen Welt . Insbesondere im sogenann-
        ten Darknet werden kriminelle Marktplätze betrieben, in
        denen illegale Waren und Dienstleistungen gekauft oder
        verkauft werden können . Es existiert ein funktionieren-
        der internationaler Markt, auf dem Angriffswerkzeuge,
        Erkenntnisse über Schwachstellen in Betriebssystemen
        oder Schadsoftware eingekauft oder als Dienstleistung in
        Auftrag gegeben werden können .
        Derartige Kriminalität stellt nicht nur eine Bedrohung
        für den jeweils betroffenen Bürger oder des jeweils be-
        troffenen Rechtsguts der Allgemeinheit dar, sondern es
        besteht darüber hinaus die wachsende Gefahr der Unter-
        wanderung und Korrumpierung staatlicher und gesell-
        schaftlicher Institutionen . Folglich ist rechtspolitisches
        Ziel die Schaffung einer gesetzlichen Maßnahme, welche
        die organisierte Kriminalität besser bekämpfen kann –
        auch in der digitalen Welt .
        Dieser Gesetzentwurf stellt folglich ein probates Mit-
        tel dar, die Auslegung des § 129 StGB an dem wirklich-
        keitsnahen Bild hierarchisch strukturierter Organisatio-
        nen zu orientieren . Der Rahmenbeschluss wird folglich
        effektiv in das nationale Recht umgesetzt. Dabei wird ein
        guter Ausgleich zwischen den europäischen Verpflich-
        tungen einerseits und nationalen Anforderungen des
        Strafrechts andererseits geschaffen.
        Für uns als Union ist die innere Sicherheit von über-
        ragender Bedeutung, weswegen wir bis zum letzten Tag
        der Legislaturperiode alles tun, um unsere Bürgerinnen
        und Bürger noch besser zu schützen .
        Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Mit der heutigen De-
        batte bringen wir das Gesetzesvorhaben zur Strafbarkeit
        der Bildung krimineller und terroristischer Vereinigun-
        gen zum Abschluss . Mit der Umsetzung des Rahmenbe-
        schlusses des Rates der Europäischen Union werden die
        europarechtlichen Vorgaben im nationalen Recht nach-
        vollzogen und eine Verbesserung bei der Bekämpfung
        der organisierten Kriminalität eintreten .
        Die Bildung einer kriminellen Vereinigung ist nach
        dem deutschen Strafrecht strafbar, für terroristische Ver-
        einigungen im In- und Ausland werden Freiheitsstrafen
        von mindestens einem Jahr angedroht . Das Strafbedürf-
        nis erfolgt bereits aus der Tatsache, dass kriminelle Or-
        ganisationsformen schon selbstständig eine Bedrohung
        für die kollektiven Rechtsgüter unserer Gemeinschaft
        darstellen, auch wenn durch solche Vereinigungen In-
        dividualrechtsgüter noch nicht direkt betroffen sind. In
        jedem Falle bedrohen kriminelle und terroristische Or-
        ganisationsformen sowohl die öffentliche Sicherheit als
        auch die staatliche Ordnung . Das Strafrecht gibt hierauf
        eine Antwort und sieht Maßnahmen vor, insbesondere
        vor dem Hintergrund der latenten Bedrohung durch den
        internationalen Terrorismus .
        Durch den Rahmenbeschluss des Rates der Europäi-
        schen Union vom 24 . Oktober 2008 und die dort getrof-
        fene Definition der kriminellen Vereinigung gab es aller-
        dings noch gesetzgeberischen Handlungsbedarf .
        Leider war es der Rechtsprechung in der Vergangen-
        heit nicht möglich, eine Auslegung des Vereinigungsbe-
        griffs, die mit dem Europarecht konform ist, zu schaffen.
        Dies scheiterte nicht am Wortlaut der Strafvorschrift,
        sondern vielmehr am fehlenden Willen der Rechtspre-
        chung, die neuen Rahmenbedingungen europarechtskon-
        form auszulegen, was durchaus zu bedauern ist .
        Aus diesem Grund war der Gesetzgeber zum Handeln
        aufgerufen . Der vorliegende Gesetzentwurf genügt nun
        den europarechtlichen Anforderungen hinsichtlich der
        Legaldefinition der kriminellen Vereinigung: Die Grup-
        penidentität, die bisher für den Tatbestand erforderlich
        war, wurde – trotz vielfacher Kritik – aufgegeben . Bisher
        mussten sich die Mitglieder als einheitlicher Verband de-
        finieren. Mit der Neuanpassung treten nun die Organisa-
        tionsstruktur, die Vorausplanung und die Koordinierung
        in den Vordergrund der Strafbarkeit . Zusätzlich bringt
        die Neuregelung mit sich, dass Zusammenschlüsse unter
        einem autoritären Anführerwillen als kriminelle Vereini-
        gungen definiert werden.
        Der Gesetzentwurf ist ein wichtiger Beitrag zu mehr
        Rechtssicherheit . Er ermöglicht eine verbindliche Ausle-
        gungsregel für die Justiz und stellt durch die Umsetzung
        europarechtlicher Vorgaben eine Angleichung der Straf-
        vorschriften her . Dies ist besonders wichtig, da hierdurch
        in jedem Staat der Europäischen Union die Bildung ei-
        ner kriminellen oder terroristischen Vereinigung mit den
        gleichen Strafen geahndet wird, was die europaweite
        Sicherheit erhöht und die Rechtsprechung harmonisiert .
        Neben den positiven Folgen, die, wie angesprochen,
        nicht nur der deutschen, sondern der EU-weiten Recht-
        sprechung dienlich sind, enthält der Gesetzentwurf einen
        kritischen Punkt, den die Union gerne gestrichen gesehen
        hätte .
        Künftig wird der Strafrahmen für die Werbung und
        Unterstützung der kriminellen Vereinigung auf Freiheits-
        strafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe abgesenkt . Ziel
        des Gesetzentwurfs kann es nicht sein, Straftätern künf-
        tig einen Rabatt für die Werbung und Unterstützung von
        kriminellen Vereinigungen zu geben . Die Union setzt
        sich für eine effektive Bekämpfung der Kriminalität ein.
        Die Absenkung von Strafrahmen im Bereich der orga-
        nisierten Kriminalität ist nicht unser Anliegen und setzt
        ein falsches Zeichen . Wir hätten eine Änderung im parla-
        mentarischen Gesetzgebungsverfahren sehr begrüßt .
        Insgesamt ist jedoch zu sagen, dass mit dem Gesetz-
        esentwurf nicht nur dem Rahmenbeschluss der Europä-
        ischen Union Genüge getan wurde, sondern es konnten
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724266
        (A) (C)
        (B) (D)
        auch weitere wichtige Maßnahmen für die deutsche
        Rechtsprechung durch den Gesetzgeber getroffen wer-
        den . Das Gesetz ist somit als Erfolg im Kampf gegen das
        organisierte Verbrechen zu werten .
        Bettina Bähr-Losse (SPD): Wir müssen die organi-
        sierte Kriminalität mit allen uns zur Verfügung stehenden
        Mitteln bekämpfen .
        Mit dem Gesetzentwurf, den wir heute hier beschlie-
        ßen, wollen wir die Strafvorschrift des § 129 Strafgesetz-
        buch, den Straftatbestand der Bildung krimineller Verei-
        nigungen, an die Vorgaben des Rahmenbeschlusses des
        Rates der Europäischen Union vom 24 . Oktober 2008 zur
        Bekämpfung der organisierten Kriminalität anpassen .
        § 129 StGB stellte bislang die Gründung, Mitglied-
        schaft, Mitgliederwerbung und Unterstützung einer kri-
        minellen Vereinigung unter Strafe . Es handelt sich hier
        um eine Strafbarkeit im Vorfeld des Versuchs, eine soge-
        nannte Vorfeldstrafbarkeit. Grund für die Schaffung der
        Strafnorm war, dass man den Mitgliedern einer krimi-
        nellen Vereinigung häufig nicht die Begehung konkreter
        Taten beweisen kann .
        Der Rahmenbeschluss vom 24 . Oktober 2008 des Ra-
        tes zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität wurde
        also bereits fast vollständig durch § 129 StGB umgesetzt .
        Was der § 129 StGB aber in der bisherigen Form noch
        nicht möglich macht, ist die Verurteilung mafiaähnlicher
        Organisationen . Bisher unterfallen hierarchisch organi-
        sierte Gruppen, deren Mitglieder sich einem autoritären
        Führungswillen unterwerfen, mangels „Gruppenidenti-
        tät“ nicht dem Tatbestand .
        Auf die Lücke in der Umsetzung des EU-Rahmen-
        beschlusses machte ein vom Bundesgerichtshof ent-
        schiedener Fall aufmerksam, den ich Ihnen kurz veran-
        schaulichen möchte: Im März 2006 gründete sich eine
        rechtsnationalistische Kameradschaft . Auf einer Grün-
        dungsversammlung mit 30 bis 50 anwesenden Perso-
        nen einigte man sich auf den Namen „Kameradschaft
        Sturm 34“ . Der Vorschlag, eine förmliche Mitgliederliste
        anzulegen, wurde nicht umgesetzt, weil man eine solche
        Liste im Falle polizeilicher Ermittlungen für nachteilig
        hielt . Nach Gründung der „Kameradschaft Sturm 34“
        kam es bei mehreren Gelegenheiten zu von Kamerad-
        schaftsmitgliedern initiierten Schlägereien, bei denen
        zahlreiche Personen – teilweise erheblich – verletzt wur-
        den .
        Im Revisionsverfahren gegen das erstinstanzliche Ur-
        teil des LG Dresden, das die Voraussetzungen für eine
        kriminelle „Vereinigung“ nicht gegeben sah, setzte sich
        der 3 . Strafsenat des BGH mit der Frage auseinander, ob
        die „Kameradschaft Sturm 34“ als kriminelle Vereini-
        gung im Sinne des § 129 StGB einzustufen und die An-
        geklagten wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung hieran
        zu verurteilen seien . Der 3 . Strafsenat des BGH lehnte es
        aus grundsätzlichen Erwägungen heraus ab, den Verei-
        nigungsbegriff ohne entsprechende gesetzliche Regelung
        weiter als bisher zu interpretieren und forderte eine Re-
        gelung durch den Gesetzgeber . Dieser Forderung kom-
        men wir nun nach .
        Der Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht nun
        vor, ins Strafgesetzbuch eine Legaldefinition des Verei-
        nigungsbegriffs aufzunehmen, die sich eng an den euro-
        päischen Vorgaben orientiert .
        Vorgesehen sind erstens eine Absenkung der Anforde-
        rung an Organisationsstruktur und Willensbildung, also
        eine Erweiterung des Vereinsbegriffes wie folgt: „ein auf
        … Dauer angelegter, von einer Festlegung von Rollen
        der Mitglieder, der Kontinuität der Mitgliedschaft und
        der Ausprägung der Struktur unabhängiger organisierter
        Zusammenschluss von mehr als zwei Personen zur Ver-
        folgung eines übergeordneten gemeinsamen Interesses .“
        Zweitens ist eine Anwendung nur bei Straftaten vorge-
        sehen, die mit einer Freiheitsstrafe von mindestens zwei
        Jahren bedroht sind . An dieser Stelle erfolgt das Korrek-
        tiv auf der Ebene der Straftaten, weil wegen der Absen-
        kung der Anforderung an die Organisationsstruktur mit
        einer erheblichen Ausweitung des Anwendungsbereichs
        zu rechnen ist, wir aber nicht jede beliebige Straftat ein-
        bezogen sehen wollen .
        Drittens ist eine Unterscheidung bei der Strafandro-
        hung vorgesehen: Im nun vorliegenden Gesetz wird bei
        der Strafandrohung zwischen Gründung/Mitgliedschaft
        und Werbung/Unterstützung unterschieden . Gründung
        und Mitgliedschaft werden dabei, wie bisher, mit einer
        Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren geahndet . Werbung
        und Unterstützung werden hingegen nun noch mit bis zu
        drei Jahren Freiheitsstrafe geahndet . Bisher konnte die
        Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahre betragen .
        Zwischenzeitlich kam vonseiten unseres Koalitions-
        partners die Diskussion eines einheitlichen Strafrahmens
        mit einer Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren für Gründung,
        Mitgliedschaft, Mitgliederwerbung und Unterstützung
        auf . Die Begründung war, dass für einen aktiven Unter-
        stützer der gleiche Strafrahmen gelten sollte wie für ein
        passives Mitglied .
        Die zwischenzeitlich von der Union vorgetragene
        Begründung trägt nach Auffassung der SPD Bundes-
        tagsfraktion nicht . Das „passive Mitglied“ gibt es straf-
        rechtlich gar nicht . Es handelt sich bei der kriminellen
        Vereinigung ja nicht um einen eingetragenen Verein,
        dessen Mitgliedschaft man durch förmliche Beitrittser-
        klärung erwirbt und danach in Passivität verharrt . Die
        Beteiligung als Mitglied setzt im Gegenteil voraus, dass
        der Betreffende sich unter Eingliederung in die Organisa-
        tion deren Willen unterordnet und eine Tätigkeit zur För-
        derung der kriminellen Ziele der Organisation entfaltet .
        Auszugehen ist vom typischen Gründer und typischen
        Unterstützer . Veranschaulicht am Beispiel einer terro-
        ristischen Vereinigung: Es war strafrechtlich anders zu
        bewerten, dass Andreas Baader die RAF gegründet hat,
        als dass jemand Andreas Baader bei sich hat übernach-
        ten lassen . Die kriminelle Energie ist bei Gründung/
        Mitgliedschaft höher als bei Mitgliederwerbung/Unter-
        stützung . Die Tathandlungen sind von unterschiedlichem
        Unrechtsgehalt . Der aktiven Unterstützung kann der
        Strafrichter dadurch Rechnung tragen, dass sich der kon-
        krete Strafausspruch am oberen Rand des Strafrahmens
        bewegt .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24267
        (A) (C)
        (B) (D)
        Die SPD-Fraktion hat sich an dieser Stelle mit der
        Unterscheidung zwischen Gründung/Mitgliedschaft und
        Mitgliederwerbung/Unterstützung in § 129 StGB mit un-
        terschiedlichen Strafrahmen durchgesetzt .
        Es ist richtig und wichtig, unsere Gesetze regelmä-
        ßig zu überdenken, zu überprüfen und, wenn nötig, auch
        Strafrahmenverschärfungen vorzunehmen . Der Annah-
        me, dass durch pauschalisierende Verschärfungen unse-
        rer Gesetze ein Mehr an Sicherheit erreicht wird, wider-
        spreche ich jedoch ausdrücklich .
        Auch wenn die Änderungen an den §§ 129 ff. Straf-
        gesetzbuch überschaubar sind, so wird insbesondere die
        Erweiterung des Vereinigungsbegriffs dazu führen, dass
        Erscheinungsformen aus dem Bereich der organisierten
        Kriminalität zukünftig strafrechtlich besser erfasst wer-
        den können . Ich bitte daher, diesen Gesetzentwurf der
        Bundesregierung zu unterstützen .
        Ulla Jelpke (DIE LINKE): Mit dem vorliegenden Ge-
        setzentwurf soll einem Rahmenbeschluss des Rates der
        Europäischen Union vom Jahr 2008 zur Bekämpfung der
        organisierten Kriminalität nachgekommen werden . Da-
        für soll der bestehende § 129 Strafgesetzbuch über die
        Bildung einer kriminellen Vereinigung angepasst wer-
        den .
        Schon der Name des § 129 ist eine Mogelpackung .
        Denn es handelt sich mitnichten um einen Paragrafen zur
        Bekämpfung krimineller Vereinigungen wie der Mafia.
        Vielmehr haben wir es in erster Linie mit einem Verfol-
        gungsinstrument gegen eine radikale politische Oppo-
        sition zu tun, das den Ermittlungsbehörden zahlreiche
        Sondervollmachten im Bereich Telekommunikations-
        überwachung, Verwanzung von Wohnungen und dem
        Einsatz verdeckter Ermittler einräumt .
        Von 1871 bis 1945 richtete sich der § 129 StGB noch
        gegen eine „staatsfeindliche Verbindung“ – die politische
        Stoßrichtung wurde schon im Namen deutlich . Verfolgt
        wurden damit unter Bismarck die Sozialdemokratie und
        nach dem Ersten Weltkrieg die KPD . In den 1950er-Jah-
        ren sahen sich die erst wenige Jahre zuvor aus den KZs
        der Nazidiktatur freigekommenen Kommunisten in der
        Bundesrepublik wieder mit dem § 129 konfrontiert . Doch
        diesmal wurde ihnen durch die Neubenennung des Para-
        grafen nicht einmal mehr ein politisches Ziel zugebilligt,
        vielmehr wurden sie kurzerhand zu Kriminellen erklärt .
        Aktuelle Zahlen liegen leider keine vor . Aber für
        die Zeitspanne von 1990 bis 2008 hatte ich einmal eine
        Kleine Anfrage gestellt . Und siehe da: Kein einziges der
        während dieser 18 Jahre geführten insgesamt 108 Ermitt-
        lungsverfahren nach § 129 StGB richtete sich gegen die
        organisierte Kriminalität . Dagegen wurde allein 100 Ver-
        fahren gegen die kurdische PKK geführt . Der Grund da-
        für ist der bislang geltende Vereinigungsbegriff, der einen
        Gruppenwillen, voraussetzte, dem sich die Handlungen
        des einzelnen Mitgliedes unterordnen . So funktionieren
        zwar manche politische Vereinigungen . Doch kriminelle
        Zusammenschlüsse sind in der Regel anders strukturiert .
        Sie werden von einem autoritären Boss oder Paten ge-
        führt und haben kein übergeordnetes Ziel – von der Raff-
        gier der Beteiligten einmal abgesehen .
        Mit der nun zur Abstimmung stehenden Änderung
        des § 129 sollen Gruppierungen unabhängig von ihrer
        Organisationsstruktur erfasst werden . Damit ließe sich
        dieser Paragraf zwar tatsächlich auch gegen die meisten
        Vereinigungen der organisierten Kriminalität anwenden .
        Doch weiterhin bleibt die rechtliche Problematik beste-
        hen, dass mit diesem Paragrafen nicht konkrete Straf-
        taten kriminalisiert werden, sondern bereits die bloße
        Mitgliedschaft in einer Vereinigung zur vermeintlichen
        Begehung von Straftaten . Schon der bloße Zusammen-
        schluss ist strafbar, auch wenn noch niemand durch eine
        konkrete Tat geschädigt wurde . Wir haben es hier also
        mit einer regelrechten Gesinnungsjustiz zu tun . Und die-
        se Vorfeldstrafbarkeit lange vor der eigentlichen Tat wird
        nun auch noch auf alle möglichen nicht hierarchischen
        Gruppierungen ausgeweitet .
        Eine solche Gummiverordnung öffnet der Justizwill-
        kür bei der Verfolgung und Ausforschung unliebsamer
        Oppositionsmilieus – von Atomkraftgegnern bis zu
        Globalisierungskritikern – Tür und Tor . Dies ist umso
        mehr zu befürchten, als sich die Bundesregierung der
        vom EU-Rahmenbeschluss vorgegebenen Eingrenzung
        des Begriffs der kriminellen Vereinigung auf einen Zu-
        sammenschluss mit dem Ziel, „sich unmittelbar oder
        mittelbar einen finanziellen oder sonstigen Vorteil zu
        verschaffen“, verweigert. Denn durch eine solche Ein-
        schränkung – und das wird in der Gesetzesbegründung
        offen eingestanden – würden die Möglichkeiten der
        Wohnraumüberwachung bei anderen bislang unter den
        § 129 Strafgesetzbuch fallenden Straftaten weggefallen .
        Umgekehrt müssten bei Übernahme der Definition aus
        dem Rahmenbeschluss auch auf Steuerhinterziehung und
        Geldwäsche angelegte Finanzinstitute nach § 129 ange-
        klagt werden – oder Manager von Automobilkonzernen,
        die sich zu dem betrügerischen Zweck zusammenge-
        schlossen haben, Hunderttausende fälschlich als abgas-
        arm deklarierte Autos unter das Volk zu bringen .
        Im Klartext: Die Bundesregierung will einerseits die
        White Collar Hooligans in den Chefetagen schonen und
        andererseits ihren Schnüffelparagrafen mit seinen zahl-
        reichen Sondervollmachten nicht aus der Hand geben .
        Die Linke würde es sehr begrüßen, wenn tatsächlich
        gegen die organisierte Kriminalität vorgegangen würde .
        Schon jetzt gibt es dafür eine ausreichende gesetzliche
        Grundlage . Doch allzu oft fehlt der nötige Wille, insbe-
        sondere bei der Verfolgung auch der Kriminellen in Na-
        delstreifen .
        Einer Ausweitung des § 129 und damit auch seines
        großen Bruders, des berüchtigten 129a gegen terroristi-
        sche Vereinigungen, kann die Linke aber nicht zustim-
        men. Wir fordern vielmehr die Abschaffung dieser Ge-
        sinnungs- und Ausforschungsparagrafen .
        Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Der Rahmenbeschluss 2008/841/JI des Rates vom
        24 . Oktober 2008 zur Bekämpfung der organisierten Kri-
        minalität entspricht bei uns heute schon der Gesetzesla-
        ge. Lediglich der Begriff der Vereinigung in § 129 StGB
        soll etwas weiter gefasst und eine Legaldefinition dieses
        Begriffs aufgenommen werden. Darüber hinaus unter-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724268
        (A) (C)
        (B) (D)
        scheidet der Gesetzentwurf bei den Strafandrohungen des
        § 129 StGB zwischen der Gründung und der Mitglied-
        schaft mit Freiheitsstrafen bis zu 5 Jahren einerseits und
        der Unterstützung bzw . Werbung um Unterstützer und
        Mitglieder andererseits bis zu 3 Jahren Freiheitsstrafe .
        Das bedeutet, dass nun abgestufte Strafdrohungen für die
        Gründung und Mitgliedschaft in einer kriminellen Ver-
        einigung einerseits und die Unterstützung und Werbung
        für eine solche andererseits gelten . Dieser Vorschlag ist
        besser als das geltende Recht .
        Der Bundesrat hat ebenfalls keine Einwände gegen
        dieses Umsetzungsgesetz. Er empfiehlt lediglich zur bes-
        seren Verständlichkeit der Legaldefinition des Begriffs
        „Vereinigung“ in § 129 Absatz 2 StGB-E, die Regelung
        in zwei Sätze aufzuteilen . Im ersten Satz sollen die grund-
        legenden Erfordernisse einer Vereinigung bestimmt und
        im zweiten Satz dann die Umstände gelistet werden, die
        der Annahme einer Vereinigung nicht entgegenstehen .
        Der Vorschlag trägt zur besseren Verständlichkeit bei .
        Die Vorschrift des § 129 StGB „Bildung einer krimi-
        nellen Vereinigung“ ist und bleibt problematisch . Es be-
        steht die Gefahr, dass er politisch instrumentalisiert wird .
        So wurden Teilnehmer der Kundgebung gegen den Na-
        ziaufmarsch in Dresden im Februar 2010 aufgrund die-
        ser Vorschrift verfolgt . Bereits im Vorfeld der Gegende-
        monstrationen hatte die sächsische Polizei verlangt, die
        Internetadresse für die bundesweiten Proteste gegen den
        Naziaufmarsch abzuschalten . Außerdem ließ die sächsi-
        sche Polizei und Justiz Aufrufplakate der Gegendemons-
        tranten beschlagnahmen . Mit Sitzblockaden verhinderten
        dann am 13 . Februar 2010 Zehntausende den Aufmarsch
        der Neonazis . Im Frühjahr 2010 wurde daraufhin ein Er-
        mittlungsverfahren gegen unbekannt wegen der Bildung
        einer kriminellen Vereinigung eingeleitet .
        § 129 StGB eröffnet den Ermittlungsbehörden eine
        Vielzahl von weitreichenden Ermittlungsbefugnissen,
        zum Beispiel Telekommunikationsüberwachung, Ob-
        servationen, den Einsatz verdeckter Ermittler usw . Da-
        für braucht es dann keine weitere verwirklichte Straftat,
        der Vereinigungstatverdacht reicht aus . Schon deshalb ist
        Vorsicht und Zurückhaltung geboten, wenn es um Ände-
        rungen und Neuformulierung des § 129 StGB geht – der
        insbesondere in Sachsen in den letzten Jahren häufig als
        „Allzweckwaffe“ von Teilen der Justiz gegen unliebsame
        linke Strukturen missbraucht wurde .
        In den 70er-Jahren wurde die Anwendung der Straf-
        vorschrift heftig kritisiert, weil sie immer in Ermitt-
        lungsverfahren eingesetzt wurde, um strafprozessuale
        Zwangsmaßnahmen durchzuführen von Durchsuchun-
        gen über Telefonüberwachung bis hin zu langjähriger
        Untersuchungshaft, ohne dass es dann später zu einer
        Anklage oder Verurteilung nach dieser Vorschrift kam .
        Wenn überhaupt angeklagt und verurteilt wurde, dann
        nach ganz anderen Strafvorschriften .
        Das ist nicht neu . § 129 StGB geht über das Preußi-
        sche Strafgesetzbuch bis ins Reichsstrafgesetzbuch zu-
        rück und war Mittel zur Verfolgung liberaler und demo-
        kratischer Tendenzen . Er war Teil der Prozesse gegen
        bekannte Vertreter der Deutschen Arbeiterbewegung wie
        August Bebel und befeuerte die Verfolgung der Sozial-
        demokratie und später anderer Vereinigungen . Auch das
        20 . Jahrhundert überdauerte der § 129 StGB und wur-
        de durch Änderungen immer wieder dem aktuellen po-
        litisch-gesellschaftlichen Umständen angeglichen und
        erweitert .
        Ob und wie sich die vorgelegten Änderungen in der
        Praxis der Rechtsprechung merklich auswirken, bleibt
        abzuwarten. Mehr Klarheit bringt die Legaldefinition je-
        denfalls . Das Grundproblem der §§ 129 f . StGB, immer
        wieder auch als politische Norm missbraucht zu werden,
        bleibt trotzdem weiter bestehen und mahnt zur Wachsam-
        keit . Wichtig scheint mir, dass das allgemeine Werben für
        eine kriminelle Vereinigung, entgegen mancher Forde-
        rung in der Öffentlichkeit, nicht in die Neuformulierung
        der Strafvorschrift § 129 StGB aufgenommen wurde .
        Anlage 25
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
        gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
        Änderung reiserechtlicher Vorschriften (Tagesord-
        nungspunkt 31)
        Daniela Ludwig (CDU/CSU): Die Reisebranche in
        Deutschland steht – wie jede andere Branche auch – in
        einem harten Wettbewerb . Insbesondere neue Vertriebs-
        wege wie der Onlinehandel und eine sich stetig weiter-
        entwickelnde Angebotspalette erfordern eine regelmäßi-
        ge Anpassung der gesetzlichen Rahmenbedingungen, um
        einen fairen Wettbewerb zu gewährleisten . Dies gilt im
        deutschen Binnenmarkt ebenso wie für den grenzüber-
        schreitenden Reisevertrieb .
        Die EU hat mit der Überarbeitung der Pauschalrei-
        serichtlinie einen Vorschlag vorgelegt, um einheitliche
        Mindeststandards festzulegen . Das führt, wie die De-
        batten in den vergangenen Monaten gezeigt haben, zu
        der einen oder anderen Herausforderung, der wir uns
        in der Umsetzung gestellt haben . Ein Problem für den
        deutschen Markt war ganz unbestritten die besondere
        Struktur, die wir im Vergleich zu anderen Ländern haben .
        Unser Markt ist geprägt von mittelständischen, meist fa-
        miliengeführten Reisebüros .
        Der übrige europäische Reisemarkt kennt diese Struk-
        tur so nicht und ist mehrheitlich vom Direktvertrieb durch
        die Reiseveranstalter geprägt . An der in Europa vorherr-
        schenden Struktur hat sich die Richtlinie orientiert . Den
        Unmut, den dies in Deutschland mit sich gebracht hat,
        kann ich durchaus nachvollziehen, er war größtenteils
        auch berechtigt .
        In der Umsetzung haben wir uns bemüht, deutsche
        Besonderheiten zu berücksichtigen und die Richtlinie für
        die Praxis anwendbar zu gestalten . Unter anderem war
        es erforderlich, die Definition der Pauschalreise klarer
        zu formulieren und zu verdeutlichen, dass beispielsweise
        nicht jede beliebige Kombination von Leistungen auch
        gleich eine Pauschalreise darstellt und damit die umfang-
        reichen Beratungs- und Haftungsregeln gelten .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24269
        (A) (C)
        (B) (D)
        Darüber hinaus wurde bei den unselbstständigen Rei-
        seleistungen klargestellt, dass die Kombination einer
        Reiseleistung mit einer anderen Reiseleistung dann keine
        Pauschalreise darstellt, wenn eine der beiden Leistungen
        „wesensmäßig Bestandteil“ der anderen ist . Diese Ände-
        rungen reduzieren bereits den Anwendungsbereich der
        Richtlinie für eine Vielzahl von Verträgen .
        Die Reisebüros in unserem Land leisten eine qualita-
        tiv hochwertige Arbeit . Sie sind Ansprechpartner für die
        Reisenden und beispielhaft für eine gute und zuverläs-
        sige Dienstleistungskultur . Diese gilt es zu erhalten und
        auch unter veränderten Rahmenbedingungen bekannte
        und bewährte Abläufe beizubehalten . Daher war ein ganz
        entscheidender Punkt der Bezahlvorgang im Reisebüro .
        Laut Richtlinienentwurf sollte bei der Vermittlung ver-
        bundener Reiseleistungen, beispielsweise der Buchung
        von Flug, Hotel und Mietwagen, jede einzelne Leistung
        separat gebucht, separat abgerechnet und separat bezahlt
        werden . Dieses Vorgehen wäre weder dem Kunden noch
        dem Reisebüro vermittelbar gewesen . Daher haben wir
        diese Passage im Umsetzungsgesetz geändert . Die be-
        währte Praxis der Gesamtabrechnung bleibt damit erhal-
        ten .
        Zu erheblichen Diskussionen hat die Möglichkeit der
        einseitigen Preisanhebung um 8 Prozent durch den Ver-
        anstalter vor Beginn der Reise geführt . Bisher war le-
        diglich eine Preisanhebung um 5 Prozent möglich . Der
        Preis der Pauschalreise darf erhöht werden, wenn sich
        bestimmte Kosten (zum Beispiel Treibstoffpreise) erhö-
        hen und wenn dies im Vertrag ausdrücklich vorgesehen
        ist . Erst wenn die Preiserhöhung 8 Prozent des Pauschal-
        reisepreises übersteigt, kann der Reisende vom Vertrag
        zurücktreten . Wenn sich ein Reiseveranstalter das Recht
        auf eine Preiserhöhung vorbehält, hat der Reisende aber
        auch das Recht auf eine Preissenkung, wenn die entspre-
        chenden Kosten sich verringern . Diese Möglichkeit der
        Preisanhebung war in Europa sehr unterschiedlich gere-
        gelt . Die jetzt angedachten 8 Prozent gelten damit euro-
        paweit einheitlich .
        Nicht in den Anwendungsbereich des Umsetzungsge-
        setzes fallen Reiseeinzelleistungen wie die Vermietung
        von Ferienhäusern . Die Richtlinie sieht dies auch nicht
        vor . Die Einbeziehung von Reiseeinzelleistungen stünde
        der angestrebten Rechtsvereinheitlichung entgegen und
        könnte im internationalen Wettbewerb zu Nachteilen für
        die deutschen Unternehmer führen . Um die deutsche Rei-
        sebranche nicht zu benachteiligen, wurde entschieden,
        Reiseeinzelleistungen nicht in das Umsetzungsgesetz
        aufzunehmen . Für Reisende entsteht jedoch kein rechts-
        freier Raum . Auch künftig werden bei Buchung eines Fe-
        rienhauses Verträge zwischen den jeweiligen Anbietern
        und den Kunden bestehen, sodass im Fall von Mängeln
        Gewährleistungsrechte geltend gemacht werden können .
        In der EU-Richtlinie ebenfalls nicht vorgesehen ist die
        Einbeziehung von Tagesreisen, aus unserer Sicht auch zu
        Recht. Tagesreisen haben vorwiegend einen Ausflugscha-
        rakter und sind nicht zwingend mit einer wesentlichen
        Ortsveränderung verbunden . Es besteht für diese daher
        nicht die mit einer Pauschalreise vergleichbare Schutz-
        bedürftigkeit der Reisenden . Aus diesem Grund wurden
        nur Tagesreisen ab einem Wert von 500 Euro dem Schutz
        des Gesetzes unterstellt, weil in dieser Größenordnung
        auch eine Gleichwertigkeit mit anderen Reiseprodukten,
        die unter die Richtlinie fallen, gegeben ist .
        Fragen des Verbraucherschutzes haben einen breiten
        Raum in der Debatte eingenommen . Es gibt unbestritten
        gute Argumente, einen umfassenderen Verbraucherschutz
        festzuschreiben . Auf der anderen Seite würde dies aber
        auch ein Mehr an Beratungs- und Informationspflichten
        mit sich bringen . Unter Abwägung aller Interessen haben
        wir uns für den jetzt gefundenen Weg entschieden und
        nicht einseitig nur die Interessen der Reisebranche oder
        nur die Interessen der Verbraucher berücksichtigt .
        Auf die Reisebüros selbst kommen unbestritten neue
        Beratungs- und Dokumentationspflichten zu. Je nachdem
        welches Produkt der Reisende kauft, gelten produktbezo-
        gene Informationspflichten. Hinzu kommen Schulungs-
        kosten für Mitarbeiter . Der Umstellungsaufwand im
        Hinblick auf die neuen Formulare und die notwendige
        Anpassung von Onlineangeboten ist ebenfalls zu beach-
        ten . Allerdings hat das Reisebüro so auch die Möglich-
        keit, im Streitfall nachzuweisen, dass der Kunde umfas-
        send über seine Rechte informiert worden ist . Insgesamt
        bedeutet dies ein Mehr an Rechtssicherheit .
        Bei aller berechtigten Kritik an der Richtlinie gibt es
        einen entscheidenden Vorteil . Es gelten innerhalb der
        Europäischen Union die gleichen Regeln für stationäre
        Anbieter wie für Onlineanbieter . Mit der jetzt erfolgten
        Umsetzung wird allen Betroffenen ausreichend Zeit ge-
        ben, sich rechtzeitig auf die geänderten Bedingungen
        ab dem kommenden Jahr einzustellen, und wir werden
        genau beobachten, welche Veränderungen mit der neuen
        gesetzlichen Regelung einhergehen und diese in die dann
        ebenfalls anstehende Evaluierung einbringen .
        Kathrin Rösel (CDU/CSU): Wir Deutschen sind ein
        reisefreudiges Volk . Die Lust am Verreisen ist nicht nur
        ungebrochen, sondern steigt immer mehr . Gern buchen
        wir diese Reisen zunehmend im Internet . Das ist bequem,
        geht schnell und ist, wenn ich keinen Wert auf eine um-
        fassende und qualifizierte Beratung lege, ein guter Weg.
        Dieser Markt nimmt rasant zu, und es ist richtig, wenn
        hier durch neue rechtliche Regelungen die Nutzer besser
        geschützt werden .
        Aber es geht eben auch anders . Gerade mein Wahlkreis
        in der wunderschönen Lüneburger Heide profitiert von
        dem neuen Trend, sich nicht in ein Flugzeug zu setzen,
        sondern den Urlaub hier in Deutschland zu verbringen .
        Daneben werden auch die Auslandsreisen zunehmend
        individuell geplant und aus einzelnen Bausteinen zusam-
        mengesetzt . Bei der Planung dieser Urlaubsformen wird
        dann nicht das Internet zurate gezogen, sondern man ver-
        traut da gern der Kompetenz der Reisebüros oder greift
        auf die Dienstleistungen der Tourismusinformationsbü-
        ros zurück .
        Die Strukturen hier in Deutschland sind – was die
        Existenz von unabhängigen mittelständischen Reisebü-
        ros betrifft – anders als in den anderen Staaten der Euro-
        päischen Union . Daher sind die Verhandlungen über die
        Umsetzung der EU-Pauschalreiserichtlinie nicht ganz
        einfach gewesen . Zum einen sind unsere individuellen
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724270
        (A) (C)
        (B) (D)
        Gegebenheiten in der Struktur der Reiseanbieter und
        -vermittler nicht ausreichend berücksichtigt und zum an-
        deren haben wir wegen der Vollharmonisierung in dieser
        Richtlinie keinen bzw . nur sehr begrenzten Spielraum,
        unsere Interessen in der Umsetzung zu verankern .
        Der Union waren bei der Gesetzesformulierung zwei
        Dinge wichtig: Zum einen wollten wir die Existenz un-
        serer 10 000 mittelständischen Reisebüros und die damit
        verbundenen Arbeitsplätze nicht aufs Spiel setzen, und
        zum anderen war uns wichtig, dass die Verbraucherinnen
        und Verbraucher weiterhin bestmöglich geschützt sind .
        Darüber hinaus schätze ich als Abgeordnete eines Wahl-
        kreises, in dem der Tourismus eine bedeutende Rolle
        spielt, die Arbeit der regionalen Tourismusinformationen
        sehr . Auch deren Existenzsicherung ist mir wichtig .
        An dem ursprünglichen Gesetzentwurf gab es drei we-
        sentliche Kritikpunkte:
        Erstens . Wenn ein kleines Reisebüro einem Kunden
        eine Reise aus verschiedenen Bausteinen individuell zu-
        sammenstellt, sollte der Kunde jeden dieser Bausteine
        separat bezahlen, wenn der Vermittler nicht in die Ge-
        samthaftung geraten möchte . Da muss man kein Experte
        sein, um die Unsinnigkeit dieser Regelung zu erkennen .
        Wir haben erreicht, dass wie bisher ein einheitlicher Be-
        zahlvorgang möglich ist, wenn nachher auf der Gesamt-
        rechnung die Bausteine einzeln aufgeführt sind .
        Zweitens . Ursprünglich sollte der bewährte Siche-
        rungsschein abgeschafft werden. Er ist im vorliegenden
        Gesetz wieder enthalten .
        Drittens . Es ist nun auch klar formuliert, wo die Gren-
        ze zwischen Vermittlung und In-Kontakt-Bringen liegt .
        Ein Tourismusbüro kann also weiterhin einem Kunden
        sagen, wo noch freie Hotelkapazitäten sind, ohne gleich
        in eine Haftung für die Hotelleistungen zu geraten . Wie
        wichtig das ist, haben mir die Gespräche mit Tourismus-
        büros gezeigt .
        Über diese Punkte hinaus war es uns wichtig, dass wir
        die Pauschalreiserichtlinie nicht noch verschärfen . Insbe-
        sondere die Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen woll-
        ten noch Regelungen in der Richtlinie verankert wissen,
        die die Reisebüros mit noch mehr Vorschriften belastet
        hätten . Lassen Sie mich dazu sagen, dass Urlauber, die
        ein Ferienhaus mieten oder einen Tagesausflug mit dem
        Bus unternehmen wollen, sich nicht in einem rechtsfrei-
        en Raum bewegen . Auch hier gibt es verbindliche Verträ-
        ge . Wozu dann bitte noch zusätzliche Regelungen?
        Viele Reisebüros sagen nun, dass die neuen reiserecht-
        lichen Regelungen zu wenig die deutschen Strukturen be-
        rücksichtigen . Aber: Wir als Union haben dafür gesorgt,
        dass wesentliche Vorschriften entschärft wurden . Reise-
        büros können diese Regelungen sinnvoll anwenden, und
        auch Verbraucher sind weiterhin geschützt . Wir haben
        damit das Maximum im Rahmen der vorgeschriebenen
        Vollharmonisierung herausgeholt .
        Daher bitte ich um Zustimmung zu diesem Gesetz .
