Vizepräsidentin Petra Pau
(A) (C)
(B) (D)
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 23763
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Albsteiger, Katrin CDU/CSU 18 .05 .2017
Bluhm, Heidrun DIE LINKE 18 .05 .2017
Färber, Hermann CDU/CSU 18 .05 .2017
Fischbach, Ingrid CDU/CSU 18 .05 .2017
Gabriel, Sigmar SPD 18 .05 .2017
Gröhe, Hermann CDU/CSU 18 .05 .2017
Klare, Arno SPD 18 .05 .2017
Launert, Dr . Silke CDU/CSU 18 .05 .2017
Lotze, Hiltrud SPD 18 .05 .2017
Maizière, Dr . Thomas
de
CDU/CSU 18 .05 .2017
Möhring, Cornelia DIE LINKE 18 .05 .2017
Nahles, Andrea SPD 18 .05 .2017
Obermeier, Julia CDU/CSU 18 .05 .2017
Roth (Heringen),
Michael
SPD 18 .05 .2017
Schlecht, Michael DIE LINKE 18 .05 .2017
Strenz, Karin CDU/CSU 18 .05 .2017
Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
18 .05 .2017
Wunderlich, Jörn DIE LINKE 18 .05 .2017
Anlage 2
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Josef Göppel, Jens Koeppen und
Elisabeth Winkelmeier-Becker (alle CDU/CSU) zu
der Abstimmung über den von den Fraktionen der
CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurf eines
Gesetzes zur Änderung futtermittelrechtlicher
und tierschutzrechtlicher Vorschriften (Tagesord-
nungspunkt 12)
Ich stimme der Aufhebung des Fütterungsverbots von
tierischen Fetten an Wiederkäuer nicht zu .
Wiederkäuer nehmen von Natur aus nach dem Ende
des Säugens am Muttertier kein tierisches Fett auf . Zie-
gen, Schafe oder Rinder fressen in freier Weidehaltung
niemals tierische Lebewesen, weder lebende Tiere noch
Aas . Die Verfütterung von tierischen Fetten an Wieder-
käuer als Mehl oder in Flüssigkeiten ist deren Verdau-
ungstrakt artfremd .
In der Begründung des Gesetzentwurfes wird ausge-
führt, dass die BSE-Fälle mittlerweile deutlich zurück-
gegangen sind . Die Bundesregierung folgert daraus, dass
die Verunreinigung von Wiederkäuergewebe mit infek-
tiösem Nervengewebe „unwahrscheinlich“ ist . Mehr
Wahrscheinlichkeit hat nach meiner Meinung jedoch die
Wirkung des Fütterungsverbots seit dem Jahr 2000 . Des-
halb sollte es aufrechterhalten bleiben .
Anlage 3
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Omid Nouripour, Kerstin
Andreae, Annalena Baerbock, Marieluise Beck
(Bremen), Ekin Deligöz, Kai Gehring, Anja
Hajduk, Dieter Janecek, Dr. Tobias Lindner, Cem
Özdemir, Brigitte Pothmer, Tabea Rößner, Manuel
Sarrazin, Kordula Schulz-Asche, Markus Tressel,
Doris Wagner und Dr. Valerie Wilms (alle BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN) zu der namentlichen Ab-
stimmung über die Beschlussempfehlung des
Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bun-
desregierung: Fortsetzung der Beteiligung bewaff-
neter deutscher Streitkräfte an der durch die Eu-
ropäische Union geführten EU NAVFOR Somalia
Operation Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie
vor der Küste Somalias (Tagesordnungspunkt 16)
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Einrich-
tung der Mission EU NAVFOR Atalanta von Anfang an
unterstützt . Die Mission hat die Eindämmung der Fol-
gen der Piraterie vor dem Horn von Afrika zum Ziel,
in erster Linie den Schutz humanitärer Hilfslieferungen
des Welternährungsprogramms . Unsere Unterstützung
geschah im Wissen darum, dass diese Mission nur eine
Symptombekämpfung sein kann, denn die Ursachen für
die Piraterie liegen in der andauernden Krise des soma-
lischen Staats .
Die im Jahr 2012 erfolgte Ergänzung des Mandats um
die Möglichkeit, auch an Land zu operieren, und zwar
in einem zwei Kilometer in das Landesinnere reichenden
Küstenstreifen, hat den Charakter der Mission verändert .
Viele Expertinnen und Experten warnten damals davor,
dass Operationen an Land zur Eskalation des Konflikts
in Somalia beitragen und die Mission in innersomalische
Kämpfe verwickeln könnte – zum Schaden ihres eigentli-
chen Ziels . Aus diesem Grund hat sich die grüne Bundes-
tagsfraktion bei den Abstimmungen zu diesem Mandat in
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 201723764
(A) (C)
(B) (D)
den vergangenen Jahren mit großer Mehrheit enthalten .
In den vergangenen fünf Jahren hat Atalanta lediglich
einmal an Land operiert . Das Eskalationsrisiko bei einem
erneuten Einsatz dieser Art besteht aber weiter .
Gleichzeitig hat sich die humanitäre und politische
Lage in Somalia in den vergangenen beiden Jahren ver-
ändert . Aufgrund der anhaltenden Dürren hat sich die
Abhängigkeit der Bevölkerung von Hilfslieferungen
deutlich verstärkt . Die Zahl der Schiffe, die Hilfsgüter
durch den Golf von Aden transportieren, ist gestiegen und
bedingt einen höheren Schutzbedarf . Nach Jahren eines
steten Rückgangs der Piraterieaktivität ist diese in den
vergangenen Monaten – auch aufgrund der reduzierten
Präsenz von Atalanta und anderen Anti-Piraterie-Missio-
nen – wieder leicht gestiegen .
Anfang dieses Jahres wurde eine neue somalische
Regierung gewählt . Die somalische Bevölkerung und
die internationale Gemeinschaft verbinden mit ihr große
Hoffnung auf eine Wende hin zu einer konstruktiveren
und weniger korrupten Politik, die zur Stabilisierung
des Landes und damit auch zur Eindämmung der Pirate-
rieursachen beitragen könnte . Bis sie die Chance hat, ihr
Programm umzusetzen, wäre ein erneutes Erstarken der
Piraten auch für diese Regierung eine Gefahr .
Wir stehen daher in der Abwägung zwischen den
schwerwiegenden Bedenken gegen einen möglichen
Einsatz an Land und den Bedrohungen der Piraterie für
die humanitäre Versorgung und das Reformprogramm
der neuen somalischen Regierung . Angesichts der bisher
sehr zurückhaltenden Nutzung der Landoption und des
wachsenden Ernsts der humanitären Lage ist unsere Ent-
scheidung für eine Zustimmung zu dem Mandat gefallen .
Anlage 4
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Friedrich Ostendorff (BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN) zu der namentlichen Ab-
stimmung über die Beschlussempfehlung des
Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bun-
desregierung: Fortsetzung der Beteiligung bewaff-
neter deutscher Streitkräfte an der durch die Eu-
ropäische Union geführten EU NAVFOR Somalia
Operation Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie
vor der Küste Somalias (Tagesordnungspunkt 16)
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Einrich-
tung der Mission EU NAVFOR Atalanta von Anfang an
unterstützt . Die Mission hat die Eindämmung der Fol-
gen der Piraterie vor dem Horn von Afrika zum Ziel,
in erster Linie den Schutz humanitärer Hilfslieferungen
des Welternährungsprogramms . Unsere Unterstützung
geschah im Wissen darum, dass diese Mission nur eine
Symptombekämpfung sein kann, denn die Ursachen für
die Piraterie liegen in der andauernden Krise des soma-
lischen Staats .
Die im Jahr 2012 erfolgte Ergänzung des Mandats um
die Möglichkeit, auch an Land zu operieren, in einem
2 km in Landesinnere reichenden Küstenstreifen, hat den
Charakter der Mission verändert . Viele Expertinnen und
Experten warnten damals davor, dass Operationen an
Land zur Eskalation des Konflikts in Somalia beitragen
und die Mission in innersomalische Kämpfe verwickeln
könnte – zum Schaden ihres eigentlichen Ziels . Dies hat
dazu geführt, dass sich die Grüne Bundestagsfraktion
bei dieser Abstimmung in den letzten Jahren mit großer
Mehrheit enthalten hat . In den letzten fünf Jahren hat
Atalanta lediglich einmal an Land operiert, das Eskala-
tionsrisiko bei einem erneuten Einsatz dieser Art aber
besteht weiter .
Gleichzeitig hat sich die humanitäre und politische
Lage in Somalia in den letzten beiden Jahren verändert .
Durch anhaltende Dürren hat sich die Abhängigkeit der
Bevölkerung von Hilfslieferungen deutlich verstärkt, die
Zahl der Schiffe, die Hilfsgüter durch den Golf von Aden
transportieren, ist gestiegen und bedingt einen höheren
Schutzbedarf . Nach Jahren eines steten Rückgangs der
Piraterieaktivität ist diese in den letzten Monaten – auch
aufgrund der reduzierten Präsenz von Atalanta und an-
deren Anti-Piraterie-Missionen – wieder leicht gestiegen .
Anfang dieses Jahres wurde eine neue somalische
Regierung gewählt . Die somalische Bevölkerung und
die internationale Gemeinschaft verbinden mit ihr große
Hoffnung auf eine Wende hin zu einer konstruktiveren
und weniger korrupten Politik, die zur Stabilisierung
des Landes und damit auch zur Eindämmung der Pirate-
rieursachen beitragen könnte . Bis sie eine Chance hat, ihr
Programm umzusetzen, wäre ein erneutes Erstarken der
Piraten auch für diese Regierung eine Gefahr .
Wir stehen daher in der Abwägung zwischen den
schwerwiegenden Bedenken gegen einen möglichen
Einsatz an Land und den Bedrohungen der Piraterie für
die humanitäre Versorgung und das Reformprogramm
der neuen somalischen Regierung . Angesichts der bisher
sehr zurückhaltenden Nutzung der Landoption und des
wachsenden Ernsts der humanitären Lage ist unsere Ent-
scheidung für eine Zustimmung zu dem Mandat gefallen .
Wir stimmen deshalb diesem Einsatz zu .
Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin
Binder, Caren Lay, Herbert Behrens, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion DIE LINKE: Lebens-
mittelretterinnen und Lebensmittelretter entkri-
minalisieren (Tagesordnungspunkt 21)
Kordula Kovac (CDU/CSU): Erst vor zwei Tagen,
am 16 . Mai 2017, wurde der Tag des Deutschen Brotes
gefeiert . Und wir haben ja auch allen Grund zu feiern:
Nirgendwo sonst gibt es eine so große Brotvielfalt wie
in Deutschland . Mehr als 300 Brotsorten bieten die Bä-
ckerinnen und Bäcker in Deutschland an . Und deutsches
Brot ist beliebt: Bei über 90 Prozent der deutschen Haus-
halte kommt Brot täglich auf den Tisch .
Aber es gibt auch weniger schöne Fakten, die so gar
nicht zum Feiern anregen: Rund 15 Prozent von Brot und
Backwaren in Privathaushalten wandern in den Müll .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 23765
(A) (C)
(B) (D)
Lebensmittelverschwendung ist ein Problem, das uns
alle angeht, denn die Dimensionen der Verschwendung
sind riesig: Weltweit gehen nach Angaben des WWF ent-
lang der globalen Wertschöpfungskette bis einschließ-
lich des Verbrauchers mindestens 1,3 Milliarden Tonnen
Nahrungsmittel verloren . Industrie, Handel, Großver-
braucher und Privathaushalte werfen laut einer vom
BMEL geförderten Studie der Universität Stuttgart in
Deutschland jährlich 11 Millionen Tonnen Lebensmittel
in den Müll . Allein deutsche Privathaushalte schmeißen
pro Kopf und Jahr 81,6 Kilogramm Lebensmittel weg .
Bei 793 Millionen unterernährten Menschen auf der
Welt ist dieses Ausmaß der Verschwendung beschämend .
Die Linke greift mit dem vorliegenden Antrag daher
ein wichtiges Thema auf . Aber sie verzerren auch die
Wirklichkeit . Sie suggerieren eine einfache Problemlö-
sung, die in Wahrheit keine Ursachenbekämpfung ist .
Der Antrag selbst führt aus: „Ein Viertel der vermeid-
baren Nahrungsmittelverluste fallen im Lebensmittel-
handel an .“ Ein Viertel!
Das größte Einsparpotenzial zur Vermeidung von Le-
bensmittelverschwendung liegt aber – zumindest in den
Industrienationen – bei uns selbst, beim Verbraucher . In
unserer Wohlstandsgesellschaft ist bei vielen das Be-
wusstsein für den Wert von Lebensmitteln verloren ge-
gangen . Anstatt Reste zu verwerten, wird Neues gekauft .
Brot ist hier nur ein Beispiel unter vielen .
Bevor wir darüber diskutieren, ob und wie weggewor-
fene Lebensmittel gerettet werden könnten, sollten wir
darüber sprechen, wie wir verhindern können, dass Le-
bensmittel überhaupt erst in der Tonne anstatt auf dem
Teller landen .
Mit der Informationskampagne „Zu gut für die Ton-
ne“ setzt das BMEL den richtigen Hebel an: Durch Auf-
klärung sowohl über das erschreckende Ausmaß der
Lebensmittelverschwendung als auch Informationen
und verbraucherfreundliche Hilfsmittel wie etwa Han-
dy-Apps zur Restevermeidung bzw . -verwertung wird
jedem einzelnen von uns beinahe mundgerecht serviert,
wie bewusster Umgang mit Nahrungsmitteln aussehen
kann .
Das Deprimierende ist doch, dass aber nicht nur man-
gelndes Wissen oder Bereitschaft Ursache für Lebensmit-
telverschwendung ist, sondern oftmals auch schlicht die
Ästhetik . Wir werfen nicht in erster Linie tatsächlich Ver-
dorbenes weg, sondern Produkte, die uns nicht mehr gut
und appetitlich genug erscheinen . Das betrifft vor allem
Obst und Gemüse: welken Salat, schrumpelige Möhren
oder Äpfel mit Druckstellen . Hier ist der Verbraucher ge-
nauso in der Verantwortung wie der Lebensmittelhandel .
Auch das leidige Thema des Mindesthaltbarkeitsda-
tums spielt hier eine Rolle . Oftmals werden vor allem
Milchprodukte ungeöffnet entsorgt, nur weil das Datum
überschritten wurde . Gesunder Menschenverstand bzw .
eine gute Nase sollten hier aber eher der „Riecher“ sein .
Nichtsdestotrotz stimme ich mit dem Antrag in dem
Punkt überein, dass die Politik mehr Verantwortung für
die Gestaltung der Rahmenbedingungen dafür überneh-
men sollte, dass die kostenfreie Abgabe von genießba-
ren, aber aus dem Verkauf genommenen Lebensmitteln
zwischen Lebensmittelhandel und den gemeinnützigen
Vereinen wie den Tafeln verbessert wird .
Was jedoch für die Union nicht tragbar ist, ist die
Entkriminalisierung von sogenanntem „Containern“,
also dem Entwenden weggeworfener Lebensmittel aus
Mülltonnen auf dem Grundstück von Lebensmittelläden .
Wenn widerrechtlich das Gelände betreten wird, ist dies
eine Straftat – egal wo und aus welchen Gründen dies
geschieht .
Zwar würde durch die Deklaration von Lebensmitteln
als herrenlose Sache der Straftatbestand des Diebstahls
ausgeschlossen, aber ob man es wirklich als Gesetzgeber
verantworten möchte, dass das Klettern in Mülltonnen
unser Gesellschaftsbild prägt, möchte ich doch mal an
dieser Stelle kritisch hinterfragen .
Kurzum: Da der Antrag der Fraktion Die Linke zwar
ein wichtiges Thema aufgreift, aber die falschen Mit-
tel wählt, um das Ziel zu erreichen, bitte ich Sie, meine
Damen und Herren, gegen den vorliegenden Antrag zu
stimmen .
Katharina Landgraf (CDU/CSU): Zuerst eine
grundsätzliche Anmerkung: Was wir hier heute Abend
diskutieren, liegt in erster Linie in der Zuständigkeit der
Rechtspolitiker . Die sehen es ganz sicher nicht gerne,
wenn wir Landwirtschaftspolitiker uns ins Strafrecht ein-
mischen . Ihr Ansinnen, liebe Kolleginnen und Kollegen
der Linksfraktion, den Handel per Gesetz zu verpflichten,
seine Waren zu verschenken, wenn er diese nicht mehr
verkaufen kann, ist schlicht absurd . Noch absurder ist die
Idee, die Unternehmen auch noch zu bestrafen, wenn sie
dieser Anordnung nicht Folge leisten . Wir können doch
nicht in das Eigentumsrecht und die wirtschaftliche Ei-
genverantwortung der Händler derartig eingreifen . Das
möchte ich auch gar nicht .
Mir geht es vielmehr darum, das Gesamtproblem der
Lebensmittelverschwendung anzupacken . Der Schwer-
punkt sollte dabei meines Erachtens auf der Vermeidung
der Verschwendung liegen . Dann müssen wir uns gar nicht
erst mit dem Problem der Strafbarkeit von sogenannten
Lebensmittelrettern beschäftigen . Der EU-Rechnungshof
merkt zu Recht an, dass Lebensmittelverschwendung ein
Problem entlang der gesamten Wertschöpfungskette ist .
Deshalb sollte ein Vorgehen auf die ganze Kette ausge-
richtet sein und potenzielle Vorteile für alle Beteiligten
bieten .
Unstrittig ist jedoch, dass in vielen Bereichen das be-
stehende Potenzial zur Bekämpfung von Lebensmittel-
verschwendung noch nicht voll ausgeschöpft wird . Da-
her wird derzeit in der EU-Kommission an einer Leitlinie
für Lebensmittelspenden gearbeitet . Dies ist nötig, da
momentan im Zusammenhang mit Lebensmittelspenden
noch einige Hindernisse aus dem Weg zu räumen sind .
Unter anderem müssen die unterschiedlichen Auslegun-
gen von Rechtsvorschriften vereinheitlicht werden, um
das Spenden von Lebensmitteln zu erleichtern .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 201723766
(A) (C)
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Auch in Deutschland bestehen noch viele Unsi-
cherheiten bei Spendern wie bei Nehmern, obwohl das
BMEL bereits 2012 einen „Leitfaden für die Weitergabe
von Lebensmitteln an soziale Einrichtungen – Rechtli-
che Aspekte“ veröffentlicht hat . Eine Klarstellung und
Vereinfachung bestehender Rechtsvorschriften durch die
EU könnte hier zu einer höheren Spendenbereitschaft
führen . Wobei man aber auch sagen muss, dass bereits
jetzt schon ein großer Teil beispielsweise an die Tafeln
abgegeben wird . Ich hatte erst kürzlich ein Gespräch mit
Mitarbeitern der Tafeln aus Sachsen und Brandenburg,
und dort wurde deutlich, dass die Spendenbereitschaft
der Supermärkte sehr hoch ist und es manchmal gar nicht
möglich ist, alle Spenden rechtzeitig abzuholen . Das liegt
aber auch an einem anderen Problem: Oft findet sich kein
Fahrer, der bereit ist, für das Fahrzeug die Verantwor-
tung zu übernehmen . Solche Aufgaben können meines
Erachtens nicht von Ehrenamtlichen übernommen wer-
den . Hier müssen wir überlegen, wie den Tafeln geholfen
werden kann, dieses Problem zu lösen . Damit packen wir
das Thema an einer richtigen Stelle an, und es könnten
noch mehr Lebensmittel „gerettet“ werden und armen
Menschen zugutekommen, als dies bei den sogenannten
Lebensmittelrettern der Fall ist .
Die einzige Möglichkeit für die „Lebensmittelretter“
besteht darin, die Supermärkte oder Betriebe ganz offi-
ziell anzufragen, ob sie die Container nach brauchbaren
Lebensmitteln durchsuchen dürfen . Frei nach dem Motto
„Fragen kostet ja nichts“ . Vielleicht gibt es auch mehr
positive Antworten, als man im ersten Moment vermu-
tet . Wenn nicht, muss das Verbot des sogenannten „Con-
tainerns“ auf jeden Fall beachtet werden . Ich möchte
noch einmal ganz klar sagen, dass kriminelle Handlun-
gen mit welchem Ziel auch immer nicht geduldet werden
können . In diesem Fall heiligt der Zweck nämlich nicht
die Mittel .
Elvira Drobinski-Weiß (SPD): Bis 2030 müssen wir
die Lebensmittelverschwendung um die Hälfte reduziert
haben . Zumindest, wenn wir die Nachhaltigkeitsziele der
Vereinten Nationen ernst nehmen, und ich hoffe doch
sehr, dass wir das allesamt tun . Bis 2030 sind es noch
zwölfeinhalb Jahre . Klingt lang, ist es aber nicht . Es ist
also allerhöchste Zeit, dass wir endlich aus dem Knick
kommen .
Wir reden, debattieren und berichten nun schon viele
Jahre über das Thema .
2012 haben wir hier im Bundestag gemeinsam einen
fraktionsübergreifenden Antrag verabschiedet, der unter
anderem Zielmarken für die Reduktion der Lebensmittel-
verluste in den einzelnen Branchen vorsah .
2015 haben wir das seitens der Koalitionsfraktionen
nochmals bestätigt .
Das Europäische Parlament hat gerade erst vorgestern
die Kommission aufgefordert, etwas gegen Lebensmit-
telverschwendung zu unternehmen .
Positiv gesprochen zeigt das: Im Prinzip sind wir
uns einig, dass etwas passieren muss . Dass es so nicht
weitergehen kann . Dass es nicht akzeptabel ist, dass so
viele noch essbare Lebensmittel im Müll landen . Und
zwar nicht nur im Hausmüll, sondern auch im Müll in
der Gastronomie, im Handel, in der Industrie und in der
Landwirtschaft . Allein – die bisherigen Maßnahmen ha-
ben ganz offensichtlich noch nicht zu einer Änderung der
Situation geführt .
Der Europäische Rechnungshof hat der Kommission
kürzlich bescheinigt, viel zu unambitioniert gegen Le-
bensmittelverschwendung vorzugehen .
Der Bundesrechnungshof hat dem hiesigen Ernäh-
rungsministerium ebenfalls bescheinigt, eine ziemlich
wirkungslose und dazu schlecht geplante Kampagne ge-
fahren zu haben .
Wir haben in Deutschland zahlreiche tolle Initiativen,
die versuchen, im Kleinen etwas zu verändern, und die
dazu beitragen, das Thema in der Öffentlichkeit und in
unserer aller Köpfe zu verankern .
Wir haben auch inzwischen eine Plattform, gefördert
von der Deutschen Bundesstiftung Umwelt, die der Wirt-
schaft Analysen und Instrumente zur Verfügung stellt,
Lebensmittelverluste zu reduzieren .
Nicht zu vergessen die wichtige Arbeit, die Verbrau-
cherzentralen und Universitäten wie Münster oder Wit-
ten/Herdecke bei dem Thema leisten .
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linksfrakti-
on, ich bin sehr wohl bei Ihnen und Ihrer Forderung, Le-
bensmittelretterinnen und -retter zu entkriminalisieren .
Ich halte auch viel davon, den Handel zu verpflichten,
aus dem Verkauf genommene Waren kostenlos an ge-
meinnützige Organisationen abgeben zu müssen . Aber:
Das allein reicht nicht . Es wird auch nicht dazu führen,
dass sich überall in der Wertschöpfungskette etwas än-
dert . Denn auch in der Gastronomie wird viel weggewor-
fen . In der Landwirtschaft bleibt viel essbares Gemüse
einfach auf dem Acker liegen .
Wenn wir daran etwas ändern wollen, brauchen wir
eine umfassende Strategie, ich glaube sogar, wir brau-
chen ein Gesetz, das alle Akteure adressiert, das end-
lich für eine ausreichende Datenlage sorgt, verbindliche
Zielmarken für die einzelnen Branchen festlegt und das
sicherstellt, dass diese Branchen bei der Umsetzung un-
terstützt werden .
Es reicht mir nicht, nur darüber zu reden, wie noch
essbare Lebensmittel nach Feierabend des Supermark-
tes vor der Entsorgung bewahrt werden . Ja, Lebensmit-
telspenden zu erleichtern, ist ein wichtiger Punkt . Aber
wenn wir Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion
nachhaltiger machen wollen, wenn wir dafür sorgen
wollen, dass weniger Ressourcen verschwendet werden,
dann müssen wir uns vor allem um die Schnittstellen in
der Lebensmittelkette kümmern . Ein erheblicher Teil der
Verluste entsteht nämlich durch optische Anforderungen,
Vertragsklauseln oder bestimmte Unternehmensprakti-
ken .
Keiner verschwendet gern oder gezielt Lebensmittel .
Aber offensichtlich braucht es eine übergreifende gesell-
schaftliche und politische Anstrengung, den Status quo
zu ändern .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 23767
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(B) (D)
Das, was das Bundesernährungsministerium bisher
unternommen hat, reicht nicht . Ich bedaure, dass der Mi-
nister es nicht geschafft hat, die Lebensmittelwirtschaft
wirklich effektiv in die Pflicht zu nehmen oder für eine
bessere Datengrundlage zu sorgen .
Für meine Fraktion kann ich nur noch einmal beto-
nen: Wir wollen eine nationale umfassende Strategie ge-
gen Lebensmittelverschwendung mit Zielmarken für die
Wirtschaft .
Anders werden wir das Ziel, 50 Prozent weniger zu
verschwenden, bis 2030 ganz sicher nicht erreichen .
Karin Binder (DIE LINKE): In Deutschland landen
pro Jahr über 18 Millionen Tonnen Nahrungsmittel auf
dem Müll . Supermärkte sortieren Lebensmittel mit Ab-
lauf des Mindesthaltbarkeitsdatums aus, obwohl diese
meist deutlich länger genießbar sind . Manche Händler
weisen ganze Lkw-Ladungen frischer Lebensmittel ab,
weil die Lieferung nicht pünktlich kam . Wenn im Netz
mit Orangen eine zerdrückt ist, landet die ganze Packung
auf dem Müll. Am häufigsten wird gutes und genießbares
Obst, Gemüse und Brot weggeworfen . Zum Anbau die-
ser Menge an Lebensmitteln werden ungefähr 2,6 Milli-
onen Hektar Nutzfläche benötigt. Das entspricht der Flä-
che Mecklenburg-Vorpommerns . Auch all die anderen
zur Bewirtschaftung benötigten Ressourcen wie Arbeits-
kraft, Wasser, Dünger und Pflanzenschutzmittel werden
verschwendet .
Aber die Vernichtung von Lebensmitteln ist für die
Wirtschaft profitabel. Das Retten entsorgter Lebensmittel
hingegen ist strafbar .
Das ist für die Linke nicht hinnehmbar . Das wollen
wir ändern .
Über die Hälfte der Lebensmittelverluste könnten wir
sofort und ohne zusätzlichen Aufwand vermeiden . Das
belegt die Studie „Das große Wegschmeißen” der Natur-
schutzorganisation World Wide Fund for Nature (WWF) .
Dazu müssten wir in der globalen Erzeugungskette aber
sorgfältiger mit den Waren umgehen und gleichzeitig re-
gionale Vermarktung und nachhaltigen Konsum stärken .
Für 60 Prozent der Lebensmittelverschwendung ist
die Wirtschaft verantwortlich . Ein Viertel der vermeid-
baren Nahrungsmittelverluste fallen allein im Lebens-
mittelhandel an . Um Personalkosten zu sparen, wird bei
Discountern und Supermarktketten genießbares Essen
weggeworfen . Auch aus Marketinggründen wird Essen
vernichtet . Alles soll bis kurz vor Ladenschluss verfüg-
bar sein und immer frisch aussehen .
Der Wirtschafts- und Sozialausschuss im Europapar-
lament stellte dazu fest: In den EU-Mitgliedstaaten ist es
für den Handel profitabler, überschüssige Lebensmittel
zu entsorgen als zu spenden . Wegwerfen ist also billiger
als der achtsame Umgang mit Essen .
Dieses Prinzip wird von Lebensmittelretterinnen und
Lebensmittelrettern durch das „Containern“ gestört .
Beim Containern geht es um das Retten und Herausfi-
schen weggeworfener, noch genießbarer Lebensmittel
aus den Müllcontainern der Supermärkte . Lebensmit-
telretterinnen und -retter machen damit auf die maßlose
Verschwendung und systematische Überproduktion von
Lebensmitteln aufmerksam . Das Problem des kapita-
listischen Systems ist: Je mehr Lebensmittel kostenlos
gerettet werden, desto weniger werden beim Discounter
gekauft . Auch deshalb ist Containern unerwünscht . Viele
Supermärkte reagieren darauf mit Strafanzeigen wegen
Hausfriedensbruch und Diebstahl .
In Deutschland dürfen Unternehmer also straffrei und
bedenkenlos gute Lebensmittel wegwerfen, während
Containern strafbar ist . Das ist absurd .
2012 verurteilte beispielsweise ein Gericht in Düren
zwei Personen wegen Hausfriedensbruch und Diebstahl
zu hohen Geldstrafen, nachdem sie Lebensmittel aus
Containern eines Supermarktes genommen hatten . Der
Grund: Abfall ist so lange Eigentum der Supermärkte,
bis er von der Müllabfuhr abgeholt wurde .
Die Linke fordert deshalb die Umkehr der Rechtslage .
Lebensmittelabfälle sollen, wie in anderen europäischen
Ländern auch, als „herrenlose Sache“ gelten .
Der Handel muss, wie zum Beispiel wie in Frankreich
und Italien, gesetzlich verpflichtet werden, genießbare
Lebensmittel, die aus dem Verkauf genommen werden,
kostenfrei an interessierte Menschen, Mitarbeiterin-
nen und Mitarbeiter oder gemeinnützige Einrichtungen
weiterzugeben . Die Zuwiderhandlung der Märkte muss
ordnungsrechtlich geahndet und bestraft werden, damit
sich für Aldi, Lidl, Rewe und Edeka die Vernichtung von
Essen nicht mehr lohnt .
Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Seit Jahren diskutieren wir hier regelmäßig im Plenum
über das massive Umweltproblem der Lebensmittelver-
schwendung .
Beileibe nicht, weil die Bundesregierung so aktiv
wäre, diese zu bekämpfen – das wäre wünschenswert –,
sondern weil die Opposition es immer und immer wieder
auf die Tagesordnung setzt . Schon alleine deshalb ist An-
trag der Linken zu begrüßen . Die Kolleginnen und Kolle-
gen der Linken haben sich wenigstens Gedanken darüber
gemacht, wie man Essensretter entkriminalisieren und
Lebensmittelmüll reduzieren kann .
Diese Vorschläge setzen erst am Ende der Wertschöp-
fungskette an. Ich finde, man muss früher ran an das Pro-
blem . Bekämpft werden müssen die Ursachen von Le-
bensmittelmüll .
Unsere Vorschläge und Forderungen dazu – allen vo-
ran die Vereinbarung auf branchenspezifische Reduk-
tionsziele – liegen auf dem Tisch . Und das seit inzwi-
schen über fünf Jahren . 2012 haben wir dazu schon einen
Antrag in den Bundestag eingebracht . Selbst Union und
SPD haben das mit gefordert . Doch passiert ist seitdem
viel zu wenig .
Es ist ja kein Geheimnis, dass Minister Schmidt kein
Aktivposten dieser Bundesregierung ist . Sein Credo der
„verbindlichen Freiwilligkeit“ hat eine gewisse traurige
Bekanntheit erlangt .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 201723768
(A) (C)
(B) (D)
Der Minister fällt also vor allem durch Nichtstun auf –
und durch regelmäßige Presseankündigungen in nach-
richtenarmen Zeiten, die dann leider folgenlos bleiben .
So zum Beispiel bezüglich der Abschaffung des Min-
desthaltbarkeitsdatums . Das hat er mehrfach angekün-
digt, wobei er sich nicht so ganz sicher war, ob er es nun
abschaffen oder verlängern oder doch lieber einen neuen
Begriff einführen will . Da war er nicht ganz konsistent in
seinen Interviews . Aber ohnehin hat er dabei immer nur
bequem an Brüssel verwiesen; die sollten aktiv werden,
nicht er .
Pressewirksam hat er auch behauptet, 10 Millionen
Euro für die Entwicklung intelligenter Verpackungen
auszugeben . Später musste sein Haus dann kleinlaut
zugeben, dass zu dem Zeitpunkt noch nicht einmal eine
Ausschreibung für ein solches Forschungsprojekt exis-
tierte und auch nicht geplant war, die ganzen 10 Millio-
nen nur für diesen Zweck auszugeben .
Aber was hat der Minister tatsächlich gemacht?
Er hat die von seiner Vorgängerin Aigner gestartete
Kampagne „Zu gut für die Tonne“ weiter fortgeführt . Er
behauptet, mit Erfolg . Diese Einschätzung teile ich nicht .
Genauso wenig wie der Bundesrechnungshof, der die
Kampagne als „unzureichend vorbereitet“ und den „Er-
folg (als) nicht nachweisbar“ bezeichnet . Denn belegen
kann Minister Schmidt nicht, inwiefern seine Postkarten
und Apps tatsächlich dazu führen, dass es in Deutschland
weniger Lebensmittelverschwendung gibt .
Und was hat er nicht gemacht?
Nicht umgesetzt hat er jegliche Forderungen des Par-
laments . Er ignoriert die klaren und konkreten Forde-
rungen, die wir hier fraktionsübergreifend bereits 2012
beschlossen haben und die zu Beginn dieser Legislatur-
periode noch einmal unter anderem von den Abgeord-
neten seiner eigenen Fraktion bekräftigt wurden . Allen
voran brauchen wir endlich branchenspezifische Reduk-
tionsziele . Gemeinsam mit allen Akteuren entlang der
Wertschöpfungskette wie Handel, Industrie und Gastro-
nomie muss festlegt werden, wie viele Verluste bis wann
reduziert werden . Angekündigt hat Minister Schmidt
auch das bereits seit 2015 . Passiert ist nichts .
Weitere Ankündigungen: Die Kampagne „Zu gut für
die Tonne“ sollte ausgeweitet werden zu einer echten
Strategie gegen Lebensmittelverwendung . Für alle Stu-
fen der Wertschöpfungskette sollten die fehlenden Daten
zu Ausmaß und Gründen der Lebensmittelverluste ermit-
telt werden . Für die Erzeugung, aber auch etwa für Dis-
counter gibt es noch immer keine verlässlichen Zahlen .
Die lässt der Minister völlig aus dem Blick .
Doch diese sind absolut notwendig, um sinnvolle Stra-
tegien und konkrete Reduktionsziele zu erarbeiten . So-
wohl die EU-Kommission, das Europaparlament als auch
die Vereinten Nationen in den SDGs haben konkrete Mi-
nimierungsziele beschlossen . Diese Bundesregierung
hinkt in ihren Bemühungen hinterher .
Mein Fazit daher: Minister Schmidts Regierungszeit
waren vier verlorene Jahre für den Kampf gegen Lebens-
mittelverschwendung .
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung
der Vierten EU-Geldwäscherichtlinie, zur Aus-
führung der EU-Geldtransferverordnung und zur
Neuorganisation der Zentralstelle für Finanztrans-
aktionsuntersuchungen (Tagesordnungspunkt 22)
Margaret Horb (CDU/CSU): Dass Geldwäsche nur
wenig mit Seifenlauge und Waschmaschinen zu tun hat,
wohl aber in einem Waschsalon stattfinden kann, wissen
wir von Al Capone . Es ist bekannt, dass der Unterwelt-
boss die Einnahmen seiner Waschsalons mit Geldern aus
illegalen Geschäften aufbesserte und diese Einkünfte
somit zu „sauberem“ Geld machte . Dies war durch den
Münzbetrieb der Waschmaschinen problemlos möglich .
Und es war auch nicht gelogen, wenn er behauptete: „Ich
bin im Wäscherei-Business tätig .“ Damals ein durchaus
kreativer Ansatz .
Heutzutage gibt es durch den technischen Fortschritt
nahezu unbegrenzte Möglichkeiten, illegale Gelder in
den legalen Wirtschaftskreislauf einzuschleusen . Mit
dem vorliegenden Gesetz zur nationalen Umsetzung der
Vierten EU-Geldwäscherichtlinie beabsichtigen wir, ge-
nau das zu erschweren, ja zu verhindern .
Die wohl entscheidendste Stärkung der Geldwäsche-
bekämpfung wird mit der Neuausrichtung der Zentral-
stelle für Finanztransaktionsuntersuchungen, der so-
genannten Financial Intelligence Unit (FIU), erfolgen .
Diese Spezialeinheit wird fachlich und organisatorisch
neu ausgerichtet und sowohl technisch als auch personell
besser ausgestattet . Statt bislang 25 Mitarbeiter – vorran-
gig Polizisten – werden künftig 165 Fachleute aus un-
terschiedlichsten Bereichen dieser Einheit angehören .
Die FIU wird bei der Generalzolldirektion angegliedert
sein – eine sinnvolle Bündelung, da der Zoll bereits
durch seinen originären Arbeits- und Geschäftsbereich
über entsprechende Spezialkenntnisse verfügt .
Neben Polizisten und Beschäftigten der Zollverwal-
tung werden jedoch auch Unternehmer, Steuer- und
Finanzbeamte, Bankangestellte, Wirtschaftsprüfer,
Steuerberater, Mitarbeiter des Bundesamtes für Verfas-
sungsschutz und des Bundeskartellamtes sowie Beschäf-
tigte aus Bundes-, Landes- und Kommunalverwaltungen
ihre Erfahrungen und Kenntnisse einbringen . Finanzana-
lytische, steuerliche und kriminalistische, aber auch wirt-
schaftliche und juristische Perspektiven werden gebün-
delt und in die Sachverhaltsbewertung einbezogen .
Ein strukturiertes und zielorientiertes Vorgehen ge-
gen die international organisierte Kriminalität soll durch
die drei Hauptaufgabenbereiche der Zentralstelle für Fi-
nanztransaktionsuntersuchungen gewährleistet werden:
Erstens . Filtern von Verdachtsmeldungen: Eingehende
Meldungen mit Verdacht auf Geldwäsche oder Terroris-
musfinanzierung werden von den Spezialisten risikoba-
siert analysiert, aufbereitet und an Polizei und Staatsan-
waltschaft vor Ort weitergeleitet .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 23769
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Zweitens . Information und Prävention: Die FIU wird
Unternehmen, Verbände und Behörden über neue Arten
der Geldwäsche informieren und schulen . Sie koordiniert
und stellt somit sicher, dass das Geldwäschegesetz in al-
len Bundesländern mit gleicher Wirkung umgesetzt wird .
Drittens . Daten- und Informationsaustausch auf natio-
naler und internationaler Ebene: Geldwäsche kennt keine
Landesgrenzen – weder innerhalb Deutschlands noch in
Europa . Geldwäsche agiert global .
Mit diesem Gesetz wird die Grundlage geschaffen,
dass der Daten- und Informationsaustausch auf nationa-
ler und internationaler Ebene optimiert und intensiviert
wird . Erstmals werden der deutschen Zentralstelle Daten
von Finanz- und Verwaltungsbehörden im automatisier-
ten Abruf zur Verfügung stehen, sodass die Datenbasis
für die Bewertung und Analyse breiter aufgestellt wird .
Denn erst durch den Austausch und die Aufbereitung der
Daten, wie der Vorsitzende der Deutschen Steuer-Ge-
werkschaft, Thomas Eigenthaler, zu Recht ausführt, kön-
nen die Ermittlungsbehörden effektiv den Schlag gegen
die Geldwäsche führen .
Im Kampf gegen Geldwäsche und Terrorismusfinan-
zierung setzen wir von der CDU/CSU-Bundestagsfrakti-
on auf Transparenz und effektive nationale wie internati-
onale Zusammenarbeit . Wir setzen aber auch explizit auf
die Kompetenz und das Engagement unserer Zöllner, Fi-
nanzbeamten und Polizisten, unserer Fachleute auf allen
Ebenen, die Tag für Tag eine großartige Arbeit machen –
auch unter Einsatz ihres Lebens . Daher von dieser Stelle
unseren ganz besonderen Dank für Ihre Arbeit!
Gerade diese Men- und Womenpower vor Ort, auf
Länderebene, müssen wir gleichzeitig mit der Verstär-
kung der FIU auf Bundesebene konsequent aus- und
aufbauen . Auch wenn der Steuervollzug und der Bereich
der Güterhändler im Nicht-Finanzsektor in das Aufga-
ben- und Hoheitsgebiet der Bundesländer fallen: Ille-
galer Internethandel und kriminelle Strukturen der Um-
satzsteuerkarusselle operieren weltweit; die organisierte
Kriminalität im digitalisierten Wirtschaftsraum kennt
keine Ländergrenzen . Das haben wir an der Cyberattacke
letzte Woche wieder einmal gesehen .
Kompetente und hochmotivierte Fachleute, ausgerüs-
tet und unterstützt mit moderner Technik, sind unsere
Waffe im Kampf gegen Geldwäsche . Es waren ja letz-
ten Endes auch die Steuerbeamten der amerikanischen
Steuerbehörde IRS, die den „Staatsfeind Nummer eins“
Al Capone hinter Gitter brachten . Nicht wegen seiner
illegalen Geschäfte ging er für elf Jahre ins Gefängnis,
sondern wegen Steuerhinterziehung im Zusammenhang
mit Geldwäsche .
Dr. Frank Steffel (CDU/CSU): Mit der Umsetzung
der Vierten EU-Geldwäscherichtlinie unternimmt die
Bundesregierung einen weiteren wichtigen Schritt im
Kampf gegen die Geldwäsche und Terrorismusfinanzie-
rung . Mit ihm passen wir die nationale Gesetzgebung an
die 2012 überarbeiteten Empfehlungen der Financial Ac-
tion Task Force (FATF) an .
Seit der ersten Lesung im März erreichten uns zahl-
reiche Änderungsanträge . Als einen Punkt nehmen wir
nun Veranstalter und Vermittler von Lotterien aus, die
nicht im Internet veranstaltet werden und eine staatli-
che Erlaubnis haben . Außerdem berücksichtigen wir die
Schweigepflicht gegenüber der Financial Intelligence
Unit (FIU) bei allen Berufen, die einer Schweigepflicht
unterliegen . Bislang trägt die Ausnahme bzw . Rückaus-
nahme im GwG-Entwurf nur der Verschwiegenheits-
pflicht von Berufsgeheimnisträgern Rechnung, soweit
diese eine Rechtsberatung vornehmen . Die Änderungen
berücksichtigen nun umfassend alle Tätigkeiten, die ei-
ner Schweigepflicht unterliegen, wie zum Beispiel Steu-
erberater, Wirtschaftsprüfer und Rechtsanwälte .
Wir stellen heute abschließend klar, dass wir die In-
teressen von Güterhändlern berücksichtigen und für sie
eine Erleichterung geschaffen haben. So gilt die Pflicht,
interne Sicherungsmaßnahmen zu ergreifen, nunmehr
nur für Güterhändler, die Barzahlungen ab 10 000 Euro
annehmen oder tätigen . Wir stellen außerdem sicher, dass
Unbefugte keinen Missbrauch mit dem Transparenzre-
gister betreiben können, zum Beispiel durch die Abfrage
der Personalausweisnummer oder der Umsatzsteuer-ID
bei Unternehmen . Auch stellen wir sicher, dass Rechnun-
gen für Onlinegeschäfte oder Strom weiter in bar an der
Supermarktkasse bezahlt werden können .
Nach intensiver Diskussion und Arbeit bringen wir
das Gesetz heute auf den Weg . Es umfasst im Wesentli-
chen fünf zentrale Punkte:
Erstens schaffen wir mit ihm ein elektronisches Trans-
parenzregister . Es erhöht die Transparenz und erschwert
den Missbrauch von Gesellschaften und Trusts zu Zwe-
cken der Geldwäsche sowie ihrer Vortaten, wie Steuer-
betrug und Terrorismusfinanzierung. Dabei wurde darauf
geachtet, dass der Bürokratieaufwand für die Unterneh-
men möglichst gering bleibt . Zugang erhält nur, wer ein
berechtigtes Interesse vorweisen kann .
Zweitens ermöglicht das Gesetz die Ansiedlung einer
Zentralstelle für Verdachtsmeldungen im Bundesminis-
terium für Finanzen . Die Zentralstelle für Finanztransak-
tionsuntersuchungen war bislang polizeilich ausgerichtet
und beim Bundeskriminalamt im Geschäftsbereich des
Bundesministeriums des Innern angesiedelt . Mit der
Neuausrichtung erhält die Zentralstelle eine Filterfunkti-
on und kann dadurch die Strafverfolgungsbehörden ent-
lasten .
Das Gesetz stärkt drittens den risikobasierten An-
satz. Das heißt, die Verpflichteten müssen künftig jede
Geschäftsbeziehung und Transaktion individuell auf das
jeweilige Risiko in Bezug auf Geldwäsche und Terroris-
musfinanzierung hin prüfen.
Viertens erweitern wir den Verpflichtetenkreis und ver-
schärfen fünftens die Sanktionen und machen Verstöße
sichtbar . So beträgt die maximale Höhe des Bußgeldrah-
mens nunmehr für alle schwerwiegenden, wiederholten
oder systematischen Verstöße gegen geldwäscherechtli-
che Vorschriften 1 Million Euro oder das Zweifache des
aus dem Verstoß gezogenen wirtschaftlichen Vorteils;
für Kredit- und Finanzinstitute 5 Millionen Euro sowie
die Möglichkeit einer umsatzbezogenen Geldbuße . Für
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 201723770
(A) (C)
(B) (D)
die übrigen Fälle setzen wir den Bußgeldrahmen auf
200 000 Euro fest . Die Aufsichtsbehörden müssen alle
unanfechtbar gewordenen Maßnahmen und Bußgeldent-
scheidungen auf ihrer Internetseite bekanntgeben .
Nach der Einführung des Straftatbestandes der Selbst-
geldwäsche im November 2015 und der Einführung
des Straftatbestandes der Terrorismusfinanzierung im
Juli 2015 ist das heutige Gesetz ein weiterer Schritt der
Bundesregierung im Kampf gegen Geldwäsche und Ter-
rorismusfinanzierung in dieser Legislaturperiode. Die
Bundesregierung wird weiterhin alles daransetzen, ge-
zielt gegen diese Form der Kriminalität und Bedrohung
vorzugehen .
Der englische Staatsphilosoph John Locke hat einmal
gesagt: „Der beste Weg zur Wahrheit ist, die Dinge so zu
betrachten, wie sie sind, und nicht so, wie wir schließen
dass sie zu sein hätten .“ Das haben wir auch bei diesem
Gesetz getan .
Ich möchte allen Fraktionskollegen, dem Koalitions-
partner und dem Bundesministerium für Finanzen für die
gute Zusammenarbeit danken .
Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Der Bundestag
beschließt heute in zweiter und dritter Lesung das Gesetz
zur Umsetzung der Vierten EU-Geldwäscherichtlinie .
Damit werden die Behörden im Kampf gegen Geldwä-
sche erheblich gestärkt und die Regeln zur Verhinderung
von Geldwäsche deutlich verschärft .
Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt insbesondere
die Einführung eines Transparenzregisters über wirt-
schaftlich Berechtigte . Dies ist eine wichtige europäische
Antwort auf die sogenannten „Panama-Papiere“, die ei-
nen tiefen Einblick in die globale Schattenwirtschaft der
Briefkastenfirmen gegeben haben. Diese Firmen dienten
zur Verschleierung der tatsächlichen Eigentümer und der
Herkunft ihrer Vermögen . Damit leisten sie nicht nur
Geldwäsche und Steuerbetrug Vorschub, sondern sind
auch Teil der wirtschaftlichen und finanziellen Infrastruk-
tur der organisierten Kriminalität und des Terrorismus .
Als Briefkastenfirma bezeichnen wir ein Unternehmen,
das zwar rechtlich existiert, aber keine wirtschaftliche
Aktivität aufweist . Darüber hinaus ist der wirtschaftlich
Berechtigte unbekannt .
Mit der Einführung eines Transparenzregisters mit
Informationen zu den wirtschaftlich Berechtigten wird
es mehr Klarheit darüber geben, wer an welchen Unter-
nehmen maßgeblich beteiligt ist . Das hilft Behörden bei
der Aufklärung von Geldwäscheverdachtsfällen und wird
hoffentlich gezielt dazu beitragen, den Missbrauch von
Unternehmensgestaltungen für Geldwäsche zu verhin-
dern .
Im Gesetz ist vorgesehen, dass Dritten die Einsicht in
das Register nur bei Vorliegen eines berechtigten Interes-
ses ermöglicht wird . Wir haben uns bei der Einführung
des Registers für einen öffentlichen Zugang eingesetzt,
bei dem einerseits die datenschutzrechtlichen Interessen
der wirtschaftlich Berechtigten gewahrt bleiben, ande-
rerseits die Öffentlichkeit Einsicht erhalten kann . Diese
weitere Öffnung des Registers zur effektiveren Bekämp-
fung der Geldwäsche ist aber an der mangelnden Bereit-
schaft der CDU/CSU-Fraktion gescheitert .
Dafür hat die SPD-Bundestagsfraktion aber im Aus-
schussbericht klare Bedingungen für den Nachweis eines
berechtigten Interesses festgehalten, mit denen der Zu-
gang für Nichtregierungsorganisationen und Journalisten
zum Register erleichtert wird . So wird auf jeden Fall mit
dem heute zu beschließenden Gesetz schon die beab-
sichtigte Wirkung, NGOs und Journalisten einen Zugang
zum Transparenzregister zu gewährleisten, erfüllt .
Ich bin zudem zuversichtlich, dass uns eine gezielte
weitere Öffnung des Transparenzregisters künftig durch
die europäische Gesetzgebung vorgegeben wird . Eine
mögliche weitere Öffnung des Transparenzregisters ist
eine der zentralen Themen im Rahmen der aktuellen
Trilogverhandlungen zur Fünften europäischen Geldwä-
scherichtlinie .
Im Rahmen der parlamentarischen Beratungen haben
wir genau darauf geachtet, dass durch das Umsetzungs-
gesetz keine ungewollten Kollateralschäden für einzelne
Nischenunternehmen entstehen . Der ursprüngliche Re-
gierungsentwurf hätte Geschäftsmodelle unmöglich ge-
macht, mit denen unter anderem Stromrechnungen in bar
an der Supermarktkasse bezahlt werden können . Für vie-
le Menschen ist dies aber eine wichtige Bezahlmöglich-
keit, um Rechnungen zeitnah zu begleichen und Mahn-
gebühren oder andere Konsequenzen zu vermeiden . Um
innovative Geschäftsmodelle weiterhin zu ermöglichen
und insbesondere im Interesse der Verbraucherinnen
und Verbraucher, hat sich die SPD-Bundestagsfraktion
erfolgreich dafür eingesetzt, dass wie bisher diese Ge-
schäftsmodelle bzw . Geschäfte ohne höheren Verwal-
tungsaufwand bis 1 000 Euro möglich sind .
Wir haben ebenfalls darauf geachtet, dass keine
Schlupflöcher durch Ausnahmeregelungen entstehen.
Der BDI hat sich unter anderem dafür eingesetzt, dass
Güterhändler ihre Sorgfaltspflichten bei der Geldwäsche-
prüfung nur dann erfüllen müssen, wenn sie Barzahlun-
gen über 10 000 Euro tätigen oder entgegennehmen . Die-
se Ausnahme hätte jedoch eine signifikante Absenkung
des Schutzniveaus im Geldwäschegesetz zur Folge ge-
habt . Ein zentrales Ziel des Gesetzes ist es ja, gerade den
Nicht-Finanzbereich für Geldwäsche zu sensibilisieren
und Geldwäsche so zu erschweren .
Das war mit uns nicht zu machen . Nicht zuletzt die
Berichterstattung der Süddeutschen Zeitung zum Geld-
wäschemodell der sogenannten „russischen Waschma-
schine“ hat gezeigt, dass Güterhändler oft der neural-
gische Punkt bei Geldwäsche sind. Häufig lagen die
Beträge dabei unterhalb von 10 000 Euro .
Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt zudem die
Neuorganisation der Zentralstelle für Finanztransakti-
onsuntersuchungen . Die oberste Geldwäschebekämp-
fungsbehörde wird vom Bundeskriminalamt zum Zoll
verlagert und dabei personell erheblich aufgestockt . Das
ist ein guter und richtiger Beschluss .
Darüber hinaus ist im Kampf gegen Geldwäsche eine
deutliche personelle Aufstockung der zuständigen Auf-
sichtsbehörden der Länder notwendig . Deshalb fordere
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 23771
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(B) (D)
ich die Bundesregierung auf, die Gespräche mit den Län-
dern im Hinblick auf eine angemessene Ausübung der
Geldwäscheaufsicht im Nichtfinanzsektor und im Hin-
blick auf eine effektive Aufsichtsstruktur voranzutreiben .
Die Aufsicht über Geldwäsche und Terrorismusfinan-
zierung im Nichtfinanzsektor wird in den einzelnen Län-
dern unterschiedlich geregelt . Hierdurch ergeben sich
Effizienzverluste in der Bekämpfung der Geldwäsche,
die auch mit einer über Jahre andauernden zu geringen
Personalausstattung und fehlender Informations- und
Kommunikationstechnologie in Verbindung stehen . Hier
sind Verbesserungen dringend geboten, um die allgemei-
ne Schlagkräftigkeit Deutschlands im Kampf gegen die
Geldwäsche weiter zu stärken .
Dr. Jens Zimmermann (SPD): Die im letzten Jahr
bekanntgewordenen Enthüllungen um die sogenannten
„Panama Papers“ sowie die erst kürzlich aufgedeckten
Konstruktionen der russischen Waschmaschine zeigen,
dass Geldwäsche weiterhin ein Riesenproblem ist .
Geldwäsche bezeichnet das Einschleusen illegal er-
wirtschafteten Vermögens – beispielsweise aus Drogen-
verkäufen, Raubüberfällen oder Betrug – in den legalen
Wirtschaftskreislauf, um die illegale Herkunft des Gel-
des zu verschleiern, das Geld also zu „waschen“ .
Der weltweite Umfang von Geldwäsche kann nur
geschätzt werden . Die Vereinten Nationen gehen davon
aus, dass jährlich Geldvermögen im Umfang von 1,3 Bil-
lionen US-Dollar gewaschen wird . Dies entspricht fast
3 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung .
Alle Indizien legen nahe, dass Deutschland ein attrak-
tives Ziel für die Geldwäscheaktivitäten der internationa-
len organisierten Kriminalität ist . Alleine in der Bundes-
republik werden schätzungsweise bis zu 100 Milliarden
Euro jährlich gewaschen .
Wir wissen, dass hiervon auch in starkem Maße der
sogenannte Nicht-Finanzbereich betroffen ist, insbeson-
dere dort, wo mit großen Summen – oft in bar – umge-
gangen wird . Die Milliarden aus illegalen Geschäften,
die jährlich von der organisierten Kriminalität in Spiel-
hallen, bei Immobiliengeschäften oder bei Autohändlern
gewaschen werden, sind für die Aufsichts- und Ermitt-
lungsbehörden eine große Herausforderung .
Geldwäsche schadet der deutschen Volkswirtschaft
erheblich . Es werden enorme Summen an illegalem
Vermögen gewaschen; dem Staat werden so Milliarden
an Steuereinnahmen vorenthalten . Geldwäsche betrifft
deshalb nicht nur eine bestimmte Klientel, sondern alle
Bürgerinnen und Bürger, die ehrlich ihre Steuern zahlen .
Deshalb begrüßen wir es als SPD-Fraktion sehr, dass
mit dem vorliegenden Gesetzentwurf, mit dem wir die
Vierte EU-Geldwäscherichtlinie umsetzen, die Regeln
zur Bekämpfung der Geldwäsche deutlich verschärft
werden .
Wir haben uns in den parlamentarischen Verhand-
lungen intensiv mit dem Gesetzentwurf beschäftigt und
gemeinsam mit unserem Koalitionspartner für viele Ver-
besserungen an dem Gesetzentwurf gesorgt, um den Ver-
waltungsaufwand zu verringern und die Anwendung des
Geldwäschegesetzes für die Aufsichtsbehörden und die
Verpflichteten zu vereinfachen.
Eine der wichtigsten Neuerungen, die mit der Verab-
schiedung dieses Gesetzes kommen wird, ist die Einfüh-
rung eines Transparenzregisters über die wirtschaftlich
Berechtigten: juristische Personen, eingetragene Perso-
nengesellschaften, Trusts und Trust-ähnliche Rechtsge-
staltungen . Die Skandale der vergangenen Jahre haben
gezeigt, dass Geldwäsche häufig einhergeht mit Unter-
nehmenskonstruktionen, bei denen nicht klar ist, wer
eigentlich die Geschicke bestimmt . Mit dem Transpa-
renzregister, das in Zukunft mit den entsprechenden Re-
gistern in den anderen EU-Staaten zu einem EU-weiten
Transparenzregister vernetzt werden soll, werden wir
endlich wissen, wem was gehört und wer an welchen
Unternehmen wie beteiligt ist .
Hierzu soll das Register als Portal fungieren, über das
Dokumente aus anderen öffentlich zugänglichen Regis-
tern, beispielsweise dem Handels- oder dem Vereinsre-
gister, abrufbar sind . Neue Meldungen an das Register
sollen nur nötig sein, wenn sich die Informationen nicht
aus bestehenden Registern ergeben .
Im Gesetzentwurf ist ein gestaffelter Zugang zu den
Registerinformationen vorgesehen . Behörden erhalten
Zugang, soweit es zur Erfüllung ihrer Aufgaben nötig ist .
Verpflichtete erhalten Zugang, soweit es zur Erfüllung
ihrer geldwäscherechtlichen Sorgfaltspflichten nötig ist.
Der Zugang für Dritte ist an ein berechtigtes Interesse
geknüpft, das gegenüber der registerführenden Stelle
nachgewiesen werden muss .
Intensiv diskutiert haben wir in den Verhandlungen
die Frage, ob der Zugang zum Transparenzregister öf-
fentlich sein soll . Wir als SPD-Fraktion haben uns in den
parlamentarischen Verhandlungen für einen öffentlichen
Zugang eingesetzt, bei dem die datenschutzrechtlichen
Interessen der wirtschaftlich Berechtigten gewahrt blei-
ben .
Eine Öffnung des Registers zur effektiveren Bekämp-
fung der Geldwäsche ist an der mangelnden Bereitschaft
unseres Koalitionspartners gescheitert . Dafür haben wir
aber im Ausschussbericht klare Bedingungen für den
Nachweis eines berechtigten Interesses festgehalten, mit
denen der Zugang zum Register für Nichtregierungsorga-
nisationen und Journalisten erleichtert wird .
Die Frage des öffentlichen Transparenzregisters ist ein
zentraler Punkt in den momentan auf EU-Ebene laufen-
den Verhandlungen für eine Richtlinie zur Überarbeitung
der Vierten Geldwäscherichtlinie . Wir werden uns bei
der nationalen Umsetzung der nächsten EU-Geldwä-
scherichtlinie, die voraussichtlich in den nächsten zwei
Jahren ansteht, erneut für die komplette Öffnung des Zu-
gangs zum Transparenzregister einsetzen .
