2) Anlage 16
Vizepräsidentin Claudia Roth
(A) (C)
(B) (D)
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 23357
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Dağdelen, Sevim DIE LINKE 27 .04 .2017
De Ridder, Dr . Daniela SPD 27 .04 .2017
Dröge, Katharina * BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
27 .04 .2017
Ehrmann, Siegmund SPD 27 .04 .2017
Fabritius, Dr . Bernd CDU/CSU 27 .04 .2017
Haase, Christian CDU/CSU 27 .04 .2017
Heil (Peine), Hubertus SPD 27 .04 .2017
Hellmich, Wolfgang SPD 27 .04 .2017
Hornhues, Bettina CDU/CSU 27 .04 .2017
Irlstorfer, Erich CDU/CSU 27 .04 .2017
Kiesewetter, Roderich CDU/CSU 27 .04 .2017
Kindler, Sven-Christian BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
27 .04 .2017
Kudla, Bettina CDU/CSU 27 .04 .2017
Lerchenfeld, Philipp
Graf
CDU/CSU 27 .04 .2017
Leutert, Michael DIE LINKE 27 .04 .2017
Leyen, Dr . Ursula von
der
CDU/CSU 27 .04 .2017
Liebing, Ingbert CDU/CSU 27 .04 .2017
Möring, Karsten CDU/CSU 27 .04 .2017
Nahles, Andrea SPD 27 .04 .2017
Obermeier, Julia CDU/CSU 27 .04 .2017
Özoğuz, Aydan SPD 27 .04 .2017
Pitterle, Richard DIE LINKE 27 .04 .2017
Post, Florian SPD 27 .04 .2017
Pronold, Florian SPD 27 .04 .2017
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Roth (Heringen),
Michael
SPD 27 .04 .2017
Schlecht, Michael DIE LINKE 27 .04 .2017
Schön (St . Wendel),
Nadine
CDU/CSU 27 .04 .2017
Schwabe, Frank SPD 27 .04 .2017
Siebert, Bernd CDU/CSU 27 .04 .2017
Tank, Azize DIE LINKE 27 .04 .2017
Werner, Katrin DIE LINKE 27 .04 .2017
Zertik, Heinrich CDU/CSU 27 .04 .2017
*aufgrund gesetzlichen Mutterschutzes
Anlage 2
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung zu dem Antrag der
Abgeordneten Dr. Rosemarie Hein, Sigrid Hupach,
Karin Binder, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE: Kein Lobbyismus im Klas-
senzimmer (Tagesordnungspunkt 18)
Xaver Jung (CDU/CSU): Heute diskutieren wir aber-
mals den Antrag „Kein Lobbyismus im Klassenzimmer“,
in dem die Fraktion Die Linke (praktisch) vorschlägt, Un-
ternehmen und Wirtschaftsverbände aus unseren Schulen
zu verbannen . Dies gilt es entschieden abzulehnen! Denn
weder können noch wollen wir externe Partner auf Kos-
ten unserer Schülerinnen und Schüler ausschließen .
Lehr- und Lernmittel müssen nach den Schulgeset-
zen der Länder zur Erfüllung des Erziehungsauftrages
der Schule sowie der besonderen Aufgaben der einzel-
nen Schulart geeignet sein . Lehr- und Lernmittel, die
an öffentlichen Schulen des Landes verwendet werden,
bedürfen in der Regel einer Genehmigung durch die Kul-
tusministerien .
Der Genehmigungspflicht unterliegen auch Program-
me und als Reihe konzipierte Themenhefte, die durch
ihren aufeinanderfolgenden Einsatz ein genehmigungs-
pflichtiges Schulbuch ersetzen. Entscheiden müssen also
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 201723358
(A) (C)
(B) (D)
die Länder, ob uns dies gefällt oder nicht . Solange die
Länder dieses Recht nicht an den Bund weitergeben, hal-
ten wir hier Fensterreden .
In Ihrem Antrag fordern Sie eine Prüfstelle für the-
menbezogene zivilgesellschaftliche Lehrmaterialien auf
Bundesebene . Na, da wäre ich auf die Reaktion der Län-
der gespannt, wenn wir gegen den Willen der Länder ei-
nen Oberschiedsrichter beim Bund installieren wollten .
Die Linken sehen Probleme bei der Übersichtlichkeit
des angebotenen Materials und bei einer möglichen Ein-
seitigkeit . Soweit stimme ich Ihrer Problembeschreibung
zu. Bei Ihrer Furcht vor einseitiger Beeinflussung über-
ziehen Sie erheblich . Sie schütten förmlich das Kind mit
dem Bade aus .
Es ist zudem naiv, zu glauben, dass wir den Material-
einsatz eines jeden einzelnen Lehrers in jeder einzelnen
Unterrichtsstunde kontrollieren können . Deshalb haben
wir einen Rahmen geschaffen, um einseitige interessen-
geleitete Einflussnahmen im Unterricht zu verhindern.
Dieser Rahmen bildet sich neben einer Empfehlung der
Kultusministerkonferenz, den Lehrmaterial-Zulassungs-
stellen der Kultusministerien, den Schulaufsichtsbehör-
den und Schulleitungen auch aus dem Beutelsbacher
Konsens. Dieser verpflichtet die Lehrenden, den Schü-
lerinnen und Schülern keine Meinung aufzuzwingen,
sondern sie dabei zu unterstützen, eine eigene Meinung
zu bilden . Außerdem müssen Themen, die in der Wis-
senschaft und Politik kontrovers erscheinen, auch von
Lehrenden kontrovers dargestellt werden . Ferner gilt es,
die Lernenden in die Lage zu versetzen, sich eine eigene
Meinung zu ihrer Position in der Gesellschaft zu bilden
und auch entsprechend aktiv werden zu können . Des
Weiteren gibt es noch den „Materialkompass“, dessen
Finanzierung mit dem nächsten Koalitionsvertrag fortge-
schrieben werden könnte. Dieses Onlineangebot klassifi-
ziert Lernmaterial – und kann ebenfalls als Orientierung
für die Unterrichtsauswahl dienen .
Es zeigt sich also: Wir haben genügend Kriterien für
die Sicherung von Qualitätsstandards von Lehrmaterial .
Innerhalb dieses Rahmens haben das letzte Wort je-
doch immer noch die Lehrerinnen und Lehrer . Wir bil-
den sie über viele Jahre darin aus, eine dem Unterricht
angemessene Lernmaterialauswahl zu treffen. Denn auch
zwischen zugelassenen Materialien muss eine Auswahl
getroffen werden, unterscheidet sich dieses doch quali-
tativ sehr stark . Mehr Vertrauen seitens aller, auch der
Linken, erscheint deshalb angemessen .