        Sabine Dittmar (SPD): Bedenkt man den geringen
        Spielraum, den eine Vollharmonisierung einer EU-Richt-
        linie mit sich bringt, waren unsere Verhandlungen zur
        Pauschalreiserichtlinie doch umfangreich und langwie-
        rig . Bis wir nun zur heutigen zweiten und dritten Lesung
        gelangen konnten, haben wir diesen Spielraum ausführ-
        lich ausgelotet .
        Trotz einiger notwendiger Kompromisse, die eine Ko-
        alition mit sich bringt, ist es uns gelungen, die Richtlinie
        so umzusetzen, dass es künftig mehr Verbraucherschutz
        für Reisende und faire und europaweit einheitliche Wett-
        bewerbsbedingungen im Reisemarkt zwischen Onlinean-
        bietern und Reisebüros geben wird .
        Erinnern wir uns an die anfängliche Verunsicherung
        und die Kritik der Reisebranche, als es daran ging, die
        Umsetzung einzuleiten . Verunsicherung und Kritik wa-
        ren durchaus sehr gut nachvollziehbar, denn die gewach-
        sene Struktur unserer deutschen Reisebürolandschaft
        wurde viel zu wenig berücksichtigt . Es fehlte zuallererst
        eine eindeutige Definition des Pauschalreisebegriffs, und
        kleine und mittelständische Reisebürobetreiber befürch-
        teten zu Recht, dass sie künftig keine einzelnen Rei-
        seleistungen mehr vermitteln könnten, ohne automatisch
        oder versehentlich in die Veranstalterhaftung mit allen
        rechtlichen Konsequenzen zu geraten . Hier konnte für
        Abhilfe gesorgt werden, auch wenn es einen gewissen
        Mehraufwand für Reisebüros bedeutet .
        Für Herrn Staudinger, den Präsidenten der Deutschen
        Gesellschaft für Reiserecht, hält sich der künftige finan-
        zielle und bürokratische Aufwand der Reisebüros aber in
        Grenzen. Er sieht in den Informationspflichten und For-
        mularen auch die Absicherung für die Reisebüros, ein-
        fach den Nachweis führen zu können, dass dem Kunden
        die rechtlichen Konsequenzen genau aufgezeigt wurden .
        Ein bürokratischer Mehraufwand für Vertrieb und
        Kunden, den wir hingegen auf keinen Fall so akzeptie-
        ren konnten, war die ursprünglich vorgesehene Regelung
        der Bezahlung . Jede einzeln gebuchte Reiseleistung hätte
        demnach auch einzeln bezahlt werden müssen . Andern-
        falls hätte man als Reisebüro eine Pauschalreise mit ent-
        sprechender Veranstalterhaftung verkauft . Hier wurde
        auf Betreiben der SPD-Fraktion das Ministerium noch-
        mals in Brüssel aktiv – und zwar erfolgreich . Allein das
        gemeinsame Bezahlen einzeln gebuchter Reiseleistun-
        gen begründet künftig noch keine Pauschalreise .
        Hier eine Lösung zu finden, war uns wirklich beson-
        ders wichtig; denn natürlich schätzen und unterstützen
        wir als Sozialdemokraten kleine Reisebüros . Schließlich
        wird hier verbraucherfreundlich individuell und kompe-
        tent beraten .
        Mit viel Überzeugungsarbeit ist es uns gelungen,
        zugunsten der Verbraucherinnen und Verbraucher
        durchzusetzen, dass auch Tagesreisen ab einem Wert
        von 500 Euro unter das Pauschalreiserecht fallen . Ich
        selbst hätte zwar einen niedrigeren Wert, etwa 75 oder
        150 Euro, begrüßt . Aber in Anbetracht der Tatsache, dass
        Tagesreisen im ursprünglichen Kabinettsentwurf über-
        haupt nicht mehr enthalten waren, erscheint mir der nun
        erreichte Kompromiss für vertretbar . So sind Verbrau-
        cherinnen und Verbraucher zumindest bei teuren Tages-
        reisen bei Ausfall oder Insolvenz des Veranstalters besser
        abgesichert und haben Erstattungsansprüche .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24271
        (A) (C)
        (B) (D)
        Leider ist es und nicht gelungen, aus bisheriger Recht-
        sprechung zu Reiseeinzelleistungen eine gesetzliche
        Regelung zu formulieren . Ich hätte es begrüßt, eine Re-
        gelung zur analogen Anwendbarkeit des Pauschalreise-
        rechts auf veranstaltermäßig vertriebene Reiseeinzelleis-
        tungen – wie etwa Ferienhäuser – in der Richtlinie zu
        haben . Diese Regelung kommt leider nicht, obwohl sie
        eine sinnvolle Stärkung des Verbraucherschutzes darge-
        stellt hätte .
        Immerhin konnten wir aber erreichen, dass die Bun-
        desregierung gebeten wird, die Marktentwicklung betref-
        fend veranstaltermäßig vertriebener Reiseeinzelleistun-
        gen ab Geltung der neuen Regelungen zu beobachten,
        um etwaige Missstände aufzudecken, sowie hierüber
        innerhalb des Zeitraums von zwei Jahren zu berichten .
        Wir bitten die Bundesregierung außerdem, gegenüber
        den Reiseunternehmen weiter dafür zu werben, dass die-
        se eine brancheneigene Verbraucherschlichtungsstelle
        einrichten .
        Dies sind zwei richtige Schritte Richtung eines ver-
        besserten Verbraucherschutzes .
        Erlauben Sie mir abschließend noch wenige Sät-
        ze zum vereinzelt gehörten Vorwurf, wir würden diese
        Richtlinie nun übereilt durchs Parlament peitschen . Wer
        kann so etwas nach 17 Monaten Bearbeitungs- und Ver-
        handlungszeit guten Gewissens behaupten? Wir haben
        uns in Workshops, Gesprächen und Anhörungen im Ver-
        braucherschutz- und Petitionsausschuss mit den Verbän-
        den intensiv mit der Umsetzung der EU-Pauschalreise-
        richtlinie befasst und haben auch innerhalb der Koalition
        intensiv verhandelt .
        Ich bleibe dabei: Nun liegt ein Gesetz vor, das im
        Rahmen des Harmonisierungsspielraums dieser Richt-
        linie sowohl für die Tourismusbranche als auch für die
        Verbraucherinnen und Verbraucher Verbesserungen mit
        sich bringt und dem man zustimmen kann .
        Elvira Drobinski-Weiß (SPD): Die Umsetzung der
        EU-Richtlinie über Pauschal- und Bausteinreisen in na-
        tionales Recht wird bis heute sehr emotional und kon-
        trovers diskutiert . Unter dem Motto „Überführung des
        Pauschalreiserechts ins digitale Zeitalter“ ist die EU an-
        getreten, das Reiserecht transparent und EU-einheitlich
        zu regeln . Viele Anpassungen waren tatsächlich dringend
        notwendig .
        Und ja: Es sind einige Verbesserungen für die Verbrau-
        cher in der Richtlinie vorgesehen . Ich denke da zum Bei-
        spiel an die Verlängerung des Gewährleistungszeitraums
        oder an die neu eingeführte Kategorie der verbundenen
        Reiseleistungen . Aber leider enthält die EU-Richtlinie
        auch wesentliche Verschlechterungen, und zwar: Der
        Reiseveranstalter kann die Reise bis zum Reiseantritt än-
        dern; der Reiseveranstalter kann einseitig Preiserhöhun-
        gen bis 8 Prozent des Reisepreises vornehmen – vorher
        5 Prozent –, und Preiserhöhungen können noch 20 Tage
        vor Reiseantritt erfolgen .
        Diese Regelungen senken signifikant das bestehende
        Verbraucherschutzniveau; aber die teilweise erhobene
        Forderung, die EU-Richtlinie zu ändern bzw . nicht um-
        zusetzen, war und ist völlig unmöglich, auch wenn der
        Abgeordnete Christian Freiherr von Stetten und Marija
        Linnhoff vom Verband unabhängiger selbstständiger
        Reisebüros bis heute versuchen, den Eindruck zu erwe-
        cken, wir könnten die Umsetzung verhindern . Diese eben
        genannten tatsächlichen Verschlechterungen für Verbrau-
        cher stehen aufgrund der Vollharmonisierung nicht zur
        Diskussion .
        Tatsächlich aber hätten wir an anderen Stellen noch
        sehr viel mehr für die Verbraucher erreichen können .
        Stichworte sind: Tagesreisen, Einzelleistungen – Bu-
        chung von Ferienhäusern – oder gar die Aufnahme des
        Passus, dass Werbeaussagen und Prospektinformationen
        tatsächlich bei Buchung Vertragsbestandteil sein müssen,
        und, und, und .
        Leider gab es hier überhaupt keine Unterstützung
        seitens der CDU/CSU-Fraktion – nicht ansatzweise von
        den Abgeordneten oder gar von Frau Linnhoff und ih-
        rem Verband, keine eigenen Anträge, Vorschläge etc ., um
        Verbraucher bei der Durchsetzung ihrer Rechte zu unter-
        stützen . Lediglich zu einer Protokollnotiz „Evaluierung
        in zwei Jahren“ war die CDU/CSU bereit . Wirkliches
        Engagement für Verbraucher sieht anders aus .
        Nach langen, zähen Verhandlungen auf verschiede-
        nen Ebenen konnte sich die SPD am Ende durchsetzen,
        wenigstens hochwertige Tagesreisen über 500 Euro doch
        ins Gesetz aufzunehmen . Wir wissen, dass dies ein Trop-
        fen auf den heißen Stein ist und die meisten Tagesreisen
        nie in den Genuss dieses Schutzes gelangen. Hier hoffe
        ich nun wirklich, dass die Evaluierung in zwei Jahren zu
        einer Änderung führt und auch weniger wertige Reisen
        wieder unter Schutz gestellt werden .
        Ganz anders diskutiert wurde das Problem „Bezahlen
        von Reiseleistungen, die getrennt ausgewählt werden“,
        also wo sich der Kunde auch getrennt zur Zahlung jeder
        einzelnen Reiseleistung verpflichtet hat. Die Forderun-
        gen der Reisebranche, diese verschiedenen Leistungen
        am Ende mit einem Zahlungsvorgang abwickeln zu kön-
        nen und dennoch nicht in den Status „verbundene Rei-
        seleistung“ oder „Pauschalreise“ zu fallen, haben wir
        fraktionsübergreifend geteilt .
        Wir sind froh, dass nach intensiven Bemühungen des
        Bundesministeriums für Recht und Verbraucherschutz
        nach mehreren Gesprächsrunden jetzt eine europarecht-
        lich sehr wahrscheinlich tragfähige und gleichzeitig für
        die Reisebüros und Verbraucherinnen und Verbraucher
        praktikable Lösung erzielt wurde . Dass die gefundene
        Lösung einen etwas größeren bürokratischen Aufwand
        in den Reisebüros nach sich zieht und Schulungen für
        Mitarbeiter vielleicht nötig sind, sehe ich auch . Aber die
        Schulungskosten sind in der Regel gut investiert und nur
        einmalig; die Formulare und Informationsblätter erlau-
        ben es dem Reisebüro, in einem eventuellen Gerichts-
        verfahren den Nachweis zu führen, den Kunden richtig
        informiert zu haben .
        Dem vorliegenden Kompromiss stimmen wir zu . Die
        Aufnahme der Einzelleistungen und die Senkung der
        Tagesreisenpauschale werden wir in der nächsten Wahl-
        periode wieder einfordern .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724272
        (A) (C)
        (B) (D)
        Karin Binder (DIE LINKE): Der Gesetzentwurf von
        Union und SPD zum Reiserecht ist eine eindeutige Ab-
        sage an den Verbraucherschutz . Im Gegenteil, das Gesetz
        ist die Einladung zur Abzocke von Urlaubern:
        Reiseveranstalter haben künftig noch weitergehende
        Rechte, einseitig den mit Ihnen abgeschlossenen Reise-
        vertrag noch kurz vor Reiseantritt zu ändern . Der Rei-
        severanstalter kann kurzfristig noch eine Preiserhöhung
        um bis zu 8 Prozent vornehmen . Bisher waren immerhin
        nur 5 Prozent Aufschlag zulässig . Und bisher waren sol-
        che Preiserhöhungen innerhalb von vier Monaten nach
        Vertragsschluss untersagt . Künftig darf der Veranstalter
        Ihnen aber noch zwanzig Tage vor Reiseantritt diese Teu-
        erung zumuten .
        Die Bundesregierung legt aber noch ein paar Scheite
        drauf und verschlechtert den Verbraucherschutz weiter:
        Einzelne Reiseleistungen, zum Beispiel die Miete von
        Ferienhäusern gewerblicher Anbieter, fallen nicht mehr
        unter den Schutz des Pauschalreiserechts, obwohl das
        vom Bundesgerichtshof in Urteilen sogar gefordert wur-
        de .
        Tagesreisen, zum Beispiel Städtereise mit Programm,
        werden erst ab einem Reisepreis von 500 Euro vom Pau-
        schalreiserecht abgedeckt . Das ist absurd; denn damit ist
        der überwiegende Teil aller Tagesreisen aus dem Reise-
        rechtsschutz ausgenommen . Das ist Verbraucherschutz
        für Bestverdienende . Welcher Rentner, welche Rentnerin
        kann sich eine Tagesreise für 500 Euro leisten?
        Jedes Jahr werden circa 50 Millionen Tagesreisen in
        Deutschland gebucht, vor allem von Rentnerinnen und
        Rentnern . Diese werden jetzt der Abzocke von skrupel-
        losen Geschäftemachern endgültig ausgeliefert . Die Ver-
        braucherzentralen sprechen von einem höchst unseriösen
        Markt der sogenannten Kaffeefahrten. Mit diesen kos-
        tenlosen oder vermeintlich billigen Werbeverkaufsver-
        anstaltungen werden Millionen Menschen mit kleinem
        Geldbeutel angelockt, und dann, wenn sie nicht genug
        der überteuerten Produkte im Laufe der Fahrt kaufen,
        wird ihnen der schöne Teil der Reiseleistung, zum Bei-
        spiel die versprochene Besichtigung oder die Bootsfahrt,
        verwehrt .
        Ein aktuelles Beispiel: Eine Tagesreise mit dem Bus
        zur Bundesgartenschau nach Berlin kostet 48 Euro .
        Wurde nicht genug Umsatz gemacht, geht’s eben ohne
        Besuch der Gartenschau wieder nach Hause . Die Bun-
        desregierung macht damit die Abzocke zum gängigen
        Geschäftsmodell .
        Das Reiserecht muss unbedingt auch die Buchung
        einzelner Reiseleistungen schützen . Dieses Verbraucher-
        recht wurde auch vom Bundesgerichtshof gefordert und
        hat sich in der Praxis seit Jahrzehnten bewährt . Aber
        der Schutz der Verbraucher ist ja nicht umsatzsteigernd .
        Deshalb hat die EU-Kommission die Lockerung des Ver-
        braucherschutzes auf ausdrücklichen Wunsch Deutsch-
        lands in die Richtlinie aufgenommen . Die Linke sagt:
        Wer die Abzocke von Rentnerinnen und Rentnern oder
        Geringverdienern gesetzlich fördert, sollte sich schämen .
        Der Gesetzentwurf weist aber noch mehr Defizite im
        Verbraucherschutz auf: Die Höchstgrenze der Absiche-
        rung gegen die Insolvenz eines Reiseunternehmens ist
        mit 110 Millionen Euro viel zu gering . Das sind Werte
        von vor 20 Jahren . Wenn der Veranstalter pleitegeht, wer-
        den viele Kunden ihre Anzahlung nie wiedersehen .
        Wir fordern außerdem mehr Ehrlichkeit . Sachliche
        Angaben in der Prospektwerbung oder auf Onlineporta-
        len müssen zum Vertragsbestandteil werden . Sonst wer-
        den Tricks und Täuschungen Tür und Tor geöffnet. Und:
        Es bedarf einer verbraucherfreundlicheren Regelung für
        den Fall, dass ich meine Reise an eine andere Person
        übertragen möchte . Dafür dürfen höchstens die tatsäch-
        lich entstandenen Verwaltungs- und Bearbeitungsgebüh-
        ren, also tatsächlich entstandene Kosten, in Rechnung
        gestellt werden . Die jetzige unkonkrete Regelung wird
        zu einem kundenunfreundlichen Umbuchungswucher
        führen .
        Es darf nicht sein, dass den Reisenden ständig mehr
        Geld aus der Tasche gezogen wird, während die großen
        Reiseveranstalter tun und lassen können, was sie wollen .
        Auch viele kleine Reisebüros und selbstständige Rei-
        seunternehmen kommen nur schwer mit dem neuen Bü-
        rokratiemonster klar . Sie müssen für jeden Baustein einer
        Reise eigenständige Rechnungen ausstellen . Über jeden
        Reisebaustein muss künftig zusätzlich auch einzeln in-
        formiert werden .
        Gerade kleine Reisebüros und selbstständige Reiseun-
        ternehmen werden mit den künftig kurzfristig möglichen
        Preiserhöhungen der Reiseveranstalter zu kämpfen ha-
        ben . Aus Gründen der Kundenbindung werden sie den
        Aufschlag nicht an ihre Kunden weitergeben . Daher be-
        lastet diese Verteuerung durch den Veranstalter die Rei-
        sebüros empfindlich und bedroht teilweise auch deren
        Existenz .
        Wichtig wäre stattdessen, dass Verbraucherinnen und
        Verbraucher ihre Ansprüche direkt beim Reiseveranstal-
        ter geltend machen können, anstatt die kleinen Reisebü-
        ros zu belasten .
        Mein Fazit: Die Interessen der Verbraucherinnen
        und Verbraucher sind der Bundesregierung völlig egal .
        Hauptsache, die großen Reiseveranstalter und Touris-
        tikkonzerne können ungestört Kasse machen . Die Linke
        lehnt den Gesetzendwurf daher ab .
        Markus Tressel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ziel
        der Novellierung der Pauschalreiserichtlinie war es ja,
        eine Gleichbehandlung zwischen stationären Reisebüros
        und Onlineportalen sowie ein hohes Verbraucherschutz-
        niveau zu erreichen . Es war aber sicherlich nicht Sinn
        der Sache, Reisebüros und Tourismusinformationszen-
        tren unverhältnismäßig stark zu belasten; aber genau das
        ist passiert . Und: Im Gegensatz zum ersten Entwurf ha-
        ben wir nun auch noch eine Absenkung des Verbraucher-
        schutzniveaus, und das ohne erkennbare Not .
        Als vollharmonisierende Richtlinie und der damit ver-
        bundenen Eins-zu-eins-Umsetzung in nationales Recht
        schafft es die Pauschalreiserichtlinie nicht, auf die Be-
        sonderheiten des deutschen Marktes einzugehen . Es ist
        der Bundesregierung nicht gelungen, auf Regelungen
        hinzuwirken, die die Bedeutung der Reisebüros oder die
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24273
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        (B) (D)
        Stellung der lokalen Tourismusinformationszentren im
        europäischen Gesetzestext ausreichend berücksichtigen .
        Auch die betroffenen Verbände haben sich anfangs leider
        zu zaghaft in den Prozess eingeschaltet und den Diskurs
        mit den politisch Verantwortlichen zu spät gesucht . Das
        wird zukünftig sicher besser laufen .
        Der vorliegende Gesetzentwurf begünstigt den kon-
        zerngebundenen Reisevertrieb . Das fördert Monopole
        und ist schlecht für unsere kleinen und mittelständischen
        Reisebüros sowie die Verbraucherinnen und Verbraucher .
        Eine solche Entwicklung lehnen wir entschieden ab .
        Wie stellt sich die konkrete Situation für den deutschen
        Reisemarkt im Rahmen der Gesetzesnovelle dar? Reise-
        büros sind die Gekniffenen und treffen auf mehr Büro-
        kratie, da bei der Buchung vor Ort nun zusätzlich – je
        nach Situation – sieben verschieden Informationsblätter
        ausgefüllt werden müssen. Auch treffen Anbieter verbun-
        dener Reiseleistungen unter Umständen Insolvenzsiche-
        rungspflichten, was bedeutet, dass sie einen nicht un-
        wesentlichen Teil ihres Umsatzes in eine Versicherung
        investieren müssen . Das kann ein rentables Wirtschaften
        gerade für kleine Reisebüros erschweren . Da macht es
        natürlich einen Unterschied, ob ich ein familiengeführtes
        Unternehmen habe oder ob ein Konzern dahintersteht .
        Ein kleiner Teil der Bürokratie wurde ja doch noch
        mit Brüssel herausverhandelt, sodass wenigstens ein
        einheitlicher Bezahlvorgang bei der Buchung einzelner
        Reiseleistungen nun zumindest auf dem Papier möglich
        ist . Wir begrüßen das . Allerdings geben wir zu bedenken,
        dass die getroffenen Vereinbarungen nicht zu rechtsver-
        bindlichen Vorgaben oder Auslegungshilfen vor Gericht
        führen und eine Entscheidung darüber letztlich nur vom
        Gerichtshof der Europäischen Union getroffen werden
        kann .
        Wenn man in Brüssel keine Aufhebung der Richtli-
        nie beantragen will, muss man die genannten kritischen
        Punkte umsetzen . Das ist mehr als bedauerlich . Aber wir
        müssen laufend ein Auge auf die Auswirkungen der Ge-
        setzesnovelle haben, um den Reisemarkt in Deutschland
        und besonders kleine und mittelständische Unternehmen
        durch rechtzeitiges Gegensteuern vor Schaden zu bewah-
        ren . Dies ist besonders wichtig, da Strukturen verloren
        zu gehen drohen, die, einmal abgerissen, nicht so schnell
        wieder aufgebaut werden können . Eine frühestmögliche
        Evaluierung auf nationaler und europäischer Ebene ist
        Pflicht.
        Neben Punkten, die wir als Gesetzgeber nicht ändern
        können, gibt es aber auch jene, auf die wir sehr wohl Ein-
        fluss haben und auf die die Kolleginnen und Kollegen der
        CDU/CSU und SPD ohne Not zulasten der Verbrauche-
        rinnen und Verbraucher Einfluss genommen haben. Wenn
        es nach ihnen geht, sollen die strengeren, für Verbrauche-
        rinnen und Verbraucher günstigen Haftungsregeln des
        Pauschalreiserechts weder für Reiseeinzelleistungen wie
        Ferienhäuser noch für Tagesreisen unter 500 Euro gelten .
        Sie senken mit ihrem Gesetzentwurf den Verbraucher-
        schutz deutlich unter den heute geltenden gesetzlichen
        Standard. Das ist eine signifikante Verschlechterung, und
        zwar – ich sage es noch mal – ohne Not . Das wirkt ein
        Stück weit wie eine Placebo-Änderung, um die Betroffe-
        nen zu vertrösten bzw . milde zu stimmen .
        Mit unserem Antrag, der auch heute abzustimmen
        ist, lade ich dazu ein, diesen Fehler zu korrigieren . Die
        Bürgerinnen und Bürger werden es danken . Wenn es den
        Kolleginnen und Kollegen der SPD um die Sache geht,
        haben wir zusammen mit der Linken eine Mehrheit, um
        den Verbraucherschutz zu stärken .
        Das von der Bundesregierung so vorgeschlagene Ge-
        setz lehnen wir ab .
        Anlage 26
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Axel E. Fischer (Karlsru-
        he-Land) und Olav Gutting (beide CDU/CSU) zu
        der Abstimmung über den von der Bundesregie-
        rung eingebrachten Entwurf eines Dritten Geset-
        zes zur Änderung reiserechtlicher Vorschriften
        (Tagesordnungspunkt 31)
        Im Rahmen der Abstimmung am 1 . Juni 2017 werden
        wir dem von der Bundesregierung vorgelegten Gesetz
        zur Umsetzung der EU-Pauschalreiserichtlinie in natio-
        nales Recht nicht zustimmen .
        Wir befürchten, dass diese Richtlinie bei falscher
        Ausrichtung über kurz oder lang zum Todesurteil für in
        deutschsprachigen Ländern der EU verbreitete, mittel-
        ständisch geführte Reisebüros werden kann . Trotz der
        Warnungen aus Politik und Wirtschaft wurde auf der
        EU-Ebene eine Richtlinie verabschiedet, die weder dem
        Verbraucherschutz noch den wirtschaftlichen Interessen
        der mittelständischen deutschen Wirtschaft Rechnung
        trägt .
        Aufgrund der Entscheidung zur Vollharmonisierung
        dieser EU-Richtlinie war es auf nationaler Ebene fast un-
        möglich, parlamentarisch für den deutschen Verbraucher
        und den deutschen Mittelstand noch etwas ins Positive
        zu lenken . Da die Richtlinie also juristisch weitgehend
        ausgereizt war, argumentieren die Bundesregierung und
        viele Politiker, man könne diese Richtlinie nun national
        umsetzen .
        An dieser Stelle widersprechen wir in aller Form und
        wollen Ihnen drei Gründe nennen, warum wir nicht zu-
        stimmen können:
        Erstens. Schon bei der öffentlichen Anhörung im Aus-
        schuss für Recht und Verbraucherschutz wurde klar, dass
        die touristische Großindustrie mit eigener Direktver-
        marktung durch die Haftungsproblematik bei den klei-
        nen und mittelständischen Reisemittlern auf eine deutli-
        che Verschlankung der Vertriebslinie und damit deutliche
        Gewinnsteigerungen hoffen kann. In Gesprächen mit
        ehemaligen Spitzenvertretern der Tourismusbranche
        wurde uns glaubhaft versichert, dass der ehemaligen
        Vizepräsidentin der Europäischen Kommission Viviane
        Reding bereits die Zusage zu einer Gesamtrücknahme
        der EU-Pauschalreiserichtlinie aus dem laufenden Ge-
        setzgebungsprozess entlockt wurde . Es war der Druck
        von Unternehmen, die ihren Stammsitz in Großbritanni-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724274
        (A) (C)
        (B) (D)
        en haben, die dann die Rücknahmeabsichten der Kom-
        missarin verstummen ließen . Heute, einige Jahre später,
        stehen die damaligen Unternehmensleitungen an der
        Spitze der beiden Branchenverbände und beraten die Po-
        litik auf Bundes- und Europaebene . Auch die Tatsache,
        dass die Branchenverbände schon Wochen und Monate
        vor den Fachpolitikern über Formulierungsvorschläge
        aus der EU-Kommission in Brüssel und aus den Bundes-
        ministerien verfügten, legt nahe, dass das ganze Gesetz
        industrie- und lobbynah entstanden ist . Etwaige Parteizu-
        gehörigkeiten und enge Parteikontakte sind hier unseres
        Erachtens kein Zufall . Zusätzlich haben große Teile die-
        ser Tourismusindustrie bereits einen Haupt- bzw . Verwal-
        tungssitz in Großbritannien . Mit diesem Gesetz machen
        wir also hier Industriepolitik für ein Land, das die Euro-
        päische Union verlassen will .
        Zweitens . In den intensiv geführten Nachverhandlun-
        gen der Bundesregierung mit der EU konnte nach unserer
        Einschätzung trotzdem keine volle Rechtssicherheit für
        die deutsche Reisebürobranche bei den Fragen Veranstal-
        terhaftung und getrennte Bezahlvorgänge erreicht wer-
        den . Die vorgelegten juristischen Formelkompromisse
        sind unseres Erachtens nur weiße Salbe zur Beruhigung
        des Mittelstands . Ob und inwieweit diese angeblichen
        Verbesserungen gegenüber der Richtlinie einer rechtli-
        chen Überprüfung durch die Gerichte standhalten wer-
        den, wurde von Rechtsexperten bereits bei der Anhörung
        stark in Zweifel gezogen . Damit ist die Reisebürobranche
        mit etwa 10 000 Büros in Teilen existenziell gefährdet .
        Drittens . Wir sind große Freunde der Europäischen
        Union, aber auf der EU-Ebene werden zunehmend
        Gesetze beschlossen, die vermeintlich dem Verbrau-
        cherschutz dienen, und am Ende werden die Verbrau-
        cherschutzrechte unserer Bürger durch den Zwang zur
        Vollharmonisierung und unsere selbstverursachten Feh-
        ler vehement beschnitten . In Zukunft werden Preisnach-
        schläge von den Reiseveranstaltern von bis zu 8 Prozent
        bis 20 Tage vor Reiseantritt möglich . Mehr als 30 Jahre
        konnten sich deutsche Urlauber nach einer Rechtspre-
        chung des Bundesgerichtshofes auf den Schutz gegen
        Zahlungsausfälle und Reisemängel bei der Anmietung
        von Ferienwohnungen und Ferienhäusern verlassen . Die
        Bundesregierung wird diesen Schutz mit diesem Gesetz
        abbauen . Und Tagesreisen fallen in Zukunft nur noch un-
        ter den Schutz des Reiserechts bei einem Reisepreis ab
        500 Euro . Der Verbraucherzentrale Bundesverband e . V .
        schreibt am 11 . Mai diesen Jahres auf seiner Internetseite
        deshalb: „Der vzbv tritt zwar nicht für eine grundsätz-
        liche Aufhebung und Neuverhandlung der Pauschalrei-
        serichtlinie ein . Sollte der deutsche Gesetzgeber aber
        weiter daran festhalten, dass Tagesreisen bis zu einem
        Preis von 500,00 Euro und Ferienhäuser aus dem Rei-
        serechtsschutz fallen, sieht das anders aus . Dann bringt
        das neue Reiserecht den deutschen Verbraucherinnen und
        Verbrauchern an dieser Stelle keinen Mehrwert und man
        kann in der Tat darüber nachdenken, die Richtlinie in
        Brüssel neu zu verhandeln“ . Eine Forderung, die wir aus
        den oben genannten Gründen seit Sommer letzten Jahres
        offen vertreten haben.
        Zusammenfassend kann man unseres Erachtens sa-
        gen: Mit diesem Gesetz wird ein wirtschaftlich intakter
        Marktteilnehmer, wie das deutsche Reisebüro, existen-
        ziell gefährdet, die touristische Großindustrie gestärkt
        und der Verbraucherschutz signifikant herabgesetzt. Das
        Gesetz ist praxisfremd und wird die Zweifel der Men-
        schen an der EU und der Politik insgesamt befeuern . An
        solchen Gesetzen wollen und werden wir uns nicht mehr
        beteiligen .
        Anlage 27
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Gabriele Hiller-Ohm und
        Michael Roth (Heringen)1 (beide SPD) zu der
        Abstimmung über den von der Bundesregie-
        rung eingebrachten Entwurf eines Dritten Geset-
        zes zur Änderung reiserechtlicher Vorschriften
        (Tagesordnungspunkt 31)
        Der Deutsche Bundestag stimmt heute über die Um-
        setzung der EU-Pauschalreiserichtlinie in deutsches
        Recht ab . Ich bedauere, dass dieses wichtige Gesetz an-
        gesichts der Fülle von Tagesordnungspunkten nicht zu
        einer öffentlichkeitswirksameren Zeit im Plenum debat-
        tiert werden kann .
        Die EU-Pauschalreiserichtlinie, die zwingend um-
        zusetzen ist, verlangt eine Vollharmonisierung durch
        die EU-Mitgliedstaaten . Die Koalitionsfraktionen ha-
        ben sich nach intensiven Beratungen mit der Branche
        und Verbraucherschutzverbänden gemeinsam auf den
        vorliegenden Gesetzentwurf in geänderter Fassung ver-
        ständigt . Angesichts des geringen Spielraums für Verän-
        derungen haben die parlamentarischen Beratungen ein
        ausgewogenes Gesetz erbracht, das die Interessen der
        Reisebranche sowie der Verbraucherinnen und Verbrau-
        cher berücksichtigt . In den Beratungen der zuständigen
        Fachausschüsse wurde ein breiter Konsens – teils über
        die Koalitionsfraktionen hinaus – erreicht .
        Da mehrere Reiseleistungen nun dank der Änderun-
        gen am ursprünglichen Gesetzentwurf gemeinsam be-
        zahlt werden können, ist den deutschen Reisebüros de-
        ren ursprünglich durchaus berechtigte Sorge genommen,
        durch einen einheitlichen Zahlvorgang zum haftenden
        Reiseanbieter zu werden . Die Dachverbände der Tou-
        rismuswirtschaft sprechen deshalb zu Recht von einem
        Erfolg für die Reisebüros .
        Das Gesetz bringt auch für Verbraucherinnen und
        Verbraucher Vorteile: Künftig kann der Reiseveranstal-
        ter eine Erhöhung des Reisepreises nur bei wenigen und
        im Gesetz ausdrücklich benannten Kostenpositionen
        wie Benzinkosten oder Hafengebühren verlangen . Diese
        müssen ausdrücklich nachgewiesen werden . Diese Kos-
        tenpositionen sind einfach nachprüfbar . Wenn die Kosten
        sinken, können Reisende nun sogar eine Erstattung ver-
        langen . Die Gewährleistungsfrist wird von einem Monat
        auf 24 Monate verlängert .
        Darüber hinaus profitieren Verbraucherinnen und Ver-
        braucher davon, dass eine völlig neue Reisekategorie
        1) Siehe Berichtigung, 239 . Sitzung, Seite 24462 D
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24275
        (A) (C)
        (B) (D)
        der sogenannten verbundenen Reiseleistungen erstmalig
        geregelt wird . Wer früher eine Reise im Reisebüro oder
        online individuell zusammenstellte, war nicht vom Rei-
        serecht geschützt – jetzt schon .
        Im ursprünglichen Gesetzentwurf standen Tagesreisen
        nicht mehr unter dem gleichen Insolvenzschutz wie Pau-
        schalreisen . Wir konnten in den parlamentarischen Bera-
        tungen zumindest erreichen, dass hochwertige Tagesrei-
        sen ab 500 Euro wieder Insolvenzschutz genießen . Leider
        haben CDU und CSU sich der Aufnahme von Tagesrei-
        sen bereits ab einem deutlich geringeren Wert, wie von
        der SPD gefordert, verweigert . Auch die SPD-Forderung
        nach der Einbeziehung von Ferienhäusern in das Reise-
        recht, wie es in Deutschland seit langem praktiziert wird,
        hat die Union kategorisch abgelehnt .
        Dennoch gebe ich dem Gesetzentwurf in der Gesamt-
        abwägung meine Zustimmung .
        Anlage 28
        Erklärungen nach § 31 GO
        zu der Abstimmung über den von der Bundesre-
        gierung eingebrachten Entwurf eines Dritten Ge-
        setzes zur Änderung reiserechtlicher Vorschriften
        (Tagesordnungspunkt 31)
        Klaus Brähmig (CDU/CSU): Im Rahmen der Ab-
        stimmung am 1 . Juni 2017 werde ich dem von der Bun-
        desregierung vorgelegten Gesetz zur Umsetzung der
        EU-Pauschalreiserichtlinie in nationales Recht nicht zu-
        stimmen .
        Persönlich habe ich schon 2015 davor gewarnt, dass
        diese Richtlinie bei falscher Ausrichtung über kurz oder
        lang zum Todesurteil für das in deutschsprachigen Län-
        dern der EU verbreitete mittelständisch geführte Reise-
        büro werden kann . Trotz der Warnungen aus Politik und
        Wirtschaft wurde dann auf der EU-Ebene eine Richtlinie
        verabschiedet, die weder dem Verbraucherschutz noch
        den wirtschaftlichen Interessen der mittelständischen
        deutschen Wirtschaft Rechnung trägt .
        Aufgrund der Entscheidung zur Vollharmonisierung
        dieser EU-Richtlinie war es uns als Fachpolitikern aus
        den Bereichen Recht und Verbraucherschutz, Tourismus
        und Wirtschaft auf nationaler Ebene damit fast unmög-
        lich, für den deutschen Verbraucher und den deutschen
        Mittelstand noch etwas ins Positive zu lenken . Da die
        Richtlinie also juristisch weitgehend ausgereizt war, ar-
        gumentieren die Bundesregierung und viele Politiker,
        man könne diese Richtlinie nun national umsetzen .
        An dieser Stelle widerspreche ich in aller Form und
        will Ihnen drei Gründe nennen, warum ich nicht zustim-
        men kann:
        1. Schon bei der öffentlichen Anhörung im Ausschuss
        für Recht und Verbraucherschutz wurde klar, dass
        die touristische Großindustrie mit eigener Direkt-
        vermarktung durch die Haftungsproblematik bei den
        kleinen und mittelständischen Reisemittlern auf eine
        deutliche Verschlankung der Vertriebslinie und damit
        deutliche Gewinnsteigerungen hoffen kann. In Ge-
        sprächen mit ehemaligen Spitzenvertretern der Tou-
        rismusbranche wurde mir glaubhaft versichert, dass
        der ehemaligen Vizepräsidentin der Europäischen
        Kommission Viviane Reding bereits die Zusage zu
        einer Gesamtrücknahme der EU-Pauschalreiserichtli-
        nie aus dem laufenden Gesetzgebungsprozess entlockt
        wurde . Es war der Druck von Unternehmen, die ih-
        ren Stammsitz in Großbritannien haben, die dann die
        Rücknahmeabsichten der Kommissarin verstummen
        ließen . Heute, einige Jahre später, stehen die damali-
        gen Unternehmensleitungen an der Spitze der beiden
        Branchenverbände und beraten die Politik auf Bun-
        des- und Europaebene . Auch die Tatsache, dass die
        Branchenverbände schon Wochen und Monate vor den
        Fachpolitikern über Formulierungsvorschläge aus der
        EU-Kommission in Brüssel und aus den Bundesmi-
        nisterien verfügten, legt nahe, dass das ganze Gesetz
        industrie- und lobbynah entstanden ist . Etwaige Par-
        teizugehörigkeiten und enge Parteikontakte sind hier
        meines Erachtens kein Zufall . Zusätzlich haben große
        Teile dieser Tourismusindustrie bereits einen Haupt-
        bzw . Verwaltungssitz in Großbritannien . Mit diesem
        Gesetz machen wir also hier Industriepolitik für ein
        Land, das die Europäische Union verlassen will .
        2 . In den intensiv geführten Nachverhandlungen der
        Bundesregierung mit der EU konnte nach meiner Ein-
        schätzung trotzdem keine volle Rechtssicherheit für
        die deutsche Reisebürobranche bei den Fragen Veran-
        stalterhaftung und getrennte Bezahlvorgänge erreicht
        werden . Die vorgelegten juristischen Formelkom-
        promisse sind meines Erachtens nur weiße Salbe zur
        Beruhigung des Mittelstands . Ob und inwieweit diese
        angeblichen Verbesserungen gegenüber der Richtli-
        nie einer rechtlichen Überprüfung durch die Gerichte
        standhalten werden, wurde von Rechtsexperten bereits
        bei der Anhörung stark in Zweifel gezogen . Damit ist
        die Reisebürobranche mit etwa 10 000 Büros in Teilen
        existenziell gefährdet .
        3 . Ich bin ein großer Freund der Europäischen Union,
        aber auf der EU-Ebene werden zunehmend Gesetze
        beschlossen, die vermeintlich dem Verbraucherschutz
        dienen, und am Ende werden die Verbraucherschutz-
        rechte unserer Bürger durch den Zwang zur Vollhar-
        monisierung und unsere selbstverursachten Fehler
        vehement beschnitten . In Zukunft werden Preisnach-
        schläge von den Reiseveranstaltern von bis zu 8 Pro-
        zent bis 20 Tage vor Reiseantritt möglich . Mehr als 30
        Jahre konnten sich deutsche Urlauber nach einer
        Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes auf den
        Schutz gegen Zahlungsausfälle und Reisemängel bei
        der Anmietung von Ferienwohnungen und Ferien-
        häusern verlassen . Die Bundesregierung wird diesen
        Schutz mit diesem Gesetz abbauen . Und Tagesreisen
        fallen in Zukunft nur noch unter den Schutz des Reise-
        rechts bei einem Reisepreis ab 500 Euro . Der Verbrau-
        cherzentrale Bundesverband e . V . schreibt am 11 . Mai
        dieses Jahres auf seiner Internetseite deshalb:
        Der vzbv tritt zwar nicht für eine grundsätzliche
        Aufhebung und Neuverhandlung der Pauschalrei-
        serichtlinie ein . Sollte der deutsche Gesetzgeber
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724276
        (A) (C)
        (B) (D)
        aber weiter daran festhalten, dass Tagesreisen bis
        zu einem Preis von 500,00 Euro und Ferienhäuser
        aus dem Reiserechtsschutz fallen, sieht das anders
        aus . Dann bringt das neue Reiserecht den deutschen
        Verbraucherinnen und Verbrauchern an dieser Stelle
        keinen Mehrwert und man kann in der Tat darüber
        nachdenken, die Richtlinie in Brüssel neu zu ver-
        handeln .