In den Verhandlungen haben wir uns ebenso intensiv
unter geldwäscherechtlichen Gesichtspunkten auch mit
Geschäftsmodellen auseinandergesetzt, mit denen unter
anderem Stromrechnungen in bar an der Supermarktkas-
se bezahlt werden können . Der ursprüngliche Gesetzent-
wurf hätte diese Geschäftsmodelle unmöglich gemacht
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 201723772
(A) (C)
(B) (D)
und wäre damit deutlich über die Vorgaben in der Richt-
linie hinausgegangen .
Für viele Menschen ist dies aber eine wichtige Bezahl-
möglichkeit, um Rechnungen zeitnah zu begleichen und
Mahngebühren oder weitergehende Konsequenzen zu
vermeiden . Um innovative Geschäftsmodelle weiterhin
zu ermöglichen und insbesondere im Interesse der Ver-
braucherinnen und Verbraucher hat sich die SPD-Bun-
destagsfraktion erfolgreich dafür eingesetzt, dass diese
Geschäftsmodelle wie bisher ohne höheren Verwaltungs-
aufwand bis 1 000 Euro möglich sind .
Gleichzeitig haben wir als Koalitionsfraktionen im
Bericht des Finanzausschusses festgehalten, dass wir
von der Finanzaufsicht erwarten, diese Geschäftsmodel-
le weiterhin genau im Auge zu behalten . Wir waren uns
einig, dass mit dem nächsten nationalen Umsetzungsver-
fahren das Thema noch mal aufgerufen und hinsichtlich
der spezifischen Risiken für Geldwäsche und Terroris-
musfinanzierung diskutiert werden soll.
Im Nicht-Finanzbereich sorgen wir mit dem vorliegen-
den Gesetzentwurf für ein wesentlich höheres Schutzni-
veau. Künftig müssen die Verpflichteten bei Barzahlun-
gen ab 10 000 Euro – bisher waren es 15 000 Euro – in
jedem Fall die Sorgfaltspflichten des Geldwäschegeset-
zes, zu denen unter anderem eine Identifizierung des
Käufers gehört, erfüllen .
Ein wesentlicher Fortschritt in diesem Zusammen-
hang, mit dem wir auch internationale Vorgaben zur
Geldwäschebekämpfung berücksichtigen, ist die Stär-
kung des sogenannten risikobasierten Ansatzes . Er zielt
darauf ab, dass die geldwäscherechtlich Verpflichteten
künftig jede Geschäftsbeziehung und jede Transaktion
individuell auf das jeweilige Risiko hin prüfen und ge-
gebenenfalls zusätzliche Maßnahmen ergreifen müssen .
Gleichzeitig haben wir vielen Bedenken aus der Praxis –
insbesondere aus dem Bereich der Güterhändler – Rech-
nung getragen und im Ausschussbericht festgehalten, un-
ter welchen Voraussetzungen und mit welchem Aufwand
die geldwäscherechtlichen Sorgfaltspflichten erfüllt und
Geldwäscheverdachtsmeldungen abgeben werden müs-
sen .
Für eine noch effektivere Geldwäschebekämpfung ist
es nötig, dass Bund und Länder bei der Geldwäscheauf-
sicht besser zusammenarbeiten . Um dies zu erreichen, ist
eine genaue Analyse der Aufsichtstätigkeit in den Bun-
desländern nötig . Als Grundlage hierfür haben wir uns
als Koalitionsfraktionen auf eine gesetzlich verankerte
Berichtspflicht für die Länder gegenüber dem Bundes-
finanzministerium geeinigt. Die jährlichen Berichte über
die Aufsichtstätigkeit der Länder im Nicht-Finanzbereich
sollen zukünftig zu einer wirksamen Geldwäschebe-
kämpfung beitragen .
Zu einer besseren Koordinierung der Bundes- und
Landesbehörden soll auch die neue Zentralstelle für Fi-
nanztransaktionsuntersuchungen beitragen . Die bishe-
rige Zentralstelle für Verdachtsmeldungen (BKA) wird
in die Generalzolldirektion überführt und personell er-
heblich verstärkt . Die Aufgaben und Kompetenzen der
obersten nationalen Geldwäschebehörde werden neu
geregelt: Verdachtsmeldungen werden nicht mehr nur
entgegengenommen, angereichert und bewertet . Zusätz-
lich wird die neue FIU eine Filterfunktion wahrnehmen .
Nur werthaltige Meldungen werden nach Abgleich mit
anderen Informationen an die Strafverfolgungsbehörden
weitergeleitet . Außerdem wird die neue FIU Länder bei
der Umsetzung der Aufsicht unterstützen .
Insgesamt enthält der vorliegende Gesetzentwurf viele
wichtige Maßnahmen, die die Behörden im Kampf gegen
die Geldwäsche erheblich stärken . Wir als SPD-Fraktion
stimmen dem Gesetzentwurf zu .
Richard Pitterle (DIE LINKE): Wenn die Bundes-
regierung bei der Bekämpfung von Geldwäsche so wei-
termacht wie mit dem vorliegenden Gesetz, dann kann
man bald schon wieder die Sektkorken in den Steueroa-
sen und Schattenfinanzplätzen dieser Welt knallen hören.
Dabei hat der Bundesfinanzminister höchstselbst bei der
Vorstellung des Gesetzes Ende Februar verlauten lassen:
„Wir brauchen schlagkräftige Instrumente im Kampf ge-
gen Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung.“
Damit hat Herr Schäuble natürlich absolut Recht! Und
wie schön, dass ihm dieser Gedanke nach über sieben
Jahren im Amt des Bundesfinanzministers auch einmal
kommt .
Nur leider ist das vorgelegte Gesetz eben nicht son-
derlich schlagkräftig . Insbesondere beim geplanten
Transparenzregister, sozusagen dem Kernstück des Ge-
setzes, muss nachgebessert werden, damit nicht durch
verschachtelte Gesellschaftskonstruktionen Hintermän-
ner und Profiteure von Unternehmen weiter verschleiert
werden können .
Zwei Punkte möchte ich insbesondere ansprechen .
Erstens . Nach dem Gesetz kann man in Ausnahme-
fällen immer noch andere Personen, zum Beispiel ge-
schäftsführende Gesellschafter, anstelle der wirtschaft-
lich Berechtigten in das Register eintragen lassen . Das
widerspricht dem Grundgedanken, dass die tatsächlich
Handelnden zu identifizieren und notfalls in Haftung zu
nehmen sind .
Da gehen wir von der Linken nicht mit . Diese Ausnah-
men müssen gestrichen werden . Es muss sichergestellt
sein, dass stets die wahren wirtschaftlich Berechtigten
identifiziert werden, auch wenn die Identifikation auf-
wendig ist . Denn sonst würden wieder einmal die dreis-
testen Verschleierungstechniken mit unzähligen hinterei-
nandergeschalteten Gesellschaften belohnt .
Zweitens . In manchen Fällen sind nach diesem Gesetz
lediglich die wirtschaftlich Berechtigten selbst gegenüber
dem Transparenzregister meldepflichtig, insbesondere
dann, wenn weitere Gesellschaften dazwischengeschal-
tet sind . Und wenn diese wiederum in irgendwelchen
Steueroasen sitzen, kann man die Mitteilungspflichten
schlichtweg nicht durchsetzen . Wer Cocktails schwen-
kend am Karibikstrand sitzt, kann über Post vom deut-
schen Transparenzregister doch nur lachen .
Wir Linke fordern daher, dass von Anfang an die
gesamte Kontroll- und Beteiligungsstruktur durch die
Gesellschaften ermittelt werden muss . Anders ist den
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 23773
(A) (C)
(B) (D)
verschachtelten Konstruktionen der Geldwäscher nicht
beizukommen .
Und noch eines ist mir wichtig: Beim Transparenzre-
gister ist für mich entscheidend, dass Strafverfolgungs-
behörden und Finanzbehörden auf das Register zugreifen
können .
Das ist aber nur die halbe Miete . Wichtig ist nämlich
auch, dass diese Behörden personell so ausgestattet sind,
dass sie mit den Daten effektiv arbeiten können, damit
Geldwäsche konsequent bekämpft wird . Wie alle, die
sich mit der Problematik beschäftigen, wissen, ist das
insbesondere bei den Ländern sehr dürftig . Das muss ge-
ändert werden . Warum nicht endlich dem Vorschlag der
Linken folgen, eine Bundesfinanzpolizei einzurichten?
Genug Arbeit hätte sie auf jeden Fall .
Bis dahin liegt es auch an der Bundesregierung, ge-
meinsam mit den Ländern auf Verbesserungen bei der
Geldwäschebekämpfung, insbesondere auch im Nicht-Fi-
nanzsektor, hinzuwirken . Denn gerade im Nicht-Finanz-
sektor, also zum Beispiel in der Immobilienbranche oder
beim Autohandel, gibt es mangels einer zentralen Auf-
sichtsbehörde sehr unterschiedliche Handhabungen sei-
tens der Länder .
Ich denke, dass uns allen sehr daran liegt, die Geldwä-
sche effektiv und wirkungsvoll auszumerzen . Mit unse-
ren Vorschlägen bekommt dieses Gesetz die notwendige
Schlagkraft und bleibt nicht bloß ein Papiertiger .
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Organisierte Kriminalität und internationaler Terroris-
mus kennen keine staatlichen Grenzen . Die Bekämpfung
von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung erfordert
daher konzertierte Anstrengungen auf Länder-, Bundes-
und europäischer Ebene . Aber die Bundesregierung war
und ist kein Vorreiter bei der Bekämpfung der Geldwä-
sche . Die Bundesregierung hinkt seit Jahren hinterher .
Dem Bundesfinanzminister fehlt eine Gesamtstrategie
zur Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfi-
nanzierung . Wie in der Vergangenheit beschränkt er sich
auch heute auf eine möglichst halbherzige Umsetzung
der europäischen Antigeldwäscherichtlinien .
Auf Länderebene hatte der Bundesrat die Bundesre-
gierung schon 2012 im Rahmen seiner Stellungnahme
zum damaligen GwG-Ergänzungsgesetzentwurf dazu
aufgefordert, die Bekämpfung der Geldwäsche im beson-
ders anfälligen Nicht-Finanzbereich bundeseinheitlich zu
übernehmen . Schon damals hieß es zutreffend, die Erfas-
sung der regelmäßig länderübergreifenden Sachverhalte
bedeute einen erheblichen Abstimmungs- und Koordinie-
rungsaufwand; die föderale Zuständigkeitszersplitterung
führe zu einer unnötigen Vervielfachung der vorzuhalten-
den Ressourcen, und es gelte daher, Vollzugsdefizite gar
nicht erst entstehen zu lassen. Der Bundesfinanzminister
hat den Vorschlag verworfen . Heute sprechen Experten
von einem jährlichen Geldwäschevolumen im Nicht-Fi-
nanzsektor von 20 Milliarden bis 30 Milliarden Euro .
Mit ihrem Vorschlag aus 2012 sind die Bundesländer
aber keinesfalls aus der Verantwortung entlassen . Die
Anfragen der Grünenfraktion zum Antigeldwäschevoll-
zug in den Ländern liefern eindrucksvolle und erschre-
ckende Zahlen zur Vernachlässigung des Problems . Or-
ganisierte Gewalt- und Drogenkriminalität wird erst dann
profitabel, wenn das ergaunerte Geld auch im legalen
Geldkreislauf reinvestiert werden kann . Die Verharmlo-
sung des völlig unzureichenden Antigeldwäschevollzugs
muss umgehend ein Ende finden! Deshalb haben wir
parteiübergreifend im Finanzausschuss die Bundesre-
gierung aufgefordert, die Gespräche mit den Ländern im
Hinblick auf eine angemessene Ausübung der Geldwä-
scheaufsicht im Nicht-Finanzsektor und eine sinnvolle
Aufsichtsstruktur zu forcieren .
In anderen Punkten ist die Regierungskoalition leider
weniger interessiert an klaren Handlungsaufforderungen
gegenüber der Bundesregierung . Für welche Anliegen
die Bundesregierung in Brüssel bei der Überarbeitung
der Vierten AMLD streiten soll, will die Regierungsko-
alition nicht beeinflussen. Während die Grünenfraktion
dieser Tage vor dem Bundesverfassungsgericht gegen
die Aushöhlung der parlamentarischen Verfassungsrech-
te kämpft, zeigen SPD und CDU/CSU in vorauseilendem
Gehorsam überhaupt kein Interesse daran, auf das Ein-
fluss zu nehmen, was sie anschließend möglichst eins zu
eins umsetzen werden .
Wie unmündig sich die Kollegen aus der Regierungs-
koalition damit machen, zeigt die Umsetzung des soge-
nannten Transparenzregisters . „Wir hätten ja nichts ge-
gen ein öffentliches Register, aber leider müsste das auf
EU-Ebene beschlossen werden“ wird einerseits behaup-
tet, während man sich andererseits nicht für eine entspre-
chende (oder irgendeine andere konkrete) Ausgestaltung
der Fünften AMLD einsetzen will .
Zu der Rolle rückwärts der Bundesregierung beim
Transparenzregister ist im Übrigen bereits alles gesagt
worden . Wir unterstützen den entsprechenden Ände-
rungsantrag der Linken, mahnen allerdings auch eine
datenschutzsensible Ausgestaltung des öffentlichen Re-
gisters an .
Selbst wenn sich die Regierungskoalition aus der Ver-
antwortung stehlen möchte: Immer wichtiger wird jetzt,
was im Rahmen der Überarbeitung der Vierten AMLD
auf europäischer Ebene beschlossen werden wird . Dabei
werden wir Grünen uns aktiv nicht nur für ein öffent-
liches Transparenzregister, sondern insbesondere auch
für die europaweite Einführung von Immobilienregistern
einsetzen, damit die Strafverfolgungsbehörden ermitteln
können, wo Kriminelle ihr Geld parken .
Die Feststellung von Immobiliareigentum sowie
Rechten an Immobilien ist seit Jahren unter anderem im
Bereich der Vermögensabschöpfung ein zentrales Anlie-
gen der Strafverfolgungsbehörden . Die Suche nach In-
habern von Immobilien oder Grundstücken gestaltet sich
in Deutschland mangels eines zentralen Immobilienre-
gisters teils sehr aufwendig . Wenn nähere Angaben zur
geographischen Lage von Grundstücken fehlen, müssen
einzelne Anfragen bei allen Landesvermessungsämtern
der Bundesländer erfolgen . In einigen Bundesländern ist
selbst eine landesinterne Abfrage ohne Angabe der Ge-
markung und Blattnummer nicht möglich . In der Konse-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 201723774
(A) (C)
(B) (D)
quenz muten wir unseren Beamten zu, teilweise händisch
Grundbücher zu durchforsten .
Das ist kein haltbarer Zustand! Wir brauchen ein
Immobilienregister, das nicht öffentlich einsehbar sein,
dafür aber Angaben zum wirtschaftlich Berechtigten
beinhalten soll . Denn anders, als es vielfach behauptet
wird, ist unser Grundbuch weder darauf ausgelegt noch
dazu geeignet, zur Kriminalitätsbekämpfung hinreichend
beizutragen . Denn weder ist derzeit in Deutschland Im-
mobilieneigentum zu ermitteln, das durch Eintragung
eines lebenslangen Wohnrechts oder als Grundschuld
verschleiert wird, noch sind die vielen sogenannten
Sharedeal-Konstruktionen im Grundbuch abgebildet, in
denen statt der Immobilie selbst einfach eine Eigentü-
mergesellschaft verkauft wird . Während normale Bürge-
rinnen und Bürger seit vielen Jahren mit stets steigenden
Grunderwerbsteuern hadern, erlauben wir es Investoren,
diese Steuern zu umgehen, und Kriminellen gleichzeitig,
etwa mittels luxemburgischer Gesellschaftsformen, ohne
Aufdeckungsrisiko ihre Gelder zu waschen .
Das vorgelegte Umsetzungsgesetz enttäuscht insge-
samt zu sehr, als dass Sie mit unserer Zustimmung rech-
nen können . Ob die großen Ankündigungen im Kampf
gegen Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung am
Ende erfüllt werden, darf bezweifelt werden . Es wider-
spräche den bisherigen Erfahrungen . Die Umsetzung der
europäischen Richtlinie ist aber erforderlich . Auch trägt
die Neufassung zu einer etwas besseren Lesbarkeit bei .
Wir dürfen dabei nicht vergessen, dass am Ende Ver-
pflichtete, von denen wir etwas wollen und auf deren
Mitwirken wir im Kampf gegen Geldwäsche angewiesen
sind, dieses Gesetz verstehen und umsetzen müssen .
Auch die Angliederung der Zentralstelle für Fi-
nanztransaktionsuntersuchungen an den Zoll, statt, wie
bisher, an das BKA, wird unterschiedlich beurteilt . Klar
ist aber: Die entscheidenden Probleme bei der Geldwä-
schebekämpfung werden durch sie nicht gelöst werden .
Wir werden uns daher enthalten .
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung
des elektronischen Identitätsnachweises (Tages-
ordnungspunkt 23)
Heinrich Zertik (CDU/CSU): Unser Alltagsgesche-
hen wird schon fast in jeder Minute digital bestimmt:
Computer, Smartphone, Tablet sind nicht mehr wegzu-
denken, und ohne sie wäre die Arbeit nicht zu erledigen .
Wir kommunizieren digital und erledigen ganz selbstver-
ständlich Bankgeschäfte, Einkäufe und Urlaubsplanung
im Netz .
Auch die Politik ist auf diesen Zug aufgesprungen:
Vor drei Jahren hat das Bundeskabinett die Digitale
Agenda 2014–2017 beschlossen . Meine Kolleginnen und
Kollegen in der AG Digitale Agenda und wir im Innen-
ausschuss begleiten diesen Prozess und bringen unsere
Ideen ein .
Datenschutz und Datenmissbrauch werden kritisch
diskutiert . Auch die Sicherheit der Daten wird mit den
Fachbehörden diskutiert . Das Netz arbeitet sehr schnell,
und wir müssen immer wieder nachbessern, um auf dem
neuesten Stand zu sein . Die Datenschutzbeauftragte
überwacht alle Gesetzesvorhaben, bei denen Bürgerda-
ten berührt sind . Ihre Anregungen werden aufgegriffen
und fließen in die Gesetzesanträge ein. Die Bürgerinnen
und Bürger in Deutschland können sich darauf verlassen,
dass bei allen Gesetzesvorhaben die Sicherheit ihrer Da-
ten oberste Priorität hat .
Auch bei unserem Vorhaben zur Förderung des elek-
tronischen Identitätsnachweises war die Datenschutzbe-
auftragte einbezogen . Ich kann deshalb nicht verstehen,
warum Sie in der Opposition die Einführung des elektro-
nischen Identitätsnachweises immer noch boykottieren .
In der letzten Anhörung haben die meisten der anwesen-
den Experten bestätigt, dass der elektronische Ausweis
derzeit das sicherste Dokument weltweit ist . Die soge-
nannte Zwei-Faktor-Authentifizierung trägt dazu bei.
Ohne Pin funktioniert der Ausweis nicht .
Das ist ein großer Fortschritt gegenüber dem alten
Verfahren zur persönlichen Identifizierung. Es spart Zeit
und Personal . Es ist bürgerfreundlich und entlastet die
Behörden . Das elektronische Auslesen der Daten kann
auch die Fehlerquote verringern, die beim händischen
Ausfüllen von Formularen entstehen konnte, und bietet
damit viel mehr Verlässlichkeit . Davon können Bürge-
rinnen und Bürger profitieren. Auch die Wirtschaft und
die Behörden profitieren davon. Sie sollten deshalb jetzt
mehr Anwendungen bereitstellen, bei denen der elektro-
nische Nachweis genutzt werden kann . Daraus entsteht
eine Win-win-Situation .
Für die Wirtschaft sieht der Gesetzentwurf vereinfach-
te Verfahren vor, um ein sogenanntes Berechtigungszer-
tifikat zu erhalten. Das ist fortschrittlich. Es trägt dazu
bei, dass mehr Anwendungen bereitgestellt werden, bei
denen die Kunden die elektronische Ausweisfunktion zur
Identifizierung nutzen können.
Trotzdem können die Kundinnen und Kunden sicher
sein, dass ihre Daten geschützt sind . Wer als Anbieter
einmal Daten missbräuchlich verwendet hat, erhält kein
Berechtigungszertifikat. Die Kontrolle erfolgt sorgsam
und bevor die Berechtigung erteilt wird .
Auf eine weitere wichtige Neuerung möchte ich hin-
weisen . Sie ist auch ein kleiner, aber wichtiger Baustein
für die Sicherheitsarchitektur in Deutschland: Das ist der
automatisierte Lichtbildabruf . Polizei, Bundesnachrich-
tendienst, Zoll und der Verfassungsschutz dürfen von
nun an jederzeit auf die Lichtbilder zugreifen, um ihre
Sicherheitsaufgaben zu erfüllen und Gefahren abzuwen-
den . Das ermöglicht den Sicherheitsbehörden ein rasches
Handeln, wenn Gefahr im Verzug ist . Jeder Abruf muss
protokolliert werden und kann dadurch nachverfolgt
werden .
Deshalb ist es auch richtig, dass die elektronische
Funktion im Ausweis dauerhaft eingeschaltet sein soll .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 23775
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Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Behörden
werden darüber informieren . Die Wahlfreiheit haben die
Bürgerinnen und Bürger trotzdem . Sie können die elek-
tronische Funktion abschalten . Es bleibt auch jedem Ein-
zelnen überlassen, ob er diese Funktion nutzen möchte .
Ich bin davon überzeugt: Wenn das elektronische Ver-
fahren erst einmal bekannt ist und erfolgreich ausprobiert
wurde, wird es sich bewähren, und immer mehr Men-
schen werden es auch nutzen .
Auf europäischer Ebene kommen wir nicht darum he-
rum . Deutschland kann ein Vorreiter sein . Österreich hat
den elektronischen Nachweis bereits eingeführt .
Ich bitte Sie um Zustimmung zu diesem Gesetz, damit
Deutschland konkurrenzfähig bleibt und den Anschluss
an die digitale Welt nicht verliert .
Mahmut Özdemir (Duisburg) (SPD): In der vergan-
genen Zeit war oft zu hören und zu lesen, dass Deutsch-
land Gefahr läuft, das digitale Zeitalter zu verschlafen .
Gerne wird in diesem Zusammenhang auch die deutsche
Verwaltung genannt und von ihr das Bild einer behäbi-
gen und ineffizienten Bürokratiemaschinerie gezeichnet.
Allerdings entspricht diese Zustandsbeschreibung unse-
rer Verwaltung nicht den Tatsachen, und darüber hinaus
schmälert sie die hervorragenden Leistungen der Beam-
tinnen und Beamten sowie der Mitarbeiterinnen und Mit-
arbeiter des öffentlichen Dienstes .
Schon zum November 2010 wurde in Deutschland der
elektronische Identitätsausweis eingeführt . Der elektro-
nische Identitätsausweis ist ein staatlich zertifiziertes und
im weltweiten Maßstab äußerst sicheres Identifizierungs-
instrument, das es den Bürgerinnen und Bürgern ermög-
lichen soll, sich im Geschäftsverkehr sicher und eindeu-
tig dem Geschäftspartner gegenüber zu identifizieren.
Anwendbar ist der elektronische Identitätsnachweis also
zwischen Bürgern und Behörden, aber auch zwischen
Bürgern und Unternehmen .
Bisher erfolgt der Nachweis der Identität zum Groß-
teil vor allem im Geschäftsleben durch die Eingabe der
Personendaten und der Onlineübermittlung von Pass-
wörtern . Diese Vorgehensweise ist jedoch sehr anfällig
für Angriffe von Kriminellen . Die Kriminalstatistiken
zeigen, dass der Passwortdiebstahl und damit verbunden
auch der Identitätsdiebstahl – jedenfalls der Daten, die in
dem betreffenden Benutzerkonto hinterlegt sind – in den
vergangenen Jahren stark zugenommen haben . Insbeson-
dere im Onlinebanking wird darüber hinaus vielfältig
kulant reagiert, und Vorfälle erreichen folglich nicht das
Licht der Statistik . Gleichzeitig wickeln die Bürgerinnen
und Bürger aber immer mehr ihre Geschäftsbeziehungen
online ab . Heutzutage ist es für viele gelebte Realität,
selbst den Abschluss von Versicherungen und Käufe von
hohem Wert über das Internet vorzunehmen . Geht bei
diesen Geschäftsbeziehungen etwas schief, kann dies für
die Geschädigten weitreichende Folgen haben . Hier wol-
len wir auch als Staat in der Lebensrealität der Menschen
präsent werden und für mehr Sicherheit in der digitalen
Welt sorgen .
Auch im Verhältnis Bürger/Staat könnte der elek-
tronische Identitätsnachweis seine Stärken ausspielen .
Viele Behördengänge, die oftmals mit Wartezeiten und
längeren Fahrtwegen verbunden sind, ließen sich einspa-
ren, wenn die Bürgerinnen und Bürger konsequenter die
eID-Funktion ihres Personalausweises nutzen könnten
und würden: Die An- oder Abmeldung des Autos, die
Beantragung eines Führungszeugnisses, all dies könnte
mit der eID-Funktion bequem von zu Hause aus erledigt
werden . Mit der Nutzung der eID verhält es sich näm-
lich streckenweise wie bei der gegenseitigen Schuldzu-
weisung von Angebot und Nachfrage: Wird die eID nicht
genutzt, weil sie von Staat und Wirtschaft nicht als An-
knüpfung angeboten wird oder weil zu wenig Bürger sie
tatsächlich nutzen könnten?
Ich sage bewusst „könnten“, denn um den elektroni-
schen Identitätsnachweis und seine Funktion auch nut-
zen zu können, muss die Funktion zunächst einmal ein-
geschaltet sein .
Und hier kommen wir zum Kernpunkt dieses Geset-
zesvorhabens: Bislang hatten die Bürgerinnen und Bür-
ger bei der Antragstellung für einen Personalausweis die
Wahl, ob sie die eID-Funktion einschalten lassen wollen .
Diese bewusste Entscheidung für die Einschaltung ent-
sprach dem sogenannten Opt-in-Verfahren . Wir sind der
Meinung, dass wir hier eine Vorzeichenumkehr vorneh-
men sollten, um die Verbreitung der eID-Funktion stärker
zu fördern . Fortan wird die eID-Funktion standardmäßig
eingeschaltet sein . Die Bürgerinnen und Bürger werden
also nicht extra befragt, sondern bekommen ihren Perso-
nalausweis mit aktiver eID-Funktion ausgehändigt .
Folgende Anmerkungen sind aber dringendst zu be-
achten: Die zuständige Behörde ist – ich sage bewusst
„ist“, weil es auch im Gesetz als solche Regelung aus-
gestaltet ist – weiterhin gesetzlich verpflichtet, die Bür-
gerinnen und Bürger über die Nutzung der eID-Funktion
und ihrer Möglichkeiten zu informieren, beispielsweise
durch mündliche Belehrung, oder durch das Aushändi-
gen einer leicht verständlichen Informationsbroschüre
selber zur Information zu befähigen .
Die Behörde ist aber ebenso ausdrücklich verpflich-
tet, die Bürgerinnen und Bürger über die Möglichkeit der
Ausschaltung der eID-Funktion zu unterrichten . Denn
anders als dies einige eher mäßig recherchierte Artikel
und einige eher mäßig informierte Oppositionspolitiker
haben verlauten lassen, besteht für die Bürgerinnen und
Bürger im Nachgang der Aushändigung jederzeit die
Möglichkeit, die eID-Funktion, beispielsweise durch ei-
nen einfachen Anruf, sperren zu lassen . Eine „Zwangsbe-
glückung“ der Bürger durch den Staat soll gerade nicht
stattfinden. Dies wäre auch mit einem sozialliberalen
Politikverständnis nicht vereinbar . Die Bürgerinnen und
Bürger sind weiterhin der Souverän über die eID und
deren Inverkehrbringen . Diese klare Opt-out-Möglich-
keit haben wir in den Verhandlungen mit dem Koaliti-
onspartner durchgesetzt . Wir glauben, dass diese neue
gesetzliche Regelung einerseits dem Grundgedanken des
Vorhabens, der Förderung der eID-Funktion, Rechnung
trägt, aber auch der Freiheit des Einzelnen, diese Funkti-
on nicht eingeschaltet zu haben und auch nicht nutzen zu
wollen oder gar zu müssen .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 201723776
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Mit diesem Artikelgesetz werden aber noch weitere
Regelungen getroffen:
Die Sicherheitslage in Deutschland und Westeuropa
hat sich in den letzten Jahren aufgrund der anhaltenden
Gefahr durch Terroristen deutlich verschärft . Dieser neu-
en Realität müssen wir auch in gesetzgeberischer Hin-
sicht Rechnung tragen . Die Tätigkeiten der Sicherheits-
behörden unterliegen heutzutage mehr denn je zeitlichen
Zwängen . Oftmals werden Informationen zur Gefahren-
abwehr binnen weniger Stunden, manchmal gar Minuten
benötigt .
Mit diesem Gesetz wird daher die Rechtsgrundlage
für einen automatisierten Lichtbildabruf für die Polizei-
behörden des Bundes und der Länder, das Bundesamt für
Verfassungsschutz, die Verfassungsschutzbehörden der
Länder, den Militärischen Abschirmdienst, den Bundes-
nachrichtendienst, die Steuerfahndungsdienststellen der
Länder, den Zollfahndungsdienst und die Hauptzolläm-
ter eingeführt . Schon bislang bestand für die Sicherheits-
behörden die Möglichkeit, bei der zuständigen Behörde
einen Lichtbildabruf zu beantragen . In Fällen, in denen
die Anfrage außerhalb der behördlichen Öffnungszeiten
erfolgte, konnte das Lichtbild automatisch abgerufen
werden . Der bisherige Zwischenschritt, der sicherheits-
relevante Verzögerungen verursachen kann, entfällt nun .
Als SPD-Bundestagsfraktion hätten wir uns im Zweifel
auch eine Beibehaltung der aktuellen Rechtslage vorstel-
len können; wir erkennen aber mit der nun gefundenen
Kompromisslösung das gestiegene Sicherheitsbedürfnis
der Bürgerinnen und Bürger sowie die stark veränderte
Sicherheitslage an .
Ferner haben wir für die Anknüpfung durch die Wirt-
schaft klare Regeln geschaffen: An sogenannte Diens-
teanbieter, denen wir die Nutzung dieser staatlichen
Schnittstelle ermöglichen, damit die Onlinegeschäfte
vom Mobilfunkvertrag bis zur Warenbestellung über eine
sichere beglaubigte Identität ablaufen können, stellen wir
hohe Anforderungen . Ein Katalog von Voraussetzungen,
der in Summe erfüllt sein muss, sieht unter anderem vor,
dass sogenannte Berechtigungszertifikate vom Bund aus-
gestellt werden, die natürlich jederzeit gesperrt und/oder
entzogen werden können . Unbeschadet der datenschutz-
rechtlichen Vorschriften ist ein betrieblicher Datenschutz
vom Diensteanbieter nachzuweisen .
Darüber hinaus muss die geplante organisationsbe-
zogene Nutzung zur Erlangung des Zertifikates, um
an den „ePerso“ anknüpfen zu können, mit einem be-
rechtigten Interesse nachgewiesen werden . So wird die
Einzelfallprüfung zur Regel . Damit soll verhindert wer-
den, dass große Konzerne eine einmal erlangte globale
Berechtigung zu einem beliebigen weiteren Zweck in
Tochtergesellschaften weiterverwenden können . Jedes
Geschäftsmodell und jeder Geschäftszweig muss ein
entsprechendes für diese Organisationseinheit nachvoll-
ziehbares Interesse darlegen . Dies erhöht die Sicherheit
für die Bürgerinnen und Bürger und ermöglicht es der
Berechtigungsstelle, parzellenscharf Berechtigungen zu
sperren oder zu entziehen und darüber hinaus auch Ord-
nungswidrigkeiten entsprechend zu ahnden .
Schließlich wird mit dem Gesetz auch ein neuer Pass-
versagungsgrund geschaffen . Er soll Auslandsreisen ver-
hindern, die mit dem Ziel unternommen werden, eine
Verstümmelung weiblicher Genitalien vorzunehmen
oder zu veranlassen . Neben dem Strafrecht ist dies ein
wichtiger Baustein, um den Missbrauch und die Körper-
verletzung junger Frauen und Kinder zu verhindern .
Ich bin überzeugt, dass wir mit diesem Gesetz einen
weiteren Schritt in die richtige Richtung gehen . Wir för-
dern ein sicheres staatliches Instrument und erhöhen so
den Schutz für unsere Bürgerinnen und Bürger . Denn in-
nere Sicherheit ist nicht nur Polizei und Pistole – auch
im Netz muss der Staat seine Bürgerinnen und Bürger
schützen .
Ich bitte Sie, den Gesetzentwurf mit Ihrer Stimme zu
unterstützen .
Ulla Jelpke (DIE LINKE): Die Bundesregierung will
die Onlinefunktion des Personalausweises künftig zur
Pflicht machen. Die Bürgerinnen und Bürger können
dann nicht mehr, wie bisher, bei der Aushändigung des
Dokumentes selbst entscheiden, ob die Funktion aktiviert
wird oder nicht . Damit verbunden sind zahlreiche Ein-
griffe in den Datenschutz, auf die ich gleich noch kom-
men werde . Außerdem will die Bundesregierung den
Polizeibehörden und Geheimdiensten künftig erlauben,
sämtliche Passfotos aus den Meldebehörden im automa-
tisierten Verfahren abzurufen . Die bisherige Einschrän-
kung, die den Nachweis einer Eilbedürftigkeit verlangt,
wird abgeschafft .
Die Datenschützer, die bei der Anhörung des Innen-
ausschusses zu diesem Gesetzentwurf befragt worden
sind, waren sich einig: Dieses Gesetz bringt gravierende
Verschlechterungen für die Bürger mit sich . Ich zitiere
hier nur die Bundesdatenschutzbeauftragte, die sagte, es
würden „mit dem vorliegenden Gesetzentwurf nach wie
vor das Recht auf informationelle Selbstbestimmung der
Bürgerinnen und Bürger übergangen und datenschutzsi-
chernde Standards unterlaufen“ .
Warum will die Bundesregierung die bisherige Wahl-
freiheit bei der Aktivierung der Onlinefunktion abschaf-
fen? Ganz einfach: Die Bürger haben von ihrer Freiheit
zu ausgiebig Gebrauch gemacht und sich zu zwei Drit-
teln gegen die Internetfunktion entschieden . Das passt
der Bundesregierung nicht, weswegen sie jetzt die Mög-
lichkeit, sich dagegen zu entscheiden, einfach streicht .
Das ist doch wirklich ein Rückfall in den Obrigkeitsstaat .
Die neue Regelung soll laut Gesetzesbegründung der
Wirtschaft ein großes Potenzial neuer Kunden zuführen .
Das ist ein eindeutiger Missbrauch der Ausweispflicht
zur Technologieförderung und zur Profitsteigerung, der
noch dazu auf Kosten der Sicherheit geht .
Der eigentliche Grund, weswegen nur eine Minderheit
die Onlinefunktion freischalten lässt, ist doch: Die Leute
versprechen sich keinen Nutzen davon, und sie vertrauen
der Technologie nicht . Aus gutem Grund . Zur sicheren
Identifizierung haben Onlinedienste schon längst ande-
re Verfahren entwickelt, inklusive internationaler Nut-
zungsmöglichkeit, die Mobiltelefone als Instrumente
einsetzen . Das verspricht allemal kundenfreundlicher zu
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 23777
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(B) (D)
sein als eine rein nationale Lösung, die noch dazu per
Gesetz erzwungen wird .
Trotz zahlreicher Einwände der Datenschützer in der
Anhörung hat die Koalition nicht nachgebessert; im Ge-
genteil, der Datenschutz wurde sogar noch weiter aus-
gehöhlt .
Ich nenne hier nur einige Beispiele:
Die Zertifizierung der Diensteanbieter im Internet wird
„entbürokratisiert“, behauptet die Koalition . Tatsächlich
wird hier aber am Datenschutz gespart . Die Dienstean-
bieter werden direkt mit der Zertifizierung berechtigt, die
persönlichen Daten der Nutzer zu verwenden, und zwar
unabhängig davon, ob diese Daten für den jeweils festge-
legten Zweck auch tatsächlich erforderlich sind . Um das
zu überprüfen, kommt auf die Datenschutzbeauftragten
in Bund und Ländern jetzt erhebliche Mehrarbeit zu – für
die es aber keine Aufstockung des Personals gibt . Un-
term Strich, so hat der Chaos Computer Club gewarnt,
„wird letztlich beim präventiven Datenschutz zurückge-
steckt“, und zwar im Interesse der Wirtschaft . Das zeigt
sich zum Beispiel auch darin, dass den Bürgern die jetzt
noch bestehende Möglichkeit genommen werden soll,
gegen die Übermittlung einzelner Daten Widerspruch
einzulegen . Wer das System in Zukunft nutzen will, muss
immer sämtliche Daten übermitteln, auch wenn das im
Einzelfall gar nicht nötig wäre .
Zurückgesteckt wird auch bei den Informationen für
die Bürger . Wenn sie schon zur Annahme eines aktivier-
ten E-Passes gezwungen werden, dann müsste man ihnen
wenigstens ordentliches Informationsmaterial über die
Risiken an die Hand geben . Aber das soll nur auf An-
frage geschehen, und es bleibt den Meldeämtern selbst
überlassen, dieses Material zu erstellen .
Das ist absolut unzureichend . Dass der Bund sich die
Mühe macht, ein bundesweit einheitliches Informations-
angebot zu erstellen, das ausführlich über die Risiken
aufklärt, wäre doch das Mindeste!
Ich will abschließend einen Absatz im Gesetzentwurf
ansprechen, den ich für eine regelrechte Sauerei halte:
die Erweiterung der Befugnisse von Polizei und Geheim-
diensten, denen künftig erlaubt wird, sich ohne jeden
Anlass im automatisierten Verfahren die Passbilder aller
Bürgerinnen und Bürger bei den Meldebehörden zu be-
sorgen . Bislang müssen sie dafür wenigstens noch eine
Dringlichkeit nachweisen, wodurch der größte Miss-
brauch verhindert werden konnte . Diese Einschränkung
soll jetzt wegfallen . Die Geheimdienste können, wenn
sie wollen, eine komplette Bilddatei der Bevölkerung
anlegen – wie gesagt, ohne jeden Anlass . Mit dem rest-
lichen Anliegen des Gesetzentwurfs hat das überhaupt
nichts zu tun – diese Bestimmung ist wie ein Trojani-
sches Pferd. Ich finde das wirklich ein Horrorszenario
für die Bürgerrechte . In der Anhörung hagelte es hierzu
Kritik – und jetzt haben wir einen Änderungsantrag der
Koalition, der diese Kritik nicht nur ignoriert, sondern
alles noch schlimmer macht: Sie bekräftigen nicht nur
diesen Datenrechtsverstoß, sondern weiten den Kreis
der dazu Berechtigten gleich noch auf Zollkriminaläm-
ter und Steuerfahnder aus . Und die neue Regelung soll
nicht, wie zunächst geplant, erst 2021, sondern sofort in
Kraft treten .
Ich fasse zusammen: Dieses Gesetz versucht zum ei-
nen, die Bürger zwangsweise zur Nutzung einer unsiche-
ren und überflüssigen Technologie anzustiften, wobei es
unter dem Vorwand der Entbürokratisierung beim Daten-
schutz spart . Zum anderen baut es ohne jede Begründung
die Befugnisse der Geheimdienste aus . Es ist selbstver-
ständlich, dass die Linke ein solches Gesetz, das aus dem
Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung eine
Farce macht, ablehnt .
Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Wie so häufig in letzter Zeit, reden wir heute nicht
lediglich über ein parlamentarisches Vorhaben, über das
mit dem vorliegenden Gesetzentwurf entschieden werden
soll . In einem scheinbar harmlosen Gesetz zur Förderung
des elektronischen Identitätsnachweises verstecken Sie
einen Angriff auf die Privatsphäre aller Bürgerinnen und
Bürger in diesem Land, die uns wieder einen Schritt nä-
her an den Abgrund staatlicher Totalüberwachung bringt .
Aber der Reihe nach:
E-Government mit Nachdruck zu fördern, ist eine
wichtige Aufgabe . Und eine datenschutzrechtlich soli-
de Ausgestaltung des elektronischen Personalausweises
wäre sicherlich eine solche Förderung . Aber: Seit Ein-
führung der eID-Funktion des Personalausweises haben
die Bürgerinnen und Bürger diese in freier Entscheidung
zu zwei Dritteln der rund 51 Millionen ausgegebenen
Ausweise/eAT deaktivieren lassen . Das liegt vornehm-
lich daran, dass nie wirklich kommuniziert wurde, worin
eigentlich der Mehrwert dieses elektronischen Ausweises
liegt . Das hatte eine gewisse Schlüssigkeit, weil der Aus-
weis bisher auch nie wirklich sonderlich viel Vorweisba-
res konnte und kann .
Die Vorstellung jedenfalls, dass der elektronische Per-
sonalausweis zum zentralen Online-Identitätstool der
Menschen im geschäftlichen Leben sowie im Umgang
mit Behörden werden könnte, ist schon deshalb abwegig,
weil es schlicht bis heute an den dazugehörigen Angebo-
ten fehlt .
In solchen Fällen gilt bei der Großen Koalition dann
offenbar folgende Logik: Die Bürgerinnen und Bürger
haben kein Interesse? Dann müssen wir sie eben zwin-
gen!
Und so wird die sogenannte eID-Funktion zum elek-
tronischen Identitätsnachweis künftig bei jedem Aus-
weis automatisch und dauerhaft eingeschaltet . Dies mit
der Argumentation, dass so die eID-Funktion schneller
verbreitet und dadurch ein Anreiz für Behörden und Un-
ternehmen geschaffen werden soll, mehr Anwendungen
bereitzustellen . Nach dem Motto: Wenn ich euch zum
Essen zwinge, wird der Appetit schon kommen . – So
geht es nicht .
So weit, so schlecht . Dem Fass den Boden aus schlägt
allerdings der zweite Teil Ihres Gesetzentwurfs, in dem
Sie offenbar Orwell’schen Fantasien völlig nachgeben .
Nach der ersten Lesung dachten wir – lassen Sie mich
dies deutlich sagen –, es könne nicht schlimmer kom-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 201723778
(A) (C)
(B) (D)
men: der fast voraussetzungslose Abruf der Pass- und
Personalausweisbilder einer jeden Bürgerin und eines
jeden Bürgers im automatisierten Verfahren durch die
Polizeien und nun auch die bundesdeutschen Nachrich-
tendienste . Dieses ist nichts anderes als der unverhohlene
Einstieg in eine bundesweite biometrische Bilddaten-
bank aller Bundesbürger . Und dies vor dem Hintergrund
der Tatsache, dass Sie derzeit am Bahnhof Südkreuz in
Berlin die intelligente Videoüberwachung mit Gesichts-
erkennung an öffentlichen Plätzen testen .
Aber wir haben uns getäuscht: Wenn wir den „fast“
voraussetzungslosen Abruf im ersten Entwurf kritisier-
ten, so scheint dies nur ein Anreiz für Sie gewesen zu
sein, das „fast“ zu einem „völlig“ werden zu lassen .
Denn nun wird ein Änderungsantrag zu Ihrem Gesetz-
entwurf mitverabschiedet, welcher es nicht einmal mehr
nötig macht, dass die Behörde, bei der das Lichtbild
abgerufen wird, auf andere Weise nicht erreichbar ist .
Diese Absenkung der Voraussetzungen gilt nun auch
für die Polizeibehörden des Bundes und der Länder, die
Steuerfahndungsdienststellen, den Zollfahndungsdienst
und die Hauptzollämter . Und dies nach einer Sachver-
ständigenanhörung im Innenausschuss, welche eindeutig
die Gefahren einer solchen gigantomanischen Datenbank
dargelegt hat .
Was dies bedeutet, muss man sich einmal klarma-
chen: Ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Geset-
zes dürfen alle oben genannten Behörden jederzeit „zur
Erfüllung ihrer Aufgaben“ auf die Onlinedatenbanken,
in der die Lichtbilder aller Bürgerinnen und Bürger der
Bundesrepublik gespeichert sind, zugreifen . Dann kön-
nen die Abrufmöglichkeiten längerfristig aber auch dazu
verwendet werden, im Rahmen der intelligenten Video-
überwachung alle Menschen zu identifizieren, die sich
in einem Bahnhof, auf einem Flughafen, in einem Ein-
kaufszentrum oder auf einem öffentlichen Platz wie dem
Bahnhof Südkreuz in Berlin aufhalten .
Begründet wird diese Verschärfung gegenüber dem
ohnehin schon bürgerrechtlich dramatischen Entwurf
damit, dass man so „den Aufgaben der Personalausweis-
oder Passbehörden als auch der Sicherheitsbehörden als
auch der derzeitigen Sicherheitslage gerecht wird“ .
Nicht gerecht wird dieser Entwurf jedoch den Bür-
gerrechten in der freiheitlich-demokratischen Grundord-
nung . Denn Sicherheit in einem Rechtsstaat heißt nicht
nur „Sicherheit durch den Staat“, sondern immer auch
„Sicherheit vor dem Staat“ . Indem Sie die Sicherheits-
behörden in diesem Land nach dem Prinzip „Alles was
kann, soll auch“ mit Rechten ausstatten, kratzen Sie nicht
mehr an unserem freiheitlichen Rechtsstaat, sondern Sie
hobeln daran . Und das, obwohl verschiedene Skandale
uns immer wieder zeigen, dass die notwendige parla-
mentarische und rechtsstaatliche Kontrolle der Dienste
bis heute völlig unzureichend läuft . Ich habe es bereits
in der ersten Lesung gesagt, und ich wiederhole es heu-
te hier: Deutlicher kann man Demokratie- und Rechts-
staatsgleichgültigkeit nicht zum Ausdruck bringen . Die-
ses Gesetz wird Ihnen noch viel Ärger machen .
Dr. Ole Schröder, Parl . Staatssekretär beim Bun-
desminister des Innern: Für viele Onlineanwendungen
ist eine Identifikation notwendig. Das System „Benut-
zername/Passwort“ ist nicht die Zukunft . Es ist anfällig
für Identitätsdiebstahl und schwer zu handhaben . Für
sicherheitssensible Anwendungen ist es schon gar nicht
geeignet .
Die Frage ist, welche Systeme zukünftig für eine si-
chere Online-Identifikation sorgen werden. Überlassen
wir dies privaten Anbietern, insbesondere den Login-Gi-
ganten, deren Rechenzentren nicht in Europa stehen?
Die Bundesregierung ist der Auffassung, dass es Auf-
gabe des Staates ist, eine Infrastruktur für eine sichere
Onlinekommunikation anzubieten . Die Bürger verdienen
ein hohes Niveau von Datensicherheit und Datenschutz .
Mit dem elektronischen Personalausweis bieten wir in
Deutschland das weltweit sicherste System hierfür an .
Mit der Onlineausweisfunktion steht eine verlässliche
Infrastruktur zur gegenseitigen Identifizierung zur Ver-
fügung . Sie wurde in der Vergangenheit nur weniger ge-
nutzt als erwartet . Gründe hierfür sind, dass der Ausweis
bisher nicht mobil einzusetzen war und die Anwendung
zu kompliziert ist . Bisher brauchte man zum Onlineaus-
weisen zwingend ein spezielles Lesegerät . Nur wenige
Menschen haben sich einen solchen Kartenleser instal-
liert . Der elektronische Personalausweis blieb so ein Ni-
schenprodukt . Mittlerweile ist es möglich, den Ausweis
auch mobil auszulesen . Immer mehr Smartphones und
Tablets bieten diese Möglichkeit .
Die vorhandenen rechtlichen Hürden werden wir mit
dem vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur Förderung
des elektronischen Identitätsnachweises absenken . Bei
der Anhörung im Innenausschuss wurde der Entwurf
ausführlich erörtert . Es wurde deutlich, dass die On-
lineausweisfunktion auch weiterhin ein Höchstmaß an
Datensicherheit bietet . Bei der Anhörung der Sachver-
ständigen wurde aber auch deutlich, dass das geltende
Personalausweisgesetz der weiteren Verbreitung in man-
chen Punkten entgegensteht . Einige Vorschriften sind zu
kompliziert und das Gegenteil von anwenderfreundlich .
Zu den wesentlichen Änderungen gehört, dass der
Personalausweis künftig durchgängig mit einer einsatz-
bereiten Onlinefunktion ausgegeben wird . Die Zahl der
potenziellen Nutzer wird so erhöht . Dies macht es für
Behörden und Unternehmen attraktiver, Onlinedienste
über den elektronischen Personalausweis anzubieten . Es
handelt sich um ein Angebot, nicht um einen Zwang . Die
Bürgerinnen und Bürger entscheiden frei darüber, ob sie
die Funktion einsetzen möchten .
Wir sind überzeugt, dass die Onlineausweisfunkti-
on das Potenzial hat, im europaweiten Wettbewerb der
Identifizierungsmittel eine wichtige Rolle zu spielen – im
E-Business ebenso wie im E-Government .
Der elektronische Personalausweis bietet hoheitlich
geprüfte Identitätsdaten und eine vertrauenswürdige
Identifizierung auf höchstem Sicherheitsniveau – nicht
nur für Behörden und Unternehmen, sondern gerade
auch für die Ausweisinhaber selbst . Dies hebt ihn ab von
anderen Methoden der Online-Identifizierung. Deshalb
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 23779
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werden wir im E-Government auf den elektronischen
Personalausweis als feste Grundlage für Bürger- und Un-
ternehmenskonten bauen .
Über den Bundesrat hatten die Länder einige Verbes-
serungsvorschläge eingebracht . Dies betraf beispielswei-
se die Regelung zum automatisierten Abruf von Lichtbil-
dern aus den Pass- und Personalausweisregistern – eine
Maßnahme, die der öffentlichen Sicherheit dient und mit
der Onlineausweisfunktion nichts zu tun hat . Der Vor-
schlag des Bundesrates hierzu erschien uns sinnvoll, weil
er eine Reihe von Präzisierungen mit sich bringt . Wir ha-
ben ihn deshalb weitestgehend übernommen .
Ich bitte um Ihre Zustimmung zu diesem wichtigen
Gesetz .
Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– des von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung
des Waffengesetzes und weiterer Vorschriften
– der Beschlussempfehlung und des Berichts des
Innenausschusses:
– zu dem Antrag der Abgeordneten Irene
Mihalic, Dr. Konstantin von Notz, Luise
Amtsberg, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Mehr Sicherheit durch weniger Waffen
– zu dem Antrag der Abgeordneten Irene
Mihalic, Luise Amtsberg, Volker Beck
(Köln), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ab-
gabe von anschlagsfähigen Ausgangsstoffen
beschränken
(Tagesordnungspunkt 24 a und b)
Michael Frieser (CDU/CSU): Worum geht es der
CDU/CSU, wenn wir heute die Überarbeitung des Waf-
fenrechts beraten? Die Union will die Sicherheit im
Umgang mit Waffen erhöhen und die Gefahr eines Miss-
brauchs verringern . Was wir nicht wollen, ist, Bürgerin-
nen und Bürger, in diesem Fall Sportschützen und Jäger,
ohne Gewinn für die Sicherheit zu drangsalieren .
An die Adresse der Grünen: Auch wenn schon Wahl-
kampf ist – die Bürgerinnen und Bürger erwarten nicht
von uns, dass wir hier über Bedarf dramatisieren, ideo-
logischen Zerrbildern hinterherlaufen und uns in „Ver-
bieteritis“ ergehen . Sie erwarten auf aktuelle Probleme
angemessene Lösungen . Das Problem – ich nehme das
mal vorweg – sind nicht Sportschützen und Jäger, die
nach Prüfungen und unter Auflagen legale Waffen legal
bei sich zu Hause im Waffenschrank aufbewahren . Das
Problem sind die illegalen Waffen, die in Deutschland
kursieren . Wer diesen Unterschied nachvollziehen kann,
erkennt auch, dass die Union die echten Probleme angeht
und die Grünen schon wieder über das Ziel hinausschie-
ßen .
Es ist ganz wichtig, noch einmal darauf hinzuweisen,
dass für den Kauf, Besitz und Umgang mit Waffen und
Munition in Deutschland strenge gesetzliche Regeln gel-
ten . Wir haben bereits jetzt eines der schärfsten Waffen-
rechte in der EU! Dieses Waffenrecht hat sich insgesamt
bewährt . Eine systematische Verschärfung des Waffen-
rechts ist deshalb nicht notwendig .
Es besteht aber ein Anpassungsbedarf durch interna-
tionale Vorgaben und Vereinbarungen des Koalitionsver-
trages . Auch Anregungen von Praktikern aus den Waf-
fenbehörden der Länder werden in dem vorliegenden
Gesetzentwurf aufgegriffen und umgesetzt .
Ein vieldiskutierter Aspekt des ursprünglichen Ge-
setzentwurfs ist die Weiternutzbarkeit von Waffen-
schränken . Ein Waffenschrank gilt bislang gemäß § 36
Absatz 2 WaffG als sicher, wenn er die technische Norm
VDMA 24992 erfüllt . Der Maschinenbauverband VDMA
hat diese technische Kategorie zurückgezogen . Deshalb
muss das Gesetz jetzt angepasst werden .
Nun haben zahlreiche Bürgerinnen und Bürger be-
fürchtet, dass sie ihre teuer eingekauften Waffenschränke
der gestrichenen VDMA-Kategorie ab jetzt nicht wei-
ternutzen dürfen und sich sofort um die Finanzierung
eines neuen kümmern müssen . CDU und CSU nehmen
diese Bürgersorgen ernst . Wir wollen das Vertrauen der
Sportschützen und Jäger in die bisher geltende Rechts-
lage schützen . Deshalb werden wir dafür sorgen, dass
das neue Gesetz einen umfassenden und zeitlich unbe-
schränkten Bestandsschutz für Waffenschränke der Ka-
tegorie VDMA 24992 mit den Sicherheitsstufen A und B
enthält . Dies bedeutet: Jäger und Sportschützen können
ihren Waffenschrank auch in Zukunft nutzen, sofern er
den heute geltenden Vorschriften entspricht .
Wir setzen nicht nur diese Besitzstandsregelung durch .
Wir dehnen sie auch auf Fälle der gemeinschaftlichen
Nutzung aus . Personen, die in häuslicher Gemeinschaft
leben, werden Sicherheitsbehältnisse der Kategorie
VDMA 24992 auch dann mitnutzen dürfen, wenn sie ihre
waffenrechtlichen Erlaubnisse erst nach Inkrafttreten des
Gesetzes erwerben . Die Besitzstandsregelung kann auch
dann in Anspruch genommen werden, wenn die häusli-
che Gemeinschaft erst nach Inkrafttreten des Gesetzes
begründet wird . Zudem soll die Möglichkeit bestehen,
die Behältnisse diesen Mitnutzern zu vererben .
Für alle in Zukunft neu angeschafften Waffenschränke
wird das Sicherheitsniveau angehoben und an aktuelle
technische Standards angepasst .
Auch das Thema Verstoß gegen die Aufbewahrungs-
vorschriften von Munition treibt viele um . Der Gesetz-
entwurf sah zunächst vor, dass schon ein fahrlässiger
Verstoß gegen die Aufbewahrungsvorschriften für Muni-
tion zu bestrafen ist . Das geht unserer Meinung nach zu
weit . Wir wollen keine vorschnelle Kriminalisierung der
Legalwaffenbesitzer . Deshalb werden wir den ursprüng-
lichen Gesetzentwurf, auch auf Anregung vieler Schüt-
zen und Jäger, korrigieren .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 201723780
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Eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit sind die ille-
galen Waffen, die in unserem Land zirkulieren . Um eine
Motivation zu schaffen, diese abzugeben, wird es eine
auf ein Jahr befristete Strafverzichtsregelung für den un-
erlaubten Besitz von Waffen und Munition geben, wenn
diese einer zuständigen Behörde oder Polizeidienststelle
überlassen werden .
Oftmals finden Erben bei Wohnungsauflösungen alte
und ungenutzte Waffen und sind dann mit der Entsor-
gung derselben konfrontiert . Für diese Zielgruppe ist die
geplante Amnestie eine gute Lösung . Nach dem Amok-
lauf an einer Realschule im baden-württembergischen
Winnenden im Jahr 2009 gab es ebenfalls eine Amnestie .
Polizei und Landesbehörden erhielten deutschlandweit
circa 200 000 Waffen, die unschädlich gemacht werden
konnten .
Ich sagte es eingangs: Die Bürgerinnen und Bürger er-
warten – zu Recht –, dass der Gesetzgeber angemessene
Lösungen für aktuelle Probleme erarbeitet . Sie erwarten
ein Höchstmaß an Sicherheit, und sie erwarten die Wah-
rung ihrer Freiheitsrechte . Mit dem Gesetzentwurf zum
Waffengesetz liefert die Bundessregierung genau das .
Und deshalb sollten wir den Gesetzentwurf heute verab-
schieden .
Oswin Veith (CDU/CSU): Zu später Stunde beraten
wir heute abschließend über die Änderungen am Waffen-
gesetz .
In den letzten Wochen gab es im Hinblick auf diese
Gesetzesänderung sehr viel Gesprächsbedarf . Die große
Befürchtung der legalen Waffenbesitzer ist nach wie vor
eine einschneidende Verschärfung des nationalen Waf-
fengesetzes . Wie auch schon in meiner letzten Rede zu
diesem Gesetzentwurf sage ich: Keine weiteren Verbo-
te, keine weiteren Einschränkungen oder verschärfenden
Pflichten für gesetzestreue, legale Waffenbesitzer.
Dennoch: Die öffentliche Akzeptanz des privaten
Waffenbesitzes steht und fällt mit einem sicheren Waf-
fenrecht . Ein sicheres Waffengesetz bedeutet, dass den
Interessen der legalen Waffenbesitzer und den Sicher-
heitsinteressen der Bevölkerung Rechnung getragen
wird . Ein sicheres Waffenrecht heißt aber nicht, dass wir
legalen Waffenbesitzern das Leben unnötig schwer ma-
chen, indem wir überstrenge gesetzliche Auflagen vor-
geben .
Der Umgang mit Waffen birgt ein gewisses Gefahren-
risiko; das liegt auf der Hand . Aus diesem Grund haben
wir in Deutschland ein sehr strenges Gesetz geschaffen,
um diese Gefahren zu minimieren und ein Höchstmaß an
Sicherheit für unsere Bürger zu garantieren . Das unter-
stütze ich .
Wollen wir ein höchstmögliches Sicherheitsniveau,
führt das aber auch dazu, dass wir unser Waffengesetz
auf Aktualität überprüfen und Änderungen vornehmen
müssen, wenn sie der Sicherheit dienen . Mit diesem Ge-
setzentwurf bringen wir unser Waffengesetz auf den neu-
esten Stand .
Was wollen wir ändern, und was haben wir erreicht?
Nun, wir wollen in erster Linie die Vorgaben für Waf-
fenschränke an den aktuellen Sicherheitsstandard an-
passen . Das bedeutet, dass auch neue Technologien, die
einen entsprechend hohen Sicherheitsstandard zur Auf-
bewahrung von Waffen bieten, künftig eingesetzt werden
können .