Zudem sind Lehrende in der Lage, Material von Un-
ternehmen kritisch zu hinterfragen, und zwar gemeinsam
mit ihren Schülerinnen und Schülern . Ein Problem mit
Lobbyismus entsteht doch erst, wenn unklar ist, wer mit
welchem Interesse das Material erstellt hat, damit reflek-
tiert werden kann, wer mit welchem Interesse das Mate-
rial erstellt hat .
Es ist doch vollkommen naiv und lebensfern, das,
was im Leben der Schülerinnen und Schüler tagtäglich
außerhalb der Schule passiert, nicht aufzugreifen, um
Neutralität zu erzeugen und zu wahren . Denn die Unter-
nehmen sind Teil unserer Gesellschaft und prägen mit ih-
ren Produkten den Alltag. Dies muss aufgegriffen, nicht
verdrängt werden!
Die Frage, die sich mir stellt, ist also: Welches Ziel
könnte eine solche Prüfstelle noch verfolgen? Soll sie
eine Einteilung in „gute“ und „schlechte“ Einflussnahme
vornehmen? Wo wäre denn da die Grenze, und wer kann
diese Grenze ziehen, ohne selbst beeinflusst zu sein?
Die Grenze, die der DGB vorschlägt, ist auf jeden Fall
auch keine Alternative . In seiner Handreichung „Schu-
le und Wirtschaft“ kritisiert die Gewerkschaft, dass
Unternehmen Einfluss auf die Unterrichtsvermittlung
nehmen . Unter anderem würden prekäre Beschäftigung
und gerechte Löhne nicht thematisiert werden . Die Ge-
werkschaft bietet ihre Hilfe zur Beseitigung dieses Miss-
standes an, indem sie Schülerinnen und Schülern einen
„objektiven, hinterfragenden Blick ermöglichen“ möch-
te . Als Material dafür schlägt sie einzig und allein die
Publikation „Böckler Schule“ der Hans-Böckler-Stiftung
vor . Das ist keine wertneutrale Quelle . Für die Entwick-
lung eines kritischen Blickes ist es unbedingt notwendig,
eine andere Meinung hinzuzuziehen .
Es zeigt sich: Ein systematischer Ausschluss von Un-
ternehmen ist nicht begrüßenswert, würde damit doch
der Verlust einer befruchtenden Perspektive einhergehen .
Meine Fraktion, die CDU/CSU, ist im Gegenteil sogar
davon überzeugt, dass Unternehmen, Initiativen und Ver-
bände sogar eine Bereicherung für unsere Schulen dar-
stellen! So haben diese externen Partner teilweise eine
Ausstattung, die Schulen nicht haben und nicht haben
können . Denken Sie nur an die naturwissenschaftlichen
Labore, die Mikroskope oder speziellen Pipetten, die sich
staatliche Schulen nicht leisten können . Wenn naturwis-
senschaftliche Unternehmen hier Labore mit Lehreinhei-
ten und Material anbieten, ist das für den Unterricht eine
tolle Bereicherung .
Im gleichen Berufsfeld sind zudem Fachreferenten
eine weitere Bereicherung . Unternehmen wissen, wie
der aktuelle Stand der Technik genau ist und sich wirt-
schaftlich nutzen lässt, jetzt oder in der Zukunft . Auch
dies müssen wir unserem Nachwuchs vermitteln – nicht,
weil wir ihre Bildung an den Interessen der Unterneh-
men ausrichten wollen, wie es die Linke immer und auch
wieder in ihrem Antrag unterstellt, sondern weil es für
die Sicherung des Wirtschafts- und Innovationsstandor-
tes Deutschland kreativen Nachwuchs braucht, der es
versteht, Ideen und Wissen zu entwickeln und auch in
wirtschaftlich tragfähige Projekte zu überführen . Es kann
doch nicht falsch sein, sich schon vor dem Abschluss da-
rüber zu informieren, welche Perspektiven eine Region
oder eine Branche bietet .
Das können Lehrerinnen und Lehrer in der Regel nicht
leisten, weil sie ihr Leben lang in der Schule weilen und
die Erfahrung in der Wirtschaft und das Expertenwis-
sen einfach selten vorhanden sind . Sie sind daher in der
Regel dankbar für aktuelle praxissichere, ideologiefreie
Materialien . Sie entnehmen meist nur einzelne Seiten .
Sie kennen den Autor und reflektieren mit ihren Schüle-
rinnen und Schülern auch die Absicht eines Autors .
Mein letzter Punkt ist die Berufs- und Studienorien-
tierung . Am Ende eines jeden Schulbesuches steht – so
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 23359
(A) (C)
(B) (D)
sollte es zumindest sein – der Übergang in den Beruf .
Damit dieser flüssig und zielgerichtet verlaufen kann, ist
es essenziell, dass die Schülerinnen und Schüler wissen,
welche Perspektive sie vor allem in ihrer Region haben .
An meinem Wahlkreis wird sehr deutlich: Die Region ist
ländlich, landschaftlich beeindruckend, aber tendenziell
strukturschwach . In unseren vielen Dörfern verstecken
sich aber zum Teil weltmarktführende kleine und mit-
telständische Unternehmen . Diese brauchen den Nach-
wuchs und sind ein attraktiver Arbeitgeber – nur muss
das der Jugend erst einmal bewusst werden . Betriebe sind
darauf angewiesen, in den Schulen sichtbar zu werden .
Dies ist für die Zukunft der gesamten Region ein wichti-
ger Schritt und hat nichts mit einseitiger Einflussnahme
zu tun .
In unseren Schulen handeln wir nach demokratischen
Grundsätzen . Einer davon ist die Pluralität von Meinun-
gen und Informationsquellen . Dies ist bereichernd, für
die Schülerinnen und Schüler, für die Lehrenden und
auch für externe Partner . Ein Ausschluss dieser Partner
aufgrund irgendwelcher Kriterien, für deren Erstellung
wir als Bund nicht einmal zuständig sind, wäre ein Ver-
lust für unsere Schulen . Deshalb ist der Antrag der Lin-
ken zum Lobbyismus abzulehnen und das zunehmende
Engagement verschiedener Akteure für gute Bildung zu
begrüßen .
Sven Volmering (CDU/CSU): Die gute Nachricht
gleich zu Beginn meiner Rede: Die CDU/CSU-Bundes-
tagsfraktion wird den vorliegenden Antrag ablehnen .
Viel Mühe hat sich die Linke mit dieser Wiederaufbe-
reitung einer längst beantworteten Kleinen Anfrage vom
22 . August 2014 nicht gemacht . Dieser Antrag ist ein Do-
kument des Misstrauens gegenüber allen, die mit Schule
zu tun haben; er ist inhaltlich schwach, und er dient dazu,
aus ideologischen Gründen die „ach so böse“ Wirtschaft
bloßzustellen . Dass die gewählten Beispiele mit der
AOK, mit der das rot-rot-grün geführte Thüringen selbst
zusammenarbeitet, nicht die wirklich besten Belege für
die Notwendigkeit des Antrags sind, hat die letzte Debat-
te ja schon eindrucksvoll bewiesen . Mir erschließt sich in
Ihrem Antrag einiges nicht .