        Eine Forderung, die ich aus den oben genannten Grün-
        den seit Sommer letzten Jahres offen vertreten habe.
        Zusammenfassend kann man meines Erachtens sagen:
        Mit diesem Gesetz wird ein wirtschaftlich intakter Markt-
        teilnehmer, wie das deutsche Reisebüro, existenziell ge-
        fährdet, die touristische Großindustrie gestärkt und der
        Verbraucherschutz signifikant herabgesetzt. Das Gesetz
        ist praxisfremd und wird die Zweifel der Menschen an
        der EU und der Politik insgesamt befeuern . An solchen
        Gesetzen will und werde ich mich nicht mehr beteiligen .
        Ronja Kemmer (CDU/CSU): Der Deutsche Bundes-
        tag stimmt heute über den Entwurf eines Dritten Geset-
        zes zur Änderung reiserechtlicher Vorschriften ab . Die
        Verabschiedung dieses Gesetzes erfolgt, da Deutschland
        zur Umsetzung der EU-Pauschalreiserichtlinie verpflich-
        tet ist .
        Ich halte die EU-Pauschalreiserichtlinie für nicht
        sachdienlich, da sie weder dem Verbraucherschutz noch
        den wirtschaftlichen Interessen der mittelständischen
        deutschen Reisewirtschaft Rechnung trägt . Begünstigt
        werden durch diese Richtlinie große Reisekonzerne, von
        denen viele bereits über einen Haupt- bzw . Verwaltungs-
        sitz in Großbritannien verfügen, einem Land, das die Eu-
        ropäische Union gerade verlassen will .
        Nach meiner Auffassung hat das SPD-geführte Jus-
        tizministerium bei den Verhandlungen in Brüssel hier
        die Interessen der deutschen Reiseunternehmen nicht
        hinreichend vertreten . Einen Beigeschmack hat für
        mich hierbei, dass der SPD mit dem SPD-ReiseService
        (Einer Marke der FFR Ferien-, Freizeit- und ReiseSer-
        vice GmbH, eine 100-Prozent-Tochter der SPD-Holding
        DDVG-mbH) ein Reiseveranstalter mit Direktvertrieb
        gehört . Reiseveranstalter mit eigenem Direktvertreib
        sind aber die prognostizierten Profiteure der Richtlinie.
        Ich habe mich daher zusammen mit anderen Kollegen
        aus dem Parlamentskreis „Mittelstand“ dafür eingesetzt,
        den Entwurf zugunsten der deutschen Reiseindustrie
        zu verbessern . Dabei konnten wir weitergehende Zuge-
        ständnisse und Änderungen erreichen, als dies in anderen
        EU-Ländern der Fall war . Das macht das Gesetz aus mei-
        ner Sicht nicht sachdienlich, es stellt aber eine bessere
        Umsetzung der EU-Richtlinie dar . Eine Verschiebung
        des Gesetzes, für die sich einige Kollegen ausgesprochen
        hatten, wurde von der SPD abgelehnt .
        Gemeinsam mit anderen Kollegen setze ich mich da-
        für ein, dass eine Überarbeitung der EU-Reiserichtlinie
        ins Wahlprogramm der CDU aufgenommen wird, als fes-
        tes Ziel und Auftrag für die nächste Legislaturperiode .
        Wir brauchen eine bessere und fairere EU-Reiserichtli-
        nie . Daran führt kein Weg vorbei .
        Heute stimme ich trotz entsprechender Bedenken dem
        vorliegenden Gesetzentwurf zu und werde mich gleich-
        zeitig dafür einsetzen, dass die aus meiner Sicht für die
        deutsche Reiseindustrie schlechten Punkte durch eine
        Änderung der EU-Reiserichtlinie verbessert werden .
        Ingo Wellenreuther (CDU/CSU): Im Rahmen der
        Abstimmung am 1 . Juni 2017 werde ich dem von der
        Bundesregierung vorgelegten Gesetz zur Umsetzung der
        EU-Pauschalreiserichtlinie in nationales Recht nicht zu-
        stimmen .
        Diese Richtlinie wird bei falscher Ausrichtung über
        kurz oder lang zum Todesurteil für in deutschsprachigen
        Ländern der EU verbreitete, mittelständisch geführte
        Reisebüros werden . Trotz der Warnungen aus Politik und
        Wirtschaft wurde auf der EU-Ebene eine Richtlinie ver-
        abschiedet, die weder dem Verbraucherschutz noch den
        wirtschaftlichen Interessen der mittelständischen deut-
        schen Wirtschaft Rechnung trägt .
        Aufgrund der Entscheidung zur Vollharmonisierung
        dieser EU-Richtlinie war es auf nationaler Ebene fast un-
        möglich, parlamentarisch für den deutschen Verbraucher
        und den deutschen Mittelstand noch etwas ins Positive
        zu lenken . Da die Richtlinie also juristisch weitgehend
        ausgereizt war . argumentieren die Bundesregierung und
        viele Politiker, man könne diese Richtlinie nun national
        umsetzen .
        An dieser Stelle widerspreche ich in aller Form und
        will Ihnen drei Gründe nennen, warum ich nicht zustim-
        men kann:
        Erstens. Schon bei der öffentlichen Anhörung im Aus-
        schuss für Recht und Verbraucherschutz wurde klar, dass
        die touristische Großindustrie mit eigener Direktver-
        marktung durch die Haftungsproblematik bei den klei-
        nen und mittelständischen Reisemittlern auf eine deutli-
        che Verschlankung der Vertriebslinie und damit deutliche
        Gewinnsteigerungen hoffen kann. In Gesprächen mit
        ehemaligen Spitzenvertretern der Tourismusbranche
        wurde mir glaubhaft versichert, dass der ehemaligen
        Vizepräsidentin der Europäischen Kommission Viviane
        Reding bereits die Zusage zu einer Gesamtrücknahme
        der EU-Pauschalreiserichtlinie aus dem laufenden Ge-
        setzgebungsprozess entlockt wurde . Es war der Druck
        von Unternehmen . die ihren Stammsitz in Großbritanni-
        en haben, die dann die Rücknahmeabsichten der Kom-
        missarin verstummen ließen . Heute, einige Jahre später,
        stehen die damaligen Unternehmensleitungen an der
        Spitze der beiden Branchenverbände und beraten die Po-
        litik auf Bundes- und Europaebene . Auch die Tatsache,
        dass die Branchenverbände schon Wochen und Monate
        vor den Fachpolitikern über Formulierungsvorschläge
        aus der EU Kommission in Brüssel und aus den Bundes-
        ministerien verfügten, legt nahe, dass das ganze Gesetz
        industrie- und lobbynah entstanden ist . Etwaige Parteizu-
        gehörigkeiten und enge Parteikontakte sind hier meines
        Erachtens kein Zufall . Zusätzlich haben große Teile die-
        ser Tourismusindustrie bereits einen Haupt- bzw . Verwal-
        tungssitz in Großbritannien . Mit diesem Gesetz machen
        wir also hier Industriepolitik für ein Land, das die Euro-
        päische Union verlassen will .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24277
        (A) (C)
        (B) (D)
        Zweitens . In den intensiv geführten Nachverhandlun-
        gen der Bundesregierung mit der EU konnte nach meiner
        Einschätzung trotzdem keine volle Rechtssicherheit für
        die deutsche Reisebürobranche bei den Fragen Veranstal-
        terhaftung und getrennte Bezahlvorgänge erreicht wer-
        den . Die vorgelegten juristischen Formelkompromisse
        sind meines Erachtens nur weiße Salbe zur Beruhigung
        des Mittelstands . Ob und inwieweit diese angeblichen
        Verbesserungen gegenüber der Richtlinie einer rechtli-
        chen Überprüfung durch die Gerichte standhalten wer-
        den, wurde von Rechtsexperten bereits bei der Anhörung
        stark in Zweifel gezogen . Damit ist die Reisebürobranche
        mit etwa 10 000 Büros in Teilen existenziell gefährdet .
        Drittens . Ich bin ein großer Freund der Europäischen
        Union, aber auf der EU-Ebene werden zunehmend
        Gesetze beschlossen, die vermeintlich dem Verbrau-
        cherschutz dienen, und am Ende werden die Verbrau-
        cherschutzrechte unserer Bürger durch den Zwang zur
        Vollharmonisierung und unsere selbstverursachten Feh-
        ler vehement beschnitten . In Zukunft werden Preisnach-
        schlage von den Reiseveranstaltern von bis zu 8 Prozent
        bis 20 Tage vor Reiseantritt möglich . Mehr als 30 Jahre
        konnten sich deutsche Urlauber nach einer Rechtspre-
        chung des Bundesgerichtshofes auf den Schutz gegen
        Zahlungsausfälle und Reisemängel bei der Anmietung
        von Ferienwohnungen und Ferienhäusern verlassen . Die
        Bundesregierung wird diesen Schutz mit diesem Gesetz
        abbauen . Und Tagesreisen fallen in Zukunft nur noch un-
        ter den Schutz des Reiserechts bei einem Reisepreis ab
        500 Euro . Der Verbraucherzentrale Bundesverband e . V .
        schreibt am 11 . Mai dieses Jahres auf seiner Internetseite
        deshalb: „Der vzbv tritt zwar nicht für eine grundsätz-
        liche Aufhebung und Neuverhandlung der Pauschalrei-
        serichtlinie ein . Sollte der deutsche Gesetzgeber aber
        weiter daran festhalten, dass Tagesreisen bis zu einem
        Preis von 500,00 Euro und Ferienhäuser aus dem Rei-
        serechtsschutz fallen, sieht das anders aus . Dann bringt
        das neue Reiserecht den deutschen Verbraucherinnen und
        Verbrauchern an dieser Stelle keinen Mehrwert und man
        kann in der Tat darüber nachdenken, die Richtlinie in
        Brüssel neu zu verhandeln“ . Eine Forderung, die ich aus
        den oben genannten Gründen seit Sommer letzten Jahres
        offen vertreten habe.
        Zusammenfassend kann ich sagen: Mit diesem Gesetz
        wird ein wirtschaftlich intakter Marktteilnehmer, wie das
        deutsche Reisebüro, existenziell gefährdet, die touristi-
        sche Großindustrie gestärkt und der Verbraucherschutz
        signifikant herabgesetzt. Das Gesetz ist praxisfremd und
        wird die Zweifel der Menschen an der EU und der Politik
        insgesamt befeuern . An einem Zustandekommen eines
        solchen Gesetzes werde ich mich nicht beteiligen .
        Anlage 29
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
        Berichts des Finanzausschusses zu der Verord-
        nung des Bundesministeriums der Finanzen:
        Verordnung zur Bestimmung der technischen
        Anforderungen an elektronische Aufzeichnungs-
        und Sicherungssysteme im Geschäftsverkehr
        (Kassensicherungsverordnung – KassenSichV)
        (Tagesordnungspunkt 32)
        Uwe Feiler (CDU/CSU): Es ist nicht alltäglich, dass
        sich der Deutsche Bundestag die Zustimmung zu einer
        Verordnung vorbehält . Im Falle der näheren Ausgestal-
        tung der technischen Anforderungen an elektronische
        Kassensysteme haben wir bei der Kassensicherungsver-
        ordnung aus guten Gründen davon Gebrauch gemacht .
        Mit unserer Grundsatzentscheidung vom 22 . Dezem-
        ber letzten Jahres haben wir die Voraussetzungen dafür
        geschaffen, Umsatzsteuerbetrug wirksam zu bekämpfen
        und Manipulationen an digitalen Grundaufzeichnungen
        zu unterbinden . Es muss ausgeschlossen sein, dass tech-
        nisch findige Nutzer von elektronischen Registrierkassen
        zulasten des Fiskus Daten unerkannt löschen oder verän-
        dern können .
        Die heutige Zustimmung zu dieser Verordnung schaltet
        das Gesetz scharf, weil wir die Anforderungen des § 146a
        der Abgabenordnung präzisieren und den Finanzbehör-
        den die Instrumente an die Hand geben, um das Bundes-
        amt für Sicherheit in der Informationstechnik mit der Ent-
        wicklung der technischen Standards zu beauftragen .
        Dankbar bin ich dem Bundesfinanzministerium, dass
        es durch eine Protokollerklärung noch einmal deutlich
        gemacht hat, dass einerseits Pfandautomaten nicht zum
        Anwendungsbereich der Verordnung gehören, da es sich
        bei diesen nicht um Kassensysteme handelt, die auf den
        Verkauf von Waren und Dienstleistungen gerichtet sind .
        Andererseits hat uns das Bundesfinanzministerium zu-
        gesagt, bis Mitte des kommenden Jahres einen Vorschlag
        zu unterbreiten in welcher Art und Weise auch andere
        betrugsanfällige kassenähnliche Systeme in den Anwen-
        dungsbereich der Verordnung mit aufgenommen werden
        können . Damit trägt das BMF sowohl dem Wunsch der
        Landesfinanzbehörden Rechnung als auch der Forderung
        von Verbänden, die für ihre Branchen die Aufnahme in
        die Verordnung anstreben .
        Im Fokus der Verordnung stehen jedoch zunächst
        elektronische oder computergestützte Kassensysteme,
        die künftig über eine zertifizierte technische Sicherheits-
        einrichtung verfügen müssen . Ebenso stellen wir klar,
        dass zum Beispiel Fahrscheinautomaten und -drucker,
        Geldautomaten, Geld- und Warenspielsysteme, aber auch
        Taxameter und Wegstreckenzähler nicht unter die Ver-
        ordnung fallen . Damit erfassen wir Millionen von Ge-
        räten; und die Landesfinanzbehörden müssen Millionen
        von Datensätzen auswerten . Von daher ist es richtig mit
        den Kassen zu beginnen, Erfahrungen zu sammeln und
        gegebenenfalls nachzusteuern .
        Um Lücken zu schließen bzw . diese bei einer Prü-
        fung sofort sichtbar werden zu lassen, muss zukünftig
        ab dem ersten Tastendruck jeder aufzeichnungspflichtige
        Geschäftsvorfall unmittelbar erfasst und in einer einheit-
        lichen Transaktion zusammengeführt werden, die den
        Zeitpunkt des Vorgangsbeginns, eine fortlaufende Trans-
        aktionsnummer, die Art des Vorgangs, die Daten des
        Vorgangs, den Zeitpunkt der Vorgangsbeendigung und
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724278
        (A) (C)
        (B) (D)
        einen Prüfwert enthält . Diese Datensätze erleichtern den
        Prüfern die Arbeiten zukünftig enorm, da mithilfe des
        Zeitstempels und der fortlaufenden Transaktionsnummer
        Geschäftsvorfälle eindeutig identifiziert werden können.
        Bei der Festlegung der Zeitquelle ließ sich das Bun-
        desfinanzministerium wiederum von dem für meine
        Fraktion wichtigen Grundsatz der technologieoffenen
        Lösung leiten . Damit können verschiedene technische
        Ansätze mitberücksichtigt werden .
        Darüber hinaus regelt die Verordnung insbesondere
        die Anforderungen an die einheitliche digitale Schnitt-
        stelle, die Speichermedien, die technische Sicherheits-
        einrichtung, den Beleg und den Zertifizierungsprozess.
        Dadurch wird Rechtssicherheit sowohl für die Nutzer
        von Kassensystemen als auch die mit der Kassennach-
        schau oder der Außenprüfung betrauten Mitarbeiter der
        Finanzverwaltung geschaffen.
        Wichtig ist mir zu betonen, dass die Verordnung ledig-
        lich vorgibt wie die Datensätze aufgebaut sein müssen
        und wie die technischen Richtlinien und Schutzprofile
        auszugestalten sind . Der Nutzer hat es folglich selbst in
        der Hand, von welchem Anbieter er sein System bezieht,
        solange es diese Standards erfüllt .
        Mit dieser Verordnung schließen wir in dieser Wahl-
        periode einen langen Diskussionsprozess über technische
        Vorkehrungen ab, um Steuerbetrug mittels Kassensyste-
        men zu begegnen . Gleichwohl bin ich mir sicher, dass
        wir uns auch nach den Wahlen weiter mit diesem Thema
        befassen werden .
        Ich bedanke mich bei den Kolleginnen und Kollegen
        für die guten Beratungen und beim Bundesfinanzminis-
        terium für die stets gute Zusammenarbeit und Unterstüt-
        zung .
        Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Der Kassen-
        betrug in Deutschland richtet Jahr für Jahr einen großen
        finanziellen Schaden an, insbesondere für den Fiskus,
        also die Gemeinschaft, den Staat . Nach konservativen
        Schätzungen des Bundesrechnungshofs (BRH) gehen
        dem Staat auf diese Weise 10 Milliarden Euro pro Jahr
        verloren . Die Deutsche Steuer-Gewerkschaft und auch
        einige Länderfinanzministerien halten auch weit höhe-
        re Ausfälle in einer Größenordnung von 50 Milliarden
        Euro für realistisch . Da bis zum Dezember 2016 keine
        gesetzliche Regelung vorlag, welche die Korrektheit
        und Vollständigkeit von Kassendaten sichergestellt hat,
        war es notwendig, ein entsprechendes Gesetz zu schaf-
        fen . Das wollten CDU und CSU zunächst nicht . Erst
        als die Finanzminister der SPD-geführten Länder, vor
        allem Norbert Walter-Borjans aus NRW, die Dimension
        des Kassenbetrugs in die Öffentlichkeit trugen und so-
        mit öffentlichen Druck auf das Bundesfinanzministerium
        (BMF) aufbauten, entstand ein Gesetzentwurf .
        Dieser Gesetzentwurf enthielt eine Reihe von Schlupf-
        löchern, die auch weiterhin Kassenbetrug zugelassen
        hätten . Einige davon konnten wir in den Verhandlungen
        schließen . Aber die brettharte Blockadehaltung der CDU/
        CSU und des Bundesfinanzministeriums hat dafür ge-
        sorgt, dass noch immer einige Schlupflöcher verblieben
        sind .
        Das Gesetz weist einen leeren Anwendungsbereich
        auf, weil die Geräte, auf welche die Regelungen Anwen-
        dung finden sollen, erst später in der jetzt vorgelegten
        Verordnung festgelegt werden und mit INSIKA die ein-
        zige schon heute verfügbare technische Lösung für Kas-
        sensysteme verhindert wurde .
        Auch eine Registrierkassenpflicht war mit der Union
        nicht zu machen . Wer nun weiterhin betrügen möchte,
        trägt seine Kasse auf den Schrottplatz .
        Dennoch haben wir diesem Gesetz zugestimmt, weil
        nur so sichergestellt ist, dass überhaupt eine gesetzliche
        Regelung existiert . Diese muss nun zwar unbedingt ver-
        bessert, aber immerhin nicht neu geschaffen werden.
        Darüber hinaus wurde vereinbart, dass dem Gesetz im
        Nachgang eine Verordnung folgen soll, welche das Ge-
        setz mit Leben füllt und die technischen Anforderungen
        an Kassensysteme regelt . Über diese Verordnung stim-
        men wir nun im Bundestag ab . Leider hält die Verord-
        nung nicht, was das Bundesfinanzministerium verspro-
        chen hat . Die technischen Anforderungen werden auch
        jetzt nicht klar geregelt . Diese Aufgabe wird nun an das
        Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik
        (BSI) übertragen .
        In den Gesetzesberatungen hat das BMF stets betont,
        eine technologieoffene Lösung schaffen zu wollen. Wir
        hatten damals schon ernste Zweifel an dieser Absicht,
        vor allem weil die gegenwärtig einzig einsetzbare Soft-
        ware INSIKA verhindert wurde . Nun sieht die Verord-
        nung vor, dass die Kassensysteme eine Zeitquelle zur
        Protokollierung des Vorgangs aufweisen müssen . Diese
        Anforderung zementiert den Ausschluss der bestehenden
        Technologie INSIKA . Damit ist die Verordnung gerade
        nicht technologieoffen; denn sie schließt eine bestehende
        und erprobte Technologie gezielt aus .
        Die Verordnung schließt ebenfalls die Aufnahme von
        Taxametern in den Anwendungsbereich des Gesetzes aus .
        Dabei handelt es sich hier um eine Branche, in der Kas-
        senbetrug vielfach passiert . Im Rahmen der Anhörung
        der Sachverständigen haben die Taxiverbände explizit
        darum gebeten, die Taxameter mit in den Anwendungs-
        bereich dieses Gesetzes einzubeziehen und dem Kassen-
        betrug zu begegnen . Denn dieser Steuerbetrug schadet
        nicht nur dem Staat, sondern auch einem funktionieren-
        den und fairen Wettbewerb . Die guten Erfahrungen der
        Länder mit einer Regulierung der Taxameter werden da-
        bei schlicht ignoriert . Das macht die Entscheidung erst
        Recht unverständlich .
        Des Weiteren hat das BMF auf die hohen Kosten und
        den technischen Aufwand für die Taxibetreiber verwie-
        sen, wenn diese sich erst einen Drucker für ihr Taxi be-
        sorgen müssten . Ein solches Gerät ist bereits für unter
        200 Euro auf dem Markt erhältlich . Auch dieses Argu-
        ment überzeugt nicht .
        Das BMF hatte in den Gesetzesberatungen in Aussicht
        gestellt, mit der Verordnung „klarstellend“ die Aufnah-
        me von kassenähnlichen Systemen in den Anwendungs-
        bereich des Gesetzes zu regeln . Die Verordnung schließt
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24279
        (A) (C)
        (B) (D)
        diese Systeme nun ausdrücklich aus . Das ist umso unver-
        ständlicher, als eine Mehrzahl der Länder, deren Steuer-
        verwaltungen mit ihren Prüfern und Steuerfahndern Tag
        für Tag mit Kassenbetrug konfrontiert sind, im Vorfeld
        massive Bedenken gegen den Verordnungsentwurf vor-
        gebracht haben . Die Länder haben insbesondere den An-
        wendungsbereich kritisiert . Das BMF hat das ignoriert .
        Warum stimmt eigentlich die SPD-Fraktion einem
        solch schlechten, jedenfalls für den Fiskus schlechten
        Gesetz zu? Weil schon mit wenigen Änderungen und
        Streichungen sowohl der Anwendungsbereich definiert
        werden kann als auch der Zeitpunkt des Inkrafttretens –
        eine Aufgabe für neue Mehrheiten in der neuen Legisla-
        turperiode .
        Diese Verordnung ist trotz allem ein erster Schritt, die
        Grundvoraussetzung zu schaffen, um die Regelungen
        des Kassengesetzes mit Leben zu füllen . Es ist jedoch
        erforderlich, dass in einem zweiten Schritt der Anwen-
        dungsbereich ausgedehnt wird und zumindest Taxame-
        ter Bestandteil der Regelungen werden . Daher stimmen
        wir widerwillig dieser Verordnung zu, fordern das BMF
        aber zugleich auf, sofort mit den Vorbereitungen für eine
        Überarbeitung der Verordnung zu beginnen . Der zweite
        Schritt hin zu einer echten technologieoffenen Lösung
        soll zeitnah gemacht werden . Das BMF muss dabei auf
        die Experten aus den Ländern hören .
        Vor diesem Hintergrund begrüßen wir ausdrücklich,
        dass das BMF eine Protokollerklärung abgegeben hat,
        mit der es sich zur Nachbesserung bis Mitte nächsten
        Jahres verpflichtet – in enger Abstimmung mit den Län-
        dern . Es ist nicht übertrieben, zu sagen: Unser Druck war
        dabei sehr hilfreich. – Ich hoffe, das BMF überwindet die
        Verharmlosung von Betrug und nimmt seine Selbstver-
        pflichtung ernst.
        Bei entsprechenden Mehrheitsverhältnissen werden
        wir jedenfalls das Kassengesetz und die Kassensiche-
        rungsverordnung möglichst bald auf Wirksamkeit um-
        stellen .
        Andreas Schwarz (SPD): Wir beschließen heute zu
        später Stunde die Kassensicherungsverordnung . Damit
        präzisieren wir die Details des Gesetzes zur Bekämpfung
        von Steuerhinterziehung durch manipulierte Kassensys-
        teme, das wir erst kürzlich nach langem und intensivem
        Ringen beschlossen haben .
        Der Schaden durch Steuerhinterziehung durch ma-
        nipulierte Kassensysteme beträgt jährlich mindestens
        10 Milliarden Euro . Manche Experten schätzen sogar
        deutlich mehr .
        Es ist dem Hohen Hause bekannt, dass wir als
        SPD-Bundestagsfraktion schon das eigentliche Gesetz
        kritisch sehen . Und auch heute geraten wir nicht in die
        Euphorie, die manch anderer über diese Verordnung
        glaubt haben zu müssen . Nein, sie hat Mängel . Sie ist
        nicht sonderlich konkret. Sie ist nicht sonderlich effektiv.
        Sie lässt viele technologische Möglichkeiten vollkom-
        men ungenutzt, die bereits am Markt existieren, und sie
        ignoriert vorhandene Projekte, die funktionieren .
        Immerhin konnten wir Sozialdemokraten erreichen,
        dass sich das Bundesfinanzministerium mit einer Proto-
        kollerklärung zur zeitnahen Nachbesserung verpflichtet.
        Gemeinsam mit den Ländern werden wir nun noch im
        ersten Halbjahr 2018 Verbesserungen erreichen .
        Diesen Nachbesserungsbedarf sehen wir insbesondere
        beim Taxigewerbe . Der Verordnungsentwurf von Bun-
        desfinanzminister Wolfgang Schäuble enttäuscht hier auf
        ganzer Linie und verfehlt sein Ziel . Wir, die SPD-Bun-
        destagsfraktion, die Länder und sogar die beiden großen
        Taxiverbände haben bereits bei der Ressortabstimmung
        vom Bundesfinanzministerium gefordert, dass der An-
        wendungsbereich wenigstens auf Taxameter ausgedehnt
        wird . Obwohl Hamburg Steuerbetrug im Taxigewerbe
        erfolgreich unterbindet, verhindert das Bundesfinanzmi-
        nisterium weiterhin, dieses Modell bundesweit wirksam
        einzusetzen .
        Nicht zuletzt verhindert die Verordnung auch eine
        bereits am Markt vorhandene Lösung: INSIKA . Diese
        funktioniert nicht nur sofort, sondern ist zudem auch noch
        kostengünstig. Falls durch dieses offenkundig bewusste
        Verhindern nun Lösungen am Markt entwickelt werden,
        die vermutlich deutlich teurer sein werden als INSIKA,
        dann trägt allein Bundesfinanzminister Schäuble dafür
        die Verantwortung . Ich bin gespannt, wie die Kollegin-
        nen und Kollegen von der Union den Händlern erklären
        wollen, dass sie gegen den Willen der SPD eine teurere
        und bürokratischere Lösung durchgesetzt haben .
        Experten aus den Steuerverwaltungen der Länder
        haben außerdem auf zahlreiche technische Mängel hin-
        gewiesen . Diese Bedenken wurden vom BMF ignoriert .
        Hier wird die Evaluation schnell zeigen, wo es zu Pro-
        blemen kommen wird . Diese müssen dann umgehend
        behoben werden .
        Wir stimmen mit großen Bauchschmerzen der Ver-
        ordnung zu . Trotz der benannten Mängel bietet sie die
        Möglichkeit, unter anderen Mehrheitsverhältnissen im
        Bundestag und in der Hausführung des BMF aus ihr und
        dem Gesetz tatsächlich ein wirkungsvolles Instrument
        gegen Steuerbetrug zu machen, so wie es sich Minister
        Schäuble zumindest in seinen Presseerklärungen immer
        wünscht . Wir werden den Ankündigungen des Kollegen
        Dr . Schäuble unsere Taten folgen lassen .
        Richard Pitterle (DIE LINKE): Um es gleich vor-
        wegzunehmen: Diese Verordnung ist nicht nur kein gro-
        ßer Wurf, sondern ein schlechter Witz; denn der Rege-
        lungsgehalt der Verordnung geht gegen null . Die große
        Koalition legt damit wieder einmal den Schluss nahe,
        dass ihr der Kampf gegen Steuerbetrug nicht sonderlich
        wichtig ist .
        Noch einmal zum Hintergrund der Verordnung:
        10 Milliarden Euro jährlich gehen dem Fiskus nach
        Schätzungen aufgrund von Steuerbetrug durch Kassen-
        manipulation verloren . Diese Kassenmanipulation ge-
        schieht alltäglich, zum Beispiel in der Gastronomie . Man
        zahlt das Essen, der Kellner kassiert, auf der Abrechnung
        des Lokals für das Finanzamt taucht die Flasche Wein
        dann aber plötzlich nicht mehr auf . Das ist ganz einfach,
        es gibt sogar extra Software, die die in die Registrierkasse
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724280
        (A) (C)
        (B) (D)
        eingegebenen Umsätze frisiert und nach unten schraubt .
        Wer gar keine Registrierkasse hat, kann letztlich sowieso
        angeben, was er will .
        Vor einem halben Jahr hat der Bundestag deswegen
        das sogenannte Gesetz zum Schutz vor Manipulationen
        an digitalen Grundaufzeichnungen beschlossen . Auf Be-
        treiben der großen Koalition war das Gesetz leider kein
        großer Wurf . Gute Ansätze waren zwar vorhanden . Wir
        Linke haben da aber bereits die Schlupflöcher im Gesetz
        bemängelt; denn leider fehlt eine grundsätzliche Regis-
        trierkassenpflicht, und auch die Belegausgabepflicht
        kann umgangen werden .
        Auch hat die große Koalition damals darauf verzich-
        tet, das INSIKA-Verfahren in das Gesetz zu übernehmen .
        Mit INSIKA hätte aber eigentlich ein fertiges, bewährtes
        technisches Konzept zur Umsetzung des Schutzes vor
        Kassenmanipulationen bestanden . Stattdessen wurde das
        Gesetz laut großer Koalition technologieoffen gestaltet.
        „Technologiefern“ hätte es besser getroffen.
        Die jetzige Verordnung sollte diese Lücke eigentlich
        schließen und die Anforderungen an die technische Um-
        setzung des Schutzes vor Kassenmanipulation festlegen .
        Weil diese Frage der technischen Umsetzung von großer
        Bedeutung ist, wurde im vorausgegangenen Gesetz auch
        extra geregelt, dass die jetzige Verordnung der Zustim-
        mung des Bundestages bedarf . Es wurde sogar explizit
        in den § 146a der Abgabenordnung geschrieben, dass die
        Verordnung unter anderem die Anforderungen an das Si-
        cherheitsmodul, das Speichermedium und die einheitli-
        che digitale Schnittstelle enthalten soll .
        Schaut man nun in die Verordnung, fällt sogleich auf,
        dass sie sehr dünn geraten ist . Der eigentliche Rege-
        lungstext umfasst gerade einmal drei Seiten . Noch dazu
        wurde vieles einfach aus dem vorausgegangenen Gesetz
        kopiert und wiederholt . Wenn man nun die eben erwähn-
        ten Anforderungen an das Sicherheitsmodul, das Spei-
        chermedium und die einheitliche digitale Schnittstelle
        sucht, so findet sich in § 5 der Verordnung Folgendes:
        Die Festlegung dieser Anforderungen ist einfach an das
        Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik
        und das Bundesfinanzministerium weitergegeben wor-
        den . Damit wird die Verordnung wirklich ad absurdum
        geführt . Wenn wir als Bundestag vorher festlegen, was
        diese Verordnung zu enthalten hat, dann muss sich das
        Bundesfinanzministerium auch danach richten, ob es
        Herrn Schäuble passt oder nicht .
        Wenn wir uns als Bundestag ernst nehmen, dann kön-
        nen wir dieser Verordnung schlicht nicht zustimmen . Mit
        dieser Verordnung wird nichts geregelt . Man könnte das
        gar als eine Verhöhnung des Parlamentes bezeichnen, das
        nur kurz abnicken soll, dass die eigentlich wichtigen Ent-
        scheidungen woanders getroffen werden. Die Linke wird
        dabei nicht mitmachen . Wir lehnen dieses Nullum von
        einer Verordnung daher ab .
        Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Nachdem der Deutsche Bundestag im Dezem-
        ber 2016 ein Gesetz zum Schutz vor Manipulationen an
        Registrierkassen verabschiedet hat, liegt uns heute die
        technische Durchführungsverordnung zur Beschlussfas-
        sung vor .
        Bereits vor 13 Jahren stellte der Bundesrechnungshof
        fest, dass durch manipulierte Registrierkassen massiv
        Steuerbetrug und Schwarzgelderwirtschaftung betrieben
        wird . In Registrierkassen gespeicherte Daten können in
        vielen Systemen beliebig, ohne die geringsten Spuren
        zu hinterlassen, verändert werden . Durch den Betrug
        mit manipulierten Kassen entgehen den Haushalten von
        Bund und Ländern Jahr für Jahr schätzungsweise 10 Mil-
        liarden Euro . Problemverschärfend ist, dass steuerloyale
        Unternehmen zunehmend unter den Wettbewerbsnach-
        teilen gegenüber steuerunehrlichen Konkurrenten leiden .
        Das Grundprinzip unseres Wirtschaftssystems, der freie
        und faire Wettbewerb, ist in bestimmten Wirtschafts-
        zweigen stark gefährdet . Die Bundesregierung hat sich
        mit der Lösung dieses Problems viel zu lange Zeit gelas-
        sen, anstatt entschlossen zu handeln . Ein solcher Zeitbe-
        darf bis zum Vorliegen einer ersten Regelung ist in einem
        sich stürmisch entwickelnden digitalen Bereich deutlich
        zu groß .
        Dies gilt auch für die Bekämpfung des Umsatzsteu-
        erbetrugs auf digitalen Handelsplattformen . Dabei ist
        dieses Problem bereits seit Monaten bekannt, und der
        damit verbundene Schaden beläuft sich nach einer Schät-
        zung der Deutschen Steuer-Gewerkschaft auf mindestens
        1 Milliarde Euro pro Jahr . Auch bei diesem Problem sind
        die Lösungsmöglichkeiten allen Verantwortlichen be-
        kannt, aber die Bundesregierung verschiebt die Entschei-
        dung auch in dieser Frage in die Zukunft .
        In der heute vorliegenden Kassensicherungsver-
        ordnung werden unter anderem die elektronischen
        Aufzeichnungssysteme festgelegt, die zukünftig über
        eine zertifizierte Sicherheitseinrichtung im Sinne des
        § 146 AO verfügen müssen . Demnach werden die Re-
        gelungen zum Schutz vor Manipulationen an digitalen
        Grundaufzeichnungen lediglich auf elektronische oder
        computergestützte Kassensysteme Anwendung finden.
        Explizit ausgenommen werden Fahrscheinautomaten,
        Fahrscheindrucker, elektronische Buchhaltungsprogram-
        me, Waren- und Dienstleistungsautomaten, Geldauto-
        maten, Taxameter und Wegstreckenzähler sowie Geld-
        und Warenspielgeräte . Diese Auswahlentscheidung ist
        in dieser Form nicht nachvollziehbar . Eine Ausweitung
        auf weitere Geräte, zum Beispiel Taxameter, Geld- und
        Warenspielgeräte, wäre zudem zukünftig nur durch eine
        Änderung der Verordnung möglich .
        Grundlage für die Entscheidung über die Aufnahme
        von elektronischen Aufzeichnungsgeräten in die Defini-
        tion des § 1 KassenSichV hätte eine sorgfältige, trans-
        parente und nachvollziehbare Abwägung zwischen dem
        Manipulationsrisiko und dem erforderlichen Aufwand
        für den Steuerpflichtigen sein müssen. Wäre die Bundes-
        regierung so vorgegangen, wäre die Ausnahmeregelung
        für Taxameter und Wegstreckenzähler sowie Geld- und
        Warenspielgeräte nicht zu rechtfertigen gewesen . Denn
        die Erfahrungen mit dem Einsatz digitaler Sicherungs-
        systeme im Bereich der Taxiunternehmen in Hamburg so-
        wie zuletzt in Berlin belegen eindrucksvoll, in welchem
        Umfang in dieser Branche durch unehrliche Marktteil-
        nehmer Steuern und Abgaben hinterzogen werden . Laut
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24281
        (A) (C)
        (B) (D)
        einem im Auftrag der Stadt Berlin erstellten Gutachten
        hat eine Plausibilitätsprüfung ergeben, dass 80 Prozent
        der Berliner Taxibetriebe jenseits der betriebswirtschaft-
        lichen Plausibilität arbeiten . Mit dieser Wettbewerbsver-
        zerrung scheint die Bundesregierung kein Problem zu ha-
        ben, sonst hätte sie Taxameter und Wegstreckenzähler ja
        nicht von der Liste der aufzeichnungspflichtigen Geräte
        ausgenommen .
        Übrigens müssen aktuelle Taxameter laut EU-Richt-
        linie 2004/22/EG bzw . EU-Richtlinie 2014/32/EG be-
        reits heute Einzelaufzeichnungen führen . Die Taxameter
        könnten über eine ebenfalls bereits heute vorgeschriebe-
        ne Datenschnittstelle unproblematisch mit einer techni-
        schen Sicherheitseinrichtung verbunden werden, um Ma-
        nipulationen zu verhindern .
        Weiterhin kritisch zu bewerten sind die Sicherheitsan-
        forderungen bezüglich der Protokollierung von digitalen
        Grundaufzeichnungen in der Verordnung . Sicherheits-
        systeme, die diese Anforderungen erfüllen, sind noch
        nicht auf dem Markt, sondern müssen in den kommen-
        den Jahren entwickelt, getestet und vom Bundesamt für
        Sicherheit in der Informationstechnik zertifiziert werden.
        Wann diese Verfahren überhaupt praxistauglich einsatz-
        fähig sind, ist völlig ungewiss . Diese Situation wäre
        aber vermeidbar gewesen, wenn auf das einzig bekann-
        te Verfahren zum Schutz vor Manipulationen an Kassen
        zurückgegriffen worden wäre. Das bislang einzig nutz-
        bare System zur Verhinderung von Manipulationen an
        Kassensystemen, das sogenannte INSIKA-System, wird
        durch die Verordnung praktisch unbrauchbar, da es in der
        jetzigen Form die Voraussetzungen, die in der Verord-
        nung an eine zertifizierte Sicherheitseinrichtung gestellt
        werden, nicht erfüllen kann .
        Vor dem Hintergrund, dass erstens das INSIKA-Ver-
        fahren über Jahre von einer Bund-Länder-Arbeitsgrup-
        pe in Zusammenarbeit mit der PTB entwickelt und vom
        BMWi gefördert wurde, dass zweitens das INSIKA-Ver-
        fahren in Hamburg erfolgreich in der Praxis funktioniert
        hat, ist der faktische Ausschluss des INSIKA-Verfahrens
        nicht nachvollziehbar . Die von der Bundesregierung vor-
        gebrachten Argumente gegen das INSIKA-Verfahren
        überzeugen nicht . Im Gegenteil, das von der Bundesre-
        gierung präferierte System einer zertifizierten Sicher-
        heitseinrichtung weckt nicht nur bei uns, sondern auch
        auf Fachebene bei den Steuerprüfern und den Kassen-
        herstellern erhebliche Zweifel hinsichtlich Wirksamkeit,
        Umsetzbarkeit und Prüfaufwand .
        In diesem Zusammenhang möchte ich auch nochmal
        auf unsere kritischen Fragen zu den Kosten der Zertifi-
        zierungslösung hinweisen . Im Raum stehen Beträge von
        75 000 Euro für die Kassenhersteller . Es ist völlig klar,
        dass die Kassenhersteller diese Kosten auf Kassenkäufer
        abwälzen werden . Nicht nur nach unserer Einschätzung,
        sondern auch nach Meinung aller Experten wäre die
        INSIKA-Lösung deutlich preiswerter für die Wirtschaft
        gewesen .