Weiterhin erhöhen wir den Sicherheitsstandard, indem
wir eine nicht mehr existente DIN-Norm aus dem Gesetz
streichen . Bislang konnten Waffenschränke weiterhin
entsprechend dieser DIN-Norm hergestellt werden . Mit
der Konsequenz, dass lediglich der Hersteller garantiert
hat, dass der Waffenschrank nach dieser DIN-Norm ge-
fertigt wurde – eine nicht ganz unerhebliche Sicherheits-
lücke . An einer gesetzlichen Änderung der Aufbewah-
rungsvorschriften für Waffen und Munition führte somit
kein Weg vorbei .
An diesem Punkt gab es im Vorfeld verständlicherwei-
se heftige Diskussionen, ist die Konsequenz doch, dass
veraltete Waffenschränke nicht mehr als sicher gelten
und entsorgt werden müssten . Um hier eine komfortable
Lösung zu finden, haben wir über einen Bestandsschutz
für jene Waffenschränke, die bislang als sicher galten,
diskutiert .
Ich bin froh, dass die Union diesen Bestandsschutz
für Waffenbesitzer, die ihre Waffen nach den derzeit gel-
tenden waffengesetzlichen Regelungen in Waffenschrän-
ken lagern, im Gesetzentwurf verankern konnte . Nur für
Neuanschaffungen sollen aktualisierte technische Vorga-
ben verpflichtend sein.
Im parlamentarischen Verfahren konnte die Union
zudem die Bestandsschutzregeln auf die Fälle erweitern,
bei denen die Waffenschränke gemeinschaftlich genutzt
werden . Natürlich wollen auch wir nicht, dass in 100 Jah-
ren verrostete und veraltete Waffenschränke weiterhin in
Gebrauch sind . Daher haben wir die Vererbung auf einen
Erbfall begrenzt . Aus meiner Sicht ein gangbarer und zu-
friedenstellender Weg .
Wir wollen aber nicht nur für sichere Waffenschränke
Sorge tragen . Wir wollen auch, dass Waffen nicht in die
falschen Hände geraten . In der letzten Zeit wurde ver-
mehrt über gefährliche Reichsbürger berichtet, die in Be-
sitz von Waffen sind . Der hessische Verfassungsschutz
gibt eine Zahl von 400 gefährlichen Reichsbürgern an .
Ob diese Gefährlichkeit auch die Zuverlässigkeit beim
Führen einer Waffe beeinträchtigen kann, dass können
nur die Sicherheitsbehörden einschätzen .
Mit der Gesetzesänderung werden nun auch alle Waf-
fenanträge im Nationalen Waffenregister erfasst . Darauf
haben auch die Sicherheitsbehörden Zugriff und können
gegebenenfalls auf mögliche (rechts-)extreme und ge-
fährliche Neigungen des Antragstellers hinweisen .
Eine Regelabfrage aller Waffenbesitzer, die von ei-
nigen Landesinnenministerien gefordert wird und zur
Konsequenz hätte, dass alle Waffenbesitzer unter einen
Generalverdacht gestellt werden, wird es mit der CDU
nicht geben .
Wie Sie sehen, nehmen wir keine drastischen Ände-
rungen am Waffengesetz vor . Vielmehr wird es zukunfts-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 23781
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fähig und sicherer ausgestaltet . Das kommt auch unseren
Jägern, Sportschützen und Sammlern zugute .
Die Befürchtungen von legalen Waffenbesitzern hin-
sichtlich noch strengerer Regelungen nehmen wir sehr
ernst . Ganz klar ist, dass wir nichts verschärfen wollen,
was schon scharf genug ist . Und das deutsche Waffenge-
setz gehört zu den strengsten Waffengesetzen der Welt .
Wir wollen keine weiteren Verschärfungen, wir wollen
ein sicheres Waffengesetz . Dies ist mit dem heute zur De-
batte stehenden Gesetzentwurf gelungen . Daher bitte ich
um Ihre Zustimmung .
Gabriele Fograscher (SPD): Alle bisherigen Än-
derungen im Waffenrecht, die wir vorgenommen haben,
haben wir mit Augenmaß gemacht . Und wir haben nur
Änderungen beschlossen, die einen echten Sicherheits-
gewinn mit sich bringen .
Im Koalitionsvertrag haben wir vereinbart: „Wir wer-
den das Waffenrecht im Hinblick auf die technische Ent-
wicklung und auf seine Praktikabilität hin anpassen . Die
Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger hat dabei oberste
Priorität . Wir streben eine erneute befristete Amnestie
an . Zur Erhöhung der öffentlichen Sicherheit werden wir
darüber hinaus gemeinsam mit den Ländern schrittweise
das nationale Waffenregister weiterentwickeln .“
Dieser Vereinbarung kommen wir nun nach: Wir pas-
sen die Aufbewahrungsstandards an die neuen techni-
schen Entwicklungen an .
Dieser Punkt wird kritisch gesehen . Ich habe zahlrei-
che E-Mails erhalten, in denen es heißt, dass diese neuen
Sicherheitsbehältnisse zu statischen Problemen in Woh-
nungen, vor allem in Altbauten, führen würden . Dazu
heißt es in einem Vermerk aus dem Bundesinnenminis-
terium, dass dieser Kritik nicht pauschal zugestimmt
werden könne . Schließlich seien Holzmöbel mit Büchern
oder Geschirr, große Aquarien oder Wasserbetten vom
Gewicht her vergleichbar mit den neuen Sicherheitsbe-
hältnissen .
Mit dieser Änderung ist eine Besitzstandsregelung
verbunden . Diese haben wir – im Gegensatz zum Gesetz-
entwurf – noch durch einen Änderungsantrag ausgewei-
tet .
Von der Besitzstandsregelung werden auch in häus-
licher Gemeinschaft lebende Waffenbesitzer umfassend
profitieren. Häusliche Gemeinschaft umfasst das gemein-
same Bewohnen einer Wohnung oder eines Hauses durch
nahe Familienangehörige . Dazu zählen auch Studenten,
Wochenendheimfahrer oder nahe Angehörige, die regel-
mäßig kommen und jederzeit Zutritt haben . Auch im Fal-
le des Todes des bisherigen Besitzers kann der Mitnutzer
als Erbe das alte Sicherheitsbehältnis weiternutzen . Um
aber das Ziel, langfristig die alten Sicherheitsbehältnisse
zu ersetzen, zu erreichen, kann in einem solchen Erbfalle
keine neue gemeinschaftliche Aufbewahrung mehr be-
gründet werden .
Der Gesetzentwurf vereinfacht das komplizierte Waf-
fengesetz, in dem Verweise, technische Normen etc .
künftig auf der Ebene der Rechtsverordnung geregelt
sind . Somit wird die Zahl unwillentlich begangener straf-
bewehrter Rechtsverstöße minimiert .
Wichtig für uns ist die Erneuerung der Amnestierege-
lung . Wir führen wieder eine befristete Strafverzichtsre-
gelung ein, um die Zahl illegaler Waffen zu verringern .
Für den Zeitraum von einem Jahr können unerlaubt be-
sessene Waffen oder Munition straflos bei den zustän-
digen Stellen abgegeben werden . Eine Überlassung der
Gegenstände an Berechtigte ist nicht möglich .
Wir setzen die EU-Deaktivierungsdurchführungs-
verordnung um . Damit werden neue Standards für die
Unbrauchbarmachung von Schusswaffen sowie die Ein-
zelprüfung jeder deaktivierten Schusswaffe in nationales
Recht umgesetzt .
In der ersten Lesung dieses Gesetzentwurfes hatte ich
angekündigt, dass wir als SPD-Bundestagsfraktion drin-
gend eine Regelung fordern, dass Waffen nicht legal in
die Hände von Extremisten gelangen . Mit unserem Ände-
rungsantrag setzen wir dieses wichtige Ziel um . Es kann
nicht sein, dass Menschen, die unsere freiheitlich-demo-
kratische Grundordnung bekämpfen, sie gar abschaffen
wollen, legal Schusswaffen besitzen oder erwerben kön-
nen . Künftig wird es so sein, dass die Waffenbehörden
bereits die Anträge auf waffenrechtliche Erlaubnisse und
entsprechende Versagungen im Nationalen Waffenregis-
ter speichern .
Damit erhalten die abfrageberechtigten Stellen wie
Polizei und Nachrichtendienste bereits frühzeitig Infor-
mationen, wer eine Waffe beantragt . Doppelbeantragun-
gen werden sofort erkannt . Diese Daten im Nationalen
Waffenregister werden regelmäßig automatisiert mit dem
Nachrichtendienstlichen Informationssystem NADIS ab-
geglichen . Eine entsprechende Rechtsgrundlage ist be-
reits im Nationalen Waffenregister enthalten . So erhalten
die Dienste die Information, ob eine bei ihnen gespei-
cherte Person eine waffenrechtliche Erlaubnis beantragt
hat . Diese Information wird dann, so keine Informations-
sperre vorliegt, an die zuständige Waffenbehörde weiter-
geleitet . Diese kann dann die Erlaubnis verweigern oder
entziehen . Der Abgleich zwischen Nationalem Waffen-
register und NADIS wird circa alle vier Wochen statt-
finden. Dies ist in der Praxis effektiver als die Abfrage
durch die örtlichen Waffenbehörden, die vielfach unter
Personalmangel leiden .
Ein weiterer Vorteil dieser Regelung: Wird eine Per-
son aufgrund zum Beispiel extremistischer Bestrebun-
gen in NADIS registriert, kann durch den automatischen
Abgleich mit dem Nationalen Waffenregister festgestellt
werden, ob diese legal eine Waffe besitzt . Ist das der Fall,
kann die Erlaubnis entzogen werden . Bei dem anderen
Verfahren wäre dies nicht möglich .
Jetzt geht es darum, die technische Umsetzung für den
Datenabgleich möglichst zügig zu schaffen . Dazu hat
Staatssekretär Krings auf meine Anfrage in einer Mail
vom 9 . Mai 2017 erklärt: „Das Bundesministerium des
Innern geht davon aus, dass die technische Umsetzung
des Abgleichs von in NADIS gespeicherten Extremisten
mit im NWR gespeicherten Erlaubnisinhabern binnen
weniger Monate erfolgen kann . Die Speicherung von
Anträgen im NWR, die ein Einschreiten der Verfassungs-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 201723782
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schutzbehörden bereits im Vorfeld einer Erlaubnisertei-
lung gewährleisten soll, kann bis zum 1 . Januar 2019
erfolgen . Die technische Umsetzung einer Regelanfrage
würde einen vergleichbaren Zeitraum beanspruchen .“
Sehr geehrter Herr Staatssekretär, wir nehmen Sie hier
beim Wort und erwarten, dass Sie Ihre Zusage einhalten .
Abschließend behandelt wird heute auch der Antrag
der Grünen mit dem Titel „Mehr Sicherheit durch weni-
ger Waffen“ . Dazu habe ich mich bereits in meiner Rede
am 10 . März dieses Jahres ausführlich geäußert . Das
können Sie gerne im Protokoll nachlesen . Ihre Forderun-
gen haben nur Alibicharakter . Ich bleibe dabei: Nicht die
Legalwaffenbesitzer sind das Problem . Die übergroße
Mehrheit von ihnen ist gesetzestreu und hält sich an die
Vorschriften des Waffengesetzes . Anstatt weitere Ver-
schärfungen zu fordern, sollten Sie von den Grünen Ihre
Energie lieber darauf verwenden, mit uns Maßnahmen
zu entwickeln, damit Kriminelle und Extremisten effizi-
enter am Zugang und an der Nutzung von Waffen und
Sprengstoffen gehindert werden .
Martina Renner (DIE LINKE): Die Möglichkeiten
des Besitzes und Umgangs mit privaten Waffen stehen
im Spannungsfeld der Abwägung zwischen persönlichen
Interessen von Schützen, Jägern und Sammlern und dem
Sicherheitsbedürfnis der Bürgerinnen und Bürger . Der
Gesetzgeber agiert in der Frage Restriktion und Kontrol-
le des privaten Waffenbesitzes weder unter Generalver-
dacht noch in Unkenntnis der Tatsache, dass der weitaus
größere Teil bei Straftaten unter Schusswaffeneinsatz mit
illegalen Waffen verübt wird . Zuschriften mit Bedenken
gegen die Umsetzung der EU-Feuerwaffenrichtlinie neh-
men wir zur Kenntnis .
Allerdings sei noch einmal klar gesagt: Wir kennen die
Statistiken und wissen um die Tatsache, dass die über-
wiegende Zahl von Straftaten unter Schusswaffeneinsatz
mit illegalen Pistolen und Gewehren stattfindet. Aber
wer uns schreibt, alle Inhaber von Waffenbesitzkarten
und -scheinen in diesem Land seien gesetzestreue Bür-
ger und es drohe eine Enteignung von Waffenbesitzern
und Ähnliches, der sucht nicht wirklich eine sachliche
Debatte und verschließt die Augen vor den Gefahren, die
mit jeder Form des Waffenbesitzes verbunden sind und
minimiert werden müssen .
Zu den Fakten: Nur 25 Prozent der bei Straftaten au-
ßerhalb des Waffenrechts verwendeten und dann sicher-
gestellten Schusswaffen waren im Jahr 2015 illegale
Waffen . In den übrigen Fällen, also bei 75 Prozent, wur-
den überwiegend erlaubnisfreie und auch legale Waffen
eingesetzt und sichergestellt . Diese Zahlen belegen eben,
dass auch der legale Waffen- und Munitionsbesitz eine
reale Gefahrenquelle ist mit hohem Potenzial, Menschen
zu verletzen oder auch zu töten .
Die Schützen- und Jägerlobby sollte sich intensiver
mit den Zahlen und Vorgängen befassen, auch um je-
den Verdacht zu vermeiden, man bagatellisiere oder ig-
noriere entsprechende Fälle . Dazu nur zwei Beispiele:
Ein Schießsportverein in München wird von der Polizei
durchsucht, da der Verdacht besteht, er agiere als bewaff-
neter Arm der rassistischen rechten Pegida-Bewegung
in München . Ein Verbot des Vereins wird derzeit durch
die Behörden geprüft . In einem anderen Falle sind un-
ter anderem Verantwortliche eines Schützenvereins in
Niedersachsen angeklagt, weil 53 waffenrechtliche Ge-
nehmigungen unter Mithilfe von Vorstandsmitgliedern
erschwindelt worden sein sollen . Kurz gesagt wurde so
unrechtmäßiger und illegaler Waffenbesitz und -erwerb
ermöglicht .
Das Zusammenspiel von Hetze gegen Minderheiten
und Straftaten auch unter Waffeneinsatz verdeutlicht
sich in der Gewalt gegen Geflohene und deren Unter-
bringung . Die Zahl dieser Angriffe hat sich im Jahr 2016
gegenüber dem Jahr 2015 mehr als verdoppelt . Stieg die
Zahl rechter Straftaten unter Einsatz von Schusswaffen
von 143 Fällen im Jahr 2010 auf 536 im Jahr 2014, wur-
den im Jahr 2015 schon 1 253 rechte Straftaten mit Waf-
fenbezug festgestellt . Gemeint sind natürlich nicht nur
Waffen im Sinne des Waffengesetzes . Das macht die Ge-
fahr oder das Problem jedoch nicht kleiner . Man muss bei
einer Gefährdungsanalyse in diesem Deliktfeld auch in
Rechnung stellen, dass allein 750 Neonazis und „rund“
700 sogenannte Reichsbürger über waffenrechtliche Er-
laubnisse verfügen .
Die Umsetzung der EU-Feuerwaffenrichtlinie ist an-
gesichts dieser Zahlen keine bloße Förmelei .
Weitere Fakten: Das Bundeskriminalamt hat schon
2015 festgestellt, dass der illegale Umbau und Handel
sogenannter Dekorations- und Salutwaffen massiv zu-
nimmt und einen nicht unerheblichen Teil der Waffenkri-
minalität ausmacht . Eine solche reaktivierte Salutwaffe
hatte der rassistische Hitlerverehrer in München benutzt,
um insgesamt neun Menschen überwiegend mit Migra-
tionshintergrund zu töten . Inzwischen wurde auch der
Verkäufer dieser Waffe zur Verantwortung gezogen . Er
hatte an Menschen zwischen 17 und 60 Jahren ähnliche
Waffen verkauft . Noch immer sind solche Dekowaffen –
die teils mit nur wenigen Handgriffen, auch unter Anlei-
tung aus dem Internet, wieder schussfähig und damit zur
tödlichen Gefahr werden – frei verfügbar . Selbst die ver-
schiedenen Verbände von Schützen und Jägern fordern,
dass hier höchste Standards europaweit gelten müssen,
damit solche Waffen dauerhaft unbrauchbar sind . Es feh-
len aber – und das vermutlich noch viel zu lange – euro-
päische Standards zu Genehmigung, Handel, Kennzeich-
nung und Deaktivierung von Schusswaffen .
Die Tatwaffen der Massaker von Winnenden, Erfurt
und Utoya/Schweden – halbautomatische Pistolen – sind
bis heute für deutsche Schützen legal verfügbar . Gera-
de Sportschützen, aber auch Jäger nutzen solche Waffen
gerne . Solche Waffen können dazu verwendet werden, in
kurzer Zeit gezielt eine Vielzahl von Menschen zu verlet-
zen oder zu töten . Dies gilt nicht nur dann, wenn es sich
um ehemalige automatische Waffen handelt, die wieder
in solche zurückgebaut werden können . Auch solche
Selbstlader, die mit einem größeren Magazin bestückt
werden können, stellen eine erhebliche Gefahr für die
Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger dar und wurden
in der Vergangenheit schon für schreckliche Taten miss-
braucht . Hier ist die Bundesregierung gefordert, Besitz
und Nutzung solcher halbautomatischer Waffen endlich
zu verbieten, mindestens aber drastisch einzuschränken .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 23783
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(B) (D)
Die Behauptung, dass Waffenbesitzer durch die Um-
setzung der EU-Richtlinie enteignet würden, ist un-
haltbar und falsch . Es sind großzügige und langfristige
Übergangsfristen und Vererbungsmöglichkeiten aufge-
nommen worden . Tatsächlich ist es eine Selbstverständ-
lichkeit, dass solche Systeme, wie sie für die Aufbewah-
rung für Schusswaffen und Munition verwendet werden,
auf dem neuesten technischen Stand sein müssen . Nur
auf diese Weise ist gesichert, dass von Besitz und Auf-
bewahrung potenziell tödlicher Waffen eine möglichst
geringe Gefahr für die Bürgerinnen und Bürger ausgeht .
Tragfähige Argumente haben die Kritiker hiergegen nicht
liefern können .
Entgegen dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen
darf ich für unsere Fraktion festhalten, dass der Verfas-
sungsschutz kein Partner in der Zuverlässigkeitsprüfung
für waffenrechtliche Erlaubnisse sein kann . Bekannter-
maßen wurde V-Leuten der Neonaziszene zugeraten, sich
solche Erlaubnisse erst zu beschaffen oder – wie im Falle
des Thüringers Tino Brandt – schießen üben zu gehen .
So wurden Gefahren von Amtswegen erst geschaffen und
verstärkt . Schon deshalb dürfen die Informationen des
Verfassungsschutzes hier nicht maßgeblich sein . Auch
im Interesse der Rechtswegegarantie müssen Bürgerin-
nen und Bürger schließlich die Möglichkeit haben, eine
vollständige gerichtliche Überprüfung einer Verweige-
rung oder des Entzugs der waffenrechtlichen Erlaubnis
einleiten zu können . Bei Involvierung der Geheimdiens-
te in die Beurteilung ist dies aber von vornherein verun-
möglicht .
Es bleibt dabei und ist auch nicht zu leugnen: Von
Waffen geht grundsätzlich eine potenziell tödliche Ge-
fahr aus . Noch größer ist die Gefahr, wenn Menschen
meinen, dass sie sich selbst bewaffnen müssten, oder an-
dere dazu anstacheln – ob Rechtsextremist, Reichsbürger
oder als Bürgerwehr . Und diese Gefahr hat gar nichts da-
mit zu tun, ob es legale oder illegale Waffen sind .
Wenn wir der Gefahr wirklich Einhalt gebieten wol-
len, dann kommen wir um wirksame Beschränkungen im
Waffenrecht und eine effektive Kontrolle nicht herum .
Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): „Bei
‚Gefährlicher und schwerer Körperverletzung‘ nahm die
Zahl der Fälle, in denen geschossen wurde, gegenüber
dem Vorjahr um 25,4 Prozent auf 805 Fälle zu .“ So heißt
es wörtlich im „Bericht zur Polizeilichen Kriminalsta-
tistik 2016“. Die Waffengewalt gegen Geflüchtete, Un-
terkünfte und Helfer hat sich im Vergleich zum Vorjahr
sogar verdoppelt . Auch die Zahl bekannter Rechtsextre-
misten, die eine Waffenerlaubnis besitzen, hat sich seit
2014 nahezu verdoppelt .
Wenn das alles für Sie nicht besorgniserregend ist, für
mich ist es das schon . Ich bin darüber besorgt, dass es für
Straftäter weiterhin viel zu leicht ist, an eine Schusswaffe
zu gelangen . Die Bundesregierung scheint diese Sorge
jedoch nicht zu teilen; insbesondere scheint die Bundes-
regierung nicht wegen der vielen Schusswaffen besorgt
zu sein, die Jahr für Jahr in Deutschland abhandenkom-
men oder gestohlen werden . Die Dunkelziffer ist kaum
zu schätzen . Mit Stand vom 30 . September 2016 waren
allein 15 260 Schusswaffen im nationalen Waffenregister
als abhandengekommen gemeldet . Inzwischen dürften es
mindestens einige Hundert mehr sein . Ein Trend, an dem
auch die jetzt geänderten Aufbewahrungsvorschriften
nichts ändern werden, ebenso wenig wie an der aktuel-
len Aufbewahrungssituation: Waffenschränke, die keinen
hinreichenden Schutz gegen Aufhebeln oder Aufbrechen
bieten, weil sie noch einem Standard entsprechen, der
schon seit 14 Jahren nicht mehr gilt, können nach Ihrem
Gesetzentwurf sogar noch an die Enkelgeneration wei-
tervererbt werden . Einzige Voraussetzung: Der Enkel
stellt in 30 Jahren oder später – nur eben vor dem Tod
des Großvaters – eine eigene Waffe in Großvaters Waf-
fenschrank und erhält einen Wohnungsschlüssel . Wie das
später kontrolliert werden soll, bleibt offen . Das gewähl-
te Regelungskonzept erscheint mindestens fragwürdig .
Ein regelungstechnischer Sonderfall ist es in jedem Fall .
Schon dass es eine spezifisch waffenrechtliche Defini-
tion des Begriffs der häuslichen Gemeinschaft gibt, sagt
viel über das deutsche Waffenrecht aus, bei dem „kom-
pliziert“ oft mit „streng“ verwechselt wird, selbst wenn
erhebliche Regelungslücken bereits offen zutage treten .
Denken Sie nur an die bekannt gewordenen Fälle, in
denen Schützenvereine eine wichtige Rolle bei der Be-
waffnung eigentlich ausgeschlossener Personen gespielt
haben:
Da ist zum einen der jüngste Fall der Schießsportgrup-
pe München e . V .: Ein eingetragener Verein, von dem nun
befürchtet wird, dass schon die Vereinsgründung nicht
sportlich motiviert war, sondern als Instrument zur lega-
len Bewaffnung einer ganzen Bewegung gesehen wurde .
Nicht zuletzt die tödlichen Schüsse auf einen Polizisten
bei Nürnberg im letzten Jahr und die umfangreiche Waf-
fensammlung des Mannes, dessen Ansichten und Bestre-
bungen der Reichsbürgerbewegung zuzurechnen waren,
machen die Brisanz einer solchen legalen Möglichkeit
der Bewaffnung mit scharfen Schusswaffen deutlich .
Kaum weniger besorgniserregend ist die Praxis eines
Schützenvereins in Hameln, dessen Funktionäre zah-
lungswilligen Kunden auch dann zu einer Schusswaffe
verhalfen, wenn diese beispielsweise aufgrund einer Vor-
strafe keine auf legalem Weg erhalten konnten, es eiliger
hatten, als es die Gesetze zulassen, oder aus sonstigen
Gründen lieber keinen eigenen Antrag bei der Waffenbe-
hörde stellen wollten .
Hier offenbart sich ein Konstruktionsfehler des deut-
schen Waffenrechts, der eine grundlegende Reform not-
wendig erscheinen lässt . Gleichzeitig gibt es eine Reihe
weiterer Regelungen des geltenden Waffenrechts, die die
Belange der öffentlichen Sicherheit nicht hinreichend
berücksichtigen . Den daraus resultierenden gesetzgebe-
rischen Handlungsbedarf haben wir in unserem Antrag
„Mehr Sicherheit durch weniger Waffen“ ausführlich
dargelegt, der heute ebenfalls zur Abstimmung steht .
Auch möchte ich in diesem Zusammenhang noch einmal
an die Anhörung dazu im Innenausschuss erinnern, bei
der viele Experten wichtige Hinweise gegeben haben, die
jedoch leider keine Resonanz im vorliegenden Gesetz-
entwurf der Bundesregierung gefunden haben .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 201723784
(A) (C)
(B) (D)
Ich bin davon überzeugt, dass diese Untätigkeit Men-
schenleben kostet! Mir ist das jedenfalls unbegreiflich:
Sicherheitsgesetze scheinen bei der Großen Koalition
Konjunktur wie nie zu haben – nur beim Waffenrecht
halten sie den Ball lieber flach. Dabei wäre das die Art
echter sachlicher Sicherheitspolitik, die tatsächlich ei-
nen Beitrag zu mehr Sicherheit leisten kann . Polizisten
im Streifendienst werden es Ihnen bestätigen: Weniger
Waffen im Umlauf sind ein direkter Beitrag zu mehr Si-
cherheit .
Mehr Sicherheit brächte auch eine Beschränkung der
Abgabe von anschlagsfähigen Ausgangsstoffen . Die Lis-
te schwerer Straftaten, die in der jüngsten Vergangen-
heit mit Acetonperoxid, auch bekannt als APEX oder
TATP, begangen wurden, ist lang . Die nationalen Tatorte
der letzten Jahre lagen unter anderem im Sauerland, in
Frankfurt/Oberursel, in Bottrop, Ansbach, Leipzig und
Chemnitz . Oder denken Sie auch an die Anschläge in
Paris und Brüssel . All diese Täter haben sich für TATP
entschieden und die erheblichen Risiken bei dessen Her-
stellung in Kauf genommen, da sie die notwenigen Aus-
gangsstoffe relativ leicht beschaffen konnten . Ein sicher-
heitsrelevanter Umstand, dem viel zu lange zu geringe
Aufmerksamkeit zuteilwurde .
Inzwischen liegt eine Neufassung der Chemikali-
en-Verbotsverordnung vor . Doch am Grundproblem
ändert sich dadurch wenig, denn ohne entsprechend
konkrete Kriterien zur Identifizierung verdächtiger Trans-
aktionen hängt weiterhin zu viel von der Aufmerksam-
keit des Verkaufspersonals beispielsweise im Baumarkt
ab . Eine sachlich begründete Sicherheitspolitik, die den
Rat der Sachverständigen und Experten ernst nimmt und
die Praxis im Blick hat, sieht anders aus . Und – damit bin
ich wieder beim Waffengesetz – ein Gesetz, dass auf so
zentrale Weise Auswirkungen auf die innere Sicherheit
hat, sollte so geschrieben sein, dass seine Anwendung
möglichst einfach und rechtssicher ist . Das Bestreben,
dies zu erreichen, vermag ich weder beim vorliegenden
Gesetzentwurf noch beim Änderungsantrag zu erkennen,
weshalb wir diesem Gesetz trotz einiger Verbesserungen
im Detail insgesamt nicht zustimmen können .
Anlage 9
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– des von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkom-
men von Minamata vom 10. Oktober 2013 über
Quecksilber (Minamata-Übereinkommen)
– der Beschlussempfehlung und des Berichts des
Ausschusses für Umwelt, Naturschutz, Bau
und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Ab-
geordneten Peter Meiwald, Oliver Krischer,
Annalena Baerbock, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Minamata-Konvention zu Quecksilber unver-
züglich ratifizieren
(Tagesordnungspunkt 26 a und b)
Karsten Möring (CDU/CSU): Die sogenannte Mi-
namata-Konvention der Vereinten Nationen aus dem
Jahr 2013, die wir heute diskutieren, fordert den Aus-
stieg aus der Quecksilberwirtschaft bis zum Jahr 2020 .
Minamata ist der Name einer Stadt in Japan, in der eine
Quecksilberkatastrophe Mitte letzten Jahrhunderts viele
Opfer forderte: Der Chemiekonzern Chisso leitete seiner-
zeit jahrelang quecksilberhaltiges Abwasser in die vorge-
lagerte Bucht der Stadt – und vergiftete damit unzählige
Menschen . Viele litten unter Lähmungen, Nerven- und
Organschäden, Kinder kamen mit Missbildungen zur
Welt . Mit der Namensgebung soll an die Opfer erinnert
und zugleich vor den Folgen der Quecksilberemissionen
und des verantwortungslosen Umgangs mit dem Schwer-
metall gewarnt werden .
Es gibt nur einen Weg, solche Unfälle sicher zu ver-
meiden: den konsequenten Ausstieg aus der Quecksilber-
produktion . Da unsere Wirtschaft heute global vernetzt
ist, müssen dabei alle Staaten an einem Strang ziehen .
Dieses Kunststück ist beim Insektenvernichtungsmittel
DDT und oder den Treibhausgasen FCKW bereits gelun-
gen . Jetzt soll auch Quecksilber weltweit aus Produkten
verschwinden – das ist eines der wichtigsten Ziele der
internationalen Minamata-Konvention . Ein Meilenstein
für die Umwelt: Deutschland hat sich daher seit Verhand-
lungsbeginn stark für die Konvention eingesetzt .
Quecksilber ist ein hochgiftiges Schwermetall, das
in hoher Dosierung tödlich ist . Am höchsten ist das Ge-
sundheitsrisiko, wenn Quecksilberdämpfe eingeatmet
werden oder Quecksilber in Kontakt mit der Haut gerät .
In der Umwelt breitet sich Quecksilber oftmals weiträu-
mig über Wasser und Luft aus . Es wird von Tieren und
Pflanzen aufgenommen. Mehr als 20 Prozent der welt-
weiten Emissionen entstehen als Abfallprodukt bei der
Verbrennung von Kohle zur Stromerzeugung – einer
der Haupt emittenten ist zum Beispiel China . Durch die
Entwicklung von alternativen Technologien und Reini-
gungsverfahren und einem entsprechenden Technolo-
gietransfer zur Unterstützung der Entwicklungs- und
Schwellenländer sollen diese Emissionen langfristig ver-
ringert werden .
Ziel der Minamata-Konvention ist es, den Ausstoß von
Quecksilber weltweit einzudämmen . Sie dient damit dem
Schutz der menschlichen Gesundheit und der Umwelt
dort, wo Quecksilberemissionen unmittelbar entstehen,
aber auch dort, wo sie hintransportiert werden . So müs-
sen die künftigen Vertragsstaaten dafür sorgen, die Ver-
wendung von Quecksilber bei der industriellen Produkti-
on deutlich zu reduzieren. Die Staaten verpflichten sich,
ab 2020 keine quecksilberhaltigen Produkte wie Batte-
rien, Beleuchtungskörper, Kosmetika, Seifen, Schalter
oder Thermometer mehr herzustellen oder zu verkaufen .
Abfälle des hochgiftigen Schwermetalls dürfen nur unter
strengen Auflagen gelagert und entsorgt werden.
Nach Inkrafttreten der Konvention dürfen in den Ver-
tragsstaaten keine neuen Quecksilberminen mehr eröff-
net werden . Für den kleingewerblichen Goldbergbau
müssen die Staaten zudem Maßnahmen zum Schutz der
Arbeiterinnen und Arbeiter ergreifen .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 23785
(A) (C)
(B) (D)
Viele Goldschürfer setzen beim Schürfprozess Queck-
silber ein, welches verdampft und die Gesundheit der Ar-
beiterinnen und Arbeiter sowie die Umwelt gefährdet .
Für neue Kohlekraftwerke gilt der Grundsatz, die beste
verfügbare Technik zum Schutz vor Quecksilberemissi-
onen einzusetzen . Ein im Rahmen der Konvention neu
einzurichtender Ausschuss soll die Umsetzung der Kon-
vention überwachen .
Ende letzten Jahres haben sich Unterhändler des Eu-
ropäischen Parlaments und der Mitgliedstaaten auf eine
neue EU-Quecksilberverordnung verständigt . Die CDU/
CSU bewertet die Einigung als ausgewogenen und rea-
listischen Kompromiss, der viele Themen- und Indust-
riebereiche betrifft . So sieht die neue Verordnung unter
anderem ein Verbot bzw . einen streng regulierten Im- und
Export vor . Die Verwendung von Quecksilber bei der in-
dustriellen Produktion soll außerdem deutlich reduziert
werden . In Deutschland und Europa sind im weltwei-
ten Vergleich bereits strenge Vorgaben Quecksilber be-
treffend in Kraft sind . Von den hohen Standards, die in
Minamata beschlossen und jetzt durch die EU umgesetzt
werden, profitieren aber natürlich auch die europäischen
und deutschen Verbraucher durch einen weltweit sinken-
den Ausstoß . Insbesondere die Quecksilberbelastung von
Fischen ist nämlich vielerorts auch in Europa schon ein
Problem .
Es ist richtig, dass wir überzogenen Forderungen,
etwa nach einem sofortigen Komplettverbot bestimmter
industrieller Prozesse oder einem sofortigen Zahnamal-
gamverbot, nicht nachgeben . Wir sollten hier nicht das
Kind mit dem Bade ausschütten . Die Sicherheitsstan-
dards in Deutschland und Europa sind sowohl im Um-
welt- als auch im Gesundheitsbereich sehr hoch . Es wur-
de in diesem Bereich ein Kompromiss mit Augenmaß
gefunden: So soll ab dem 1 . Juli 2018 Zahnamalgam bei
Kindern sowie schwangeren und stillenden Frauen nur
noch in absoluten medizinischen Ausnahmen verwendet
werden . Bis 2020 wird geprüft, ob Zahnärzte ab 2030
ganz darauf verzichten sollen . Ich denke, dass diese Re-
gelung nicht nur realistischer, sondern auch im Interesse
der Patientinnen und Patienten deutlich besser ist als die
Idee eines Komplettverbots von Amalgam .
Das Inkrafttreten des Übereinkommens erfolgt mit der
Ratifikation durch mindestens 50 Staaten. Mittlerweile
wurde das Übereinkommen von 128 Staaten gezeich-
net und von 35 Staaten ratifiziert. Da die Umsetzung
der Verpflichtungen EU-weit im Wege einer unmittelbar
in den Mitgliedstaaten geltenden Verordnung erfolgen
wird, waren zunächst die entsprechenden Verhandlun-
gen abzuwarten . Nach der Einigung zwischen Kommis-
sion, Rat und Europaparlament zum Entwurf der neuen
EU-Quecksilberverordnung Ende letzten Jahres hat die
Bundesregierung unverzüglich die notwendigen Schritte
für die rechtzeitige Ratifikation eingeleitet.
Ich bin zuversichtlich: Mit dem Minamata-Überein-
kommen rückt das Vorhaben, das giftige Schwermetall
weltweit zu verbannen, in immer greifbarere Nähe . Seit-
dem bemühen sich die Staaten um die Reduzierung der
Emissionen und forschen an alternativen Technologien,
um Quecksilber in der Produktion erfolgreich zu erset-
zen . Politik und Unternehmen müssen diese Herausfor-
derung annehmen – damit sich Ereignisse wie in Mi-
namata nicht wiederholen . Deshalb bitte ich Sie, ja ich
fordere Sie auf, jetzt Ihre Zustimmung zu diesem wichti-
gen Gesetz zu geben .
Ulli Nissen (SPD): Mit der heutigen zweiten und drit-
ten Lesung des Entwurfs eines Gesetzes zu dem Über-
einkommen von Minamata vom 10 . Oktober 2013 über
Quecksilber (Minamata-Übereinkommen) machen wir
den Weg frei für die Ratifizierung. Gemäß Artikel 59
Absatz 2 Grundgesetz muss hierfür die Zustimmung des
Bundestages eingeholt werden . Das tun wir heute, und
es wird auch höchste Zeit, dass wir dieses Abkommen
ratifizieren.
Das Minamata-Übereinkommen über Quecksilber
wurde am 19 . Januar 2013 in Genf ausgehandelt und
am 10 . Oktober 2013 von der Bundesregierung in Ja-
pan unterzeichnet . Worum geht es in diesem Abkom-
men überhaupt? Das Minamata-Übereinkommen soll die
menschliche Gesundheit und die Umwelt vor durch den
Menschen verursachten Emissionen und der Freisetzung
von Quecksilber und Quecksilberverbindungen schützen .
Menschen und Umwelt sollen dort geschützt werden, wo
Quecksilberemissionen unmittelbar entstehen, aber auch
dort, wo sie hintransportiert werden .
Der Name geht zurück auf die Stadt Minamata . Mitte
der 1950er-Jahre kam es dort bei zahlreichen Menschen
und Tieren zu schwersten Gesundheitsschäden . Sie erlit-
ten Schädigungen am zentralen Nervensystem aufgrund
chronischer Quecksilbervergiftung . Der Chemiekonzern
Chisso hatte jahrelang quecksilberhaltiges Abwasser un-
gefiltert in die der Stadt vorgelagerte Bucht eingeleitet.
Die Quecksilberverbindungen waren über das Trinkwas-
ser und Lebensmittel, vor allem über Fisch, aufgenom-
men worden . Symptome der sogenannten Mi namata-
Krankheit sind Müdigkeit, Lähmungen, Missbildungen,
Organ- und Nervenschäden sowie Schädigungen am Im-
munsystem .
Schätzungen zufolge wurden etwa 17 000 Menschen
durch die Quecksilberverbindungen mehr oder weniger
schwer geschädigt . Die Zahl der Toten wird auf bis zu
3 000 geschätzt . Indem das Abkommen nun den Namen
trägt, soll auch an die Toten und die tragischen Ereignisse
gedacht werden .
Und natürlich soll das Übereinkommen dafür sorgen,
dass zukünftig niemand mehr zu Schaden kommen wird .
Mit dem Übereinkommen von Minamata sollen negative
Einflüsse durch den Umgang mit Quecksilber verringert
und Risiken minimiert werden, indem Nutzung, Produk-
tion, Lagerung und Handel reguliert werden .
So wird es ab 2020 verboten sein, quecksilberhaltige
Produkte wie bestimmte Leuchtmittel oder Thermometer
zu produzieren oder zu verkaufen . Zudem wird es strenge
Auflagen für Lagerung und Entsorgung von Quecksilber-
abfällen geben . Auch sollen neue Quecksilberminen ver-
boten werden . Für kleingewerblichen Bergbau müssen
die Vertragsstaaten zudem Maßnahmen zum Schutz der
Arbeiterinnen und Arbeiter treffen . Für Kohlekraftwerke
gilt es die beste verfügbare Schutztechnik vor Quecksil-
beremissionen zu nutzen .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 201723786
(A) (C)
(B) (D)
Wir finden also zahlreiche gute und wichtige Maßnah-
men zum Schutz von Mensch und Umwelt .
Warum hat es denn nun fast vier Jahre gedauert von der
Unterzeichnung bis zur Ratifizierung? Der Grund lag da-
rin, dass einiges im EU-Recht angepasst werden musste .
Denn auch wenn vieles im Minamata-Übereinkommen
EU-weit bereits geregelt war, gab es doch einige regu-
latorische Lücken . So fehlten zum Beispiel Regelungen
über die Einfuhr von Quecksilber, die Ausfuhr bestimm-
ter mit Quecksilber versetzter Produkte, die Verwendung
von Quecksilber in bestimmten Herstellungsprozessen
und auch über die Verwendung von Quecksilber im
kleingewerblichen Goldbergbau oder beispielsweise die
Verwendung von Quecksilber in Dentalamalgam .
Im Sinne der Rechtsklarheit sollten die aus dem Über-
einkommen erwachsenden Verpflichtungen, die noch
nicht in EU-Recht umgesetzt waren, in einem einzigen
Rechtsakt zusammengefasst werden. Dieses EU-Ratifi-
kationspaket wurde am 6 . Dezember 2016 abschließend
ausgehandelt .
Neben dem Gesetzentwurf haben wir heute auch den
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vorliegen:
„Minamata-Konvention zu Quecksilber unverzüglich ra-
tifizieren“. Da wir dies ja nun gerade tun, ist Ihr Antrag
damit auch überflüssig. Und es wird Sie nicht verwun-
dern, dass wir ihn ablehnen werden .
Das Minamata-Übereinkommen tritt 90 Tage nach der
Ratifizierung durch den 50. Unterzeichnerstaat in Kraft.
Bis heute waren es 44 Staaten der 128 Unterzeichner, die
das Abkommen bereits ratifiziert haben.
Im Ausschuss – das sei noch kurz erwähnt – haben
alle Fraktionen dem Gesetzentwurf zugestimmt . Denn
natürlich ist es nur zu begrüßen, dass Deutschland nun
als 45 . Staat das Übereinkommen ratifiziert.
Von 24 . bis 29 . September dieses Jahres wird in Genf
die erste Vertragsstaatenkonferenz des Minamata-Über-
einkommens stattfinden. Auf dieser Konferenz sollen
sich die Staaten, die das Abkommen ratifiziert haben,
über weitere Maßnahmen austauschen . Dabei kann es um
technische, administrative, aber auch finanzielle Angele-
genheiten gehen .
Ralph Lenkert (DIE LINKE): Dass Quecksilber gif-
tig ist, wissen fast alle . Dass es, einmal freigesetzt, sich
in der Natur nicht abbaut und dann irgendwann in unse-
rer Nahrung landet, ist eine Tatsache . Aus diesem Grund
wird die Verwendung von Quecksilber für Industriepro-
zesse und in den meisten Gebrauchsgegenständen seit
Jahren eingedämmt und verboten .
Aber bei Energiesparlampen wird weiter Quecksilber
erlaubt, und das gelangt beim Zerbrechen der Lampe oder
bei falscher Entsorgung in die Umwelt . Auch die Kohle-
kraftwerke sind als Quecksilberschleudern bekannt .
Die Linke begrüßt deshalb die Ratifizierung des Min-
amata-Abkommens ausdrücklich und wird dem Ge-
setzentwurf der Bundesregierung zustimmen; denn mit
diesem Abkommen verpflichten sich die Staaten, Queck-
silberemissionen zu verringern . Es ist höchste Zeit, dass
das Abkommen in Kraft tritt und die noch fehlenden
Ratifizierungen durch andere Staaten schnell zustande
kommen .
Trotz allem Positiven, was das Abkommen bringt,
stellen sich uns konkrete Fragen:
Wird die Bundesregierung ihren politischen Einfluss
nutzen, um bilateral weitere Staaten zur Ratifizierung
zu bringen und Impulse zu setzen, dass das Abkommen
schnell in Kraft treten kann?
Wie lange wird es nach Inkrafttreten des Abkommens
dauern, bis wir einen nationalen Maßnahmenplan vor-
liegen haben, der wirksam den Quecksilberausstoß in
Deutschland signifikant reduzieren kann?
Denn, liebe Kolleginnen und Kollegen aus der Gro-
ßen Koalition: Einigen Ihrer Freunde aus der Kohleener-
giewirtschaft wird dieses Abkommen Sorgenfalten ins
Gesicht treiben . Pro Jahr emittiert der deutsche Kohle-
kraftwerkpark 9 Tonnen Quecksilber . 9 Tonnen Queck-
silber – das entspricht einer Kugel mit einem Durchmes-
ser von 1 Meter . Eine solche Quecksilberkugel steigt
allein aus unseren Kohlekraftwerken jährlich in die At-
mosphäre auf . Diese Quecksilbermenge muss dann mit
Filtern oder über die Abschaltung der Kraftwerke verrin-
gert werden .
Wird das Minamata-Abkommen zu einem zügigen
Kohleausstieg in Deutschland führen, oder setzt die Bun-
desregierung auf technischen Umbau der Kraftwerke, da-
mit die Quecksilbergrenzwerte eingehalten werden? Und
wer soll diesen Umbau bezahlen?
So oder so: Es wird deutlich, dass der ach so billige
Kohlestrom gar nicht so billig ist und unsere Gesellschaft
die Folgekosten für Umwelt und Natur irgendwann zah-
len muss .
Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie
strenge Regeln für die Einhaltung der notwendigen
Grenzwerte schafft . Verzichten Sie auf lange Übergangs-
bestimmungen; unsere Gesundheit ist keine Verhand-
lungsmasse! Die Linke fordert, dass die Kosten für die
Quecksilberreduktion von den Kraftwerksbetreibern zu
zahlen sind und nicht auf die Strompreise umgelegt wer-
den dürfen .
Aber wahrscheinlich werden CDU/CSU, SPD, even-
tuell die FDP und diese falsche Alternative vor der Kraft-
werkslobby einknicken und die Kosten den Stromkunden
aufdrücken oder unsere Natur weiter mit Quecksilber be-
lasten .
Deswegen nenne ich Ihnen die wirkliche Alternative:
Die Linke fordert einen zügigen Ausstieg aus der Kohle .
Das ist der einzige Weg, mit dem Problem gesundheits-
politisch, umweltgerecht und sozial verantwortungsvoll
umzugehen . Alles andere wäre Hinhaltetaktik .
Wir freuen uns über die Ratifizierung des Abkom-
mens . Es ist ein wesentlicher Schritt vorwärts . An der Art
der Umsetzung in Deutschland werden wir bewerten, wie
ernsthaft und auf wessen Kosten die anderen Parteien das
Problem Quecksilber angehen .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 23787
(A) (C)
(B) (D)
Peter Meiwald (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Nach
jahrelangen Vorarbeiten wurde im Oktober 2013 das
Minamata-Übereinkommen zu Quecksilber unterzeich-
net . Ich begrüße die Konvention, denn die Auswirkungen
von Quecksilber auf die Gesundheit sind gravierend .
Bei Erwachsenen führen Quecksilbervergiftungen
zu irreparablen Schädigungen der inneren Organe wie
etwa der Leber und der Nieren sowie des Nervensys-
tems . Hochgradig gefährdet sind Föten, Säuglinge und
Kleinkinder, da eine Quecksilbervergiftung in der früh-
kindlichen Entwicklungsphase zu Missbildungen, geisti-
ger Behinderung, Krampfanfällen, Seh- und Hörverlust,
verzögerter Entwicklung, Sprachstörungen und Gedächt-
nisverlust führt .
Da Quecksilber (Hg) weder biologisch noch chemisch
abbaubar ist, reichert es sich in der Nahrungskette an .
Gerade organische Quecksilberverbindungen sind hoch-
toxisch und können zu einer chronischen Quecksilberver-
giftung, auch bekannt als Minamata-Krankheit, führen .
Chronische Vergiftungen entstehen unter anderem
über die Aufnahme von Quecksilber am Arbeitsplatz
wie etwa durch das Einatmen von Quecksilberdämpfen
im Gesundheitswesen oder in Laboren, Unfälle oder
schlecht verarbeitetes Zahnmetall (Amalgam) .
Eine weitere Ursache für chronische Quecksilberver-
giftungen ist die Aufnahme von Quecksilber über die
Nahrungskette . Gerade in der marinen Nahrungskette
reichern sich organische Quecksilberverbindungen in
Lebewesen an .
Als erster Unterzeichnerstaat haben die USA bereits
am 6 . November 2013 die Minamata-Konvention rati-
fiziert. Mittlerweile sind 43 Staaten hinzugekommen,
darunter auch Japan, Kanada und China . Nun wird die
Konvention endlich auch von Deutschland ratifiziert und
umgesetzt .
Wir Grüne haben die Bundesregierung schon vor ei-
nem Jahr mit unserem Antrag aufgefordert, endlich die
erforderlichen Schritte zur Ratifizierung in die Wege zu
leiten .
Es ist zwar zu begrüßen, dass Deutschland die Min-
amata-Konvention nun ratifiziert. Allerdings stellen sich
mir durchaus einige Fragen: Warum ist Deutschland bei
einem umweltpolitischen Thema mal wieder Nachzüg-
ler? Wieso fehlt ein Fahrplan zur konkreten Umsetzung
der Konvention in praktische Politik völlig, obwohl Sie
mehr als drei Jahre Zeit dafür hatten?
Laut dem Umweltinformationsportal des Bundes wur-
den von 2013 bis 2015 über 20 Tonnen Quecksilber in
die Luft emittiert . Quecksilber ist schon heute im Fettge-
webe von Fischen in allen Gewässern Deutschlands ubi-
quitär, das heißt überall nachweisbar . Angesichts dieser
Tatsache ist das, was Sie betreiben, nicht mehr Regieren
mit ruhiger Hand, sondern fast schon fahrlässige Körper-
verletzung .
Was wir dringend brauchen, ist ein Fahrplan für den
Quecksilberausstieg . Hier möchte ich Ihnen das Gut-
achten einer medienübergreifenden Quecksilbermin-
derungsstrategie für Nordrhein-Westfalen aus 2016 ans
Herz legen. Vielleicht finden Sie ja dort die ein oder an-
dere hilfreiche Anregung .
Auch begrüße ich die neue Verordnung der EU über
Quecksilber, denn bisher gab es kaum verbindliche Vor-
gaben im europäischen Recht zur Begrenzung von Queck-
silberemissionen . Weder das Merkblatt „Beste verfügba-
re Technik“ für Großfeuerungsanlagen (BVT-Merkblatt)
aus dem Jahr 2006 noch die Industrieemissionsrichtlinie
aus dem Jahr 2010 enthielt bisher Emissionsgrenzwerte
für Quecksilber aus Kohlekraftwerken . Es liegt jetzt an
der Bundesregierung, die Verordnung konsequent anzu-
wenden .
Zwar wurden in den vergangenen Jahren die
BVT-Merkblätter überarbeitet; allerdings wäre dies kein
Hinderungsgrund gewesen, schärfere Umweltvorschrif-
ten in der Verordnung über Großfeuerungs-, Gasturbinen
und Verbrennungsmotoranlagen (13 . BImSchV) sowie
der Verordnung über die Verbrennung und die Mitver-
brennung von Abfällen (17 . BImSchV) einzuführen und
die Bevölkerung effektiv vor Quecksilber zu schützen .
Diese Auffassung wird auch in dem genannten Gutachten
vertreten .
Steigen Sie endlich in den Kohleausstieg ein! So kön-
nen Sie quasi zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: die
klimapolitischen Ziele erfüllen und die Bevölkerung vor
Quecksilberemissionen schützen . Dazu wäre es sinnvoll,
endlich die immissionsschutzrechtliche Privilegierung
der Kohleverstromung aufzuheben und die Einhaltung
von strengen Emissionsgrenzwerten für krebserzeugende
Stoffe sicherzustellen, indem man sich beispielsweise an
den US-Grenzwerten für Quecksilberemissionen orien-
tiert .
In der Gesundheitspolitik sollten wir es Schweden und
Norwegen nachmachen, die Amalgamfüllungen bereits
verboten haben . Folgen Sie doch einfach einer Studie im
Auftrag der EU-Kommission zur Abschätzung der Aus-
wirkung verschiedener Handlungsoptionen bezüglich
Zahnamalgam . Diese hat nämlich bereits festgestellt,
dass ein Amalgamverbot gesamtwirtschaftlich die vor-
teilhafteste Lösung wäre .
Das Europäische Parlament hat wenigstens bewirkt,
dass in der oben genannten Verordnung festgelegt wur-
de, dass ab dem 1 . Juli 2018 Dentalamalgam nicht mehr
für die zahnärztliche Behandlung von Milchzähnen, von
Kindern unter 15 Jahren und von Schwangeren oder Stil-
lenden verwendet werden darf . Allerdings mit der Aus-
nahme, dass eine Behandlung mit Dentalamalgam auf-
grund medizinischer Erfordernisse bei einem Patienten
als zwingend notwendig angesehen wird .
Sie sehen: Die heutige Ratifizierung der Minama-
ta-Konvention ist ein notwendiger, richtiger Schritt zur
Reduzierung der Belastung unserer Bevölkerung und un-
serer Umwelt mit giftigem Quecksilber . Hinreichend ist
er nicht! Es bleibt viel zu tun für die nächste Regierung,
im Interesse von Umwelt und Gesundheitsschutz – hof-
fentlich dann unter starker grüner Beteiligung!
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 201723788
(A) (C)
(B) (D)
Anlage 10
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung
der elektronischen Akte in Strafsachen und zur
weiteren Förderung des elektronischen Rechtsver-
kehrs (Tagesordnungspunkt 27)
Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): Mit dem vor-
liegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung soll nun
auch im Strafverfahren eine gesetzliche Grundlage für
die Einführung der elektronischen Akte geschaffen wer-
den . Dies soll als Voraussetzung für einen Medienwech-
sel geschehen, welcher den technischen Fortschritt nach-
vollziehen und die Strafjustiz modernisieren wird . Wenn
in der Privatwirtschaft und in vielen Behörden bereits di-
gital gearbeitet wird und die Vorzüge der elektronischen
Aktenführung genutzt werden, darf die Justiz in Strafver-
fahren nicht hinter modernen Standards zurückbleiben .
Ich begrüße daher das Anliegen dieses Gesetzentwur-
fes, auch für Strafsachen den elektronischen Rechtsver-
kehr einzuführen und die Möglichkeit der elektronischen
Aktenführung zu schaffen . Straf- und Ermittlungsakten
könnten mit dem Inkrafttreten der Neuregelung elektro-
nisch angelegt und geführt werden . Insoweit wird auch
für den Bereich der Strafsachen die Rechtsgrundlage
geschaffen, welche für andere Verfahrensarten bereits
existiert . So haben wir schon Regelungen in den §§ 298a
ZPO, § 46e ArbGG, § 52b FGO, § 65b SGG und § 55b
VwGO .
Auf dieser Grundlage ist der elektronische Rechts-
verkehr beispielsweise in Nordrhein-Westfalen bei allen
Verwaltungs-, Finanz-, Sozial- und Arbeitsgerichten so-
wie in bestimmten Zivilverfahren, wie im Mahnverfah-
ren oder in Registersachen, und bei einzelnen Land- und
Amtsgerichten eröffnet . Verfahrensbezogene Dokumente
können elektronisch eingereicht werden . Die Ausdeh-
nung auf das Strafverfahren ist daher nur folgerichtig .
Ebenfalls begrüßenswert ist, dass erstmals ein Stich-
tag festgesetzt werden soll, ab dem bundesweit die Füh-
rung der elektronischen Akten gesetzlich verpflichtend
wird . Bis zum 25 . Dezember 2025 würde die elektro-
nische Aktenführung dabei lediglich eine Option dar-
stellen . Ab dem 1 . Januar 2026 sollen neu anzulegende
Akten dann nur noch elektronisch zu führen sein . Damit
soll die flächendeckende verbindliche Einführung der
elektronischen Aktenführung im Bereich der Strafjustiz
bereits jetzt gesetzlich vorgegeben werden . Ein einheit-
licher Stichtag bietet Planungssicherheit und erhöht zu-
dem die Chance, alle Beteiligten frühzeitig in die Umset-
zung einzubinden . Diese Chance sollte genutzt werden,
zum Wohle einer effektiven, modernen und effizienten
Strafjustiz .
Im Zusammenhang mit der Zulassung elektronischer
Strafakten soll zugleich die elektronische Kommunikati-
on zwischen den Strafverfolgungsbehörden und den Ge-
richten sowie der elektronische Rechtsverkehr im Straf-
verfahren unter Absenkung bestehender Zugangshürden
neu geregelt werden . Das bundeseinheitliche Vorgehen
bei der Einführung der elektronischen Akte in der Jus-
tiz minimiert Medienbrüche und fördert länderüber-
greifend sinnvolle Lösungen für einheitliche Standards
und bundeseinheitliche Austauschformate . Ich halte die
lange Übergangsfrist bis zur verbindlichen Einführung
am 1 . Januar 2026 für sinnvoll, um die entsprechenden
Fachverfahren für vollelektronische Geschäftsprozesse
pilotieren zu können . Die bisher durchgeführten Mo-
dellprojekte und Pilotprojekte, wie z . B . eIP in Bayern,
VIS-Justiz in Baden-Württemberg oder e2A in Nord-
rhein-Westfalen betreffen ausschließlich das Zivilrecht .
Was genau versteht man unter einer „e-Akte“? Sie
wird beschrieben als „ein definiertes System elektro-
nisch gespeicherter Daten“ . Dies ist im Hinblick auf die
schnell fortschreitende Entwicklung der Informations-
technik grundsätzlich sachgerecht . Allerdings wird da-
durch umso wichtiger, dass Bund und Länder bei den für
ihre jeweiligen Bereiche zu erlassenden Regelungen von
gleichen Voraussetzungen ausgehen .
Die elektronische Akte ist deutlich mehr als die Pa-
pierakte . Die mit einer elektronischen Aktenführung ein-
hergehende automatisierte Verarbeitung personenbezo-
gener Daten ermöglicht im Vergleich zur papierbasierten
Aktenführung eine wesentlich einfachere und schnellere
Recherche, Filterung oder Verknüpfung von Daten . Dies
bedeutet letztlich auch eine Beschleunigung der Arbeits-
prozesse insgesamt – bei der täglichen Arbeit bei den Ge-
richten und Staatsanwaltschaften .
Neben der höheren Informationsqualität und Informa-
tionsaktualität zählt auch der Platzgewinn . In der brei-
ten Öffentlichkeit fehlt jedoch oft das Vertrauen, dass
Daten elektronisch besser geschützt sind als in Papier-
form . Die Datensicherheit und der Datenschutz sind ein
großes Thema und genießen auf nationaler und europäi-
scher Ebene einen hohen Stellenwert . Viele fürchten die
Manipulation der Daten durch Hackerangriffe oder auch
staatliche Kontrolle . Dabei ist die Sicherheit von elek-
tronischen Akten keinesfalls geringer als von Akten in
Papierform . Wir müssen daher genau regeln, innerhalb
welcher Grenzen die Strafverfolgungsbehörden die in
den Akten gespeicherten Daten verwenden dürfen und
welche Personen Zugriff erhalten . Dies ist mit dem vor-
liegenden Gesetzesentwurf gelungen . Zum einen haben
wir die unbestimmten Rechtsbegriffe wie „Rahmenbe-
dingungen“ und „geltende Standards“ näher bestimmt,
so zum Beispiel durch Einführung des Begriffs „Stand
der Technik“ . Des Weiteren haben wir Schutzziele klarer
benannt, indem wir das Verhältnis zur „Grundnorm“ § 9
BDSG konkreter herausgearbeitet haben .
Ein wichtiges Anliegen für uns war die gesellschaft-
liche Teilhabe von Menschen mit Behinderung – vor al-
lem, den barrierefreien Zugang zur Justiz zu verbessern .
Mit diesem Gesetzesentwurf wird hierfür eine wichtige
Voraussetzung geschaffen . Durch viele Gespräche mit
zum Beispiel sehbehinderten Menschen konnten deren
Interessen so gut wie möglich im Gesetz Berücksichti-
gung finden.
Die flächendeckende Umstellung des Strafverfahrens
auf elektronische Arbeitsgrundlagen ist ein ambitionier-
tes Vorhaben, welches nur gelingen kann, wenn es gründ-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 23789
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lich vorbereitet und sorgfältig durchgeführt wird und
wenn hierbei alle Beteiligten intensiv und vertrauensvoll
zusammenarbeiten .
Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Mit der heutigen Be-
ratung möchten wir den Gesetzentwurf zur Einführung
der elektronischen Akte im Strafverfahren zum Ende
bringen . Ich möchte den Beteiligten für die guten Ver-
handlungen und den gelungenen Abschluss danken . Es
steht ein zukunftsweisender Gesetzentwurf zur Abstim-
mung .
Viele Anwaltskanzleien verzichten heute bereits auf
die Papierakte, sodass nach Akteneinsicht nur noch eine
Kopie in digitaler Form vorliegt . Die Vorteile lassen sich
nicht von der Hand weisen: Umfangreiches Aktenmate-
rial muss zur Hauptverhandlung nicht in den Gerichts-
saal geschleppt werden . Der Strafverteidiger hat die Akte
handlich und leicht transportabel auf dem Laptop dabei .
Aber auch Ermittlungsbehörden und Gerichte sichten be-
reits heute große digitalisierte Aktenbestände am Bild-
schirm . Selbst die Papierakte besteht aus einer Vielzahl
von Dokumenten, die auch elektronisch vorliegen, wie
beispielsweise der Mailverkehr oder Vernehmungsproto-
kolle . Die Einführung der elektronischen Akte im Straf-
verfahren ist der logische Schritt, damit der technische
Fortschritt nachvollzogen wird .
Die Modernisierung der Strafjustiz ist uns ein großes
Anliegen, zumal die elektronische Gerichtsakte in den
anderen Verfahrensordnungen bereits im Jahr 2013 be-
schlossen wurde .
Ich bin überzeugt, dass die elektronische Aktenfüh-
rung bei den Praktikern in der Justiz und Anwaltschaft
auf Zustimmung stoßen wird . Um einen behutsamen
Übergang zu schaffen und mögliche Startprobleme zu
beseitigen, wird die elektronische Verfahrensakte erst
im Jahr 2026 verpflichtend sein. Die Möglichkeit der
elektronischen Aktenführung wird aber bereits ab dem
Jahr 2018 bestehen . Wir haben ein Gesetz geschaffen,
das wichtige Weichen für die Strafjustiz stellt und weit in
die Zukunft reichen wird .
Bereits in der ersten Lesung war es mir sehr wichtig,
auf die Notwendigkeit eines ausreichenden Datenschut-
zes hinzuweisen . Die elektronische Verfahrensakte stellt
einen Eingriff in das grundrechtlich geschützte Recht auf
informationelle Selbstbestimmung dar . Nur bei einem
absoluten Datenschutz wird dieser Grundrechtseingriff
gewährleistet sein. Ein Abfließen von Informationen aus
der Ermittlungsakte an die Öffentlichkeit würde die Be-
schuldigtenrechte massiv einschränken . Einer Bekannt-
gabe über die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens
folgt oftmals eine Vorverurteilung durch Medien und die
Öffentlichkeit, sodass die Unschuldsvermutung wertlos
erscheint .
Es freut mich deshalb, dass in den Verhandlungen
nochmals eine Klarstellung erreicht wurde, dass die tech-
nischen Rahmenbedingungen auch dem jeweiligen Stand
der Technik entsprechen müssen . In Zeiten von immer
mehr Datenskandalen ist es die Pflicht des Staates, sen-
sible Daten aus Ermittlungsverfahren mit höchster Sorg-
falt zu behandeln. Zu dieser Pflicht gehört es auch, die
technischen Voraussetzungen des Datenschutzes an den
Fortschritt anzupassen .
Nachdem die Bedenken aus unserer Sicht ausgeräumt
werden konnten, bleibt mir nur, einen Blick in die Zukunft
zu werfen . Ich verspreche mir mit der Einführung der
elektronischen Akte eine Vielzahl von Synergieeffekten .
Insbesondere das Versenden der Akten zwischen Staats-
anwaltschaft und den ermittelnden Polizeibehörden oder
an den Strafverteidiger zur Akteneinsicht nimmt derzeit
noch viel Zeit in Anspruch . Mit einem schnellen Zugriff
auf die elektronische Akte wird sich die Verfahrensdauer
zwischen einer Tat und deren Aburteilung voraussicht-
lich erheblich verkürzen . Dies wäre ein großer Schritt für
mehr Vertrauen in und Akzeptanz der Justiz .
Ich kann nur um Zustimmung zu diesem Gesetz bitten .
Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD): Im 21 . Jahrhundert
sind wir in der Epoche der Digitalisierung angekommen .
Auch wenn für den einen oder die andere das Internet
noch Neuland ist, führt kein Weg davon zurück . Ohne
elektronischen Datenverkehr und den Zugang zu Infor-
mationen ist das heutige Leben unvorstellbar .
In weiten Bereichen der privaten, geschäftlichen und
öffentlichen Kommunikation hat sich die elektronische
Dokumentenerstellung, -übermittlung und -speicherung
durchgesetzt . Auch in den meisten gerichtlichen Verfah-
rensordnungen besteht seit vielen Jahren die Möglichkeit
der elektronischen Aktenführung . Strafakten sind dage-
gen bislang noch in Papierform zu führen, obwohl die
Mehrzahl der darin befindlichen Dokumente bereits mit-
tels elektronischer Datenverarbeitung erstellt wurde und
zunehmend auch elektronisch übermittelt werden wird .
Daher wird mit diesem Gesetz nun auch in Strafver-
fahren eine gesetzliche Grundlage für die Einführung ei-
ner elektronischen Akte als Voraussetzung für einen Me-
dienwechsel geschaffen, die den technischen Fortschritt
nachvollzieht und die Strafjustiz modernisiert . Die mit
einer elektronischen Aktenführung einhergehende au-
tomatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten er-
möglicht im Vergleich zur papierbasierten Aktenführung
eine wesentlich einfachere und schnellere Recherche,
Filterung oder Verknüpfung von Daten . Zugleich werden
die Vorschriften über den elektronischen Rechtsverkehr
in Strafsachen an die Regelungen angeglichen, die für die
übrigen Gerichtsbarkeiten bereits im Jahr 2013 geschaf-
fen wurden .
Damit die Bundesländer nicht zu sehr überfordert wer-
den, sieht der Gesetzentwurf eine optionale elektronische
Aktenführung bis zum 31 . Dezember 2025 vor und ver-
langt sie erst ab dem 1. Januar 2026 als verpflichtend und
flächendeckend. Somit haben die Justizverwaltungen der
Länder nun acht Jahre Zeit, sich vorzubereiten und sie
umzusetzen . Wie mein Kollege Dirk Wiese bei der ersten
Lesung des Gesetzentwurfes richtig betont hat, ist diese
Anpassung dringend notwendig, denn alleine der Prozess
der Erstellung von Strafakten entbehrt derzeit einer ge-
wissen Logik .
Nach dem fachlichen Austausch wurden die Experten-
meinungen berücksichtigt und die Nachbesserungen mit
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 201723790
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dem Änderungsantrag der Koalition eingepflegt. Die Er-
gänzung in § 32 Absatz 2 dient der Klarstellung, dass die
durch Rechtsverordnung zu bestimmenden datenschutz-
rechtlichen und technischen Rahmenbedingungen stets
dem jeweiligen Stand der Technik entsprechen müssen .
Für mich als Sozialdemokraten war besonders wich-
tig, das Thema Barrierefreiheit zu berücksichtigen . Es
soll ausdrücklich klargestellt werden, dass in allen Ver-
fahrensordnungen auch die Anforderungen an die Bar-
rierefreiheit der elektronischen Akten in den jeweiligen
Rechtsverordnungen geregelt werden müssen . Die aus-
drückliche Einbeziehung der Barrierefreiheit in die Ver-
ordnungsermächtigung stärkt das Recht der Betroffenen
auf barrierefreien Zugang zu den Akten . Zudem soll die
Einhaltung der Anforderungen an die Barrierefreiheit in
der vorgesehenen Evaluierung überprüft werden .
Harald Petzold (Havelland) (DIE LINKE): Wir dis-
kutieren heute hier abschließend über die gesetzlichen
Grundlagen für die Führung elektronischer Akten in
Strafsachen . Das ist ein scheinbar trockenes und unspan-
nendes Thema . Ist es aber nicht, denn mit der Einführung
elektronischer Aktenführung könnte die Akteneinsicht
auch in Zivilverfahren in Zukunft über ein elektronisches
Akteneinsichtsportal möglich werden . Und das wäre eine
gute Sache, wie alle bestätigen werden, die schon einmal
mit so einem Verfahren zu tun hatten . Das Gesetzesvor-
haben ist damit ein wichtiger Schritt in die richtige Rich-
tung, um den Herausforderungen der Digitalisierung im
Justizalltag insbesondere auch in Strafverfahren gerecht
werden zu können .
Der Gesetzentwurf sieht vor, ab dem 1 . Januar 2018
für einen Übergangszeitraum bis zum 31 . Dezember
2025 elektronische Akten in Strafsachen führen zu kön-
nen, um sie danach ab dem 1. Januar 2026 verpflichtend
und flächendeckend einzuführen. So viel zum positiven
Teil des Vorhabens . Denn die Umsetzung des Gesetzes-
vorhabens ist mal wieder, wie so oft bei Gesetzentwürfen
der Bundesregierung, eine Mischung aus ein paar guten
und vielen mangelhaften oder schlechten Bausteinen .
So besteht bei der Überführung der Aktendokumen-
te von stofflichem in elektronisches Medium die Unsi-
cherheit, ob die elektronische Akte im Vergleich zu dem,
was bisher in der Strafrechtspflege unter einer Akte zu
verstehen war, auseinanderfallen könnte . Hier sind Fra-
gen bezüglich der Aktenvollständigkeit und Authentizi-
tät offen geblieben . Um diese Unsicherheiten ausräumen
zu können, wäre es notwendig, eine umfassende Doku-
mentations- und Kontrollpflicht im Gesetz zu verankern.
Davon ist allerdings in dem heute zur Abstimmung ste-
henden Entwurf nichts zu erkennen . Alle Versuche, hier
nachhaltige Verbesserungen zu erreichen, waren ver-
gebens, auch wenn die Koalitionsfraktionen mit einem
eigenen Änderungsantrag wenigstens die schlimmsten
Mängel gemildert haben . Für die Linke ein klarer Kri-
tikpunkt .
Darüber hinaus werfen die im Gesetz geregelten Ein-
sichtsmöglichkeiten eines nicht anwaltlich vertretenen
Verletzten Fragen bezüglich des Schutzes der Persönlich-
keitsrechte von Zeugen und Beschuldigten auf . Für die
Linke nicht nachvollziehbar .
Unklar bleibt, wie die Akteneinsicht für einen Be-
schuldigten geregelt sein soll, der sich in Untersuchungs-
haft befindet. Darauf ist nachdrücklich aufmerksam
gemacht worden . Ergebnis: Null Reaktion der Koaliti-
onsmehrheit . Für die Linke völlig unverständlich .
Schließlich fehlen im Gesetzentwurf verbindliche
Aussagen zur Frage sicherer Übertragungswege sowie
notwendiger technischer Infrastruktur . Dabei betont
der Gesetzentwurf in seiner Begründung diese Dinge
ausdrücklich . Zu Recht, wie die Linke meint . Aber die
konkrete Ausgestaltung hält damit nicht Schritt . Dies
betrifft insbesondere den elektronischen Datenaustausch
zwischen Verteidiger und Gericht . Was in aller Welt hat
Sie darüber hinaus geritten, den Betrieb der notwendigen
technischen Infrastruktur auch für private Auftragnehmer
offen zu halten? Damit besteht berechtigterweise Grund
zu der Annahme, dass sich die sensiblen Akten dann
nicht mehr in der alleinigen Kontrolle der Justiz befin-
den . Auch die nachträglich eingearbeitete Zugangsbe-
schränkung durch die öffentliche Hand heilt aus Sicht der
Linken diesen Mangel nicht und räumt die auch in der
Anhörung vorgetragenen Bedenken nicht hinreichend
aus .
Alles in allem: Ein notwendiges Gesetz, aber ober-
flächlich und nicht in allen Fragen nachhaltig gestaltet.
Die Linke wird ihm deshalb nicht zustimmen und sich
stattdessen der Stimme enthalten .
Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Letz-
te Woche durften wir erleben, wie kriminelle Elemente
mit dem größten Cyberangriff der Geschichte weltweit
Krankenhäuser und sonstige sensible Infrastruktur lahm-
legten, um Lösegeld für die Freigabe der Daten zu er-
pressen .
Die Einführung der elektronischen Akte auch im
Strafverfahren ist zwar ein hehres Ziel und kann am
Ende, wenn sie gelingt, vielleicht sogar eine Arbeitser-
leichterung in der Praxis erbringen . Der Nutzervorteil
muss aber im Verhältnis stehen zu den Risiken, die durch
die elektronische Akte entstehen – und davon sind wir
heute noch weit entfernt .
Trotzdem will die Bundesregierung, dass wir hier
heute das Jahr 2026 als einheitlichen Verbindlichkeitster-
min für alle Verfahrensordnungen beschließen, obwohl
das Gesetz bislang weder datenschutzrechtlichen noch
grundgesetzlichen Maßstäben genügt .
Wir stehen mit unserer Kritik keinesfalls alleine da .
Viele unserer Bedenken im Hinblick auf die elektroni-
sche Akte in Strafsachen wurden in dem Berichterstatter-
gespräch im Januar bestätigt .
Der Richterbund etwa hat zu Recht darauf hingewie-
sen, dass neben datenschutzrechtlichen Aspekten die
Nutzervorteile im Vordergrund stehen müssten – schließ-
lich soll die elektronische Aktenführung Prozesse und
Abläufe erleichtern .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 23791
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Praktiker, die bereits Erfahrung mit der elektronischen
Akte haben, berichten jedoch über erhebliche Arbeitser-
schwerung in den Abläufen . Aufgrund der Mängel und
Unklarheiten werden derzeit elektronische Zweitakten
neben der Papierakte geführt . Das ist keine Arbeitser-
leichterung, sondern bürokratische Absurdität .
Zunächst einmal müssten die entsprechenden Pilot-
und Modellprojekte vernünftig ausgewertet werden, be-
vor womöglich auf Kosten des Datenschutzes und der
Rechte der Betroffenen Nägel mit Köpfen gemacht wer-
den .
Auch aus den Reihen der Strafverteidiger wurden be-
rechtige Bedenken geäußert . Es sei etwa wichtig, die Ak-
tenauthentizität und Aktenintegrität sicherzustellen, da
ansonsten eine Verletzung des Rechts auf eine effektive
Strafverteidigung aus Artikel 6 EMRK verletzt würde .
Um dieses Recht zu gewährleisten, muss die Strafvertei-
digung Einblick in die Akten nehmen könne, so wie sie
dem Gericht vorliegen .
Aus Praktikersicht muss unbedingt geklärt werden,
wie Beweisdokumente übermittelt werden müssen, auch
die vorgesehene Löschung der Beweismittel nach sechs
Monaten sei unverantwortlich, solange das Verfahren
nicht rechtskräftig abgeschlossen sei .
Der Datenschutz wird bei dem Gesetzentwurf noch
immer sträflich vernachlässigt. Die Datenschutzbeauf-
tragte stellte in der Anhörung klar, dass die technische
Datensicherheit Aufgabe des Gesetzgebers sei und die-
se Aufgabe gerade bei so sensiblen persönlichen Daten
nicht durch Verordnungsermächtigung delegiert werden
dürfe .
Und die Bundesregierung hat mit ihrem Änderungs-
antrag nicht wirklich nachgebessert . Selbst die Bedenken
ihrer eigenen Datenschutzbeauftragten nimmt sie nicht
ernst und behauptet wider besseres Wissen, dass weitere
Konkretisierungen im Bereich des Datenschutzes nicht
erforderlich seien .
Strafakten dürfen kein Informationspool werden, es
darf nicht zu einer unzulässigen Aufweichung der Zweck-
bindung beim Zugang zu den Daten kommen . Durch die
vorgesehenen Regelungen besteht die Gefahr, dass die
Funktion der Strafakte als Verwaltungsgedächtnis aufge-
weicht und sie zunehmend zum Daten- oder Informati-
onspool wird . Das wäre allerdings mit dem Grundgesetz
nicht vereinbar .
Mit dem Änderungsantrag haben Sie jetzt zwar an
verschiedenen Verfahrensordnungen geschraubt, die
maßgeblichen Kritikpunkte haben Sie jedoch nicht auf-
gegriffen .
Die für den Bereich des Ermittlungs- und Strafverfah-
rens maßgebliche EU-Richtlinie wurde mit dem neuen
Bundesdatenschutzgesetz zwar umgesetzt, aber das er-
setzt keinesfalls die bereichsspezifischen, datenschutz-
rechtlichen Regelungen in der Strafprozessordnung
selbst . Soll es wirklich 17 verschiedene Rechtsverord-
nungen von Bund und Ländern dazu geben?
Gerade die besondere Sensibilität des Umgangs mit
höchstpersönlichen Daten von Beschuldigten, Zeugen
und Nebenklägern und das durch Digitalisierung und
neue Zugangs- und Verbreitungsmöglichkeiten geschaf-
fene Gefahrenpotenzial für Grund- und Verfahrensrechte
erfordern eine besondere Sorgfalt im Gesetzgebungsver-
fahren . Die sehe ich hier aber nicht, im Gegenteil .
Sie zäumen das Pferd von hinten auf und schaffen ge-
setzliche Tatsachen ohne Rücksicht darauf, ob die Um-
setzung überhaupt leistbar und verantwortbar ist .
Auch für den elektronischen Rechtsverkehr gilt: Erst
müssen wir die Risiken beherrschen, bevor wir das Sys-
tem umstellen und uns in neue Abhängigkeiten begeben .
Solange dies nicht gewährleistet ist, werden wir einer
gesetzlichen Umstellungspflicht nicht zustimmen.
Anlage 11
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des E-Government-Gesetzes (Tagesord-
nungspunkt 28)
Marian Wendt (CDU/CSU): Mit dem heute zu be-
schließenden Open-Data-Gesetz veröffentlichen wir die
Datenbestände der unmittelbaren Bundesverwaltung als
Open Data . Dies ist der erste große Schritt zu einer all-
gemeinen Öffnung der Datenschätze in Deutschland . Der
Bund ist damit Vorbild für alle Länder und Kommunen,
die zwar teilweise schon eigene Projekte zur Veröffent-
lichung der Verwaltungsdaten haben, welche aber noch
nicht ausreichend gut koordiniert und vereinheitlicht
sind .
Daten werden zu Recht häufig als das neue Öl be-
zeichnet . In Ländern, die bereits eine etablierte Strate-
gie zur Veröffentlichung ihrer jeweiligen Datenschätze
haben, zeigt sich, wie groß der aus ihnen zu schöpfende
Nutzen sein kann . Großbritannien hat mit seiner umfas-
senden Initiative, alle Regierungsdaten offenzulegen, be-
reits einen großen Mehrwert für seine Bürger geschaffen .
Die britische Regierung schätzt den positiven Effekt auf
über 1 Prozent des Bruttoinlandsproduktes ein; das ist ein
dreistelliger Milliardenbetrag .
Welche Daten wie genutzt werden können und welche
Daten nicht, ist im Vorhinein nur sehr schwer abschätz-
bar . Das macht eine selektive Strategie bei der Veröffent-
lichung von Daten sehr schwer . Der Schlüssel dazu, wirt-
schaftlichen Nutzen zu stiften, liegt darin, die gesamte
Bandbreite aller möglichen Daten freizugeben .
Natürlich geschieht dies mit der Voraussetzung, dass
Datenschutz sowie sicherheits- und urheberrechtliche In-
teressen mitbedacht sind . Sie müssen stets Teil der Er-
wägungen zu Open Data sein . Mit dem Verweis auf die
Einschränkungsgründe für die Veröffentlichung im In-
formationsfreiheitsgesetz haben meine Kollegen und ich
eine gute, abwägende Lösung gefunden, die bereits in der
Praxis erprobt ist .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 201723792
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Dass kleine und neue Unternehmen, also Start-ups,
durch den wesentlich vereinfachten Informationszu-
gang einen leichteren Marktzutritt bekommen, finde ich
besonders wichtig . Große, etablierte Unternehmen wie
Google oder Amazon haben bereits große Datenbasen,
aus denen sie schöpfen können . Neue Unternehmen mit
innovativen Ideen haben jetzt die Möglichkeit, aus dem
Datenstroh sprichwörtlich Gold zu spinnen .
Die Anlehnung des Open-Data-Gesetzes an die zehn
Prinzipien der Sunlight Foundation, die meine Kollegin-
nen und Kollegen der CDU/CSU-Fraktion auch in un-
serem Thesenpapier zu Open Data aufgegriffen haben,
ist ein richtiger Schritt . Dieses Gesetz orientiert sich an
international anerkannten und mittlerweile in verschiede-
nen Ländern erprobten Grundprinzipien für Open Data .
Diese sind im Übrigen auch von der Enquete-Kommis-
sion „Internet und digitale Gesellschaft“ des Deutschen
Bundestages in der vergangenen Wahlperiode für ein
Open-Data-Gesetz empfohlen worden .
Der breite Konsens, der in der politischen Debatte in-
nerhalb und außerhalb des Bundestages herrscht, stimmt
mich zuversichtlich . Open Data benötigt aber auch einen
Kulturwandel in den Verwaltungen . Einen Kulturwandel
weg von den Verwaltungen mit Herrschaftswissen, weg
von dem Gedanken „Da könnte ja jeder kommen“ . Mit
Open Data kann jeder kommen und die Daten nutzen .
Das ist gerade der Schlüssel . Experimentieren, auspro-
bieren und dann sinnvolle Möglichkeiten finden, die Da-
ten zu nutzen – da liegt ein Schlüssel zu Open Data .
Aber es muss auch einen Wandel geben, was die Aus-
stattung von Verwaltungen und deren Arbeit angeht . Nur
ein Wechsel von Papier auf elektronische Dokumen-
te reicht nicht . Es muss auch ein umfassender Wandel
einsetzen in der Frage, wie Verwaltungen arbeiten . Der
vielfach bewährte Grundsatz des Förderns und Forderns
könnte auch in diesem Zusammenhang die nötigen An-
reize bieten . Die Digitalisierung der Verwaltungen – das
zeigt der kürzlich veröffentlichte Evaluierungsbericht
zum Regierungsprogramm 2020 – ist noch nicht weit ge-
nug fortgeschritten .
In Zeiten eines scheinbar wachsenden Misstrauens in
den Staat und seine Organe wird Open Data zu mehr Ver-
trauen in den Staat führen . Entscheidungen werden nach-
vollziehbarer . Willkür wird ein Riegel vorgeschoben, und
dies kann den Menschen glaubwürdig gezeigt werden .
Verwaltungshandeln, das durch offenliegende Entschei-
dungsgrundlagen nachvollziehbarer und transparenter
ist, fördert auch innerhalb der Verwaltungen die Anrei-
ze zu mehr Sorgfalt und Genauigkeit . Bürger können so
besser beteiligt werden und haben die Möglichkeit, eben
ohne großen bürokratischen Aufwand Entscheidungen in
Eigenregie zu hinterfragen . Dies steigert die Legitimität
unseres staatlichen Handelns erheblich .
Dabei ist klar festzuhalten: Ein neues Informations-
freiheitsgesetz ist das Open-Data-Gesetz nicht . Es geht
nicht um den Rechtsanspruch des Einzelnen gegenüber
der Verwaltung in ausgewählten Verwaltungsverfahren,
sondern eben um die große und zusammenhängende Ver-
öffentlichung von Daten der Verwaltung . Daten sind in
diesem Sinne die erhobenen Rohdaten, die in einem Ver-
waltungsvorgang als Entscheidungsgrundlage dienten
oder dienen, nicht aber der Vorgang selbst .
In den Debatten der vergangenen Wochen ist klar ge-
worden, dass Deutschland in Bezug auf die Veröffentli-
chung von Verwaltungsdaten jetzt einen großen Schritt
braucht . Diesen Schritt gehen meine Kollegen und ich
mit diesem Gesetz . Ich persönlich freue mich auf die
innovativen Ideen, die das Leben der Menschen in un-
serem Land lebenswerter und besser machen . Ideen, die
nachhaltig Werte schaffen werden . Denn im Grunde ist
Open Data genau dies: eine Strategie, wirtschaftliches
Handeln der Menschen zu ermöglichen, das vorher eben
nicht möglich war .
Saskia Esken (SPD): In einem Gesetzentwurf der
SPD-Fraktion aus dem Jahr 2013 heißt es: „Transpa-
renz ist konstitutiv für den demokratischen und sozialen
Rechtsstaat . Transparenz stärkt die demokratischen Be-
teiligungsrechte der Bürgerinnen und Bürger, erleichtert
Planungsentscheidungen, wirkt Staatsverdrossenheit ent-
gegen und erschwert Manipulationen und Korruption .“
Mit der Offenlegung von Daten der Verwaltung und
mit der Transparenz ihres Handelns, also mit den Pro-
jekten um Open Data und Open Government, verfolgen
wir zentrale innenpolitische Projekte der digitalen Agen-
da, die die Bundesverwaltung modernisieren und für die
Gesellschaft öffnen .
Die SPD-Bundestagsfraktion will das Recht der Bür-
gerinnen und Bürger auf Informationsfreiheit seitens
der Verwaltung weiterentwickeln . Wir wollen, dass die
Verwaltung ihr Wissen nicht auf Anfrage, sondern pro-
aktiv und lesbar für Menschen und Maschinen öffentlich
macht, sodass jeder und jede darauf zugreifen kann . Wir
wollen also einen Rechtsanspruch auf offene Daten, auf
Open Data .
Diese Transparenz ist gut für die Bevölkerung, da sie
ohne die Mühe des Antragstellens auf Verwaltungsdaten
zugreifen kann . Die Transparenz signalisiert den Bürge-
rinnen und Bürgern, dass der Staat keine Geheimnisse
vor seinem Auftraggeber, dem Volk, hat . Die Transpa-
renz wirkt sich aber auch für die Verwaltung positiv aus,
denn sie muss nur einmal gründlich überlegen: Eignet
sich diese Information zur Veröffentlichung, oder unter-
liegt sie einem Ausnahmetatbestand, zum Beispiel dem
Datenschutz?
Die Transparenz und der freie Zugang zum Wissen der
Verwaltung können zu neuen, nützlichen Anwendungen
führen, die wir uns heute noch gar nicht vorstellen kön-
nen: ein Stadtplan, der Pollenkonzentrationen anzeigt,
aus Verkehrsdaten zusammengestellte Routenplaner für
Fahrradwege in Großstädten oder eine Zusammenfüh-
rung der Wartelisten aller Kitas in einem Bezirk – der
Fantasie sind da keine Grenzen gesetzt, ebenso wenig
wie dem gesellschaftlichen Mehrwert .
Ich freue mich deshalb, dass die Koalition nach lan-
gem Warten noch in dieser Legislaturperiode den Ent-
wurf eines Open-Data-Gesetzes als Änderung des
E-Gov ernment-Gesetzes zur Beratung eingebracht hat .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 23793
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Leider konnten wir uns mit unserem Koalitionspartner
nicht auf einen einklagbaren Rechtsanspruch auf Open
Data verständigen . Das Gesetz enthält nun aber in einem
ersten Schritt die Verpflichtung der unmittelbaren Bun-
desbehörden, ihre Daten proaktiv der Allgemeinheit zur
Verfügung zu stellen .
In den parlamentarischen Beratungen ist es uns darü-
ber hinaus gelungen, den Gesetzentwurf zu verbessern .
Wir haben den Katalog der Ausnahmetatbestände, die
die Veröffentlichung der Daten verhindern, auf das Nö-
tige beschränkt . Er entspricht jetzt dem Ausnahmekata-
log aus dem Informationsfreiheitgesetz . Damit sorgen
wir für Einheitlichkeit und Rechtsklarheit; denn es wäre
widersinnig, wenn die Behörden Daten nicht offenlegen
müssten, die sie dann aber auf Verlangen nach dem Infor-
mationsfreiheitsgesetz herausgeben müssten .
Auch ist es uns gelungen, die Verpflichtung für die
Offenlegung der Daten festzuschreiben, die vor Inkraft-
treten des Gesetzes erhoben worden sind, sofern diese
bereits in elektronischer Form vorlagen und verwendet
wurden .
Es ist uns mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ein
großer Schritt in Richtung offener Verwaltungsdaten
gelungen, doch wir wollen uns auf diesem Gesetz nicht
ausruhen . Ich erwarte insbesondere, dass uns die Evalua-
tion des Gesetzes zur Weiterentwicklung hin zu einem
Rechtsanspruch auf Open Data führen wird . Der rich-
tige Regelungsstandort wäre unserer Auffassung nach
das Informationsfreiheitsgesetz, das die SPD zu einem
Informationsfreiheits- und Transparenzgesetz weiterent-
wickeln will . Ich würde mich sehr freuen, wenn uns dies
in der nächsten Legislaturperiode gelänge .
Sebastian Hartmann (SPD): Mit der Änderung des
E-Government-Gesetzes beschließen wir heute das ers-
te bundesweite Open-Data-Gesetz . Damit setzen wir ein
Vorhaben um, das die SPD im Koalitionsvertrag durch-
setzen konnte und worauf wir lange gedrängt haben:
ein Gesetz, das die unmittelbaren Bundesbehörden zur
Bereitstellung offener Daten in einheitlichen maschinen-
lesbaren Formaten und unter freien Lizenzbedingungen
anhält . Das ist ein großer Schritt im Sinne einer nutzer-
freundlichen und transparenten öffentlichen Verwaltung,
der nach dem von der rot-grünen Bundesregierung im
Jahr 2005 auf den Weg gebrachten Informationsfreiheits-
gesetz aber auch notwendig geworden ist . Bereits damals
hat sich die SPD als Vorreiter darangemacht, die Behör-
den transparenter zu gestalten, und auch heute ist es die
SPD, die vorangeht in dem Bestreben nach einer effizien-
ten und offenen Bundesverwaltung . Denn offene Daten
sind heute mehr denn je von nicht zu unterschätzender
Bedeutung für die Innovationskraft der Wirtschaft und
mehr Teilhabe für interessierte Bürgerinnen und Bürgern .
Offene Daten ermöglichen Impulse für Innovationen und
liefern neue Geschäftsmodelle für Unternehmen .
In der ersten Lesung zur Änderung des E-Govern-
ment-Gesetzes hatte ich einige Punkte des Regierungsent-
wurfes angesprochen, bei denen noch Nachbesserungsbe-
darf bestand . Gemeinsam mit den Unionskollegen haben
wir nun substanzielle Verbesserungen erreicht . So wird
der Übergangszeitraum für die Behörden der unmittelba-
ren Bundesverwaltung für die erstmalige Bereitstellung
der Daten von drei auf zwei Jahre begrenzt . Zudem sind
nun nicht nur die Daten bereitzustellen, die nach dem
Inkrafttreten erhoben wurden . Auch maschinenlesbare
Rohdaten, die bereits vor dem Inkrafttreten des Gesetzes
entstanden sind, aber weiterhin oder erneut verwendet
werden, sind nun in dem Gesetz mit eingefasst . Vor al-
lem haben wir die verschiedenen Ausnahmeregelungen
auf den bereits bestehenden und in den Verwaltungen
bekannten Katalog des Informationsfreiheitsgesetzes be-
schränkt . Ausgenommen sind solche Daten, die Persön-
lichkeitsrechte betreffen, Belange der äußeren oder inne-
ren Sicherheit berühren sowie den Schutz des geistigen
Eigentums und des Betriebs- und Geschäftsgeheimnisses
Dritter verletzen . Dadurch, dass wir auf den Ausnahme-
katalog des IFG verweisen, geben wir den Mitarbeiterin-
nen und Mitarbeitern in den Verwaltungen eine klare und
bereits bekannte Regelung an die Hand und machen es
nicht komplizierter, als unbedingt notwendig .
Es gibt noch weitere Punkte, die wir explizit in die
Evaluation aufgenommen haben, da sie für eine zukünf-
tige Weiterentwicklung des Open-Data-Gesetzes zu prü-
fen sind . Die Erweiterung des Anwendungsbereiches auf
mittelbare Bundesbehörden, unter anderem die Bundes-
agentur für Arbeit oder der Einbezug von Forschungs-
daten, sind Aspekte, die wir genau prüfen werden . Aber
nun haben wir einen ersten Schritt getan, und das Gesetz
bietet schon heute in Verbindung mit dem vorliegenden
Änderungsantrag eine große Chance für einen echten
Schub der Digitalisierung Deutschlands .
Wir haben uns in weiten Teilen mit unserem Anliegen
einer modernen und transparenten Verwaltung durchset-
zen können . Für einen umfassenden Rechtsanspruch und
eine Umkehr des Regel-Ausnahme-Verhältnisses werden
wir uns auch weiterhin einsetzen . Das Open-Data-Gesetz
sehe ich als einen entscheidenden Schritt auf dem Weg zu
einem modernen und umfassenden Transparenzgesetz, in
dem das Informationsfreiheitsgesetz, das Open-Data-Ge-
setz und weitere Gesetze zu Auskunftsrechten gegenüber
Bundesbehörden zusammengefasst werden . Dafür setzt
sich die SPD-Bundestagsfraktion weiterhin ein . Aber
nun stimmen wir dem vorliegenden Gesetzentwurf zu
und nehmen damit einen wichtigen Schritt auf dem Weg .
Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Als ich hier vor nicht
allzu langer Zeit zur ersten Lesung des vorliegenden Ge-
setzes geredet habe, habe ich Kritik sowohl im großen
Ganzen als auch an einzelnen Details geübt . Mit Blick
auf die Änderungen, die die Koalition noch am Entwurf
vorgenommen hat, kann ich feststellen: Die Kritik im
Detail scheint an vielen Stellen angekommen zu sein, die
größeren Probleme bleiben bestehen .
Es ist zu begrüßen, dass jetzt einige sinnlose Beschrän-
kungen wegfallen sollen, die im ursprünglichen Entwurf
für die Veröffentlichung offener Daten vorgesehen wa-
ren . Das betrifft einige Ausnahmeregelungen, die über
jene des Informationsfreiheitsgesetzes hinausgehen, die
Anwendung auf in der Vergangenheit erhobene Datensät-
ze und die begrenzte Zuständigkeit der Beratungsstelle .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 201723794
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Aber größere Lücken bleiben bestehen . Insbesondere
wird das Gesetz weiterhin nur Behörden der unmittel-
baren Bundesverwaltung zur Bereitstellung von Daten
verpflichten. Dass Sie jetzt diesen Punkt noch einmal ex-
plizit in den Evaluationsauftrag aufnehmen – wie auch
die Ausnahme für zu Forschungszwecken erhobene Da-
ten –, ist reine Kosmetik . Denn natürlich sollte von einer
Evaluation zu erwarten sein, dass sie sämtliche Einzelre-
gelungen in den Blick nimmt .
Evaluationsaufträge ersetzen aber keinen politischen
Willen . Entweder will man durch die öffentliche Hand
erhobene Daten in möglichst großem Umfang der Allge-
meinheit zur Verfügung stellen – oder eben nicht .
Andere große Lücken verbleiben im Gesetzentwurf
und fehlen nun auch in der Liste der zu evaluierenden
Fragen . Insbesondere sollen weiterhin keine Daten ver-
öffentlicht werden, die die öffentliche Verwaltung selbst
betreffen, also etwa keine offenen Haushaltsdaten oder
Daten über Zuwendungen . Auch soll es nach wie vor kei-
nen durchsetzbaren rechtlichen Anspruch auf die Veröf-
fentlichung geben .
Daraus wird die diesem Gesetz zugrunde liegende
Linie deutlich sichtbar: Offene Daten werden hier aus-
schließlich als wirtschaftlicher Faktor gesehen, und da-
ran hat auch der Änderungsantrag an keiner Stelle etwas
bewegt . Auch wenn das ein wichtiger Aspekt ist, wäre es
ein großer Fehler, die Potenziale offener Daten für die
Demokratie zu ignorieren .
Offene Daten können dazu beitragen, Informations-
gefälle zwischen Politik und Öffentlichkeit abzubauen .
Sie können eine Grundlage nicht nur für wirtschaftliche
Verwertung, sondern auch für politische Beteiligung und
zivilgesellschaftliches Engagement sein .
Um dieses Ziel tatsächlich zu erreichen, führt kein
Weg daran vorbei, gesetzlich ein umfassendes, im Ein-
zelfall durchsetzbares Recht auf die Veröffentlichung
von Informationen zu schaffen . Dazu brauchen wir die
Weiterentwicklung des Informationsfreiheitsgesetzes zu
einem echten Transparenzgesetz, wie es mehrere Bun-
desländer schon vorgemacht haben .
Ein überzeugender Schritt in diese Richtung ist der
vorliegende Gesetzentwurf nicht . Aber selbst als reines
Open-Data-Gesetz überzeugt es nur begrenzt . Da das
Thema nicht erst seit gestern auf der Agenda steht, hätte
man hier mehr erwarten können . Als Fazit am Ende der
Legislaturperiode bleibt festzustellen: Den tatsächlichen
Übergang zur Öffnung der staatlichen Datenbestände,
der sich mit dem Begriff Open Data verbindet, hat diese
Bundesregierung nicht in die Wege gebracht .
Dieter Janecek (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es
kommt vielleicht nicht ganz überraschend am Ende einer
Regierungsbilanz, die im Bereich der Digitalpolitik vor
allem durch Kompetenzstreitigkeiten und ein Wirrwarr
an Zuständigkeiten geprägt war und in der wir von we-
nig ambitionierten Visionen – ich sage nur: 50 Mbit pro
Sekunde – und handwerklich schlechten Gesetzen – ich
sage nur: Störerhaftung – beileibe genug gesehen haben:
Auch im Bereich der offenen Daten springt die Große
Koalition einmal mehr zu kurz .
Besonders enttäuschend – und da spreche ich sicher
nicht nur für meine Fraktion – war in dieser Hinsicht
auch Ihr Änderungsantrag, sehr geehrte Damen und Her-
ren der Großen Koalition . Nachdem Ihr Gesetzentwurf
von verschiedensten Seiten aus in der Kritik stand, gera-
de auch vonseiten der Fachszene und der Fachverbände,
hätten nicht nur wir uns von Ihrem Änderungsantrag noch
ein paar grundsätzliche Nachbesserungen erhofft . Diese
sind leider ausgeblieben . Geringfügige Verbesserungen
wie beispielsweise die Verkürzung der Übergangsfrist
zur Bereitstellung von Daten durch die Behörden bei
unverhältnismäßig hohen Aufwänden von drei auf „nur“
zwei Jahre und eine – wenn auch nur partiell geltende –
Rückwirkung bei der Bereitstellung bereits vor dem In-
krafttreten des Gesetzes erhobener Daten können nicht
darüber hinwegtäuschen, dass keine der offensichtlichen
und überfälligen Stellschrauben angegangen wurde . Im
Gegenteil erweitern Sie in Ihrem Änderungsantrag auch
noch die Ausnahmevoraussetzungen unter Bezugnahme
auf das elf Jahre alte Informationsfreiheitsgesetz .
Offene Daten haben – da sind wir uns ja alle einig –
eine enorme Bedeutung für Mitbestimmung, Teilhabe,
Transparenz und nicht zuletzt auch für die Kontrolle der
öffentlichen Verwaltung durch Bürgerinnen und Bürger,
und – das möchte ich an dieser Stelle auch noch einmal
explizit erwähnen – sie leisten einen wichtigen Beitrag,
um das Informationsungleichgewicht zwischen öffentli-
cher Verwaltung und Gesellschaft zu verringern .
Zugleich haben sie einen großen Wert für alle, die aus
diesen Informationen mehr machen, als es die Behörden
mit ihren begrenzten Ressourcen tun können und sollten .
Also für die, die kreativ sind, querdenken, mittels neu-
er Auswertungen, Anwendungen und Verknüpfung mit
anderen Daten zusätzliches Wissen generieren, Prozesse
vereinfachen oder zusätzliche Angebote schaffen, die uns
allen zugutekommen .
Es hätte sich also wirklich sehr ausgezahlt, mutiger
zu sein in diesem Gesetzentwurf . Durch eine umfassen-
de Berücksichtigung der Datenbestände nicht nur der
Bundesbehörden, sondern auch der öffentlichen Stiftun-
gen und Körperschaften hätten Sie zeigen können, dass
Deutschland nicht vorhat, bei Open Government weiter-
hin auf den hinteren Plätzen der Industrienationen zu ver-
harren . Sie hätten zeigen können, dass es ein Ziel dieser
Regierung ist, eine transparente, bürgerfreundliche und
leistungsstarke digitale Verwaltung zu etablieren, die kei-
ne Angst davor hat, in ihrem Verwaltungshandeln einer
informierten Bewertung der Bürgerinnen und Bürger zu
unterliegen . Sie hätten mit modernen Datenschutzstan-
dards und deren konsequenter Berücksichtigung im Zuge
der Prozesse der Bereitstellung offener Daten beweisen
können, dass für Datenschutz und IT-Sicherheit auch in
deutschen Behörden höchste Ansprüche gelten, anstatt
sich hier auf elf Jahre alte Standards zu verlassen, die aus
einer Zeit stammen, in der mit dem Begriff „Big Data“
noch niemand etwas anzufangen wusste . Und nicht zu-
letzt hätten Sie der Zivilgesellschaft und der Wirtschaft
auf Grundlage der mit ihren Steuergeldern erhobenen
Daten ein echtes Angebot machen können für moderne,
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 23795
(A) (C)
(B) (D)
innovative und auf hohen Datenschutzstandards basie-
rende neue und kreative Anwendungen und Dienstleis-
tungen .
Meine Damen und Herren der Großen Koalition, Sie
hätten hier die Gelegenheit zu einer wirklichen Reform
und dem Vorlegen eines echten und umfassenden Trans-
parenzgesetzes gehabt . Diese Chance haben Sie verge-
ben . Wir können Ihrem Gesetzentwurf deshalb so nicht
zustimmen .
Dr. Ole Schröder, Parl . Staatssekretär beim Bun-
desminister des Innern: Mit dem vorgelegten Gesetzent-
wurf werden rund 300 Behörden des Bundes verpflichtet
werden, ihre Daten für den Bürger zu öffnen . Mit der
Regelung wird ein Paradigmenwechsel eingeleitet . Die
Offenlegung erklären wir zum Standard . Die Nichtveröf-
fentlichung wird fortan zur Ausnahme .
Open Data, das heißt die Bereitstellung von Datenbe-
ständen zur freien Verwendung, ist ein Thema, das sich
international, aber vor allem auch in Europa rasant wei-
terentwickelt . Die Bundesregierung geht nun innerhalb
von Deutschland voran .
Mit der Erklärung zur Teilnahme an der internatio-
nalen Open Government Partnership hat die Bundesre-
gierung im vergangenen Dezember bekräftigt, dass sie
mehr Offenheit anstrebt . Solch ein Kulturwandel ist je-
doch nicht einfach zu erwirken und kann nicht von oben
verordnet werden . Man muss diesen Wandel schrittweise
herbeiführen .
Dieses Gesetz bildet eine Rechtsgrundlage für die
Veröffentlichung von Daten und macht dies zugleich
zur öffentlich-rechtlichen Aufgabe . Ganz bewusst ist im
Gesetz die Evaluierung der Regelung vorgesehen . So
verpflichtet sich die Bundesregierung, die erzielten Wir-
kungen mit den Absichten zu vergleichen . Das eröffnet
die Möglichkeit, je nach Entwicklung Anpassungen vor-
zunehmen und das Thema weiterzuentwickeln .
Sicherlich wird es bei der Umsetzung des Gesetzes
Herausforderungen geben . Die Verwaltungskultur wan-
delt sich nicht automatisch, nur weil ein neuer Geset-
zestext existiert . Es wird stark auf die Vermittlung von
Wissen und auf geeignete Beratung ankommen, um den
Open-Data-Gedanken in der Verwaltung zu vertiefen .
Das Gesetz sieht daher die Einrichtung einer Beratungs-
stelle vor, die diesen Wissensaufbau begleiten und gestal-
ten soll . Hier wird der Veränderungsprozess koordiniert
und das Thema insgesamt weiterentwickelt .
Hinzu kommt, dass die Beratungsstelle nun auch als
Ansprechstelle für die Länder dienen soll . Bereits in der
ersten Lesung hat die Bundesregierung darauf hingewie-
sen, dass Open Data nur dann erfolgreich werden kann,
wenn alle Ebenen an einem Strang ziehen . Das kann aber
nicht von einer einzigen Beratungsstelle organisiert wer-
den . Hier ist letztlich auch jeder Einzelne gefragt, die
Botschaft in seinen Wahlkreis zu tragen und für ein ge-
meinsames Vorgehen zu werben .
Die Gelegenheit ist günstig: Der Bundesrat hat in
seiner Stellungnahme die Initiative der Bundesregie-
rung ausdrücklich begrüßt . Zudem hat die Ministerprä-
sidentenkonferenz beschlossen, dass auch die Länder
Open-Data-Gesetze erlassen werden . Diesen Schwung
müssen wir nutzen, um Open Data weiter voranzubrin-
gen .
Mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt
eine wichtige Grundlage für mehr einheitliches Open
Data in Deutschland vor . Ich bitte Sie daher, das Thema
gemeinsam zu unterstützen und dem Gesetzentwurf zu-
zustimmen .
Anlage 12
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Dr. André Hahn (DIE LINKE)
zu der Abstimmung über den von der Bundesregie-
rung eingebrachten Entwurf eines Ersten Gesetzes
zur Änderung des E-Government-Gesetzes (Tages-
ordnungspunkt 28)
Ich enthalte mich bei diesem Gesetzentwurf aus fol-
genden Gründen:
Der Vorstoß, eine „Open Data“-Regelung für von
Bundesbehörden erhobene Rohdaten zu schaffen, ist
vor allem durch einen behaupteten wirtschaftlichen
Nutzen in Milliardenhöhe motiviert, nicht durch Trans-
parenzziele . Es gibt daher auch keinen Rechtsanspruch
von Bürgerinnen und Bürgern auf die von öffentlichen
Stellen erhobenen Daten und damit, anders als im Infor-
mationsfreiheitsgesetz (IFG), auch keine Einklagbarkeit .
Gegenüber dem Informationsfreiheitsgesetz werden so-
gar zusätzliche Ausnahmetatbestände geschaffen . Für die
betroffenen Verwaltungen ist keine angemessene perso-
nelle Verstärkung zur Umsetzung der Vorgaben des Ge-
setzentwurfs vorgesehen .
Die Linke sieht deshalb im Ausbau des IFG hin zu ei-
nem Transparenzgesetz den deutlich besseren Weg, die
Ziele von „Open Data“ zu verwirklichen . Anstelle müh-
samer Kleinarbeit der Bürgerinnen und Bürger, für ihr
Anliegen die jeweils zuständigen Stellen zu finden und
mit kostenpflichtigen Anträgen zur Herausgabe von In-
formationen zu bewegen, stünde dann eine weitgehende
Veröffentlichungspflicht der Behörden.
Die Koalition hat zu ihrem Änderungsantrag eine er-
gänzte Fassung vorgelegt . Sie enthält – im Übrigen ohne
jeden Sachbezug – eine weitere Änderung, mit der die
Frist zur Beantragung von Entschädigung nach dem Do-
pingopferhilfegesetz um ein Jahr verlängert werden soll .
Diese Änderung findet meine ausdrückliche Zustim-
mung, auch wenn eine gänzliche Streichung der Frist die
bessere Lösung wäre .
Allerdings wird es dem Leid der Opfer des Dopings in
der DDR nicht gerecht, diese Fristverlängerung in einem
völlig sachfremden Änderungsantrag zu verstecken .
Zudem fehlt im Gesetz über eine finanzielle Hilfe für
Dopingopfer weiterhin die Öffnung gegenüber Opfern
von systematischem Sportdoping in der alten Bundesre-
publik bezüglich einer vergleichbaren finanziellen Unter-
stützung .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 201723796
(A) (C)
(B) (D)
Aus den angeführten Gründen enthalte ich mich bei
der Abstimmung zum Ersten Gesetz zur Änderung des
E-Government-Gesetzes .
Anlage 13
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– des von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Ände-
rung personenstandsrechtlicher Vorschriften
(2. Personenstandsrechts-Änderungsgesetz –
2. PStRÄndG)
– des von den Abgeordneten Volker Beck (Köln),
Ulle Schauws, Monika Lazar, weiteren Abge-
ordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Anerkennung der selbst bestimm-
ten Geschlechtsidentität und zur Änderung
anderer Gesetze (Selbstbestimmungsgesetz –
SelbstBestG)
(Tagesordnungspunkt 29 und Zusatztagesord-
nungspunkt 7)
Thorsten Hoffmann (Dortmund) (CDU/CSU): Ge-
setze, die nur punktuell verbessert und optimiert werden
müssen, sind mir am liebsten . Einmal sehen wir, dass das
Gesetz im Prinzip genau richtig ist . Es funktioniert . Aber
die Praxis ist oft unberechenbar . Ein guter Gesetzgeber
weiß das, und er weiß auch, dass er deshalb Gesetze über-
prüfen, auswerten und gegebenenfalls anpassen muss .
Beim Personenstandsrechts-Änderungsgesetz ist ge-
nau dies der Fall . Wir haben 2009 eine sinnvolle und
dringend notwendige Modernisierung des Personen-
standsrechts durchgeführt . Jetzt passen wir es an, damit
es noch näher am Bürger und noch näher an unserem
Zeitgeist ist .
Einmal mussten wir vor acht Jahren, wie bei so vie-
len Änderungen, den modernen technischen Anforderun-
gen gerecht werden . Deshalb wurden die behördlichen
Verfahren dem technologischen und gesellschaftlichen
Wandel angepasst . Besonders in der Praxis führte das zu
optimierten Arbeitsabläufen .
Mit der Änderung der personenstandsrechtlichen Vor-
schriften in Form des Personenstandsrechts-Änderungs-
gesetzes soll die Entwicklung der vergangenen Jahre in
diesem Bereich fortgeführt werden . Wir haben gesehen,
dass einzelne Punkte in der Praxis noch nicht optimal
funktionieren . Deshalb werden wir mit dem Personen-
standsrechts-Änderungsgesetz speziell Regelungslücken
und noch vorhandene Schwachstellen in den Arbeitspro-
zessen der Standesämter beheben .
Eine weitere sinnvolle Anpassung ist die Entlastung
des Standesamtes 1 in Berlin . Hierzu wird die Zustän-
digkeit für die Beurkundung von Personenstandsfällen
und Namenserklärungen von Deutschen im Ausland auf
die regionalen Wohnsitzstandesämter verlagert, wenn
der Betroffene einen früheren Wohnsitz im Inland hat-
te . Auch die Entgegennahme namensrechtlicher Erklä-
rungen, für die kein inländischer Personenstandseintrag
besteht, wird Aufgabe der lokalen Standesämter . Das soll
nicht dazu führen, dass das Standesamt I in Berlin in Zu-
kunft ohne Arbeit dasteht . Es soll auch nicht dazu führen,
dass andere Standesämter mit Arbeit überflutet werden.
Es soll einfach gerechter aufgeteilt werden .
Dies führt aber nicht nur zu der nötigen Entlastung der
dortigen Standesbeamten, sondern auch zu einem deut-
lich optimierten und deshalb auch schnelleren Bearbei-
tungsverfahren . Für die im Ausland lebenden Deutschen
ist die Beantragung der hier betroffenen Beurkundungen
in Zukunft auch kein (großer) zeitlicher Aufwand mehr .
Die zweite große Anpassung ist diejenige, bei der es
um den Bereich der Vornamen geht . Wir alle kennen das
aus unserem Bekannten-, Freundes- oder Verwandten-
kreis . Da bekommen die Kinder nicht immer nur einen
Vornamen, sondern gerne zwei oder drei . Die werden
dann kombiniert oder aneinandergereiht . Da heißt dann
die Emilie nicht nur Emilie, sondern Emilie Rosa . Und
vielleicht möchte sie sich irgendwann einmal entschei-
den, wie sie genannt wird: ob Emilie oder Rosa oder bei-
des .
Die Anpassung der Gesetzgebung an die gesellschaft-
liche Entwicklung spiegelt sich in diesem Entwurf in der
Möglichkeit, die Reihe der Vornamen in Zukunft per An-
trag beim Standesamt selbst bestimmen zu können, wi-
der . Hiermit werden wir verhindern, dass zum Beispiel
Versicherungen, Banken, Fluggesellschaften etc . den im
Alltag ungebräuchlichen Vornamen vor allem im pos-
talischen Verkehr verwenden . Das kenne ich nur zu gut .
Da denkt man sich, wenn man einen Katalog oder einen
Werbebrief eines Nachbarn sieht, schon dann und wann
mal: Ach, so heißt der . – Und dann trifft man ihn, kommt
zum Du und merkt auf einmal, dass er gar nicht so heißt,
wie es auf dem Brief steht, weil er eben seit der Schulzeit
schon immer den zweiten Namen zum Rufnamen hatte .
Und das soll eben jeder selbst am besten wissen, was der
Rufname ist und was für ein Name auf dem Brief stehen
soll . Dies ist ein wichtiger Schritt, um die betroffenen
Bürger in ihrer Individualität und freien Bestimmung der
eigenen Lebensweise zu unterstützen .
Einen letzten Punkt spreche ich noch an: Die Verlän-
gerung der Fortführungsfrist der Sterbefallbeurkundung
auf 80 Jahre für Sterbefälle in ehemaligen Konzentrati-
onslagern bedarf in der Regel keiner ausführlichen Be-
gründung . Viele Schicksale der Vermissten sind nicht
geklärt, sodass auch die Arbeit des Sonderstandesamts
in Bad Arolsen im Sinne der Hinterbliebenen noch lange
nicht getan ist .
Neben der Optimierung der Beurkundungsmodali-
täten und dem damit einhergehenden Bürokratieabbau
kann mit Einsparungen von etwa 406 000 Euro gerechnet
werden . Geringe Kosten und kürzere Wartezeiten sind
Indiz einer modernen Verwaltung, die mit dieser Ände-
rung geschaffen werden soll . Und der Verbraucher muss
mit keinen zusätzlichen Kosten rechnen .
Alles in allem sind die Änderungen des Personen-
standsrechtsgesetzes angebracht und werden zu positiven
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 23797
(A) (C)
(B) (D)
Entwicklungen führen . Ich bitte deshalb um Ihre Zustim-
mung .
Dr. Tim Ostermann (CDU/CSU): Die Dokumentati-
on der familienrechtlichen Verhältnisse erfolgt nach den
Vorschriften des Personenstandsgesetzes ausschließlich
durch den Standesbeamten . Er beurkundet die Perso-
nenstandsfälle (Eheschließungen, Begründungen von
Lebenspartnerschaften, Geburten und Sterbefälle) in den
von ihm geführten Personenstandsregistern (Heiratsre-
gister, Lebenspartnerschaftsregister, Geburtenregister
und Sterberegister) .
Die Vorschriften für die Beurkundung des Personen-
stands sind durch das Gesetz zur Reform des Personen-
standsrechts vom 19 . Februar 2007 neu geregelt worden .
Das Reformgesetz ist am 1 . Januar 2009 in Kraft getre-
ten und enthält als Kernelement vor allem die Beurkun-
dung in elektronisch geführten Personenstandsregistern,
die nach einer Übergangszeit von fünf Jahren seit dem
1 . Januar 2014 obligatorisch ist . Nähere Ausführungs-
vorschriften, insbesondere auch zu den technischen
Vorgaben zur Durchführung der elektronischen Perso-
nenstandsregistrierung und des elektronischen Datenaus-
tausches, wurden in der Verordnung zur Ausführung des
Personenstandsgesetzes geregelt, die ebenfalls am 1 . Ja-
nuar 2009 in Kraft trat .
Mit dem Gesetz zur Änderung personenstandsrechtli-
cher Vorschriften vom 7 . Mai 2013 wurden erste Erfah-
rungen der Standesämter und Rechenzentren mit dem
neuen Recht und der Anwendung der elektronischen
Prozesse in das Personenstandsgesetz und die Perso-
nenstandsverordnung übernommen . Inzwischen liegen
weitere Erfahrungswerte aus der standesamtlichen Praxis
vor, die eine Anpassung des personenstandsrechtlichen
Regelungswerks erforderlich machen .
Der vorliegende Gesetzentwurf beseitigt Schwach-
stellen und Regelungslücken in den personenstandsrecht-
lichen Vorschriften . Auf Grundlage der Empfehlung des
Bundesrates sowie des Berichtes und der Beschlussemp-
fehlung des Innenausschusses werden entsprechende Än-
derungen vorgenommen, die seit der ersten Reform des
Personenstandsrechts im Jahr 2009 notwendig geworden
sind .
Ich möchte beispielhaft auf zwei wesentliche Punkte
eingehen:
Der Entwurf erweitert die Zuständigkeit des Wohn-
sitzstandesamts für die Nachbeurkundung von Geburten,
Eheschließungen, Lebenspartnerschaften und Sterbefäl-
len von Deutschen, die im Ausland leben . Bislang war
allein das Standesamt I in Berlin für diese Fälle verant-
wortlich . Zur Verkürzung von Wartezeiten wird künftig
die Zuständigkeit auf die regionalen Wohnsitzstandesäm-
ter verlagert, wenn der Betroffene einen früheren Wohn-
sitz in Deutschland hat . Gerade die begrenzte Zahl der
Fälle führt nach unserer Ansicht nicht zu einer übermä-
ßigen Belastung einzelner Standesämter, weshalb wir an
dieser Änderung festhalten werden .
Darüber hinaus eröffnet das Gesetz betroffenen Per-
sonen zukünftig die Möglichkeit, die Reihenfolge ihrer
Vornamen durch eine Erklärung vor dem Standesamt neu
zu bestimmen . Damit wird verhindert, dass zum Beispiel
Fluggesellschaften oder Banken anstatt des Rufnamens
den in der Vornamensreihenfolge im Ausweisdokument
stehenden ersten Namen verwenden . Die noch geltende
Regelung führt bei den Betroffenen häufig zu Unmut, da
im Alltag oft nicht der Rufname Verwendung findet.
Ich denke, dass wir mit dieser Reform des Personen-
standsrechts die Schwachstellen, die seit der letzten Re-
form verblieben sind, beseitigen können . Deswegen wer-
be ich um Zustimmung zu dem Gesetzentwurf .
Teil dieser Debatte ist auch der Gesetzentwurf von
Bündnis 90/Die Grünen zur Anerkennung der selbst be-
stimmten Geschlechtsidentität und zur Änderung anderer
Gesetze . Das Transsexuellengesetz soll nach Vorstellung
der Grünen durch ein Selbstbestimmungsgesetz ersetzt
und einzelne Paragrafen des Personenstandsrechts im
Hinblick auf selbst bestimmte Geschlechtsidentität ge-
ändert werden . Der Gesetzentwurf wird nun an den In-
nenausschuss überwiesen . Die weiteren Beratungen im
parlamentarischen Verfahren werden zeigen, ob die vor-
geschlagenen Änderungen sinnvoll sind .