Grundsätzlich ist festzuhalten, dass alle Bundesländer
Regelungen und Richtlinien in ihren Gesetzen und Er-
lassen zum Thema Werbung und Sponsoring in Schulen
getroffen haben. Die von Ihnen unter Punkt 2 geforderten
klaren Kriterien gibt es . Ob dazu zwingend immer eine
gesetzliche Regelung in den Schulgesetzen geschaffen
werden muss, ist aus meiner Sicht eine Aufgabe, die die
Landesregierungen und vor allem die Länderparlamen-
te im Rahmen ihrer Zuständigkeit selbst entscheiden
müssen . Der Bund braucht sich dort aus meiner Sicht
nicht einzumischen . Zusätzlich hilft es zu wissen, dass
die KMK am 12 . September 2013 einen Beschluss zur
Verbraucherbildung gefasst hat, in dem es ganz klare
Hinweise für die Zusammenarbeit mit außerschulischen
Partnern gibt . Diese müssen sich „inhaltlich am schuli-
schen Bildungs- und Erziehungsauftrag orientieren, den
Gegebenheiten der einzelnen Schule gerecht werden und
die Schulqualität“ fördern .
Grundlagen des Unterrichts seien die ja auch von Ih-
nen genannten Prinzipien des Beutelsbacher Konsenses,
nämlich das Überwältigungsverbot, das Kontroversitäts-
gebot und die Schülerorientierung . Ich verstehe wirklich
nicht, warum Sie diesen in den 70er-Jahren entwickelten,
gut funktionierenden, bis heute unstrittigen und präg-
nanten Konsens durch einen bürokratischen Transpa-
renzkodex durch die Offenlegung ersticken wollen, wer
Unterrichtsmaterialien finanziert, wer die Autoren sind
und welche Drittmittel es dafür gibt . Diese Forderung
ist schlichtweg nicht umsetzbar . Sie haben in der letz-
ten Debatte zu diesem Thema, liebe Frau Hein, darauf
hingewiesen, dass bei vielen Hunderttausend – in Ihrem
Antrag sprechen Sie dann sogar von 1 Million – Unter-
richtsmaterialien kein Ministerium und kein Lehrer in
der Lage sei, diese alle zu sichten . Wenn Sie dies selbst
nicht mal Ministerien zutrauen, die für die Genehmigung
von Schulbüchern und Curricula-Erstellungen zuständig
sind, dann brauchen wir auch keine sogenannte unabhän-
gige Monitoringstelle, deren rechtliche Legitimation ich
deutlich anzweifle.
Den Lehrern und Lehrerinnen haben Sie die Kompe-
tenz abgesprochen, Materialien auszuwerten . Hier wider-
spreche ich . Sie unterschätzen die Kompetenzen der Leh-
rer . Mein ehemaliger Fachleiter Werner Völlering hat uns
im Referendariat den Spruch eingebläut, dass Lehrer Zeit
ihres Lebens Jäger und Sammler seien, immer auf der
Suche nach guten Materialien, die sie sichten, kritisch
prüfen, wenn es passt, im Unterricht einsetzen und bei
Bedarf eben auch wieder austauschen . Bei dieser Suche
helfen seriöse Foren und Angebote wie der Bildungsser-
ver in NRW, die immer aktuelles Material liefern, aber
auch Schulbuchverlage . Oder man nutzt OER, erstellt
selbst Materialien, oder man recherchiert eben . Dafür
wurden Lehrer ausgebildet, dies ist eine der Kernkompe-
tenzen . Ich sage mit entsprechendem Selbstbewusstsein
als Lehrer, dass ich eine Monitoringstelle, die mir sagt,
welche Materialien ich zu nutzen habe oder nicht, nicht
brauche . Dies gilt auch für die überwältigende Mehrheit
meiner Kollegen .
Ich habe ein wenig den Eindruck, dass Sie mit diesem
Antrag eher Lobbyismus für LobbyControl betreiben,
wenn ich sehe, wie viele Forderungen dieser Organisa-
tion Sie übernommen haben . Bei allem Respekt vor dem
Engagement von LobbyControl: Es gehört zur Wahrheit,
dass diese Organisation eine bestimmte politische Agen-
da verfolgt, die man an verschiedenen Stellen zwingend
kritisch hinterfragen muss .
Ihr Bestreben, alle Unterrichtsmaterialen zentral be-
werten zu wollen, ist noch aus einem anderen Grund voll-
kommen unmöglich . In dieser Woche ist eine Broschüre
der von Ihnen im Antrag stark kritisierten Initiative Neue
Soziale Marktwirtschaft an mein Büro gesandt worden .
Der Titel lautet „Deutschland hat die Wahl . Parteien,
Positionen, Perspektiven“ . Dort werden Fragen gestellt
zur Bundestagswahl, zur sozialen Gerechtigkeit, zum Ar-
beitsmarkt, zur Pflegeversicherung, zur Steuerpolitik etc.
Beantwortet haben diese Fragen Cem Özdemir, Katarina
Barley, sehr überzeugend aus meiner Sicht Peter Tauber
für die CDU und Andreas Scheuer für die CSU, sowie –
schau an, schau an – Dietmar Bartsch von der Linken .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 201723360
(A) (C)
(B) (D)
Warum sollte ein Lehrer diese Broschüre, die nicht ein-
mal als Unterrichtsmaterial gedacht ist, nicht im Un-
terricht einsetzen, um die verschiedenen Antworten der
Politiker durch die Schüler analysieren und bewerten zu
lassen? So schlimm können die Fragen nun nicht gewe-
sen sein, sonst hätte die Linke sicher nicht mitgemacht .
Ähnlich könnte man mit den Wahlprüfsteinen vom
DGB umgehen . Allein dieses Beispiel zeigt deutlich,
dass Sie niemals in der Lage sein werden, alles zu er-
fassen oder zu bewerten, was im Unterricht eingesetzt
werden kann . Wenn wir aus ideologischen Gründen je-
des Engagement der Wirtschaft hinterfragen, dann darf
man sich konsequenterweise als Schule nicht mehr vom
Förderverein unterstützen lassen; dann müssten Hunder-
te durch Werbung finanzierte Schülerzeitungen, Wettbe-
werbe oder Projekte wie „Zeitung in der Schule“ einge-
stellt werden . Wenn der Lehrer sich dafür rechtfertigen
muss, warum er beim Zeitungsprojekt lieber mit einem
Blatt aus Frankfurt statt aus Hamburg oder umgekehrt
arbeitet, weil die Zeitung sicher auch junge Leser als zu-
künftige Abonnenten im Blick hat, dann schütten wir das
Kind mit dem Bade aus .