        Da die vorgelegte Verordnung weder den Stand der
        Technik widerspiegelt noch die Problematik inhaltlich
        aufgreift, werden wir sie ablehnen müssen . Ich gehe da-
        von aus, dass der Finanzausschuss sich mit diesem The-
        ma zukünftig noch intensiv beschäftigen wird .
        Anlage 30
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
        brachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Än-
        derung des Telemediengesetzes (Tagesordnungs-
        punkt 33)
        Hansjörg Durz (CDU/CSU): Im Koalitionsvertrag
        haben wir vereinbart:
        Die Potenziale von lokalen Funknetzen (WLAN)
        als Zugang zum Internet im öffentlichen Raum müs-
        sen ausgeschöpft werden . . . . Rechtssicherheit für
        WLAN-Betreiber ist dringend geboten, etwa durch
        Klarstellung der Haftungsregelungen (Analog zu
        Accessprovidern) .
        Im vergangenen Sommer haben wir deshalb das
        Zweite Gesetz zur Änderung des Telemediengesetzes
        verabschiedet und darin einen Gleichklang sowie eine
        Gleichbehandlung von WLAN-Anbietern und Zugangs-
        providern festgelegt . Damit wurde der politische Wille,
        wie er im Koalitionsvertrag zum Ausdruck kam, umge-
        setzt .
        Nachdem die Änderung des Telemediengesetzes im
        Deutschen Bundestag beschlossen war, hat der EuGH im
        Fall „McFadden“ entschieden und ist dabei nicht – wie
        von vielen erwartet – dem Generalanwalt gefolgt . Auf-
        grund dieses Urteils ist nun die Bundesregierung zu der
        Auffassung gekommen, dass das geänderte Gesetz noch-
        mals verändert werden müsse . Das Bundeswirtschafts-
        ministerium hat daraufhin den heute zu beratenden Ent-
        wurf vorgelegt . Der Gesetzentwurf wird sehr kontrovers
        diskutiert, insbesondere werden die darin enthaltenen
        Sperren stark kritisiert .
        Nach ersten intensiven Beratungen innerhalb der
        Arbeitsgruppen, mit Juristen und Experten aus den ver-
        schiedenen Branchen, mit Verbänden und Unternehmen,
        lässt sich festhalten, dass aktuell drei Optionen auf dem
        Tisch liegen:
        Erstens . Erhalt des Status-quo/Passwort-Verschlüsse-
        lung: Bei der ersten Option erfolgt die Sicherung eines
        offenen WLAN durch Passwortverschlüsselung. Die
        Verschlüsselung muss vom Betreiber aber erst dann ein-
        gerichtet werden, nachdem er hierzu nach erster (richter-
        licher) Anordnung infolge einer Rechtsverletzung durch
        Dritte aufgefordert wurde . Erfolgt keine Rechtsverlet-
        zung, muss der Betreiber auch keine Sicherungsmaßnah-
        men ergreifen. Zudem fallen bei der ersten Aufforderung
        für den WLAN-Betreiber keinerlei Kosten, etwa Pro-
        zesskosten etc ., an . Bei dieser Option bleibt also der Sta-
        tus quo aus dem Zweiten TMG-Änderungsgesetz erhal-
        ten . Sie folgt gleichsam den sich aus dem EuGH-Urteil
        „McFadden“ ergebenden Anforderungen zur Sicherung
        eines offenen WLAN-Anschlusses.
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724282
        (A) (C)
        (B) (D)
        Zweitens. Abschaffung der Störerhaftung in Verbin-
        dung mit Seitensperrungen: Diese Option entspricht dem
        vorliegenden, neuen Gesetzentwurf: die Abschaffung
        jeglicher Haftungsrisiken für die Betreiber von offe-
        nem WLAN . Gleichzeitig räumt der Gesetzentwurf den
        Rechteinhabern jedoch einen Rechtsanspruch gegenüber
        den WLAN-Anbietern ein, bestimmte Seiten zu sperren .
        In der Konsequenz sind die Betreiber bei dieser Option
        von der Haftung befreit . Auf der anderen Seite kann es
        aber zu einer Art „Löschung auf Zuruf“, also zu unver-
        hältnismäßigen Sperrungen von Webseiten und Portsper-
        rungen am Router oder auch zu Datenmengenbegrenzun-
        gen, kommen .
        Drittens. Komplette Abschaffung der Störerhaftung
        ohne weitere Auflagen: Die dritte und letzte Option wird
        aus Sicht bestimmter Anbieter und von Teilen der Netz-
        gemeinde favorisiert: eine komplette Abschaffung der
        Störerhaftung ohne jegliche verpflichtende Auflagen für
        die WLAN-Betreiber .
        Diese dritte, vermeintlich einfachste Variante, näm-
        lich die Abschaffung der Störerhaftung ohne Auflagen,
        ist schlicht nicht umsetzbar, da sie den Schutz der Rech-
        teinhaber vollkommen unberücksichtigt lässt und gegen
        Europarecht verstößt . Diese Lösung – das müssen wir
        klipp und klar sagen – ist nicht europarechtskonform und
        verstößt gegen die bestehende EU-Urheberrechtsrichtli-
        nie. Dieser Ansatz der kompletten Abschaffung der Stö-
        rerhaftung ohne jegliche Haftungsregelungen und damit
        ohne jegliche Möglichkeit der Durchsetzung von Rech-
        ten bei Rechtsverletzungen durch Dritte ist nicht umzu-
        setzen . Es wäre nicht mit geltendem EU-Recht konform .
        Zudem haben wir auch in der Vergangenheit immer be-
        tont, dass gegenüber dem berechtigten politischen Anlie-
        gen einer schnellen Verbreitung von offenem WLAN die
        Rechte von Urhebern nicht zur Disposition stehen . Und
        sicherheitspolitische Aspekte gäbe es bei dieser Lösung
        auch noch zu diskutieren .
        Wir müssen uns daher intensiv mit den Möglichkeiten
        der beiden ersten Optionen, nämlich der Beibehaltung
        des Status quo oder aber der Abschaffung der Störerhaf-
        tung in Verbindung mit Sperren, befassen .
        Unser Ziel war immer: mehr offenes WLAN bei
        gleichzeitiger Rechtssicherheit für Nutzer, Betreiber und
        Rechteinhaber . Mit welchem der beiden Varianten errei-
        chen wir dieses Ziel besser?
        Im Zuge der Gespräche mit Fachleuten und Sachver-
        ständigen zu dem neuerlichen Gesetzentwurf hat sich
        keine eindeutige Einschätzung herauskristallisiert . Es
        gibt die eine Seite, die für die Beibehaltung des Status
        quo plädiert, und die andere, die für die vorgeschlagene
        dritte Änderung des Telemediengesetzes argumentiert .
        Diese beiden Sichtweisen gilt es im nun folgenden parla-
        mentarischen Verfahren abzuwägen .
        Trotz des Willens, möglichst schnell zu einer Lösung
        zu kommen, müssen wir doch sehr sorgfältig abwägen,
        welche Vorgehensweise tatsächlich mehr Rechtssicher-
        heit schafft.
        Axel Knoerig (CDU/CSU): Mit der Änderung des
        Telemediengesetzes im letzten Sommer haben wir die
        Ausweitung freier WLAN-Netze hierzulande vorange-
        trieben .
        Auch in meinem Wahlkreis wird zunehmend kostenlo-
        ses Internet angeboten: Immer mehr Kommunen stellen
        an zentralen Plätzen oder in öffentlichen Einrichtungen
        einen WLAN-Zugang bereit, zum Beispiel in Freibä-
        dern, Jugendzentren und Mehrgenerationenhäusern . Das
        kommt dem Ausbau einer modernen Infrastruktur und
        dem Tourismus bei uns im ländlichen Raum zugute .
        Mit dem Gesetz wurden auch viele innovative Projek-
        te angestoßen: So wurden im Rahmen des Luther-Jahres
        in der Stadt Wittenberg insgesamt 20 Hotspots eingerich-
        tet . Und bei Hannover gibt es bereits die ersten Parkbän-
        ke mit WLAN-Anschluss .
        Ganz aktuell in diesem Zusammenhang plant die EU
        ein neues Förderprogramm: Mit 120 Millionen Euro sol-
        len bis zu 8 000 Kommunen gefördert werden, um öffent-
        liche Internetzugänge bereitzustellen .
        Trotz dieser erfolgreichen Entwicklung sieht das Bun-
        deswirtschaftsministerium weiterhin Nachbesserungsbe-
        darf: Mit dem vorliegenden Entwurf des 3 . Telemedie-
        nänderungsgesetzes soll noch mehr Rechtssicherheit für
        WLAN-Anbieter geschaffen werden. Dabei müssen sie
        bereits seit der letzten Gesetzesänderung keine teuren
        Abmahngebühren mehr fürchten, sofern ein Rechtsver-
        stoß erstmals erfolgt .
        Diese Novelle, die noch dazu in kürzester Zeit ver-
        abschiedet werden soll, bringt viele Nachteile mit sich:
        Besonders kritisch ist der Punkt, dass künftig nicht nur
        WLAN-Anbieter von Unterlassungs- und Beseitigungs-
        ansprüchen befreit werden . Vielmehr sollen alle Zu-
        gangsanbieter davon entbunden werden, also auch die
        großen Telekommunikationsfirmen. Das würde klar zu-
        lasten von Rechteinhabern wie Künstlern oder Verlagen
        gehen .
        Diese wiederum sollen durch eine andere Neurege-
        lung gestärkt werden: So will man WLAN-Betreiber un-
        ter anderem dazu verpflichten, den Zugang zu bestimm-
        ten Webseiten zu sperren . Dabei ist aber Folgendes zu
        beachten:
        Erstens . Eine völlige Befreiung von Unterlassungs-
        und Beseitigungsansprüchen verstößt gegen europäi-
        sches Recht .
        Zweitens . Netzsperren sind erfahrungsgemäß wenig
        wirksam . Sie bedeuten zugleich einen hohen Aufwand
        für WLAN-Betreiber, da Sperrungen immer aktualisiert
        werden müssen . Die Folge sind neue Rechtsunsicherhei-
        ten und Einschränkungen der Informationsfreiheit .
        Wir haben also in der Koalition noch einiges zu dis-
        kutieren .
        Das Thema WLAN ist mit dem Thema Breitbandaus-
        bau eng verknüpft . Daher möchte ich auch hierzu etwas
        sagen: Mit unserem Bundesprogramm fördern wir den
        Breitbandausbau in ländlichen Region . Wir investieren
        4 Milliarden Euro bis 2018 für flächendeckendes schnel-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24283
        (A) (C)
        (B) (D)
        les Internet. Auch der Landkreis Diepholz profitiert von
        einer Förderung in Höhe von 15 Millionen Euro .
        Im Zuge der Planungen in den verschiedenen Regio-
        nen wird inzwischen eine Tendenz deutlich, die unsere
        Aufmerksamkeit erfordert: Und zwar zeigen einzelne
        Netzbetreiber nach Zusage der Fördermittel doch Inte-
        resse daran, zuvor als „weiße Flecken“ definierte Gebiete
        auszubauen . Dadurch werden viele bereits geplante Be-
        treibermodelle nachträglich unwirtschaftlich . Mit dieser
        Art von unfairer Vorteilsnahme wird der Breitbandaus-
        bau in ganzen ländlichen Regionen gefährdet . Hier be-
        steht ein Problem auf den Glasfasermärkten, das wir
        dringend angehen müssen . Nur so können wir schnelles
        Internet und WLAN in ganz Deutschland bekommen .
        Marcus Held (SPD): Wir behandeln heute in erster
        Lesung den Entwurf eines mittlerweile Dritten Gesetzes
        zur Änderung des Telemediengesetzes .
        Es ist noch nicht so lange her, dass wir den Zweiten
        Entwurf in ein Gesetz gegossen hatten . Jedoch hatte am
        15 . September 2016 dann der Europäische Gerichts-
        hof so entschieden, dass es für WLAN-Betreiber er-
        neut keine Rechtssicherheit mehr gab . Das wollen wir
        mit vorliegendem Gesetzentwurf nun endgültig ändern .
        WLAN-Betreiberinnen und -betreiber benötigen Rechts-
        sicherheit, wenn diese ihren WLAN-Zugang für die Öf-
        fentlichkeit zur Verfügung stellen .
        Und wir brauchen mehr öffentliches WLAN in
        Deutschland . Immer noch gibt es die WLAN-Wüste
        Deutschland . Der Zugang zum Internet gehört meiner
        Meinung nach mittlerweile zur öffentlichen Daseinsvor-
        sorge . Schulen, Bibliotheken, Cafés, aber auch Unterneh-
        men profitieren in hohem Maße davon. Insofern plädie-
        re ich dafür, schnellstmöglich diese Rechtssicherheit zu
        schaffen. Auch wenn es zeitlich ziemlich knapp ist, sollte
        das in dieser Legislaturperiode noch möglich sein . Dazu
        hat das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie
        einen sehr guten Vorschlag gemacht, auf dessen Grund-
        lage wir in der Koalition im Juni nun beraten können .
        Mir ist bewusst, dass es aufseiten der Innen- und Kul-
        turexperten Bedenken gegen das Gesetz gibt, weil eben
        Urheberrechtsverletzungen oder auch Sicherheitsrisiken
        gesehen werden, wenn es vermehrt offene WLAN-Netze
        gibt . Auch mit diesen Bedenken wollen wir uns während
        des Gesetzgebungsprozesses auseinandersetzen, um die-
        se auszuräumen . Hierzu besteht zumindest schon einmal
        das Instrumentarium der Evaluation des Gesetzes nach
        einer bestimmten Jahresfrist .
        Zur Wahrheit gehört aber auch, dass sich Gäste aus
        anderen europäischen Ländern, die ich oft hier in Ber-
        lin oder auch im Wahlkreis begrüßen darf, über das
        WLAN-unfreundliche Deutschland wundern . Besonders
        die ausländische Tourismusbranche schüttelt hier den
        Kopf, wie ich es alljährlich auf der Tourismusmesse ITB
        vernehmen kann .
        Als jemand, der aus einer touristisch aufstrebenden
        Region, nämlich Rheinhessen, kommt, ist es mir ein
        Herzensanliegen, dass wir hier zu einem guten Ergebnis
        kommen, wo wir es am Ende schaffen, es gesetzlich so
        rechtssicher zu machen, dass es zu keiner weiteren Ände-
        rung des Telemediengesetzes mehr kommen muss .
        Ich freue mich auf die anstehenden Beratungen mit
        meinen Fraktions- und Unionskollegen und danke dem
        Bundeswirtschaftsministerium schon einmal herzlich für
        seinen guten Gesetzentwurf .
        Lars Klingbeil (SPD): Der heute in erster Lesung
        zu beratende Entwurf für ein Drittes Gesetz zur Ände-
        rung des Telemediengesetzes (3 . TMGÄndG) ist not-
        wendig geworden, nachdem eine Entscheidung des Eu-
        ropäischen Gerichtshofes (EuGH) vom 15 . September
        2016 erneut Fragen hinsichtlich der Rechtssicherheit für
        WLAN-Hotspots aufgeworfen hat . Der Gesetzentwurf
        der Bundesregierung ist eine gute Grundlage, um das mit
        dem 2 . Telemedienänderungsgesetz verfolgte Ziel auch
        nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes
        zu erreichen .
        Mit dem 2 . Telemedienänderungsgesetz hat der Deut-
        sche Bundestag klargestellt, dass auch WLAN-Anbieter
        die volle Haftungsprivilegierung als Internetzugangsan-
        bieter (Access-Provider) genießen . Durch die Gleich-
        stellung von WLAN-Anbietern mit Access-Providern ist
        eine Haftung eines WLAN-Anbieters für Rechtsverlet-
        zungen Dritter ausgeschlossen . Ein Internetzugangsan-
        bieter kann damit weder zur Zahlung von Schadenersatz
        noch zur Tragung der Abmahnkosten und der gerichtli-
        chen oder außergerichtlichen Kosten im Zusammenhang
        mit der von einem Dritten begangenen Rechtsverletzung
        verpflichtet werden. Die Privilegierung der WLAN-Be-
        treiber schließt auch eine Inanspruchnahme auf Beseiti-
        gung und Unterlassung aus .
        Nicht ausgeschlossen hat auch das 2 . Telemedienän-
        derungsgesetz die Möglichkeit einer gerichtlichen An-
        ordnung, wie sie das europäische Recht vorgibt . Diese
        Anordnung darf aber nicht eine Verschlüsselungs- und/
        oder Registrierungspflicht zur Folge haben. Zwar hat der
        EuGH dies im Grundsatz bestätigt . Zugleich hat er aber
        festgestellt, dass ein Gericht oder eine nationale Behörde
        gegen einen WLAN-Betreiber eine Anordnung erlassen
        kann, um der Wiederholung einer Rechtsverletzung vor-
        zubeugen . Dies könne beispielsweise eine Anordnung
        zur Verpflichtung zur Verschlüsselung des Netzes und
        zur Registrierung der Nutzerinnen und Nutzer erreicht
        werden, wobei zahlreiche andere – weniger weitreichen-
        de – Möglichkeiten in dem Urteil nicht erwähnt werden .
        Unklarheit besteht darüber, wer die Kosten für eine sol-
        che gerichtliche Anordnung tragen muss .
        Das Urteil hat damit erneut Rechtsunsicherheit hervor-
        gerufen, da Anbieter nun fürchten, ihren WLAN-Hotspot
        verschlüsseln zu müssen und abgemahnt zu werden . Dies
        könnte beispielsweise dazu führen, dass Kommunen
        Investitionen in offene WLAN-Hotspots zurückstellen,
        weil sie befürchten müssen, dass ein Gericht ihnen diese
        Auflagen anordnet und sie sie schlichtweg nicht erfüllen
        können .
        Diese Rechtsunsicherheit soll durch die erneute An-
        passung des Telemediengesetzes beseitigt werden . Ich
        danke der Bundeswirtschaftsministerin Brigitte Zypries,
        dass sie die Initiative ergriffen und diesen Gesetzentwurf
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724284
        (A) (C)
        (B) (D)
        vorgelegt hat, um das wichtige Ziel der Koalitionsverein-
        barung und der Digitalen Agenda der Bundesregierung,
        Rechtssicherheit für WLAN-Betreiber zu schaffen, errei-
        chen zu können . Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
        wird der Umfang der Haftungsbeschränkung für Inter-
        netzugangsanbieter klar geregelt . Darüber hinaus werden
        diese weitgehend von der Kostentragungspflicht, insbe-
        sondere bei Abmahnungen, befreit . Schließlich sieht der
        Gesetzentwurf eine Klarstellung vor, dass WLAN-Be-
        treiber nicht von einer Behörde verpflichtet werden dür-
        fen, Nutzer zu registrieren, ihr WLAN nicht mehr anzu-
        bieten oder die Eingabe eines Passworts zu verlangen .
        Da die europarechtlichen Vorgaben der Urheber-
        rechts- und der Durchsetzungsrichtlinie explizit gericht-
        liche Anordnungen gegen Diensteanbieter vorschreiben,
        sieht der Gesetzentwurf zugleich vor, dass Rechteinhaber
        von den Diensteanbietern die „Sperrung der Nutzung der
        Information verlangen können, um die Wiederholung der
        Rechtsverletzung zu verhindern“ . Hierfür soll mit dem
        Entwurf eine „Anspruchsgrundlage für gerichtliche An-
        ordnungen“ gegen Access-Provider geschaffen werden.
        Ich sehe zwei Punkte, über die im parlamentarischen
        Verfahren noch geredet werden müsste: Der eine betrifft
        die Anspruchsgrundlage für gerichtliche Anordnungen .
        Eine solche Anordnung bedarf einer Grundrechtsab-
        wägung, weswegen ihr zwingend eine konstitutive ge-
        richtliche Anordnung vorausgehen muss . Damit einher
        geht die Frage der Kostentragung . Der zweite Punkt
        betrifft die notwendige Klarstellung, dass auch Gerichte
        WLAN-Anbieter nicht dazu verpflichten dürfen, die Ge-
        währung des Zugangs von a) der Registrierung der Nut-
        zer, b) der Verschlüsselung des WLAN-Netzes abhängig
        zu machen oder c) die Einstellung des WLAN-Angebots
        zu fordern . Diese Änderungen, die in ähnlicher Form
        auch seitens des Bundesrates gefordert werden, entspre-
        chen dem, worauf sich die Koalitionsfraktionen bereits
        mit dem 2 . Telemedienänderungsgesetz verständigt ha-
        ben . Von daher spricht aus meiner Sicht nichts dagegen,
        den Entwurf mit diesen Änderungen schnell zu beschlie-
        ßen und so wieder Rechtssicherheit für WLAN-Hotspots
        zu schaffen.
        Wir haben einen knappen Zeitplan, um das Gesetz
        noch bis zur Sommerpause zu verabschieden und um ein
        zentrales Vorhaben der Digitalen Agenda umzusetzen . Es
        ist gut, dass es der Bundeswirtschaftsministerin gelun-
        gen ist, diesen Kompromiss zu erreichen und diesen Ge-
        setzentwurf der Bundesregierung auf den Weg zu brin-
        gen . Nun liegt es an unserem Koalitionspartner, dieses
        wichtige Vorhaben nicht zu gefährden. Offenbar gibt es
        aber Überlegungen in der Unionsfraktion, diesen in der
        Bundesregierung gefundenen Kompromiss grundsätzlich
        infrage zu stellen .
        Aus Sicht der SPD-Fraktion kann ich daher nur fest-
        stellen, dass die rote Linie für uns der bereits mit dem
        2 . Telemedienänderungsgesetz gefundene Kompromiss
        darstellt, den der Gesetzentwurf nochmals klarstellt .
        Auf dieser Grundlage können wir uns im Parlament sehr
        schnell auf eine weitere Novellierung des Telemedienge-
        setzes verständigen, um auch nach dem Urteil des EuGH
        Rechtssicherheit für öffentliche WLAN-Hotspots sicher-
        zustellen . Eine Verschlechterung der jetzigen Rechtslage
        darf es auf keinen Fall geben . Dies widerspräche auch
        diametral dem Koalitionsvertrag und der Digitalen Agen-
        da .
        Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Die Störerhaftung für
        WLAN-Betreiber ist ein Paradebeispiel dafür, wie man es
        sich als Gesetzgeber mit einem sehr einfachen Problem
        sehr lange sehr schwer machen kann . Das Problem: Wer
        in Deutschland ein für die Öffentlichkeit zugängliches
        WLAN betreibt, setzt sich der Gefahr aus, für Rechts-
        verstöße geradestehen zu müssen, die andere unter Be-
        nutzung dieser Internetverbindung begehen . Die Folge:
        Offene WLAN-Netze sind in Deutschland im Vergleich
        zu anderen Ländern Mangelware, obwohl sie einen wich-
        tigen Baustein für den Zugang zu digitaler Infrastruktur
        darstellen .
        Spätestens seit einem Urteil des BGH von 2010 ist
        auch klar, dass der Gesetzgeber gefordert ist, sich dieses
        Problems anzunehmen . So einfach wie das Problem ist,
        so simpel wäre auch die Lösung: Es braucht nichts ande-
        res als eine gesetzliche Klarstellung, dass WLAN-Betrei-
        ber in dieser Hinsicht genauso zu behandeln sind wie alle
        anderen Zugangsanbieter . Das Problem schien dann ir-
        gendwann auch erkannt gewesen zu sein: Jedenfalls kün-
        digt der Koalitionsvertrag von 2013 an, Rechtssicherheit
        für WLAN-Betreiber zu schaffen und sie bei der Haftung
        analog zu anderen Zugangsanbietern zu behandeln .
        Passiert ist dann erst einmal nichts . 2014 kam die Di-
        gitale Agenda; da haben Sie das noch einmal bekräftigt
        und einen Gesetzentwurf „in Kürze“ angekündigt . Kurz
        danach haben wir selbst einen Gesetzentwurf einge-
        bracht, der das Problem vollumfänglich gelöst hätte . Den
        haben Sie natürlich abgelehnt .
        Erst 2016 kam dann Ihr Gesetzentwurf . Nur ist der an
        das Gesetz so halbgar herangegangen, dass das eigentli-
        che Problem immer noch nicht gelöst wurde, selbst nach-
        dem einiger, noch größerer Unfug daraus entfernt wurde .
        Damals habe ich im Plenum dazu gesprochen und Ihnen
        angekündigt, dass mit Ihrem Entwurf weitere Rechts-
        streitigkeiten folgen werden, weil Sie immer noch keine
        Haftungsfeststellung für Unterlassungsansprüche vor-
        sehen . Damals haben die Kollegen von CDU und SPD
        dazwischengerufen – ich habe noch einmal ins Protokoll
        gesehen –, das würde alles gar nicht stimmen und wäre
        ein völlig falsches Rechtsverständnis .
        Jetzt – ein Jahr später – legt die Bundesregierung ei-
        nen Gesetzentwurf vor, in dem sie feststellt, dass wei-
        tere Rechtsstreitigkeiten gefolgt sind und dass es jetzt
        notwendig wäre, eine Haftungsfreistellung für Unter-
        lassungsansprüche vorzusehen . Welche Überraschung!
        Gerne würde ich mich darüber freuen, dass nun endlich
        das erreicht ist, was schon vor Jahren sehr leicht zu ha-
        ben gewesen wäre . Aber Sie haben es zustande gebracht,
        auch in diesen Entwurf schon wieder einen Fallstrick
        einzuflechten: Die Anbieter von WLAN-Zugängen sol-
        len nun ausgerechnet zur Einrichtung von Netzsperren
        verpflichtet werden können.
        Und da fallen wir nach dem großen Bogen von 2010
        zu heute auf einmal auf den Diskussionsstand von 2009
        zurück und müssen wohl ernsthaft wieder über Löschen
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24285
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        statt Sperren reden . Meine Damen und Herren: Wir müs-
        sen uns vielleicht Sisyphos als glücklichen Menschen
        vorstellen . Aber bitte nicht als vorbildlichen Netzpoliti-
        ker .
        Dieter Janecek (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Dass die digitale Infrastruktur in diesem Land längst
        noch nicht da ist, wo wir sie alle gerne sehen würden, hat
        einen Grund: Und zwar diese Bundesregierung .
        Ausnahmsweise möchten wir in diesem Zusammen-
        hang nicht Herrn Dobrindt in die Pflicht nehmen, sondern
        was das bis heute andauernde Versagen der Bundesregie-
        rung betrifft, endlich Rechtssicherheit für Betreiber von
        öffentlichem WLAN herzustellen, so heißen die verant-
        wortlichen Ministerinnen und Minister Zypries, Gabriel,
        Rösler und Brüderle .
        Die verschiedenen Namen zeigen schon einmal die
        zeitliche Dimension des Problems; zu den inhaltlichen
        Dimensionen komme ich später:
        Das Versprechen der Bundesregierung von Frau
        Merkel, die sogenannte Störerhaftung zu beseitigen und
        endlich eine rechtssichere Bereitstellung von öffentli-
        chem WLAN zu ermöglichen, ist über den Zeitraum
        von mittlerweile beinahe zwei Legislaturperioden im-
        mer wieder erneuert worden . Weil es immer noch nicht
        eingelöst wurde und leider auch der vorliegende Gesetz-
        entwurf einmal mehr am Ziel vorbeischießt, wird dieses
        Versprechen durchaus zu Recht schon als Running Gag
        der Digitalpolitik dieser Bundesregierung bezeichnet .
        Das Spiel war und ist dasselbe: Grundsätzlich unter-
        stützenswerte Vorhaben werden im Zuge der digitalpoli-
        tischen Gehversuche dieser Bundesregierung in gesetzli-
        che Regelungen übersetzt, die diesen Vorhaben ganz und
        gar nicht gerecht werden oder aber an den entscheiden-
        den Stellen so unpräzise sind, dass sie auf die Auslegung
        von Gerichten angewiesen sind. Auf die offensichtlichen
        Fehler der Vergangenheit wird dann eine Form von re-
        gulativem Pflaster geklebt, im selben Zuge dann aber
        wiederum völlig ohne Not ein bisher noch ungesehenes
        regulatives Gespenst in die Debatte gezerrt, das abermals
        zu Verwirrung und Rechtsunsicherheiten führt .
        Auch im vorliegenden Gesetzentwurf ist das grund-
        sätzlich formulierte Vorhaben der Bundesregierung nicht
        nur begrüßenswert, sondern das, worauf wir seit Jahren
        warten: Dass eine längst überfällige Befreiung der Diens-
        teanbieter von Haftung und Abmahnkosten im Zusam-
        menhang mit Rechtsverstößen Dritter bereits das Ziel
        der letzten Änderungen am Telemediengesetz durch die
        Bundesregierung im vergangenen Jahr war, sagt die Bun-
        desregierung an dieser Stelle selbst .
        Neben der wichtigen Klarstellung, dass die Haftungs-
        befreiung auch für die Kosten für gerichtliche Unterlas-
        sungsanordnungen gilt, sollen WLAN-Betreiber zudem
        nicht von Behörden verpflichtet werden können, Nutzer
        zu registrieren oder eine Passworteingabe zu verlangen .
        Bedauerlicherweise sind entsprechende Anordnungen
        durch Gerichte aber nach wie vor möglich . Hier hat die
        Bundesregierung auch eine entsprechende Anregung des
        Bundesrates abgelehnt .
        Wiederum völlig ohne Not bringt sie im vorliegenden
        Entwurf gleich zwei neue Gespenster in die parlamenta-
        rische und öffentliche Debatte ein:
        Erstens sollen WLAN-Betreiber durch Anordnun-
        gen einer Behörde nun zur temporären Einstellung ihrer
        Dienste verpflichtet werden können. Die vagen Verweise
        auf die Abwehr von Gefahren und entsprechende Rechts-
        grundlagen erwecken nicht den Eindruck, als ob hierbei
        zukünftig kritische Interpretationsspielräume ausge-
        schlossen seien .
        Zweitens schafft die Bundesregierung einen Anspruch
        von Rechteinhabern gegenüber Zugangsanbietern, die
        Sperrung der Nutzung von Informationen zu verlangen,
        und bringt in diesem Zusammenhang von sich aus Netz-
        sperren von bestimmten Ports und Seitenzugriffen ins
        Spiel . Davon abgesehen, dass Netzsperren nicht umsonst
        höchst umstritten sind: Entgegen der eigentlichen Ziel-
        vorgabe dieses Gesetzentwurfs müssten WLAN-Betrei-
        ber die Kosten eines verlorenen Widerspruchs tragen,
        wenn sie sich sozusagen dem „Zuruf“ eines Rechtein-
        habers und dessen Forderung eine Netzsperre entziehen
        und der Rechteinhaber vor Gericht gewinnen sollte .
        Wohin das führt, haben Verbraucherschützer, Bür-
        gerrechtlerinnen und Wirtschaftsverbände in ihrer doch
        sehr deutlichen Kritik dargelegt: Große Diensteanbieter
        befürchten, bevorzugtes Ziel von Sperranforderungen zu
        werden; kleine und private WLAN-Betreiber fürchten,
        aufgrund des mit Sperranforderungen einhergehenden
        technischen und bürokratischen Aufwands sowie auf-
        grund des finanziellen Risikos kein offenes WLAN an-
        bieten zu können . Ich befürchte, beide haben Recht .
        In jedem Fall führt diese Regelung zu Wettbewerbs-
        verzerrungen . Zusätzlich zum Risiko eines Overblock-
        ing, von dem zumal auch einige vielfach genutzte legale
        Angebote betroffen sein dürften, besteht durch die mög-
        licherweise drohenden Gerichtskosten genau eines nicht:
        Rechtssicherheit .
        Da hilft es auch nicht, dass sich die Bundesregierung
        in ihrem Legislaturbericht Digitale Agenda, zu dem wir
        ja auch morgen noch diskutieren werden, bereits ausführ-
        lich dafür lobt, einen sicheren Rechtsrahmen für WLAN
        geschafft zu haben – noch vor dem aktuell hier laufenden
        parlamentarischen Verfahren . Was hier auf Hochglanzpa-
        pier gedruckt wurde, ist nicht mehr als das, was es seit
        nunmehr bald sieben Jahren ist: ein uneingelöstes Ver-
        sprechen .
        Anlage 31
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
        brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
        des Bundesversorgungsgesetzes und anderer Vor-
        schriften (Tagesordnungspunkt 34)
        Jutta Eckenbach (CDU/CSU): Der Staat hat die
        Aufgabe, den Opfern unter unseren Soldaten, Wehr-
        dienstleistenden oder Opfern von Gewalttaten mit staat-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724286
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        lichen Leistungen zu helfen . Unter anderem ist diese
        Aufgabe im Bundesversorgungsgesetz geregelt . Die Hil-
        fen können vielfältiger Art sein, und es ist ein besonders
        wichtiger Aspekt, dass es beim zusätzlichen Bezug von
        Sozialleistungen auch einen entsprechenden angemesse-
        nen, nicht anrechenbaren Vermögensfreibetrag gibt .
        Den Freibetrag im Sozialgesetzbuch XII haben wir
        bereits im Rahmen des Bundesteilhabegesetzes angeho-
        ben, um auch dem Personenkreis im Sozialgesetzbuch
        XII eine Verbesserung zu verschaffen, welche wir der
        Gruppe von relativ gut verdienenden Arbeitnehmern mit
        Behinderungen durch höhere Einkommensfreigrenzen in
        der Eingliederungshilfe auch gegeben hatten . Nun stel-
        len wir auch bei den Leistungsempfängern nach dem
        Bundesversorgungsgesetz und den Gesetzen, die eine
        Anwendung des BVG vorsehen, also unter anderem dem
        Opferentschädigungsgesetz, sicher, dass der Vermögens-
        schonbetrag angehoben wird .
        Diesen Gesetzentwurf nutzen wir zugleich, um eine
        ganze Reihe von Änderungsanträgen anzuhängen, wel-
        che eine enorme Bandbreite widerspiegeln .
        Wir ändern das Opferentschädigungsgesetz, um deut-
        schen Opfern von Gewalttaten im Ausland – die hof-
        fentlich nicht stattfinden werden – eine höhere Leistung
        zukommen zu lassen . Diese Beträge sind seit 2009 nicht
        verändert worden, und wir halten diese Erhöhung für not-
        wendig und angemessen . Weitere Änderungen im OEG
        besprechen und diskutieren wir seit langem, und wir sind
        auf einem guten Weg, diese intensiven Vorbereitungen
        abzuschließen . Dann können wir in der kommenden
        Wahlperiode dieses wichtige Projekt auf Grundlage die-
        ser langwierigen Vorarbeit angehen .
        Eine andere wichtige Änderung betrifft das Asylrecht.
        Bereits 2015 gab es Hinweise von Leistungsbehörden,
        zum Beispiel Jobcentern, die bei unklarer Identität des
        Antragstellers gerne eine Überprüfung der Fingerabdrü-
        cke durchführen wollten . Das gab die Rechtslage aber
        nicht her . Nun wird es möglich sein, dass bei Bezug von
        Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz und
        bei Zweifeln über die Identität ein Fingerabdruckscan
        vorgenommen werden kann . Damit werden Leistungs-
        missbrauch und – was genauso wichtig ist – Mehrfach-
        identitäten verhindert .
        Der Mindestlohn begleitet uns durch die gesamte
        Wahlperiode, und wir werden nun eine ganz besondere
        Lücke schließen . Viele freie Träger zum Beispiel in der
        Jugendhilfe beteiligen sich an Ausschreibungen für Aus-
        und Weiterbildungsdienstleistungen nach den Sozialge-
        setzbüchern II und III bei der Bundesagentur für Arbeit
        und gerieten immer wieder ins Hintertreffen, wenn sie mit
        bestimmten anderen Anbietern konkurrieren mussten . Es
        gab immer wieder Anbieter – die BA spricht von circa
        16 Prozent –, die den in der Weiterbildungsbranche gere-
        gelten tariflichen Mindestlohn nicht zahlen müssen und
        somit auch nicht in das Angebot einfließen ließen, wenn
        sie die ausgeschriebene Dienstleistung nicht überwie-
        gend, also zu mindestens 50 Prozent, angeboten hatten .
        Dieses Überwiegensprinzip verursachte also eine Lücke
        in der Kalkulation zulasten der Träger, die den tariflichen
        Mindestlohn zahlen . Diese Lücke schließen wir nun, in-
        dem bei öffentlichen Aufträgen alle zur Zahlung des ta-
        riflichen Mindestlohns verpflichtet werden können. Das
        ist im Interesse der bisher benachteiligten Träger, aber
        auch insgesamt aller Beschäftigten bei allen Trägern . Die
        öffentliche Anhörung hat ergeben, dass auch von einer
        Qualitätssteigerung auszugehen ist, da mithilfe dieser
        Neuregelung die Fachkräftegewinnung leichter wird .
        Außerdem passen wir das Steuerverfahrensrecht an
        die EU-Datenschutz-Grundverordnung an, die zum
        25 . Mai 2018 in Kraft treten wird . Im Bereich der Sozial-
        daten gab es in der öffentlichen Anhörung keine Zweifel,
        dass unser hohes Datenschutzniveau erhalten bleibt .
        Eine große Baustelle sind die Arbeitsbedingungen in
        der Fleischwirtschaft. Da die Selbstverpflichtung der In-
        dustrie nicht wirklich viel gebracht hat, werden wir heute
        eine eigens für die Fleischindustrie geschaffene gesetzli-
        che Regelung verabschieden . Hier wird es Änderungen
        geben, die die Rechte der Beschäftigten stärken . So soll
        vermieden werden, dass die Beschäftigten beispielsweise
        Arbeitsschutzkleidung selbst bezahlen sollen . Auch die
        Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen soll sicher-
        gestellt werden durch die Einführung einer Beitragshaf-
        tung. Wichtig ist auch die Verpflichtung zur Aufzeich-
        nung der Arbeitszeiten .
        Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU): Die Verbes-
        serungen, die wir mit dem Bundesteilhabegesetz bei der
        Anrechnung von Einkommen und Vermögen erreichen
        konnten, waren immens. Es profitieren nun vor allem die-
        jenigen, die Eingliederungshilfe beziehen und auf dem
        ersten Arbeitsmarkt tätig sind . Uns war es aber ebenfalls
        immer ein großes Anliegen, dass auch die von der Re-
        form profitieren, die nicht selbst für sich sorgen können –
        oft sind das geistig und psychisch behinderte Menschen
        in Werkstätten . Deshalb wurde der Vermögensschonbe-
        trag für Grundsicherungsempfänger des SGB XII ange-
        hoben . Per Verordnung wurde der Sparerfreibetrag zum
        1 . April dieses Jahres von 2 600 Euro auf 5 000 Euro fast
        verdoppelt. Das ist eine gute Sache für die Betroffenen!
        Wie so oft bei Änderungen in Sozialgesetzbüchern
        bedingt das eine jedoch auch anderes . An den Vermö-
        gensschonbeträgen in der Sozialhilfe orientieren sich
        zum Beispiel auch die Schonbeträge im Bundesversor-
        gungsgesetz und der Kriegsopferfürsorge . Dort sind sie
        allerdings grundsätzlich etwas großzügiger gestaltet,
        um dem Aufopferungsgedanken angemessen Rechnung
        zu tragen . Durch die Erhöhung der Beträge im SGB XII
        wäre dieser Personenkreis nun schlechtergestellt worden .
        Daher wird auch das Schonvermögen im Bundesversor-
        gungsgesetz und in der Kriegsopferfürsorge-Verordnung
        angehoben . Das ist nicht nur eine logische Anschlussän-
        derung, sondern eine Selbstverständlichkeit im Umgang
        mit den Betroffenen.
        Das vorliegende Gesetz beinhaltet jedoch noch einen
        großen Anhang an weiteren Gesetzesänderungen . Neben
        vielen redaktionellen Ausbesserungen stehen dabei vor
        allem folgende Änderungen im Mittelpunkt:
        Erstens . Es wird eine Mindestlohnlücke geschlossen .