Gabriele Fograscher (SPD): Das Personenstands-
recht regelt die Anzeige und Dokumentation famili-
enrechtlicher Verhältnisse gegenüber der zuständigen
Behörde, dem Standesamt . Beim Standesamt werden
Personenstandsfälle, also Eheschließungen, Begründun-
gen von Lebenspartnerschaften, Geburten und Sterbefäl-
le, in den dort geführten Personenstandsregistern beur-
kundet .
Zum 1 . Januar 2009 hatten wir das Personenstands-
recht umfassend reformiert . Schwerpunkte der Reform
waren: die Einführung elektronischer Personenstands-
register anstelle der bisherigen papiergebundenen Per-
sonenstandsbücher, die Begrenzung der Fortführung der
Personenstandsregister durch das Standesamt sowie die
Abgabe der Register an die Archive, die Ersetzung des
Familienbuchs durch Beurkundungen in den Personen-
standsregistern, die Reduzierung der Beurkundungsdaten
auf das für die Dokumentation des Personenstandes er-
forderliche Maß, die Neuordnung der Benutzung der Per-
sonenstandsbücher sowie die Schaffung einer rechtlichen
Grundlage für eine Testamentsdatei .
2013 gab es einige technische und redaktionelle Ände-
rungen aufgrund einer Evaluierung des Gesetzes . Geän-
dert wurde auch die Regelung zum Geschlechtseintrag .
Seit dem 1 . November 2013 gilt die Regelung: Wenn ein
Kind weder dem weiblichen noch dem männlichen Ge-
schlecht zugeordnet werden kann, kann auf diese Angabe
im Geburtenregister verzichtet werden .
Mit dem heute vorliegenden Entwurf eines Zwei-
ten Gesetzes zur Änderung personenstandsrechtlicher
Vorschriften beschließen wir weitere Verbesserungen .
Beurkundungsmodalitäten werden optimiert und ange-
passt . Die Praxis hat gezeigt, dass es bei Beurkundungen
durch das Standesamt I Berlin zu sehr langen Wartezeiten
kommt . Das Standesamt I Berlin ist das sogenannte Aus-
landsstandesamt der Bundesrepublik Deutschland . Seine
Aufgaben sind vielfältig . Dazu gehören unter anderem:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 201723798
(A) (C)
(B) (D)
Beurkundung von Geburten und Sterbefällen Deut-
scher ohne Inlandswohnsitz, die sich im Ausland ereig-
net haben;
Beurkundung von im Ausland geschlossenen Ehen
und Lebenspartnerschaften Deutscher ohne Inlands-
wohnsitz;
Beurkundung von Geburten und Sterbefällen auf deut-
schen Seeschiffen;
Ausstellung von Ehefähigkeitszeugnissen für Deut-
sche, die niemals einen Inlandswohnsitz hatten;
Ausstellung von Bescheinigungen über die Namens-
führung von Ehegatten, Lebenspartnern und Kindern;
Führung der Konsular- und Kolonialregister;
Führung der beim ehemaligen Standesamt I Berlin
(Ost) sowie von den Auslandsvertretungen der DDR in
der Zeit von 1948 bis 1990 angelegten Personenstands-
bücher;
Führung von deutschen Standesamtsregistern ehema-
liger besetzter Gebiete;
Führung des sogenannten Wehrmachtfamilienbuchs
(Einträge zu im Ausland geschlossenen Ehen von Ange-
hörigen der ehemaligen deutschen Wehrmacht) .
Um das Standesamt I Berlin zu entlasten und Bearbei-
tungszeiten zu verkürzen, werden künftig die ehemaligen
Wohnsitzstandesämter für Deutsche im Ausland für die
Beurkundungen von Personenstandsfällen und Namens-
erklärungen zuständig .
Personen, die mehrere Vornamen haben, deren erster
Vorname aber nicht der Rufname ist, bekommen von vie-
len Einrichtungen wie Banken oder Versicherungen Post,
in denen meist nur der erste Vorname in der Anschrift
steht, aber nicht der Rufname . Das führt oftmals zu Irri-
tationen . Deshalb regelt das Gesetz, dass erstmals Perso-
nen die Reihenfolge ihrer Vornamen per Erklärung beim
Standesamt ändern können . Damit wird ermöglicht, dass
der gebräuchliche Vorname als Erstes in den Ausweis-
dokumenten steht und nicht ein Name, der im täglichen
Leben nicht gebräuchlich ist .
Seit Jahren mahnen meine Fraktion und ich eine No-
vellierung des Transsexuellengesetzes von 1980 an .
Mehrere Vorschriften dieses überholten und nicht mehr
der Lebenswirklichkeit entsprechenden Gesetzes sind
inzwischen vom Bundesverfassungsgericht als verfas-
sungswidrig eingestuft und somit als nicht anwendbar
erklärt worden .
Leider konnten wir unseren Koalitionspartner nicht
überzeugen, hier Änderungen herbeizuführen . Das wer-
den wir dann in der nächsten Wahlperiode in einer ande-
ren Konstellation machen müssen .
Deshalb begrüße ich es umso mehr, dass die Bundes-
regierung eine Anregung des Bundesrates aufgenommen
hat und wir als Koalitionsfraktionen diesen Vorschlag in
unseren Änderungsantrag aufgenommen haben .
Wir werden § 3 Transsexuellengesetz – Verfahrensfä-
higkeit, Beteiligte – ändern . Das bisherige Recht schreibt
vor, dass für Verfahren nach diesem Gesetz ein Vertreter
des öffentlichen Interesses beteiligt werden muss . Diese
Vertreter sind per Rechtsverordnungen der Landesregie-
rungen entweder die Staatsanwaltschaften bei Land- oder
Oberlandesgerichten oder bestimmte Behörden der In-
nenverwaltung .
Aufgrund der steigenden Anzahl der Verfahren hat der
Verwaltungsaufwand stark zugenommen . Da aber die
Einwirkungsmöglichkeiten des Vertreters des öffentli-
chen Interesses sehr gering sind, kann durchaus auf diese
Institution verzichtet werden .
Da wir als SPD-Bundestagsfraktion bereits mehrfach
Versuche unternommen haben, das Transsexuellengesetz
zu reformieren, begrüßen wir den Gesetzentwurf von
Bündnis 90/Die Grünen . Viele Ideen, die dieser Gesetz-
entwurf enthält, finden unsere Unterstützung.
Inzwischen gibt es auch einen Antrag des Landes
Rheinland-Pfalz, dem Brandenburg, Bremen und Thü-
ringen beigetreten sind . Dieser fordert die Aufhebung
des Transsexuellengesetzes sowie die Erarbeitung eines
Gesetzes zur Anerkennung der Geschlechtsidentität und
zum Schutz der Selbstbestimmung bei der Geschlechter-
zuordnung .
Gerne hätten wir in dieser Legislaturperiode Verbes-
serungen für die betroffenen Menschen geschaffen, doch
leider macht da unser Koalitionspartner mal wieder nicht
mit . Ich unterstütze ausdrücklich die Aussage von Heiko
Maas, dass es mit der SPD nur einen Koalitionsvertrag
geben wird, der die Ehe für alle beinhaltet, und füge
hinzu: Es wird auch nur einen Koalitionsvertrag mit uns
geben, der eine Modernisierung des Transsexuellenge-
setzes vorsieht .
Petra Pau (DIE LINKE): Wir debattieren heute ab-
schließend über einen Gesetzentwurf der Koalition zu ei-
nigen Änderungen im Personenstandsrecht und in erster
Lesung über einen Entwurf der Grünen für ein Gesetz zur
Anerkennung der selbst bestimmten Geschlechtsidenti-
tät .
Zunächst zum Gesetzentwurf der Koalitionsfraktio-
nen . Der Gesetzentwurf enthält im Nachgang zur vor-
angegangenen größeren Änderung des Personenstands-
rechts der 16 . Wahlperiode ein paar kleinere Änderungen,
die insbesondere auf die Bedürfnisse von Deutschen im
Ausland und Personen, die im Alltag ihren zweiten Vor-
namen gebrauchen und dies auch im Behördenverkehr
und bei Beurkundungen tun wollen, stärker Rücksicht
nehmen wollen . Beispielsweise müssen Anträge auf Per-
sonenstandsurkunden vom Ausland aus zukünftig nicht
mehr beim Standesamt I Berlin gestellt werden . Wer im
Ausland lebt und vorher in Deutschland gemeldet war,
kann zukünftig bei der regional zuständigen Meldebe-
hörde Urkunden beantragen . Mit einem Änderungsan-
trag wurden hierzu noch Übergangsregelungen ergänzt,
die für die Verwaltungsabläufe wichtig sind . Das sind
alles kleine, aber sinnvolle Verbesserungen für die Bür-
gerinnen und Bürger, die wir begrüßen . Wir werden dem
Gesetzentwurf daher zustimmen .
In eine ganz andere Richtung geht der Gesetzentwurf
der Grünenfraktion zur Anerkennung der selbst bestimm-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 23799
(A) (C)
(B) (D)
ten Geschlechtsidentität . Dadurch soll das derzeit gelten-
de Transsexuellengesetz ersetzt werden .
Auch die Linke sieht die Probleme beim geltenden
Transsexuellengesetz . Daher begrüßen wir, das The-
ma noch einmal ernsthaft anzugehen und zu überlegen,
wie wir die Bedürfnisse von Trans- und Intersexuellen
und Transgender besser berücksichtigen können . Leider
kommt der Gesetzentwurf nun etwas kurz vor knapp;
eine wirklich gründliche Beratung wird angesichts von
drei verbleibenden Sitzungswochen schwierig .
Worum geht es genau? Uns allen erscheint es voll-
kommen normal, dass uns ab Geburt ein bestimmtes
Geschlecht zugeschrieben wird, männlich oder weiblich .
Einen entsprechenden Eintrag gibt es in Personenstands-
urkunden, im Personalausweis und im Reisepass . Nun
gibt es Menschen, die sich dem Geschlecht in ihrem Per-
sonalausweis nicht mehr zurechnen und die dann gern
ihren Vornamen und den entsprechenden Eintrag ändern
wollen . Das ist bislang nur möglich, wenn zuvor hohe
Hürden genommen werden . Schon für eine Änderung
des Vornamens brauchen die Betroffenen nach derzei-
tiger Rechtslage ein psychologisches Gutachten . Wer
seinen Geschlechtseintrag und den Vornamen ändern
lassen will, muss sich also medizinisch befunden lassen .
Damit werden die betroffenen Menschen weiterhin als
irgendwie abnormal bis krank behandelt . Dieser Um-
gang stammt noch aus einer Zeit, als Transsexualität im
Wesentlichen als psychiatrische Störung gesehen wurde .
Gerade angesichts der zunehmenden rechten Hetze ge-
gen sexuelle Vielfalt sind wir als Gesetzgeber gefragt,
hier ein deutliches Zeichen zu setzen .
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Die Rechte von Transpersonen sind Menschenrechte .
Und das muss sich auch in unserem Recht widerspiegeln .
Der heute vorliegende Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung zur Änderung personenstandsrechtlicher Vor-
schriften vereinfacht die Änderung der Reihenfolge von
Vornamen . Diesen liberalen Geist wünsche ich mir von
Union und SPD auch dann, wenn es um Transpersonen
geht . Der Gesetzentwurf vereinfacht das Verfahren zur
Personenstandsänderung für Transpersonen ein kleines
bisschen, indem die nach bisherigem Recht vorgeschrie-
bene Beteiligung des Vertreters des öffentlichen Interes-
ses entfällt . Beteiligte des Verfahrens sind also nur noch
die Antragstellenden . Das ist eine Minimaländerung und
kein großer Wurf . Dabei gibt es personenstandsrechtlich
einigen Nachbesserungsbedarf, dem man nicht durch mi-
nimales Herumdoktern am Transsexuellengesetz gerecht
wird .
Schauen Sie sich das Transexuellengesetz einmal an:
Es ist über 30 Jahre alt, und viele Einzelbestimmungen
wurden mittlerweile durch das Bundesverfassungsge-
richt in insgesamt sechs Urteilen für verfassungswidrig
erklärt . Das Gesetz liegt in Trümmern . Zwei wissen-
schaftliche Gutachten aus diesem Jahr, von der Bundes-
vereinigung Trans* und vom Lehrstuhl für Öffentliches
Recht und Geschlechterstudien an der Humboldt-Univer-
sität zu Berlin, kommen zum gleichen Ergebnis: Es gibt
dringenden Reformbedarf!
Das Transsexuellengesetz baut unbegründete Hürden
für die Änderung des Vornamens und die Feststellung
der Geschlechtszugehörigkeit auf . Transpersonen, die ih-
ren Personenstand ändern wollen, müssen Zeit und Geld
investieren, um zwei Gutachten bei Gericht vorlegen zu
können, die ihre sexuelle Identität „bescheinigen“ . Was
für ein Unsinn! Niemand außer den Betroffenen selbst
kann Auskunft über das Geschlecht geben . Sexuelle
Identität lässt sich nicht diagnostizieren . Alle Menschen
haben ein Recht darauf, dass ihre Geschlechtsidentität re-
spektiert wird . Wer im Laufe des Lebens feststellt, dass
das bei der Geburt zugewiesene Geschlecht nicht der tat-
sächlichen Geschlechtsidentität entspricht, dem steht es
zu, dass seine Identität anerkannt wird .
Deshalb haben wir Grüne heute einen neuen Gesetz-
entwurf vorgelegt: das Selbstbestimmungsgesetz . Ein
neues Gesetz muss den Respekt für die Identität der Men-
schen in den Mittelpunkt stellen . Das Recht ist schließ-
lich für die Menschen da und nicht umgekehrt! Die An-
erkennung der selbst bestimmten Geschlechtsidentität ist
ein Menschenrecht . Wenn der Staat schon darauf besteht,
das Geschlecht seiner Bürgerinnen und Bürger zu regis-
trieren, dann sollen sie das frei und unkompliziert selbst
bestimmen dürfen . Andere Länder machen es vor, zum
Beispiel Argentinien, Malta, Dänemark, Irland, Norwe-
gen . Allesamt sind sie weiter als Deutschland!
Das Selbstbestimmungsgesetz soll das Verfahren zur
Änderung der Vornamen und zur Anpassung der Ge-
schlechtszugehörigkeit vereinfachen . Beides soll nur
noch vom Geschlechtsempfinden des Antragstellenden
abhängig sein . Statt entwürdigender Gutachten zur Ge-
schlechtsfeststellung und Verfahren vor dem Amtsgericht
sollen Vornamen- und Personenstandsänderung im Rah-
men eines einfachen Verwaltungsaktes beim Standesamt
erfolgen . Denn geschlechtliche Identität kann man nicht
diagnostizieren . Lediglich Betroffene können darüber
kompetent Auskunft geben .
Mit Vollendung des 14 . Lebensjahres sollen die-
se Vorgänge auch ohne das Mitwirken eines gesetzli-
chen Vertreters möglich sein . Ab diesem Alter misst
die Rechtsordnung Minderjährigen die Fähigkeit bei,
Verantwortung für Entscheidungen zu übernehmen . Das
muss auch für identitätsbezogene Entscheidungen gelten .
Beratungen sollen über mögliche Folgen aufklären . Hier
ist die Bundesregierung in der Pflicht, Beratungsstellen
auszubauen .
Nach einer Personenstandsänderung muss es den Be-
troffenen möglich sein, eine Ehe in eine Lebenspartner-
schaft zu überführen oder umgekehrt . Dadurch werden
Zwangsoutings vermieden, solange die Lebenspartner-
schaft noch nicht durch die Ehe für alle überwunden ist .
Das Offenbarungsverbot, also das Verbot, die Eintra-
gungsänderung ohne berechtigtes rechtliches Interesse
auszuforschen oder zu offenbaren, soll verschärft wer-
den . Betroffene müssen vor Behörden und Unternehmen
durchsetzen können, Unterlagen und Zeugnisse entspre-
chend ihrer Geschlechtsidentität ausgestellt zu bekom-
men .
Wir brauchen eine Politik, die vom Respekt der ge-
schlechtlichen Identität und Vielfalt der Menschen aus-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 201723800
(A) (C)
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geht anstatt von irgendwelchen Normalitätsvorstellun-
gen, denen sich der Mensch zu unterwerfen hat . Unser
Vorschlag für ein Selbstbestimmungsgesetz stellt die
Selbstbestimmung und die Würde des Menschen in den
Mittelpunkt .
Anlage 14
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ein-
führung eines Anspruchs auf Hinterbliebenen-
geld
– des von den Abgeordneten Katja Keul, Renate
Künast, Luise Amtsberg, weiteren Abgeordne-
ten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Gesetzes über die Entschädi-
gung für Opfer von Gewalttaten (Opferentschä-
digungsgesetz – OEG)
(Tagesordnungspunkt 30 a und b)
Alexander Hoffmann (CDU/CSU): Wenn ein
Mensch durch fremdes Verschulden zu Tode kommt,
dann muss der Rechtsstaat darauf eine Reaktion folgen
lassen . Diese Reaktion ist gerade für die Hinterbliebenen
unglaublich wichtig. Sie finden sich und ihre schwere,
schier unerträgliche Situation im Rechtsstaat anerkannt .
Der Staat reagiert auf zwei Wegen: zum einen über
das Strafrecht . Hier geht es um Sanktion, um Schuld und
Sühne . Der zweite Weg ist das Zivilrecht . Hier geht es
um die Frage, inwieweit der Schmerz, das Leid der An-
gehörigen durch Schmerzensgeld Anerkennung erfahren
kann . Dabei sind wir uns alle einig, dass Geld einen sol-
chen Verlust niemals wird aufwerten können .
Bei selbstkritischer Betrachtung müssen wir fest-
stellen, dass gerade auf der zivilrechtlichen Seite eine
Regelungslücke besteht . Der bayerische Justizminister
Winfried Bausback hat das sehr zutreffend umschrieben:
Wenn ein junges Ehepaar das Kind auf dem Schulweg
durch einen Verkehrsunfall mit dem Fahrrad verliert, hat
der Staat zur Antwort, dass er den Verlust des Fahrrades
ausgleicht – durch Schadensersatz –, aber nicht den Ver-
lust des Kindes in Form von Schmerzensgeld .
Die Voraussetzungen, welche die Rechtsprechung für
Schmerzensgeld infolge eines Schockschadens von An-
gehörigen formuliert, sind sehr hoch . Es muss zu einer
Beeinträchtigung des körperlichen Wohlbefindens von
einigem Gewicht und einiger Dauer kommen . Die bloße
Trauer genügt dafür nicht .
Deshalb war es gerade der CSU ein Anliegen, die Be-
seitigung dieser Regelungslücke in den Koalitionsvertrag
hineinzuverhandeln . Als dann in den Folgemonaten aus
dem Bundesministerium für Justiz und Verbraucher-
schutz keinerlei Vorschläge unterbreitet wurden, brachte
Bayern bereits im Jahr 2015 einen entsprechenden Ge-
setzentwurf in den Bundesrat ein .
Der vorliegende Entwurf schließt die Gesetzeslücke
und stellt den Schmerzensgeldanspruch der Hinterblie-
benen in das Ermessen des Gerichts .
Zum Schluss möchte ich noch einige Sätze über den
Antrag von Bündnis 90/Die Grünen verlieren . Mir ist
schon wichtig, dass wir parteiübergreifend den Hand-
lungsbedarf im Opferentschädigungsgesetz erkannt
haben . Bereits vor dem Anschlag in Berlin hat das zu-
ständige Ministerium mit umfassenden Reformüberle-
gungen im Entschädigungs- und Schadensersatzrecht
begonnen . Es handelt sich hier um eine komplexe Mate-
rie mit vielen inneren Zusammenhängen . Daher wäre es
nicht richtig, eine Einzelfrage nun vorab herauszulösen
und isoliert zu entscheiden . Ich glaube, es ist verantwor-
tungsbewusst, die umfassende, konsistente und in sich
schlüssige Gesamtreform abzuwarten . Allerdings bitte
ich die Opposition auch darum, nicht immer wieder den
Eindruck zu erwecken, als stünden die Verletzten durch
Autoattacken schutzlos da . Der Entschädigungsfonds der
Verkehrsopferhilfe verfügt allerdings über eine Decke-
lung von 7,5 Millionen Euro, die beseitigt werden muss .
Dr. Hendrik Hoppenstedt (CDU/CSU): Heute kön-
nen wir endlich den Gesetzentwurf zur Einführung ei-
nes Hinterbliebenengeldes abschließend beraten und
beschließen . Dieser Gesetzentwurf stützt sich auf den
Koalitionsvertrag, in den die Union dieses Vorhaben hi-
neinverhandelt hat .
Wie bei vielen anderen unserer Punkte stand die
Einführung eines Hinterbliebenengeldes auf der Prio-
ritätenliste von Bundesjustizminister Heiko Maas nicht
oben . Aus diesem Grund hat es bedauerlicherweise fast
vier Jahre gedauert, bis wir heute das Gesetz beschließen
können .
Menschen, die einen nahen Angehörigen durch Ver-
schulden eines Dritten verloren haben, sollen als Zeichen
der Anerkennung ihres seelischen Leids einen eigenstän-
digen Schmerzensgeldanspruch bekommen, der sich in
das deutsche System des Schadensersatzrechts einfügt .
Anders als andere europäische Rechtsordnungen sieht
das deutsche Haftungsrecht bislang kein Hinterbliebe-
nengeld oder Angehörigenschmerzensgeld vor . Nur bei
sogenannten Schockschäden werden neben den materi-
ellen Schäden auch die immateriellen Folgen ersetzt . Bei
diesen wird ein am Geschehen an sich unbeteiligter Drit-
ter durch das Miterleben oder die Benachrichtigung über
den Tod nach einem Unfall psychisch so stark belastet,
dass dieser Schock selbst Krankheitswert hat . Dann hat
der Verursacher den Dritten in dessen eigener Gesundheit
verletzt . Dafür müssen nach ständiger Rechtsprechung
die medizinisch fassbaren Auswirkungen nach Art und
Schwere deutlich über die gesundheitlichen Beeinträchti-
gungen hinausgehen, denen nahe Angehörige bei Todes-
nachrichten erfahrungsgemäß ausgesetzt sind .
Bleibt der unmittelbar Verletzte am Leben, hat er der-
zeit Anspruch auf Ersatz sämtlicher Vermögens- und auch
Nichtvermögensschäden . Im Falle seines Todes können
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 23801
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die Angehörigen aber nur Ersatz der durch die Tötung
zugefügten Vermögensschäden fordern, wie Beerdi-
gungskosten und gegebenenfalls Unterhalt . Das heißt,
ein Schädiger steht im Falle der Tötung eines Dritten
wirtschaftlich besser da als bei einer Körperverletzung .
Das ist ein Wertungswiderspruch und nicht gerecht .
In der Anhörung wurde die Frage der Kommerziali-
sierung von persönlichem Leid problematisiert . Damit
haben wir uns selbstverständlich auch zuvor schon aus-
einandergesetzt . Deshalb sei noch einmal betont, dass es
nicht um die materielle Bewertung menschlichen Lebens
geht, sondern um eine symbolische Anerkennung seeli-
schen Leids .
Es ist nicht nachvollziehbar, dass der tiefe seelische
Schmerz, unter dem man ein Leben lang leidet, wenn
etwa das eigene Kind bei einem Unfall getötet wird, von
der deutschen Rechtsordnung bislang überhaupt nicht
anerkannt wird . Das gilt umso mehr, weil beispielswei-
se für entgangene Urlaubsfreude, Ehrverletzungen und
Kfz-Nutzungsausfall Entschädigung gezahlt werden
muss .
Während Hinterbliebene in Deutschland ihren Trau-
erschmerz nach einem solchen Schicksalsschlag bislang
entschädigungslos verarbeiten müssen, sehen andere
europäische Rechtsordnungen Ansprüche auf Angehöri-
genschmerzensgeld vor .
Selbstverständlich kann kein Geld der Welt die Trauer
über den Verlust eines geliebten Menschen wirklich aus-
gleichen . Das will und kann das Gesetz auch nicht . Der
Anspruch ist daher auf einen symbolischen Ausgleich
des Trauerschmerzes gerichtet . Damit setzt die Rechts-
gemeinschaft aber zugleich ein Zeichen der Solidarität
mit den Hinterbliebenen . So wird mit dem Hinterbliebe-
nengeld gezeigt, dass ein Tod mehr auslöst als Beerdi-
gungskosten und entgehenden Unterhalt .
Künftig wird ein Ersatzpflichtiger denjenigen Hinter-
bliebenen, die zur Zeit der Verletzung zu dem Getöteten
in einem besonderen persönlichen Näheverhältnis stan-
den, für das zugefügte seelische Leid eine angemessene
Entschädigung in Geld leisten müssen .
Der Kreis der Anspruchsberechtigten ist bewusst eng
gefasst, lässt aber auch die erforderliche Flexibilität . Das
besondere persönliche Näheverhältnis wird bei Ehegat-
ten, Lebenspartnern, Elternteilen oder Kindern vermu-
tet . Bei nichtehelichen Lebensgemeinschaften setzt der
Anspruch ein zwischen den Partnern bestehendes „be-
sonderes persönliches Näheverhältnis“ voraus, das dem
Verhältnis entspricht, das typischerweise zwischen Ehe-
gatten, Lebenspartnern sowie Eltern und Kindern besteht .
Über die konkrete Anspruchshöhe werden die Gerich-
te entscheiden . Diese werden berücksichtigen, dass für
den Anspruch kein Gesundheitsschaden nachgewiesen
werden muss und Ziel des Hinterbliebenengeldes ein
symbolischer Ausgleich ist . Dabei ist klar, dass sich die
Summen in das eher restriktive deutsche Schadensersatz-
recht einfügen müssen, um Wertungswidersprüche zu
vermeiden .
Auch in der Anhörung waren sich die Sachverstän-
digen einig, dass die künftig als Hinterbliebenengeld
gezahlten Beträge aufgrund Gesetzeszweck und Rege-
lungssystematik hinter den für Schockschäden zugespro-
chenen Summen zurückbleiben, das heißt niedriger sein
müssen als beispielsweise Schadensersatz für nachge-
wiesene Gesundheitsschäden .
Die anfänglich vom Koalitionspartner publizierten
Überlegungen, jedem anspruchsberechtigten Hinterblie-
benen könnten bis zu 60 000 Euro zustehen, waren rein
politisch motiviert und sind in der Sache völlig abwegig .
Sie finden in diesem Gesetz keine Grundlage. Wir als
Union wollen das gut austarierte deutsche Schadenser-
satzrecht nicht auf den Kopf stellen .
Zu Irritationen geführt hat die vom BMJV im Rahmen
der Gesetzesfolgenabschätzung skizzierte Berechnung
der weiteren Kosten, die lautet: „Angesichts der durch-
schnittlichen Beträge von etwa 10 000 Euro, die derzeit
von den Gerichten bei der Tötung eines Angehörigen als
Entschädigung für sog . Schockschäden, die über das ge-
wöhnliche Maß an Trauer und seelischem Leid hinausge-
hen, zugesprochen werden, ist mit jährlichen Gesamtkos-
ten durch die Zahlung von Hinterbliebenengeld von nicht
mehr als rund 240 Mio . Euro zu rechnen .“
Nachdem das BMJV zunächst aus bestimmten Grün-
den komplett auf Ausführungen zum Erfüllungsaufwand
und zu Kosten verzichten wollte, wurde dann im Ergeb-
nis „mit dem dicken Daumen“ auf der Grundlage der
Schockschadenrechtsprechung eine theoretische Maxi-
malsumme berechnet . Tatsächlich sollen die Summen
nach dem Willen des Gesetzgebers leicht unter denen der
Schockschadenrechtsprechung liegen .
Die CDU/CSU-Fraktion wollte schließlich im Rah-
men der parlamentarischen Beratungen eine Änderung
beim Zugewinnausgleich regeln und Schmerzens-
geldansprüche vom Zugewinnausgleich ausnehmen .
Entschädigungen für immaterielle Schäden sollen dem
Anfangsvermögen zugerechnet werden, denn sie sind
der höchstpersönlichen Sphäre eines Ehegatten zuzuord-
nen . Sie stehen gerade nicht im Zusammenhang mit der
ehelichen Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft . Gerade
beim Hinterbliebenengeld wird die enge Verbindung zum
persönlichen Schicksal des Geschädigten und zu dessen
sehr individuell empfundenen Trauer besonders deutlich .
Diese gehört nicht in den Zugewinnausgleich, denn der
andere Ehegatte wird regelmäßig nicht so mitbetroffen
sein, dass seine nachträgliche Beteiligung über einen
Zugewinnausgleich gerechtfertigt wäre . Deshalb hatte
auch der Rechtsausschuss des Bundesrates gefordert, das
Schmerzens- und Hinterbliebenengeld künftig aus dem
Zugewinnausgleich herauszunehmen .
Mit dem Koalitionspartner war das in der ablaufenden
Wahlperiode nicht mehr umsetzbar; deshalb werden wir
dies auf unsere Agenda für die kommende Wahlperiode
setzen .
Ich freue mich, dass wir fraktionsübergreifend dieses
Gesetz nun beschließen werden . Es ist für die Tausenden
von Angehörigen, die einen geliebten Menschen verloren
haben, ein Zeichen des Mitgefühls und der Anteilnahme
unserer Rechtsgemeinschaft .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 201723802
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Johannes Fechner (SPD): Wir freuen uns sehr,
dass wir nach intensiven und guten Beratungen, für die
ich allen Beteiligten danke, heute das parlamentarische
Verfahren abschließen und für Hinterbliebene eine ei-
gene zivilgesetzliche Anspruchsgrundlage für eine Ent-
schädigung schaffen .
Damit stehen wir den Hinterbliebenen zur Seite und
stellen klar: Das seelische Leid von Menschen, die einen
nahestehenden Menschen durch einen Unfall oder eine
Straftat verloren haben, wird künftig nicht mehr ohne
Anerkennung bleiben .
Der Tod eines nahestehenden Menschen ist der
schlimmste Verlust, den man sich vorstellen kann, und
wir werden das Leid der Hinterbliebenen nicht durch
Geld aufheben können . Aber zumindest ein Stück weit
kann das Leid von Hinterbliebenen durch eine Geldzah-
lung gelindert werden, und dafür ist im Bürgerlichen Ge-
setzbuch eine eigene Anspruchsgrundlage für Hinterblie-
bene erforderlich .
Es ist nach heutiger Rechtslage zu kompliziert und
zu schwierig für Angehörige von Todesopfern, nach den
von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes festge-
legten Grundsätzen Entschädigungszahlungen zu erlan-
gen . Denn nach heutiger Rechtslage haben Angehörige
nur dann einen Anspruch, wenn sie eine über das Maß
der normalen Trauer hinausgehende seelische Beein-
trächtigung nachweisen können . Dies gelingt nur selten .
Es war mir persönlich und der SPD-Fraktion deshalb
ein großes Anliegen, für die Angehörigen eine klare
Rechtsgrundlage für eigene Ansprüche zu schaffen, bei
denen die Hürden für eine Entschädigungszahlung nicht
derart hoch sind .
Deshalb wird das Bürgerliche Gesetzbuch künftig mit
dem neuen Absatz 3 des § 844 BGB den Personen einen
Entschädigungsanspruch gegen den Schädiger gewäh-
ren, die einen nahestehenden – nicht notwendigerweise
verwandten – Menschen durch eine Straftat oder einen
Unfall verloren haben .
Systematisch richtig ist der Anspruch im Gesetz im
Zusammenhang mit den Vorschriften über die Ansprüche
Dritter infolge unerlaubter Handlungen verortet .
Der Begriff „Hinterbliebene“ ist bewusst gewählt . Da-
mit sind auch Mitglieder von Patchwork-Familien oder
unverheiratete Partner erfasst . Wir haben uns gegen den
deutlich engeren Begriff der „Angehörigen“ entschie-
den . Denn Verwandtschaft allein sagt nichts über das
Näheverhältnis zweier Menschen aus . Dieses kann bei
nichtverwandten Menschen so eng sein, dass der Verlust
eines nahestehenden Menschen erheblichen seelischen
Schmerz auslöst . Beispielsweise kann ein unverheirate-
ter Partner dem Verstorbenen so nahegestanden haben,
dass wir ihm oder ihr zum Ausgleich seines seelischen
Leides einen eigenen Anspruch geben sollten . Umge-
kehrt besteht kein Bedürfnis, Familienangehörigen, die
schon über Jahre keinen Kontakt mehr miteinander ha-
ben, quasi automatisch und in jedem Fall einen Entschä-
digungsanspruch zu gewähren .
Wir haben uns daher für die Lösung entschieden, die
für nahe Familienangehörige ein Näheverhältnis vermu-
tet . Das wird in § 844 Absatz 3 Satz 2 BGB geregelt .
Diese gesetzliche Vermutung legt ein intaktes Familien-
verhältnis zugrunde und erspart den Hinterbliebenen, die
Existenz dieses Regelfalls darzulegen und gegebenen-
falls beweisen zu müssen . Die Betroffenen sollen damit
im Unglücksfall nicht noch belastet werden . Wenn dies
tatsächlich nicht der Fall ist, kann die Vermutung vom
Anspruchsgegner im Einzelfall widerlegt werden . Damit
können Fälle ausgeschlossen werden, in denen zwischen
den privilegierten Anspruchstellern und dem Opfer nur
noch ein formales familienrechtliches Band, aber mögli-
cherweise gar kein Kontakt mehr bestand .
Die gewählte Formulierung stellt also auf die indivi-
duellen Verhältnisse im Einzelfall ab und kommt so zu
ausgewogenen und angemessenen Lösungen .
Was die Höhe des Anspruchs angeht, so haben wir uns
dafür entschieden, diese Festlegung der Rechtsprechung
zu überlassen, die den Einzelfall beurteilen und dann
konkrete Summen festlegen kann .
Wir als SPD-Fraktion hätten uns vorstellen können,
in der Gesetzesbegründung Näheres zur Höhe des An-
spruchs zu regeln . Denn wir müssen vermeiden, dass
Hinterbliebene zwar eine eigene Anspruchsgrundlage ha-
ben, aber dann womöglich nur kleinere Beträge erhalten .
Dies wäre zum Beispiel mit der Vorgabe von Entschädi-
gungssummen oder Mindestsummen möglich gewesen .
Immerhin: Wir haben in der Gesetzesbegründung den
klaren Hinweis auf die bisherige deutsche und europä-
ische Rechtsprechung . Die Urteile, auf die in der Ge-
setzesbegründung verwiesen wird, sollen den Gerichten
als Orientierung dienen . In den Beispielsfällen wurden
Zahlungen von bis zu 25 000 Euro zugesprochen, was
als Mindestbetrag gelten sollte . Aus meiner Sicht könnte
sich diese Rechtsprechung durchaus dahin gehend entwi-
ckeln, dass höhere Beträge zugesprochen werden . Denn
ich finde, wenn wir schon eine Anspruchsgrundlage
schaffen, dann sollte auch gewährleistet sein, dass Zah-
lungen in angemessener Höhe mindestens im Umfang
der in der Gesetzesbegründung zitierten Rechtsprechung
erfolgen .
Dieser Lösungsweg wurde von den Sachverständi-
gen in der öffentlichen Anhörung im Rechtsausschuss
als gangbar beurteilt . Die Einzelfallbetrachtung hat den
Vorteil, dass das persönliche Leid, das bei jedem Hin-
terbliebenen unterschiedlich ausfällt, Grundlage für den
individuellen Entschädigungsanspruch ist . Deshalb ist
die Feststellung der konkreten Summen sehr gut bei den
Gerichten aufgehoben – der Gesetzgeber kann in allge-
meingültigen Regeln nur generell geltende Richtwerte
vorgeben .
Nicht zuletzt die Germanwings-Katastrophe hat uns
gezeigt, dass Hinterbliebene eine klare Rechtsgrundlage
und einen eigenen Rechtsanspruch auf Entschädigungs-
zahlungen haben müssen . Nach der Germanwings-Ka-
tastrophe mussten Angehörige in der schweren Zeit der
Trauer in komplizierte Verhandlungen eintreten . Es darf
nicht sein, dass Hinterbliebene in der schweren Zeit der
Trauer in ein unwürdiges Geschacher mit dem Schädiger
oder dessen Versicherungen eintreten müssen, nur weil
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 23803
(A) (C)
(B) (D)
eine klare Rechtsgrundlage fehlt . Dies wird ihrer Situati-
on nicht gerecht .
Künftig wird das nicht mehr vorkommen . Mit der neu-
en Regelung steht eine eindeutige Anspruchsgrundlage
im Gesetz, mit der sichergestellt ist, dass das Leid von
Hinterbliebenen durch eine Geldzahlung ein Stück weit
gelindert wird .
Natürlich können wir nicht verhindern, dass Ansprü-
che gegen den Täter oder den Unfallverursacher ins
Leere laufen, wenn der Täter oder Unfallverursacher
kein Vermögen hat . Wie etwa der Täter des schreckli-
chen Anschlages auf den Berliner Breitscheidplatz . Ich
möchte deshalb noch einmal ausdrücklich loben, dass die
Bundesregierung mit Kurt Beck einen Beauftragten der
Bundesregierung für die Anliegen der Opfer und Hinter-
bliebenen des Terroranschlages auf dem Breitscheidplatz
bestimmt hat, um die Entschädigung der Opfer dieses
schlimmen Anschlages zu gewährleisten . Nach meinem
aktuellen Kenntnisstand konnte allen Opfern bzw . deren
Hinterbliebenen geholfen werden .
Neben Leistungen des Härtefallfonds für Betroffene
und Hinterbliebene bei terroristischen Straftaten sowie
Leistungen der Verkehrsopferhilfe werden auch Leistun-
gen nach dem Opferentschädigungsgesetz zur Verfügung
gestellt . Eine Lücke im Opferentschädigungsgesetz,
die – wie von den Grünen gefordert – eine Änderung des
Gesetzes erforderlich macht, ist demnach nicht gegeben .
Tatsächlich würde eine Änderung der Rechtsnorm, wie
sie von den Initiatoren vorgeschlagen wird, statt zu bes-
seren Hilfsmöglichkeiten für Geschädigte nur zu einer
Entlastung der Versicherungswirtschaft führen und den
Steuerzahler mit den Kosten belasten . Dies wäre eine
Schieflage, die nicht gewollt sein kann.
Ich freue mich sehr, dass wir das Hinterbliebenengeld
einführen und damit für die Hinterbliebenen eine Grund-
lage für ihre Ansprüche schaffen, um ihr großes Leid zu-
mindest ein Stück weit zu lindern . In der Zeit der Trauer
werden ihnen künftig komplizierte Rechtsstreitigkeiten
um Anspruchsgrundlagen und ihnen letztlich zustehen-
de Entschädigungszahlungen erspart bleiben . Lassen Sie
uns diesem Gesetz mit breiter Unterstützung zustimmen!
Harald Petzold (Havelland) (DIE LINKE): Wir dis-
kutieren heute hier abschließend über Gesetzentwürfe
zur Einführung eines Anspruchs auf Hinterbliebenengeld
bzw . über Opferentschädigung . Dem sind viele, teilweise
wenig fruchtbare Debatten vorausgegangen, in denen die
Fraktionen der Großen Koalition ihr Nichtstun in dieser
wichtigen Frage verteidigt haben und auf der anderen
Seite die Opposition Druck machen musste, damit dann
im März dieses Jahres sowohl durch die Koalitionsfrak-
tionen als auch durch die Bundesregierung endlich ein
wortgleicher Vorschlag für die Regelung dieser wich-
tigen Frage vorgelegt worden ist . Dies war dann auch
der Beginn, den Gesetzentwurf der Bündnisgrünen im
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz endlich zu
behandeln . Sonst wäre wahrscheinlich auch dieser Ge-
setzentwurf immer noch im Stadium der Nichtbehand-
lung – wie die Gesetzentwürfe von Linken, Bündnisgrü-
nen und Bundesrat zur Öffnung der Ehe für Menschen
gleichen Geschlechts; wir haben darüber erst gestern
wieder hier sehr ausführlich diskutiert .
Bereits in meiner Rede zur ersten Lesung dieser Ge-
setzentwürfe habe ich betont, dass wir gesetzliche Re-
gelungen zur Einführung eines Anspruchs auf Hinter-
bliebenengeld für sehr wichtig halten und grundsätzlich
unterstützen . Denn mit diesen Gesetzen wird endlich da-
für gesorgt, dass Angehörige von Todesopfern fremdver-
schuldeter Straftaten Anspruch auf ein Schmerzensgeld
gegenüber den Verantwortlichen der Straftat haben . Bis-
her haben sie einen solchen Anspruch nämlich nur dann,
wenn sie im Falle des Todes eines nahen Angehörigen
durch eine fremdverschuldete Straftat eine eigene Ge-
sundheitsbeschädigung im Sinne unseres Bürgerlichen
Gesetzbuches erleiden . Dafür müssen sie psychische Be-
einträchtigungen medizinisch fassbar nachweisen kön-
nen, die über die gesundheitlichen Beeinträchtigungen
hinausgehen, denen Hinterbliebene im Todesfall erfah-
rungsgemäß ausgesetzt sind . Lediglich bei einem soge-
nannten Schockschaden konnte bisher Schadensersatz
eingefordert werden, darüber hinaus für materielle Schä-
den wie Beerdigungskosten, entgangenen Unterhalt oder
entgangene Dienste . Für ihr seelisches Leid erhielten die
Hinterbliebenen bisher keinerlei Entschädigung . Das
führte beispielsweise zu der absurden Situation, dass die
Hinterbliebenen der furchtbaren Flugzeugselbstmordka-
tastrophe der Germanwings die Hinterbliebenen auf den
Goodwill der Fluggesellschaft angewiesen waren, um für
ihr seelisches Leid eine Entschädigung zu erhalten .
Hinterbliebene sollen also künftig im Sinne einer An-
erkennung ihres seelischen Leids wegen der Tötung ei-
nes ihnen besonders nahestehenden Menschen von dem
hierfür Verantwortlichen eine Entschädigung verlangen
können . Das ist gut so und wird von der Linken vorbe-
haltlos unterstützt .
Bedauerlich finde ich, dass die Forderungen der Op-
ferverbände, wie zum Beispiel des Weißen Rings, keine
Berücksichtigung gefunden haben . Darum hatte ich Sie
in der ersten Lesung ausdrücklich gebeten . Damit wer-
den Angehörige von schwerstverletzten Opfern einer
fremdverschuldeten Straftat auch künftig leer ausgehen .
Ein wie vom Weißen Ring gefordertes Trauergeld für
Angehörige schwerstverletzter Opfer wird es also nicht
geben. Ihre lebenslange Aufopferung zur Pflege eines
schwerstverletzten nahen Angehörigen wird dadurch
genauso als eigener Schmerzensgeldanspruch unberück-
sichtigt bleiben wie ihr tagtägliches Konfrontiertsein mit
dem Leid des schwerstverletzten nahen Angehörigen .
Für die Linke sage ich hier: Dies ist nicht gerecht .
Letzten Endes beeinträchtigt dieser Mangel allerdings
die Bereitschaft meiner Fraktion Die Linke zur Zustim-
mung zu diesem Gesetz nicht .
Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir sind
uns hier alle einig, dass es künftig bei schuldhafter Tö-
tung einer Person für die Trauer und den Schmerz eines
nahen Angehörigen eine Entschädigung in Geld geben
soll . Gleiches soll bei Gefährdungshaftung, wie bei-
spielsweise bei Flugzeugabstürzen, gelten . Trotz dieser
Einigkeit im Parlament war diese Grundsatzfrage bis zu-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 201723804
(A) (C)
(B) (D)
letzt nicht unumstritten – und deshalb muss sie hier in der
Debatte noch einmal begründet werden .
Zunächst einmal fällt auf, dass ein solches Schmer-
zensgeld im internationalen Vergleich durchaus üblich
und Deutschland hier bislang einsame Ausnahme ist .
Warum also die Trauer in Italien oder in Frankreich be-
zifferbar ist, in Deutschland aber nicht, ist schon schwer
genug zu erklären .
Auch die Experten in der Anhörung waren über-
wiegend der Auffassung, dass ein solch immaterieller
Entschädigungsanspruch für eine Trauer unterhalb der
Schwelle eines medizinisch nachweisbaren Schockscha-
dens kein unüberwindbarer Systembruch oder gar eine
Abkehr von der Schuldrechtssystematik im BGB wäre .
Letztlich ist auch der medizinisch nachweisbare Verlust
eines Beines nur ein Indiz für das Leid und die Schmer-
zen, die mit dem Schmerzensgeld beziffert werden . Auch
in einem solchen Fall ist das Schmerzensgeld nicht dazu
da, das Bein zu ersetzen . Und auch für Todesangst wird
bereits nach jetziger Rechtslage ein Schmerzensgeld an-
erkannt, das im Falle des tatsächlichen Todes sogar an
die Angehörigen vererbt werden kann .
Für die nähere Ausgestaltung des Hinterbliebenen-
geldes gibt es allerdings unterschiedliche Optionen . Die
Expertenanhörung hat bestätigt, dass es sinnvoll ist, den
Kreis der Anspruchsberechtigten nicht formal festzule-
gen, also beispielsweise auf Ehegatten und Kinder . Das
würde zwar die Darlegungs- und Beweislast im Prozess
erheblich erleichtern, dafür aber sehenden Auges zu Un-
gerechtigkeiten im Einzelfall führen . So sind sehr enge
Näheverhältnisse außerhalb der Eltern-Kind-Beziehung
ebenso vorstellbar wie Eheleute, die ihre Ehe nur noch
formal aufrechterhalten . Dass in der Regel Angehörige
die Trauernden sind, kommt in der Vermutungsregel zum
Ausdruck . Trotzdem bleibt genügend Spielraum, um an-
dere Verhältnisse im Einzelfall zu berücksichtigen .
Weiteres Thema in der Anhörung war die Frage, ob
wir als Gesetzgeber die Anspruchshöhe im Gesetz näher
bestimmen sollten . So ist durchaus verständlich, dass ge-
rade die Haftpflichtversicherer gerne genauer wüssten,
auf was sie sich einstellen müssen . Es sprechen aber gute
Gründe dafür, es bei der „angemessenen Entschädigung
in Geld“ zu belassen . Zum einen machen feste Geldbe-
träge im Laufe der Jahre immer wieder Gesetzesanpas-
sungen erforderlich . Zum anderen ist davon auszugehen,
dass sich relativ schnell handhabbare Tabellen entwickeln
werden, wie es schon beim Schmerzensgeld der Fall war .
Die Rechtsprechung hat bereits bewiesen, dass sie in der
Lage ist, selbst Bemessungskriterien zu entwickeln, die
auch die erforderliche Rechtssicherheit schaffen werden .
Zuletzt ging es noch um die Frage, wo der neue An-
spruch systematisch anzusiedeln ist: im Schuldrecht
bei § 253 BGB oder – so wie es jetzt im Gesetzentwurf
steht – im Deliktsrecht bei § 844 BGB . Wir Grüne hätten
den Anspruch ja lieber im allgemeinen Schuldrecht, also
beim § 253 BGB gesehen, damit klargestellt ist, dass alle
Arten von Anspruchsgrundlagen – also auch die vertrag-
lichen – davon erfasst sind . Das Gegenargument, dass im
allgemeinen Teil nur die Ausgestaltung der Ansprüche
geregelt ist und das Hinterbliebenengeld als eigene neue
Anspruchsgrundlage deswegen in den besonderen Teil
gehöre, hat zugegebenermaßen auch etwas für sich . Die-
se kleine Uneinigkeit wird uns somit nicht daran hindern,
Ihrem Gesetzentwurf insgesamt unsere Zustimmung zu
geben . Immerhin waren wir es, die in dieser Legislatur
als Erstes Initiativen für die Einführung eines Hinterblie-
benengeldes vorgelegt hatten .
Wir haben heute aufgrund des Sachzusammenhanges
auch unseren Antrag zur Änderung des Opferentschä-
digungsgesetzes (OEG) zur zweiten Lesung vorgelegt .
Nach diesem Gesetz können Opfer von Gewalttaten
Leistungen bekommen, wenn beim Täter kein Schadens-
ersatz zu holen ist . So kann es bei schweren Verletzungen
beispielsweise eine lebenslange Rente geben .
Allerdings gilt dies aufgrund einer Ausnahmevor-
schrift nicht: wenn eine Gewalttat durch den Gebrauch
eines Kraftfahrzeuges verübt wurde . Dann soll nur der
Verkehrshilfefonds der Haftpflichtversicherer eintreten,
der aber nicht dieselben Leistungen gewährt wie das
Opferentschädigungsgesetz . Wir wollen, dass alle Opfer
von Gewalttaten künftig gleich behandelt werden, un-
abhängig davon, ob die Tatwaffe eine Schusswaffe, ein
Messer oder eben ein Kfz ist .
Und auch wenn Sie diesen Antrag heute ablehnen,
wird das Thema Opferentschädigung damit nicht zu
Ende sein . Dass es bei der Opferentschädigung weiter
gehenden Reformbedarf gibt und dies in der nächsten Le-
gislatur dringend wieder aufgerufen werden muss, steht
wohl außer Frage .
Gut ist es jedenfalls, dass wir das Hinterbliebenengeld
jetzt auf den Weg gebracht haben und heute hier gemein-
sam verabschieden .
Anlage 15
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Über-
einkommen vom 25. Oktober 2016 zur Errichtung
der Internationalen EU-LAK-Stiftung (Tagesord-
nungspunkt 31)
Dr. Andreas Nick (CDU/CSU): Die strategische
Partnerschaft zwischen der EU und der Staatengemein-
schaft Lateinamerikas und der Karibik (CELAC) wurde
1999 mit dem Ziel begründet, den Dialog beider Regio-
nen durch regelmäßige Gipfeltreffen zu vertiefen . Auch
wenn sich die Zusammenarbeit beider Regionen auf
politischem, wirtschaftlichem, kulturellem und wissen-
schaftlich-technologischem Gebiet seitdem verbessert
hat, bleibt festzustellen: Lateinamerika ist in unserer öf-
fentlichen Wahrnehmung in den letzten 20 Jahren eher in
den Hintergrund gerückt .
Die 2010 beschlossene Gründung der EU-Lateiname-
rika/Karibik-Stiftung soll diesem Trend entgegenwirken
und helfen, die strategische Partnerschaft mit neuem
Leben zu erfüllen . Diese ursprüngliche Gründung als
Stiftung nach deutschem Recht diente lediglich einer
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 23805
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(B) (D)
beschleunigten Arbeitsaufnahme . Von Beginn an war
es Konsens zwischen der Europäischen Union und den
Staaten Lateinamerikas und der Karibik, den biregiona-
len Charakter der Stiftung zu betonen . Im Oktober letzten
Jahres wurde daher beschlossen, sie in eine internationa-
le Organisation umzuwandeln .
Ziel der Stiftung ist es, den lateinamerikanisch-euro-
päischen Dialog zu stärken, das gegenseitige Verständnis
zu fördern und die politischen, wirtschaftlichen und wis-
senschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Regionen
unter Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Akteure wie
akademischer Einrichtungen weiter zu vertiefen . Be-
sonderer Wert wird darauf gelegt, dass die Stiftung der
Partnerschaft eine erhöhte Präsenz in der Öffentlichkeit
verleiht .
Die Bundesregierung hat sich erfolgreich dafür ein-
gesetzt, dass die Freie und Hansestadt Hamburg zum
Sitz bestimmt wurde . Hamburg hat durch internationalen
Handel und Schifffahrt seit Jahrhunderten gewachsene
historische Verbindungen nach Lateinamerika . Ende des
19 . Jahrhunderts verließen zahlreiche Auswanderer Eu-
ropa über den Hamburger Hafen in Richtung Südameri-
ka . Neben der Städtepartnerschaft mit León in Nicaragua
verdeutlichen die 20 konsularischen Vertretungen latein-
amerikanischer Staaten in Hamburg die enge Bindung .
Durch die Wahl der Hansestadt unterstreicht Deutschland
sein Interesse an einer engen Partnerschaft mit der Zu-
kunftsregion Lateinamerika/Karibik .
Auch wenn die Krisenherde und Bedrohungslagen in
Osteuropa, im Mittleren Osten und in Nordafrika und
nicht zuletzt auch die dynamische wirtschaftliche Ent-
wicklung Asiens viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen:
Lateinamerika ist und bleibt für uns in Deutschland und
Europa eine wichtige Partnerregion . In der EU und La-
teinamerika leben zusammen über 1 Milliarde Menschen .
Die EU und die CELAC-Staaten stellen mit insgesamt
61 Staaten ein Drittel der Mitglieder der Vereinten Natio-
nen, darunter fast die Hälfte der G-20-Staaten . Sie produ-
zieren gemeinsam 40 Prozent des Weltsozialproduktes .
Die EU ist der größte ausländische Investor in der Regi-
on, der zweitgrößte Handelspartner der lateinamerikani-
schen und karibischen Staaten und der größte Geber der
Entwicklungszusammenarbeit in Lateinamerika und der
Karibik . Mit kaum einer anderen Region der Welt sind
wir Europäer historisch enger verflochten und kulturell
stärker verbunden . Dies bildet die Grundlage für gemein-
same Werte und eine dauerhafte Zusammenarbeit .
An diese Gemeinsamkeiten gilt es immer wieder an-
zuknüpfen, zum beiderseitigen Vorteil, aber auch in ge-
meinsamer Verantwortung .
Die Gründung der EU-Lateinamerika/Karibik-Stif-
tung als Folge der strategischen Gespräche zwischen der
EU und Lateinamerika kommt zum richtigen Zeitpunkt,
denn gegenwärtig bietet sich ein günstiges Zeitfenster
der Gelegenheit zur Revitalisierung der Beziehungen
zwischen beiden Regionen:
Nach den Wahlen in Argentinien, Peru, den politischen
Veränderungen in Brasilien sowie durch den fortschrei-
tenden Friedensprozess in Kolumbien zeichnet sich ein
politischer Wandel ab, der sich trotz mancher Rückschlä-
ge positiv auf den gesamten Kontinent auswirken könnte .
Die relative politische Öffnung in Kuba wurde an-
fänglich als ein positives Signal wahrgenommen . Aller-
dings implizieren die damit verbundenen wirtschaftli-
chen Chancen bisher leider keine direkte Stärkung der
Demokratie oder eine deutliche Verbesserung der Men-
schenrechtslage .
Die anfänglich positive Entwicklung in Venezuela –
2015 erreichte die Opposition eine Zweidrittelmehrheit
bei den Parlamentswahlen – wurde durch das Vorgehen
der chavistischen Regierung konterkariert . Leider ist in
Venezuela eine friedliche und demokratische Verände-
rung nicht absehbar; das Land leidet unter einer katastro-
phalen wirtschaftlichen und humanitären Entwicklung .
Präsident Nicolás Maduro versucht mit allen Mitteln, die
Rechte der Oppositionsparteien zu unterdrücken und ein
Votum über seine Abwahl zu verhindern . Deshalb steht
das Land am Rande eines Bürgerkrieges .
Aber auch die Veränderungen der geopolitischen Lage
für Lateinamerika lassen ein verstärktes Interesse Eu-
ropas an der Region geboten erscheinen . Während die
USA unter Donald Trump offenbar stärker auf Abschot-
tung und Protektionismus setzen und sich eher von ihren
südlichen Nachbarn distanzieren, weitet China seinen
Einfluss in der Region aus. Die Beziehungen zu Latein-
amerika als ein traditioneller und auch für die Zukunft
wichtiger Partner Europas müssen gestärkt werden . Wir
können unsere Partner in Lateinamerika nur ermutigen,
wirtschaftlich wie politisch auf verstärkte Zusammenar-
beit und regionale Integration zu setzen .
So wäre eine stärkere Annäherung von Mercosur
und der Pazifik-Allianz zweifelsohne wünschenswert,
nicht nur was die Größe und Relevanz des gemeinsa-
men Marktes, sondern vor allem was die grundsätzliche
wirtschaftspolitische Ausrichtung angeht . Die vier Mit-
gliedsländer des Mercosur erwirtschaften fast 40 Prozent
des gesamten BIP Lateinamerikas . Die vier Länder der
Pazifik-Allianz könnten sich zu einer Drehscheibe des
Handels zwischen Atlantik und Pazifik entwickeln und
so von der wirtschaftlichen Dynamik in Ostasien profi-
tieren . Bei einer erfolgreichen marktwirtschaftlich ge-
prägten Integration könnten beide Regionalbündnisse
ihren Mitgliedern die Möglichkeit bieten, die Wertschöp-
fungsketten in den Mitgliedsländern zu verlängern und
ihre Industrien insgesamt zu stärken . Dies könnte auch
der Diskussion um ein Freihandelsabkommen mit der EU
neue Impulse geben .
Wir müssen mit der größten Aussicht auf Erfolg die
geeigneten politischen Partner stärken, die mit unserem
Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell inhaltlich über-
einstimmen . Doch der Kontinent weist immer noch sehr
unterschiedliche wirtschaftliche und politische Entwick-
lungen auf . Immer noch leben in Lateinamerika 180 Mil-
lionen Menschen in Armut, vor allem die indigene Be-
völkerung . Der Zugang zu zentralen öffentlichen Gütern
wie Bildung und Gesundheit ist für große Teile der Be-
völkerung nicht gesichert . Die Agenda 2030 der Verein-
ten Nationen mit ihren 17 globalen Zielen für nachhaltige
Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs)
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 201723806
(A) (C)
(B) (D)
gilt für alle Staaten dieser Welt, und ihre Umsetzung
stellt die grundlegende Voraussetzung für eine breite
Teilhabe an Wohlstand und Entwicklung dar – auch in
Lateinamerika .
Deutschland kann mit seiner auf fortgeschrittene
Partnerländer zugeschnittenen entwicklungspolitischen
Zusammenarbeit Staaten Lateinamerikas bei der Umset-
zung der Sustainable Development Goals unterstützen .
Schwerpunkte des gemeinsamen Handelns orientie-
ren sich am Bedarf der Partner, der Leistungsfähigkeit
Deutschlands und an der Umsetzung globaler internatio-
naler Vereinbarungen . Viele lateinamerikanische Länder
erweisen sich dabei als sehr verlässliche Partner .
Lateinamerika ist in einer volatiler gewordenen Welt
trotz mancher sozialer und wirtschaftlicher Probleme ein
relativ stabiler und friedlicher Kontinent . Diesen Zustand
gilt es durch partnerschaftliche Zusammenarbeit zu festi-
gen . Wir müssen daher die Partnerschaft mit Lateiname-
rika pflegen und weiter ausbauen, um dem politischen
Dialog zwischen beiden Seiten in allen Politikbereichen
eine neue Qualität zu verleihen . Gemeinsam können wir
die Globalisierung im Sinne unserer Werte und Interes-
sen prägen .
Dafür bietet die EU-Lateinamerika/Karibik-Stiftung
die richtige Plattform . Deshalb unterstützt die CDU/
CSU-Fraktion ihre Gründung nachdrücklich .
Klaus Barthel (SPD): Heute schaffen wir für die
Bundesrepublik Deutschland die Voraussetzungen für
die Umwandlung der EU-Lateinamerika-Karibik-Stif-
tung (EU-LAK-Stiftung) in eine internationale Organi-
sation . Noch in diesem Jahr soll dann das entsprechende
Übereinkommen in Kraft treten, wenn mindestsens acht
EU-Staaten – das ist schon erreicht – und acht LAK-Staa-
ten unterzeichnet haben .