Ich habe es bei meiner letzten Rede zu diesem The-
ma bereits gesagt: Sie trauen Direktoren, Lehrern, Eltern
und Schülern nichts zu . Sie unterstellen, dass diese nicht
in der Lage sind, klare existierende Regeln bei Werbung
und Sponsoring sowie bei kontroversen Auseinanderset-
zungen einzuhalten . Dies entspricht nicht der Realität
und wird von uns als CDU/CSU auf das Schärfste zu-
rückgewiesen . Das bisherige System reicht aus, um Fehl-
leistungen und eindeutige Fälle von Beeinflussung von
Schülern und Schülern zu erkennen und abzustellen .
Wir sind der Auffassung, dass wir insgesamt mehr Le-
bensrealität in die Schulen holen müssen, um Unterricht
lebendiger zu machen . Dazu zählt die Wirtschaft ebenso
wie Arbeitnehmerorganisationen, NGOs oder die Bun-
deswehr . Entscheidend ist, dass über eine gesamte Un-
terrichtsreihe gesehen der Beutelsbacher Konsens einge-
halten wird .
Zum Abschluss ein letzter Punkt . Wenn man mit Leh-
rern spricht, dann spielt das Thema Lobbyismus über-
haupt keine Rolle . Ich komme aus NRW, und dort ist
die Unzufriedenheit mit der grünen Schulministerin ein
viel drängenderes Problem als die Frage einer Koopera-
tion mit der Wirtschaft . Viele Lehrer fragen sich: Warum
funktioniert das mit der Inklusion in NRW so schlecht?
Warum sind so viele Lehrerstellen nicht besetzt? Warum
ist man nicht in der Lage, den Unterrichtsausfall digital
zu erfassen? Warum kommen Programme wie „Gute
Schule“ rein zufällig kurz vor der Wahl, während man
ansonsten die Investitionspauschale für Schulbauten
nicht erhöht hat? Warum sind die Fortbildungsetats bei
gestiegenen Anforderungen so niedrig?
Bevor Sie mir nun Wahlkampfgetöse vorwerfen,
möchte ich Ihnen einige Zitate der grünen Basis in NRW
vorlesen . Vielleicht, liebe Kolleginnen und Kollegen
von den Grünen, glauben Sie ja denen . Am 30 . März
berichtete das BBV über die Vorstandswahlen der Grü-
nen in Hamminkeln . Was man dort alles lesen konnte,
widerspricht schon dem, was Sie hier oft im Bundestag
erzählen: Löhrmann, die „schwächste Ministerin“, „Im
Grunde hat sie nichts erreicht“, „beim Thema Inklusion
stehen ihm die Haare zu Berge“, „die Inkonsequenz beim
Thema G8/G9-Abitur sei . . . nicht nachvollziehbar“, „Un-
terrichtsausfall“, „Die Stimmung im Kollegium ist abso-
lut anti gegenüber unserer Chefin“. Ich glaube, dass die
Abstellung dieser Probleme wichtiger ist als irgendeine
Materialkontrolle .
Ich bin froh, dass wir im Bund mit Frau Wanka jeman-
den haben, der immer bereit ist, den Ländern mit sinn-
vollen Programmen zu helfen, der Kooperation anbietet
und sinnvolle Projekte wie den Digitalpakt auf den Weg
bringt und damit dem Gesamtsystem Schule wirklich
weiterhilft . Der Antrag tut dies nicht, und wir denken an
Johann Wolfgang von Goethe, der gesagt hat: „Wer selbst
mißtrauisch ist, verdient kein Vertrauen.“ Treffender
kann man den Antrag der Linken nicht zusammenfassen .
Marianne Schieder (SPD): Wir beraten heute ab-
schließend den Antrag der Fraktion Die Linke „Kein
Lobbyismus im Klassenzimmer“ . Und ich muss sagen:
Die Kritik, die ich schon zur ersten Lesung geäußert
habe, bleibt bestehen . Nichts hat sich geändert . Keines
der Probleme konnte ausgeräumt werden . Darum werden
wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten dem
Antrag auch nicht zustimmen können .
Doch beginnen wir vorne: Die Grundüberlegung ist
ja gar nicht so verkehrt: Lobbyverbände sollen nicht ein-
fach in den Schulen Werbung für die eigene Sache ma-
chen dürfen . Das würden die meisten von uns hier wohl
so unterschreiben können . Ganz selbstverständlich ist der
Staat in der Pflicht, dafür zu sorgen, dass Schülerinnen
und Schüler kritisches Denken erlernen und nicht einsei-
tig eine Meinung vorgegeben bekommen .
So weit, so gut . Dann beginnen aber schnell die Pro-
bleme des Antrags .
Denn wenn man ihn sich so durchliest, könnte man
meinen: Schulen in Deutschland sind reine Schaufens-
ter, in denen sich Konzerne und Unternehmensverbände
nach Lust und Laune präsentieren, und niemanden küm-
mert es . Ganz so einfach und einseitig ist es nun aber
doch nicht .
Die Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion Die
Linke schreiben in ihrem Antrag selbst: „Auftrag der
Schule ist die Herausbildung selbstständig denkender,
ihre gesellschaftliche Umwelt kritisch reflektierender
Menschen.“ Und an anderer Stelle: „Gute Schulen öffnen
sich darum dem regionalen Umfeld, sie gehen Koopera-
tionen mit unterschiedlichsten Partnern aus der Zivilge-
sellschaft ein . . .“
Jawohl, da haben Sie recht! Leider verstehe ich nicht,
warum Sie dann alles in einen Topf werfen und jegli-
ches Material, das nicht vorher staatlich geprüft und
autorisiert wurde, verteufeln . Da gibt es doch unzählige
Beispiele, die gut geeignet sind, um den Unterricht zu
ergänzen . Denken Sie allein an Broschüren der Kranken-
kassen, die über Gesundheitsrisiken aufklären . Das ist
doch eine prima Ergänzung für den Unterricht und die
Standardlehrbücher – was genau ist daran falsch? Man
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 23361
(A) (C)
(B) (D)
könnte da noch unzählige weitere positive Beispiele nen-
nen: von Lehrveranstaltungen mit dem Landesbund für
Vogelschutz bis hin zu Betriebsbesichtigungen oder der
Gründung von Schülerfirmen, die oft von regionalen Un-
ternehmen unterstützt werden .
Ist es nun also gut oder schlecht, wenn sich die Schu-
len ihrem regionalen Umfeld öffnen und Partner suchen,
um den Stoff in der Gesundheitserziehung, Naturkunde
oder des Wirtschaftsunterrichts zu veranschaulichen?
Wenn Ihr Antrag konsequent umgesetzt würde, wären
viele solcher Kooperationsprojekte entweder gar nicht
mehr oder zumindest nur erschwert möglich . Darüber
hinaus kann es sehr sinnvoll sein, im Unterricht mit Ma-
terialien zu arbeiten, die verschiedene Sichtweisen auf
bestimmte Sachverhalte vermitteln . Gerade dadurch ler-
nen die Schülerinnen und Schüler, vorliegendes Material
kritisch zu hinterfragen und sich eine eigene Meinung zu
bilden .