        Träger von Aus- und Weiterbildungsdienstleistungen
        nach SGB II oder SGB III können nun bei der Ausfüh-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24287
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        rung öffentlicher Aufträge zur Zahlung des Mindestlohns
        verpflichtet werden. Gerade an dieser sensiblen Stelle
        können nun also gerechte Löhne garantiert werden . Da-
        rüber hinaus werden explizit die Rechte der Beschäftig-
        ten in der Fleischindustrie gestärkt . Das ist nötig, weil die
        Fleischindustrie nicht ohne Grund öfter für ihre Arbeits-
        bedingungen kritisiert wird .
        Zweitens . Im nächsten Jahr wird die EU-Daten-
        schutz-Grundverordnung unmittelbar geltendes Recht in
        allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union . Das ge-
        samte deutsche Datenschutzrecht muss deshalb auf seine
        Vereinbarkeit mit der Verordnung überprüft werden . Än-
        derungsbedarf wurde bereits im Steuerverfahrensrecht
        und beim Sozialdatenschutz erkannt . Besagte Gesetze
        werden deshalb im Sinne der Datenschutzverordnung
        angepasst .
        Drittens . Behörden erhalten nun die Möglichkeit, bei
        Zweifeln über die Identität eines Asylbewerbers per Fin-
        gerabdruckscanner seine Identität prüfen zu lassen . Ziel
        ist es, einen Leistungsmissbrauch durch Identitätstäu-
        schung zu vermeiden . Alle Sozialbehörden sollen mit
        einem solchen Scanner ausgestattet werden . Gerade vor
        dem Hintergrund der jüngsten Geschehnisse ist eine sol-
        che Möglichkeit wichtig . Der Sozialstaat darf sich nicht
        auf der Nase herumtanzen lassen . Der Leistungsberech-
        tigte hat dabei eine Mitwirkungspflicht. Ihm drohen also
        Kürzung oder Entzug der Leistungen, wenn er seinen
        Fingerabdruck nicht zur Verfügung stellt .
        Alles in allem werden mit dem zu beschließenden Ge-
        setz also keine Paradigmenwechsel eingeleitet . Es wer-
        den aber sinnvolle und notwendige Änderungen und Er-
        gänzungen vorgenommen, weil Gutes immer noch besser
        gemacht werden kann!
        Dr. Matthias Bartke (SPD): Es ist jetzt genau ein
        halbes Jahr her, dass wir im Deutschen Bundestag das
        Bundesteilhabegesetz beschlossen haben . Dieses Gesetz
        ist aus den verschiedensten Gründen ein ganz besonde-
        res . Dazu zählt vor allem, dass wir schon beim Entste-
        hungsprozess dem Motto gefolgt sind: „Nichts über uns
        ohne uns“ . Das Bundesteilhabegesetz ist aber auch ein
        besonders eindrucksvolles Beispiel für das Struck’sche
        Gesetz: „Kein Gesetz kommt aus dem Parlament so he-
        raus, wie es eingebracht worden ist .“
        Zu den zahlreichen Verbesserungen, die wir im parla-
        mentarischen Verfahren erreicht haben, gehört auch die
        Anhebung des Vermögensschonbetrags in der Sozialhil-
        fe . Statt wie bisher 2 600 Euro gelten nun 5 000 Euro als
        kleinere Barbeträge oder sonstige Geldwerte . Von Ver-
        mögen in dieser Höhe darf die Sozialhilfe nicht abhängig
        gemacht werden .
        Damit haben wir den finanziellen Freiraum für Bezie-
        her von Sozialhilfe deutlich erhöht . Das gilt vor allem
        für Beschäftigte in Werkstätten für Menschen mit Behin-
        derungen, wenn sie auf Leistungen der Grundsicherung
        angewiesen sind . Sie können nun auch auf eine größere
        Anschaffung sparen – ganz nach eigenem Gutdünken.
        Vermögensschonbeträge sind aber nicht nur für die
        Sozialhilfe geregelt. Sie findet man auch im Bundes-
        versorgungsgesetz und in der Verordnung zur Kriegs-
        opferfürsorge . Diese Regelungen sind aber schon seit
        Jahrzehnten günstiger ausgestaltet als die Regelungen
        zur Sozialhilfe . Und das nicht ohne Grund: Das Bundes-
        versorgungsgesetz regelt die staatlichen Leistungen für
        Personen, die durch Krieg, militärischen oder militärähn-
        lichen Dienst einen gesundheitlichen Schaden erlitten
        haben . Es regelt auch die Leistungen für ihre Hinterblie-
        benen . Die höheren Schonbeträge sollen dem Gedanken
        des Sonderopfers Rechnung tragen .
        Dabei soll es auch in Zukunft bleiben . Wir heben da-
        her auch die Vermögensschonbeträge in der Verordnung
        zur Kriegsopferfürsorge an . Damit werden wir weiterhin
        der besonderen Lebenslage der Betroffenen und dem
        Charakter des sozialen Entschädigungsrechts gerecht .
        Dem Gesetzentwurf geben wir außerdem eine ganze
        Reihe von Änderungen mit auf den Weg . Dazu zählen
        unter anderem gleich mehrere redaktionelle Änderungen,
        vor allem im Bundesteilhabegesetz . Wo gehobelt wird,
        da fallen Späne. Und manchmal fliegen die Späne eben
        auch in die falsche Richtung . Es ist deswegen gut, dass
        wir sie hier wieder einsammeln und entsprechende re-
        daktionelle Anpassungen vornehmen .
        Der Änderungsantrag gibt aber nicht nur Raum für
        die Berichtigung von Redaktionsversehen . Wir setzen
        damit noch verschiedenste Vorhaben um, die uns zum
        Teil schon eine ganze Weile durch die Legislatur beglei-
        ten. Dazu gehört der vergabespezifische Mindestlohn
        für Aus- und Weiterbildungsdienstleistungen nach dem
        Zweiten und Dritten Buch Sozialgesetzbuch . Das Gesetz
        zur Modernisierung des Vergaberechts haben wir schon
        Ende 2015 beschlossen . Durch diese Reform haben wir
        soziale Aspekte bei der Beschaffung umfassend gestärkt.
        In Bezug auf die Arbeitsmarktdienstleistungen konnten
        wir außerdem konkrete Qualitätskriterien durchsetzen .
        Damit haben wir einen großen Schritt gemacht für mehr
        Qualität bei Aus- und Weiterbildungsdienstleistungen .
        Das war für uns in der SPD von höchster Priorität .
        An einem Punkt haben wir uns aber doch noch ge-
        rieben: Den Zuschlag bekommt nach wie vor das wirt-
        schaftlichste Angebot, was sich eben nach dem besten
        Preis-Leistungs-Verhältnis bestimmt . Damit bleibt beim
        Vergabeverfahren im Zweifelsfall derjenige zurück, der
        nach besserem Tariflohn zahlt und daher einen höheren
        Preis verlangt .
        Zwar gibt es einen Mindestlohn für die Aus- und Wei-
        terbildungsbranche . Das sogenannte Überwiegensprin-
        zip ist aber der Grund, weshalb nicht alle Träger diesen
        Tariflohn zahlen müssen. Die Arbeitgeber sind zur Ent-
        lohnung nach Tarifvertrag nämlich nur dann verpflich-
        tet, wenn mindestens 50 Prozent der Arbeitszeit in ihrem
        Betrieb auf die vom Tarifvertrag erfassten Tätigkeiten
        entfallen .
        Viele Weiterbildungseinrichtungen bieten ihre Leis-
        tungen aber auch für private Unternehmen oder im Rah-
        men von europäischen Förderprogrammen an . Wenn sie
        ihre Angebotspalette auf diese Weise vergrößern, fällt der
        Anteil ihrer Dienstleistungen im Bereich der Aus- und
        Weiterbildung nach dem SGB II und SGB III schnell un-
        ter die 50 Prozent . Sie müssen dann also nicht den Min-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724288
        (A) (C)
        (B) (D)
        destlohn der Aus- und Weiterbildungsbranche bezahlen
        und haben damit einen Kostenvorteil bei der Vergabe .
        Das Resultat ist ein Preiswettbewerb, der auf Kosten der
        Qualität und des Personals geht .
        Es ist klar, dass uns das in der SPD ein Dorn im Auge
        blieb . Im Zuge der Vergaberechtsmodernisierung konn-
        ten wir dieses Problem leider noch nicht lösen . Ein Pro-
        blem, das außerdem mit europarechtlichen Bedenken
        behaftet war . Ich bin froh, dass wir diese – auch durch
        unsere große Beharrlichkeit – endlich aus dem Weg ge-
        räumt und eine Lösung gefunden haben .
        Durch den nun vorgesehenen Vergabemindestlohn
        werden auch die Träger zur Entlohnung nach Tarifvertrag
        verpflichtet, die nicht dem Tariflohn der Aus- und Wei-
        terbildungsbranche unterliegen . Damit sichern wir die
        faire Entlohnung des Personals. Wir erhoffen uns, dass
        die bessere Bezahlung die Motivation der Beschäftigten
        steigert und es zu weniger Personalfluktuation kommt.
        Mit dem Vergabemindestlohn verhindern wir außerdem
        ungerechtfertigte Preisvorteile. Das schafft mehr Chan-
        cengleichheit zwischen den Trägern .
        Am Ende gewinnt die Qualität. Davon profitieren in
        jedem Jahr Tausende von Menschen, deren Aus- und
        Weiterbildung über ihre Beschäftigungsmöglichkeiten,
        ihre Jobsicherheit und Aufstiegschancen entscheidet .
        Ich habe an dieser Stelle nur eine der zahlreichen Än-
        derungen vorgestellt . Ich will Ihnen aber versichern, dass
        jede einzelne wohl bedacht ist . Ich freue mich, dass sie
        nicht der wenig verbliebenen Zeit bis zum Ende der Le-
        gislatur zum Opfer fielen, sondern in gemeinsamer An-
        strengung heute zur Abstimmung gebracht wurden .
        Frank Junge (SPD): Im vergangenen Jahr hat der
        Deutsche Bundestag mit dem Steuermodernisierungs-
        gesetz die rechtlichen Voraussetzungen für den umfas-
        senden Einsatz der elektronischen Datenverarbeitung im
        Besteuerungsverfahren geschaffen. Dadurch wird künf-
        tig die Abgabe der Steuererklärung vereinfacht und die
        Arbeit der Finanzämter effizienter gemacht. Einen ent-
        scheidenden Teil haben wir im damaligen Gesetz jedoch
        bewusst ausgeklammert: das Thema Datenschutz . Grund
        war damals, dass wir die Implementierung der europäi-
        schen Datenschutz-Grundverordnung abwarten wollten,
        um anschließend die spezifischen datenschutzrechtlichen
        Regelungen für das Besteuerungsverfahren optimal an-
        passen zu können . Diese Datenschutz-Grundverordnung
        tritt nun am 25 . Mai 2018 in Kraft .
        Da sich das zunächst geplante Anpassungsgesetz unter
        der Federführung des Bundesministeriums des Inneren
        verzögert, nehmen wir die das Besteuerungsverfahren
        betreffenden Änderungen nun im Rahmen des Gesetzes
        zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes und an-
        derer Vorschriften vor. Ich sage ganz offen: Ich bin mit
        dieser Vorgehensweise nicht glücklich . Ich hätte mir ge-
        wünscht, wir hätten uns ausführlicher mit dem Thema
        und den notwendigen gesetzlichen Änderungen ausei-
        nandersetzen können .
        Es gibt aber auch einen guten Grund, das Gesetzge-
        bungsverfahren noch in dieser Legislaturperiode abzu-
        schließen. Auf diese Weise schaffen wir Klarheit über
        die datenschutzrechtlichen Regelungen, auf die sich die
        Finanzverwaltung und die Steuerpflichtigen einstellen
        müssen .
        Ich bin der Auffassung, dass die vorliegenden An-
        passungen im Bereich des Datenschutzes sinnvoll und
        vertretbar sind. Wir treffen mit dem Gesetz wesentliche
        Regelungen zu den Informationspflichten der Finanz-
        behörden und den Auskunfts-, Berichtigungs- und Lö-
        schungsrechten der Betroffenen. Die Steuerpflichtigen
        haben ein umfassendes Auskunftsrecht über ihre Daten
        gegenüber der Finanzbehörde .
        Bei der Auskunftserteilung müssen allerdings die Be-
        lange des Steuerpflichtigen mit den Erfordernissen einer
        wirkungsvollen Bekämpfung der Steuerhinterziehung
        abgewogen werden . Ich halte es deshalb für richtig, dass
        die Auskunftserteilung dann verweigert werden kann,
        wenn die Informationen den Steuerpflichtigen in die
        Lage versetzen könnten, steuerlich bedeutsame Sachver-
        halte zu verschleiern oder Spuren zu verwischen .
        Die Finanzbehörden müssen die Ablehnung der Aus-
        kunftserteilung begründen. Zudem kann der Betroffene
        Widerspruch beim Bundesdatenschutzbeauftragten ein-
        reichen .
        Auf Drängen der SPD-Fraktion konnten zwei ent-
        scheidende Erfolge in den Beratungen mit dem Koaliti-
        onspartner und im Finanzausschuss erzielt werden:
        Zum einen haben wir dafür gesorgt, dass die Behör-
        de des Bundesdatenschutzbeauftragten, die künftig die
        Zuständigkeit über die Aufsicht der Finanzbehörden hin-
        sichtlich der Verarbeitung personenbezogener Daten inne
        hat, auch mit entsprechenden Mitteln ausgestattet wer-
        den soll . Hierzu heißt es im Bericht des federführenden
        Ausschusses für Arbeit und Soziales: „Die Bundesbeauf-
        tragte wird für die sachgerechte Ausübung ihrer neuen
        Kompetenzen allerdings zusätzliches Personal und zu-
        sätzliche Sachmitteln benötigen . Hierfür ist hinreichende
        Haushaltsvorsorge zu treffen.“ Ich erwarte deshalb, dass
        die Behörde mit ausreichend Personal und Sachmitteln
        ausgestattet wird .
        Des Weiteren ist es uns gelungen, die Rechte der Steu-
        erpflichtigen gegenüber der Finanzbehörde noch einmal
        zu stärken . Wir haben etwa im Bericht des federführen-
        den Ausschusses Beispiele für die „geeigneten Maß-
        nahmen“ aufgenommen, die die Finanzbehörden zum
        Schutz der betroffenen Personen ergreifen sollen, wenn
        eine Auskunft durch die Behörde unterbleibt . Dies ist
        zum einen die Bereitstellung allgemeiner Informatio-
        nen für die Öffentlichkeit, zum Beispiel in Form einer
        Informationsbroschüre oder einer Veröffentlichung auf
        der Website der Finanzverwaltung . Zum Zweiten muss
        die Informationsausgabe der Finanzbehörden umgehend
        erfolgen, sobald der Hinderungsgrund der Nichtausgabe
        der Information entfallen ist .
        Auch wenn man über das Verfahren streiten kann, so
        bin ich überzeugt, dass wir an dieser Stelle eine sachge-
        rechte Anpassung der Datenschutzregelungen im Bereich
        des Steuerrechts erzielt haben . Ich bitte deshalb um Zu-
        stimmung zum Gesetz .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24289
        (A) (C)
        (B) (D)
        Jutta Krellmann (DIE LINKE): Wir Linke haben die
        Behandlung der Dutzenden von vorliegenden Änderun-
        gen an dem Bundesversorgungsgesetz als Omnibus-Än-
        derungsantrag schon mehrfach kritisiert . Es kann nicht
        sein, dass wir Änderungen unter anderem am Handels-
        gesetzbuch, am Genossenschaftsgesetz, am Patentgesetz,
        an den Sozialgesetzbüchern I, II, III, VII, IX, X sowie
        XII – es sind noch viele andere mehr – zu unterschiedli-
        chen Zwecken in einem Tagesordnungspunkt behandeln,
        und dann noch nicht mal eine Debatte im Bundestag dazu
        führen .
        Omnibusverfahren wie diese erschweren es uns Ab-
        geordnete, die zur Abstimmung vorgelegten Gesetzesin-
        itiativen ordnungsgemäß und gewissenhaft im Interesse
        der Allgemeinheit zu prüfen . Und sie erleichtern es Lob-
        byisten, Änderungen zugunsten von Partikularinteressen
        unbemerkt durchzudrücken . Wenn Demokratie funk-
        tionieren soll, wenn vor allem auch die Politik für die
        Bürgerinnen und Bürger nachvollziehbar sein soll, muss
        Gründlichkeit vor Schnelligkeit gehen .
        Den Gesetzentwurf sowie den Änderungsantrag der
        Koalition müssen wir ablehnen, denn es ist zu viel Frag-
        liches dabei . Ich kann hier aber nur auf einzelne Punkte
        eingehen .
        Zu den Änderungen im Asylbewerberleistungsgesetz:
        Sie sind schlicht überflüssig. Der mehrfache Leistungs-
        bezug infolge ungeklärter Identitäten war ein Übergangs-
        phänomen der Jahre 2015 und 2016, als die Behörden mit
        der korrekten Erfassung vieler Asylsuchender nicht nach-
        gekommen sind . Nach Angaben der Bundesregierung ist
        aber mittlerweile die Identifizierung aller Asylsuchenden
        sichergestellt, Mehrfachmeldungen unter unterschiedli-
        chen Identitäten würden bereits bei Antragstellung auf-
        gedeckt . Die wenigen Missbrauchsfälle, die überhaupt
        noch denkbar sind, rechtfertigen die geschätzten Kosten
        von 4 Millionen Euro bei weitem nicht .
        Zudem drohen diese sinnlosen Regelungen einen Pau-
        schalverdacht gegen Geflüchtete zu legitimieren. Damit
        sind sie Wasser auf die Mühlen der Rechten, genauso wie
        die skandalösen Asylrechtsverschärfungen des letzten
        Jahres . Die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU
        und SPD sollten aufhören, rechte Stammtischparolen in
        Gesetzesform zu gießen .
        Das vorgeschlagene Gesetz zur Sicherung von Arbeit-
        nehmerrechten in der Fleischwirtschaft ist dementgegen
        zu begrüßen . Als Abgeordnete aus Niedersachsen weiß
        ich genau, dass die Ausbeutung in der Fleischindustrie
        schon lange besonders verheerend ist . Der Anteil der
        Beschäftigten im Niedriglohnbereich lag 2014 in der
        Branche bei 41 Prozent – fast doppelt so hoch wie in der
        Gesamtwirtschaft bei 22 Prozent .
        Gerade in der Fleischindustrie, wo das Arbeitsvo-
        lumen sinkt, die Produktion aber steigt, gilt: Der Profit
        einiger weniger wird auf dem Rücken der Beschäftigten
        erwirtschaftet . Die deutschen Fleischbarone sind dabei,
        den europäischen Markt zu erobern – auf dem Rücken
        der Beschäftigten . Die Massentierhaltung und die Dum-
        pinglöhne in der Fleischindustrie ermöglichen, dass
        40 Prozent des in Deutschland produzierten Fleisches,
        über 3 Millionen Tonnen pro Jahr, exportiert werden .
        Der Durchschnittslohn der Kernerwerbstätigen liegt
        in der Branche bei 1 977 Euro – ein Lohn, der bei weitem
        nicht ausreicht, um nach 45 Jahren eine Rente oberhalb
        der Grundsicherung zu bekommen .
        Es ist dem langen Atem der Gewerkschaft NGG und
        den Betriebsräten zu verdanken, dass flächendeckender
        Missbrauch von Werkverträgen und unwürdige Arbeits-
        bedingungen nicht mehr unter den Teppich gekehrt wer-
        den konnten .
        Aus der Antwort auf eine Kleine Anfrage unserer
        Fraktion wissen wir, dass 2015 bundesweit 171 Ord-
        nungswidrigkeitsverfahren und 256 Strafverfahren ein-
        geleitet wurden, unter anderem wegen Verstößen gegen
        die Aufzeichnungs- und Aufbewahrungspflicht von Ar-
        beitszeiten oder, weil vorgeschriebene Arbeitsbedingun-
        gen durch Tarifvertrag missachtet werden . Die Verfahren
        bilden aber nur die Spitze des Eisberges; denn aufgrund
        fehlender Beweismaterialien werden die meisten Fälle
        nie verfolgt. Eine verpflichtende Zeiterfassung morgens
        bei Arbeitsbeginn, wie vom Gesetz vorgesehen, würde es
        den Behörden erleichtern, gegen Verstöße von Arbeitge-
        berseite zu ermitteln . Dies ist ein erster Schritt und ist
        längst überfällig .
        Es muss aber noch viel mehr getan werden, damit alle
        Beschäftigten, auch in der Fleischindustrie, ein würdiges
        Leben führen können . Es ist Zeit für ein neues Normalar-
        beitsverhältnis: Unbefristete sozialversicherungspflichti-
        ge Jobs, die unter Tarifverträge fallen und angemessen
        bezahlt werden, dürfen nicht länger die Ausnahme sein,
        sondern müssen wieder zur selbstverständlichen Regel
        werden . Deswegen fordert die Linke umfassende gesetz-
        liche Regelungen gegen den Missbrauch von Werkver-
        trägen und Leiharbeit sowie ein umfassendes Mitbestim-
        mungsrecht für Betriebs- und Personalräte . Auch bedarf
        es dringend eines Mindestlohns von 12 Euro . Nur so
        können wir sicherstellen, dass alle ihrer Arbeit in Würde
        nachgehen können .
        Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN): Die Große Koalition mutet dem Bun-
        destag mit dem Gesetzentwurf, den wir hier heute dis-
        kutieren, enorm viel zu; denn eigentlich ist es auch nicht
        ein Gesetzentwurf, sondern ein sogenannter Omnibus,
        das heißt, es handelt sich um einen Gesetzentwurf, an
        den weitere Gesetzentwürfe angehängt wurden – in die-
        sem Fall viele Gesetzentwürfe . Das Verfahren ist eines,
        das ich in der Zeit, die ich im Bundestag bin, noch nicht
        erlebt habe . Der ursprüngliche Gesetzentwurf enthielt
        zehn Seiten . Dabei ging es um einfache Anpassungen
        wie die Anhebung der Schonvermögen im Bundesver-
        sorgungsgesetz und der Kriegsopferfürsorge, die wir als
        grüne Bundestagsfraktion begrüßen und mittragen . Doch
        dann legte man kurz vor der Anhörung im Ausschuss für
        Arbeit und Soziales einen ersten Änderungsantrag vor,
        der nicht weniger als 75 Seiten umfasste . Dazu gehör-
        ten hochkomplexe und grundlegende Veränderungen des
        Sozial- und Finanzdatenschutzes insbesondere im SGB I
        sowie in der Abgabenordnung . Hinzu kam noch die um-
        fangreiche zweite Tranche der Umsetzung der DGSVO,
        der Datenschutz-Grundverordnung . Der eigentlich für
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724290
        (A) (C)
        (B) (D)
        Datenschutz zuständige Innenausschuss wusste davon
        nichts .
        Hinzu kam eine äußerst ungewöhnliche Sachverstän-
        digenanhörung . So gab es zu manchen Teilen, wie den
        Änderungen zum Asylbewerberleistungsgesetz, nur ei-
        nen einzigen Sachverständigen, der sich dazu geäußert
        hat . Die Bundesdatenschutzbeauftragte und der Hambur-
        ger Datenschutzbeauftragte betonten in ihren schriftli-
        chen Stellungnahmen, dass sie wegen der Kürze der Zeit
        nur zu ausgewählten Fragen und nur kursorisch Stellung
        nehmen konnten . Hinzu kam, dass die große Koalition
        weniger als 24 Stunden vor der Ausschussberatung einen
        weiteren, 90-seitigen Änderungsantrag vorlegte . Alles
        zusammen genommen ist das ein Verfahren, das formal
        noch korrekt ist, aber eigentlich ist es unmöglich, die
        Gesetzestexte bei einem solchen Verfahren noch ausrei-
        chend zu prüfen .
        Ich schiebe das vorweg und betone das, weil es einen
        Teil unserer Ablehnung heute erklärt, obwohl es einige
        Aspekte in dem Gesetzentwurf gibt, die wir richtig finden
        und ausdrücklich unterstützen . Dass wir den ursprüngli-
        chen Gesetzentwurf unterstützt hätten, hatte ich schon
        gesagt . Positiv an den Änderungsanträgen ist außerdem
        die Einführung eines vergabespezifischen Mindestent-
        geltes für Aus- und Weiterbildungsdienstleistungen im
        SGB II und III zu bewerten .
        Vor allem begrüßen wir als grüne Bundestagsfrakti-
        on das Gesetz zur Sicherung von Arbeitnehmerrechten
        in der Fleischwirtschaft . Gerade die Fleischwirtschafts-
        branche ist mit ihrer hohen Dichte an mafiösen Struktu-
        ren und den oftmals katastrophalen Arbeits- und Lohn-
        bedingungen seit Jahren ein Problem . Eigentlich gelobte
        die Fleischbranche Besserung . Doch sind die Zustände
        in der Fleischindustrie noch immer verheerend . Noch
        immer gibt es zahlreiche Klagen von Beschäftigten über
        ausbeuterische Arbeitsbedingungen . Die Wohn- und Le-
        benssituationen sind höchst prekär . Es geht um Steuer-
        und Sozialversicherungsbetrug . In diesem Industriezweig
        wird ein gnadenloser Konkurrenzkampf ausgetragen,
        und zwar ausschließlich auf dem Rücken der Beschäf-
        tigten . Der Branchenmindestlohn reicht da nicht aus, und
        deshalb fordern wir Grünen schon lange weitergehende
        Regelungen . Der Gesetzentwurf greift unsere jahrelange
        Kritik endlich auf . Deshalb begrüßen wir, dass jetzt ein
        Gesetz zur Sicherung der Arbeitnehmerrechte innerhalb
        der Fleischwirtschaft geschaffen wird. Die vorgelegten
        Vorschläge wurden auch von den Sachverständigen in
        der Anhörung unterstützt. Wir hoffen sehr, dass das Ge-
        setz auch tatsächlich Wirkung zeigt . Wir haben deshalb
        im Ausschuss in getrennter Abstimmung auch dafür ge-
        stimmt .
        Zweifel haben wir an den Vorschlägen beim Asyl-
        bewerberleistungsgesetz . Hier geht es um verbesserte
        Möglichkeiten von Behörden, Fingerabdrücke von Asyl-
        bewerber und Asylbewerberinnen zu nehmen, um deren
        Identität zu überprüfen . Hintergrund der Änderungen sind
        die Mehrfachidentitäten von Anis Amri . Es geht also um
        das Schließen von Sicherheitslücken – und nicht, wie in
        der Begründung steht, um Sozialmissbrauch . Das scheint
        einerseits sinnvoll, andererseits bleiben datenschutz-
        rechtliche Zweifel, der Hauch eines Generalverdachtes
        gegenüber Geflüchteten sowie fehlende Lösungsansätze,
        was die praktische Umsetzung des Gesetzes bezüglich
        Sachmittel und Personalausstattung betrifft. Wir haben
        uns deswegen im Ausschuss dazu enthalten .
        Neben dem beschriebenen Verfahren sind es vor al-
        lem die Datenschutzbedenken, die auch durch die beiden
        Datenschutzbeauftragten in der Anhörung betont wur-
        den, die für uns zu einer Gesamtablehnung führen . Der
        Gesetzentwurf drängt die Datenschutzrechte Betroffener,
        die in der Datenschutz-Grundverordnung durch unmittel-
        bar geltendes EU-Recht geschaffen wurden, deutlich zu-
        rück . Die Beschränkungen der Rechte auf Auskunft und
        Information, der Ausschluss des Rechts auf Widerspruch,
        die Einschränkung des Rechts auf Löschung – all das
        geht weit über das von der DSGVO erlaubte Maß hinaus .
        Wir lehnen dieses Omnibus-Gesetz ab und sollten –
        egal in welcher Konstellation – in der nächsten Legisla-
        turperiode dafür sorgen, dass es solche Omnibusgesetz-
        verfahren, wie wir es hier erlebt haben, nicht mehr gibt .
        Anlage 32
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Beate Müller-Gemmeke und
        Katja Keul (beide BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
        zu der Abstimmung über den von der Bundesre-
        gierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
        Änderung des Bundesversorgungsgesetzes und an-
        derer Vorschriften (Tagesordnungspunkt 34)
        Das Bundesversorgungsgesetz muss für viel herhal-
        ten . Insgesamt 30 weitere Artikel beinhaltet das Gesetz,
        allesamt Gesetzesänderungen, die ganz andere Dinge
        betreffen, als im Bundesversorgungsgesetz geregelt sind.
        Omnibusverfahren nennen wir das im Bundestag . Auf
        die Schnelle versucht die Große Koalition, auf diese Wei-
        se möglichst viele Gesetzesänderungen noch eben kurz
        vor dem Ende der Legislaturperiode durch den Bundes-
        tag zu jagen und abzuschließen .
        So finden sich im Bundesversorgungsgesetz, das heu-
        te beschlossen wurde, unter anderem höchst umstrittene
        Datenschutzregelungen, denen wir als grüne Bundestags-
        fraktion auf keinen Fall zustimmen können . Daher haben
        wir als Fraktion beschlossen, dass wir dem gesamten Ge-
        setzespaket mit all seinen 30 Artikeln nicht zustimmen
        können .
        Für uns ist das an einer Stelle fatal . Denn mit Arti-
        kel 30 innerhalb des Bundesversorgungsgesetzes wird ein
        Gesetz zur Sicherung der Arbeitnehmerrechte innerhalb
        der Fleischwirtschaft geschaffen. Und diesem Gesetz
        können wir aus ganzem Herzen zustimmen; denn hier
        werden wirklich gute Regelungen für die Beschäftigten
        in der Fleischwirtschaft getroffen. Leider stimmen wir
        im Bundestag aber nicht über einzelne Artikel innerhalb
        eines Gesetzes ab, sondern nur über das ganze Gesetz .
        Deshalb konnten wir diesem Artikel zwar im Ausschuss
        zustimmen, aber im Plenum nicht . Die Zustimmung ist
        uns aber wichtig . Deshalb möchten wir die Zustimmung
        in dieser persönlichen Erklärung auch dokumentieren .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24291
        (A) (C)
        (B) (D)
        Die verheerenden Zustände in der Fleischindustrie
        sind bekannt . Die Medien sprechen längst schon von
        Sklavenhaltermethoden . Das System des Anwerbens und
        Unterbringens ausländischer Beschäftigter, von Steuer-
        und Sozialversicherungsbetrug ist viel zu gut eingespielt .
        In diesem Industriezweig wird ein gnadenloser Konkur-
        renzkampf ausgetragen – und zwar ausschließlich auf
        dem Rücken der Beschäftigten . Dem soll mit dem Gesetz
        jetzt ein Riegel vorgeschoben werden .
        Künftig haften danach auftraggebende Unternehmen
        für die Sozialversicherungsbeiträge ihrer Subunterneh-
        mer . Eine solche Regelung existiert bisher nur im Bau-
        gewerbe, und hier bewirkt sie einiges . Außerdem müs-
        sen Arbeitgeber ihren Beschäftigten künftig alle nötigen
        Arbeitsmittel unentgeltlich zur Verfügung stellen und sie
        instand halten . Hierzu zählen zum Beispiel Sägen, Mes-
        ser, Wetzstahl, Kettenhandschuhe oder Kettenschürzen .
        Bisher müssen Beschäftigte in der Fleischwirtschaft ihre
        Arbeitsmittel häufig selbst bezahlen. Doch natürlich be-
        steht auch in der Fleischindustrie eine Fürsorgepflicht der
        Arbeitgeber . Da Arbeitszeiten in der Fleischwirtschaft
        oft nicht eingehalten werden, werden mit dem Gesetz die
        Dokumentationspflichten zur Arbeitszeit verschärft.
        Diese Regelungen sind wichtig, um gegen die drasti-
        schen Missstände in der Fleischwirtschaft endlich wirk-
        sam vorzugehen . Deshalb bedanken wir uns auch bei den
        Initiatoren dieser Gesetzesinitiative .
        Anlage 33
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung:
        – des von der Bundesregierung eingebrachten
        Entwurfs eines Gesetzes zur Fortschreibung der
        Vorschriften für Blut- und Gewebezubereitun-
        gen und zur Änderung anderer Vorschriften
        – der Beschlussempfehlung und des Berichts des
        Ausschusses für Gesundheit zu dem Antrag
        der Abgeordneten Elisabeth Scharfenberg,
        Kordula Schulz-Asche, Renate Künast, weiterer
        Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN: Pflege-TÜV hat versagt – Jetzt
        echte Transparenz schaffen: Pflegenoten ausset-
        zen und Ergebnisqualität voranbringen
        (Tagesordnungspunkt 35 a und b)
        Rudolf Henke (CDU/CSU): Zu später Stunde wer-
        den wir heute mit dem Gesetz zur Fortschreibung der
        Vorschriften für Blut- und Gewebezubereitungen und
        zur Änderung anderer Vorschriften eines der letzten und
        aufgrund der zusätzlichen zahlreichen fachfremden Än-
        derungen ein sehr vielseitiges Vorhaben der Koalitions-
        fraktionen verabschieden .
        Mit dem ursprünglichen Regierungsentwurf werden
        die Rahmenbedingungen für die Zubereitung von Blut-
        und Gewebeprodukten fachlich und rechtlich angepasst .
        Auch im Bereich der Nutzung von Arzneimitteln für
        neuartige Therapien werden wir die Erfahrungen der
        Länder und des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI) aufgreifen
        und Genehmigungs- und Herstellungsverfahren klarer
        regeln .
        Das parlamentarische Verfahren zu diesem Vorhaben
        wurde ohne große inhaltliche Auseinandersetzungen in
        der Sache durchgeführt, was insgesamt dafür spricht,
        dass wir fraktionsübergreifend alle das Interesse verfol-
        gen, die gesundheitliche Versorgung, ihre Erforschung
        und Weiterentwicklung samt Genehmigungsverfahren
        den heutigen Gegebenheiten anzupassen . Das ist in der
        Sache eine erfreuliche Bestandsaufnahme .
        Neben diesen Entscheidungen haben wir das parla-
        mentarische Verfahren dazu genutzt, zahlreiche fach-
        fremde Änderungen aufzunehmen, um auf Entwick-
        lungen und Missstände zu reagieren, die sich im Laufe
        der letzten Monate bemerkbar gemacht haben . Mit der
        notwendigen Sorgfalt haben wir in wichtigen Punkten
        Einigungen erzielen können, sodass die entsprechenden
        Regelungen vor dem Ende der Legislaturperiode noch in
        Kraft treten können .
        Diese Regelungen, auf die mein Kollege Dietrich
        Monstadt in seiner Rede noch näher eingehen wird, be-
        treffen etwa die planungsrelevanten Qualitätsindikatoren
        im Krankenhaussektor . Wir haben uns darauf verständigt,
        dass wir die Vorgabe machen, dass die Maßstäbe und Kri-
        terien der Qualitätsindikatoren eine Bewertung der Qua-
        lität von Krankenhäusern insbesondere im Hinblick da-
        rauf ermöglichen müssen, ob eine in einem erheblichen
        Maße unzureichende Qualität vorliegt . Die Länder, das
        ist im Kontext sich verändernder Kompetenzteilung zwi-
        schen Bund und Ländern vielleicht nicht unwichtig zu
        betonen, bleiben weiterhin planungskompetent im Kran-
        kenhauswesen, da sie bei Bedarf von diesen Empfehlun-
        gen des Gemeinsamen Bundesausschusses abweichen
        können . Des Weiteren zählen zu diesem Themenkomplex
        auch die Ausnahme vom Darlehensaufnahmeverbot für
        bestandsgeschützte Eigeneinrichtungen der Kranken-
        kassen und die Vergütungskürzung bei Personalunterde-
        ckung und bei der Nichteinhaltung tariflicher Löhne in
        der stationären Pflege. Hier wurde eine Lösung ähnlich
        der bereits geltenden Regelungen im Altenpflegebereich
        gefunden .
        Besonders hervorheben möchte ich ein Paket von Än-
        derungsanträgen in Bezug auf eine Reform der Stiftung
        Humanitäre Hilfen für durch Blutprodukte HIV-infizierte
        Personen. Die Betroffenen des Blutprodukteskandals vor
        mehr als 30 Jahren sollen sich darauf verlassen können,
        dass sie lebenslang finanzielle Hilfen erhalten. Für sie ist
        es eine wichtige Botschaft, dass wir uns innerhalb der
        Koalitionsfraktionen auf eine Änderung des HIV-Hilfe-
        gesetzes verständigt haben, wodurch ab dem Jahr 2019
        der Bund die Finanzierung der HIV-Stiftung allein über-
        nehmen wird . Bisher waren neben dem Bund und den
        Ländern dafür auch pharmazeutische Unternehmen und
        das Deutsche Rote Kreuz verantwortlich, die Zusagen
        wurden jedoch immer nur für die Dauer gewährt, für die
        die Mittel ausreichten .
        Die Leistungen werden über die nicht mehr begrenzte
        Dauer hinaus entsprechend der Anpassung in der gesetz-
        lichen Rentenversicherung dynamisiert .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724292
        (A) (C)
        (B) (D)
        Bis zum Inkrafttreten der neuen Regelungen sind die
        finanziellen Hilfen der Betroffenen nach dem bisheri-
        gen Finanzierungssystem gesichert . Da die Leistungen
        künftig entsprechend den Anpassungen in der gesetzli-
        chen Rentenversicherung dynamisiert werden, stellt der
        Bund in den nächsten Jahren 8 bis 10 Millionen Euro für
        die Entschädigungen zur Verfügung. Damit schaffen wir
        endlich die lange erhoffte Sicherheit für die Betroffenen
        und deren unterhaltsberechtigte Angehörige .
        Offen gestanden erfüllt mich das auch als Mitglied des
        Kuratoriums der Aidshilfe NRW mit großer Freude .
        Dietrich Monstadt (CDU/CSU): Heute beraten wir
        abschließend das Gesetz für Blut- und Gewebezube-
        reitungen und zur Änderung anderer Vorschriften von
        Arzneimitteln für neuartige Therapien (ATMP) wie Gen-
        oder Zelltherapeutika .
        Basierend auf den gesammelten Erfahrungen der Län-
        der und des Paul-Ehrlich-Instituts werden die bestehen-
        den Vorschriften im Bereich Blut- und Gewebezuberei-
        tungen und ATMP an die aktuellen wissenschaftlichen
        und technischen Entwicklungen angepasst . Gleichzeitig
        vereinfachen wir die Genehmigungsverfahren, erhöhen
        die Sicherheit dieser besonderen Arzneimittel und straf-
        fen die gesetzlichen Regelungen zur Marktüberwachung .
        Diese Änderungen schaffen mehr Transparenz und
        verbessern weiter die sehr hohen Sicherheitsstandards
        für Blut- und Gewebezubereitungen sowie für Arznei-
        mittel für neuartige Therapien . Darauf wurde bereits aus-
        führlich von meinen Kollegen eingegangen .
        Im Rahmen dieses Gesetzes haben wir auch einige
        sachfremde Änderungseinträge eingebracht, auf die ich
        an dieser Stelle zum Teil eingehen möchte .
        § 188 Absatz 4 SGB V wird um eine Sonderregelung
        für Saisonarbeitnehmer ergänzt, die vorübergehend für
        eine auf bis zu acht Monate befristete sozialversiche-
        rungspflichtige Beschäftigung nach Deutschland gekom-
        men sind . Die bisherige Praxis hat gezeigt, dass es hier zu
        Fehlanreizen innerhalb der gesetzlichen Krankenkassen
        kommen kann . Krankenkassen konnten in diesen Fäl-
        len Versicherungszeiten für den Risikostrukturausgleich
        melden und Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds er-
        halten, ohne dass den Zuweisungen mögliche Leistungs-
        ausgaben gegenüberstanden . Dies soll mit dieser Rege-
        lung abgestellt werden . Ab dem 1 . Januar 2018 werden
        Saisonarbeitnehmer nach dem Ende ihrer versicherungs-
        pflichtigen Beschäftigung gemäß § 188 Absatz 4 SGB V
        nur noch dann als freiwillige Mitglieder weiter versi-
        chert, wenn sie nach dem Ausscheiden aus der Pflicht-
        versicherung innerhalb von drei Monaten eine ausdrück-
        liche Beitrittserklärung abgeben und ihren Wohnsitz oder
        ständigen Aufenthalt in Deutschland nachweisen . Wir
        beseitigen damit weitere Fehlanreize im Risikostruktur-
        ausgleich .