Diese gemeinsame Stiftung ist ein Ergebnis der be-
reits 1999 ausgerufenen strategischen Partnerschaft der
EU mit Lateinamerika und der Karibik . Nun könnte man
sagen: ein bescheidenes Ergebnis in Relation zum ge-
radezu inflationär gebrauchten Pathos der strategischen
Partnerschaften .
Dennoch: Die Stiftung verfolgt einen richtigen An-
satz, nämlich einen biregionalen zwischen zwei global
wichtigen Großräumen mit zusammen 1 Milliarde Ein-
wohnerinnen und Einwohnern .
In einer Welt mit immer mehr nationalistischen Ab-
schottungstendenzen, mit immer mehr bilateralen statt
multilateralen Abkommen ist das ein wichtiger Ansatz .
Das gilt sowohl für die Stärkung der Kooperation inner-
halb der Regionen als auch zwischen den Regionen .
Diese Kooperationsstruktur erhält mit der Gestalt
der internationalen Organisation – statt wie bisher einer
Stiftung deutschen Rechts – einen wesentlich verbindli-
cheren Charakter . Das gilt sowohl für den Zugzwang bei
den – bescheidenen – Beiträgen als auch bei der Mitar-
beit .
Gelingen wird das Projekt aber nur, wenn wir Eu-
ropäerinnen und Europäer und auch insbesondere wir
Deutsche mit Hamburg als Sitzland auf jeden Anflug von
Überheblichkeit verzichten . Aus guten Gründen sind hier
viele unserer Partnerländer nach jahrhundertelanger Be-
vormundung empfindlich.
In einem Dialog auf Augenhöhe gibt es genug zu tun:
Kooperation und Forschung auf wissenschaftlichem,
kulturellem und bildungspolitischem Gebiet, Erstellung
von Studien dazu, eine personelle und institutionelle In-
frastruktur können Grundlage für ein Mehr sein, also für
eine Vertiefung der Kooperation, die auf gegenseitigem
Wissen und Empathie beruht . Ziel muss es natürlich sein,
nicht nur freundlich miteinander zu reden, sondern auch
zu helfen, Probleme zu lösen und gemeinsamen Nutzen
zu erzeugen .
Gelingen kann dies nur, wenn, wie explizit im Gesetz
formuliert, die Zivilgesellschaft gestaltend einbezogen
wird . Das darf aber nicht so gelesen werden, dass es hier
vorrangig um wirtschaftliche und unternehmerische In-
teressen geht, die erfahrungsgemäß als Erste die entspre-
chenden Ressourcen mobilisieren können . Die Stiftung
wird hoffentlich ein eigenes Konzept zur zivilgesell-
schaftlichen Beteiligung entwickeln, damit die strategi-
sche Partnerschaft auch wirklich mit Leben erfüllt wer-
den kann .
Wenn wir auf die Probleme unserer Regionen blicken,
sehen wir genügend gemeinsame Probleme, Fragestel-
lungen und Lösungsbedarfe . Wachsende Ungleichheit,
wirtschaftliche und finanzielle Krisen, Gefährdungen
für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, Spaltungen und
Konflikte innerhalb und zwischen den Staaten, Folgen
des Klimawandels – trotz unterschiedlicher Ausgangsbe-
dingungen existieren zahlreiche Parallelen .
Mit gegenseitigen Fingerzeigen wird man nichts er-
reichen . Deshalb will ich an dieser Stelle auch nicht auf
einzelne Probleme in einzelnen Partnerstaaten eingehen,
schon allein weil eine Auswahl willkürlich und einseitig
wäre . Im heute zu verabschiedenden Gesetzentwurf ist
nachzulesen, welche Tätigkeiten und Arbeitsformen mit
der Stiftung möglich sind und mit Leben gefüllt werden .
Zu begrüßen ist auch der finanzielle deutsche Beitrag von
jährlich knapp 300 000 Euro, der hoffentlich auch von
den anderen Mitgliedstaaten aufgestockt werden wird .
Zu hoffen bleibt auch, dass die Stiftung so arbeiten wird,
dass sie weit über das bisher vorgesehene Maß eine eige-
ne positive Dynamik entfalten wird .
Heike Hänsel (DIE LINKE): Die EU-LAK-Stiftung
hat das Ziel, die Partnerschaft zwischen der EU und den
Staaten Lateinamerikas und der Karibik zu stärken . Das
ist natürlich zu begrüßen, zumal der EU nicht die von
den USA dominierte OAS gegenübersteht, sondern die
CELAC . Die CELAC wurde auf Initiative der linken Re-
gierungen der Region gegründet, um ein Gegengewicht
gegen die Einmischung aus dem Norden zu bilden .
Entsprechend werden die lateinamerikanischen Staa-
ten darauf achten, dass sich die EU-LAK-Stiftung nicht
in die politischen Verhältnisse in den Ländern einmischt .
Da haben ja auch deutsche Stiftungen eine belastete Vor-
geschichte . Wie etwa die FDP-nahe Naumann-Stiftung
am Putsch in Honduras mitwirkte, um den gewählten
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 23807
(A) (C)
(B) (D)
Präsidenten Zelaya zu stürzen, das war wirklich unwür-
dig und kriminell . In diesem Sinne muss die Stiftung hier
Wiedergutmachungsarbeit leisten und sich für friedliche,
solidarische Beziehungen einsetzen, statt Regime Chan-
ges zugunsten des neoliberalen Nordens zu unterstützen .
Wir sind zum Beispiel gespannt, welche Position die
Stiftung gegenüber Brasiliens rechtem Putschpräsiden-
ten Temer einnimmt .
Noch ist über die Pläne ja nicht viel bekannt . Es gibt
lediglich ein Verzeichnis von Institutionen, in denen
durchaus auch progressive Akteure aus Deutschland wie
amerika21 und die Lateinamerika-Nachrichten zu finden
sind . Ich hoffe, dass viele zivilgesellschaftliche Organi-
sationen mit innovativen Ideen durch die Stiftung unter-
stützt werden .
An solchen Ideen mangelt es dem Kontinent wahrlich
nicht, und Deutschland kann in vielerlei Hinsicht von La-
teinamerika lernen . Ich denke da an das ALBA-Bündnis
oder die Vorschläge von Bolivien und Ecuador für ein
entwicklungsförderliches Handelsmandat . Daran könnte
sich die EU ein Beispiel nehmen, statt mit ihrer neolibe-
ralen Handelspolitik die Armut im Globalen Süden wei-
ter zu verschärfen . Diesen Diskurs könnte die Stiftung
wissenschaftlich weiter voranbringen und Stimmen aus
dem Süden auch hierzulande Gehör verschaffen .
Ein konkretes Projekt, das die EU-LAK-Stiftung un-
terstützen könnte, ist die kolumbianische Universität für
den Frieden, die in vielen Teilen des Landes aktiv ist und
den Prozess für Frieden und Wiedergutmachung voran-
bringt . Sie wurde von der ökumenischen Kommission für
Gerechtigkeit und Frieden geschaffen, arbeitet an der Ba-
sis; ausreichende finanzielle Unterstützung blieb ihr aber
bisher versagt .
Bisher hat die EU die eigenständige Entwicklung La-
teinamerikas leider nicht unterstützt, sondern durch Spal-
tung untergraben, etwa wenn es darum ging, die Freihan-
delsabkommen mit Peru und Kolumbien abzuschließen,
oder mit dem Mercosur-Bündnis nach dem Putsch in
Brasilien . Der EU geht es in Lateinamerika weniger da-
rum, die soziale Entwicklung zu fördern, sondern eher
darum, Absatz- und Rohstoffmärkte für die eigene Wirt-
schaft zu erschließen . Die CELAC und die EU haben
in dieser Hinsicht unterschiedliche Auffassungen; wohl
deswegen haben die Verhandlungen auch ganze fünf Jah-
re gedauert .
Es ist bedauerlich, dass noch so wenig bekannt ist, vor
allem über die politische Ausrichtung . Aber wir begrüßen
die Einrichtung der Stiftung – unter der Maßgabe, dass
sie nicht als Instrument zur Einmischung und Kontrolle
über Lateinamerika genutzt wird, sondern auf Augenhö-
he arbeitet und fortschrittlichen Ideen auf beiden Seiten
Gehör verschafft .
Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Die Gründung der Internationalen EU-Lateinamerika/
Karibik-Stiftung im Jahr 2011 war ein positives Zeichen
in Richtung einer stärkeren Zusammenarbeit und eines
verstärkten Austausches zwischen diesen beiden Weltre-
gionen . Die Pläne zur Gründung dieser Institution lagen
zu dem Zeitpunkt bereits Jahre zurück, und die breite
Tragfähigkeit des Beschlusses zeigte, dass auf EU-Ebe-
ne und in den lateinamerikanischen und karibischen
Partnerländern ein Konsens bestand, die gegenseitigen
Verbindungen zu stärken . Die Umwandlung der Stiftung
in eine internationale Organisation, die nach nunmehr
sechsjährigem Bestehen vollzogen werden soll, ist über-
fällig und nicht zu beanstanden .
Gerade in Zeiten, in denen den Beziehungen zwischen
den USA und den Ländern Lateinamerikas und der Ka-
ribik starke Veränderungen bevorstehen zu scheinen,
scheint der Zeitpunkt reif, den gegenseitigen Beziehun-
gen neue Impulse zu verleihen, wie zum Beispiel auch
Günther Maihold von der Stiftung Wissenschaft und
Politik jüngst argumentierte . Mit ihrer wirtschaftlichen
Stärke, dynamischen Zivilgesellschaft und gemeinsamen
Wertebasis können die EU und die LAK wichtige Bünd-
nispartner auf der Suche nach Lösungen für weltweite
Herausforderungen wie die Wirtschafts-, Klima- und Er-
nährungskrisen sein .
Doch damit die EU-LAK-Stiftung ihrem Auftrag ge-
recht werden kann, den gemeinsamen Dialog zu fördern,
sollten endlich die schon seit der Gründung bestehenden
Kritikpunkte angegangen werden . Die anstehende Verän-
derung der Rechtsform sollte dazu genutzt werden, auch
eine Veränderung der inhaltlichen und organisatorischen
Strukturen voranzutreiben .
Hierzu zählen zuvorderst ein verstärkter Fokus auf die
Förderung zivilgesellschaftlicher Initiativen sowie ein
Ende der Intransparenz von Mandat und Funktionsweise
der Stiftung . Die Stiftung muss sich stärker der Zivilge-
sellschaft öffnen, da sie sonst weiterhin im Verdacht ste-
hen wird, die vor allem auf wirtschaftlichen Interessen
beruhende Zusammenarbeit der sie tragenden Regierun-
gen zu fördern .
In Zeiten, in denen Räume für kritische Zivilgesell-
schaft weltweit in höchst besorgniserregendem Maße
eingeschränkt werden, müssen dagegen Zeichen gesetzt
werden . Sowohl in Lateinamerika als auch in Europa
erleben wir in einigen Ländern einen Rechtsruck, in
dessen Folge die Zivilgesellschaft massiv unter Druck
gerät . Bislang hat die EU-LAK-Stiftung eine Stärkung
der kritischen Zivilgesellschaft jedoch vermissen las-
sen . Auch die für das restliche Jahr angekündigten Ge-
sprächsrunden fallen durch Begriffe wie „strategische
Partnerschaft“ auf, aber sparen eine Beleuchtung von
Problemfeldern in den teilnehmenden Ländern aus .
Doch wenn beispielsweise in Brasilien Aktivisten und
Gewerkschafter unter Druck gesetzt, Minderheitenrechte
eingeschränkt und die Umweltressourcen schonungslos
wirtschaftlichen Interessen untergeordnet werden, wenn
in Venezuela, wo die Lage noch viel dramatischer ist, die
Regierung eine Hungerkrise provoziert und de facto ge-
gen das gewählte Parlament putscht, dann müssen auch
die Themen Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte viel
stärker auf die Prioritätenliste einer Organisation wie der
EU-LAK-Stiftung gesetzt werden .
Auch bei den Themen von Ökologie und wirtschaft-
licher Diversifizierung bzw. Nachhaltigkeit gilt es, im
Rahmen der EU-LAK-Stiftung einen Dialog auf Augen-
höhe zu führen . In manchen Ländern der LAK-Region
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 201723808
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(B) (D)
gibt es ein Phänomen einer neuartigen Umweltausbeu-
tung, bei der Raubbau und Rohstoffexport im Zentrum
der wirtschaftlichen Strategie stehen und menschenrecht-
liche und ökologische Aspekte vernachlässigt werden .
Dieses Phänomen steht in direktem Zusammenhang mit
wirtschaftlicher Nachfrage und dem energieintensiven
und wenig nachhaltigen Lebensmodell in der EU .
Die Partnerschaft zwischen der EU und den LAK-Län-
dern birgt ungemein viel Potenzial; das ist offensichtlich .
Die Stiftung, bald voraussichtlich in der Rechtsform ei-
ner internationalen Organisation, könnte ein Instrument
sein, diese Partnerschaft durch zivilgesellschaftlichen
Austausch weiter zu befördern . Leider konnte sie diesem
Anspruch bislang aufgrund der intransparenten Arbeits-
weise und einem zu starken Fokus auf offizielle Ebenen
nicht gerecht werden .
Anlage 16
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Angleichung
des Urheberrechts an die aktuellen Erfordernisse
der Wissensgesellschaft (Urheberrechts-Wissens-
gesellschafts-Gesetz – UrhWissG) (Tagesordnungs-
punkt 32)
Dr. Stefan Heck (CDU/CSU): Ende letzten Jahres
haben wir alles getan, um Schlimmeres für die Verlage
zu verhindern: Aufgrund europäischer und nationaler
Rechtsprechung mussten sie nicht nur erhebliche Rück-
zahlungen leisten, sondern wurden zukünftig von den
Ausschüttungen der VG WORT ausgeschlossen .
Wir haben eine gesetzliche Lösung beschlossen, die
einen wirtschaftlichen Ruin vieler Verlage – vorerst –
verhindert hat; eine Übergangslösung, bis wir auf eu-
ropäischer Ebene endgültig Rechtssicherheit herstellen
können .
Heute beraten wir einen Gesetzentwurf, der alles Vor-
herige und alle politischen Zusagen an die Verlage als
Farce erscheinen lässt . Im Koalitionsvertrag, den wir
heute umsetzen wollen, haben wir uns darauf geeinigt,
eine Bildungs- und Wissenschaftsschranke einzufüh-
ren, die den Belangen der Wissenschaft, Bildung und
Forschung stärker Rechnung trägt . Allerdings müssen
hierbei die Interessen der Urheber und Verlage ausrei-
chend berücksichtigt werden . Der Gesetzentwurf von
Bundesminister Maas ist aber weit von einem solchen
Interessenausgleich entfernt . Vielmehr sieht er einen Ei-
gentumseingriff vor, der Wissenschafts- und Presseverla-
gen sowie Autoren die Grundlage ihres wirtschaftlichen
Daseins und ihrer Existenz nehmen wird . Hier kann auch
das Interesse der Allgemeinheit kein ausreichend schwe-
res Gewicht in der Waagschale bilden .
Die Begrenzung der Rechte des Urhebers ist kein
Novum . Auch das geistige Eigentum unterliegt der So-
zialgebundenheit, sodass das Recht seiner Verwertung in
einem gewissen Umfang zurückstehen muss, wenn es um
den Zugang der Allgemeinheit zu Bildung und Forschung
geht . Auch sehe ich die Notwendigkeit, die aktuellen ge-
setzlichen Regelungen der Wissenschaftsschranke neu zu
regulieren und zu strukturieren, um Übersichtlichkeit zu
schaffen und die Anwendung zu vereinfachen . Das war
und ist unser ausdrückliches Ziel .
Aber hierbei geht es wie immer um das richtige Maß .
Und der uns vorliegende Entwurf schießt weit über das
Ziel hinaus. Auch wenn Eigentum verpflichtet, darf es zu
keiner Enteignung führen . Versagt eine Beschränkung
der Rechte privatwirtschaftliches Agieren und macht sie
die Refinanzierung von Investitionen unmöglich, dann
können wir das nicht unterstützen . Eine solche Konse-
quenz ist untragbar .
Regelungen, die gesetzliche Nutzungsbestimmungen
vor Lizenzangeboten den Vorrang gewähren und damit
Lizenzen letztlich unerheblich machen, nehmen nicht nur
jeden Anreiz für Publikationen, sondern machen privat-
wirtschaftliches Handeln letztlich unmöglich . Autoren
und Wissenschaftsverlage haben künftig keinen Einfluss
mehr darauf, zu welchen Konditionen und zu welchem
Preis ihre Inhalte genutzt werden dürfen . Denn ein an-
gemessenes Angebot soll nach Vorstellung von Minister
Maas irrelevant sein .
Regelungen, die einen erlaubnisfreien Nutzungs-
umfang von 15 Prozent gewähren, bedrohen den Pri-
märmarkt vieler Verlage . Denn wer wird sich ein Buch
kaufen, wenn er sich die entscheidenden Passagen „zu-
sammenkopieren“ kann? Regelungen, die künftig erlau-
ben, „einzelne Artikel“ aus Zeitungen und Zeitschriften
vollständig zu nutzen, gefährden das primäre Geschäfts-
modell von Zeitungen und damit die freie Presse . Wer
hierbei ins Feld führt, dass den Rechteinhabern doch
ausdrücklich das Recht auf eine angemessene Vergütung
für die Nutzung ihrer Werke und Inhalte zugesprochen
wird, den kann ich nur fragen, ob er ernsthaft annimmt,
dass hier nicht ganz andere Interessen vordergründig eine
Rolle spielen werden .
Die Länder haben ihre berechtigten fiskalpolitischen
Interessen . Dies hat sich bereits im Beschluss des Bun-
desrates gezeigt . Wie viel den Ländern Bildung und
Forschung wert ist, zeigt sich in der Forderung, dass der
erlaubnisfreie Nutzungsumfang von den 15 Prozent auf
die bereits aus dem Referentenentwurf vorgeschlagenen
25 Prozent zurückgedreht werden sollte und die vorgese-
hene Vergütungspflicht für nichtkommerzielle Nutzung
zu hinterfragen ist . Sie haben großes Interesse daran,
die Ausgaben für Bildung und Forschung zu deckeln .
Da kommen ein Vorrang der gesetzlichen Nutzungsbe-
stimmungen und eine pauschale Vergütungsregel gerade
recht .
Letztlich birgt ein „unkontrollierter“ Zugang zu
Werken zudem die Gefahr des Missbrauchs . Wenn Ver-
lage nicht in der Hand haben, darüber zu entscheiden,
in welchem Umfang und zu welchem Preis ihre Werke
genutzt werden, wer garantiert ihnen dann, dass Nutzer
Nutzungsgrenzen nicht überschreiten werden? Denn wer
wird kontrollieren, ob nur 15 Prozent oder vielleicht doch
ein bisschen mehr oder doch erheblich mehr genutzt wer-
den?
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 23809
(A) (C)
(B) (D)
Für ein zukunftsfähiges Deutschland wollen wir den
einfachen Zugang von Studenten und Lehrenden zu wis-
senschaftlicher Literatur ermöglichen . Es ist nicht unser
Ziel, Bildung und Forschung unnötig Steine in den Weg
zu legen . Aber dieses Ziel darf nicht einhergehen mit ei-
ner Absage an die freie Marktwirtschaft .
Derzeit gilt das Gebot des Lizenzvorrangs . Verlage
haben es in der Hand, ein angemessenes Angebot für die
Nutzung von Werken zu unterbreiten . Sollten sie dazu
nicht in der Lage sein, dann greifen die gesetzlichen Nut-
zungsvorgaben . Daran sollten wir grundsätzlich festhal-
ten .
Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Wir beraten heute
in erster Lesung über das Urheberrechts-Wissensgesell-
schafts-Gesetz . Hinter diesem sperrigen Namen verbirgt
sich die Einführung einer sogenannten Bildungs- und
Wissenschaftsschranke im Urheberrecht .
Das Urhebergesetz sieht bereits jetzt in einzelnen Vor-
schriften gesetzlich erlaubte Nutzungen für Unterricht,
Wissenschaft und Institutionen vor . Die Vorschriften
regeln, unter welchen Voraussetzungen urheberrecht-
lich geschützte Werke für die Zwecke von Bildung und
Wissenschaft verwendet werden dürfen, ohne in jedem
Einzelfall Rechte zu klären und Erlaubnisse einholen zu
müssen . In der Regel ist die gesetzlich erlaubte Nutzung
mit einer Vergütungspflicht verbunden.
Das ist auch sinnvoll: Schulen und Universitäten sind
in hohem Maße auf den Zugang zu urheberrechtlich ge-
schütztem Material für Lehre und Forschung angewie-
sen . So kann ein Hochschullehrer zum Beispiel schon
nach geltender Rechtslage „kleine Teile“ eines Werkes
zu Unterrichtszwecken vervielfältigen und an seine Stu-
dierenden weiterleiten, ohne dafür immer eine Geneh-
migung vom Verlag einzuholen zu müssen . Diese Vor-
schriften sind aber teilweise unverständlich formuliert
und über das gesamte Urhebergesetz verstreut .
Hinzu kommt, dass sich in den letzten Jahren durch
die Digitalisierung vieles verändert hat . Das gilt insbe-
sondere für die Verbreitung und die Nutzung urheber-
rechtlich geschützter Inhalte .
Wir wollen das Urheberrecht deshalb an dieser Stel-
le modernisieren und an die Veränderungen der letzten
Jahre anpassen . Schließlich sind die gesetzlichen Erlaub-
nistatbestände für Bildung und Wissenschaft seit fast
zwei Jahrzehnten nicht mehr angefasst worden .
Es ist das dritte große Reformvorhaben, das wir in
dieser Legislaturperiode im Urheberrecht verabschieden
wollen . Zuletzt haben wir Ende des vergangenen Jahres
schon das Verwertungsgesellschaftengesetz sowie das
Urhebervertragsrecht reformiert .
Begrüßenswert ist, dass wir mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf einen selbstständigen Abschnitt für die er-
laubnisfreien Nutzungen von Bildung und Wissenschaft
einführen und praxistaugliche und verständliche Rege-
lungen formulieren . Sie sorgen für eine einfachere Hand-
habung der Ausnahmetatbestände . Davon werden die
Anwender, also zum Beispiel Lehrkräfte, Schülerinnen
und Schüler, Lehrende an den Hochschulen, Studierende
sowie Beschäftigte in Bibliotheken und Archiven, profi-
tieren . Das entspricht auch unserem Wunsch nach einem
wissenschafts- und bildungsfreundlichen Urheberrecht .
Als Gesetzgeber ist es aber auch unsere Aufgabe, die
Interessen der Urheber und Wissenschaftsverlage im
Blick zu behalten . Denn wie immer im Urheberrecht gilt:
Wir müssen einen gerechten Interessensausgleich zwi-
schen Urhebern, Nutzern und Verwertern schaffen .
Deshalb haben wir uns auch von dem ersten Vorschlag
verabschiedet, dass 25 Prozent eines urheberrechtlich
geschützten Werkes ohne Genehmigung des Rechteinha-
bers für Unterricht und Lehre sowie für die wissenschaft-
liche Forschung genutzt werden können . Zum einen ist
eine derart weite Ausdehnung des Nutzungsumfangs
nur schwerlich mit dem Schutz des Eigentums aus Ar-
tikel 14 GG zu vereinbaren . Zum anderen besteht die
Gefahr, dass keiner mehr die wissenschaftlichen Werke
kaufen würde . Nicht zuletzt aus diesem Grund war der
ursprüngliche Referentenentwurf zu weitgehend . Jetzt
sieht der Entwurf vor, dass erlaubnisfreie Nutzungen für
Unterricht und Lehre sowie wissenschaftliche Forschung
in der Regel noch in einem Umfang von 15 Prozent zu-
lässig sind .
Der Gesetzgeber hat stets die Pflicht, mit Weitsicht zu-
kunftstaugliche Regelungen zu schaffen: Die Digitalisie-
rung umfasst mittlerweile nahezu alle Bereiche wissen-
schaftlichen Arbeitens . Die urheberrechtliche Situation
hat sich ebenfalls grundlegend geändert . Wie im Koaliti-
onsvertrag eindeutig vereinbart, wollen und brauchen wir
für Wissenschaft und Bildung noch in dieser Legislatur-
periode eine gute Lösung im Urheberrecht .
Unser ausdrückliches Ziel ist es, dass die Stärken und
Vorteile der analogen Welt auch im digitalen Zeitalter
weiterbestehen . Dies bedeutet nicht zuletzt, eine stets an-
gemessene Vergütung der Urheber zu gewähren .
Aus praktischer Sicht ist es von großer Bedeutung,
dass bürokratischer und kostenintensiver Aufwand bei
Nutzung und Abrechnung vermieden wird . Die im Ent-
wurf ausdrücklich erlaubte pauschale Abrechnung der
Nutzungsvergütungen ist aus dieser Perspektive richtig .
Lassen Sie mich abschließend festhalten: Wir brau-
chen im Bereich der Bildung und Wissenschaft ein
transparentes und benutzerfreundliches Urheberrecht,
das dem digitalen Zeitalter gerecht wird . Der parlamen-
tarische Prozess bedeutet daher immer auch, einen Inte-
ressenausgleich zwischen den Urhebern und Nutzern zu
schaffen . Wir wollen uns im Verfahren im Detail mit den
Regelungen auseinandersetzen und einen angemessenen
Ausgleich der verschiedenen Interessengruppen finden.
Der Entwurf bedarf Nachbesserungen . Darüber wird
zu sprechen sein .
Christian Flisek (SPD): Wir sprechen heute über ei-
nen Gesetzentwurf, der endlich Rechtssicherheit in ganz
wichtige Bereiche unserer Bildungs- und Wissenschafts-
landschaft bringen wird . In Lehre und Forschung, an den
Schulen und Universitäten und in den Bibliotheken und
Archiven wird dieser Gesetzentwurf für klare Verhältnis-
se sorgen .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 201723810
(A) (C)
(B) (D)
Die Probleme der aktuellen Rechtslage sind bekannt:
Die bisherigen gesetzlichen Nutzungserlaubnisse im Ur-
heberrechtsgesetz sind veraltet, unübersichtlich geregelt
und selbst für Expertinnen und Experten kaum verständ-
lich . Aufgrund etlicher auslegungsbedürftiger Begriffe
führen jahrelange gerichtliche Auseinandersetzungen zu
einer unerträglichen Rechtsunsicherheit auf allen Seiten .
Der Gesetzentwurf reagiert auf diese Missstände . Er
errichtet einen praktikablen Rechtsrahmen für die Nut-
zung von wissenschaftlichen Arbeiten und Lehrmaterial
in Unterricht und Lehre . Der Gesetzentwurf sieht kein
vergütungsfreies Nutzungsrecht vor . Er sieht einen ver-
gütungspflichtigen Mindeststandard an Nutzungsrechten
vor, damit Lehrer, Professoren, Bibliothekare und Archi-
vare wissen, was sie nutzen dürfen und was nicht . Zurzeit
versinken die Bibliothekare der Universitäten in zahllo-
sen, ganz unterschiedlich ausgestalteten Lizenzverträgen .
Die Unübersichtlichkeit führt dazu, dass Professoren und
Dozenten entweder auf Nutzungen ganz verzichten oder
dass illegal genutzt wird – beides ist nicht gut . Zugleich
profitieren die Rechtsinhaber, also zum Beispiel Autoren
und Fachverlage; denn sie erhalten eine angemessene
Vergütung für Nutzungen, die ansonsten oft unterblieben
wären oder rechtswidrig (und damit ebenfalls ohne Ver-
gütung) stattgefunden hätten .
Nachdem wir schon Anfang des Jahres in der
SPD-Fraktion sowohl Verlage als auch Vertreter von Uni-
versitäten und Bibliotheken angehört haben, haben wir in
den letzten Wochen zahlreiche bilaterale Gespräche ge-
führt . In den letzten Tagen haben sich nun Zeitungsverla-
ge zu Wort gemeldet, die Sorge um ihre Archive haben .
Auch damit werden wir uns im parlamentarischen Ver-
fahren intensiv beschäftigen .
Eines ist besonders zu betonen: Es ist für mich ganz
entscheidend, dass die gesetzlichen Regelungen nicht
kategorisch ausgehebelt werden können . Ein pauschaler
Vorrang von Lizenzangeboten würde den Zweck des Ge-
setzes vereiteln: Ein Vorrang von Lizenzangeboten wür-
de erneut zu Rechtsstreitigkeiten führen, weil niemand
weiß, was denn ein „angemessenes Angebot“ ist . Die
Konsequenz wäre wieder Rechtsunsicherheit sowie eine
Überlastung der Bibliothekare an Universitäten und an-
deren Einrichtungen aufgrund zahlreicher unterschiedli-
cher Lizenzangebote und -verträge . Das wollen wir aber
gerade verhindern!
Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Die Anpassung der ur-
heberrechtlichen Schranken für die Zwecke von Bildung
und Wissenschaft überfällig zu nennen, wäre eine maß-
lose Untertreibung .
Die Diskussion darum ist so alt wie der erste Einzug
der Digitalisierung in die Bildungs- und Forschungsein-
richtungen selbst . Seitdem müssen sich Lehrende und
Forschende für ihre tägliche Arbeit mit einem unüber-
sichtlichen, anachronistischen Regelwerk mit erhebli-
cher Rechtsunsicherheit herumschlagen. Profitiert haben
jedenfalls die Urheberinnen und Urheber niemals davon .
Dennoch hat sich trotz zahlreicher Ankündigungen
und Vorschläge lange nichts getan . Selbst nachdem Ende
letzten Jahres im universitären Bereich die Aushandlung
eines tragfähigen Rahmenvertrags derart scheiterte, dass
der Rückfall in vordigitale Zeiten nur notdürftig verscho-
ben wurde, wussten wir bis zuletzt nicht, ob der vorlie-
gende Gesetzentwurf tatsächlich das Licht der Welt er-
blicken würde .
Dass er nun vorliegt, in einer Form, die unbestritten
eine deutliche Verbesserung gegenüber dem Status quo
wäre, stellt insofern eine Erleichterung dar . Bildungs-
und forschungsfeindlich sind die darin vorgesehenen Re-
gelungen nicht mehr .
Allerdings: Im Koalitionsvertrag bemühen Sie das
Wort „freundlich“, und so weit würde ich noch nicht
gehen . Zumal gegenüber dem Referentenentwurf der
Umfang der erlaubten Nutzung noch einmal deutlich ein-
geschränkt wurde – von 25 auf 15 Prozent in den zentra-
len Erlaubnistatbeständen . Hier scheint es dann doch ein
Einknicken vor der reichlich fragwürdigen Kampagne
der Verlage gegeben zu haben .
Für uns bleibt der Goldstandard eine allgemeine Bil-
dungs- und Wissenschaftsschranke, wie wir sie seit je-
her fordern und wie sie mit diesem Entwurf gerade nicht
umgesetzt wird . Es ist nicht verständlich, warum die er-
laubte Nutzung für die Zwecke der Bildung und Wissen-
schaft überhaupt eingeschränkt werden sollte . Faire Ver-
gütungsregeln vorausgesetzt, deckt sich eine allgemeine
Schranke auch mit den Interessen der Urheberinnen und
Urheber .
Sie hätte darüber hinaus den Vorteil der Offenheit
gegenüber neuen technischen Entwicklungen . Der jetzt
vorliegende Entwurf hingegen wird regelmäßiger Über-
arbeitung bedürfen, um nicht hinter die Zeit zurückzu-
fallen . Bereits jetzt spart er zum Beispiel eine Regelung
zum Verleih von E-Books aus, wie wir sie hier bereits vor
zwei Jahren gefordert haben .
In Anbetracht all dessen gilt es jetzt, den vorliegen-
den Entwurf zügig, aber gründlich daraufhin zu über-
prüfen, wo er im Sinne eines möglichst bildungs- und
forschungsfreundlichen Urheberrechts noch nachjustiert
werden kann . In jedem Fall muss noch vor der Wahl ein
Gesetz daraus werden, das dann so schnell wie möglich
zur Anwendung kommen sollte .
Das Ziel bleibt aber – jedenfalls für uns –, zu einer
Regelung zu kommen, die tatsächlich im Sinne einer all-
gemeinen Schranke die Nutzung für Zwecke der Bildung
und Wissenschaft ungehindert erlaubt . Nur so kommen
wir zu einem Urheberrecht, das nicht nur – wie es hier im
Titel des Gesetzes heißt – an die aktuellen Erfordernisse
der Wissensgesellschaft angeglichen ist, sondern auch
ihre Zukunft im Blick behält .
Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
Große Koalition ist spät dran, wenn es darum geht, das
Urheberrecht endlich anzupacken, um es zugunsten von
Bildung und Wissenschaft zu modernisieren: Zu später
Stunde steht ihr Vorschlag auf der Tagesordnung, wie sie
die Schrankenregelungen im Urhebergesetz reformie-
ren will . Das steht symptomatisch dafür, wie die Große
Koalition das Thema die gesamte Legislaturperiode ver-
schleppt hat .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 23811
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(B) (D)
Seit 2007 wird darüber diskutiert, dass die kleinteili-
gen und höchst komplizierten Schranken im Urheberge-
setz Bildung und Forschung nicht in die Lage versetzen,
die digitalen Potenziale zu nutzen . Wir Grünen im Bun-
destag fordern daher schon seit langem die Einführung
einer allgemeinen Bildungs- und Wissenschaftsschranke .
Mit einer solchen „Schranke“ könnten viele Nutzungs-
und Vergütungsregeln klar und verständlich geregelt
werden . Wir halten sie für den besten Weg, um das Ur-
heberrecht für Forschung, Lehre und Lernen im digita-
len Zeitalter fitzumachen. Diese Lösung wird auch seit
Jahren von vielen Vertreterinnen und Vertretern aus der
Wissenschaftscommunity favorisiert .
In ihrem Koalitionsvertrag hatten sich die Koalitions-
partner diesen Ansatz ebenfalls zu eigen gemacht und
angekündigt, eine Bildungs- und Wissenschaftsschranke
einzuführen . Als Grüne im Bundestag haben wir in dieser
Wahlperiode der Regierungskoalition immer wieder Bei-
ne gemacht, ihr Versprechen einzulösen und eine weitrei-
chende und zukunftsfeste Lösung zu schaffen . Wir haben
das getan, unter anderem auch per parlamentarischem
Antrag „Jetzt Zugang zu Wissen erleichtern – Urheber-
recht bildungs- und wissenschaftsfreundlich gestalten“ .
Unseren Vorschlag haben Sie abgelehnt, obwohl er eine
umfassende Bildungs- und Wissenschaftsschranke ge-
bracht hätte, die es Lehrenden, Lernenden und Forschen-
den erleichtern würde, publizistische Werke jedweder
medialer Art für den nichtgewerblichen wissenschaftli-
chen Gebrauch generell genehmigungsfrei und ohne Ein-
schränkungen zu nutzen .
Kurz vor Ende der Wahlperiode und Ihrer Koalition
haben Sie sich entschieden, etwas anderes zu liefern als
das, was Sie in Aussicht gestellt haben . Ihr Entwurf zu ei-
nem Urheberrechts-Wissensgesellschafts-Gesetz enthält
nämlich keine allgemeine Bildungs- und Wissenschafts-
schranke . Das alles zeigt: Den großen angepeilten Wurf
haben Union und SPD nicht hinbekommen . Stattdessen
werden im Gesetzentwurf einige Erlaubnistatbestände
zur Nutzung erweitert . Dort, wo überfällige Erleichte-
rungen für Bildung und Wissenschaft ins Auge gefasst
werden, finde ich das richtig. So wird zum Beispiel die
VG-WORT-Problematik gelöst . Ich erkenne auch den
Versuch der Koalition an, verständliche und rechtssi-
chere Regelungen zu finden. Klar ist zugleich: Die Be-
ratungen im Bundestag haben jetzt erst begonnen . In den
kommenden Wochen werden wir weiter prüfen, ob die
vorgeschlagene Alternative in Gänze trägt, um das Wis-
senschaftsurheberrecht fair und innovationsfreundlich
zu gestalten . Auf die Prüfung durch die Sachverständi-
gen im Rahmen der Anhörung im Rechtsausschuss am
29 . Mai bin ich gespannt .
Im Gesetzentwurf ist die Rede davon, dass die „Aus-
gaben für Zahlungen an Verwertungsgesellschaften (ge-
setzliche Vergütung) … sich in dem Maße erhöhen [wer-
den], als die Begünstigten zukünftig von den erweiterten
gesetzlichen Nutzungsbefugnissen Gebrauch machen“ .
In diesem Zusammenhang stellt sich mir eine Frage, die
sich auch aus einem Vergleich zwischen Referentenent-
wurf und tatsächlichem Gesetzentwurf ergibt: Es sollen
nun nicht mehr 25 Prozent, wie im Referentenentwurf
vorgesehen, sondern lediglich 15 Prozent eines veröf-
fentlichten Werkes genehmigungsfrei nutzbar sein . Der
Bundesrat setzt sich in seiner Stellungnahme dafür ein,
zu den ursprünglich angepeilten 25 Prozent zurückzu-
kehren . Warum ist die Bundesregierung vor einer Aus-
weitung auf 25 Prozent zurückgeschreckt?
Unsere Position in der Sache war immer, den für Bil-
dung und Wissenschaft notwendigen Zugang zu Wissen
unter angemessenen und für alle Seiten fairen Bedingun-
gen zu gewährleisten . Wir wollen den Modernisierungs-
stau im Urheberrecht auflösen. Dieser große Wurf kommt
nicht . Wenigstens aber hoffe ich, dass der Regierungsko-
alition bei der Beratung des Urheberrechts-Wissensge-
sellschafts-Gesetz auf den letzten Metern nicht die Puste
ausgeht . Es wäre schlecht für den Innovationsstandort
und für alle Lehrenden und Lernenden in Deutschland,
wenn wir in der nächsten Legislaturperiode wieder bei
null anfangen müssten und altbekannte Debatten wie-
derholen . Dann doch lieber jetzt Schritte in die richtige
Richtung gehen .
Heiko Maas, Bundesminister der Justiz und für Ver-
braucherschutz: Seit fast zwei Jahrzehnten diskutieren
wir über die „Bildungs- und Wissenschaftsschranke“ –
jetzt liegt der Vorschlag auf dem Tisch .
Wie immer im Urheberrecht geht es um den Ausgleich
einer Vielzahl von Interessen: um die Rechte von Auto-
ren und Verlagen und um die Interessen der Nutzer, der
Bildungseinrichtungen sowie ihrer Träger, die das deut-
sche Bildungssystem finanzieren.
In der Wissensgesellschaft sind insbesondere Forscher
und Wissenschaftler sowohl Nutzer bestehender Werke
als auch Schöpfer neuer Inhalte: Sie bauen auf vorhan-
denem Wissen auf und benötigen deshalb einen gut funk-
tionierenden Zugang zu Büchern, Zeitschriften und Da-
ten – analog wie digital . Und als Schöpfer neuer Werke
haben sie Interesse an deren Verbreitung, natürlich auf
Grundlage des Urheberrechtsschutzes .
Unser Entwurf regelt den Zugang zu geschützten In-
halten: Welche Texte dürfen Hochschuldozenten für ihre
Studierenden in den Digitalen Semesterapparat einstel-
len, ohne zuvor eine Lizenz erwerben zu müssen? Aber
auch: Können beispielsweise unsere Kinder Fotos aus
dem Internet in ihre Präsentation für den Geschichts-
unterricht einfügen, ohne eine Rechtsverletzung zu ris-
kieren? Grundlage hierfür sind die „Schrankenbestim-
mungen“ des Urheberrechtsgesetzes, also Regelungen,
die eine Nutzung auf gesetzlicher Grundlage erlauben;
deshalb auch die Bezeichnung „Bildungs- und Wissen-
schaftsschranke“ .
Nun, entsprechende Vorschriften bestehen bereits im
geltenden Recht . Was wollen wir im Interesse von Bil-
dung und Wissenschaft ändern?
Erstens . Die derzeit geltenden Bestimmungen sind
sehr kompliziert, daher kaum verständlich und teilweise
auch veraltet . Die Rechtsanwender wissen deshalb häu-
fig gar nicht, was erlaubt ist und was nicht. Der Entwurf
schafft deshalb klare Regeln . Nur verständliches Recht
wird auch akzeptiert und gelebt – eine wichtige Voraus-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 201723812
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setzung für den Respekt vor dem geistigen Eigentum, ge-
rade auch in den Schulen und Universitäten .
Zweitens. Wir schaffen einen klar definierten Basis-
zugang zu Inhalten, und zwar unabhängig von etwaigen
Lizenzvereinbarungen oder Verlagsangeboten . So dürfen
beispielsweise künftig in jedem Fall 15 Prozent eines
Textes für Unterrichtszwecke digital verfügbar gemacht
werden . Auch das schafft Klarheit für alle Beteiligten .
Selbstverständlich werden Universitäten weiterhin Bü-
cher kaufen und elektronische Angebote der Verlage li-
zenzieren . Wissenschaftler und Studierende brauchen in
der Regel nämlich den Zugang zur vollständigen Mono-
grafie oder zur kompletten elektronischen Ausgabe der
internationalen Fachzeitschrift . Aber die Dozentin, die
für die Teilnehmer des nächsten Seminars Kopien eines
einzelnen Aufsatzes aus einer Fachzeitschrift braucht,
muss künftig nicht mehr nach Verlagsangeboten suchen
oder gar den Preis und die Lizenzklauseln auf Ihre Ange-
messenheit beurteilen – in der Praxis ohnehin ein Ding
der Unmöglichkeit . Diese lebensfremde Regelung schaf-
fen wir deshalb ab .
Drittens . Autoren und Verleger erhalten für die gesetz-
lich erlaubten Nutzungen eine angemessene Vergütung .
Denn wir beschränken das exklusive Verwertungsrecht
der Urheber und der Unternehmen, die in die Herstellung
und Verbreitung der Inhalte investieren . Die Vergütung
ist also die Kompensation für die gesetzlich erlaubte Nut-
zung . Wir stellen gleichzeitig klar, dass nicht jede klein-
teilige Nutzung individuell abgerechnet werden muss .
Es kann nicht sein, dass die Erfassung und Abrechnung
auf Nutzerseite mehr kostet, als Autoren und Verlage am
Ende des Tages als Vergütung erhalten .
Mit einer Änderung des Verwertungsgesellschaften-
gesetzes Ende 2016 haben wir die Voraussetzungen dafür
geschaffen, dass Autoren ihre Verleger auch weiterhin an
diesen Vergütungen beteiligen können . Und auf europä-
ischer Ebene setzen wir uns weiterhin dafür ein, dass im
europäischen Recht klargestellt wird, dass gemeinsame
Verwertungsgesellschaften von Autoren und Verlegern
möglich bleiben .
Dies dient allen Beteiligten: Autoren und Verleger
können ihre gemeinsamen Interessen gebündelt wahr-
nehmen . Und für die Nutzerseite – also Bibliotheken oder
die Träger von Bildungseinrichtungen – ist es ebenfalls
besser, wenn eine gemeinsame Verwertungsgesellschaft
von Autoren und Verlegern in einem One-Stop-Shop ihr
Ansprechpartner ist .
Wir verstehen die Sorgen einiger Wissenschaftsverla-
ge, sind aber sicher, dass deren Geschäftsmodell auch im
digitalen Umfeld eine Zukunft hat, nämlich als Dienst-
leister der Wissensgesellschaft . Dieses Geschäftsmodell
ist durch einen lizenzfreien, zugleich aber vergüteten Ba-
siszugang zu urheberrechtlich geschützten Inhalten nicht
infrage gestellt .
Ich bin überzeugt, dass uns ein fairer Interessenaus-
gleich gelungen ist . Die Bundesregierung ist zuversicht-
lich, dass der Abschluss dieses Gesetzgebungsverfahrens
noch in dieser Legislaturperiode gelingen wird .
Anlage 17
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Beitrittsprotokoll vom 11. November 2016 zum
Handelsübereinkommen vom 26. Juni 2012 zwi-
schen der Europäischen Union und ihren Mit-
gliedstaaten einerseits sowie Kolumbien und Peru
andererseits betreffend den Beitritt Ecuadors (Ta-
gesordnungspunkt 34)
Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): Wir verabschie-
den heute in zweiter Lesung ein Gesetz, welchem eine
besondere Bedeutung zukommt . In der momentanen
Debatte, die fast nur noch von Protektionismusfreunden,
weltweiten Freihandelsfeinden und Realitätsverweige-
rern in der Opposition geprägt wird, kommt das Thema
Freihandel zu oft unter die Räder . Das hier vorliegende
Vertragsgesetz regelt den Beitritt Ecuadors zum bereits
bestehenden Handelsabkommen der Europäischen Union
mit Peru und Kolumbien . Mit dem Handelsübereinkom-
men sollen mögliche Wettbewerbsnachteile für deutsche
und europäische Unternehmen beim Marktzugang in der
Republik Ecuador gegenüber anderen Industrieländern
verhindert werden . Es ist davon auszugehen, dass da-
von die breit aufgestellte deutsche Wirtschaft profitieren
wird .
Ich möchte Ihnen hier nochmals kurz die Genese der
Verhandlungen verdeutlichen, damit Ihnen die zeitliche
Dimension der geführten Verhandlungen bewusst wird .
Ursprünglich war Ecuador Verhandlungspartner eines
Assoziierungsabkommens mit den anderen Andenstaaten
Kolumbien, Peru und Bolivien, welches im April 2007
von der EU unter deutscher EU-Präsidentschaft initiiert
wurde . 2008 verließen Bolivien und Ecuador jedoch
aufgrund von Meinungsverschiedenheiten innerhalb der
Andengemeinschaft diese Verhandlungen . 2009 wurden
die Gespräche dann auf der Grundlage eines neuen Man-
dates als Freihandelsverhandlungen mit Kolumbien und
Peru fortgeführt und im Mai 2010 abgeschlossen . Mit der
EU kam es dann erst 2012 zur Unterzeichnung eines Ver-
trages in Form eines gemischten Abkommens . Der Deut-
sche Bundestag hat dem Abkommen am 1 . August 2013
seinen Segen gegeben . Bis heute haben aus unterschiedli-
chen Gründen Österreich, Belgien und Griechenland die
Ratifizierung in den nationalen Parlamenten immer noch
nicht abgeschlossen . Einige schaffen es eben schneller,
andere brauchen Jahre . Somit ist das Abkommen bisher
nur in der vorläufigen Anwendung. Leider auch eine eu-
ropäische Realität .
Die Entscheidung Ecuadors, dem bestehenden Han-
delsabkommen beizutreten, hat das Land 2013 gefasst, da
die mit Peru und Kolumbien geschlossene Übereinkunft
die Möglichkeit eines Beitritts weiterhin offengehalten
hat . Ecuador hat sich nun zu einem Beitritt entschlossen .
2014 sind dann die Verhandlungen abgeschlossen wor-
den . 2016 wurde das Übereinkommen unterzeichnet und
vom EU-Parlament bestätigt . Seit dem 1 . Januar 2017
wird das Handelsübereinkommen vorläufig angewendet
und beschränkt sich damit auf die Teile des Abkommens,
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 23813
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(B) (D)
welche in die ausschließliche Zuständigkeit der EU fallen .
Es handelt sich daher bei dem Beitritt Ecuadors ebenfalls
um ein sogenanntes gemischtes Abkommen, das die Not-
wendigkeit eines Vertragsgesetzes auslöst und damit ein
ordentliches Gesetzgebungsverfahren durchläuft . Nach
Frankreich und Finnland sind wir zum jetzigen Zeitpunkt
der dritte Mitgliedstaat der EU, welcher das Abkommen
förmlich notifiziert. Das werte ich als weiteres starkes Si-
gnal Deutschlands für den Freihandel .
So viel zur Genese und zur zeitlichen Dimension . Nun
aber einige Bemerkungen zum Inhalt und zur Bedeutung
des Handelsvertrages .
Der Beitritt Ecuadors zum Handelsübereinkommen
ist ein wichtiger Schritt zum Ausbau der Wirtschafts-
und Handelsbeziehungen zwischen der EU und Ecua-
dor . Es deckt 99 Prozent der EU-Ausfuhren ab, darunter
100 Prozent der industriellen Güter und 85 Prozent der
landwirtschaftlichen Güter . Ecuador erhält mit Inkraft-
treten des Beitritts 100 Prozent Zollfreiheit auf seine
Industriegüter . Ersten Berechnungen zufolge ist mit nur
geringen EU-Mindereinnahmen durch ausfallende Zölle
zu rechnen – nach zehn Jahren circa 80 Millionen Euro .
17 Jahre nach Inkrafttreten werden nahezu alle Zölle ab-
geschafft sein . Der Beitritt stellt somit einen wichtigen
Beitrag zum Abbau von Marktzugangshindernissen dar
und soll mögliche Wettbewerbsnachteile für europäische
Unternehmen beim Marktzugang gegenüber anderen
Ländern wie die USA, China oder Kanada verhindern .
Insbesondere die Automobilindustrie, der Maschinen-
bau, die chemische Industrie sowie der Dienstleistungs-
bereich werden vom Beitritt profitieren können.
Das Handelsübereinkommen geht in vielen Bereichen
über Standards der WTO hinaus und lässt sich daher gut
den neuen, modernen Handelsabkommen zuordnen . Bei-
spielhaft lassen sich Kompromisse zu nichttarifären Han-
delshemmnissen, Dienstleistungen und Streitschlichtung
beim Schutz von Rechten des Eigentums nennen . Und es
greift weitere Themen auf, die in der WTO sonst nicht
verhandelt werden, wie Investitions- und Wettbewerbsre-
geln, Umwelt- und Sozialstandards mit einem Nachhal-
tigkeitskapitel . Des Weiteren sind weitreichende Monito-
ring- und Dialogplattformen implementiert .
Das Kapitel zur nachhaltigen Entwicklung deckt dabei
die sozialen und ökologischen Komplexe ab . Es enthält
unter anderem die Übereinkunft der Vertragsparteien, die
Verpflichtungen aus einer Reihe internationaler Überein-
künfte einzuhalten, darunter die arbeitsrechtlichen Min-
destnormen der internationalen Arbeitsorganisation so-
wie multilaterale Umweltübereinkünfte . Darüber hinaus
sind Bestimmungen zum Handel mit forstwirtschaftli-
chen Erzeugnissen und Fischereierzeugnissen, zur bio-
logischen Vielfalt, Klimaschutz etc . enthalten . Ferner
legt das Handelsübereinkommen Mechanismen fest, mit
denen die Durchführung der Bestimmungen überwacht
wird . Dies wird die Beziehungen konstruktiv voranbrin-
gen und deutlich verbessern .
Der Beitritt Ecuadors zum Handelsübereinkommen
von Peru und Kolumbien ist Garant für mehr Handel,
Investitionen, Arbeitsplätze und größeres Wirtschafts-
wachstum zugunsten aller Bevölkerungsschichten in
Ecuador . Damit kann das Land in seinen Anstrengungen
für mehr Entwicklung, Stabilität und die Stärkung der
Menschenrechte unterstützt werden .
Ich möchte hier auch ganz generell nochmals eine
Lanze für den Freihandel brechen . Gerade wir als Deut-
sche haben in den letzten Jahrzehnten mit am meisten
von freien Märkten profitiert, wir sind ja praktisch die
Erfinder von Freihandelsabkommen. Ich kann ja durch-
aus nachvollziehen, dass es in einzelnen Parteien hier im
Hohen Haus schwer zu verkraften ist, dass ein Land frei-
willig einem Freihandelsvertrag beitreten möchte . Dies
rechtfertigt aber in keiner Weise eine Blockadehaltung,
welche den Menschen in Ecuador bestimmt nicht helfen
wird . Die Europäische Union setzt mit ihren Freihan-
delsabkommen Maßstäbe für die Welt . Die Gestaltung
eines fairen und freien Welthandels ist für uns die beste
Möglichkeit, unseren Wohlstand zu sichern und anderen
Teilen der Welt zu Wohlstand zu verhelfen . Deswegen
stimmt die CDU/CSU-Fraktion diesem Gesetzentwurf
zu .
Klaus Barthel (SPD): Heute geht es um den Beitritt
Ecuadors zum Freihandelsabkommen der EU mit Peru
und Kolumbien . Dieses ursprüngliche Abkommen hat
die SPD-Bundestagsfraktion am 21 . März 2013 abge-
lehnt und damit Pflöcke gesetzt für die Neuausrichtung
unserer Handelspolitik in der Zukunft . Wir können heute
noch jeden Satz der seinerzeitigen Begründung unter-
schreiben, die uns auch in der Debatte um CETA geleitet
hat . Und egal wie in der nächsten Legislaturperiode über
die nationale Ratifizierung von CETA entschieden wer-
den wird: Beispielsweise in der Frage der verbindliche-
ren Durchsetzung von ökologischen und sozialen Stan-
dards sind wir zwar nicht am Ziel angekommen, aber viel
weiter als seinerzeit bei Kolumbien und Peru .
Heute sehen wir: Das sogenannte Nachhaltigkeitska-
pitel des Kolumbien-Peru-Abkommens stellt sich bisher
als genau der zahnlose Tiger heraus, als den wir es sei-
nerzeit gebrandmarkt haben . Die SPD hat im Ausschuss
für Wirtschaft und Energie dazu einen Bericht der Bun-
desregierung angefordert, der das eindrucksvoll belegt .
Zwar haben in den knapp vier Jahren seit Inkrafttreten
sage und schreibe drei Unterausschusssitzungen „Handel
und nachhaltige Entwicklung“ stattgefunden, mit jeweils
im Anschluss einem „öffentlichen Dialog“ . Wenn man
allerdings nach konkreten Veränderungen in den Ländern
sucht, etwa auch nach einer Überprüfung der Ankündi-
gungen der Regierungen Perus und Kolumbiens, wird
man wenig finden, auch im Bericht der EU-Kommission
vom Februar 2016 . Zwar sind Nachfragen und Präsen-
tationen seitens der EU erwähnt, aber keinerlei Analy-
sen über tatsächliche Veränderungen . Wenn man diese
Berichte so liest und im Land nach dem proklamierten
gesellschaftlichen Dialog fragt, bekommt man den Ein-
druck, als bewege man sich in ganz verschiedenen Wel-
ten .
Gerade in Kolumbien wäre dies aber angesichts der
notwendigen Umsetzung des Friedensprozesses drin-
gend geboten . Das Land steht am Scheideweg . Nach der
Entwaffnung der FARC-Guerilla ist jetzt die Regierung
am Zug, Menschen und Natur vor neuer Gewalt zum Bei-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 201723814
(A) (C)
(B) (D)
spiel durch Paramilitärs, Vertreibung, Banden- und Dro-
genkriminalität und Umweltzerstörung zu schützen und
für Wahrheitsfindung, Aussöhnung und Gerechtigkeit zu
sorgen .
Uns erreichen aber alarmierende Berichte über Morde,
Einschüchterung, Entführungen und ein Machtvakuum
in vielen Gebieten, aus denen sich die FARC zurückge-
zogen hat . Gleichzeitig lesen wir, dass sich der Palmölex-
port in die EU in drei Jahren mehr als verdoppelt hat, was
in der Regel mit Vertreibung und Naturzerstörung ein-
hergeht, zumindest wenn es keine entsprechende Flan-
kierung gibt .
Die Zeit reicht nicht aus, um im Detail über den Zu-
sammenhang von Handel, Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit,
Recht und Gerechtigkeit zu referieren . Bisher lässt sich
jedoch feststellen – auch mit Blick auf Peru –, dass die
Verheißungen des Freihandels keineswegs in Form einer
Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der
Menschen angekommen sind . Dabei hätten auch wir in
Deutschland und in der EU ein dringendes Interesse an
ökologischer Nachhaltigkeit – Stichwort zum Beispiel
Klimaschutz und Walderhaltung – und noch mehr sozi-
aler Gerechtigkeit in den Partnerländern, Stichwort Ab-
satzmärkte durch mehr Kaufkraft statt Ausplünderung
von Rohstoffen und Agrarflächen, friedliches Wachstum
statt Bürgerkrieg und Gewalt .
Der Beitrag der Handelspolitik dazu stellt sich eben
nicht automatisch ein, sondern bedarf massiver An-
strengungen . So dringend geboten und so löblich das
Engagement der Bundesregierung, auch in Gestalt des
Sonderbeauftragten Tom Koenigs, im kolumbianischen
Friedensprozess ist, so dringend geboten wäre die Flan-
kierung dieser Bemühungen durch die EU-Handelspoli-
tik und die ernsthafte Anwendung des Nachhaltigkeitska-
pitels des Freihandelsabkommens .
Ein weiterer Punkt unserer Kritik war und ist der bi-
laterale Charakter des Abkommens, der Nachbarländern
wie Ecuador keine Chance lässt, ihren eigenen Weg zu
gehen . Aus guten Gründen hatten Ecuador und Bolivien
seinerzeit die Verhandlungen verlassen . Da Ecuador ähn-
liche Produkte wie Kolumbien und Peru ausführen will
und die Zollpräferenzen verloren hat, sieht es sich nun
zu einem Beitritt gezwungen, damit es wichtige Absatz-
märkte in Europa nicht verliert .
Bilaterale Abkommen nehmen also auf differenzier-
te Interessenlagen keine Rücksicht, schaffen aber Sach-
zwänge für andere Staaten . Ein Beweis mehr dafür, dass
nur multilaterale, zumindest regionale Handelsbeziehun-
gen und Handelsregeln dauerhaft mehr Fairness statt ein-
seitiger Interessendurchsetzung bringen können .
Nachdem die USA jahrhundertelang ihrem „Hinter-
hof“ in Lateinamerika die Bedingungen diktiert haben
und sich jetzt von ihren südlichen Nachbarn abwen-
den, besteht die Chance für die EU darin, genau nicht
in die postkolonialen Fußstapfen des großen Nachbarn
zu treten, sondern echte Partnerschaft auf Augenhöhe,
sei es ökonomisch oder politisch, anzustreben . Die Sto-
ry EU-Kolumbien-Peru-Ecuador wird diesem Anspruch
nicht gerecht .
Wenn wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokra-
ten dem Beitrittsgesetz dennoch zustimmen, dann nur
deshalb, um kurzfristig großen Schaden von Ecuador ab-
zuwenden, der durch den Verlust seiner Zollpräferenzen
gegenüber der EU entstünde .
Wir werden uns dafür einsetzen, dass dieses Abkom-
men als Grundlage für Lern-, Veränderungs- und Neuge-
staltungsprozesse dient . Vielleicht gelingt dieses ja schon
im Zuge der Verhandlungen mit dem Mercosur, die jetzt
wieder in Gang gekommen sind . Die EU-Kommission
wäre gut beraten, solche Lernprozesse aufzunehmen, an-
statt zu glauben, die Antwort auf Trump und den wach-
senden Protektionismus sei ein Weiter-so in Gestalt einer
neoliberal geprägten Handelspolitik .
Heike Hänsel (DIE LINKE): Gerechtes Handelsab-
kommen zwischen Ecuador und EU aufbauen!
Wir entscheiden heute im Deutschen Bundestag über
das Freihandelsabkommen mit Ecuador . Viel weniger zu
entscheiden hatte dabei allerdings Ecuador selbst: Die
EU hat dem Andenland in den Verhandlungen die Pistole
auf die Brust gesetzt .