Auch der Beutelsbacher Konsens, von dem im An-
trag gesprochen wird, sieht das Prinzip der Kontroversi-
tät vor . Wenn die geforderte Monitoringstelle sämtliche
Unterrichtsmaterialien auf Konformität überprüfen soll,
dann würde mich interessieren, worin die Kolleginnen
und Kollegen von der Linken hier genau das Prinzip
der Kontroversität verwirklicht sehen . Vollkommen ab-
wegig ist auch die Idee, sämtliche externen Lehrinhalte
von dieser eben erwähnten Monitoringstelle überprüfen
zu lassen . Man muss sich nur einmal vorstellen, welche
konkreten Auswirkungen das auf den tagtäglichen Lehr-
betrieb hätte! Konsequenterweise würde das jegliche
Mathetextaufgaben betreffen, die nicht aus einem zuge-
lassenen Lehrbuch stammen; schließlich wären diese ja
nicht bezüglich unerwünschter kommerzieller Einfluss-
nahme geprüft worden und dürften demnach wohl nicht
mehr verwendet werden .
Bereits heute gibt es den Materialkompass der Ver-
braucherschutzzentrale . Das ist ein gutes Instrument, das
mit übersichtlichen Indikatoren Lehrmedien bewertet .
Eine Fortführung des Materialkompasses kann ich mir
darum gut vorstellen . Da wissen die Lehrerinnen und
Lehrer gleich, woran sie mit einem bestimmten Buch
sind, und können abwägen, ob es für ihren Unterricht
sinnvoll ist oder nicht . Warum daneben noch eine staat-
liche Stelle, die praktisch dasselbe macht, eingerichtet
werden soll, verstehe ich nicht .
Grundsätzlich bin ich nämlich der Meinung, dass
Lehrerinnen und Lehrer sehr wohl Unterrichtsmateria-
lien selbstständig in kritischer Weise hinsichtlich ihrer
pädagogischen Eignung einschätzen können . Der Antrag
suggeriert allerdings, dass Lehrkräfte dazu nicht in der
Lage wären . Ich frage mich, ob die Antragstellerinnen
und Antragsteller schon einmal mit Lehrkräften über ih-
ren Vorschlag gesprochen haben, Fortbildungen darüber
abzuhalten, wie man brauchbares Unterrichtsmaterial
von unbrauchbarem unterscheidet . Die werden nämlich
sagen, dass sie das in einem guten Pädagogikstudium oh-
nehin gelernt haben .
Unabhängig von der Kritik im Einzelnen muss ich
nochmals wiederholen, was ich bereits in der ersten
Lesung gesagt habe: Der Antrag überschreitet jegliche
Bundeskompetenz . Nun diskutieren wir zum Glück seit
längerem eine Aufweichung des Kooperationsverbo-
tes, die hoffentlich bald kommt. Eine Entmachtung der
Länder bei der Bildungshoheit hat meines Wissens aber
vollkommen zu Recht noch niemand gefordert . Genau
dem kommt so ein Antrag aber gleich: einer unzuläs-
sigen Einmischung in die Angelegenheiten der Länder .
Die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern
scheint dem Antrag aber ohnehin egal zu sein . Immerhin
dreht er sich die Argumente, wie er sie braucht . So wird
zum Beispiel die Aktion „Unternehmergeist in Schulen“
des Bundeswirtschaftsministeriums angegriffen, weil
sie sich angeblich in die Bildungshoheit der Länder ein-
mischt . Ja, was denn nun? Soll der Bund sich nun um
Bildungsinhalte kümmern oder nicht? Das ist doch alles
nicht zu Ende gedacht .
Unabhängig davon scheint mir der Antrag ohnehin
ein anderes Ansinnen zu haben . Da geht es weniger da-
rum, für sinnvolle Verbesserungen zu sorgen, damit es
in den Schulen vernünftiges Lehrmaterial gibt . Vielmehr
scheint der Antrag gegen jegliche Auseinandersetzung
mit wirtschaftlichen Fragen gerichtet zu sein . Wenn ich
junge Menschen dazu befähigen will, dass sie mündig
wirtschaftliche Entscheidungen treffen können, sei es als
Verbraucher, als Bausparerin oder sonst irgendwie, dann
kann die Lösung nicht sein, sie möglichst fernzuhalten
von der Wirtschaft . Nur wenn sie verstehen, wie das Sys-
tem funktioniert, können sie kritisch damit umgehen und
müssen es nicht als gegeben hinnehmen . Dazu leistet der
vorliegende Antrag unabhängig von der fehlenden Bun-
deskompetenz leider keinen Beitrag .
Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE): Der Kulturpoliti-
sche Ausschuss im Hessischen Landtag hat am 19 . April
dieses Jahres ein Werbeverbot an Schulen im Schulge-
setz beschlossen . Nun bekommen die beiden regierungs-
führenden Fraktionen offensichtlich Schwansfedern und
rudern zurück . Für den 2 . Mai wurde extra eine Sonder-
sitzung des Kulturpolitischen Ausschusses einberufen,
um einen relativierenden Antrag zum Gesetz zu verhan-
deln . Angst vor der eigenen Courage, liebe Grüne, kann
ich da nur sagen!
Seit Jahren laufen Institutionen und zivilgesellschaft-
liche Akteure Sturm gegen sich ausbreitende Werbe-
strategien vor allem größerer Unternehmen und Lob-
bygruppen, die die Schule längst als Adressaten ihrer
Unternehmensstrategien erkannt haben und mit viel Geld
große und professionelle Werbeabteilungen damit beauf-
tragt haben, Lernende als Ziel werberischer Strategien
auszumachen und geschickt zu umgarnen . Die Kritik
kommt von der Bundeszentrale für politische Bildung
ebenso wie von den Verbraucherzentralen und Lobby-
Control . Auch die Uni Augsburg und viele Medien haben
schon vor Jahren auf die Flut von werbeträchtigen Unter-
richtsmaterialien aufmerksam gemacht .
Nun muss, wer guten Unterricht machen will, sich an
der Lebenswelt orientieren, aktuell sein und anschaulich .
Lehrbücher sind nicht immer topaktuell . Für andere ver-
fügbare Materialien gibt es oft urheberrechtliche Schran-
ken . Da kommen die kostenlosen bunten Heftchen, Ar-
beitsblätter und digitalen Angebote von Unternehmen
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 201723362
(A) (C)
(B) (D)
gerade recht, und man traut ihnen zu, dass sie von ihrem
Handwerk etwas verstehen . Mitunter sind diese Materi-
alien auch didaktisch gut aufbereitet und auf den Unter-
richt zugeschnitten .
Mit solchen Materialien verbinden die Absender aber
auch offen oder verdeckt Botschaften zur eigenen Unter-
nehmensstrategie . Uneigennützigkeit darf man da nicht
unterstellen .