        Mit dem vorliegenden Gesetz erweitern wir die
        Maßstäbe und Kriterien für eine Bewertung der Quali-
        tätsergebnisse von Krankenhäusern nach dem Kranken-
        hausstrukturgesetzes (KHSG) vom 10 . Dezember 2015 .
        Qualität und Transparenz müssen in der Gesundheits-
        versorgung stets oberste Priorität haben . Im Rahmen des
        KHSG haben wir planungsrelevante Qualitätsindikatoren
        des Gemeinsamen Bundesausschusses für die Länder auf
        den Weg gebracht . Im Sinne eines „lernenden“ Systems
        bzw . Gesetzes hat sich gezeigt, dass diese konkretisiert
        werden müssen . Die planungsrelevanten Qualitätsindika-
        toren müssen nun so gestaltet werden, dass unzureichen-
        de Qualitätsergebnisse „in erheblichem Maß“ feststellbar
        sind .
        Die Planungshoheit liegt und bleibt damit weiterhin
        bei den Ländern . Diese erhalten durch die neue Regelung
        eine fundierte fachliche Grundlage, auf die sie die Pla-
        nungsentscheidungen nach § 8 Absatz 1a und 1b KHG
        stützen können . Die Länder müssen hier ihrer Verantwor-
        tung nachkommen . Sie sind ganz klar aufgefordert, die
        notwendigen Qualitätsanforderungen – im Sinne einer
        hochwertigen medizinischen Versorgung aller Patientin-
        nen und Patienten – zum Gegenstand der Krankenhaus-
        planung zu machen .
        Wir ergänzen mit diesem Gesetz auch die bestehenden
        Regelungen im Hinblick auf etwaige Vergütungskürzun-
        gen bei Personalunterdeckung in stationärer Pflege sowie
        bei Nichteinhaltung tariflicher Bezahlung.
        Eine qualitativ hochwertige Versorgung gelingt nur,
        wenn ausreichend Personal zur Verfügung steht . Auf-
        grund des demografischen Wandels stehen wir gerade im
        Bereich der Pflege vor großen Herausforderungen. Die
        Träger der stationären Pflegeeinrichtungen sind jederzeit
        zur Sicherstellung der Versorgung der Pflegebedürftigen
        mit der vereinbarten personellen Ausstattung – unabhän-
        gig von Personalengpässen oder -ausfällen – verpflichtet.
        Um dies auch nachhaltig sicherzustellen, ergänzen wir
        die bestehende gesetzliche Regelung in § 115 SGB XI
        mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts vom
        12 . September 2012: Bei einer Unterschreitung der ver-
        einbarten Personalausstattung um mindestens 8 Prozent
        über mehrere Monate hinweg oder bei vorsätzlicher
        Unterschreitung der vereinbarten Personalausstattung
        seitens des Einrichtungsträgers kann eine rückwirkende
        Kürzung der Pflegevergütung bis hin zur Kündigung des
        Versorgungsvertrages nach § 115 Absatz 2 und 3 SGB XI
        erfolgen .
        Mit der gleichzeitig vereinbarten Tarifbindung stellen
        wir sicher, dass alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
        mer in diesem Bereich die gleiche Bezahlung erhalten,
        unabhängig davon, ob sie in einer Stadt oder ländlichen
        Region tätig sind. Die Konkurrenz um Pflegepersonal –
        zwischen urbanen und ländlichen Regionen, zwischen
        wirtschaftlich starken und schwachen Regionen – wird
        auch dadurch ein Stück weit abgebaut .
        Das Gesetz für Blut- und Gewebezubereitungen und
        zur Änderung anderer Vorschriften führt zu einer besse-
        ren Versorgung, zum Beispiel durch den Einsatz neuer
        Therapien . Darüber hinaus werden Fehlanreize weiter
        abgebaut . Dies führt insgesamt zu einer noch besseren
        Versorgungssicherheit im Sinne der Patientinnen und Pa-
        tienten . Deshalb werbe ich um Ihre Zustimmung .
        Hilde Mattheis (SPD): Wir beraten heute abschlie-
        ßend das Gesetz zur Fortschreibung der Vorschriften für
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24293
        (A) (C)
        (B) (D)
        Blut- und Gewebezubereitungen und zur Änderung an-
        derer Vorschriften . Ich möchte im Folgenden vor allem
        auf die vielen fachfremden Änderungen eingehen, die
        wir an dieses Gesetz im Laufe der Beratung angehängt
        haben und die mit dem eigentlichen Regelungsinhalt, der
        Änderung des Gewebegesetzes, nur mittelbar etwas zu
        tun haben .
        Den Inhalt des eigentlichen Gesetzes, nämlich Ver-
        fahrensvereinfachung für Arzneimittel für neuartige
        Therapien, sogenannte ATMP, sowie neue Maßnahmen
        zur besseren Behandlung von Hämophiliepatientinnen
        und -patienten haben wir nur in einzelnen Punkten geän-
        dert, zum Beispiel eine genauere Definition des Begriffes
        „pharmazeutischer Unternehmer“ vorgenommen . Das
        Ministerium hat hier aber schon gute Vorarbeit geleistet,
        was unsere Arbeit erleichtert hat . Vielen Dank dafür .
        Aus der Palette der sogenannten fachfremden Ände-
        rungen möchte ich zunächst eine für meine Fraktion sehr
        wichtige gesetzliche Klarstellung im Bereich der Perso-
        nalausstattung in stationären Pflegeeinrichtungen anfüh-
        ren. Die Träger solcher Pflegeheime sind verpflichtet,
        die Sicherstellung der Versorgung der Pflegebedürftigen
        durch entsprechendes Personal zu gewährleisten . Das
        heißt, es muss genug und ausreichend geschultes Perso-
        nal jederzeit in der Einrichtung arbeiten, um die Qualität
        der Betreuung fortlaufend zu sichern . Der Träger muss
        natürlich etwaigen Ausfall des Personal, zum Beispiel
        aufgrund Krankheit oder Urlaub, mit einkalkulieren . Tut
        er das nicht oder spart er aus welchen Gründen auch im-
        mer am Personal, spart er gleichzeitig an der Pflegequa-
        lität und gefährdet damit das Wohlergehen der Patientin-
        nen und Patienten . Das Bundessozialgericht hatte 2012
        festgestellt, dass in einem solchen Fall rückwirkende
        Kürzungen der Pflegevergütung vorgenommen werden
        können . Dies werden wir nun auch gesetzlich festhalten .
        Das Signal ist hier klar und sollte auch deutlich ver-
        standen werden: Wir werden mutwillige oder gar betrü-
        gerische Verstöße gegen die Personalverbeinbarungen
        nicht tolerieren . Ein permanenter Personalmangel in den
        Pflegeeinrichtungen ist eine Gefahr für die Menschen:
        einerseits für die Pflegebedürftigen, die eine menschen-
        würdige Pflege zu Recht erwarten, und andererseits für
        das Personal, das mit Überstunden und Mehraufwand
        versucht, den Personalmangel auszugleichen und daran
        womöglich krank wird . Wer als Träger so handelt, wird
        bestraft, indem die Vergütung für Pflegeleistungen ge-
        kürzt wird .
        Gleiches gilt bei Nichteinhaltung der tariflich verein-
        barten Vergütung oder von Vereinbarungen nach kirch-
        lichem Arbeitsrecht . Wir alle wissen aus zahlreichen
        Gesprächen, Besuchen und Briefen, wie stressig der
        Arbeitsalltag als Pflegekraft sein kann. Diese Menschen
        verdienen eine ordentliche Bezahlung . Wenn der Arbeit-
        geber seine Angestellten um ihr hart verdientes Geld
        prellt, ist das kein Bagatelldelikt, sondern eine klare
        Missachtung ihrer Leistungen für die pflegebedürftigen
        Menschen in diesem Land . Das können und dürfen wir
        nicht tolerieren; daher muss auch hier der Arbeitgeber
        spürbar bestraft werden . Das setzen wir nun um .
        Diese Regelungen fördern gute Arbeit in der Pflege.
        Ich gehe davon, dass wir uns dazu alle hier im Haus be-
        kennen. Wir haben mit den Pflegestärkungsgesetzen hier
        bereits einige Bausteine eingesetzt, zum Beispiel, indem
        wir sichergestellt haben, dass tatsächlich gezahlte Tarif-
        entgelte in den Vergütungsverhandlungen für die ambu-
        lante und stationäre Pflege nicht als unwirtschaftlich be-
        wertet dürfen . Auch für die Vergütungsverhandlungen im
        Bereich der häuslichen Krankenpflege wird es zukünftig
        Pflichten zum Nachweis tatsächlich gezahlter Tariflöhne
        oder Arbeitsentgelte geben . Die Krankenhäuser erhalten
        einen Ausgleich für den Fall, dass Tarifabschlüsse die
        Obergrenze für die Preiszuwächse der Krankenhäuser
        übersteigen. Wer Tariflohn zahlt, darf dafür nicht bestraft
        werden . Wer sich dem aber verweigert, wird mit Strafe
        rechnen müssen .
        Wir erwarten, dass sich Tarifvergütungen in der Pfle-
        ge in Zukunft verbreiten, und unterstützen die Gewerk-
        schaften ausdrücklich in deren Bestreben, Tarifverträge
        abzuschließen . Eine ordentliche Bezahlung und eine
        Absicherung durch starke Gewerkschaften machen den
        Pflegeberuf attraktiver für junge Menschen. Sie können
        sich so sicherer sein, dass ihre Arbeit als wertvoll aner-
        kannt wird . Und das schlägt sich auch konkret in der Be-
        zahlung nieder . Dieses Gesetz ist daher ein klares Signal
        für gute Arbeit in der Pflege.
        Wir werden mit dem Gesetz außerdem eine Änderung
        des Versicherungsschutzes für Saisonarbeitnehmerinnen
        und -arbeitnehmer vornehmen. Nach der Definition des
        Gesetzes sind dies Arbeitnehmer, die aus dem Ausland
        nur für wenige Monate zur Arbeit nach Deutschland
        kommen, beispielsweise Erntehelfer . Da diese Arbeit-
        nehmerinnen und Arbeitnehmer sehr häufig nicht planen,
        länger in Deutschland zu bleiben, und wieder in ihr Hei-
        matland zurückkehren, ist ein dauerhafter Versicherungs-
        schutz bei den Krankenkassen nicht nötig . Die Kassen
        hatten aber in der Vergangenheit das Problem, dass die-
        se Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei ihnen als
        Versicherte registriert sind und sich nach Ausreise aus
        Deutschland nicht wieder abgemeldet hatten und somit
        quasi als Versicherte bei den Krankenkassen verbleiben
        und sich Beitragsschulden anhäufen .
        Daher werden wir nun das Regel-Ausnahme-Verhält-
        nis umdrehen . Saisonarbeitnehmer werden automatisch
        nach Beendigung ihrer Beschäftigung bei der Kranken-
        kasse abgemeldet, es sei denn, sie melden sich spätestens
        drei Monate nach Ende der Versicherungspflicht als frei-
        willige Mitglieder der Krankenversicherung an oder wei-
        sen nach, dass ihr ständiger Wohnsitz in Deutschland ist .
        Selbstverständlich müssen die Krankenkassen den Ar-
        beitnehmer zu Beginn seiner Beschäftigung in Deutsch-
        land unverzüglich über diese Konditionen aufklären,
        und auch bei einer verspäteten Anmeldung kann eine
        nachträgliche Pflichtversicherung begründet werden, um
        einen lückenlosen Versicherungsschutz innerhalb der ge-
        setzlichen Krankenversicherung zu gewährleisten . Wir
        gehen davon aus, dass diese Neuregelung eine Verein-
        fachung für die Krankenkassen einerseits, aber auch die
        Saisonarbeitnehmer andererseits darstellt, die sich um
        eine Abmeldung nicht mehr kümmern müssen .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724294
        (A) (C)
        (B) (D)
        Ich habe bereits bei der ersten Lesung des Gesetzes
        das Thema der Stiftung Humanitäre Hilfe für durch Blut-
        produkte HIV-infizierte Personen angesprochen, das die
        SPD-Fraktion sehr intensiv betreut hat . Ich bin sehr froh,
        dass es uns gelungen ist, hier für die Betroffenen ganz
        substanzielle Verbesserungen zu erreichen und ihnen mit
        diesem Gesetz eine Sicherheit über ihr finanzielles Ein-
        kommen zu geben – eine Sicherheit, die den Betroffenen
        jahrelang fehlte . Worum geht es? Die Stiftung Humanitä-
        re Hilfe wurde infolge des sogenannten Blutspendeskan-
        dals eingerichtet. Während der 1980er-Jahre infizierten
        sich weltweit mehrere Tausend Menschen aufgrund kon-
        taminierter Blutprodukte mit HIV . In Deutschland waren
        es mehr als 1 500 Menschen . 1993 hat der Bundestag das
        HIV-Hilfegesetz verabschiedet und die erwähnte Stif-
        tung Humanitäre Hilfe gegründet . Sie soll den Personen,
        die durch Blutprodukte unmittelbar oder mittelbar an
        HIV oder infolge dessen an Aids erkrankt sind, und de-
        ren unterhaltsberechtigten Angehörigen finanzielle Hilfe
        bzw . soziale Leistungen gewähren .
        Allerdings wurde damals festgelegt, dass die Stiftung
        aufgehoben wird, wenn der Stiftungszweck erfüllt oder
        die finanziellen Mittel erschöpft sind. Diese ungünstige
        Formulierung führte dazu, dass die rund 1 500 Opfer des
        Blutspendeskandals jährlich darauf hoffen mussten, dass
        die Mittel durch den Bundestag weiter gewährt werden,
        damit sie ihre finanzielle Unterstützung weiter erhalten.
        Diese unwürdige Situation werden wir nun endlich be-
        enden und sagen ganz klar: Die Opfer dieses Skandals
        werden finanzielle und soziale Leistungen bis zu ihrem
        Lebensende erhalten . Aufgrund des medizinischen Fort-
        schritts ist das hoffentlich noch lang. Die Betroffenen ha-
        ben inzwischen eine annähernd gleiche Lebenserwartung
        wie ein gesunder Mensch . Nichtsdestotrotz müssen sie
        mit der Belastung HIV bzw . AIDS leben, und es ist hier
        ganz klar Aufgabe der Politik, sie zu unterstützen .
        Wir haben nun festgelegt, dass der Bund alleiniger
        Stifter der Stiftung Humanitäre Hilfe wird und die Zah-
        lungen an die Erkrankten lebenslang gewährt werden .
        Die bisher widersprüchlichen Regelungen des HIV-Hil-
        fegesetzes entfallen vollständig . Wir haben außerdem
        in den Beratungen ein weiteres wichtiges Anliegen der
        Betroffenen aufgenommen: Die Leistungen der Stiftung
        werden nicht wie bisher auf gleichbleibendem Niveau
        gewährt, sondern dynamisiert, das heißt, sie passen sich
        der Inflation an und steigend damit jährlich. Die bisheri-
        gen Zahlungen führten effektiv aufgrund von Teuerung
        und Inflation zu sinkenden Leistungen. Wir werden nun
        mit Wirkung von 2019 die Zahlungen an das Niveau der
        gesetzlichen Rentenversicherung koppeln und den aktu-
        ellen Rentenwert als Maßstab für die Leistungen der Op-
        fer des Blutspendeskandals nehmen .
        Ich bin sehr froh, dass es uns gelungen ist, dies zu ver-
        einbaren und den Menschen das Signal zu geben, dass
        die Politik sie nicht vergessen hat . Ich bedanke mich
        gleichzeitig bei den Patientinnen und Patienten bzw . ih-
        ren Angehörigen für deren Geduld und Beharrlichkeit,
        uns als Bundestag immer wieder zu mahnen, hier eine
        Änderung vorzunehmen . Es ist schön, zu sehen, dass dies
        gelungen ist .
        Ich bedanke mich bei allen Kolleginnen und Kolle-
        gen für die konstruktive und zielorientierte Arbeit an
        diesem Gesetz . Wir haben damit bewiesen, dass wir bis
        zum Schluss der Wahlperiode gute Arbeit leisten und für
        viele Versicherte, für Patientinnen und Patienten sowie
        Beschäftigte in der Pflege wichtige und gute Neuerungen
        erzielen können .
        Mechthild Rawert (SPD): Zur großen Pflegereform
        dieser Legislatur gehört noch eines: die Vollendung der
        Pflegeberufereform. Die SPD kämpft weiterhin hart für
        die generalistische Ausbildung in der Pflege.
        Mit dem Omnibusgesetz zu Blut- und Gewebezube-
        reitungen verabschieden wir auch Neuregelungen im Zu-
        sammenhang mit den Pflegestärkungsgesetzen und dem
        HIV-Hilfegesetz .
        Da wir gesetzgeberische Sorgfalt ernst nehmen, neh-
        men wir im Pflegebereich noch einige Anpassungen eher
        technischer Art zu den umfangreichen Pflegestärkungs-
        gesetzen vor, so zum Beispiel bei den Modellvorhaben
        zur kommunalen Pflegeberatung aus dem Dritten Pflege-
        stärkungsgesetz. Es ist jetzt möglich, dass Pflegekassen
        und Kommunen ergänzende Vereinbarungen treffen und
        in der Pflegeberatung kooperieren, wobei die Kommunen
        nur koordinierende Aufgaben übernehmen . Dies bedeu-
        tet noch mehr Gestaltungsmöglichkeiten .
        Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten le-
        gen großen Wert auf gute und verlässliche Pflegequalität.
        Deswegen haben wir mit dem Pflegestärkungsgesetz II
        die Qualitätsmessung, die Qualitätsberichterstattung und
        die Qualitätsdarstellung reformiert . Die Qualität einer
        Einrichtung muss für Pflegebedürftige und ihre Angehö-
        rigen zuverlässig überprüfbar sein und transparent darge-
        stellt werden . Zuverlässige Indikatoren für Qualität und
        ihre Kontrolle helfen Pflegeempfängerinnen und -emp-
        fängern, eine für sie passende Einrichtung auszusuchen .
        Sie dienen auch der Aufdeckung von Missständen . Wir
        entbürokratisieren die Dokumentation durch Pflegekräfte
        und helfen ihnen so, ihre Arbeit besser zu bewältigen . Zu-
        gleich profitieren die Pflegeempfängerinnen und -emp-
        fänger von einer bedarfsgerechteren Dokumentation .
        Im Gesetz zu Blut- und Gewebezubereitungen neh-
        men wir abermals eine wichtige Regelung zur Verbes-
        serung der Pflegequalität vor – in Bezug auf ein Urteil
        des Bundessozialgerichts vom 12 . September 2012 . Es
        besagt, dass bei Qualitätsmängeln in Einrichtungen eine
        rückwirkende Kürzung der Pflegevergütung der Kassen
        vorgenommen werden kann . Eine konkrete Feststellung
        der Mängel sei dabei entbehrlich, wenn ein planmäßiges
        und zielgerichtetes, das heißt vorsätzliches Unterschrei-
        ten der vereinbarten Personalausstattung vorliege . Diese
        Rechtsprechung nehmen wir ausdrücklich in das Gesetz
        auf . Wir sehen in einem solchen Fall nicht nur eine Ver-
        gütungskürzung, sondern die Möglichkeit der Kündi-
        gung des Versorgungsvertrags vor . Ein Verstoß liegt auch
        bei einer nicht nur vorübergehenden Unterschreitung der
        Personalausstattung vor .
        Wird festgestellt, dass der Einrichtungsträger seine
        Beschäftigten nicht in der Höhe bezahlt, die der Verein-
        barung der Pflegevergütung an die Einrichtung zugrunde
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24295
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        liegt, erfolgt ebenfalls eine Kürzung der Vergütung . Wir
        wollen, dass das Geld der Versicherten dort ankommt,
        wo es hingehört: bei den Pflegeempfängerinnen und
        -empfängern sowie den Beschäftigten .
        Last, but not least hat die SPD-Bundestagsfrakti-
        on eine für viele Menschen bedeutsame Änderung des
        HIV-Hilfegesetzes durchgesetzt: Es ist Schluss mit dem
        Bangen der Betroffenen um die weitere finanzielle Unter-
        stützung durch die Stiftung Humanitäre Hilfe für durch
        Blutprodukte HIV-infizierte Personen, die im Anschluss
        an den Blutprodukteskandal, der vor 30 Jahren das Land
        erschütterte, gegründet wurde . Geregelt ist nun, dass
        sie diese Unterstützung lebenslang erhalten werden und
        diese auch an die Entwicklung der gesetzlichen Renten-
        versicherung angepasst ist . Über diesen Erfolg freue ich
        mich zusammen mit den Betroffenen sehr.
        Kathrin Vogler (DIE LINKE): Mit dem hier vorlie-
        genden Gesetzentwurf will die Bundesregierung noch
        kurz vor Toresschluss gleich eine Reihe unterschiedli-
        cher Sachverhalte regeln . Das macht es natürlich schwie-
        rig, in vier Minuten die ganze Bandbreite anzusprechen .
        Aber man merkt schon, dass im Ministerium gerade
        unter Zeitdruck gearbeitet wird: Auf die Schnelle sind
        der Bundesregierung einige Schnitzer passiert, die im
        Beratungsverlauf noch korrigiert werden müssten . An
        mehreren Stellen finden sich unzulängliche Begriffsbe-
        stimmungen, fehlende Differenzierung, uneinheitliche
        Sprachregelungen und zum Teil inkonsistente Regelun-
        gen zu Genehmigungsverfahren .
        Auch wundert es mich, warum die Bundesregierung
        Blutstammzellen in Deutschland anders als in der EU
        unterschiedlichen Qualitätsanforderungen unterwerfen
        will, je nachdem, ob sie aus dem Knochenmark oder
        der Nabelschnur stammen . Kann mir da mal jemand den
        Sinn erklären?
        Eine wissenschaftliche Auswertung der zur Verfü-
        gung stehenden Daten für angeborene Blutungskrank-
        heiten ist sinnvoll und wird von uns unterstützt . Aber es
        bringt für die Betroffenen keinerlei Nutzen, wenn das
        bereits existierende Hämophilieregister künftig allein
        beim Paul-Ehrlich-Institut liegt und die Betroffenenor-
        ganisationen nicht mehr beteiligt sind . Stattdessen sollte
        die Bundesregierung ein schlüssiges Konzept für die Da-
        tengewinnung und vor allem für die Auswertung der im
        DHR gesammelten Daten vorlegen . Aber das leistet ihr
        Entwurf nicht .
        Insbesondere bereitet in der Praxis große Sorge, dass
        die Regelungen zu Blut- und Gewebezubereitungen über
        das Transplantationsgesetz, das Transfusionsgesetz und
        das Arzneimittelgesetz verteilt sind . Dass dies insbeson-
        dere bei Keimzellen zu einer großen Unübersichtlich-
        keit führt, beklagen Praktiker und Juristen . Sie sehen
        da große Probleme und rechtlichen Klärungsbedarf . Zu-
        dem gibt es gerade bei der Reproduktionsmedizin jede
        Menge offener Fragen. Bei Keimzellspenden und nicht
        zuletzt Embryonenspenden im Ausland kommt es auch
        für Kinder, die in Deutschland aufwachsen oder geboren
        werden, zu vielen ungeklärten familienrechtlichen Fra-
        gen . Einer Klärung geht die Bundesregierung wie beim
        Samenspenderegister auch mit diesem Gesetz wieder aus
        dem Weg – abermals eine vertane Chance .
        Kommen wir zu den Änderungen bei der Pflegebera-
        tung:
        Im Gesetzentwurf erklärt die Bundesregierung, es
        sollen „technische Anpassungen sowie Änderungen der
        Regelungen zu den Modellvorhaben zur kommunalen
        Beratung im SGB XI vorgenommen“ werden . Das klingt
        harmlos und irgendwie unspektakulär . Was Sie aber ge-
        nau vorhaben, betrachten wir durchaus kritisch .
        Sie wollen die Möglichkeit schaffen, dass Kommu-
        nen, die Modellprojekte zur Pflegeberatung durchführen,
        besser auf lange gewachsene Strukturen und die Kompe-
        tenz der Pflegekassen zurückgreifen können. So sollen
        Kommunen künftig darauf verzichten können, die Pfle-
        geberatung in eigenen Beratungsstellen durchzuführen,
        wozu sie diese Bundesregierung erst im letzten Jahr mit
        dem Pflegestärkungsgesetz III verpflichtet hatte – und
        zwar unabhängig vom Vorhandensein anderer Möglich-
        keiten . Das hört sich ja zunächst mal vernünftig an .
        Aber was gar nicht geht, ist, dass Sie die Qualitätsstan-
        dards für die Pflegeberatung aufweichen wollen und dass
        die Kommunen das so eingesparte Geld behalten dürfen .
        Denn erstens brauchen Pflegebedürftige und ihre Ange-
        hörigen bestmögliche Beratung und nicht irgendwelche .
        Und zweitens gehört dieses Geld den Pflegeversicherten,
        nicht der öffentlichen Hand. Deswegen sage ich Ihnen:
        Lassen Sie die Finger von der Beratungsqualität und sor-
        gen Sie dafür, dass die Beiträge der Pflegeversicherten
        wirklich in der Pflege ankommen. Sonst werden wir die-
        sem Gesetz nicht zustimmen können .
        Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Der vorliegende Gesetzentwurf mit den von der Koali-
        tion eingebrachten Änderungsanträgen ist – gemeinsam
        mit dem heute schon debattierten Gesetz zur epidemio-
        logischen Überwachung übertragbarer Krankheiten – der
        große Kehraus der Gesundheitspolitik . Die Regierungs-
        koalition versucht kurz vor Toresschluss, schnell noch
        ein paar offene Punkte abzuarbeiten. Das ist eigentlich
        löblich . Man merkt allerdings an einigen Stellen, dass
        Ihre Vorschläge mit heißer Nadel gestrickt sind .
        Viele der Gesetzesänderungen im Bereich Blut und
        Gewebe sind grundsätzlich sinnvoll und werden daher
        von uns unterstützt . Leider lassen Sie weiterhin jede
        Gelegenheit verstreichen, andere Mängel in der Gewe-
        bemedizin zu beheben . Der aktuelle Gewebebericht der
        Bundesregierung zeigt: Rund ein Fünftel der Einrichtun-
        gen kommt ihren gesetzlichen Meldepflichten nicht nach.
        Zudem sind viele der gemeldeten Zahlen insbesondere
        zu muskuloskelettalen Geweben und Hautgeweben nach
        eigenen Aussagen der Bundesregierung unplausibel . Es
        werden in Deutschland viel mehr dieser Gewebe trans-
        plantiert und exportiert als entnommen, ohne dass die
        Behörden wissen, wo diese Gewebe eigentlich herkom-
        men. Hier ist das Ministerium weiterhin in der Pflicht,
        Transparenz herstellen .
        Zudem gibt es in Deutschland – ähnlich wie bei Or-
        ganspenden – einen Mangel an bestimmten Geweben,
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724296
        (A) (C)
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        sodass manche Patientinnen und Patienten nicht oder nur
        mit erheblicher Verspätung versorgt werden können . In
        erster Linie fehlen Augenhornhäute und Herzklappen .
        Transparenz gibt es bei der Verteilung dieser Gewebe
        aber weiterhin nicht. Es gibt weder öffentliche Vorgaben,
        nach welchen Kriterien diese sogenannten Mangelgewe-
        be vergeben werden müssen, noch führen die meisten
        Einrichtungen und Kliniken Wartelisten . Sie als fachlich
        zuständiges Ministerium überlassen es weiterhin dem Er-
        messen der Akteure, wer ein Transplantat erhält, obwohl
        selbst die Bundesärztekammer hier mehr Transparenz
        fordert . Ich frage mich, warum die Bundesregierung in
        regelmäßigen Abständen einen Bericht zur Analyse der
        Gewebemedizin in Deutschland erstellt, wenn sie die
        dort aufgezeigten Mängel stur ignoriert .
        Nun zu den anderen Bereichen, die Sie über die Än-
        derungsanträge noch schnell angehen: Viele dieser Vor-
        schläge, beispielsweise zu Saisonarbeitern oder zur Ka-
        renzzeit für Verwaltungsräte der Krankenkassen, sind
        sinnvoll . Ausdrücklich zu begrüßen ist die dauerhafte
        Finanzierung der Entschädigungszahlungen im Rahmen
        des HIV-Hilfegesetzes. Zwar hätten wir uns einen Inflati-
        onsausgleich auch für die vergangenen Jahre gewünscht;
        auch eine Einbeziehung von Hepatitis-C-Infizierten in
        diese Entschädigungsregelung hätten wir uns gewünscht .
        Dennoch begrüßen wir die Verstetigung der Hilfe für
        durch Blutkonserven HIV-Infizierte, weil sie für diese
        endlich Sicherheit schafft.
        Abzuwarten bleibt, was das geplante Register aller
        Krankenhausärztinnen und -ärzte bringen wird . Ob hier
        bürokratischer Aufwand und Nutzen noch in einem an-
        gemessenen Verhältnis zueinander stehen, kann man jetzt
        noch nicht beurteilen .
        Bei den geplanten Änderungen im Bereich Pflege ha-
        ben wir in einem Punkt große Bauchschmerzen: Bei der
        Erprobung von Personalbemessungsinstrumenten sollen
        zukünftig großzügige Ausnahmen von einzelnen Re-
        gelungen des SGB XI gelten, einschließlich des neuen
        Pflegbedürftigkeitsbegriffs. Das halten wir für fahrlässig.
        Hier wird eine Möglichkeit geschaffen, zulasten der zu
        Pflegenden von mühsam erkämpften Verbesserungen
        wieder abzuweichen. Diese Tür sollten wir nicht öffnen,
        zumal man sich fragen muss, welchen Erkenntniswert
        ein solches Modellvorhaben für die Regelversorgung ha-
        ben soll .
        Trotz der in einzelnen Punkten geäußerten Bedenken
        hält meine Fraktion die im Gesetz vorgeschlagenen Än-
        derungen mehrheitlich für sinnvoll und wird dem Gesetz-
        entwurf daher zustimmen .
        Anlage 34
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
        brachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Än-
        derung des Telekommunikationsgesetzes (Tages-
        ordnungspunkt 36)
        Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): Wir beraten heute
        in erster Lesung das Vierte Gesetz zur Änderung des Te-
        lekommunikationsgesetzes, welches die Digitalisierung
        der Hörfunkübertragung zukünftig vorantreiben und re-
        geln soll .
        Das Radio muss im Wandel der Zeit zukunftsfähig
        bleiben . Dafür hat das Bundeskabinett am 3 . Mai 2017
        Folgendes beschlossen: Künftig sollen höherwertige Ra-
        dioempfangsgeräte nur noch gehandelt werden, wenn
        diese zum Empfang digitalisierter Signale geeignet
        sind . Die Gesetzesänderung sieht damit vor, eine Aus-
        rüstungspflicht in Form einer Schnittstelle einzuführen.
        Über diese können digital codierte Inhalte empfangen
        und wiedergegeben werden . Das Gesetz greift das von
        den Bundesländern bereits im Rahmen der Stellungnah-
        me des Bundesrates zum 3 . TKG-Änderungsgesetz for-
        mulierte Anliegen auf, die Digitalisierung des Hörfunks
        durch die Interoperabilität von Radioempfangsgeräten zu
        fördern .
        Warum wollen wir diesen Weg nun gehen? Das Radio
        ist seit seiner Erfindung eines der meistgenutzten Medien
        in Deutschland und hat dadurch eine besondere Bedeu-
        tung in unserem Alltag . Rund 80 Prozent aller Deutschen
        hören täglich Radio . Aufgrund seiner eigenständigen ter-
        restrischen Verbreitungskanäle über erdgebundene Funk-
        sender, über UKW (Ultrakurzwellen) und DAB+ (digita-
        ler Übertragungsstandard für terrestrischen Empfang von
        Digitalradio) kann das Radio in Krisensituationen und
        Notlagen wie Katastrophen, bei Unwettern oder Unfäl-
        len als verlässliche regionale Echtzeitinformationsquelle
        genutzt werden . Einen besonderen Stellenwert haben ak-
        tuelle Verkehrs- und Mobilitätsinformationen durch Ra-
        dios . Hier nimmt das Radio auch eine Schlüsselstellung
        für eine intelligente Verkehrssteuerung ein .
        Ein genauerer Blick auf die Nutzung zeigt zudem,
        dass das Radio heute noch in erster Linie ein über ana-
        loge UKW-Frequenzen verbreitetes Medium ist . Etwa
        94 Prozent der über 14-Jährigen in Deutschland emp-
        fangen Radio über UKW bzw . analoge Geräte . Etwa drei
        Viertel der Menschen in Deutschland bevorzugt auch
        weiterhin das Radiohören über UKW . Daran wird sich so
        schnell auch nichts ändern .
        Daneben hat sich eine Verbreitung über weitere Kanä-
        le etabliert: so die Verbreitung über das Internet und das
        digital terrestrische Radio DAB+ . Insbesondere junge
        Menschen hören überdurchschnittlich viel Radio über In-
        ternet und DAB+ . In der Welt der Apps und Plattformen
        wird die Verbreitung von Radio auch immer neue Wege
        finden. Daher gilt es, einen hybriden Ansatz zu verfol-
        gen, der alle für die Nutzer relevanten Verbreitungsoptio-
        nen für Radio einschließt .
        Der nun vorliegende Gesetzentwurf dient als Baustein,
        Hörerinnen und Hörern mit den zusätzlich ausgerüsteten
        Geräten ein quantitativ und qualitativ verbessertes Hör-
        funkprogramm anbieten zu können . Die Ausrüstungs-
        pflicht bezieht sich dabei nur auf höherwertige Geräte,
        die den Programmnamen anzeigen können. Der Eingriff
        in den Markt ist somit vertretbar . Mobilfunkgeräte wer-
        den zudem ausgeklammert bleiben, Autoradios hingegen
        erfasst werden .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24297
        (A) (C)
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        Lassen Sie mich aber eines noch einmal ganz klar
        sagen: Mir wäre eine europaweit einheitliche Regelung
        lieber gewesen . Bislang hat die EU-Kommission der
        nationalen Hörfunkübertragung leider keine Binnen-
        marktrelevanz zuerkannt . Das ist für mich unverständ-
        lich . Stellen Sie sich vor, Sie fahren in den Urlaub nach
        Österreich und empfangen aufgrund unterschiedlicher
        Empfangstechniken keine Verkehrswarnungen mehr . Der
        Grund: Ihr Autoradio besitzt nur einen UKW-Empfän-
        ger; es wird aber nur noch digital gesendet . Das kann es
        natürlich nicht sein . Wir müssen aus Deutschland heraus
        eine Entwicklung hin zu einer EU-weiten Einführung be-
        fördern . Dafür sehe ich durchaus eine Chance .
        Klaus Barthel (SPD): Mit dem vorliegenden Gesetz-
        entwurf der Bundesregierung soll der Digitalisierung des
        Hörfunks der Weg bereitet werden . Die Zukunft des Ra-
        dios liegt zum Beispiel aus der Sicht der ARD „in der
        hybriden Kombination von digitaler Terrestrik und Inter-
        net .“ Dies sei „die bestmögliche Lösung im Interesse des
        Mediums Radio, der Radiomacher und Radionutzer“ –
        so das ARD-Generalsekretariat . Damit sollen die letzten
        Tage des guten alten UKW-Radios eingeläutet werden .
        Im Rahmen eines Aktionsplans für die Transformation
        der Hörfunkverbreitung in das digitale Zeitalter soll sich
        der Markt für Digitalradios schneller entwickeln, damit,
        wie in Norwegen und Italien, die ersten UKW-Sender
        vom Netz gehen können . Beabsichtigt ist, den parallelen
        Betrieb des angeblich kostengünstigen DAB+ – Digital
        Audio Broadcasting (DAB) ist ein digitaler Übertra-
        gungsstandard für terrestrischen Empfang von Digitalra-
        dio – und des teuren UKW so kurz wie möglich zu halten .
        In der guten neuen digitalen Welt soll natürlich auch
        für das Radio alles besser werden, sagen die Befürworter:
        Die analoge UKW-Terrestrik sei technisch und pro-
        grammlich ausgereizt, für neue Angebote und technische
        Innovationen sei kein Platz, der öffentlich-rechtliche
        Rundfunk belege aus historischen Gründen zu viele Fre-
        quenzen zulasten der kommerziellen Anbieter, so lautet
        die Kritik . DAB+ belebe den Wettbewerb zugunsten des
        Nutzers und neuer Anbieter .
        DAB+ sei die perfekte Ergänzung zum Internet und
        umgekehrt; denn anders als das Internet erlaube die ter-
        restrische Verbreitung der Radioprogramme deren ano-
        nyme und kostenfreie Nutzung ohne Volumenbegren-
        zung . Mobiles Internet/LTE sei 40-mal teurer als die
        DAB+-Technologie .
        DAB+ stehe für Vielfalt, Qualität und Innovation und
        komme bei den Hörern an . In einigen Regionen seien be-
        reits über 44 Programme zu empfangen, Zusatzdienste
        wie Programminformationen, Programmführer, Veran-
        staltungstipps und sehr genaue Verkehrsdaten für unter-
        wegs könnten angeboten werden . DAB+ sei technisch
        stabil, rauschfrei und gewährleiste auch mobil exzellen-
        ten Empfang .
        DAB+ eröffne den Radiounternehmen schier unbe-
        grenzte Möglichkeiten für programmliche Entwicklung
        und neue sogenannte Special-Interest-Angebote .
        DAB+ sei wichtig für die Gattung Radio; denn anders
        als das Internet, das ebenfalls eine große Vielzahl und
        Vielfalt an Audioangeboten bietet, seien die Hörfunkpro-
        gramme bei terrestrischer Verbreitung besser wahrnehm-
        bar und auffindbar. Gerade für die kommerziellen Radio-
        unternehmen sei die Aufmerksamkeit der Hörerinnen
        und Hörer als entscheidende Währung für Werbeeinnah-
        men von existenzieller Bedeutung, womit ein bewährtes
        Geschäftsmodell und der Erhalt einer breiten Radioland-
        schaft in der Bundesrepublik gesichert würden .
        DAB+ sei mehr als Radio und funktioniere auch im
        Krisenfall . Radio sei die wichtigste Informationsquelle
        im Auto, intelligente Verkehrssysteme der Zukunft sei-
        en digital . Die Bundesregierung setze wie andere eu-
        ropäische Länder bei der Umsetzung der europäischen
        ITS-Richtlinie („Intelligent Traffic Systems“-Richtlinie)
        auf DAB+ .
        DAB+ gewährleiste im Katastrophen- und Krisenfäl-
        len verlässliche Information der Bevölkerung .
        DAB+ sei deutschlandweit verfügbar; denn bis
        Ende 2016 sei die Zahl der Senderstandorte für die Di-
        gitalradiomultiplexe weiter gewachsen . 82 Prozent der
        Einwohner würden inhouse und 92 Prozent mobil er-
        reicht, die Bundesautobahnen würden mit 98 Prozent
        nahezu komplett versorgt . In ländlichen Gebieten sei
        DAB+ eine unverzichtbare mobile Quelle bei fehlendem
        Ausbau der Mobilfunknetze .
        Der Verkauf von DAB+-Geräten nehme überdurch-
        schnittlich zu; der Trend zu Geräten, die sowohl UKW
        als auch DAB+-fähig sind, sei eindeutig: Der Anteil
        DAB+-fähiger Geräte im Verkauf sei im September bei
        19 Prozent gelegen gegenüber 13 Prozent im Vorjahr; die
        Anzahl der Empfangsgeräte sei 2016 um 1,85 Millionen
        bzw . 29 Prozent auf 8,24 Millionen gestiegen .
        Die Marktdurchdringung könnte noch gesteigert wer-
        den, wenn, wie jetzt im TKG vorgesehen, alle neu auf
        den Markt kommenden Radiogeräte mit DAB+-Emp-
        fangsmöglichkeit ausgestattet würden .