Die Regierung von Ecuador hat sich immer gegen die
neoliberale Freihandelspolitik gestellt, hat auf regionale
Integration und soziale Wirtschaftsentwicklung gesetzt –
statt sich ihre Politik von den reichen Ländern diktieren
zu lassen . Ecuador und Bolivien haben eigene Vorschlä-
ge für ein entwicklungsförderliches Handelsabkommen
gemacht; alle wurden brüsk von der EU zurückgewie-
sen . Nach jahrelangem Druck in den Verhandlungen hat
Ecuador nur die Wahl, sich der neoliberalen Handelslo-
gik der EU anzuschließen – oder all seine Zollpräferen-
zen zu verlieren . Das hätte fatale Auswirkungen für die
ecuadorianische Wirtschaft . Diese erpresserische Politik
der EU lehnen wir entschieden ab!
Ecuador hat seit dem Amtsantritt von Rafael Correa
deutlich gemacht, wie soziale Entwicklung gelingen
kann: Die Armutsrate wurde drastisch gesenkt, Bildung
und Gesundheit sind heute kostenlos, die Kriminalitäts-
rate ist deutlich gesunken . Das alles wurde möglich durch
soziale Umverteilung: Der reichen Oberschicht wurden
die Steuern erhöht, zugunsten der großen Mehrheit . Da-
ran könnte sich auch die Bundesregierung ein Beispiel
nehmen .
Außenpolitisch hat sich Ecuador zum Sprachrohr des
Globalen Südens gemacht, zum Beispiel im Menschen-
rechtsrat der UN . Dort hat die Regierung von Correa
den UN-Treaty-Prozess gestartet, um ein internationa-
les Abkommen gegen Menschenrechtsverletzungen von
Unternehmen zu erwirken . Aber den blockiert die Bun-
desregierung . Genau wie sie auch die Yasuní-Initiative
in Ecuador blockiert hat und dadurch effektiven Klima-
schutz in Verbindung mit sozialer Entwicklungspolitik
verhindert hat .
Außerdem ist Ecuador in dem Handelsbündnis ALBA
engagiert, um Handelspolitik grundlegend anders zu ge-
stalten . Stattdessen muss das Land jetzt seinen Markt und
seine Rohstoffe für die EU-Konzerne öffnen . Zu 90 Pro-
zent sollen nun die Einfuhrzölle auf Nahrungsmittel ge-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 23815
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(B) (D)
strichen werden, dem billigen Milchpulver aus der EU
ist dann Tür und Tor geöffnet, keine Chance für lokale,
nachhaltige Produktion . Das sehen wir heute schon in
Kolumbien und Peru, die diese Abkommen mit der EU
schon viel früher abgeschlossen haben . Diese Politik ist
unverantwortlich .
Am Beispiel Ecuador zeigt sich heute einmal mehr,
wie die EU mit ihren sogenannten Partnerländern im
Globalen Süden umgeht . Progressiven Regierungen, die
wirklich die Situation der Bevölkerung verbessern wol-
len, wird kein Raum gelassen . Gegenüber der mächti-
gen EU bleibt Ecuador nur die Wahl zwischen Pest und
Cholera – das war im Kolonialismus übrigens auch nicht
anders .
Dieser neoliberalen Handelspolitik können wir als
Linke nicht zustimmen . Genauso wenig wollen wir aber
der Bevölkerung von Ecuador noch größeren wirtschaft-
lichen Schaden zufügen . Deswegen enthalten wir uns
heute und fordern die Bundesregierung auf: Lernen Sie
von Regierungen wie Ecuador, und sorgen Sie endlich
für gerechte, solidarische Handelsbeziehungen mit La-
teinamerika und dem Globalen Süden!
Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das
Handelsabkommen der Europäischen Union mit Peru
und Kolumbien war schon damals ein Fehler . Es ist stark
an den Interessen transnationaler Konzerne ausgerichtet .
Die dringend nötige Diversifizierung der lateinameri-
kanischen Wirtschaft wird durch das Abkommen unter-
bunden statt befördert . Uns liegen dazu mittlerweile die
ersten empirischen Belege für die negativen Auswirkun-
gen des Abkommens mit Peru und Kolumbien vor . Das
Transnational Institute dokumentiert in seiner Studie,
dass die beiden Länder sogar stärker als bisher als Roh-
stofflieferanten fungieren. So sind die Ausfuhrmengen
etwa an Kohle und Palmöl gestiegen, während gerade
die weiterverarbeitende Industrie etwa im Textilbereich
Einbußen verzeichnet . Auch die Regelungen zur Kapital-
verkehrsfreiheit begünstigen Geldwäsche, Steuervermei-
dung und Steuerhinterziehung, statt diesen einen Riegel
vorzuschieben .
Auch verbindliche Menschenrechts-, Öko- und So-
zialstandards sucht man vergebens . Gerade erst saßen
zwei Menschenrechtsaktivisten aus der südamerikani-
schen Andenregion in meinem Büro . Sie berichteten von
schweren Umweltzerstörungen und Menschenrechtsver-
letzungen im Bergbausektor . Luft und Böden werden
verseucht . Das Wasser verschmutzt, und Menschen wer-
den aus ihrer Heimat vertrieben . Oft helfen korrupte Eli-
ten oder gar staatliche Sicherheitskräfte dabei, die rück-
sichtslose Politik der Unternehmen gegen den Willen der
Bevölkerung umzusetzen . Wir dürfen die Konzerne da-
mit nicht davonkommen lassen . Hierzu braucht es mehr
Transparenz, gesetzliche menschenrechtliche Sorgfalts-
pflichten und wirksame Sanktionen, aber auch eine Ab-
kehr von der auf Extraktivismus basierenden deutschen
und europäischen Rohstoffpolitik . Gerade Handelsab-
kommen wie mit Peru und Kolumbien und nun Ecuador
leisten solchen Entwicklungen Vorschub . Die Einhaltung
internationaler Konventionen zu Menschenrechts- und
Arbeitsstandards, Umweltstandards und verantwortungs-
voller Regierungsführung muss deshalb wirksam in den
Handelsabkommen verankert werden .
All das macht deutlich, dass Ecuador und Bolivien
damals aus gutem Grund aus den Verhandlungen ausge-
stiegen sind . Statt auf eine gemeinsame Lösung mit der
Andengemeinschaft zu setzen, haben die Europäische
Union und ihre Mitgliedstaaten das Abkommen mit nur
zwei Staaten abgeschlossen und so eine Spaltung der
Andengemeinschaft vorangetrieben .
Leider hat nun die verfehlte Reform des Allgemeinen
Präferenzsystems dazu geführt, dass Ecuador seinen prä-
ferenziellen Zugang zum europäischen Markt verliert .
Und natürlich hätte dies deutliche Auswirkungen auf das
Land . Ecuador drohen damit wichtige Einnahmen und
Arbeitsplätze wegzubrechen . Gerade die entwicklungs-
politischen Erfolge der letzten Jahre könnten durch die
Verluste konterkariert werden .
Wenngleich wir das Abkommen mit Peru und Kolum-
bien damals abgelehnt haben, ist es in Kraft getreten und
hat leider Fakten geschaffen . Diese jetzt zu ignorieren,
würde unter Umständen zulasten der ecuadorianischen
Entwicklungserfolge gehen . Wir werden uns deshalb
enthalten . Wir wollen deutlich machen, dass wir dem
Abkommen sehr kritisch gegenüberstehen . Allerdings
müssen wir den nun geschaffenen Tatsachen Rechnung
tragen und dürfen Ecuador nicht aufgrund einer verpass-
ten Reform der europäischen Handelspolitik den ver-
günstigten Zugang zum europäischen Markt verweigern .
Anlage 18
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Karin Binder, Nicole Gohlke,
Annette Groth, Inge Höger, Andrej Hunko, Ulla
Jelpke und Alexander Ulrich (alle DIE LINKE)
zu der Abstimmung über den von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zu
dem Beitrittsprotokoll vom 11. November 2016
zum Handelsübereinkommen vom 26. Juni 2012
zwischen der Europäischen Union und ihren Mit-
gliedstaaten einerseits sowie Kolumbien und Peru
andererseits betreffend den Beitritt Ecuadors (Ta-
gesordnungspunkt 34)
Nein zu EU-Handelsabkommen mit Ecuador! Ja zu
nachhaltiger Entwicklung!
Mitten in der Nacht zum Freitag fand die zweite Le-
sung und Schlussabstimmung des Gesetzentwurfs der
Bundesregierung über den Beitritt Ecuadors zum Han-
delsabkommen zwischen der Europäischen Union (EU)
einerseits sowie Kolumbien und Peru andererseits –
Drucksache 18/11556 – statt, welches der Zustimmung
der nationalen Parlamente unterliegt . Unter Rücksicht-
nahme auf die ecuadorianische Regierung und das lin-
ke Regierungsbündnis Alianza Pafs hat die Fraktion Die
Linke bei der Abstimmung für eine Enthaltung plädiert .
Wir lehnen sowohl den Inhalt als auch die Bedingun-
gen, unter denen das Handelsabkommen zustande kam,
strikt ab . Der Beitritt Ecuadors zu dem Handels- und In-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 201723816
(A) (C)
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vestitionsschutzabkommen, das seit dem 26 . Juni 2012
für Kolumbien und Peru gilt, ist aus einer ökonomischen
Drucksituation heraus erzwungen worden . Aufgrund
der Zollvorteile der konkurrierenden Nachbarstaaten im
EU-Handel und des gleichzeitigen Entzugs der Zoller-
mäßigungen aus dem ASP-System der EU hat die ecua-
dorianische Regierung dem äußeren Druck nachgegeben .
Der bevorstehende Verlust der Zollpräferenzen für die
wichtigsten Exportgüter Ecuadors, darunter Bananen,
Garnelen, Thunfisch und Palmöl, zwang die Regierung
in die Verhandlungen . Der niedrige Ölpreis und das
schwere Erdbeben von 2016, das einen erheblichen Teil
der ecuadorianischen Exportgüterproduktion schwächte,
erschweren zunehmend die Refinanzierung der dortigen
Sozialprogramme .
Das Handelsabkommen forciert den Abbau nichttari-
färer Handelshemmnisse und sichert so den Zugang der
EU-Konzerne zum ecuadorianischen Markt . Es treibt die
Rohstoff-Extraktion voran, die Privatisierung im öffent-
lichen Bereich sowie den Schutz von Investitionen und
geistigem Eigentum durch Patente – ohne mit der Stär-
kung sozialer und ökologischer Maßnahmen ein Gegen-
gewicht zu schaffen . Für Kleinproduzenten wirkt die un-
geschützte Konkurrenz aus der EU existenzgefährdend .
Patente ersetzen günstigere Generika, die bisher eine
breite Behandlung lebensbedrohlicher Krankheiten wie
HIV/Aids ermöglichten . Die traditionelle Handelsstruk-
tur zwischen den Industriestaaten als Fertigwarenexpor-
teuren und den Entwicklungsländern als Rohstoffanbie-
tern wird so bewusst aufrechterhalten und gestärkt . Auf
eine nachhaltige Entwicklungspolitik, die auf wirtschaft-
liche Diversifizierung unter Beachtung sozialer und um-
weltverträglicher Standards setzt, wird verzichtet .
Unsere Ablehnung richtet sich nicht gegen die ecua-
dorianische Regierung und die Politik unserer Schwes-
terpartei Alianza Pafs, sondern gegen die erpresserische
Handelspolitik der EU sowie die auf die Exportwirtschaft
ausgerichtete Politik der Bundesregierung .
Die Linke lehnt alle neoliberalen Handels- und In-
vestitionsschutzabkommen ab . Bei dieser Ablehnung
bleiben wir . Ein Bruch mit der neoliberalen Außenwirt-
schaftspolitik der EU ist eine wichtige Voraussetzung für
weltweite ökonomische Entwicklung und sozialen Frie-
den .
Anlage 19
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und
SPD: Reformbestrebungen weiter mit Leben
füllen – Leistung, Transparenz, Fairness und
Sauberkeit in den Mittelpunkt der künftigen
Spitzensportförderung stellen
– des Antrags der Abgeordneten Özcan Mutlu,
Monika Lazar, Anja Hajduk, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN: Konzept zur Spitzensportreform
grundlegend überarbeiten – Beteiligungsrechte
für Athletinnen und Athleten verankern
(Tagesordnungspunkt 36 a und b)
Eberhard Gienger (CDU/CSU): Die Reform des
Leistungssports und der Spitzensportförderung war und
ist ein zentrales Versprechen im Koalitionsvertrag . Die
Bundesregierung hat – zusammen mit dem organisier-
ten Sport, den Bundesländern, vielen Wissenschaftlern
und Expertengruppen – ein wegweisendes Reformpa-
pier erarbeitet . Noch im letzten Jahr konnte das Kom-
pendium der Öffentlichkeit vorgestellt werden . Bei der
Mitgliederversammlung des Deutschen Olympischen
Sportbundes (DOSB) im Dezember 2016 wurden die
Reformbestrebungen mit großer Mehrheit bestätigt . Das
umfassende Konzept verspricht eine Vielzahl an innova-
tiven Neuerungen und nachhaltigen Verbesserungen für
die im Mittelpunkt stehenden Athleten und Athletinnen .
Mit dem Reformkonzept und dem heute eingebrachten
Antrag lösen wir in diesem Sinne unser Versprechen ein
und untermauern unser Engagement für eine Erneuerung
des Spitzensports in Deutschland .
Die Unionsmitglieder im Sportausschuss haben sich
mit der Gesamtthematik lange befasst, einzelne Aspekte
intensiv beraten und die Reform nicht zuletzt mit dem
vorliegenden Antrag konstruktiv begleitet und geprägt .
Wir gehen in der parlamentarischen Initiative auf zahl-
reiche „Bausteine“ des Reformprojektes differenziert ein
und tragen an verschiedenen Stellen zu einer „Feinjustie-
rung“ bei . Dabei haben wir insbesondere die Fragen und
Sorgen unserer Athleten und Athletinnen aufgegriffen
und in den Mittelpunkt gestellt . Mit einigen Präzisierun-
gen im Antrag können wir zudem hoffentlich so manches
Missverständnis im öffentlichen Diskurs aufklären .
Zu den Forderungspunkten im Antrag: Für das Gelin-
gen des Reformprozesses halten wir eine unabhängige
sowie hauptamtlich geführte Athletenvertretung für un-
verzichtbar. Dies wollen wir auch finanziell unterstützen.
Welchen Mehrwert und Fortschritt dies bedeuten kann,
sieht man eindrucksvoll an den aktuell eingebrachten
Vorschlägen der Athletenvertretung zur „Dualen Karrie-
re“ bei der Bundeswehr . Die Bundesverteidigungsminis-
terin Ursula von der Leyen hat prompt reagiert und kon-
krete Verbesserungen angestoßen, wovon künftig viele
Sportler und Sportlerinnen profitieren werden.
Wir wollen aber auch Initiativen mit der Wirtschaft,
den Handwerkskammern und Bildungsträgern in den
Blick nehmen, um eine bessere Vereinbarkeit von Spit-
zensport und (schulischer, beruflicher, akademischer)
Ausbildung zu ermöglichen. Die sportliche und berufli-
che Entwicklung von Leistungssportlern soll sich dahin
gehend ebenso in der Reform widerspiegeln . Deshalb
fordern wir eine enge Abstimmung mit den Bundeslän-
dern, zum Beispiel bei der Nachwuchsförderung (unter
anderem bezüglich wohnortnaher Angebote) .
Die durch Thomas de Maizière angestoßene BMI-In-
itiative „Sprungbrett“ bildet in diesem Kontext eine Art
„Klammer“ und steht für die sportpolitische Prämisse,
die Athleten und Athletinnen nach der sportlichen Karri-
ere nicht einfach sich selbst zu überlassen . Die angespro-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 23817
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chene „Nach-Aktiven-Förderung“ sichert einen geordne-
ten Übergang der Athleten in den Beruf und ermöglicht
zugleich, sich zum Ende der (sportlichen) Karriere noch-
mals komplett auf das Training bzw . den Zielwettkampf
zu konzentrieren .
In unserem Antrag setzen wir uns weiterhin dafür
ein, dass nach Lösungen für einen Ausgleich bei der
Alterssicherung gesucht wird . Erst am Mittwoch, dem
17 . Mai 2017, haben wir dies im Sportausschuss erneut
mit der Athletenvertretung diskutiert . Der Verweis auf
die UN-Behindertenrechtskonvention macht im Übrigen
deutlich, dass wir bei allen Punkten im Antrag auf die In-
klusion und Gleichbehandlung von Spitzensportlern mit
bzw . ohne Behinderungen setzen .
Die Athleten und der Schutz ihrer Gesundheit stehen
für uns an erster Stelle! Übergeordnet ist damit das Be-
kenntnis zum humanen Leistungssport verbunden . Es
bedeutet aber auch gleichsam die „Null-Toleranz“ ge-
genüber Doping oder anderen Formen der Manipulation .
Im engeren Sinne sind unter dem Gesundheitsas-
pekt natürlich genauso konkrete Präventionsmaßnah-
men bezüglich der Vermeidung akuter oder chronischer
Sportverletzungen zu verstehen . So muss zum Beispiel
chronischen Gehirnerschütterungen bzw . Kopftraumata
entschieden begegnet werden .
Zum Gesundheitsschutz zählt zudem die Unversehrt-
heit der Person: Die Safe-Studie der Deutschen Sportju-
gend (DSJ) wie auch einzelne Vorfälle an Trainingsorten
haben auf erschreckende Weise neuen Handlungsbedarf
gegen sexualisierte Gewalt im Sport offengelegt . Lassen
Sie mich das ganz deutlich sagen: Die Bundesregierung
wird die staatlichen Zuwendungen künftig von wirksa-
men Präventionskonzepten abhängig machen, um alles
nur Erdenkliche gegen derartige Vorkommnisse und Ge-
fahren zu unternehmen .
Niemand wird bestreiten, dass für eine erfolgreiche
Umsetzung der Leistungssportreform auch die Trainer
und Trainerinnen und ihr Arbeitsumfeld in den Blick ge-
nommen werden müssen: Mit unserem Antrag wollen wir
dazu beitragen, dass das Berufsbild „Trainer“ geschärft
wird und die Arbeitsbedingungen nachhaltig verbessert
werden . Die angestrebte Konzentration von Olympia-
und Bundesstützpunkten soll einer deutlichen Verbes-
serung der Trainingsbedingungen dienen und auf einer
faktengestützten Analyse basieren . Insgesamt gilt es, der
Sportinfrastruktur des Spitzensports einen größeren Stel-
lenwert beizumessen und behinderten Leistungssportlern
moderne und praxistaugliche Trainingsmöglichkeiten zu
bieten .
Das beste Reformkonzept ist nichts wert, wenn es
in der „Schublade“ verschwindet und nicht konsequent
umgesetzt wird . Deshalb freue ich mich sehr, dass nach
dem Beschluss des Reformvorhabens mit der Realisie-
rung bereits begonnen wurde . So konnte zum Beispiel
die Potenzialanalyse-Kommission (PotAS-Kommission)
am 8 . Mai 2017 in Berlin vorgestellt werden . Ende die-
ses Jahres sollen schon erste Arbeitsergebnisse vorliegen .
Dahin gehend begrüßen wir im Antrag ausdrücklich,
dass die Ergebnisse zu den Förderkriterien (60 Attribute)
künftig für jeden im Internet abrufbar sind bzw . transpa-
rent dargestellt werden . Wir wollen gleichsam die Poten-
zialanalyse fortlaufend evaluieren und davor bewahren,
durch immer mehr Variablen zu einem „Bürokratiemons-
ter“ zu werden . Die Verwaltungskosten müssen in einem
„gesunden Verhältnis“ zu den Sportfördersummen ste-
hen .
Die Liste der Förderattribute zeigt, dass wir die olym-
pischen (Sommer-/Winter-)Sportverbände bei ihrer Ar-
beit unterstützen wollen, gegebenenfalls nicht genutzte
Potenziale für die Athleten und Athletinnen zu aktivieren .
Und schließlich: Der dritte Fördercluster mit bis dato
festgestellten „wenig Potenzialaussichten“ bedeutet
nicht das Ende! Hier soll den (gegebenenfalls betroffe-
nen) olympischen Verbänden eine Basisförderung auf
vier Jahre in Aussicht gestellt werden, damit ein An-
schluss bzw . eine Rückkehr an die Weltspitze möglich
bleibt . Unser Sportminister Thomas de Maizière (BMI)
hat zudem immer wieder betont, dass auf Reformen auch
Investitionen folgen . Kurzum: Auch als Haushaltsgesetz-
geber wollen wir als Parlamentarier zu einer Moderni-
sierung des Spitzensports beitragen und uns für entspre-
chende Rahmenbedingungen einsetzen .
Der Unionsantrag zur Reform des Leistungssports
bzw . der Spitzensportförderung befasst sich ferner inten-
siv mit der Wertedimension und dem Schutz der Integ-
rität des Sports: Die Forderungen der Union im Antrag
können dahin gehend in direkter Verbindung zum neuen
Anti-Doping-Gesetz und zum Gesetz zur Bekämpfung
von Spiel- und Wettmanipulation gesehen werden . Bei-
des sind Erfolge der CDU/CSU-Bundestagsfraktion in
der 18 . Wahlperiode und ein Zeichen für eine verantwor-
tungsvolle Sportpolitik . Nach den strafrechtlichen Ver-
schärfungen brauchen wir allerdings nunmehr eine ver-
stärkte Ermittlungsarbeit sowie die Einrichtung weiterer
Schwerpunktstaatsanwaltschaften .
Und: Es gilt, vor allem eine breite sowie offene Debat-
te über die Bedeutung des Spitzensports und dessen Wer-
tekanon zu führen . Ich bin zuversichtlich, dass zum Bei-
spiel der Fair-Play-Preis vonseiten der Bundesregierung
wieder enger begleitet und unterstützt wird, wie auch an-
dere programmatisch-pädagogische Maßnahmen ergrif-
fen werden . Denn: Das Strafrecht soll – dem Grundsatz
nach – immer die Ultima Ratio darstellen!
Eine Reform des Spitzensports und Unterstützung
durch die Bundesregierung machen allerdings nur Sinn,
wenn von einer Chancengleichheit der Athleten im inter-
nationalen Wettbewerb (um Platzierungen und Medail-
len) ausgegangen werden kann . Das russische Staatsdo-
ping zu Olympischen Spielen, die neuen Auffälligkeiten
bei (Doping-)Nachtests oder die gänzlich unterschiedli-
chen (Doping-)Kontrollsysteme in verschiedenen Län-
dern untergraben das Vertrauen in den fairen internati-
onalen Wettbewerb . Deshalb fordern wir im Antrag, auf
Ebene der Weltsportministerkonferenz und des Europa-
rates den Kampf gegen Doping im Sport zu verstärken
und sich für eine größere Unabhängigkeit der Welt-An-
ti-Doping-Agentur (WADA) einzusetzen .
Über eine fraktionsübergreifende parlamentarische
Initiative zur Reform des Spitzensports hätte ich mich
gefreut . Der Antrag der Opposition überzeugt leider
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 201723818
(A) (C)
(B) (D)
nicht, da fachliche Fehler offensichtlich werden . Zu-
dem verbleiben die Forderungen auf dem Niveau von
Allgemeinplätzen . Positiv beim Grünen-Antrag ist, dass
nicht – wie zuletzt – mit „Kopieren“ und „Einfügen“ ge-
arbeitet wurde .
Allen an der Reform beteiligten Personen sei hier
nochmals ganz herzlich für ihren Einsatz gedankt . Ich
bin sicher, dass sich die Arbeit gelohnt hat und wir die
Rahmenbedingungen für unsere Athleten und Athletin-
nen deutlich verbessern werden .
Jeannine Pflugradt (SPD): Für mich ist der deut-
sche Spitzensport unmittelbar mit der Umsetzung dua-
ler Laufbahnen verbunden . Da Athletinnen und Athleten
keinen anerkannten Beruf – Stichwort: Berufssportler –
mit monatlichem Grundgehalt ausüben, sind sie auf ei-
nen zweiten – den beruflichen – „Karriereweg“ ange-
wiesen . Die Bundespolitik ist deshalb als Förderer des
Spitzensports – unabhängig von Bundeswehr, Bundes-
polizei, Zoll und schon bestehenden Projekten wie dem
BMI-Projekt „Sprungbrett Karriere“ sowie der Stiftung
Deutsche Sporthilfe – besonders gefordert, Akteure des
Sports, des Bildungssektors, der Wirtschaft und der Lan-
despolitik zu einer engeren Zusammenarbeit zu bewegen
und auf eine intensive Unterstützung der Athletinnen und
Athleten zu drängen .
Um eine dauerhafte Spitzenposition im internationa-
len Sport einzunehmen, bedarf es eines wirksamen För-
dersystems, dessen Wirksamkeit sich nicht allein anhand
der Höhe der bereitgestellten finanziellen Mittel messen
lässt . Die deutsche Spitzensportförderung hat einen hu-
manen Anspruch und übernimmt auch nach der sportli-
chen Laufbahn Verantwortung für ihre Athletinnen und
Athleten . Deshalb nimmt die Förderung der dualen Lauf-
bahn hierzulande zu Recht eine besondere Stellung ein .
In richtiger Abstimmung miteinander verstärken sich
Spitzensport und Berufs- bzw . Bildungslaufbahn gegen-
seitig .
Erfolgsentscheidend dabei ist, ob einer individuell für
die Athletin oder den Athleten entwickelten ganzheitli-
chen Strategie gefolgt wird . Eine solche Strategie setzt
bestenfalls schon im Kindesalter an und orientiert sich
stark an den Wünschen, Zielen und Bedürfnissen der
Athletinnen und Athleten . Besondere Wichtigkeit erlangt
eine ganzheitliche Strategie in der Zeit nach dem Schul-
abschluss . Für Jugendliche und junge Erwachsene sollten
sich in dieser wichtigen Umbruchphase aussichtsreiche
Perspektiven für ein Leben mit und nach dem Spitzen-
sport eröffnen .
Derzeit gibt es 37 Laufbahnberaterinnen und -berater
des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), die
aufgrund der Anzahl der Spitzensportler keine ganz-
heitliche, langfristig angelegte sowie individuelle Lauf-
bahnberatung anbieten können . Hier, denke ich, ist eine
Aufstockung der Zahl der Beraterinnen und Berater sehr
sinnvoll und notwendig .
Bedauerlicherweise sind mir im neuen Förderkonzept
für den Spitzensport zu viele Fragen um das Thema „Du-
ale Karriere“ bei Spitzensportlern offen geblieben . Das
Konzept rund um die Entwicklung der PotAS-Kommis-
sion enthält weitgehend oberflächliche sowie vage Infor-
mationen und nur wenig Neues in diesem Bereich .
Den Athleten in den Mittelpunkt des Förderkonzepts
zu stellen, bedeutet nicht nur, ihn in bestimmte För-
dercluster einzuordnen, sondern ihn als Mensch mit au-
ßergewöhnlichen sportlichen sowie gesellschaftlichen
Leistungen zu betrachten . Ein praktikables sowie funk-
tionelles Nebeneinander beider Laufbahnen ist für jeden
Athleten unermesslich und steigert die Qualität der Leis-
tung .
Deshalb spreche ich mich dafür aus, gemeinsam mit
den Bundesländern auf die bundesweit flächendecken-
de Einführung von Profilquoten für einen erleichterten
Hochschulzugang der Athletinnen und Athleten in allen
Bachelor- und Masterstudiengängen hinzuwirken .
Wir sollten in Zeiten des digitalen Wandels gemein-
sam mit den Bundesländern eine Flexibilisierung der
Studienbedingungen durch mehr E-Learning-Angebote,
weniger Präsenzpflicht, mehr Blockunterricht, ein grö-
ßeres Angebot an Fernstudiengängen und eine Verrin-
gerung der örtlichen Bindung bei der Ableistung von
Prüfungen erreichen . Und wir sollten gemeinsam mit den
Akteuren der Wirtschaft, den Handwerkskammern und
den Bildungsträgern auf eine Entlastung der Athletinnen
und Athleten hinwirken, indem nach § 8 des Berufsbil-
dungsgesetzes (BBiG) und § 27 des Gesetzes zur Ord-
nung des Handwerkes (HwO) mehr Ausbildungs- und
Arbeitsplätze in Teilzeit sowie mehr Möglichkeiten der
Arbeit im Homeoffice geschaffen werden.
Spitzensportlerinnen und Spitzensportler verdienen
es, dass wir ihnen die bestmöglichen Rahmenbedingun-
gen für beide „Karrierewege“ ermöglichen .
Matthias Schmidt (Berlin) (SPD): Wenn wir an den
Leistungssport denken, haben wir sofort drahtige Athle-
tinnen und Athleten vor Augen, die unter vollem körper-
lichen Einsatz sportliche Höchstleistungen vollbringen .
Wir denken an die Olympischen und Paralympischen
Spiele, an Medaillen, an volle Stadien und ein begeister-
tes Publikum .
Wir alle sehen die Erfolge am Ende einer langen Pha-
se der Vorbereitung – der Blick in das Vorfeld dieser
Höchstleistungen entzieht sich den meisten .
Doch dieser Blick lohnt sich!
Die Athletinnen und Athleten sind in ihrer Wettkampf-
vorbereitung von einem Kompetenznetzwerk umgeben:
Trainerinnen und Trainer, Physiotherapeuten, Sportpsy-
chologen – sie alle unterstützen die Sportler auf vielfäl-
tige Weise . Dazu kommt eine sportwissenschaftliche Be-
treuung . Hier wird ausgelotet, wo es noch Stellschrauben
gibt, um die Leistungen zu verbessern, sei es beim Sport-
ler selber oder beim Sportgerät . Das Ziel ist, Leistungen
mit wissenschaftlichen Instrumenten zu optimieren und
dabei Wettbewerbsvorteile zu schaffen . Drei solcher In-
stitute sind fester Bestandteil unserer Spitzensportförde-
rung: das Institut für Angewandte Trainingswissenschaft
(IAT), die Trainerakademie (TA) und das Institut zur
Forschung und Entwicklung von Sportgeräten (FES) .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 23819
(A) (C)
(B) (D)
Und das eine davon – das FES – befindet sich in meinem
Wahlkreis Treptow-Köpenick .
Ein tolles Team arbeitet hier täglich daran, die best-
möglichen technischen Voraussetzungen für unsere Spit-
zensportlerinnen und Spitzensportler zu schaffen . Davon
konnte ich mich mehrfach überzeugen . In ihrer Arbeit
kommt es manchmal auf minimale Veränderungen am
Sportgerät an . Nehmen wir den Bob-Sport . Da geht es
zum Beispiel um vibrationsarme Hauben, um aerodyna-
mische Sitze, um komplizierte Lenksysteme und um auf
jedes Eis abgestimmte Kufen . Das ist ein hochkomple-
xer Vorgang, und der technologische und internationale
Wettstreit um das beste Material und die beste Konstruk-
tion schreitet ständig fort . Millisekunden entscheiden
über Sieg oder Niederlage, und damit steht auch die
Technologie im Wettkampf .
Fest steht, die Arbeit der wissenschaftlichen Institu-
te ist für den Erfolg der Athletinnen und Athleten ganz
maßgeblich, und ihre Bedeutung nimmt mit dem Fort-
schritt bei Analyse und Technik zu . Im internationalen
Wettbewerb ist die Anwendung wissenschaftlicher Tech-
niken bei der Optimierung des Zusammenspiels zwi-
schen Sportgerät und Sportler längst zu einem entschei-
denden Parameter geworden . Hier gibt es kein Zurück .
Das bedeutet auch, dass die Institute finanziell so gestellt
werden müssen, dass der Leistungssport davon profitie-
ren kann .
Die gerade laufende Reform der Spitzensportförde-
rung ist für uns Anlass, diesen Anspruch noch einmal
deutlich zu machen . Wissenschaft und Spitzensport sind
untrennbar miteinander verbunden, und wir wollen, dass
sich dieser Grundsatz in einer verstetigten Förderung
der Institute IAT, FES und der Trainerakademie nieder-
schlägt . Deswegen haben wir diesen Aspekt und weite-
re uns wichtige Punkte in unserem Antrag aufgegriffen .
Lassen Sie uns gerne in den Ausschussberatungen dazu
ins Gespräch kommen .
Dr. André Hahn (DIE LINKE): Eigentlich sollten die
Anträge der Koalition und der Grünen zum Konzept der
Spitzensportreform ohne Debatte in den Sportausschuss
überwiesen werden – dies hat die Linke nicht akzeptiert .
Statt einer echten Debatte als Tagesordnungspunkt 36 um
5 Uhr morgens vor einem sicherlich nahezu leeren Plen-
arsaal werden nun die Reden zu Protokoll gegeben .
Warum haben wir als Linke eine Diskussion gefor-
dert?
Am 28 . September 2016 stellten Bundesinnenminister
de Maiziere und DOSB-Präsident Hörmann dem Sport-
ausschuss ihr Konzept zur „Neustrukturierung des Leis-
tungssports und der Spitzensportförderung“ vor .
Am 3 . Dezember 2016 stimmte der DOSB auf seiner
Mitgliederversammlung diesem nach massiver Kritik mit
Datum vom 24 . November 2016 nur leicht veränderten
und noch immer unvollständigen Konzept bei nur einer
Gegenstimme zu . Ich war ja in Magdeburg dabei und
verstehe das bis heute nicht .
Für den Sport sind mit diesem Konzept sehr gewichti-
ge und tiefgreifende Entscheidungen verbunden, die mei-
nes Erachtens die Mitwirkung des Parlaments erfordern .
Dies hat die Linke mehrfach im Sportausschuss und in
Anfragen an die Bundesregierung deutlich gemacht .
Trotzdem erfolgte keine förmliche Einbindung des Par-
laments .
Erst mit dem Antrag der Grünen von Ende Januar wur-
de ein Weg geschaffen, das Thema doch noch in dieser
Wahlperiode im Bundestag zu debattieren . Die in dem
Antrag formulierten Forderungen stimmen weitgehend
überein mit den Positionen, die die sportpolitischen Spre-
cher und Sprecherinnen der Linken im Bundestag und
in den Landtagen in einer „Magdeburger Erklärung“ am
7 . November 2016 bereits öffentlich gemacht hatten . Zur
Erinnerung hier noch einmal die fünf Punkte:
„1 . Nicht akzeptabel ist zuerst das intransparente
Verfahren . Gremium und Arbeitsgruppen aus DOSB,
BMI und Sportministerkonferenz (SMK) tagten hinter
verschlossenen Türen . Wichtige Akteure wie die Sport-
politiker und Sportpolitikerinnen des Bundestages und
der Landtage oder der Allgemeine Deutsche Hochschul-
sportverband (adh) waren nicht beteiligt und werden jetzt
vor vollendete Tatsachen gestellt …
2 . Nicht akzeptabel ist insbesondere die ausschließ-
liche Fixierung auf Podiumsplätze bei Olympischen
Spielen, Paralympics und Deaflympics. Medaillen dür-
fen nicht das einzige Kriterium einer künftigen Förde-
rung des Spitzensports sein . Vielmehr ist das Verhältnis
des Spitzen- und Leistungssports zum Schul- und Brei-
tensport zu klären . Wir brauchen dringend eine öffent-
liche Diskussion über den Stellenwert des Sports in der
Gesellschaft .
3 . Nicht akzeptabel sind weiterhin die wenig substan-
ziellen Vorschläge zur Nachwuchsentwicklung und zur
„Dualen Karriere“ . Letztere darf nicht nur bei Bundes-
wehr, Polizei und Zoll, sondern muss auch in anderen
Bereichen des öffentlichen Dienstes und in der Privat-
wirtschaft möglich sein . Zweifelhaft scheinen auch die
Wirksamkeit der computergestützten Potenzialanalyse
und der Sinn der geplanten neuen Kaderstrukturen .
4 . Nicht akzeptabel ist die aktuelle Situation der Trai-
nerinnen und Trainer . Der organisierte Sport braucht gut
ausgebildetes Personal und in angemessener Zahl Traine-
rinnen und Trainer mit langfristigen Tarifverträgen, die in
der Eingruppierung mindestens denen von Lehrerinnen
und Lehrern an öffentlichen Schulen anzugleichen sind .
5 . Nicht akzeptabel sind schließlich auch die Vorschlä-
ge zur künftigen Förderung des Spitzensports von Men-
schen mit Behinderungen . Wenn überhaupt, kommen die
Paralympics und Deaflympics in diesem Konzept nur am
Rande vor . Notwendig ist aber eine gleichwertige Förde-
rung für Sportlerinnen und Sportler, für Trainerinnen und
Trainern und dem sonstigen Personal in diesem Bereich .
Der Behindertensport darf nicht länger schlechter gestellt
werden, im Gegenteil: Behindertenbedingte Nachteile
und Mehraufwendungen müssen künftig ausgeglichen
werden .“
Insofern werden wir also den Antrag der Grünen auch
unterstützen .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 201723820
(A) (C)
(B) (D)
Seit gestern liegt nun doch noch ein Antrag der Koali-
tion zur Spitzensportreform vor – acht Monate, nachdem
die von ihr getragene Regierung ihr Konzept vorstellte
und seitdem viel Unruhe und Chaos schuf .
Allerdings entsprechen die im Antrag enthaltenen
Feststellungen und Forderungen doch erkennbar dem un-
verbindlichen Ton des eigentlichen Konzeptes . Auch in
den einzelnen Handlungssträngen – die zudem zuerst von
den zur Verfügung stehenden Haushaltsmitteln abhängig
gemacht werden – fehlt die gerade von den Aktiven ge-
wünschte Klarheit . Wie eine Monstranz tragen der orga-
nisierte Sport und das Innenministerium seit Monaten die
Floskel vor sich her „Die Athletin, der Athlet stehen im
Mittelpunkt“ . Allerdings fehlt jede inhaltliche, vor allem
aber finanzielle Unterfütterung eines solchen Bekennt-
nisses, auch im Antrag der Koalition .
Zumindest haben Union und SPD eine Forderung von
Sporthistorikern und Sportphilosophen aufgegriffen, die
die Linksfraktion seit geraumer Zeit auch im politischen
Raum erhebt: Es muss endlich eine gesellschaftliche De-
batte zur Bedeutung des Spitzensports geben .
Dies ist übrigens ein weiterer Grund für mich, zumin-
dest diese Protokoll-Debatte im Bundestag zu führen .
Die Koalitionsfraktionen sind trotz der im Antrag einge-
forderten Gesellschaftsdebatte weiterhin nicht bereit, im
Sportausschuss öffentlich zu tagen .
Fraglich ist zudem auch, ob die Anträge angesichts der
wenigen Sitzungswochen bis zur Bundestagswahl über-
haupt noch abschließend im Plenum debattiert werden .
Nunmehr hat die Öffentlichkeit wenigstens durch die zu
Protokoll gegebenen Reden die Möglichkeit, zu erfahren,
wie sich die Fraktionen zu den beiden Anträgen, aber
auch zur Spitzensportreform an sich positionieren .
Das vom Bundesinnenminister präsentierte Konzept
zur „Neustrukturierung des Leistungssports und der Spit-
zensportförderung“ lag der Bundesregierung bei ihrer
Kenntnisnahme in der Kabinettssitzung am 15 . Febru-
ar 2017 ebenso wie dem DOSB am 3 . Dezember 2016
nur unfertig vor . Alle Erfahrungen und Berichte aus den
Sportfachverbänden verdeutlichen zudem akuten Nach-
besserungsbedarf .
Ich meine: Diese Baustellen müssen endlich in ei-
nem transparenten Verfahren zwischen dem DOSB und
seinen Mitgliedsverbänden sowie der Politik mit ihren
Vertreterinnen und Vertretern aus Bundesregierung,
Bundesländern und Bundestag bearbeitet werden . Die
derzeit erlebbare Ignoranz und Selbstherrlichkeit der
Verantwortlichen im Bundesinnenministerium könnten
perspektivisch zum Sargnagel für das Konzept werden
und damit dem Leistungs- und Spitzensport großen Scha-
den zufügen .
Bei der Diskussion zum 13 . Sportbericht der Bundes-
regierung am 19 . Januar 2017 hatten wir mit Blick auf
die überfällige gesellschaftliche Debatte einen Entschlie-
ßungsantrag vorgelegt, der fünf Kernforderungen sport-
politischer Leitlinien der Linken enthielt:
Erstens soll der Sport als Staatsziel im Grundgesetz
verankert und endlich ein Sportfördergesetz erarbeitet
werden . Zweitens soll jede Sportförderung des Bundes
auch einer zunehmenden breiten sportlichen Betätigung
für alle und der Gesundheit der Menschen von frühes-
ter Kindheit bis ins hohe Alter dienen . Drittens soll die
Spitzensportförderung angemessene, verlässliche und
langfristige Rahmenbedingungen für die Sportlerinnen
und Sportler, für Trainerinnen und Trainer und weitere
Akteure schaffen . Viertens muss die Sportstätteninfra-
struktur in Bund, Ländern und Kommunen erhalten und
systematisch verbessert werden . Und fünftens brauchen
wir einen konsequenten Kampf gegen Doping, Betrug
und Korruption im Sport .
Die Linke begrüßt das grundsätzliche Ansinnen, die
Spitzensportförderung neu zu strukturieren . Das vorge-
legte Konzept zur Reform halten wir aber nach wie vor in
mehrfacher Hinsicht für äußerst problematisch .
Es fehlen weiterhin wichtige Bestandteile wie bei-
spielsweise das Finanzierungskonzept . Zumindest ist
uns bisher keines bekannt . Angesprochen habe ich auch
schon die prekäre Personalsituation bei Trainerinnen
und Trainern, und völlig unzureichend sind auch weiter-
hin die Möglichkeiten für eine duale Karriere von Spit-
zensportlern . Die Athletenkommission drängt zu Recht
nachdrücklich und öffentlich auf eine Fürsorgepflicht
des organisierten Sports und der Politik für seine her-
ausragenden Präsentanten – und das sind nun einmal die
Sportlerinnen und Sportler, die die Erfolge erringen .
Auch die aus Sicht der Linken nicht akzeptable Fixie-
rung auf Medaillen bei Paralympics und Olympischen
Spielen muss korrigiert werden und darf aus unserer
Sicht nicht vorrangiger Maßstab für die Sportförderung
von Innenministerium, DOSB und der Deutschen Sport-
hilfe sein . Und klar sollte auch sein: Die Zukunft des
Sports darf definitiv nicht über eine computergestützte
Potenzialanalyse definiert und auf eine medaillenorien-
tierte Kaderschmiede reduziert werden .
Ich bin sicher, dass wir zur Zukunft des Sports und
des Spitzensports nicht das letzte Mal in diesem Hause
diskutieren . Ernsthafte Korrekturen sind in dieser Wahl-
periode mit der jetzigen Koalition leider nicht mehr zu
erwarten . Es bleibt die Hoffnung, dass nach der Bun-
destagswahl mit anderen Mehrheiten und deutlich mehr
Druck aus den Reihen des organisierten Sports, vor allen
vonseiten der Athletinnen und Athleten, ein wirklich zu-
kunftsfähiges Konzept entsteht .
Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr
Minister De Maizière, die Reform der Spitzensportförde-
rung, die Sie derzeit bereits umsetzen, gehört aus grüner
Sicht dringend überarbeitet . Warum, ist ganz einfach zu
erklären .
Die gewünschte Vorbildwirkung des Sports und der
tatsächliche Zustand des funktionärsdominierten Spit-
zensports klaffen zurzeit weit auseinander . Innenminis-
terium und Deutscher Olympischer Sportbund haben
aber nie eine sachgerechte Analyse dazu durchgeführt .
Es wäre dringend notwendig gewesen, Situation und Zu-
stand des Spitzensports bereits im Vorfeld der Reform
zu diskutieren, und zwar mit einer breiten Öffentlich-
keit, mit Sportlerinnen und Trainern, Wissenschaftle-
rinnen und Bürgern . Stattdessen sind Ihre Vorschläge an
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 23821
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Schreibtischen und in Geheimrunden gefallen . Am Ende
haben Sie leider Vorschläge aus einem verengten Sport-
verständnis heraus vorgelegt .
Für uns steht fest: Spitzensport darf keine Möglichkei-
ten der Machtdemonstration mehr bieten . Einen Rückfall
in den Kalten Krieg darf es nicht mehr geben . Es muss
Schluss sein mit staatlichem Doping in einigen Ländern,
um mehr Medaillen zu gewinnen . Ein Geheimdienst wie
in Russland hat im Sport nichts zu suchen . Wir müssen
endlich Prinzipien eines humanen Spitzensports ver-
ankern . Es darf nicht sein, dass im Spitzensport einige
Länder Kleinkinder über Jahre mit brachialen Methoden
trimmen, um sie dann nach und nach – oft halbkaputt –
wieder auszusortieren . In solcher Gesellschaft wollen wir
uns nicht wiederfinden.
Ist das der Sinn von Olympischen Spielen? Wollen
wir da mitmachen? Begeistert uns nicht vielmehr diese
olympische Idee, die so oft wiederholt wird, aber von der
Wahrheit weit entfernt ist, der Traum vom friedlichen
Kräftemessen mit Menschen aus aller Welt, von span-
nenden Wettkämpfen mit Fairness im Vordergrund, vom
großen Sportfest, „Dabei sein ist alles“, eine gute Platzie-
rung ein Riesenerfolg?
Die Reform der Spitzensportförderung aus dem In-
nenministerium will die Gelder nun so verteilen, dass
Deutschland sich im Medaillenspielgel im Idealfall bald
irgendwo zwischen China und Russland wiederfindet.
Daran gibt es berechtigte Kritik . Der Sportphilosoph
Gunter Gebauer hat das in einer öffentlichen Anhörung
des Sportausschusses zu Recht als „schlechte Nachbar-
schaft“ bezeichnet . Das bestehende, kranke Spitzensport-
system wird damit nicht hinterfragt, nicht kritisiert oder
gar verändert, sondern es wird in seiner einseitigen Me-
daillenausrichtung zementiert . Dabei könnte und sollte
Deutschland einen anderen Weg gehen und Vorbild sein .
Und genau das ist der Grund, warum diese Reform drin-
gend überarbeitet werden sollte .
Dass eine Reform bitter nötig ist, darin waren und
sind wir uns einig . Wir sagen, es braucht eine Reform,
weil die Situation von Athletinnen, Athleten, Trainerin-
nen und Trainern im Spitzensport häufig prekär ist. Sie,
Herr De Maizière, sagen, es braucht eine Reform, weil
diese Athletinnen und Athleten zu wenige Medaillen ge-
winnen .
Wir sagen, es braucht eine Reform, weil der Sport und
die Sporttreibenden drohen in Doping-, Spielbetrugs-,
Korruptions-, und Manipulationsskandalen verloren- und
kaputtzugehen . Sie, Herr De Maizière, sagen, wir brau-
chen eine Reform für mehr Medaillen, um dort anzukom-
men, wo die dreisten Dopingnationen schon sind .
Wir sagen, es braucht eine Reform, weil die Gelder für
den Spitzensport derzeit vollkommen intransparent ver-
geben werden . Sie sagen, die Gelder sollen an diejenigen
vergeben werden, die mehr Medaillen bringen .
Wir möchten die Athletinnen und Athleten, die Men-
schen und den Sport in den Mittelpunkt stellen . Ihnen
geht es um den „Return on Investment“, als wäre der
Sport Teil der Marktwirtschaft, der Staat der Investor,
Athletinnen und Athleten die Medaillenproduzenten .
Kein Wunder aber, dass die Reform breit kritisiert
wird: Sie haben im Vorfeld keine öffentliche Debatte
geführt . Die Erfahrungen von Trainerinnen und Trainern
und Athletinnen und Athleten haben kaum Eingang in die
Vorschläge gefunden . Die Sportwissenschaft hat gefehlt .
Sie haben den Spitzensport vom Breitensport getrennt,
als gäbe es das eine ohne das andere . Wer hätte denn bei
den Geheimverhandlungen, die Sie mit dem DOSB – und
ohne den Sportausschuss – geführt haben, kritischen In-
put geben können? Dass das Grundgerüst der Reform,
Potenzial vorherzusagen, aus wissenschaftlicher Sicht
gar nicht möglich ist, haben Sie ja bereits während der
Anhörung im Sportausschuss von zahlreichen Expertin-
nen und Experten erklärt bekommen .
Kurz gesagt: Keine Debatte, falsches Ziel, falsche
Schwerpunkte, schlechtes Ergebnis .
Deshalb, sehr geehrter Herr Minister, fordern wir in
unserem Antrag ein Gesamtkonzept zur Sportentwick-
lung . Athletinnen, Athleten, Trainerinnen und Trainer
müssen im Mittelpunkt stehen, mit besseren Beteili-
gungs- und Mitspracherechten . Wir fordern ein fundier-
tes Konzept zur Dualen Karriere und zur Vereinbarung
von Studium und Sport . Besonders die Förderung durch
staatliche Arbeitgeber bedarf an mancher Stelle dringen-
der Überarbeitung . Trainerinnen und Trainer brauchen
echte Berufsperspektiven, aber keine Kettenverträge .
Doping, Korruption, Spielmanipulation, sexualisierte,
physische und psychische Gewalt müssen wirksam und
glaubwürdig bekämpft werden, in weltweiter Koopera-
tion . Wie das aussehen kann, haben wir in zahlreichen
Initiativen in den letzten Monaten ausgeführt . Klar ist:
Hier muss dringend etwas geschehen .
Mit dem aktuellen Konzept, Herr Minister, schaden
Sie dem Sport in Deutschland; da müssen Sie noch or-
dentlich nachbessern . Dass das Ihre eigenen Koalitions-
fraktionen auch so sehen, können Sie in deren Antrag
nachlesen, in 20 Punkten! 20! Dass es acht Monate ge-
dauert hat, bis sich die Regierungsfraktionen endlich auf
eine offizielle Meinung in einem Antrag einigen konnten,
ist allerdings peinlich .
Abgesehen davon stimmen mich die beiden Anträge,
die wir heute in den Sportausschuss überweisen, bezüg-
lich einer guten Debatte im Sportausschuss jedoch opti-
mistischer . Ich freue mich auf die Diskussion und hof-
fe auf eine tatsächlich grundlegende Überarbeitung der
Spitzensportreform .
Dr. Ole Schröder, Parl . Staatssekretär beim Bundes-
minister des Innern: Die Bundesregierung begrüßt es,
dass sich der Deutsche Bundestag zur Reform des Leis-
tungssports und der Spitzensportförderung positioniert .
Es war uns sehr wichtig, den für das Projekt zuständigen
Sportausschuss kontinuierlich zu informieren und von
dort auch Impulse für unsere Arbeit zu erhalten .
BMI und DOSB haben dem Ausschuss mehrfach be-
richtet . Im September 2016, als schließlich die Konturen
der Reform erkennbar waren, trugen der Bundesinnenmi-
nister und der DOSB-Präsident deren Eckpunkte vor, und
im Monat darauf folgte eine Sachverständigenanhörung .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 201723822
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(B) (D)
Namens der Bundesregierung danke ich den Mitglie-
dern des Sportausschusses für die konstruktive Zusam-
menarbeit bei dem Reformvorhaben .
Danken möchte ich auch dem Haushaltsausschuss;
denn Teile der Reform waren schon relevant für den
Haushalt 2018 . Hinweise auf fehlende Etatreife an der
einen oder anderen Stelle nehmen wir als Ansporn für
eine zügige Umsetzung der Reform, und ich hoffe, die
anderen Beteiligten sehen dies genauso .
Inzwischen wurde das Reformkonzept von der
DOSB-Mitgliederversammlung mit großer Mehrheit ver-
abschiedet, und auch das Bundeskabinett hat die Reform
zustimmend zur Kenntnis genommen . Der Abschluss des
Reformkonzepts entspricht auch der Zielstellung des Ko-
alitionsvertrags zum Thema Sport . Deutschland soll als
erfolgreiche Sportnation erhalten bleiben .
Die Spitzensportreform fand in der öffentlichen wie in
der politischen Diskussion sowohl Zustimmung als auch
Kritik . Beides wird in den Anträgen, über die der Bun-
destag heute abstimmt, reflektiert. Der Antrag der Koali-
tionsfraktionen unterstützt unser Konzept .
Selbst der Antrag der Grünen enthält eine Reihe von
Maßnahmen, die im Konzept bereits zu finden sind, wie
etwa verbesserte Möglichkeiten einer Dualen Karrie-
re sowie Verbesserungen bei der beruflichen Situation
der Trainer . Auch bei der Bekämpfung von Doping und
Spielmanipulation hat die Bundesregierung mit von ihr
initiierten und inzwischen in Kraft getretenen Gesetzen
ihre Entschlossenheit bewiesen . Hier hätten Sie, Kolle-
ginnen und Kollegen von den Grünen, bei einem sorg-
fältigen Lesen des Konzepts sowie einer aufmerksamen
Bewertung der Sportpolitik der Bundesregierung in die-
ser Wahlperiode auf manchen Spiegelstrich verzichten
können .
Der Reformprozess ist aber bei Weitem nicht zu Ende .
Wir haben bereits einige wichtige Schritte bei der Umset-
zung unternommen .
Hervorheben möchte ich die Einsetzung der Po-
tAS-Kommission durch Bundesinnenminister Thomas
de Maizière und DOSB Präsident Alfons Hörmann am
8 . Mai 2017 . Es ist uns gelungen, Mitglieder zu gewin-
nen mit Erfahrungen jeweils als aktive Athletin, Ver-
bandsverantwortlicher und Wissenschaftler .
Weitere Umsetzungsmaßnahmen werden nunmehr
rasch folgen; einige sind auch bereits eingeleitet . So
sind wir im BMI zurzeit im Gespräch mit Vertretern der
Länder, um an verschiedenen Nahtstellen Fragen der ge-
meinsamen Finanzierung zu klären .
Sportpolitisches Förderziel des Bundes ist es, dass
sich Deutschland als Sportnation noch besser präsen-
tiert – erfolgreicher, aber zugleich fair und sauber .
Fairness, Achtung sportlicher Regeln und Werte sowie
ein kompromissloses Nein zu Doping gehören genauso
zum deutschen Spitzensport wie Leistung und Erfolg .
Die Spitzensportreform auf der einen sowie das An-
ti-Dopinggesetz und die Neuauflage des Dopingop-
fer-Hilfefonds auf der anderen Seite sowie das Gesetz zur
Strafbarkeit von Sportwettbetrug und der Manipulation
berufssportlicher Wettbewerbe möchte ich hier noch er-
wähnen . Sie ergänzen sich und runden eine erfolgreiche
Sportpolitik der Bundesregierung, ausgerichtet an Leis-
tung und Fair Play, in dieser nunmehr zu Ende gehenden
Wahlperiode ab .
Anlage 20
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– des von der Bundesregierung eingebrach-
ten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung des
Rechts auf Kenntnis der Abstammung bei he-
terologer Verwendung von Samen
– der Beschlussempfehlung und des Berichts des
Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz
zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Keul,
Katja Dörner, Luise Amtsberg, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN: Elternschaftsvereinbarung bei Sa-
menspende und das Recht auf Kenntnis eigener
Abstammung
(Zusatztagesordnungspunkte 9 und 10)
Dr. Georg Kippels (CDU/CSU): Ein erfüllter Kin-
derwunsch ist für viele Ehepaare die Vervollkommnung
ihrer persönlichen Lebensplanung, weil sie Liebe und
Fürsorge für einen Menschen übernehmen wollen und in
diesem und durch diesen Menschen die Fortsetzung ihrer
persönlichen Vita erleben möchten .
Ein unerfüllter Kinderwunsch ist demgegenüber für so
manches Paar eine psychische und emotionale Belastung,
die bis zum Scheitern dieser Verbindung führen kann .
Lange Zeit konnte dies nur durch die Aufnahme ei-
nes bereits geborenen Menschen in die Obhut der Fa-
milie gelöst werden . Die Adoption, juristisch übersetzt:
die Annahme an Kindes statt oder als Kind, durch Be-
gründung eines rechtlichen Eltern-Kind-Verhältnisses
ohne biologische Abstammung wurde schon durch das
römische Recht und im Römischen Reich begründet und
ermöglicht . Wie lange das emotionale Bedürfnis zur Be-
gründung einer Familie schon existiert, wird hierdurch
eindrucksvoll belegt .
Zwischen 1940 und 1960 wurden in England in ei-
ner sogenannten Fruchtbarkeitsklinik erste Forschun-
gen über die künstliche Befruchtung durchgeführt . Auf-
grund der mangelnden gesellschaftlichen Akzeptanz für
eine Samenspende musste der damalige Begründer der
Klinik, Berthold Wiesner, mit eigenem Samen die For-
schung betreiben . Nach entsprechenden Aufzeichnungen
führte dies zu circa 600 Kindern aus seiner Abstammung .
1978 kam mit Louise Joy Brown das erste sehr unpas-
send als „Retortenbaby“ bezeichnete und im Reagenzglas
gezeugte Kind zur Welt . Der medizinische Fortschritt,
der durch die künstliche Befruchtung, die Insemination,
also die Überwindung biologischer Fruchtbarkeitshin-
dernisse, ermöglicht wurde, setzte sich dann – medizi-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 23823
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nisch konsequent – auch in der sogenannten heterologen
Insemination fort, bei der der Samen nicht vom Ehepart-
ner der Frau stammt, sondern durch die sogenannte Sa-
menspende einer Drittperson gewonnen wird .
Bei nüchterner medizinischer Betrachtung ist der
Sachverhalt relativ unspektakulär und für die Eltern sehr
erfreulich . Doch dies ist nur die Sichtweise der Eltern .
Also wo liegt das Problem? Zu Beginn dieser Ent-
wicklung schien die Frage des emotionalen Befindens
des gezeugten Kindes bei Kenntnis seiner Zeugung und
seiner genetischen Abstammung nicht im Fokus der han-
delnden Personen, also der Eltern, gewesen zu sein . Viel-
leicht hat man diese Frage auch nicht erkannt .
Abstammung ist ein Teil der Individualität. Wir defi-
nieren uns aus unserer Umwelt und aus den Personen, mit
denen wir verwandt sind, insbesondere aus den Personen,
aus denen wir hervorgegangen sind oder zumindest her-
vorgegangen zu sein glauben . Insofern kann es eigentlich
nicht zufällig sein, dass seit jeher eine gewisse Tendenz
vorhanden war, diese Abweichung von der normalen
bzw . als solcher empfundenen, aber nicht zutreffenden
Abstammung gegenüber dem Kind verborgen zu halten .
Die Rechtsprechung hat dies dann zunächst für die
Frage der Adoption im Sinne der Persönlichkeitsidenti-
fikation entschieden und ein Recht auf Kenntnis um die
Abstammung anerkannt . Der BGH hat dies dann im Jah-
re 2015 auch zugunsten des durch künstliche Befruch-
tung durch Samenspende gezeugten Kindes fortgeschrie-
ben .
Das Samenspenderregistergesetz regelt deshalb, aber
auch nur konzentriert auf den dortigen Sachverhalts-
komplex, das Recht des Kindes bzw . seiner gesetzlichen
Vertreter auf Kenntnis des genetischen Erzeugers und die
dazu notwendigen Strukturen . Die Vorenthaltung dieser
Kenntnis wäre eine unvertretbare Verletzung des Persön-
lichkeitsrechts des Kindes, die durch kein Interesse eines
Außenstehenden, auch wenn es sich bei der Mutter sogar
um den leiblichen Elternteil handelt, gerechtfertigt wer-
den könnte .