Schülerinnen und Schülern wird so nicht selten ein-
seitig die von ebendiesem Unternehmen oder Verband
vertretene Sichtweise auf das eigene Tun nahegebracht .
Doch Schulen sind Lernorte, in denen man nicht nur
viel fachliches Wissen erwerben soll, sondern auch den
kritischen Umgang damit . Darum verbieten sich Werbung
und einseitige Informationsstrategien an der Schule . Wir
wollen, dass auch im Alltag der Schule und im Unterricht
das Kontroversitätsgebot und das Überwältigungsverbot
aus der politischen Bildung gelten . Das heißt dann, dass
ich bei Themen, die in der Gesellschaft kontrovers disku-
tiert werden, immer beide Seiten hören muss . Das wür-
de bewirken, dass Schülerinnen und Schüler in die Lage
versetzt werden, sich ein eigenes Urteil zu bilden .
Materialien außerhalb der zugelassenen Lehrbücher
im Unterricht verwenden zu können, ist unerlässlich für
gute Schule . Wie man das macht und was dabei zu be-
achten ist, diese Verantwortung liegt immer stärker bei
den Lehrkräften .
Die Kritikerinnen und Kritiker unseres Antrages aus
der CDU/CSU-Fraktion und auch manche aus der SPD
halten entgegen, dass Lehrkräfte das schon alleine kön-
nen und keine Belehrung brauchen . Belehrung sicher
nicht, aber Unterstützung . Denn Lehrerinnen und Leh-
rer haben inzwischen einen ziemlichen Rucksack zu
tragen: Sie sollen immer mehr Wissen vermitteln und
kompetenz orientiert und interkulturell bilden, sie sollen
inklusiv arbeiten, Berufsorientierung betreiben, sollen
digitale Bildung implementieren, individuell fördern
usw . usf .
Da wäre es doch hilfreich, wenn man unter dem zeit-
lichen Druck, unter dem man steht, sich schnell und
verlässlich vergewissern kann . Das könnten unabhän-
gige Stellen exemplarisch leisten . Hingegen eine Zerti-
fizierung und Zulassung aller zur Verfügung stehenden
Materialien durch die jeweiligen Kultusministerien, wie
das bei den Lehrbüchern üblich ist, ist nicht umsetzbar,
weltfremd und auch nicht mehr zeitgemäß .
Darum fordern wir, bereits bestehende Instrumente
zu erhalten und auszubauen . Eine unabhängige Moni-
toringstelle könnte beispielsweise beim Deutschen Bil-
dungsserver eingerichtet werden, der heute schon wert-
volle Informationen zur Unterrichtsgestaltung bei vielen
Themen liefert .
Und natürlich geht es uns darum, das Bewusstsein für
solche offenen oder auch unterschwelligen Einflussnah-
men bei Lernenden, Eltern und auch Lehrenden zu entwi-
ckeln . Ein Werbeverbot in den Schulgesetzen würde den
kritischen Umgang mit externen Materialien befördern .
Dazu gehört auch, dass Bundesministerien sich nicht
zum Anwalt einseitiger Interessen machen und ihre Au-
torität für Empfehlungen nutzen .
Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der
Staat hat die Aufgabe, die Schulen besser auszustatten,
damit Lobbyisten nicht die Deutungshoheit im Unter-
richt übernehmen. Dieser Pflicht müssen wir zum Wohle
unserer Kinder und im Interesse unseres Landes ohne
Wenn und Aber nachkommen .
Die Beschreibung der aktuellen Situation in dem
Antrag der Linken ist zutreffend. In den letzten Jahren
versuchen einige Unternehmen, sich mit scheinbar un-
verfänglichen Angeboten wie Broschüren oder attrakti-
ven Wettbewerben in den Köpfen der Schülerinnen und
Schüler, also der Konsumentinnen und Konsumenten
von morgen, festzusetzen . Lobbyismus macht eben kei-
nen Halt vor Schultoren . Mittlerweile ist dieser Bereich
so professionalisiert, dass Agenturen sich ausschließlich
darauf spezialisieren, Kinder und junge Menschen im
Schulalltag interessengeleitet zu gewinnen bzw . im Ex-
tremfall gar zu manipulieren . Das Ziel hierbei ist es oft,
eine frühe Produktbindung zu sichern .
Die Frage ist, wo Lobbyismus beginnt und wo die
Grenzen zu ziehen sind . Klar ist, dass systematische und
einseitige Beeinflussung nicht ins Klassenzimmer gehö-
ren . Hier müssen wir Sorge tragen, dass für Lehrkräfte
transparent wird, welche Interessen hinter den Materiali-
en stecken und dass keine – insbesondere finanziellen –
Abhängigkeiten entstehen .
Die Gefahr ist gegeben; schließlich ist unser Bildungs-
system chronisch unterfinanziert. Daher verwundert es
auch nicht, wenn Schulen sich nach anderen Geldgebern
oder Sponsoren umsehen . Es ist allgemein bekannt, dass
Deutschland im internationalen Vergleich zu wenig in
sein Bildungssystem investiert .
Die KfW-Studie belegt: Der Investitionsstau in deut-
schen Schulen beträgt 34 Milliarden Euro . Viele Kommu-
nen und Gemeinden sind nicht in der Lage, die dringend
benötigten Investitionen alleine zu tätigen . Stichwort
„Kooperationsverbot“, sage ich an dieser Stelle!
Der öffentliche Bildungsauftrag darf sich nicht durch
geschickt verpackte PR im Klassenzimmer verwässern
lassen . Ich habe grundsätzlich nichts gegen Koopera-
tionen . Die Wirtschaft kann sich gerne in den Schulen
einbringen: Betriebspraktika, Betriebserkundungen oder
Jobmessen benötigen selbstverständlich das Mitwirken
von Unternehmen . Aber im Unterricht müssen Schüler
und Schülerinnen kontrovers und kritisch diskutieren
können, sie müssen befähigt werden, ihre eigene Mei-
nung zu bilden, um mündige Bürgerinnen und Bürger zu
werden .
Wir müssen Sorge tragen, dass für Lehrkräfte trans-
parent wird, welche Interessen hinter den Materialien
stecken und dass keine – insbesondere finanziellen –
Abhängigkeiten entstehen . Nur so können wir unserem
Leitbild, dem Humboldt’schen Bildungsideal, gerecht
werden .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 23363
(A) (C)
(B) (D)
Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, das
Projekt Materialkompass Verbraucherbildung zu ver-
längern . Obwohl alle Fraktionen das Projekt begrüßen,
läuft der Materialkompass Verbraucherbildung im Okto-
ber 2017 aus .