        Europa setze auf DAB+: Die europäischen Nachbar-
        länder seien ebenfalls auf dem Weg in die digitale Radio-
        zukunft . Norwegen werde 2017 vollständig auf DAB+
        umstellen, die Schweiz strebe das für 2020 bis 2024 an .
        Andere Länder folgen .
        Der gleichzeitige Betrieb von UKW und DAB+
        müsse im Zusammenwirken aller Marktbeteiligten und
        zeitgleich mit den privaten Programmveranstaltern er-
        folgen, weshalb ein abgestimmtes Vorgehen der öffent-
        lichen-rechtlichen Sender, des privaten Rundfunks, der
        Auto- und Geräteindustrie, der Regulierungsinstitutionen
        und des Gesetzgebers erforderlich sei .
        Die ARD zum Beispiel setze auf ein Stufenmodell,
        bestehend aus Ausbau- und Migrationsphase . Zunächst
        sollen die Netze zügig ausgebaut werden, um gemein-
        sam mit dem Deutschlandradio das angestrebte Versor-
        gungsziel von 95 Prozent der Fläche der Bundesrepublik
        zwischen 2018 und 2020 zu erreichen . In der Migrations-
        phase solle ein konkretes Verfahren für den Ausstieg aus
        UKW vereinbart werden . Das müsse sich aber nicht al-
        lein in einem fixen Abschaltdatum für UKW erschöpfen.
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724298
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        (B) (D)
        Es müsse einen öffentlich kommunizierten Zeitplan
        geben; denn nur da in Europa, wo dieser vorgegeben sei,
        entwickle sich der Markt für DAB+ schneller als in den
        anderen Staaten . Das Bundesministerium für Verkehr und
        Infrastruktur habe durch die Gründung eines Digitalradio
        Boards ein erstes Signal gesetzt, in das alle Marktbetei-
        ligten eingebunden seien . Auch die Kommission zur Er-
        mittlung des Finanzbedarfs (KEF) habe die Bewilligung
        der Mittel für DAB+ mit einem klaren Appell an die Me-
        dienpolitik verbunden, eindeutig Position zu beziehen,
        nicht zuletzt um den parallelen Betrieb von kostengüns-
        tigem DAB+ und teurem UKW so kurz wie möglich zu
        halten . Dies wird von den Bundesländern und dem Bun-
        desrat unterstützt . Schon beim dritten Änderungsgesetz
        zum TKG vor wenigen Monaten hat der Bundesrat eine
        Verpflichtung für Gerätehersteller empfohlen, zukünftig
        alle neuen Radiogeräte auch mit DAB+-Empfangsmög-
        lichkeit auszustatten . So könne ein maßgeblicher Beitrag
        zur Beschleunigung der Digitalisierung des Hörfunks ge-
        leistet werden .
        So weit, so gut, so könnte die schöne neue Welt also
        aussehen . Aber ganz so einfach ist es nicht, wie so oft:
        Nach dem bis 2012 geltenden § 63 Absatz 5 TKG sollten
        alle Frequenzzuteilungen für den analogen UKW-Hör-
        funk bereits bis Ende 2015 widerrufen werden . Die ur-
        sprünglich im Zusammenhang mit der Digitalisierung
        des Fernsehens abgeleitete Annahme, dass Hörfunk dann
        ganz überwiegend digital verbreitet werde, ist aber nicht
        eingetreten . Deshalb wurde § 63 Absatz 4 TKG im Ge-
        setzgebungsverfahren 2012 – abweichend vom Gesetz-
        entwurf der Bundesregierung – erneut geändert . Danach
        ist eine Verlängerung mindestens bis Ende 2025 möglich .
        Die Entwicklung des analogen UKW-Hörfunks sollte
        den medienrechtlichen Überlegungen der Länder fol-
        gen, die entscheiden, ob und wann an dieser Art der Pro-
        grammverbreitung teilweise oder in Gänze kein Bedarf
        mehr besteht, wobei Einigkeit bestand, dass dies von der
        Marktentwicklung digitaler Programmverbreitung bzw .
        -rezeption abhängen sollte . Die Bundesregierung hatte
        2012 zugesagt, im europäischen Rahmen für die rasche
        Verbreitung hybrider Endgeräte einzutreten, die sowohl
        Digitalradio als auch UKW empfangen können .
        Der nun vorliegende Entwurf zu § 48 TKG macht nun
        weder das eine noch das andere . Er gibt keinen neuen
        Termin für die Umstellung vor, versucht aber, die Ver-
        breitung entsprechender Empfangsgeräte nicht auf eu-
        ropäischer, sondern lediglich auf nationaler Ebene zu
        befördern .
        Der Bundesrat hatte schon mit seiner Stellungnahme
        zur dritten Änderung des TKG am 23 . September 2016
        einen Normvorschlag für eine Verpflichtung über § 48
        Absatz 4 TKG vorgelegt, wonach Endgeräteherstelle nur
        noch Geräte auf den Markt zu bringen dürfen, die auch
        digitalen Empfang ermöglichen – so wie dies auch bei
        der Digitalisierung des terrestrischen Fernsehmarktes
        erfolgt sei . Die Bundesregierung hat den Beschluss des
        Bundesrates damals nicht übernommen – mit Verweis
        auf europarechtliche Bedenken und die zu befürchten-
        de Zeitverzögerung . Die notwendigen Anpassungen des
        TKG an die europäischen Vorgaben zur Netzneutralität
        dürften nicht weiter verzögert werden . Der Bundestag ist
        dem vor wenigen Wochen mehrheitlich gefolgt und hat
        die Änderung des § 48 Absatz 4 TKG wie vom Bundesrat
        vorgeschlagen abgelehnt .
        Nun schiebt die Bundesregierung eilig eine vierte
        Änderung des Telekommunikationsgesetzes hinterher,
        um dem Wunsch des Länder und des Bundesrates doch
        noch zu folgen . Allerdings: Für den Gesetzentwurf ist ein
        Notifizierungsverfahren bei der EU erforderlich, um zu
        prüfen, ob der Entwurf Hemmnisse für den freien Waren-
        verkehr enthält. Die Notifizierungsfrist wird erst Anfang
        August 2017 ablaufen . Die zweite und dritte Lesung des
        Gesetzes in einer der letzten Sitzungswochen im Juni,
        also noch vor Abschluss des Notifizierungsverfahrens,
        halte ich für überaus problematisch .
        Wir sehen hier noch Klärungsbedarf . Deshalb bringen
        wir eine an sich inhaltlich diskussionswürdige Gesetzes-
        änderung ein, wollen aber sowohl die europarechtlichen
        als auch die medienpolitischen Aspekte noch gründlich
        prüfen .
        Thomas Lutze (DIE LINKE): Deutschland hinkt bei
        der Digitalisierung des Hörfunks im europäischen Ver-
        gleich weit hinterher . Im Jahr 2016 lag die Quote der Ra-
        diohörer, die ihr Programm digital empfangen, lediglich
        bei etwas über 13 Prozent . Obwohl digitales Radio seit
        2005 praktisch überall in Deutschland zu empfangen ist,
        läuft die Verbreitung der entsprechenden Empfangsgerä-
        te nur sehr schleppend .
        Dabei hatte man im letzten Jahrzehnt noch gehofft, bis
        2015 eine solch große Verbreitung des digitalen Hörfunks
        erreicht zu haben, dass die UKW-Sender abgeschaltet
        werden können und so wertvolle Frequenzen für andere
        Dienste frei werden . Dieses Ziel wurde deutlich verfehlt .
        Die von der Bundesregierung vorgeschlagene Maß-
        nahme, für alle höherwertigen Empfangsgeräte die
        Schaffung der Möglichkeit des digitalen Empfangs vor-
        zuschreiben, kann einen Beitrag dazu leisten, die Markt-
        durchdringung digitaler Radiogeräte zu verbessern . Al-
        lerdings hat die Bundesregierung durch ihre Definition
        dessen, was höherwertige Empfangsgeräte darstellen, ein
        großes Schlupfloch offen gelassen. Dies sind laut dem
        Gesetzentwurf alle Geräte, die den Sendernamen anzei-
        gen können . Will sich ein Hersteller weiterhin die digita-
        le Schnittstelle in seinem Gerät sparen, so lässt er einfach
        das Display am Radio weg oder unterbindet die Anzeige
        des Sendernamens softwareseitig .
        Weiterhin kritisieren wir, dass den Herstellern und
        Händlern mit 12 Monaten bis zum Inkrafttreten des Ge-
        setzes eine mehr als großzügige Frist für den Übergang
        gewährt wird . Die Bundesregierung schreibt dazu selbst
        in ihrem Entwurf, dass diese Frist dem Abverkauf der
        rein analogen Geräte dienen soll . Dies bedeutet, dass
        der Markt, in dem wir ja eigentlich die Position der di-
        gitalen Empfangsgeräte stärken wollen, noch einmal mit
        im Preis reduzierten und massiv beworbenen Altgeräten
        geflutet wird. Und wie oft kauft man schon ein neues Ra-
        dio? In der Regel ist der Kauf einer Stereoanlage eine
        Anschaffung für Jahrzehnte.
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24299
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        Die Linke unterstützt das Anliegen des Gesetzentwur-
        fes, aber ich hoffe, dass wir in den Ausschussberatungen
        noch an der einen oder anderen Stelle ein wenig nachbes-
        seren können .
        Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es
        wird ja häufig behauptet, die Opposition würde Geset-
        ze der Regierung immer schon aus Prinzip kritisieren .
        Heute kann ich mal das Gegenteil beweisen: Mit dem
        vorliegenden Gesetz soll festgeschrieben werden, dass
        alle neuen Radiogeräte so ausgerüstet sein müssen, dass
        sie einen digitalen Empfang ermöglichen – entweder
        über DAB+ oder über IP . Das begrüßen wir . Umgekehrt
        scheint diese sachliche Debatte von den Vertreterinnen
        und Vertretern der Koalitionsfraktionen nicht geführt zu
        werden; denn schon seit Jahren mahnen wir dies an . Viel
        mehr Menschen würden schon heute digital Radio hö-
        ren, und DAB+ hätte wahrscheinlich eine weit größere
        Verbreitung, wenn man sich vor Jahren dafür entschieden
        hätte, diese Verpflichtung beispielsweise für Autoradios
        einzuführen . Aber damals haben die Vertreterinnen und
        Vertreter der Koalitionsfraktionen vor der Wirtschaft ge-
        kuscht .
        Nun ja, sinnvolle Vorschläge setzen sich doch irgend-
        wann durch. Hoffentlich ist es nicht zu spät; denn die
        Verbreitung von DAB+ ist – noch – sehr gering, und so
        mancher Medienpolitiker erklärt diese Technologie in-
        zwischen für gescheitert . Dabei ist der DAB+-Empfang
        störungsfrei und gewährleistet eine vom Internet unab-
        hängige Verbreitung .
        Nun wird mit diesem Gesetz also dem technischen
        Fortschritt endlich Rechnung getragen und zugleich
        mehr Wahlfreiheit für Verbraucherinnen und Verbraucher
        ermöglicht . Das ist gut so .
        Besonders freut es mich, dass hier eine technikneu-
        trale Lösung gefunden wurde . DAB+ wird nicht einseitig
        gegenüber IP-Technologie bevorzugt oder umgekehrt,
        die Anforderung ist lediglich, dass digitaler Empfang
        möglich sein soll – auf die eine oder andere Technolo-
        gie gestützt . Wenn sich eine Bürgerin oder ein Bürger
        in Zukunft ein neues Radio kaufen, können sie sich also
        aussuchen, ob sie lieber ein Internetempfangsgerät ha-
        ben wollen oder ein DAB+-Radio . In einer Situation, in
        der zumindest unklar ist, ob DAB+ sich als Technologie
        durchsetzen wird, scheint mir das eine sachgerechte Lö-
        sung .
        Wenn dieser parallele Ansatz weiterverfolgt wird, soll-
        ten wir allerdings im Bereich des IP-Radios in Zukunft
        genauer hinschauen . Sehr viele Menschen hören Radio-
        programme vor allem im Auto . Das alte Autoradio wird
        aber in neuen Autos inzwischen durch Hightech-Medi-
        enplattformen ersetzt, die viel mehr zu bieten haben als
        nur das profane Radio . Mehr Auswahl ist grundsätzlich
        immer gut .
        Es stellt sich aber auch immer dringlicher die Frage,
        wer zu welchen Konditionen Zugang zu diesen Plattfor-
        men hat und wie leicht oder schwer die jeweiligen An-
        gebote erreichbar sind . Es handelt sich schließlich um
        vergleichsweise neue Technologien, die in der Regel
        nicht unter den Plattformbegriff des Rundfunkstaatsver-
        trags fallen, bei denen der Zugang für Rundfunkanbieter
        nicht automatisch gegeben ist und die sich der Kontrolle
        durch die Landesmedienanstalten weitgehend entziehen .
        Trotzdem muss aus meiner Sicht so etwas wie Platt-
        formneutralität in einem möglichst weitgehenden Sinne
        sichergestellt sein. So wie wir im offenen Internet auf
        Netzneutralität beharren, müssen wir auch bei Medien-
        plattformen in Autos einen gleichberechtigten Zugang
        sicherstellen .
        Ich möchte noch einen letzten Punkt ansprechen:
        Mich erreichen immer wieder besorgte Briefe von Bür-
        gerinnen und Bürgern, die eine UKW-Abschaltung be-
        fürchten. Hier muss vor allem Klarheit geschaffen wer-
        den angesichts der Debatten über die UKW-Abschaltung
        und das Festlegen verschiedener Zeitpunkte in der Ver-
        gangenheit . Es muss vor allem langfristig und umfassend
        über die UKW-Abschaltung informiert werden . Die recht
        kurzfristige Umschaltung von DVB-T auf DVB-T2 hat
        gezeigt, dass vor allem die Nutzerinnen und Nutzer das
        Nachsehen haben .
        Eine Verständigung darüber muss daher mit den
        Ländern erfolgen, denn dieses Thema liegt nun mal im
        Kompetenzbereich der Bundesländer . Sie sind es auch,
        die die Weichen für DAB+ stellen müssen . Wir hier im
        Bundestag können aber zumindest dafür sorgen, dass
        DAB+ nicht daran scheitert, dass es keine Geräte dafür
        zu kaufen gibt .
        Anlage 35
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
        CSU und SPD: 25 Jahre Ostseerat – Das Modell
        für eine gelungene Integration von Ost und West
        weiterentwickeln (Tagesordnungspunkt 37)
        Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): Ich bin Schles-
        wig-Holsteiner . Zudem gehörte ich jahrelang der Ostsee-
        parlamentarierkonferenz an . Der Ostsee fühle ich mich
        eng verbunden . Sie ist für mich ein Stück Heimat . Als
        Deutschland im Jahr 2012 die Präsidentschaft im Ost-
        seerat führte, erklärte Bundespräsident Joachim Gauck:
        „Das Baltische Meer ist ein Meer der Freiheit gewor-
        den .“ Das ist großartig, denn es war nicht immer so . Der
        Ostseeraum war durchaus Ort beeindruckender Koope-
        rationen wie der Gründung der Hanse in der Mitte des
        13 . Jahrhunderts . Er war aber vor allem auch Ort wech-
        selnder Bündnisse und Kriege um die Vorherrschaft im
        Norden Europas . Die Ostsee war zentraler Schauplatz
        des Ersten und des Zweiten Weltkrieges, aber auch des
        Kalten Krieges . Schätzungen gehen von mindestens
        6 500 DDR-Bürgern aus, die über die Ostsee in den Wes-
        ten flüchten wollten. Nur etwa 900 von ihnen kamen dort
        an .
        Das Ende des Kalten Krieges eröffnete auch für die
        Ostseestaaten neue Möglichkeiten . Es war die Vision ei-
        nes friedlichen und vereinten Ostseeraumes, die den da-
        maligen dänischen Außenminister Uffe Ellemann-Jensen
        und seinen deutschen Kollegen Hans-Dietrich Genscher
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724300
        (A) (C)
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        bewogen, den Ostseerat ins Leben zu rufen . Sie ver-
        banden damit das Ziel, ein politisches Dialogforum zu
        schaffen, in dem die wirtschaftlichen und sozialen Be-
        ziehungen der Hanse wiederbelebt werden . Insgesamt
        neun Staaten haben geografisch unmittelbaren Zugang
        zur Ostsee . In der Tat verbindet die Ostseeanrainerstaa-
        ten eine Art nordische Gelassenheit und Toleranz, die zu
        vergleichbaren politischen, wirtschaftlichen und kultu-
        rellen Einstellungen führte . Selbst das russische Sankt
        Petersburg wurde 1703 gegründet, um an dieser Menta-
        lität teilzuhaben .
        Die Außenminister des Ostseerates werden sich am
        20. Juni in Reykjavik treffen, um das 25-jährige Beste-
        hen des Ostseerates zu feiern . Ich sehe darin ebenfalls
        eine Erfolgsgeschichte . Die Osterweiterung der Europä-
        ischen Union um Länder wie Polen und die baltischen
        Staaten hat ebenso wie die Ostseestrategie der EU dazu
        beigetragen, die Folgen des Kalten Krieges zu überwin-
        den . Die Region ist wieder wirtschaftlich und politisch
        zusammengewachsen . Der Ostseerat hat diese Arbeit als
        Dialogforum unterstützt . Er hat dazu beigetragen, den
        Austausch zwischen Menschen zu fördern . Vor allem hat
        er auch die schwierige Umweltsituation der Ostsee in den
        Blick genommen .
        Insgesamt schätze ich die Ergebnisse positiv ein,
        die Bilanz bleibt aber dennoch nüchtern . Wir müssen
        uns auch im Ostseeraum mit einer neuen Wirklichkeit
        konfrontieren . Die Freiheit des Baltischen Meeres, die
        Joachim Gauck so lobte, ist heute wieder gefährdet . Ost-
        seerat und Ostseeparlamentarier sind in der Tat Formate,
        an denen Russland beteiligt ist . Wir sehen aber auch hier,
        dass eine positive Einbindung Russlands Grenzen hat .
        Zur Wahrheit gehört es, offen auszusprechen, dass
        neue Trennlinien in Europa bereits existieren . Russland
        hat mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und
        der Unterstützung separatistischer Bewegungen in der
        Ostukraine Vertrauen zerstört . Russlands Militärausga-
        ben haben sich seit 2007 fast verdoppelt, wenn auch be-
        dingt durch die Wirtschaftskrise die Ausgaben seit zwei
        Jahren wieder sinken . In der Ostsee hat Russland riskante
        Militärmanöver durchgeführt . Es wird von Zwischenfäl-
        len berichtet, russische Jets hätten Angriffe in unmittel-
        barer Nähe von US-Schiffen simuliert. Seit Ausbruch der
        Ukraine-Krise beklagen Schweden, Polen und die balti-
        schen Staaten, dass mehrfach russische Kampfflugzeuge
        in ihren Luftraum eingedrungen seien . Das bisher stark
        an Moskau gebundene Belarus möchte sich aus der rus-
        sischen Umklammerung lösen . Die belarussische Staats-
        führung sucht den Kontakt zum Westen . Die Hauptstadt
        Minsk stand als neutraler Boden zur Verfügung, auf dem
        die Parteien des Ukraine-Konfliktes miteinander verhan-
        deln konnten .
        Das alles bleibt nicht ohne Auswirkungen auf den Ost-
        seeraum . Die NATO hat ihre Präsenz in der Region ver-
        schärft . In militärisch neutralen Ländern wie Schweden
        und Finnland werden plötzlich Diskussionen um einen
        NATO-Beitritt geführt . Die schwedische Armee wappnet
        sich für den Ernstfall . Auf der Insel Gotland stationiert
        Schweden seine Soldaten. Ein Offizier berichtet, es sei
        in Anbetracht neuer Waffentechnologien schwer, sich ge-
        gen die in Kaliningrad stationierten Iskander-Raketen zu
        verteidigen . Schweden hat seine Militärausgaben erhöht
        und ein Gastabkommen mit der NATO geschlossen .
        Die finnische Regierung bereitet sich mit 50 000 zu-
        sätzlichen Soldaten auf mögliche Krisenfälle vor . Berich-
        ten der finnischen Regierung zufolge habe sich die Si-
        cherheitslage in Finnland verschlechtert . Immerhin teilt
        das Land fast 1 000 Kilometer Landgrenze mit Russland .
        Man sei beunruhigt über die russische Sicht, Sicherheit
        auf Einflusszonen aufzubauen. Auch Finnland schloss
        einen Vertrag mit den USA über militärische Zusammen-
        arbeit ab .
        Alle anderen Staaten des Ostseeraumes sind Mit-
        glieder der NATO . Die NATO hat ihre Präsenz in den
        baltischen Staaten und in Polen massiv erhöht . Unsere
        Botschaft ist klar: Wir wollen keine militärische Ausei-
        nandersetzung mit Russland . Aber wir stehen zu unserer
        Bündnisverpflichtung, wenn Russland einen Mitglied-
        staat der Allianz angreift .
        Zugleich hat sich die Situation auch in den transat-
        lantischen Beziehungen verändert . Die Botschaften des
        neuen amerikanischen Präsidenten Donald Trump sind
        widersprüchlich, sein Verhalten bleibt unberechenbar .
        Mal erklärt er die NATO für obsolet, dann wieder nicht .
        Die EU ist in einer Phase der Neuorientierung . Groß-
        britannien hat sich entschieden, die EU zu verlassen . In
        Frankreich und Österreich drohten rechtspopulistische
        Europakritiker die Präsidentschaftswahlen zu gewinnen .
        Die Balkanstaaten möchten in die EU aufgenommen
        werden . Sie werden von zwischenstaatlichen, ethnischen
        und religiösen Konflikten destabilisiert. Offen ist auch,
        wie sich unser künftiges Verhältnis zur Türkei gestalten
        wird . Die EU muss entscheiden, wie sie mit Erweiterun-
        gen und mit der weiteren Vergemeinschaftung ihrer Poli-
        tikbereiche umgehen will .
        Neben der Ukraine-Krise ist Europa noch mit anderen
        Krisen belastet, allen voran mit dem schrecklichen Bür-
        gerkrieg in Syrien und dem internationalen Terrorismus .
        Welche Schlussfolgerungen sind daraus zu ziehen?
        In der Tat ist der Ostseeraum eine der politisch und
        wirtschaftlich stabilsten sowie sichersten Regionen der
        Welt . Das aggressive Verhalten Russlands hat aber auch
        die Ostseeanrainerstaaten verunsichert . Die NATO, die
        baltischen Staaten und Polen, aber auch Schweden und
        Finnland haben Konsequenzen gezogen und setzen auf
        militärische Prävention .
        Bundeskanzlerin Angela Merkel hat richtigerweise da-
        rauf hingewiesen, dass „vieles, auf das wir uns bisher wie
        selbstverständlich verlassen haben, nicht mehr selbst-
        verständlich ist .“ Die Konsequenz aus der Wahl Donald
        Trumps und dem Brexit, aus Erdogan, Syrien und dem
        internationalen Terrorismus muss lauten: Wir brauchen
        ein starkes Europa . Europa muss für sich sorgen können .
        Die skandinavischen Länder sind hier gefordert, mehr
        Verantwortung zu übernehmen . Eine klar proeuropäische
        Haltung vertritt Finnland, das auch den Euro eingeführt
        hat . Schweden könnte den Euro einführen, möchte es
        aber bisher nicht . Auch Dänemark hat den Euro nicht ein-
        geführt und zudem eine Menge Opt-out-Regelungen bei
        den europäischen Verträgen . Norwegen hat zwei Volks-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24301
        (A) (C)
        (B) (D)
        abstimmungen zum EU-Beitritt durchgeführt . In beiden
        Fällen hat die Bevölkerung dagegen votiert .
        Es sind starke und stabile Länder, die viel zur EU
        beitragen können . Deutschland sollte die Möglichkeiten
        des Ostseerates und die Ostseeparlamentarierkonferenz
        nutzen, bei den skandinavischen Ländern für diesen Weg
        zu werben . Sicherheit und Stabilität im Ostseeraum brau-
        chen ein klares Ja zur Europäischen Union .
        Der Ostseerat ist eine zwischenstaatliche Organisati-
        on, die Chancen und Möglichkeiten eröffnet, zwischen
        den Staaten kulturellen Austausch und regionale Zusam-
        menarbeit zu vertiefen . Es ist gut, dass auch Russland
        hier mit am Tisch sitzt . Andererseits haben die Krisen
        der letzten Jahre auch den Ostseeraum verändert . Viele
        unserer Hoffnungen aus dem Jahr 1992, dem Jahr der
        Gründung des Ostseerates, haben sich nicht erfüllt . Die
        Zusammenarbeit mit Russland, so wie es heute ist, hat
        Grenzen . Dieses Vakuum kann der Ostseerat nicht füllen .
        Die Tatsache, dass seit 2014, dem Jahr der Krim-Anne-
        xion, keine gemeinsame Sitzung der Außenminister des
        Ostseerates mehr stattgefunden hat, belegt das . Deshalb
        hat der Ostseerat in der deutschen Ostpolitik auch eher an
        Bedeutung verloren .
        Die skandinavischen Länder fühlen sich ebenso wie
        Polen und die baltischen Staaten von Russland bedroht .
        Heute ist der Ostseeraum eine der sichersten Regionen
        der Welt . Derzeit ist dort kein akuter Krisenherd erkenn-
        bar . Wir dürfen die Region nicht vernachlässigen . Denn
        auch aus Vernachlässigung können Krisen erwachsen .
        Dem können die skandinavischen Länder entgegen-
        wirken, indem sie erkennen: Ein starkes Europa ist die
        Antwort auf alle Krisen unserer Zeit . Hier sehe ich die
        Chance für den Ostseerat, aktiv die Zukunft zu gestalten .
        Franz Thönnes (SPD): In diesem Jahr begehen alle
        Anrainerstaaten der Ostsee das 25-jährige Bestehen des
        Ostseerates . Ein Jahr nach dem Silberjubiläum der Ost-
        seeparlamentarierkonferenz folgt nun das Pendant der
        politischen Kooperation auf Regierungsebene und kann
        auf 25 Jahre aktive Politik in der Ostseeregion zurückbli-
        cken. In wenigen Tagen, am 20. Juni, findet aus diesem
        Anlass ein Treffen der Außenminister des Ostseerates im
        Rahmen der aktuellen isländischen Präsidentschaft in
        Reykjavik statt .
        Über Ostseepolitik zu sprechen heißt, über Koopera-
        tions-, Friedens- und Sicherheitspolitik zu sprechen . Das
        war vor 25 Jahren so . Und das ist heute auch so . Wir spre-
        chen über eine Region mit mehr als 80 Millionen Men-
        schen, eine Region, die eine bewegende gemeinsame
        Zeit aus der Geschichte der Hanse vom 12 . bis 17 . Jahr-
        hundert hinter sich hat, eine Region, in der die Ostsee
        für die Nationen nahezu ein halbes Jahrhundert ein Meer
        war, das sie trennte .
        Dies änderte sich nach dem Wegfall des Eisernen
        Vorhanges 1989/90 . Mit starker Kraft keimte wieder die
        Hoffnung auf, dass die jahrzehntelange Trennung des
        Ostseeraumes aus dem Kalten Krieg überwunden und er
        sich wieder zu einer prosperierenden und wohlhabenden
        Region entwickeln wird . Diese Vision wurde sowohl von
        den Mitgliedern der Parlamente wie auch von den da-
        maligen Außenministern Dänemarks und Deutschlands,
        Uffe Ellemann-Jensen und Hans-Dietrich Genscher, wie-
        derbelebt . Und als Abgeordneter aus Schleswig-Holstein
        will ich darauf verweisen, dass dieser Gedanke ebenso
        tatkräftig von der damaligen SPD-geführten Landesre-
        gierung mit ihrem Ministerpräsidenten Björn Engholm
        unterstützt wurde .
        Natürlich ging es damals um die Fragen, wie man
        gute Nachbarschaft und stabile Demokratien rund um
        die Ostsee entwickeln könne . Die erste Zusammenkunft
        der Parlamentarier 1991 im Ostseeraum war für die Ab-
        geordneten aus unterschiedlichen politischen Systemen
        eine ausgezeichnete Möglichkeit zum Dialog und für
        einen Blick über den eigenen Tellerrand . Gemeinsame
        Interessen wurden deutlich . Im transparenten Dialog ent-
        standen neue Ideen, und gemeinsames Handeln wurde
        verabredet . Mit der kritischen Beratung des Handelns der
        Regierenden, neuen Verbindungen und Kooperationen
        erhielt die Ostseezusammenarbeit ihre parlamentarische
        Dimension .
        Das erste Außenministertreffen des Ostseerates in Ko-
        penhagen folgte dann ein Jahr später am 5 . und 6 . März
        1992 . Damit wurde die historische Chance wahrgenom-
        men, ein Forum der Regierungen für den politischen
        Dialog und für eine konstruktive Zusammenarbeit zu
        schaffen. Die wirtschaftlichen, sozialen und politischen
        Beziehungen auf der Grundlage einer gefestigten Identi-
        tät der hanseatischen Geschichte wiederherzustellen, war
        das zentrale Ziel . Der Ostseerat sollte dabei das allge-
        meine Gremium sein, in dem auf Regierungsebene die
        Zusammenarbeit koordiniert wird . Heute ist er in Europa
        einzigartig . Acht Mitgliedstaaten der Europäischen Uni-
        on, zwei EFTA-Staaten, Russland und die Europäische
        Kommission arbeiten auf Augenhöhe in einer zwischen-
        staatlichen Form in einer Region eng zusammen .
        Natürlich standen damals neben Fragen der wirt-
        schaftlichen, politischen und kulturellen Kooperation
        die umweltpolitischen Herausforderungen der erheblich
        verschmutzen Ostsee im Vordergrund, doch mehr und
        mehr kamen auch Infrastruktur, Energie, Arbeitsmarkt,
        Tourismus, Gesundheit, Bildung, Wissenschaft und
        weiche Sicherheitspolitik auf die Agenda . Wesentliche
        Arbeitsinstrumente sind die Ostseestrategie der Europä-
        ischen Union und die Politik der Nördlichen Dimensi-
        on . Das 1998 gegründete Sekretariat des Ostseerates in
        Stockholm koordiniert die Arbeit . Dazu gehören Grup-
        pen von Sachverständigen, Netzwerke, Task Forces und
        verschiedene Programme . Die Mitgliedstaaten erhalten
        bei der Koordinierung und Umsetzung der derzeitigen
        drei langfristigen Prioritäten des CBSS Unterstützung .
        Dies sind regionale Identität sowie eine nachhaltige, pro-
        sperierende und sichere Region . Sie wurden 2010 in der
        Erklärung von Vilnius „Eine Vision für den Ostseeraum
        bis 2020“ festgelegt .
        Es dürfen als Mutmacher für künftige Perspektiven
        beispielhaft folgende Erfolge der bisherigen Kooperation
        genannt werden:
        Durch intensive Zusammenarbeit konnten mit der
        Helsinki-Kommission und der Internationalen Seeschiff-
        fahrts-Organisation (IMO) strengere Abwasser- und
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724302
        (A) (C)
        (B) (D)
        Abgasregeln für Passagierschiffe auf der Ostsee durch-
        gesetzt werden . Auch gibt es inzwischen schärfere Vor-
        schriften gegen Eutrophierung . Das Konzept „Clean
        Baltic Shipping“ mit dem Ziel „Null Emissionen in der
        Seefahrt“ führt in mehreren Häfen zur Reduzierung des
        Schadstoffausstoßes von Schiffen.
        Die Hauptschifffahrtswege der Ostsee wurden siche-
        rer .
        Auch die EU-Ostseestrategie hat nach 2009 als erste
        makro-regionale Strategie neue Formen der Zusammen-
        arbeit und der Strategieplanung in der Region zwischen
        den Ostseeanrainerstaaten, zwischen Bildungs- und For-
        schungseinrichtungen, Verwaltungen, Unternehmen und
        Gewerkschaften geschaffen. Bewahrung der Ostsee, An-
        bindung der Region sowie Förderung des Wohlstandes
        sind aktuell die Schwerpunkte .
        Aus dem Leuchtturmprojekt der EU-Ostseestrategie
        „Baltic Sea Labour Network“ ist das Baltic Sea Labour
        Forum als permanentes Gremium für den sozialen Di-
        alog in der Ostseeregion mit über 30 Arbeitgeber- und
        Gewerkschaftsorganisationen sowie Partnern entstan-
        den, das heute vom Sekretariat des Ostseerates organi-
        satorisch begleitet wird . Im sozialen Dialog geht es um
        nachhaltige Arbeitsmärkte, faire Arbeitsbedingungen,
        Arbeitsmobilität und sozial abgesicherte Bedingungen
        für Grenzpendler sowie Bekämpfung der Jugendarbeits-
        losigkeit . Derzeit wird gemeinsam das Arbeitsminister-
        treffen der Ostseeratsmitglieder am 15. Juni 2017 in Ber-
        lin vorbereitet .
        Als Erfolg kann auch die im Ostseerat während der
        deutschen Ratspräsidentschaft für die projektorientierte
        Modernisierung der ostseenahen Gebiete Nordwestruss-
        lands 2012 beschlossene Pilot-Finanzierungs-Initiative
        (PFI) angesehen werden. Gute Projekte können hier fi-
        nanziell schnell angestoßen werden . Gerade in diesen
        kritischen Zeiten brauchen wir mehr statt weniger Zu-
        sammenarbeit, um die gemeinsamen Herausforderungen
        zu bewältigen .
        Schließlich bleibt auch auf gemeinsamen Druck aus
        der Ostseeregion das Thema Gesundheit in der EU-Ost-
        seestrategie bei der EU-Kommission weiterhin ein för-
        derfähiges Politikfeld .
        Der Ostsee-Jugenddialog – Baltic Sea Youth Dialogue
        (BSYD) – ist ebenso eine wichtige Investition in unsere
        gemeinsame Region, gerade wenn man an die Langfrist-
        priorität der regionalen Identität denkt .
        Die Gründung des Baltic 2030-Netzwerks war die
        rasche Antwort des Ostseerates auf die in den Nachhal-
        tigkeitszielen dargelegten globalen Herausforderungen .
        Hier geht es um die Entwicklung von Partnerschaften
        und Projekten, darum, die Agenda 2030 der Vereinten
        Nationen für nachhaltige Entwicklung regional umzuset-
        zen und damit auch der zweiten Langfristpriorität einer
        „nachhaltigen und prosperierenden Region“ gerecht zu
        werden .
        Im Rahmen der dritten langfristigen Priorität „eine si-
        chere Region“ sind mit der Task Force des Ostseerates
        zur Bekämpfung des Menschenhandels, der Experten-
        gruppe für gefährdete Kinder und der Ostsee Task Force
        zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität gute Ko-
        operationsstrukturen geschaffen worden.
        Der russisch-ukrainische Konflikt und die militäri-
        schen Auseinandersetzungen in der Ostukraine haben
        leider auch ihre Auswirkungen auf die Ostseeregion . An-
        gesichts des Verhaltens Russlands in der Ukraine wurden
        2014 die Ministertreffen sowie das alle zwei Jahre statt-
        findende Treffen der Regierungsspitzen des Ostseerates
        von den anderen Mitgliedstaaten ausgesetzt . Die Ostsee-
        parlamentarierkonferenz hat in ihren letztjährigen Kon-
        ferenzen nicht nur zu einer vollständigen Umsetzung der
        Minsker Vereinbarungen aufgerufen, sondern ebenso die
        Erwartungen an alle Ostseestaaten ausgesprochen, dass
        sie alles in ihren Kräften Stehende tun, um sicherzustel-
        len, dass „sich die Ostseeregion weiterhin durch intensi-
        ve Zusammenarbeit und gute, friedliche Nachbarschaft
        auszeichnet .“ Aus diesem Grund forderte die Ostseepar-
        lamentarierkonferenz auch „eine Wiederaufnahme der
        Ministertreffen des Ostseerates, weil durch diese Treffen
        der Dialog gefördert und die Zusammenarbeit gestärkt
        werden .“
        Es ist daher nur zu begrüßen, dass im Rahmen der letzt-
        jährigen polnischen Ostseeratspräsidentschaft erstmalig
        wieder Zusammenkünfte der Kultur-, Wissenschafts- und
        Vizeaußenminister auf Ostseeratsebene stattfanden und
        für diesen Monat Treffen der Arbeits- und Außenminis-
        ter geplant sind . Die Bundesregierung hat hierbei unsere
        volle Unterstützung .
        Gleichwohl gilt es angesichts der erheblichen Zunah-
        me russischer Militäraktivitäten in den letzten Jahren in
        der Ostseeregion sowie der daraufhin ausgeweiteten mi-
        litärischen Präsenz der NATO in ihren Mitgliedstaaten,
        alle Anstrengungen zu unternehmen, um sicherzustel-
        len, dass die militärischen Bewegungen im Ostseeraum
        nicht zu einem neuen Sicherheitsrisiko in Nordeuropa
        werden . Notwendig sind Transparenz, der Verzicht auf
        militärische und rhetorische Provokationen, die Nutzung
        technischer Sicherheitssysteme wie Transponder bei Mi-
        litärfliegern und der Dialog sowie die Schaffung neuen
        Vertrauens, dass zur Reduzierung des militärischen Po-
        tenzials in der Ostseeregion und zur Schaffung einer ge-
        meinsamen Sicherheitsarchitektur führt .
        Aus meiner jahrzehntelangen politischen Arbeit im
        Ostseeraum kann ich nur bestätigen, dass der Geist des
        Jahres 1992 von Kopenhagen nach wie vor breit vorhan-
        den ist . Und gerade deshalb gilt es angesichts der inter-
        nationalen Herausforderungen auch, in internationaler
        Kooperation zu handeln und nicht in Nationalismen zu
        verfallen oder sich gar zu isolieren . Deshalb fordern die
        Koalitionsfraktionen mit ihrem Antrag die Bundesregie-
        rung dazu auf, sich in ihrer Ostseeratspolitik in nächster
        Zeit auf 14 Punkte zu konzentrieren, von denen ich hier
        aus meiner Sicht einige zentrale Felder kurz benenne .
        Die Punkte 1 bis 3 der Forderungen unterstreichen das
        gerade Formulierte zur Schaffung von mehr Sicherheit
        durch Stärkung der Kooperationen für eine friedliche
        Entwicklung in der Region und in Europa . Dazu gehört
        ebenso die innere Sicherheit, wenn es, wie im Punkt 13
        gefordert, darum geht, den Menschenhandel im Ost-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24303
        (A) (C)
        (B) (D)
        seeraum wirkungsvoll zu bekämpfen und die Schutzme-
        chanismen für potenzielle Opfer zu verbessern .
        Der Aufruf zur verstärkten Wahrnehmbarkeit des Ost-
        seerates geht nicht nur an die Bundesregierung und die
        anderen Mitgliedstaaten, sondern auch an uns selbst .
        Gute Arbeit und Erfolge vermitteln sich nicht von allein .
        Es gilt die Weisheit: Tue Gutes und rede darüber .
        Gerade die soziale Dimension durch eine Auswei-
        tung der People-to-People-Kontakte und einer Erhöhung
        des Austausches von Jugendlichen, wie in den Ziffern 4
        und 5 gefordert, ist eine unverzichtbare Größe, wenn es
        darum geht, Offenheit sowie Vertrauen zu stärken und
        Feindbilder zu verhindern .
        Notwendig ist eine engere Kooperation im Rahmen
        der immer schneller stattfindenden Entwicklung eines
        grenzüberschreitenden Arbeits- und Ausbildungsmarktes
        in der Region . Und zu Recht gilt es, die tripartite Zusam-
        menarbeit wie im Baltic Sea Labour Forum von Arbeit-
        geberverbänden, Gewerkschaften und Politik zu unter-
        stützen. Das gemeinsame Zusammentreffen des Forums
        mit den Arbeitsministern in diesem Monat in Berlin ist
        hierzu ein wichtiges Zeichen .
        Wenn es darum geht die Wettbewerbsfähigkeit der
        Ostseeregion zu erhalten und auf die Zukunft auszurich-
        ten, so sind eine noch intensivere Kooperation im Wis-
        senschafts- und Forschungsbereich sowie eine Digitali-
        sierungsoffensive im Ostseeraum erforderlich.