Gleichwohl ist dies kein Prozess, der ohne Auswir-
kung auf die psychische Situation des Betroffenen wie
auch seines Umfeldes bleiben kann . Hier bedarf es der
vorgesehenen Beratung- und Informationsangebote .
Denn plötzlich entspricht das soziale Gefüge nicht mehr
der Vorstellung . Dem trägt das Gesetz Rechnung .
Eine Betroffenheit gibt es aber auch für einen wei-
teren Beteiligten, den Samenspender . Aus seiner me-
dizinischen Bereitschaft wird auf einmal ein konkretes
menschliches Gegenüber, mit dem man sich auseinan-
dersetzen muss . Der anonyme Spender wollte jedoch
gerade nicht familiäre Verantwortung übernehmen . Eine
solche Konsequenz muss zum Erhalt der Spendenbereit-
schaft vermieden werden . Diesem Regelungsbedarf trägt
das Gesetz durch den Ausschluss der rechtlichen Fest-
stellung der Abstammung Rechnung .
Die Erfüllung eines Informationsanspruchs zur Ab-
stammung, der zu den elementarsten Interessen eines
Menschen gehört, wird durch das Gesetz für einen not-
wendigerweise streng reglementierten Bereich ermög-
licht . Die Abstammungsregelung für den Spender ist
hierbei jedoch nur ein notwendiger und folgerichtiger
Annex eines speziellen Falles und dient in keiner Weise
als Blaupause für eine generelle Abstammungsdiskussi-
on . Dazu sind die Rechtspolitiker zu einem späteren Zeit-
punkt berufen .
Ich bitte daher um Zustimmung zu diesem Gesetz .
Dietrich Monstadt (CDU/CSU): Zu wissen, wer die
eigenen, leiblichen Eltern sind, ist das Recht eines jeden
Menschen . Jeder von uns hat das Recht, zu erfahren, von
wem er abstammt . Dies muss auch für diejenigen Men-
schen, die mithilfe einer Samenspende gezeugt wurden,
gelten .
Das Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung
wird aus dem Grundrecht auf freie Entfaltung der Per-
sönlichkeit aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in
Verbindung mit der Würde des Menschen aus Artikel 1
Absatz 1 GG abgeleitet .
Das Bundesverfassungsgericht hat dieses Recht in ei-
nem Urteil vom 31 . Januar 1989 wie folgt beschrieben:
„Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und
die Menschenwürde sichern jedem Einzelnen einen auto-
nomen Bereich privater Lebensgestaltung, in dem er sei-
ne Individualität entwickeln und wahren kann . Verständ-
nis und Entfaltung der Individualität sind aber mit der
Kenntnis der für sie konstitutiven Faktoren eng verbun-
den . Zu diesen zählt neben anderen die Abstammung . Sie
legt nicht nur die genetische Ausstattung des Einzelnen
fest und prägt so seine Persönlichkeit mit .“ Die Abstam-
mung nehme auch eine Schlüsselstellung für Individuali-
tätsfindung und Selbstverständnis ein.
Dass die Kenntnis der eigenen Abstammung damit das
Persönlichkeitsrecht umfasst, bestätigte zuletzt auch das
Urteil des Bundesgerichtshofs vom 28 . Januar 2015 . Seit
fast 20 Jahren besteht damit ein persönliches Auskunfts-
recht auf Kenntnis der Abstammung bei heterologer Ver-
wendung von Samen .
Die Frage ist, ob die Angaben, die nach der TPG-Ge-
webeordnung in den Entnahmestellen zu dokumentieren
sind, dies noch hinreichend gewährleisten . Vielmehr
mussten wir in der Vergangenheit feststellen, dass die
Suche der Betroffenen nach der eigenen Herkunft oft-
mals mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden war:
Welche Entnahmeeinrichtung ist die richtige? Erhalte ich
dort auch die richtigen Daten? Sind die Daten überhaupt
noch vorhanden? Ein langer Weg für die rund 1 000 Kin-
der, die jährlich mit Hilfe einer anonymen Samenspende
in Deutschland gezeugt werden . Zudem waren und sind
Erb- und Unterhaltsansprüche auf beiden Seiten gesetz-
lich nicht vollständig ausgeschlossen, was zu großen
Problemen führt bzw . führen kann .
Bereits im Koalitionsvertrag haben wir vereinbart,
das Recht des Kindes auf Kenntnis seiner Herkunft bei
Samenspenden gesetzlich zu regeln . Dies wird jetzt um-
gesetzt . Es wird ein zentrales Samenspenderregister beim
Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und
Information (DIMDI) eingerichtet . Dort können Perso-
nen, die mittels heterologer Verwendung von Samen im
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 201723824
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Rahmen einer ärztlich unterstützten künstlichen Befruch-
tung gezeugt wurden, künftig auf Antrag Kenntnis über
ihre Abstammung erlangen .
Neben den geweberechtlichen Anforderungen wer-
den dort alle notwendigen verpflichtenden Aufklärungs-,
Dokumentations- und Meldepflichten verwaltet – unter
Gewährung des höchstmöglichen Datenschutzstandards .
Diese Daten werden beim DIMDI maximal 110 Jahre
gespeichert . Dies sichert einen uneingeschränkten und
nachhaltigen Auskunftsanspruch der Spenderkinder . Wer
sind meine Eltern? Wer sind meine Großeltern? Diese
Fragen werden künftig über eine zentrale Informations-
stelle schneller und leichter beantwortet . Damit folgen
wir dem ausdrücklichen Wunsch des Spenderkindes .
Kindeswohl statt Anonymität des Spenders . Genau
das ist der richtige Weg .
Vor jeder Samenspende muss aufgeklärt werden . Dies
ist eine unabdingbare Voraussetzung für die heterologe
Verwendung von Samen . Zukünftig müssen sowohl der
Samenspender als auch die Empfängerin der Samenspen-
de darüber aufgeklärt werden, dass potenzielle Kinder
Zugang zu den Daten haben . Dabei muss auch klar sein,
dass der Anspruch des Spenderkindes bei erteilter Aus-
kunft nicht erlischt . Dies gilt sowohl bei einer Auskunfts-
erteilung an gesetzliche Vertreter vor Vollendung des
16 . Lebensjahres des Spenderkindes als auch bei selbst
eingeholter Auskunft .
Letztlich haben wir auch geregelt, dass der Spender
nicht als rechtlicher Vater festgestellt werden kann . Eine
ergänzende Regelung im Bürgerlichen Gesetzbuch soll
die gerichtliche Feststellung der rechtlichen Vaterschaft
des Samenspenders künftig ausschließen . Damit sind
Ansprüche im Bereich des Sorge-, Unterhalts- und Erb-
schaftsrechts gegenüber dem Spender nicht möglich .
Wir greifen damit gezielt das Anliegen der Betroffe-
nen auf, das Recht auf Kenntnis ihrer Abstammung und
das Finden ihrer biologischen Väter sicherzustellen .
Mit dem vorliegenden Entwurf des Samenspenderre-
gistergesetzes gehen wir einen wichtigen und richtigen
Schritt in Richtung Zukunft . Verfahren werden verein-
heitlicht und vereinfacht . Die Rechte der biologischen
Spender werden klar geregelt .
Deshalb werbe ich um Ihre Zustimmung .
Mechthild Rawert (SPD): Menschen, die durch Sa-
menspende gezeugt wurden, haben das Recht, ihre Ab-
stammung zu kennen, das heißt ihren genetischen Vater .
Diesem Recht entsprechen wir mit der Verabschiedung
dieses Gesetzentwurfes . Wir schaffen damit die Voraus-
setzungen, ein bundesweites Samenspenderregister beim
Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und
Information (DIMDI) einzurichten .
110 Jahre werden die Daten zu den Spendern aufbe-
wahrt, und genauso lang bestehen Auskunftspflichten ge-
genüber den Kindern von Samenspendern darüber, wer
ihr genetischer Vater ist .
Es folgt aus dem Persönlichkeitsrecht des Grundge-
setzes, dass Kinder von Samenspendern die Möglichkeit
erhalten müssen, zu erfahren, woher sie genetisch stam-
men . Es ist enorm wichtig für die Betroffenen: Das Wis-
sen um die Abstammung prägt die Persönlichkeit mit .
Der Regelungsbedarf, der zu diesem Gesetz führte, er-
gab sich aus mehreren Gerichtsurteilen, zuletzt dem Ur-
teil des Bundesgerichtshofs vom 28 . Januar 2015 . Dieses
Urteil stellt klar, dass durch Samenspende gezeugte Per-
sonen unabhängig von ihrem Alter ein Recht auf Kennt-
nis ihrer Abstammung haben .
Wir regeln mit dem Gesetz auch, dass der Samenspen-
der weder durch das Kind noch durch dessen Eltern als
rechtlicher Vater belangt werden kann, zum Beispiel für
Erbschafts- oder Unterhaltsansprüche . Die biologischen
Spender werden entlastet, bei Wunsch des Kindes auf
Kenntnis der Abstammung Verantwortung übernehmen
zu müssen . Ich gehe davon aus, dass dank der nun herge-
stellten Rechtssicherheit die Möglichkeit einer Kontakt-
aufnahme, eines Kennenlernens erleichtert wird .
Dieses Gesetz ist aber noch nicht das Ende der Fah-
nenstange . Es gibt weiteren Reform- und Regelungsbe-
darf, denn der Themenkomplex ist riesig; außerdem hat
er eine hohe gesellschaftspolitische Relevanz . Die repro-
duktive Medizin, ihre technischen Möglichkeiten, ihre
ethischen Fragen und gesellschaftlichen Auswirkungen
sind zunehmend drängende gesellschaftspolitische The-
men . Es geht schließlich um tiefsitzende Wünsche, um
die Freiheit, unterschiedliche Familienformen selbstbe-
stimmt zu gestalten und zu verantworten, es geht um die
Entfaltung der eigenen Persönlichkeit und die Erfüllung
im Leben .
Dieser Gesetzentwurf nimmt ausschließlich Bezug
auf die ärztlich unterstützte künstliche Befruchtung, auf
die „offizielle“ Samenspende. Wir müssen aber auch dis-
kutieren über gleiche Chancen für alle beim Thema der
privaten Spende .
Gerade lesbische oder alleinstehende Frauen greifen
oft auf diese Möglichkeit zurück, weil für sie von vielen
Ärztinnen und Ärzten, von Ärztekammern die künstliche
Befruchtung abgelehnt wird . Sie greifen aber auch da-
rauf zurück, weil sie bewusst andere familiale Verant-
wortungsgemeinschaften leben wollen . Ich befürworte,
dass für lesbische Frauen bzw . Paare oder alleinstehende
Frauen die gleichen Rechte gelten wie für heterosexuelle
Menschen, wenn es um die künstliche Befruchtung geht .
Ich bin der Meinung, dass eine heterologe Insemination
allen Frauen, das heißt unabhängig von sexueller Identi-
tät oder Familienstand, offenstehen sollte .
Offen ist auch noch die Frage, welche Regelungen wir
hinsichtlich des Rechts auf Kenntnis der Abstammung
finden, wenn der biologische Spender in einer auslän-
dischen Samenbank aufgeführt ist; offen sind auch die
Regelungen bei einer Eizellspende im Ausland . Darf es,
kann es eine Ungleichbehandlung der Beteiligten bezüg-
lich der Rechtsfolgen geben im Vergleich zu Menschen,
die im Inland gespendet haben bzw . gezeugt wurden?
Das Themenfeld ist groß: Wir müssen auch über die
abstammungsrechtlichen Fragen diskutieren, die durch
die beiden Studien des Bundesministeriums für Fami-
lie, Senioren, Frauen und Jugend aufgeworfen werden:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 23825
(A) (C)
(B) (D)
„Geschlechtervielfalt im Recht“ und „Regelungs- und
Reformbedarf für transgeschlechtliche Menschen“ .
All diese Fragen werden wir intensiv diskutieren,
wenn die Ergebnisse des Arbeitskreises Abstammung
im Sommer 2017 vorliegen . Das Bundesministerium für
Justiz und Verbraucherschutz hat im Februar 2015 die-
sen interdisziplinären Arbeitskreis eingerichtet . An ihm
sind Sachverständige für die Bereiche Familienrecht,
Verfassungsrecht, Ethik und Medizin bzw . Psychologie
zusammen mit Vertreterinnen und Vertretern verschiede-
ner Bundes- und Landesministerien beteiligt .
Ich bin schon jetzt sehr gespannt auf diese gesell-
schaftliche und politische Debatte und die weiteren Re-
gelungen, die wir treffen werden, um dem gesellschaftli-
chen Wandel hin zu mehr Vielfalt gerecht zu werden . Wir
wollen für viele Menschen gute Voraussetzungen für ein
erfülltes Familienleben, ohne Rechtsstreitigkeiten schaf-
fen .
Kathrin Vogler (DIE LINKE): Mit dem Gesetz zur
Regelung des Rechts auf Kenntnis der Abstammung bei
heterologer Verwendung von Samen soll ein bundes-
weites Samenspenderregister geschaffen und anonyme
Samenspenden sollen untersagt werden . Das begrüße
ich, da Spenderkinder nur auf diesem Wege endlich die
Möglichkeit erhalten können, zu erfahren, von wem sie
abstammen . Ein solches Gesetz war längst überfällig; zu
lange schon bestand Rechtsunsicherheit für Samenspen-
der und eine unerträgliche Situation für die Spenderkin-
der .
Doch hat die Bundesregierung leider einen sehr
schlampigen Gesetzentwurf vorgelegt, der viele Fragen
offenlässt . Die meisten Schwangerschaften nach Sa-
menspende entstehen in Deutschland nicht durch ärzt-
liche Eingriffe mit Unterstützung von Samenbanken,
sondern im privaten Raum . Diese Kinder haben weiter-
hin kein Auskunftsrecht über ihre genetischen Verwandt-
schaftsverhältnisse .
Es ist richtig, eine rechtliche Verwandtschaftsbezie-
hung zwischen Samenspender und Spenderkind grund-
sätzlich auszuschließen . Warum soll es aber kategorisch
ausgeschlossen werden, dass ein genetischer Vater auch
rechtlicher Vater werden kann, falls sich eine entspre-
chend gute und vertrauensvolle Beziehung zwischen ge-
netischem Vater und Kind entwickeln sollte? Hier hätten
wir uns eine Ausnahmemöglichkeit gewünscht, wenn
beide Seiten dies wünschen .
Es ist für mich auch nicht akzeptabel, dass bei den
Festlegungen zur rechtlichen Vaterschaft bei künstlicher
Befruchtung weiterhin getrennt wird zwischen verheira-
teten und nichtverheirateten Paaren . Der männliche Part-
ner der Beziehung soll nur dann automatisch rechtlicher
Vater sein, wenn das Paar verheiratet ist . Für Unverheira-
tete oder erst recht für alleinstehende Frauen oder lesbi-
sche Paare gibt es keine gesetzliche Regelung, sodass die
konservativen Richtlinien der Ärztekammern für künstli-
che Befruchtung weiterhin gelten .
Zu kritisieren bleibt auch, dass ein Auskunftsanspruch
eines Spenderkinds erst ab 16 gilt . Real fängt bei vielen
die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität in der
Pubertät an . Bereits ab 14 ist man in Deutschland reli-
gionsmündig und eingeschränkt straffähig . Aus unserer
Sicht wäre dies eine bessere Altersgrenze auch für das
Auskunftsrecht gewesen . Auch wäre es wünschenswert,
wenn bestimmte grundlegende persönliche Eigenschaf-
ten des Samenspenders, also zum Beispiel Beruf, Hob-
bys und dergleichen, gespeichert würden . Dann könnten
sich die Spenderkinder auch ohne Kontaktaufnahme mit
dem genetischen Vater eine Vorstellung von ihm machen .
In Großbritannien gilt die Regelung, dass Samenspender
einen persönlichen Brief hinterlegen sollen . Das könnte
eine Lösung sein .
Das Nichtwissen über die eigene Abstammung bleibt
aber aus anderen Gründen weiter bestehen: Im Geburten-
register gibt es nämlich keinen Hinweis darauf, dass die
Zeugung per Samenspende erfolgte . So wissen die Be-
troffenen nicht, dass der rechtliche auch der genetische
Vater ist, wenn sie von ihren sozialen Eltern nicht über
ihre genetische Herkunft aufgeklärt worden sind . Aber
das betrifft auch die Enkel, denen ebenfalls ein Recht auf
Kenntnis der Abstammung zugestanden werden sollte .
Eine Fußnote im Geburtenregister für weiter gehende
Daten könnte eine Lösung darstellen . Leider fehlt eine
Regelung für dieses Problem im Gesetzentwurf, genauso
wie Auskunftsrechte für Enkel und Kontaktmöglichkei-
ten für Halbgeschwister, also Kinder des gleichen Sa-
menspenders .
Es fehlen weiter gehende Regelungen für die heute
lebenden Spenderkinder, die ihr Recht auf Kenntnis der
Abstammung nach wie vor nicht umsetzen können . Über
100 000 so gezeugten Menschen in Deutschland wird
dieses Gesetz leider nicht mehr helfen .
Besonders unglücklich finde ich es, dass die Zahl der
per Samen eines einzelnen Spenders gezeugten Kinder
nicht begrenzt wird . So kann es zu einer unübersichtlich
großen Zahl an genetisch verwandten Spenderkindern
kommen, verbunden mit der Gefahr, unwissentlich mit
einem Halbgeschwisterkind eine Familie zu gründen,
und dem damit verbundenen höheren Risiko von Erb-
krankheiten .
Außerdem fehlt eine Regelung zur Embryonenspen-
de, sodass die Rechtsunsicherheiten in diesem Bereich
bestehen bleiben . Zeugungen in Form von Embryo-
nenspenden sind zwar gesetzlich nicht zulässig, aber es
gibt sie dennoch . Darum muss auch für die auf diesem
Wege gezeugten Kinder gesorgt werden .
So geht dieses überfällige Gesetz zwar in die richtige
Richtung, doch weist es bedauerlich viele handwerkliche
Mängel und Regelungslücken auf . Deswegen kann sich
die Linke nur enthalten .
Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit Ih-
rem Gesetz führen Sie endlich ein Samenspenderegister
ein, und das ist zunächst einmal zu begrüßen . Leider ha-
ben Sie die familien- und verfassungsrechtlichen Impli-
kationen Ihres Gesetzes völlig verkannt .
Aber zuerst zum positiven Teil: Das Verfassungsge-
richt hat seit den 80er-Jahren mehrfach klargestellt, dass
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 201723826
(A) (C)
(B) (D)
Kinder einen verfassungsrechtlich geschützten Anspruch
auf Auskunft gegenüber ihren Eltern haben . Niemand be-
streitet mehr, dass die Kenntnis der eigenen Abstammung
zentral bei der eigenen Identitätsfindung sein kann und
die Unkenntnis entsprechend zu gravierenden psychi-
schen Belastungen führen kann . Deswegen ist eine ano-
nyme Samenspende auch jetzt schon unzulässig und eine
Verletzung der Rechte des Kindes .
Es gibt aber bislang einen leider sehr unterschiedli-
chen Umgang mit den Auskunftspflichten gegenüber den
Kindern, bis hin zur gezielten praktischen Verhinderung .
Solange die Rechtslage nicht geklärt ist, will man die ei-
genen Kunden vor etwaigen Erb- oder Unterhaltsansprü-
chen schützen .
Es ist also richtig und wichtig, dass Sie den Aus-
kunftsanspruch der Kinder zumindest gegenüber den
Samenbanken gesetzlich verankern . Leider beschränken
Sie sich auf die Samenbanken und versäumen es, den
Auskunftsanspruch auch für die privaten, also vertrau-
lichen, Spenden im BGB allgemein zu verankern . Dafür
nehmen Sie dem Kind durch eine einfache Ergänzung
des § 1600d BGB mal eben das Recht, die Vaterschaft
des biologischen Vaters feststellen zu lassen . Die Inter-
essenlage der Samenbanken und ihrer Kunden ist zwar
klar und eindeutig – wer Auskunft erteilen muss, will
auch vor etwaigen Erb- oder Unterhaltsansprüchen abge-
sichert sein . So einfach ist das allerdings nicht, und hier
liegt das Grundproblem Ihres Gesetzes:
Sie bringen im Gesundheitsressort ein neues Register-
gesetz auf den Weg, ohne die familienrechtlichen Folgen
zu Ende zu denken . So hat das Kind grundsätzlich Recht
auf zwei Elternteile . Die einseitige Streichung des Fest-
stellungsrechtes ginge allein zulasten des Kindes und ist
damit verfassungsrechtlich unhaltbar .
Wir müssen sicherstellen, dass das im Wege der Sa-
menspende gezeugte Kind seinen zweiten Elternteil nicht
von vorneherein verliert, weil dieser es sich möglicher-
weise anders überlegt . Es muss schon vor der Zeugung
möglich werden, in einer Elternschaftsvereinbarung die
rechtliche Elternschaft des Wunschvaters vertraglich und
verbindlich zu regeln . Das schafft nicht nur Sicherheit
bei Spenden über Samenbanken, sondern gerade auch für
sogenannte vertrauliche Spenden im privaten Umfeld,
vor allem wenn die Eltern nicht miteinander verheiratet
sind . Diese Vereinbarung sollte beim Jugendamt proto-
kolliert werden und mit einer entsprechenden Belehrung
über den zukünftigen Umgang mit dem Auskunftsrecht
gegenüber dem Kind zu dessen Wohl verbunden sein .
Außerdem müssen wir dem Kind einen gesetzlichen
Weg eröffnen, künftig die biologische Vaterschaft des
Spenders feststellen zu lassen, ohne dabei zugleich die
rechtliche Vaterschaft neu zuzuordnen . Eine solche ge-
richtlich festgestellte biologische Vaterschaft ohne Sta-
tusänderung haben wir bereits vor einigen Jahren ins
Gesetz eingeführt, als es um die Durchsetzung von Um-
gangsrechten des biologischen Vaters ging . Es handelt
sich also nicht um eine völlig neue Konstruktion .
Nur wenn dem Kind ein solcher Weg zur Verfügung
steht, ist es verfassungsrechtlich vertretbar, im Gegen-
zug das Anfechtungsrecht der Kinder gegenüber dem
rechtlichen Vater auszuschließen . Im Ergebnis würde die
Elternschaftsvereinbarung sowie eine Minderjährigenad-
option wirken, bei der das Kind ja ebenfalls kein Anfech-
tungsrecht erhält .
Nach vielen Gesprächen mit den Verbänden sowohl
der Eltern als auch der Kinder kann ich Ihnen sagen: Der
Ausgleich der durchaus gegenläufigen Interessen ist alles
andere als banal . Die Eltern wünschen keinen zusätzli-
chen Druck zur Aufklärung ihrer Kinder durch einen
Eintrag im Geburtenregister, während die Spenderkinder
gerne an ihrem Anfechtungsrecht gegenüber dem recht-
lichen Vater festhalten, was aber die Rechtsunsicherheit
aufseiten der Spender nicht aufheben würde .
Unser Vorschlag, den wir hier heute zur Abstimmung
stellen, ist das ausgewogene Ergebnis eines Abwägungs-
prozesses zwischen Auskunftsanspruch auf der einen und
Anfechtungsrecht auf der anderen Seite .
Mit Ihrem Gesetz haben Sie es sich schlicht zu einfach
gemacht und die Grundrechte des Kindes nicht beachtet .
Weil das Samenspenderegister jetzt immerhin teilwei-
se den Auskunftsanspruch des Kindes sichert, wird sich
meine Fraktion heute enthalten . Die Nachbesserung im
Familienrecht ist allerdings unverzichtbar und sollte so
schnell wie möglich erfolgen .
Anlage 21
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Ener-
gie:
– zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Eu-
ropäischen Parlaments und des Rates über die
Durchsetzung der Richtlinie 2006/123/EG über
Dienstleistungen im Binnenmarkt, zur Festle-
gung eines Notifizierungsverfahrens für dienst-
leistungsbezogene Genehmigungsregelungen
und Anforderungen sowie zur Änderung der
Richtlinie 2006/123/EG und der Verordnung
(EU) Nr. 1024/2012 über die Verwaltungszu-
sammenarbeit mit Hilfe des Binnenmarkt-In-
formationssystems KOM(2016)821 endg.; Rats-
dok. 5278/17
– zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Euro-
päischen Parlaments und des Rates über eine
Verhältnismäßigkeitsprüfung vor Erlass neu-
er Berufsreglementierungen KOM(2016)822
endg.; Ratsdok. 5281/17
– zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des
Europäischen Parlaments und des Rates
über den rechtlichen und operativen Rah-
men für die durch die Verordnung ...
[ESC Regulation] eingeführte Elektronische Eu-
ropäische Dienstleistungskarte KOM(2016)823
endg.; Ratsdok. 5283/17
– zu dem Vorschlag für eine Verordnung des
Europäischen Parlaments und des Rates
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 23827
(A) (C)
(B) (D)
zur Einführung einer Elektronischen Euro-
päischen Dienstleistungskarte und entspre-
chender Verwaltungserleichterungen
KOM(2016)824 endg.; Ratsdok. 5284/17
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregie-
rung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grund-
gesetzes
(Zusatztagesordnungspunkt 11)
Astrid Grotelüschen (CDU/CSU): Der vorliegen-
de Entschließungsantrag zu dem im Januar 2017 von
der EU-Kommission vorgelegten Dienstleistungspa-
ket soll mit Nachdruck die kritische Haltung der CDU/
CSU-Fraktion verdeutlichen . Deshalb ist es wichtig, dass
wir die vom Bundestag am 9 . März 2017 verabschiedeten
Subsidiaritätsrügen und Verhältnismäßigkeitsbedenken
nun auch zielführend nachverfolgen . Daher soll der heu-
tige Antrag die Bundesregierung bei ihren Verhandlun-
gen im Rat der EU unterstützen und gleichzeitig unseren
Bedenken Rechnung tragen .
Das vorliegende Dienstleistungspaket geht weit über
die Grenzen des Notwendigen hinaus . Es enthält zu viel
Bürokratie und unnötige Regelungen, die besonders den
vielen kleinen und mittelständischen Dienstleistungsan-
bietern nicht zumutbar sind . Und es sind ja gerade die
rund 2,5 Millionen dem Dienstleistungssektor zuzurech-
nenden Betriebe in Deutschland, die unbürokratischer
und leichter ihre Dienstleistungen auch im europäischen
Binnenmarkt sollen anbieten können .
Dies wird mit dem vorliegenden Paket der Kommissi-
on nicht nur nicht gewährleistet, sondern es konterkariert
auch bereits beschlossene Regelungen – zum Beispiel im
Bereich der Richtlinie über die Anerkennung von Berufs-
qualifikationen oder dem Einheitlichen Ansprechpartner
der Dienstleistungsrichtlinie von 2006 . Wir müssen hier
wachsam sein, damit Doppelstrukturen vermieden wer-
den .
Doch am schwersten wiegen die Bedenken des Bun-
destages im Bereich der Subsidiarität und der Verhältnis-
mäßigkeit der vorgeschlagenen Regelungen, welche in
den im März erhobenen Subsidiaritätsrügen zum Aus-
druck kamen .
Ich möchte betonen, dass wir das Ziel der Kommissi-
on – die Vollendung des Binnenmarktes für Dienstleis-
tungen – unterstützen . Das haben wir in unserer Stellung-
nahme vom 23 . Juni 2016 deutlich gemacht .
Dennoch sehen wir bei dem vorliegenden Paket drin-
genden Überarbeitungsbedarf . Ich möchte dies im Fol-
genden ausführen .
Bei dem Richtlinienvorschlag zur Festlegung eines
Notifizierungsverfahrens dienstleistungsbezogener Ge-
nehmigungsverfahren geht es bei unserer Kritik im Kern
um zwei Punkte: die Begründungspflichten und Notifi-
zierungsfristen sowie das vorgesehene Beschlussrecht
der Kommission, welches vorsieht, dass hier nationale
Gesetzgeber mit einem De-facto-Prüfvorbehalt der Kom-
mission belegt werden .
Über die Länge von Fristen und den Umfang von Be-
gründungspflichten lässt sich streiten: Der vorliegende
Entwurf ist besonders in Hinsicht auf die Verhältnismä-
ßigkeit, gelinde gesagt, fragwürdig .
Wirklich problematisch wird es jedoch, wenn um-
fangreiche Begründungspflichten und kurze Fristen mit
einem Prüfvorbehalt der Kommission verquickt werden .
Deshalb wurde dieser Punkt mit der Rüge vom März
auch ausdrücklich an dieser Stelle angemahnt . Denn die
Regelungen sehen vor: Wenn die Kommission Bedenken
hinsichtlich der Vereinbarkeit einer geplanten Vorschrift
mit der Dienstleistungsrichtlinie sieht, ist eine dreimona-
tige Frist vorgesehen . Während dieser darf die geplante
Vorschrift, vorbehaltlich der von der Kommission gefor-
derten Änderungen, nicht in Kraft treten . Bestehen dann
noch weiterhin Bedenken, kann die Kommission den
Erlass der Vorschriften per Beschluss ganz untersagen .
Ein Mitgliedstaat müsste somit den Weg vor den Europä-
ischen Gerichtshof beschreiten, bevor er sein Gesetzge-
bungsrecht wahrnehmen kann .
Das geht zu weit! Dass die Kommission hier ihre
Kompetenzen überschreitet, sollte offensichtlich sein .
Denn es gibt bereits den im Vertrag von Lissabon verein-
barten Weg der Klage vor dem EuGH, wenn die Kom-
mission der Meinung ist, dass ein Mitgliedstaat gegen
seine Pflichten verstoßen hat. Diesen Weg „umschiffen“
zu wollen, stellt nicht nur in den Augen von Bundesrat
und Bundestag eine Überschreitung der Kompetenzen
der Kommission dar – auch unsere Freunde und Partner
in den beiden Kammern des französischen Parlaments
haben hier eindeutig in Form einer Subsidiaritätsrüge
Stellung bezogen .
Daher fordern wir mit dem Entschließungsantrag von
heute ganz deutlich: Wir müssen uns auch bei den ande-
ren Mitgliedstaaten dafür einsetzen, dass dieses Notifi-
zierungsverfahren nur dann zustimmungsfähig ist, wenn
die Vorschläge so abgeändert werden, dass der „präventi-
ve Prüfvorbehalt“ der Kommission entfällt .
Ähnlich kritisch ist die Situation bei der vorgeschla-
genen Richtlinie über eine Verhältnismäßigkeitsprüfung
vor Erlass neuer Berufsreglementierungen .
Ich betone: Die ständige Rechtsprechung des EuGH
ist eindeutig: Die Reglementierung von Berufen ist Sache
der Mitgliedstaaten . Natürlich ist es für einen funktionie-
renden Binnenmarkt – zumal bei Dienstleistungen – not-
wendig, eine inhaltliche Annäherung der verschiedenen
europäischen Berufsreglementierungen zu erzielen . Nur
so können wir guten Gewissens die beruflichen Qualifi-
kationen anderer Mitgliedstaaten anerkennen – guten Ge-
wissens nicht zuletzt auch im Interesse der Verbraucher,
die als Kunden Dienstleistungen in Anspruch nehmen .
Aber mit der Anerkennungsrichtlinie existiert bereits
eine Regelung, die sicherstellt, dass weitere nationale
Berufsreglementierungen nicht zu marktverzerrenden
Effekten führen . Bereits jetzt wird so anhand von vier
Prüfkriterien, welche auf der EuGH-Rechtsprechung zur
Verhältnismäßigkeit basieren, die Verhältnismäßigkeit
neuer, nationaler Reglementierungen festgestellt – oder
eben nicht .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 201723828
(A) (C)
(B) (D)
Dass nun mit dem vorliegenden Vorschlag der Kom-
mission elf (!) neue Prüfkriterien hinzukommen sollen,
reicht aber noch nicht; nein, diese elf Kriterien werden
noch um zehn weitere ergänzt!
Die Kommission mag dies für effektive, engmaschige
Harmonisierung auf dem Weg zu einem „durchharmoni-
sierten“ Dienstleistungsbinnenmarkt halten . Ich nenne es
unverhältnismäßige Bürokratie, unzulässiges Einschrän-
ken nationaler Entscheidungshoheiten und ganz generell
„Herumdoktern“ an der falschen Stelle .
Besonders im Dienstleistungssektor, der in hohem
Maße von Innovation, Qualität und Flexibilität abhängt,
droht eine Überregulierung nicht nur den Dienstleis-
tungsmarkt zu bremsen, sondern ihm gar zu schaden .
Hier gehört nicht durchharmonisiert; hier gehört Innova-
tion, Qualität und Flexibilität gefördert .
Dass dies auf der Basis verlässlicher Qualitätsstandard
geschehen muss, ist, wie bereits erwähnt, mit der Aner-
kennungsrichtlinie sichergestellt . Und sollten hier Verän-
derungen objektiv notwendig sein, sind wir auch immer
für Argumente und Anpassungen mit Augenmaß offen .
Aber auf einen Schlag 21 neue Kriterien einzuführen,
das grenzt an puren Aktionismus, ist unverhältnismäßig
und droht durch seine Engmaschigkeit die Gesetzge-
bungskompetenz der Mitgliedstaaten in Bereichen einzu-
schränken, in denen Harmonisierungsverbot herrscht – so
zum Beispiel in der Bildungspolitik . Dies ist insbesonde-
re bei uns in Deutschland mit unserem Meisterbrief und
unserem vielgelobten dualen Ausbildungssystem nicht
akzeptabel!
Daher war und ist hier eine Subsidiaritätsrüge ange-
bracht, und deshalb fordern wir auch heute mit diesem
Entschließungsantrag die Bundesregierung auf, sich da-
für einzusetzen, dass klargestellt wird, dass die Regle-
mentierung von Berufen eine autonome Entscheidung
der Mitgliedstaaten ist und auch in Zukunft bleiben wird .
Das Harmonisierungsverbot im Bereich der Bildungspo-
litik muss respektiert werden .
Gegen den Vorschlag einer Richtlinie sowie einer
Verordnung zur Einführung der Elektronischen Europä-
ischen Dienstleistungskarte haben wir keine Subsidia-
ritätsrüge erhoben . Die Zuständigkeit der Kommission
steht hier außer Frage .
Doch die vorliegende Ausgestaltung der Kommis-
sion wirft massive Fragen der Verhältnismäßigkeit auf .
Offensichtlich sollen hier Doppelstrukturen geschaffen
werden .
Wie verhält sich die geplante Dienstleistungskarte
zum erst 2013 eingeführten Berufsausweis? Ungeklärt .
Auch die geplanten, für die Erteilung der Dienstleis-
tungskarte zuständigen „koordinierenden Behörden“ im
Herkunfts- und Aufnahmestaat tragen das Risiko der
Schaffung von Doppelstrukturen in sich . Wie verhalten
sich die geplanten „koordinierenden Behörden“ zum mit
der Dienstleistungsrichtlinie verfolgten Konzept der Ein-
heitlichen Ansprechpartner? Ebenfalls ungeklärt .
Hier setzt auch einer der Hauptkritikpunkte an der
Dienstleistungskarte an . Diese soll von den Mitglied-
staaten als Nachweis dafür akzeptiert werden, dass der
Inhaber in seinem Herkunftsstaat niedergelassen und be-
rechtigt ist, die ausgewiesene Dienstleistung anzubieten .
Jeder Mitgliedstaat soll zu diesem Zweck eine – oben
bereits erwähnte – koordinierende Behörde einrichten .
Die Dienstleistungskarte wird bei der koordinierenden
Behörde des Herkunftsstaates gestellt . Dieser prüft die
Unterlagen und leitet sie an den Aufnahmestaat weiter .
Der Aufnahmestaat hat dann innerhalb von nur vier bis
sechs Wochen den weitergeleiteten Antrag zu prüfen
und gegebenenfalls Widerspruch einzulegen . Kann der
Aufnahmestaat diese Prüffrist nicht einhalten, soll eine
Genehmigungsfiktion greifen – mit anderen Worten: Die
Karte gilt dann als erteilt und kann auch nicht im Nach-
hinein entzogen werden . Dies ist die Einführung des
Herkunftslandprinzips durch die Hintertür und das muss
verhindert werden!
Wieder ist es die Mischung aus zu kurz bemessenen –
aber verhandelbaren – Prüffristen gepaart mit einer – bei
Nichteinhaltung – automatisch greifenden Kompetenz-
aneignung der Kommission, die eine Zustimmung zur
Dienstleistungskarte in der hier vorliegenden Form un-
möglich macht .
Daher sagen wir ausdrücklich: Die Bundesregierung
muss klären, in welchem Verhältnis die vorgeschlagenen
Regelungen zu bereits bestehenden Strukturen stehen,
insbesondere mit Bezug zum Berufsausweis und dem
Konzept des Einheitlichen Ansprechpartners . Vor allem
aber muss sie darauf hinwirken, dass die Regelungen
nicht faktisch auf eine Einführung des Herkunftsland-
prinzips und eine Änderung geltenden Rechts in den Mit-
gliedstaaten hinausläuft .
Lassen Sie mich abschließend noch ein paar Worte
zum Instrument der Subsidiaritätsrüge sagen . Da gab es
ja durchaus Kritik, dass eine solche Rüge gar nicht ange-
bracht sei und wir hier nur aktiv würden, „um der Kom-
mission eins auszuwischen“ .
Hierzu sage ich: Das ist sachlich nicht richtig! Ich habe
Ihnen gute Gründe für die beiden erhobenen Subsidiari-
tätsrügen zum Notifizierungsverfahren und zur Verhält-
nismäßigkeitsprüfung genannt . Wir haben eben bewusst
von einem solchen Schritt bei der Dienstleistungskarte
abgesehen, da wir hier keine Kompetenzüberschreitung
der Kommission sehen, sondern die inhaltliche Unver-
hältnismäßigkeit des Richtlinienvorschlags deutlich ma-
chen . Daher ist der Vorwurf, wir würden Stimmung ge-
gen die EU machen konstruiert .
Wir als Deutscher Bundestag haben die Pflicht, früh-
zeitig und klar unsere Position zu verdeutlichen . Ich kann
nicht deutlich genug die Worte von Kommissionspräsi-
dent Jean-Claude Junker anlässlich des 70-jährigen Be-
stehens des Niedersächsischen Landtags unterstreichen:
Klopfen Sie der Kommission auf die Finger, wenn
wir die Finger zu weit ausstrecken . Wenn die Par-
lamente sich nicht einmischen, dann mischen die
Populisten sich ein .
Genau das tun wir heute . Wir mischen uns ein, und
wir gestalten konstruktiv mit . Dieses starke Signal an die
Kommission ist meiner Meinung nach zutiefst europä-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 23829
(A) (C)
(B) (D)
isch: Wir zeigen der Kommission deutlich auf, dass sie
hier an den Realitäten vorbei gezielt hat . In enger Ab-
stimmung mit unseren europäischen Partnern und durch
das Instrument der Subsidiaritätsrüge unterstützen wir
die von uns allen gewünschte Konsolidierung des euro-
päischen Dienstleistungsmarkts . Und wir bewahren die
Kommission davor, in unseren Wahlkreisen von den rund
2,5 Millionen Betrieben mit ihren über 32 Millionen Be-
schäftigten abermals als ausuferndes Bürokratiemonster
wahrgenommen zu werden . Das ist proeuropäisches Ver-
halten und im Sinne unseres gemeinsamen Binnenmark-
tes .
Ich bitte Sie daher, dem vorliegenden Entschließungs-
antrag zuzustimmen .
Sabine Poschmann (SPD): Wie im März bereits
angekündigt, haben wir in der Zwischenzeit einen Ent-
schließungsantrag erarbeitet, in dem wir uns kritisch mit
der Dienstleistungskarte auseinandersetzen . Diese ist
Teil der Vorschläge der Europäischen Kommission für
ein Dienstleistungspaket, mit der sie den Marktzugang
von Dienstleistern vereinfachen und den Wettbewerb be-
leben will .
Die ebenfalls im Paket enthaltenen Richtlinienvor-
schläge zum Notifizierungsverfahren und zur Verhältnis-
mäßigkeitsprüfung hatten wir im März bereits gegenüber
der Kommission gerügt, weil wir das Subsidiaritätsprin-
zip der EU-Verträge verletzt sahen .
Die Idee der Dienstleistungskarte mag auf den ersten
Blick sinnvoll erscheinen . Sie soll Handwerkern aus der
Baubranche sowie Architekten und Ingenieuren erlauben,
überall in der EU ohne großen bürokratischen Aufwand
tätig zu sein . So soll es im Herkunftsland eine Behörde
geben, bei der der Dienstleister seine Unterlagen digital
und in seiner Landessprache einreichen kann . Diese prüft
und gibt sie an das Aufnahmeland weiter . Hier wird er-
neut geprüft, und das Einverständnis führt zur Ausstel-
lung der Karte – Ausgabe wiederum im Herkunftsland .
Doch bei diesem Vorschlag gibt es gravierende Be-
denken unsererseits .
Der Prüfungszeitraum im Aufnahmeland beträgt le-
diglich vier Wochen bei vorübergehender und sechs Wo-
chen bei dauerhafter Dienstleistungserbringung . Kann in
dieser Zeit beispielsweise aufgrund von fehlenden Kapa-
zitäten nicht widersprochen werden, gelten die Angaben
der Karte dennoch als anerkannt, und zwar dauerhaft .
Eine so kurze Prüffrist für einen derart komplexen Vor-
gang käme daher einer Einführung des Herkunftsland-
prinzips gleich – demzufolge die gesetzlichen Bestim-
mungen des Heimatlandes auch für das Aufnahmeland
gelten, zumal keine weiteren Anforderungen im Nachhi-
nein an den Besitzer einer Karte gestellt werden dürfen .
Ferner können die konkreten Unterlagen des Dienst-
leisters, wie Ausbildungsabschlüsse, die nur der Behörde
im Herkunftsland vorliegen, jenseits der Grenze nicht
kontrolliert werden . Die nationalen Kontrollrechte des
Aufnahmelandes werden so umgangen; denn dieses wür-
de vielleicht zu einer anderen Einschätzung kommen .
Auch kann mit falschen Angaben zur Branchenzugehö-
rigkeit und zur Selbstständigkeit der branchenspezifische
Mindestlohn umgangen werden .
Wir sehen zudem die Gefahr, dass die Karte an
sich auch als Beleg für eine selbstständige Tätigkeit
herangezogen werden könnte, obwohl der Besitzer
tatsächlich abhängig beschäftigt ist . Damit würde
natürlich die Sozialversicherungspflicht umgangen und
die Scheinselbstständigkeit gefördert werden .
Tief in die Souveränität der Mitgliedstaaten greift der
Vorschlag ein, eine koordinierende Stelle einzurichten .
Ihre Aufgabe wäre es, die Unterlagen für die Karte zu
sichten, zu vergleichen und zu prüfen . Diese Behörde
müsste in Deutschland auf Bundesebene entstehen und
widerspricht somit unserer föderalen Struktur – zumal
wir auf Länderebene Berufskammern haben, die im
Gegensatz zu der neuen Behörde über das notwendige
Know-how verfügen . Darüber hinaus würden hier unnö-
tige Doppelstrukturen entstehen .
Deshalb bekräftigen wir mit dem vorliegenden Antrag
unsere Forderung, den Vorschlag zur Dienstleistungskar-
te grundsätzlich zu überarbeiten . Auch drängen wir erneut
darauf, dass die Vorschläge zum Notifizierungsverfahren
sowie zur Verhältnismäßigkeitsprüfung abgeändert wer-
den . Ein Gutachten aus dem BMWi bestätigt, dass die
EU mit dem Vorschlag zum Notifizierungsverfahren ihre
Kompetenzen überschreitet . Deswegen wissen wir auch
unsere Wirtschaftsministerin Brigitte Zypries hinter uns .
Sie hat ebenfalls Widerstand bei der Dienstleistungskarte
angekündigt und wird die Interessen des Parlaments ge-
genüber der Europäischen Kommission vertreten .
Es kann nicht sein, dass Wettbewerb vor Verbraucher-
schutz und Arbeitnehmerrechte geht . Aber das scheint
der EU in diesem Punkt wichtiger zu sein . Deregulierung
kann offenbar nur erreicht werden, wenn Anforderun-
gen an Qualifikation des Dienstleisters sowie Qualität
der Dienstleistung gesenkt werden . Aber ist das wirklich
das, was wir wollen? Zumal das dann bedeuten würde,
dass der Meisterbrief und somit unsere duale Ausbildung
grundsätzlich ebenfalls in Gefahr ist .
Da sagen wir eindeutig Nein; da gehen wir nicht mit .
Wir bleiben dabei: Berufsausübungsregeln und Hono-
rarordnungen sind sinnvoll, wenn sie für Qualität, Ver-
braucherschutz und den Schutz der Beschäftigten sorgen .
Deswegen bleiben wir hier hart und werden unsere Zu-
ständigkeit und unsere Standards weiter verteidigen .
Klaus Ernst (DIE LINKE): Wenn die Große Koali-
tion ausnahmsweise mal etwas Richtiges macht – was
selten genug vorkommt –, hat sie unsere Unterstützung .
Bei der Kritik am EU-Dienstleistungspaket ist das der
Fall . Das Paket ist Teil der Binnenmarktstrategie der
Kommission vom Oktober 2015, in welcher die Kom-
mission bereits Maßnahmen für einen Binnenmarkt ohne
Grenzen für Dienstleistungen angekündigt hatte . Mit
dem EU-Dienstleistungspakt möchte die Kommission
die Notifizierung von Dienstleistungsberufen sowie die
Verhältnismäßigkeit nationaler Regeln zur Berufszu-
lassung verändern und eine Elektronische Europäische
Dienstleistungskarte einführen . Das soll einer angeblich
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 201723830
(A) (C)
(B) (D)
mangelnden Mobilität der Unternehmen und Beschäftig-
ten auf dem Arbeits- und Dienstleistungsmarkt aufgrund
von vorhandenen Reglementierungen entgegenwirken .
Ich möchte diese drei Punkte kurz erläutern:
Die bestehende EU-Dienstleistungsrichtlinie regelt,
dass bestimmte nationale Rechtsvorschriften zu Dienst-
leistungsberufen und qualitativen Anforderungen dem
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht widersprechen
dürfen und im Sinne des Allgemeininteresses begründet
sein müssen . Neue oder geänderte Regelungen und An-
forderungen zur Berufszulassung müssen der EU-Kom-
mission mitgeteilt, das heißt notifiziert werden.
Nun will die Kommission, dass bereits Entwürfe von
berufsreglementierenden Rechtsvorschriften spätestens
drei Monate vor deren Erlass notifiziert werden. Darauf
soll eine Konsultationsphase folgen . Bei Bedenken kann
die Kommission die Stillhaltefrist um weitere drei Mona-
te ausdehnen, in der das Gesetz oder die Vorschrift nicht
erlassen werden dürfen . Die Kommission soll zudem das
Recht bekommen, die Unvereinbarkeit des geplanten
nationalen Rechtsakts mit der Dienstleistungsrichtlinie
festzustellen und vom EU-Mitgliedstaat zu verlangen,
von diesem Abstand zu nehmen . Gegen diesen Beschluss
wiederum könnte der Mitgliedstaat vor dem Europäi-
schen Gerichtshof eine Nichtigkeitsklage erheben . Wir
sagen: Diese Regelungen würden die Entscheidungsfrei-
heit nationaler Gesetzgebung über die Maßen einschrän-
ken .
Das Gleiche gilt für den Richtlinien-Entwurf zur Ver-
hältnismäßigkeitsprüfung vor Erlass neuer Berufsregle-
mentierungen . Dieser hat das Ziel, Kriterien festzulegen,
nach denen die Mitgliedstaaten vor Erlass von einschrän-
kenden Bestimmungen zum Zugang oder zur Ausübung
reglementierter Berufe deren Verhältnismäßigkeit prüfen
sollen .
Hier kritisieren wir erstens, dass die EU nicht zu-
ständig ist . Auch die Rechtsprechung des Europäischen
Gerichtshofes spricht dafür, dass die Mitgliedstaaten in
eigener Regelungsbefugnis bestimmen können, welche
Berufe auf welchem Niveau reglementiert werden .
Zweitens stößt die angestrebte Vereinheitlichung der
Verfahren aufgrund der sehr unterschiedlichen Ausbil-
dungs-, Zulassungs- und Qualifikationsanforderungen
an klare Grenzen . Etwa viele Handwerksberufe sind in
Deutschland aus gutem Grund reglementiert . Bereits
vollzogene Deregulierungen haben gezeigt, dass dies
prekäre Soloselbstständigkeit befördert und sich in der
Folge negativ auf Beschäftigung und Ausbildung aus-
wirkt . Das wollen wir nicht .
Mit der Richtlinie zur Elektronischen Dienstleistungs-
karte sollen Dienstleistungsanbieter einen Ansprechpart-
ner im Heimatland und in ihrer eigenen Sprache bekom-
men, bei dem sie die Dienstleistungskarte beantragen
können . Diese soll die Niederlassung im Herkunftsland
belegen und nachweisen, dass ihr Inhaber berechtigt ist,
die ausgewiesene Dienstleistung im Aufnahmeland aus-
zuüben . Dafür prüft die Koordinierungsstelle im Her-
kunftsland den Antrag und die Dokumente und leitet sie
dann an die Koordinierungsstelle im Aufnahmeland wei-
ter . Letzteres bleibt formal zuständig für die Anwendung
der nationalen Vorschriften und die Entscheidung, ob der
Antragsteller in seinem Hoheitsgebiet überhaupt Dienst-
leistungen anbieten darf .
Laut Richtlinienentwurf hat allerdings die zuständige
Behörde des Aufnahmestaates nur zwei Wochen Zeit, um
den Antrag auf Zulassung als Dienstleister zu prüfen . Re-
agiert er nicht innerhalb von vier Wochen nach Übersen-
dung des Antrags, stellt der Herkunftsstaat die Dienstleis-
tungskarte aus, die laut Richtlinien-Entwurf unbegrenzt
gültig sein soll . Das ist natürlich absurd! Die Prüf- und
Einspruchsfristen im Aufnahmeland sind viel zu kurz .
Dazu kommt, dass das Aufnahmeland schwerlich in der
Lage sein wird, zu kontrollieren, ob die übermittelten Da-
ten korrekt und aktuell sind – zumal der öffentliche Sek-
tor in den EU-Mitgliedstaaten zusammengespart wurde
und an Personalnot leidet . Die Dienstleistungskarte in
der vorgeschlagenen Form wird Schmutzkonkurrenz und
Scheinselbstständigkeit im Dienstleistungsbereich weiter
befördern .
Der Bundestag hatte zusammen mit dem Bundesrat
bereits eine Subsidiaritätsrüge zum EU-Dienstleistungs-
paket erhoben . Mit einem zweiten Entschließungsantrag
bekräftigt die Große Koalition einige inhaltliche Kritik-
punkte .
Die Kritik müsste jedoch tiefer gehen: Wer den eu-
ropäischen Binnenmarkt mit den Freiheiten für Perso-
nen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr zu
den größten Errungenschaften Europas zählt, ist in der
Pflicht, das Funktionieren mit guten Regeln und gemein-
samen hohen Standards zu sichern . Ansonsten kommt
es zu einer Abwärtsspirale bei Standards, Sozialabga-
ben und auch Steuern – das lehren uns nicht zuletzt die
bisherigen Erfahrungen . Das bislang dominante Wettbe-
werbs- und Konkurrenzmotiv im Binnenmarkt hat über
Vorschriften und Richtlinien einen Prozess des stetigen
Sozial- und Lohndumping befördert, der heimische An-
bieter von Dienstleistungen stark unter Druck gesetzt hat .
Zugleich ist durch die massive Rückführung der öffent-
lichen Beschäftigung und den Abbau der Kapazitäten in
den Behörden eine schnelle, sachliche Prüfung zur Auf-
deckung von Verstößen gar nicht mehr möglich . Doch
nur ein soziales Europa wird Rückhalt bei den Bürgerin-
nen und Bürgern haben .
Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Die Dienstleistungsfreiheit ist eine der vier zen-
tralen Säulen der EU, und es ist Aufgabe der Kommissi-
on, den gemeinsamen Binnenmarkt weiterzuentwickeln .
Deshalb haben wir auch die Subsidiaritätsrüge zum
Dienstleistungspaket nicht mitgetragen .
Wenn Hürden für die europaweit tätigen Dienstleis-
ter bestehen, dann müssen sie natürlich abgebaut wer-
den . Aber die Veränderungen müssen immer den hart
erkämpften Grundsätzen der Dienstleistungsrichtlinie
entsprechen . Konkret bedeutet dies, dass immer die Ar-
beits- und Sozialstandards des Ziellandes garantiert wer-
den müssen . Die Regeln im Zielland müssen einheitlich
sein, denn nur so ist ein fairer Wettbewerb möglich – zum
Schutz der Beschäftigten, aber auch der Betriebe . Dafür
haben wir uns immer eingesetzt, und nach diesen Grund-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 234 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 18 . Mai 2017 23831
(A) (C)
(B) (D)
sätzen bewerten wir auch das geplante Dienstleistungs-
paket .
Wir begrüßen es, dass sich die Regierungsfraktio-
nen jetzt nicht mehr mit der Frage beschäftigten, ob die
Kommission tätig werden darf, sondern sich endlich in-
haltlich mit den vorgeschlagenen Maßnahmen der Kom-
mission auseinandersetzen . Und wir begrüßen auch den
vorliegenden Entschließungsantrag, dem wir zustimmen
werden . Denn auch wir wollen die Einführung des Her-
kunftslandprinzips um jeden Preis verhindern . Nationale
Standards und Arbeitnehmerrechte dürfen der Dienstleis-
tungsfreiheit nicht untergeordnet werden .
Die drei wesentlichen Aspekte des Dienstleistungs-
paketes möchte ich kurz ansprechen . Beim sogenannten
Notifizierungsverfahren soll die Kommission ein Ein-
spruchsrecht erhalten und bei berufsreglementierenden
Regelungen in Deutschland bereits früher eingreifen
können . Dieses veränderte Verfahren betrachten wir mit
Sorge; denn so könnte der Handlungsspielraum der Mit-
gliedstaaten stark eingeschränkt werden . Und das lehnen
wir ab; denn nationale Berufsreglementierungen sind uns
wichtig .
Die geplante Dienstleistungskarte könnte, gut ausge-
staltet, zu mehr Transparenz führen . Voraussetzung dafür
wäre aber, dass solch eine Karte im Aufnahmestaat und
nicht im Herkunftsstaat beantragt wird . Ist das nicht der
Fall, dann wird – aufgrund der sehr kurzen Fristen und
der Genehmigungsfiktion im vorgelegten Entwurf – das
Herkunftslandprinzip durch die Hintertür eingeführt .
Und das lehnen wir strikt ab .
Sichergestellt werden muss auch, dass die Entsen-
derichtlinie Beachtung findet und branchenspezifische
Mindestlöhne nicht durch die Branchenzuordnung um-
gangen werden können . Denn Mindestlöhne sind elemen-
tar wichtig, um einen Wettbewerb über die niedrigsten
Löhne zu verhindern. Davon profitieren die Beschäftig-
ten und auch die verantwortlich handelnden Betriebe .
Und schlussendlich haben wir auch noch Anforderungen
an die Verhältnismäßigkeitsprüfung . Berufsreglementie-
rungen sollen weiterhin in der Kompetenz der Mitglied-
staaten bleiben .
Wir fordern die Bundesregierung auf, bei den Ver-
handlungen die geltenden Sozial- und Arbeitsstandards
zu verteidigen, aber gleichzeitig konstruktiv an der Wei-
terentwicklung des europäischen Dienstleistungsmarktes
mitzuwirken .
Eines ist mir aber noch wichtig: Die Regierungsfrak-
tionen verteidigen gerade sehr stark nationale Interessen .
Vor diesem Hintergrund fordern wir aber auch konse-
quentes Handeln bei anderen relevanten Themen . Die
Bundesregierung muss sich genauso stark auf europäi-
scher Ebene für das Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche
Arbeit am gleichen Ort“ einsetzen . Scheinselbstständig-
keit und Schwarzarbeit müssen auf nationaler und eu-
ropäischer Ebene verhindert werden . Elementar wich-
tig sind dafür effektive Kontrollen . Deshalb muss die
Finanzkontrolle Schwarzarbeit endlich mit ausreichend
Personal ausgestattet werden . Wer für einen fairen Wett-
bewerb kämpft, der muss die Betriebe und die Beschäf-
tigten gleichermaßen schützen .
Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
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234. Sitzung
Inhaltsverzeichnis
TOP 7 15 Entwicklungspolitischer Bericht
TOP 8, ZP 2 Entwicklung und Bestand des sozialen Wohnungsbaus
TOP 9 Verbraucherpolitischer Bericht
TOP 43, ZP 3 Überweisungen im vereinfachten Verfahren
TOP 44, ZP 4 Abschließende Beratungen ohne Aussprache
ZP 5 Aktuelle Stunde zu den Vorschlägen von Präsident Macron zur EU-Wirtschafts- und Finanzpolitik
TOP 10 Verbesserung des Hochwasserschutzes
TOP 11 Kulturförderung
TOP 12 Futtermittel- und tierschutzrechtliche Vorschriften
TOP 13 Kita- und Schulverpflegung
TOP 14 Bundeswehreinsatz EUTM Mali
TOP 15 Völkerstrafrecht und internationale Beziehungen
TOP 16 Bundeswehreinsatz EU NAFVOR Operation Atalanta
TOP 17 Aufnahme sozialer Grundrechte in das Grundgesetz
TOP 18 Bundeswehreinsatz KFOR in Kosovo
ZP 6 Abzug der Bundeswehr aus Incirlik
TOP 20 Durchsetzung der Ausreisepflicht
TOP 21 Entkriminalisierung von Lebensmittelrettern
TOP 22 Umsetzung der EU-Geldwäscherichtlinie
TOP 19 Jemenpolitik
TOP 23 Elektronischer Identitätsnachweis
TOP 24 Änderung des Waffengesetzes
TOP 25 Bevollmächtigung im Bereich der Gesundheitssorge
TOP 26 Minamata-Übereinkommen über Quecksilber
TOP 27 Einführung der elektronischen Akte in Strafsachen
TOP 28 Änderung des E-Government-Gesetzes
TOP 29, ZP 7 Änderung personenstandsrechtlicher Vorschriften
TOP 30 Einführung eines Anspruchs auf Hinterbliebenengeld
TOP 31 Errichtung einer EU-Lateinamerika/Karibik-Stiftung
TOP 32 Urheberrechts-Wissensgesellschafts-Gesetz
TOP 33 Gesetz zur Förderung von Mieterstrom
TOP 34 Beitritt Ecuadors zu einem EU-Handelsübereinkommen
TOP 35, ZP 8 Kinder- und Jugendstärkungsgesetz
TOP 36 Spitzensportförderung
ZP 9 u. ZP 10 Kenntnis auf Abstammung bei Samenspende
ZP 11 Dienstleistungen im Binnenmarkt
Anlagen
Anlage 1
Anlage 2
Anlage 3
Anlage 4
Anlage 5
Anlage 6
Anlage 7
Anlage 8
Anlage 9
Anlage 10
Anlage 11
Anlage 12
Anlage 13
Anlage 14
Anlage 15
Anlage 16
Anlage 17
Anlage 18
Anlage 19
Anlage 20
Anlage 21