Wir dürfen Lehrkräfte und Schulen nicht mit der Aus-
wertung der Materialfülle alleine lassen . Die Befunde
der PISA-Studie 2006 belegen, dass in Deutschland der
Einfluss von Wirtschaft und Industrie auf die Lehrinhalte
in den Schulen enorm groß ist . Tendenz steigend! Es be-
steht riesiger Handlungsbedarf seitens des Bildungsmi-
nisteriums und der KMK . Denn Schule muss weiterhin
ein geschützter Raum für unsere Kinder bleiben .
Wir setzen auf kreative und konstruktive Wege der
Kooperation mit der Wirtschaft – ohne Abhängigkeiten
und Lobbyismus mit dem schlichten Ziel der Produkt-
vermarktung!
Anlage 3
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Überein-
kommen des Europarats vom 11. Mai 2011 zur Ver-
hütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen
und häuslicher Gewalt (Tagesordnungspunkt 20)
Dr. Silke Launert (CDU/CSU): Wir sprechen heu-
te über ein Thema, das immer noch ein Tabuthema in
Deutschland ist, obwohl es sich dabei keineswegs nur
um eine Randerscheinung handelt: Es geht um Gewalt
gegen Frauen .
Häusliche Gewalt und sexueller Missbrauch von
Frauen finden überall, zu jeder Zeit und in allen sozia-
len Schichten statt . Und spätestens seit der Silvesternacht
in Köln wissen wir, dass sexuelle Gewalt nicht einmal
heimlich geschieht .
Gewalt gegen Frauen macht vor nichts und nieman-
dem halt und greift durch alle Gesellschaftsschichten:
junge Frauen wie alte, reiche wie arme, gebildete wie un-
gebildete . Und genau das ist der Grund, weshalb die Zahl
der Betroffenen auch so hoch ist.
Im vergangenen Herbst veröffentlichte das Bundes-
kriminalamt erschreckende Zahlen zu Gewalt gegen
Frauen in Partnerschaften . Allein im Jahr 2015 wurden
104 000 Frauen in Deutschland durch ihren Partner oder
Expartner Opfer von Mord, Totschlag, Körperverletzung,
Vergewaltigung, sexueller Nötigung oder Stalking .
Und diese Zahlen zeigen längst nicht das gesamte
Ausmaß . Experten gehen von einem weitaus größeren
Dunkelfeld aus, da viele Frauen gewalttätige oder sexu-
elle Übergriffe aus Angst oder Scham gar nicht erst zur
Anzeige bringen und ihr Schweigen nicht brechen .
Ich freue mich, dass wir heute einen wichtigen Schritt
gehen, um den Frauen in Deutschland umfassenden
Schutz vor allen Formen von Gewalt zu bieten . Wir
werden heute ein Gesetz auf den Weg bringen, das die
Istanbul-Konvention des Europarates zur Verhütung und
Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen umsetzt . Damit
nehmen wir eine weitere Hürde auf dem Weg zu einem
europaweit einheitlichen Rahmen für Prävention, Opfer-
schutz und Strafverfolgung .
In den 81 Artikeln der Konvention werden die Maß-
nahmen definiert, die die Mitgliedstaaten zu ergreifen ha-
ben: Es geht um Maßnahmen des Gewaltschutzes, Schutz
und Unterstützung der Opfer und auch um rechtliche Re-
gelungen zur Ermittlung und Verfolgung von Straftaten
sowie Monitoring und statistische Erhebungen .
Deutschland hat bereits alle Verpflichtungen aus der
Konvention umgesetzt . Dazu gehört insbesondere die
Einrichtung eines bundesweiten Hilfstelefons, über das
in den letzten zwei Jahren bereits 100 000 Beratungsge-
spräche geführt wurden . Man hat die Hürden bewusst
niedrig gehalten, sodass wirklich jede Frau, die Hilfe
braucht, auch Hilfe bekommen kann: So besteht das An-
gebot rund um die Uhr an 365 Tagen im Jahr per Telefon,
Chat oder E-Mail . Die Hilfe wird in insgesamt 17 ver-
schiedenen Fremdsprachen sowie in Gebärdensprache
angeboten und ist natürlich anonym und vertraulich . Die
Nummer lautet 08000 116016 und soll auch an dieser
Stelle noch einmal genannt werden .
Eine weitere Verpflichtung aus der Konvention betraf
das Sexualstrafrecht . Konkret ging es darum, dass alle
sexuellen Handlungen, die nicht einvernehmlich gesche-
hen, unter Strafe gestellt werden müssen . Ein Nein des
Opfers muss ausreichen, um deutlich zu machen, dass
es die sexuelle Handlung nicht wünscht . Eigentlich eine
Selbstverständlichkeit . Seit November letzten Jahres ist
das nun auch gesetzlich klargestellt .
Die Istanbul-Konvention und ihre Ratifikation durch
das vorliegende Gesetz sind wichtige Schritte im Kampf
gegen Gewalt gegen Frauen . Und dabei geht es nicht
nur darum, Maßnahmen zu treffen und neue Gesetze zu
schreiben . Es geht vor allem auch darum, das Thema
„Gewalt gegen Frauen“ in den Fokus der Öffentlichkeit
zu stellen, denn mehr Aufmerksamkeit kann auch schon
helfen .
Wir sollten daher weiter sensibel und gewiss nicht
hinter verschlossenen Türen mit diesem Thema umge-
hen . Wir sollten die Scham und das Schweigen brechen
und die Frauen dazu ermutigen, auszusprechen, was ih-
nen wiederfahren ist, und die Hilfe einzufordern, die sie
benötigen .
Mir ist es daher ein wichtiges Anliegen, die Stellen zu
fördern, die vor Ort die erste Hilfe und Beratung leisten .
Das sind die kleinen ehrenamtlichen Vereine, Selbsthil-
fegruppen, Frauenhäuser oder auch Frauennotrufe . Diese
Einrichtungen leisten wirklich Enormes, um den betrof-
fenen Frauen zu helfen und ihnen Mut zu machen . Hier
muss unsere Unterstützung einfließen. Ich appelliere da-
her an alle, sich dort einzusetzen und starkzumachen .
Sylvia Pantel (CDU/CSU): Gewalt gegen Frauen ist
in keiner Form und durch nichts zu rechtfertigen . Wir
sind uns einig, dass die Bekämpfung von Gewalt gegen
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 201723364
(A) (C)
(B) (D)
Frauen ein wichtiges und in diesem Haus zu Recht im-
mer wiederkehrendes Thema ist .
Jeder Mensch hat Anspruch auf Unversehrtheit und
ein Leben in Würde . Jede Gewalttat gegen Frauen ist ein
Verstoß gegen Menschenrechte und ein Verbrechen . So
deutlich müssen wir das formulieren . Und auch keine Re-
ligion oder Kultur auf der Welt rechtfertigt es, die Rechte
von Frauen einzuschränken, sie zu missachten oder gar
Gewalt gegen Frauen anzuwenden . Religionsfreiheit ist
ein Grundrecht in unserem Land, aber sie muss dort ihre
Schranken finden, wo sie Menschenrechte verletzt.