        Gleiches gilt für erfolgreiche Antworten auf den Kli-
        mawandel und zur Umsetzung der Agenda 2030 eben-
        so wie für die Nutzung der Chancen eines nachhaltigen
        Tourismus, der die Attraktivität der Region erhöht und
        gleichzeitig ihre natürlichen Grundlagen bewahrt .
        Das in 25 Jahren guter Ostseekooperation Erreichte
        sowie die vor uns liegenden Herausforderungen sollten
        Mut und Ansporn sein, um mit Leidenschaft und Enthu-
        siasmus an einer friedlichen Weiterentwicklung unseres
        gemeinsamen Lebensraumes Ostsee zu arbeiten . Ost-
        seepolitik in diesem Sinne ist dann auch weiterhin Ko-
        operations-, Sicherheits- und Friedenspolitik zugleich .
        Es gibt nur eine Sicherheit für uns alle .
        Herbert Behrens (DIE LINKE): Seit 25 Jahren gibt
        es mit dem Ostseerat eine Zusammenarbeit zwischen
        Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Island, Lett-
        land, Litauen, Norwegen, Polen, Russland und Schwe-
        den mit dem Ziel der Neugestaltung der Beziehungen
        nach dem Ende des Kalten Krieges .
        Es waren Jahre des Ausbruchs aus dem Denken und
        Handeln der Blockkonfrontation und des Aufbruchs in
        eine Zukunft der wirtschaftlichen und politischen Zu-
        sammenarbeit an der einstigen Systemgrenze zwischen
        Ost und West .
        Es waren Jahre der Hoffnungen und Erwartungen der
        Menschen in den Ländern des ehemaligen Ostblocks, die
        sich jetzt nach Westen orientierten und so schnell wie
        möglich den ökonomischen Standard der entwickelten
        kapitalistischen Staaten erreichen wollten . Viele Erwar-
        tungen haben sich nicht erfüllt . Die Früchte der Zusam-
        menarbeit sind ungleich verteilt . Das Pro-Kopf-Ein-
        kommen in den EU-Staaten in der Ostsee-Region liegt
        zwischen 48 000 Euro in Dänemark und 11 000 Euro in
        Polen .
        Wenn der Lebensstandard so weit auseinanderklafft
        und auch die dadurch mit verursachten Probleme zuneh-
        men, dann muss das immer wieder ins Zentrum der Ar-
        beit gestellt werden . Ja, es ist richtig, wenn das Thema
        Sicherheit im nichtmilitärischen Sinne intensiv bearbei-
        tet wird . Organisierte Kriminalität und Menschenhandel
        müssen bekämpft und die Arbeit der Expertengruppe für
        gefährdete Kinder wirksam unterstützt werden . Doch es
        reicht nicht, die Symptome gesellschaftlicher Fehlent-
        wicklungen zu bekämpfen . Wer das Geschäft mit der Not
        der Menschen unterbinden will, der muss noch viel stär-
        ker die Not der Menschen selbst bekämpfen .
        Es muss also viel getan werden, um den politischen
        Dialog wieder zu verstärken . So steht es richtig im An-
        trag der Fraktionen von CDU/CSU und SPD . Es ist gut,
        dass unter dem Vorsitz Finnlands im Ostseerat die Ziele
        Umwelt, wirtschaftliche Entwicklung, Energie, Bildung
        und Kultur sowie zivile Sicherheit neu ausgerichtet wor-
        den sind . Jetzt muss die konkrete Zusammenarbeit auf
        diesen Feldern gestaltet werden – so hatten es die Mit-
        glieder der Ostseeparlamentarierkonferenz (BSPC) vor
        zwei Jahren in Rostock beschlossen . Ich bin guter Dinge,
        dass diese Forderung in drei Wochen, am 20 . Juni, beim
        Ministertreffen des Ostseerates in Reykjavik konkret
        wird; denn die Mitglieder des Ostseerates sind auch Mit-
        glieder der BSPC .
        Die Linksfraktion im Bundestag unterstützt die For-
        derung aus dem Antrag, das gegenseitige Vertrauen und
        den Dialog in der Ostseeregion wiederherzustellen und
        künftig wieder zu regelmäßigen Fachministertreffen zu
        kommen . Durch Gespräche und gemeinsame Projekte
        wird vertrauensvolle Zusammenarbeit aufgebaut und die
        Gefahr von Missverständnissen und neuen Konfrontati-
        onen zwischen den Staaten abgebaut . Das halte ich vor
        dem Hintergrund der gegenwärtigen militärischen Si-
        cherheitspolitik für unabdingbar .
        Wo einst in der Ostseeregion vier Staaten des War-
        schauer Paktes vier Staaten der Nato gegenüberstanden,
        sind es nach der Auflösung des Warschauer Paktes im
        Jahr 1991 heute acht Ostseeanrainer, die der Nato ange-
        hören . Konservative Kräfte in Finnland spielen ebenfalls
        mit dem Gedanken einer Nato-Mitgliedschaft . Der Geist
        von Kopenhagen, wie er im Antrag zitiert wird, ist mit
        diesem expansiven Wirken der Nato nicht vereinbar . Der
        Geist von Kopenhagen muss die Triebkraft für Frieden
        und Wohlstand in der Ostseeregion sein und die Arbeit
        des Ostseerates prägen . Und er muss eben auch für die
        Menschen spürbar sein, wenn er nicht nur deklaratori-
        schen Charakter haben soll .
        In diesem Sinne unterstützen wir den Antrag der Gro-
        ßen Koalition . Ich will aber auch darauf hinweisen, dass
        bei diesem Antrag die Opposition hätte einbezogen wer-
        den können . Sicher hätten wir als Linksfraktion den Titel
        des Antrags verändern wollen . Jetzt lautet er „25 Jahre
        Ostseerat – Das Modell für eine gelungene Integration
        von Ost und West weiterentwickeln“ . Ich habe darauf
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724304
        (A) (C)
        (B) (D)
        hingewiesen, dass von einer gelungenen Integration noch
        nicht gesprochen werden kann . Uns eint jedoch der Wille
        zu einer friedlichen und freundschaftlichen Zusammen-
        arbeit in der Ostseeregion .
        Erlauben Sie mir eine Anmerkung zum Schluss: Die
        Geschichte der Zusammenarbeit der Ostseestaaten nach
        dem Zweiten Weltkrieg beginnt nicht erst im Jahr 1992 .
        Wenn auch unter anderen Vorzeichen gab es ein system-
        übergreifendes Forum seit den 50er-Jahren bis hinein in
        die 70er-Jahre . Die DDR, damals maßgeblich mit dem
        Ziel, die Anerkennung als zweiter deutscher Staat zu
        erreichen, veranstaltete die internationale Ostseewoche .
        Im Gründungsjahr 1958 gab es ein Flottentreffen der
        Bundesmarine im Rahmen der Kieler Woche, was den
        Menschen sowohl in Deutschland als auch in den skan-
        dinavischen Staaten Unbehagen bereitete, heißt es in den
        Archivalien des Landesarchivs Greifswald . Und so ging
        es damals auch um den Abbau von Konfrontation und
        um blockübergreifende Kooperation . „Die Ostsee muss
        ein Meer des Friedens sein“ hieß die Losung der Ostsee-
        woche . Unabhängig von der Bewertung der damaligen
        Aktivitäten in beiden deutschen Staaten: Dass die Ostsee
        ein Meer des Friedens bleibt, gehört zu den wichtigen
        Zielen der internationalen Zusammenarbeit .
        Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Wir beschäftigen uns heute mit einem Antrag der Koa-
        lition zum 25-jährigen Bestehen des Ostseerats . Tatsäch-
        lich ist die Geschichte der europäischen Integration in
        der Ostseeregion seit 1989 eine Erfolgsgeschichte – eine
        Erfolgsgeschichte vor allem der EU-Erweiterungspolitik,
        mit den für die Region bedeutsamen Erweiterungsrunden
        1995 und 2004, aber auch der Integration innerhalb der
        Region neben und über die EU hinaus . So verbindet die
        Zusammenarbeit im Ostseerat heute eine Region, die seit
        Jahrhunderten wirtschaftlich, kulturell und mit der Ost-
        see offensichtlich auch ökologisch eng verknüpft ist und
        die über die Grenzen der heutigen EU hinausreicht .
        Das Besondere an der Ostseeregion ist dabei, dass
        diese Region Menschen und Regionen zusammenbindet,
        die tatsächlich über sehr große Unterschiede hinweg eine
        dynamische Zusammenarbeit pflegen und sich sehr be-
        wusst über Gemeinsamkeiten sind . Die Idee der Gemein-
        samkeiten in der Ostseeregion, mit einem Zusammen-
        gehörigkeitsgefühl über wirtschaftliche und politische
        Unterschiede hinweg, kann eine Quelle für sehr viele
        wünschenswerte Entwicklungen sein .
        Woran macht sich diese Zusammenarbeit fest? Daran,
        dass Menschen wie ich sich schlichtweg in Kopenhagen,
        Tallin oder Kaliningrad eher zu Hause fühlen als in Stutt-
        gart oder Frankfurt am Main? Ja, auch . Der bedeutendste
        Ausdruck ist aus meiner Sicht aber die Zusammenarbeit
        im zivilgesellschaftlichen Bereich, die im Antrag der Ko-
        alition gerade auch in Bezug auf die Zusammenarbeit der
        Parlamente, der NGOs und der Jugendarbeit gewürdigt
        wird . Diese einmalige Grundlage muss erhalten und ge-
        stärkt werden .
        Dazu muss man aber auch sagen, dass die Zusammen-
        arbeit in der Region in den letzten Jahren durch die re-
        pressive Gesetzgebung gegen Zivilgesellschaft und Bür-
        gerrechte in Russland erheblich erschwert, ja eigentlich
        sogar unmöglich gemacht wurde . Die Lage der Zivilge-
        sellschaft, aber auch die Bereitschaft der russischen Sei-
        te, entsprechende Themen anzugehen, sind sicherlich an
        einem Tiefpunkt angelangt . Gleichzeitig haben der russi-
        sche Interventionskrieg in der Ukraine und die russische
        Politik, immer wieder mit militärischen Provokationen in
        der Region selbst eine ungeschminkt aggressive Seite an
        den Tag zu legen, das Vertrauen in die Zusammenarbeit
        in der Ostseeregion schwer erschüttert . Das schlägt sich
        auch auf die Zusammenarbeit im Ostseerat nieder . Es ist
        kaum vorstellbar, dass die Zusammenarbeit in der Regi-
        on und auch im Ostseerat sich positiv weiterentwickeln
        lässt, solange Russland diese Politik nicht beendet .
        Deswegen ist es auch entscheidend, dass Deutschland
        seine Haltung unmissverständlich klarmacht: Die Solida-
        rität im Ostseeraum gilt in diesen Fragen uneingeschränkt
        vor allem denen, die das Opfer bzw . die Adressaten der
        russischen Aggression sind . Und die Sanktionen der EU
        gegen Russland bleiben richtig und notwendig . Das,
        liebe Koalition, hätten Sie in ihrem Antrag so klar auf-
        schreiben müssen .
        Der Ostseerat wird vor dem Hintergrund der gefährli-
        chen russischen Außenpolitik in der Region nicht in der
        Lage sein, den Vertrauensverlust der Weltgemeinschaft
        in Russland zu kompensieren oder auch nur zu mindern,
        der spätestens mit der Verletzung des Budapester Memo-
        randums entstanden ist . Aber er kann ein Gesprächsort
        für eine pragmatische Zusammenarbeit in der Region und
        auch mit Russland in wichtigen Fragen sein . Und damit
        meine ich ausdrücklich nicht nur die Zusammenarbeit
        im Bereich der wirtschaftlichen Modernisierung, bei der
        festzuhalten ist, dass die Missstände weiterhin überwie-
        gen und es der russischen Regierung ganz offensichtlich
        an Interesse mangelt, tatsächlich die notwendige Rechts-
        und Investitionssicherheit herzustellen .
        Aber bei Themen wie Sicherheit oder Ökologie kann
        der Ostseerat gerade vor dem Hintergrund der schwie-
        rigen Ausgangslage der Beziehungen zu Russland ein
        hilfreiches Gesprächs- und Zusammenarbeitsforum sein,
        an dem wir festhalten und in dem wir auch in Zukunft
        zusammenarbeiten wollen .
        Deswegen werden wir dem Antrag der Koalition zu-
        stimmen .
        Anlage 36
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
        brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
        gebührenrechtlicher Regelungen im Aufenthalts-
        recht (Tagesordnungspunkt 38)
        Andrea Lindholz (CDU/CSU): Ein wesentliches
        Ziel unseres Koalitionsvertrages von 2013 ist die Ent-
        lastung der Kommunen . Hier haben wir sehr viel getan .
        Allein in diesem Jahr entlastet der Bund die Länder und
        Kommunen insgesamt mit rund 73 Milliarden Euro . Das
        ist die größte Entlastung aller Zeiten . In diesem kommu-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24305
        (A) (C)
        (B) (D)
        nalpolitischen Zusammenhang ist auch der vorliegende
        Gesetzentwurf zu sehen .
        Ausgangspunkt für dieses Gesetz war die Beschwer-
        de der kommunalen Spitzenverbände und der Länder,
        dass die Gebühren im Ausländerrecht nicht die Kosten
        decken, die in den Ausländerbehörden zum Beispiel bei
        der Verlängerung von Aufenthaltstiteln anfallen . Daher
        einigten sich Bund, Länder und Kommunen 2012 auf ein
        gemeinsames Projekt, in dem alle im Ausländerrecht gel-
        tenden Gebühren gemessen und systematisch evaluiert
        werden . Durchgeführt wurde diese Erhebung durch das
        Statistische Bundesamt, das bundesweit in repräsentativ
        ausgewählten Ausländerbehörden die realen Kosten für
        den durchschnittlichen Arbeitsaufwand ermittelte . An-
        schließend verglich das Amt den realen Kostenaufwand
        mit den erhobenen Gebühren .
        Die Evaluation der Daten von 2012/2013 zeigt im Er-
        gebnis, dass den Kommunen bundesweit jährlich ein De-
        fizit von über 12 Millionen Euro als Folge der teilweise
        zu niedrigen Gebühren entsteht . Seit 2012/2013 hat sich
        die Nettozuwanderung nach Deutschland nahezu verdop-
        pelt. Entsprechend höher fällt heute auch das Defizit in
        den Ausländerbehörden aus .
        Es besteht also gut begründeter Handlungsbedarf .
        Der Beschluss von Bund, Ländern und Kommunen, hier
        gegenzusteuern, ist mehr als gerechtfertigt . Dabei gilt
        seit jeher der Grundsatz, dass einerseits die Kosten der
        öffentlichen Hand mittels Gebühren ausreichend zu de-
        cken sind und andererseits die Gebührenschuldner nicht
        übermäßig belastet werden sollen . Die Evaluierung hat
        aber auch gezeigt, dass manche Gebührensätze zu hoch
        angesetzt wurden, wie zum Beispiel die Gebühren für die
        Ausstellung einer Blauen Karte EU oder einer Nieder-
        lassungserlaubnis . Zu hohe Gebühren soll dieses Gesetz
        nach unten korrigieren .
        Im Wesentlichen sieht der Gesetzentwurf Änderungen
        der §§ 69 und 70 des Aufenthaltsgesetzes vor, in denen
        die Gebühren und die Verjährung geregelt werden . Mit
        den Änderungen schaffen wir als Parlament die gesetzli-
        chen Voraussetzungen, damit der Verordnungsgeber bzw .
        die Bundesregierung die Gebühren in der Aufenthalts-
        verordnung entsprechend den Ergebnissen der Evalua-
        tion durch das Statistische Bundesamt anpassen kann .
        Damit werden die Forderungen von Ländern und Kom-
        munen erfüllt .
        Konkret ändert sich durch den Gesetzentwurf Folgen-
        des:
        Erstens wird das Kostendeckungsgebot für die Ge-
        bührenbemessung gesetzlich festgelegt und das bisheri-
        ge Äquivalenzprinzip damit abgelöst . Das bedeutet, der
        Preis für ausländerrechtliche öffentliche Leistungen wird
        künftig als kostendeckende gesetzlich festgelegte Ge-
        bühr nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen ermit-
        telt . Der bisherige Grundsatz, dass zwischen dem Wert
        einer Verwaltungsleistung und der dafür erhobenen Ge-
        bühr ein ausgewogenes Verhältnis bestehen muss, tritt in
        den Hintergrund .
        Zweitens werden die Gebührenhöchstgrenzen in § 69
        Aufenthaltsgesetz punktuell angepasst . In den meisten
        Fällen ergeben sich Anhebungen in unterschiedlicher
        Höhe . Beispielsweise steigt der Höchstsatz, der für die
        Ausstellung einer Aufenthaltserlaubnis zu Forschungs-
        zwecken erhoben werden darf, um 20 Euro . Die Ausstel-
        lung eines Notreiseausweises sinkt hingegen von 25 auf
        18 Euro .
        Drittens werden alle Gebührensätze in der Aufent-
        haltsverordnung entsprechend der vom Statistischen
        Bundesamt ermittelten Durchschnittskosten neu festge-
        legt. Zum Beispiel wird die Gebühr für eine Verpflich-
        tungsermächtigung mit 4 Euro leicht angehoben . Die
        Erneuerung einer Duldung steigt deutlicher von 15 auf
        künftig 33 Euro . Allein dieser Punkt hatte 2012/2013 ein
        Defizit von über 3,5 Millionen Euro verursacht.
        Viertens werden die Gebührenhöchstätze für die Ertei-
        lung einer Niederlassungserlaubnis sowie einer Erlaub-
        nis zum Daueraufenthalt in der EU reduziert . Die Gebühr
        wird jeweils um 60 Euro abgesenkt . Die Evaluierung hat
        gezeigt, dass die Gebühren deutlich zu hoch angesetzt
        waren .
        Fünftens erfolgt eine Harmonisierung mit dem Bun-
        desgebührengesetz . Das bislang subsidiär geltende Ver-
        waltungskostengesetz wird durch einschlägige Normen
        des Bundesgebührengesetzes abgelöst .
        Sechstens wird dafür gesorgt, dass Resettle-
        ment-Flüchtlinge und subsidiär Geschützte, die in
        Deutschland einen Reisepass beantragen, nicht mit zu
        hohen Gebühren überfordert werden . Sie werden in
        diesem Punkt rechtlich mit GFK-Flüchtlingen gleich-
        gestellt . Auch für subsidiär Geschützte gilt künftig der
        Grundsatz, dass die Gebühren für einen Reisepass nicht
        höher als die Gebühren für die Ausstellung eines deut-
        schen Reisepasses liegen dürfen . Das gilt, obwohl die
        Reisepässe für diese Gruppe erheblichen verwaltungs-
        technischen Mehraufwand verursachen . Ich denke aber,
        dass diese Regelung nicht nur den Betroffenen gegenüber
        fair ist, sondern auch im ureigenen migrationspolitischen
        Interesse der Bundesrepublik liegt .
        Siebtens wird der nachvollziehbare Wunsch der Län-
        der umgesetzt, und die Gebühren werden auf volle Euro-
        beträge gerundet . Das vereinfacht die Arbeit in der Praxis
        und die Abrechnungen .
        Der Gesetzentwurf war bereits im Frühjahr 2015
        ressortabgestimmt . Das Kabinett hätte ihn schon früher
        verabschieden und in den Bundestag einbringen können .
        Allerdings wurde das Vorhaben aus gutem Grund zurück-
        gestellt . Unter dem 2015 massiv ansteigenden Migrati-
        onsdruck erhielten viele andere asyl- und aufenthalts-
        rechtliche Reformen Vorrang . Es ging zunächst darum,
        unser Asylsystem insgesamt zu stabilisieren und unser
        Ausländerrecht an die Herausforderungen anzupassen .
        Die Gebührenordnung war daher erstmal nachrangig .
        Wir haben in den letzten zwei Jahren das deutsche
        Asylsystem nachhaltig stabilisiert . Die Migration nach
        Deutschland haben wir erfolgreich geordnet, gesteuert
        und begrenzt . Jetzt wollen wir auch noch dieses berech-
        tigte Vorhaben in dieser Legislatur zu einem Abschluss
        bringen .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724306
        (A) (C)
        (B) (D)
        Insgesamt halte ich den vorliegenden Gesetzentwurf
        für einen gut ausgewogenen Kompromiss, der das Kos-
        tendeckungsgebot der öffentlichen Hand einerseits und
        die Gebührenbelastung der Betroffenen andererseits in
        einen vernünftigen Ausgleich bringt . Ich bitte daher um
        Zustimmung .
        Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD): Auslän-
        derbehörden verzeichnen einen Arbeits- und Aufgaben-
        zuwachs – nicht nur aufgrund steigender Migration . Sie
        stellen Aufenthaltsdokumente oder Notreiseausweise
        aus, übertragen Aufenthaltstitel oder schreiben pass-
        rechtliche Dokumente um . All diese Dienstleistungen
        sind umfangreich und verursachen Kosten in den Kom-
        munen . In bestimmtem Maße werden Personen, die die-
        se Dienstleistungen in Anspruch nehmen, auch an den
        Kosten beteiligt . Schon lange bemängeln allerdings die
        Länder, dass die erhobenen Gebühren nicht mehr die
        tatsächlichen Kosten abdecken . Eine wissenschaftliche
        Analyse des Statistischen Bundesamtes hat 2013 diese
        Analyse bestätigt .
        Die Evaluation der bislang im Ausländerrecht gel-
        tenden Gebühren durch das Statistische Bundesamt hat
        gezeigt, dass die bundeseinheitlichen Gebühren für die
        kommunalen Haushalte bisher nicht ausreichend waren
        und jährlich für Defizite gesorgt haben. Insgesamt wur-
        den durch das Statistische Bundesamt 53 verschiedene
        Gebührentatbestände untersucht – dabei haben sich ei-
        nige Kosten als zu teuer und andere wiederum als zu
        günstig erwiesen . Daher werden nun die bislang gelten-
        den Gebührenhöchstgrenzen punktuell angepasst und,
        wo notwendig, die Gebühren erhöht . Diese Anpassungen
        werden das ermittelte Defizit der Kommunen bei den in
        der Ausländerverwaltung anfallenden Kosten von rund
        12 Millionen Euro pro Jahr erheblich reduzieren .
        Wahrscheinlich war das Defizit aufgrund der zwi-
        schenzeitlich stark gestiegenen Fallzahlen in den letzten
        beiden Jahren sogar erheblich größer, sodass das zusätz-
        liche Volumen in den kommenden Jahren auch entspre-
        chend höher ausfällt . Die Anpassung der Gebühren wird
        insoweit also auch zu der im Koalitionsvertrag als Ziel
        festgehaltenen Entlastung der Kommunen beitragen und
        ist damit absolut sinnvoll .
        Dabei nehmen wir die Anpassung so vor, dass zwar die
        jeweils anfallenden Kosten bestmöglich gedeckt werden,
        gleichzeitig die Gebührenzahler aber nicht unverhältnis-
        mäßig stark belastet werden . Bisherige Ermäßigungen
        oder Befreiungen von den Gebühren bleiben unverändert
        bestehen . Auch kann die einzelne Ausländerbehörde im
        Einzelfall wie gehabt mit Blick auf die Situation des Ge-
        bührenzahlers diese ermäßigen oder ganz erlassen . Da-
        mit tragen wir dafür Sorge, dass Ausländer nicht davon
        abgehalten werden, Leistungen in Anspruch zu nehmen .
        Es bleibt festzuhalten: Wir haben dadurch eine ausge-
        wogene und gelungene Regelung gefunden, die tatsäch-
        lichen Kosten besser abzubilden und gleichzeitig flexibel
        auf Härtefälle reagieren zu können .
        Ulla Jelpke (DIE LINKE): Die Bundesregierung will
        die Gebührenordnung im Aufenthaltsrecht ändern, ge-
        nauer gesagt: Sie will die Gebühren im Ergebnis massiv
        erhöhen, angeblich um die Kommunen zu entlasten . Das
        hört sich zunächst richtig und nach einem simplen Ver-
        waltungsvorgang an . Dieser spiegelt aber zugleich Un-
        stimmigkeiten und Probleme des Aufenthaltsrechts selbst
        und auch des Umgangs mit Flüchtlingen in Deutschland .
        Das vorliegende Gesetz lehnt die Fraktion Die Linke ab,
        weil es an den eigentlichen Problemen überhaupt nichts
        ändert. Es belastet insbesondere Geflüchtete, nützt aber
        den Kommunen kaum, die die Masse der Verwaltungs-
        arbeit leisten .
        Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes sind die
        Gebühren bislang viel zu niedrig angesetzt, sodass etwa
        für die Ausstellung von Reiseausweisen für Ausländer
        oder für Duldungen oder für die Befristung eines Ein-
        reiseverbotes weniger Gebühren erhoben werden, als die
        Verwaltungskosten hierfür tatsächlich betragen . Im vori-
        gen Jahr sind die Kommunen deswegen auf 12 Millionen
        Euro sitzen geblieben .
        Im Prinzip ist der Ansatz, dass Gebühren kostende-
        ckend sein sollen, zwar verständlich . Ich gebe aber zu
        bedenken: Wir reden hier nicht von Verwaltungsvorgän-
        gen, die von den betroffenen Ausländerinnen und Aus-
        ländern nach Lust und Laune veranlasst werden . Eine
        Familie, die zwar ausreisepflichtig ist, aus tatsächlichen
        oder rechtlichen Gründen aber nicht abgeschoben wer-
        den kann, ist nicht selbst schuld daran, dass sie hier re-
        gelmäßig eine Duldung beantragen muss .
        Der Preis für eine Duldung soll sich nach dem Wil-
        len der Bundesregierung jetzt aber verdoppeln, so dass
        eine Erstduldung 58 Euro und jede Verlängerung bis zu
        30 Euro kostet . Dabei muss man jedoch eines berück-
        sichtigen: Die Duldungszeiträume werden aus politi-
        schen Gründen oftmals sehr kurz gehalten, manchmal
        auf einen Monat begrenzt . Durch diese staatlich ver-
        anlasste Abschreckungspolitik werden die Betroffenen
        dazu gezwungen, alle paar Wochen oder Monate diesen
        Verwaltungsakt zu beantragen . Dafür müssen die Behör-
        denmitarbeiter natürlich Arbeitszeit aufwenden, was für
        die Kommunen Mehrausgaben bedeutet .
        Aber hier muss man zwei Sachen anmerken:
        Zum einen handelt es sich bei dem von der Bundes-
        regierung gewählten Ansatz, einfach die Gebühren zu
        erhöhen, um die kommunalen Haushalte zu entlasten,
        um eine Milchmädchenrechnung; denn die Geduldeten,
        die hier vom Asylbewerberleistungsgesetz leben müssen,
        verfügen meist gar nicht über die erforderlichen Finanz-
        mittel . Für sie springt in der Regel das Sozialamt ein –
        also im Ergebnis wiederum die Kommune, die ihre Aus-
        gabeposten lediglich umschichten kann, aber am Ende
        doch darauf sitzen bleibt .
        Zum anderen zeigt sich hier die grundsätzliche Pro-
        blematik, im Aufenthaltsrecht den Grundsatz der Kosten-
        deckung einzufordern; denn ein großer Anteil der Kosten
        resultiert aus Umständen, für die nicht die Betroffenen,
        sondern „der Staat“ verantwortlich ist . Die Personalkos-
        ten bei den kommunalen Behörden werden teilweise nur
        dadurch in die Höhe getrieben, dass das Aufenthaltsrecht
        nur so von komplexen, teilweise auch unklaren Regelun-
        gen, von einer Vielzahl von Ausnahmetatbeständen usw .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 2017 24307
        (A) (C)
        (B) (D)
        wimmelt . Das macht die Bearbeitung und Prüfung der je-
        weiligen Anträge aufwendig, langwierig und damit auch
        teuer . Eine klarere Gesetzgebung und vereinfachte Vor-
        schriften würden die Bearbeitung erleichtern und damit
        billiger machen .
        Die Linke hat stets die Auffassung vertreten, dass die
        Kommunen von den Aufgaben der Flüchtlingsaufnah-
        me und -versorgung effektiv entlastet werden müssen,
        weil der Flüchtlingsschutz in erster Linie eine staatliche
        Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland ist. Um
        diese Entlastung wirklich zu erreichen, braucht es aber
        ein anderes Instrument als das von der Bundesregierung
        gewählte . Hier muss grundsätzlich darüber nachgedacht
        werden, den Bund mehr in die Pflicht zu nehmen.
        Ich will abschließend noch darauf hinweisen, dass
        auch der Normenkontrollrat einige kritische Anmerkun-
        gen zu diesem Gesetz formuliert hat, die in eine ähnliche
        Richtung gehen wie unsere Kritik . So hat er formuliert:
        „Durch Rechts- und Verwaltungsvereinfachung könnten
        die Vollzugsträger auch auf der Aufwandsseite entlastet
        werden . Sofern dies zu spürbar weniger Vollzugsauf-
        wand führt, könnten perspektivisch Gebühren auch wie-
        der gesenkt werden .“
        Der Kontrollrat hat weiter ausgeführt, es müsste „zum
        generellen Prinzip erhoben werden, vor einer Gebüh-
        renerhöhung zunächst das Vereinfachungspotential in
        den Verwaltungsverfahren auszuschöpfen . Anstatt Ge-
        bühren in Folge aufwändiger Verwaltungsverfahren zu
        erhöhen, sollten Gesetzgeber und Vollzugsträger mehr
        Augenmerk auf schlankere Verfahren legen .“
        Dem kann ich mich nur anschließen . Das würde in der
        Praxis bedeuten, das Aufenthaltsrecht gründlich zu ver-
        einfachen, und zwar im Sinne der hier lebenden Auslän-
        derinnen und Ausländer .
        Einen konkreten Vorschlag hierfür, etwa bei der Dul-
        dungserteilung, hat die Fraktion Die Linke schon vor Jah-
        ren gemacht, nämlich langjährig Geduldeten endlich ein
        dauerhaftes Bleiberecht anzubieten . Wer seit Jahren hier
        lebt und voraussichtlich auch noch weiter geduldet wer-
        den muss – aus rechtlichen oder humanitären Gründen –,
        der soll endlich Sicherheit bekommen . Die beschlossene
        Bleiberechtsregelung ist nach allen bisherigen Praxiser-
        fahrungen zu restriktiv und weitgehend unwirksam . Das
        wäre im Interesse der Flüchtlinge selbst, aber auch der
        Kommunen, und zwar nicht nur, weil sie auf die ewige
        Wiederholung der Duldungsverlängerung verzichten
        könnten, sondern auch weil die Flüchtlinge erst durch
        ein Bleiberecht eine reale Chance erhalten, sich in die
        Kommune, in der sie leben, erfolgreich zu integrieren
        und unabhängig von staatlichen Hilfsleistungen zu leben .
        Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        „Die Bundesländer kritisieren seit längerem, dass die in
        der Aufenthaltsverordnung … für aufenthaltsrechtliche
        individuell zurechenbare öffentliche Leistungen festge-
        legten Gebühren nicht auskömmlich seien und die kom-
        munalen Haushalte in diesem Bereich jährlich erhebliche
        Defizite zu verzeichnen hätten. Bund und Länder sind
        daher übereingekommen, belastbar zu ermitteln, ob und
        inwieweit die einzelnen Gebührentatbestände die tat-
        sächlich anfallenden Kosten der Ausländerbehörden an-
        gemessen abbilden . Je nach Gebührentatbestand haben
        die Kommunen teilweise Überdeckungen, zum größeren
        Teil aber Unterdeckungen zu verzeichnen . Bezogen auf
        aufenthaltsrechtliche individuell zurechenbare öffentli-
        che Leistungen entsteht den Kommunen ausweislich des
        Projektergebnisses insgesamt ein jährliches Defizit von
        ca . 12 Millionen Euro . … Um künftig die Gebühren im
        Ausländerrecht so festlegen zu können, dass sie einer-
        seits die für die jeweiligen Leistungen anfallenden Kos-
        ten decken und andererseits die Gebührenschuldner nur
        im erforderlichen Ausmaße belasten, bedarf es Änderun-
        gen der §§ 69 und 70 des Aufenthaltsgesetzes . … Für die
        im Ausländerrecht geltenden Gebühren resultiert das Be-
        dürfnis nach einer bundeseinheitlichen Festlegung insbe-
        sondere aus dem gesamtstaatlichen Interesse für gleiche
        Aufenthalts- und Lebensbedingungen von Ausländern im
        Bundesgebiet .“ So die Gesetzesbegründung . So weit, so
        gut, so halbwegs verständlich . Behördenhandeln kostet
        etwas, und es ist legitim, dafür Gebühren zu erheben .
        Das gilt allerdings nicht schrankenlos, und dabei ist
        höherrangiges Recht zu beachten . Das verkennen oder
        verschweigen Sie geflissentlich, liebe Kolleginnen und
        Kollegen von der Koalition . Ich möchte mich heute nicht
        darüber auslassen, ob es legitim ist, etwa für die nach-
        trägliche Aufhebung eines Einreiseverbots Gebühren in
        Höhe von 169 Euro zu verlangen . Das scheint mir zwar
        ein wenig zu viel der Abschottung zu sein; doch unsere
        Position zu den Einreiseverboten ist ja bekannt und kann
        auf Seite 8 der Drucksache 18/5425 nachgelesen werden .
        Nein, ich möchte Ihr Augenmerk vielmehr auf die uni-
        onsrechtlichen Vorgaben und die völkerrechtlichen Ver-
        pflichtungen der Bundesrepublik richten.
        In der Mai-Ausgabe des „Informationsbriefs Auslän-
        derrecht“ widmen Dr . Tilman Reinhardt und Dr . Rolf
        Gutmann den unionsrechtlichen Vorgaben an die Erhe-
        bung ausländerrechtlicher Gebühren einen lesenswerten
        Beitrag . Ausgangspunkt für ihre Erörterungen ist das
        Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom
        29 . April 2010, wonach sich aus der Standstill-Klausel
        des Assoziierungsabkommens zwischen der Europäi-
        schen Union und der Türkei ergibt, dass von assoziati-
        onsberechtigten türkischen Staatsangehörigen für die
        Ausstellung von Aufenthaltstiteln lediglich Gebühren
        verlangt werden können, die mit denjenigen von Uni-
        onsbürgern vergleichbar sind . Das ist keine Lappalie,
        sondern entlastet türkische Familien in der Europäischen
        Union in erheblichem Maße . Das wird auch weiter so
        sein müssen, da das Assoziationsrecht Anwendungsvor-
        rang vor dem nationalem Recht und somit auch vor ihm
        entgegenstehenden gebührenrechtlichen Regelungen hat .
        Man fragt sich, ob die Bundesregierung das weiß . In der
        Gesetzesbegründung steht davon jedenfalls kein Wort .
        Nun kann man sagen: Es leben zwar viele türkische
        Staatsangehörige in Deutschland, auf die die Regelungen
        des Gesetzes, das heute verabschiedet werden soll, gar
        nicht angewandt werden können, aber es lohnt sich den-
        noch, das Gesetz zu verabschieden, da sich auch zahl-
        reiche Menschen aus anderen Staaten in Deutschland
        aufhalten, die man zur Kasse bitten kann . Dann wäre es
        zwar ehrlicher, das in der Gesetzesbegründung auch zu
        erwähnen . Es ist allerdings so, dass auch Staatsangehöri-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 237 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Juni 201724308
        (A) (C)
        (B) (D)
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        ge weiterer Staaten sich möglicherweise auf völkerrecht-
        liche Standstill-Klauseln berufen können und dann von
        den Gebühren gar nicht betroffen sein dürften. Laut Rein-
        hardt und Gutmann bestehen solche Vereinbarungen –
        halten Sie sich fest – mit Moldawien, der Ukraine, Russ-
        land, Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Kasachs tan,
        Kirgisistan, Tadschikistan, Usbekistan, Algerien, Ma-
        rokko, Tunesien, Albanien, Bosnien und Herzegowina,
        Mazedonien, Montenegro, Serbien, Andorra, San Marino
        sowie den 79 AKP-Staaten, die Vertragspartei des Coto-
        nou-Abkommens sind . Das sind mehr als die Hälfte aller
        Drittstaaten! Vor diesem Hintergrund wirkt das Unter-
        fangen der Koalition doch wie ein untauglicher Versuch,
        einen Flickenteppich notdürftig zu flicken. Rechtswidrig
        ist das nicht, wegen des erwähnten Anwendungsvorrangs
        des Assoziationsrechts – aber doch ein Stück weit unehr-
        lich gegenüber der Öffentlichkeit, aber insbesondere ge-
        genüber den Behörden, die das Durcheinander dann aus-
        baden müssen . Die Ausländerbehörden sollten jedenfalls
        nicht auf die Idee kommen, von den assoziationsrechtlich
        begünstigten Drittstaatsangehörigen die höheren Gebüh-
        ren zu verlangen, sonst drohen Rückforderungen in be-
        trächtlicher Höhe .
        Wir haben nichts gegen Gebühren an sich, deshalb
        stimmen wir nicht gegen den Gesetzentwurf . Gesetzge-
        berisch hätte man das aber einfacher und übersichtlicher
        machen müssen . Deshalb enthalten wir uns .
        237. Sitzung
        Inhaltsverzeichnis
        TOP 9, ZP 4 Neuregelung des bundesstaatlichen Finanzausgleichs
        TOP 10 Einwanderungsgesetz
        TOP 11 Betriebsrentenstärkungsgesetz
        TOP 46, ZP 5 Überweisungen im vereinfachten Verfahren
        TOP 47, ZP 6 Abschließende Beratungen ohne Aussprache
        TOP 12 Abschluss der Rentenüberleitung
        TOP 13, ZP 7 Rentenniveau
        TOP 14 Jahresbericht 2016 des Wehrbeauftragten
        TOP 15 Kohleausstieg
        TOP 16 Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen
        TOP 17 Mindestlohn
        TOP 47 n, ZP 10, 11 Abschiebungen nach Afghanistan
        TOP 18 Freiheits- und Einheitsdenkmal
        TOP 19 Familiennachzug für subsidiär Geschützte
        TOP 20 Umsetzung der Zahlungsdiensterichtlinie
        TOP 21 Weltfriedenstag
        TOP 22 Änderung der Geschäftsordnung - Alterspräsident
        TOP 24 Arbeitsbericht des Parlamentarischen Beirats
        TOP 25 Gesetz zur Einführung eines Wettbewerbsregisters
        TOP 26 Überwachung übertragbarer Krankheiten
        TOP 27 Änderung des Energie- und des Stromsteuergesetzes
        TOP 28 Bekämpfung von Kinderehen
        TOP 29 Beleidigung von Vertretern ausländischer Staaten
        TOP 30 Bekämpfung der organisierten Kriminalität
        TOP 31 Änderung reiserechtlicher Vorschriften
        TOP 32 Kassensicherungsverordnung
        TOP 33 Änderung des Telemediengesetzes
        TOP 34 Änderung des Bundesversorgungsgesetzes
        TOP 35 Blut- und Gewebezubereitungen, Pflege-TÜV
        TOP 36 Änderung des Telekommunikationsgesetzes
        TOP 37 25 Jahre Ostseerat
        TOP 38 Gebührenrechtliche Regelungen im Aufenthaltsrecht
        Anlagen
        Anlage 1
        Anlage 2
        Anlage 3
        Anlage 4
        Anlage 5
        Anlage 6
        Anlage 7
        Anlage 8
        Anlage 9
        Anlage 10
        Anlage 11
        Anlage 12
        Anlage 13
        Anlage 14
        Anlage 15
        Anlage 16
        Anlage 17
        Anlage 18
        Anlage 19
        Anlage 20
        Anlage 21
        Anlage 22
        Anlage 23
        Anlage 24
        Anlage 25
        Anlage 26
        Anlage 27
        Anlage 28
        Anlage 29
        Anlage 30
        Anlage 31
        Anlage 32
        Anlage 33
        Anlage 34
        Anlage 35
        Anlage 36