Die Bundesregierung hat am 8 . März dieses Jahres,
dem Internationalen Frauentag, dem Entwurf des Geset-
zes zum Übereinkommen des Europarats zur Verhütung
und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häus-
licher Gewalt zugestimmt und somit den Weg freige-
macht zur Ratifizierung des Abkommens. Die sogenann-
te Istanbul-Konvention stuft Gewalt gegen Frauen als
Menschenrechtsverletzung und eine Form der Diskrimi-
nierung ein. Sie wurde bisher von 22 Staaten ratifiziert.
81 Artikel definieren politische und rechtliche Maßnah-
men, die Staaten ergreifen müssen, um die vorgeschrie-
benen Ziele zu erreichen .
Dem Vorwurf, Deutschland hätte die Konvention
schon viel früher ratifizieren sollen, möchte ich zwei
Punkte entgegenhalten:
Erstens war es notwendig, die rechtlichen Voraus-
setzungen für eine Ratifizierung zu schaffen. Dazu war
zunächst eine Reform des Sexualstrafrechts, des § 177
Strafgesetzbuch, erforderlich . Durch die gesetzliche
„Nein heißt Nein“-Regelung, die vorschreibt, dass sich
nun jeder strafbar macht, der sich über „den erkennbaren
Willen“ des Opfers hinwegsetzt, schaffen wir Rechtssi-
cherheit . Die Reform war damit ein wichtiger Schritt und
zugleich Voraussetzung für eine Ratifizierung der Istan-
bul-Konvention .
Ich komme nun zum zweiten Punkt, und zwar zu der
Tatsache, dass allein die Unterschrift unter ein Abkom-
men noch keine Frau aus häuslicher Gewalt befreit oder
diese verhindert hat. Die Ratifizierung der Istanbul-Kon-
vention ist richtig und wichtig, aber sie ersetzt nicht kon-
krete Maßnahmen vor Ort .
Vermeintlicher Schutz auf dem Papier bewirkt noch
keine Veränderung der Lebenswirklichkeit von betrof-
fenen Frauen . Mit der Unterzeichnung des Abkommens
verpflichten sich die Staaten, Maßnahmen zu ergreifen,
die geschlechtsbezogene Gewalt verhindern . Dazu zäh-
len Prävention, Schutz, Strafverfolgung, organisatori-
sche Zusammenarbeit staatlicher und nichtstaatlicher
Stellen sowie das Monitoring der Umsetzung .
Umfassende Verpflichtungen dienen vor allem dazu,
die Gleichstellung von Mann und Frau zu stärken . Dies
ist ein wichtiger Punkt . Denn es geht auch und vor allem
um die Stärkung des Bewusstseins der Frauen für ihre
Rechte . Denn was nutzen Statistiken zu von Gewalt be-
troffenen Frauen, wenn diese gar nicht das Bewusstsein
dafür haben, dass ihnen Unrecht widerfährt? Wenn diese
Frauen nicht den Mut haben, ihre Stimme zu erheben,
sich gegen gesellschaftliche Konventionen oder kulturel-
le Traditionen zu wehren und Hilfe zu suchen?
Die Türkei hat die Istanbul-Konvention bereits 2012
ratifiziert. Und trotzdem ist in Teilen des Landes Ge-
walt gegen Frauen nach wie vor ein großes Problem,
die „Ehre“ ist häufig die Existenzgrundlage der Fami-
lie und nicht selten eine Rechtfertigung von Gewaltta-
ten an Frauen. Dabei verpflichten sich, laut Vertrags-
text der Istanbul-Konvention, die Unterzeichner dazu,
Verhaltensweisen zu ändern, die auf althergebrachten
Geschlechterrollen beruhen . So fordert Artikel 12 von
den Vertragsparteien, Maßnahmen zu ergreifen, die da-
rauf zielen, „Vorurteile, Bräuche, Traditionen und alle
sonstigen Vorgehensweisen, die auf der Vorstellung der
Unterlegenheit der Frau oder auf Rollenzuweisungen für
Frauen und Männer beruhen, zu beseitigen .“
Artikel 42 hält gesondert fest, dass es mit Blick auf
Kultur, Traditionen und Religion keine Rechtfertigung
für Gewalt gegen Frauen gibt . Dies gelte insbesondere
für Verbrechen, die im Namen der „Ehre“ begangen wer-
den .
Gewalt gegen Frauen ist leider oftmals Ausdruck der
Ungleichheit zwischen den Geschlechtern und ein Spie-
gel gesellschaftlicher Machtverhältnisse . Sie reicht von
sexueller Belästigung und häuslicher Gewalt über Geni-
talverstümmelung bis hin zu Frauenhandel und Zwangs-
prostitution .
Auch Kinderehen möchte ich hier explizit erwähnen,
zumal die Istanbul-Konvention in Artikel 3f unterstreicht,
dass der Begriff „Frauen“ ausdrücklich auch Mädchen
unter 18 Jahren, also auch Kinder, mit einbezieht .
In Artikel 32 ist geregelt, dass sich die Vertragspartei-
en dazu verpflichten, erforderliche Maßnahmen zu tref-
fen, um sicherzustellen, dass unter Zwang geschlossene
Ehen für nichtig erklärt und aufgelöst werden können –
und das ohne eine unangemessene finanzielle oder admi-
nistrative Belastung für das Opfer .
Artikel 37 zur Zwangsheirat regelt, dass die Vertrags-
parteien Maßnahmen treffen, um sicherzustellen, dass
vorsätzliches Verhalten, durch das eine erwachsene Per-
son oder ein Kind zur Eheschließung gezwungen wird,
unter Strafe gestellt wird . Auch ein Verbot von Zwangs-
abtreibungen und Zwangssterilisationen umfasst das Ab-
kommen .
Mit der Konvention verpflichten sich die Unterzeich-
nerstaaten, Schutz- und Hilfsdienste für Frauen, die
Gewalt erlitten haben, bereitzustellen . Dazu zählt unter
anderem, über Hilfsangebote und juristische Mittel zu in-
formieren . Ebenso sollen Schutzräume, Telefon-Hotlines
und spezielle Hilfszentren für Vergewaltigungsopfer ge-
schaffen werden. Darüber hinaus sieht die Konvention
vor, die Gesetzeslage dahin gehend zu ändern, dass es
der Polizei erlaubt ist, bei häuslicher Gewalt den gewalt-
tätigen Partner aus der Wohnung zu holen und ihn anzu-
weisen, sich vom Opfer fernzuhalten .
Ich möchte noch einmal erwähnen, dass allein die Ra-
tifizierung eines Abkommens wie der Istanbul-Konven-
tion nicht die Lösung des Problems ist . Wir müssen das
Thema aus der Tabu-Ecke holen, wir müssen aufklären
http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/newsletter/57216/deutschland-mehr-hilferufe-wegen-zwangsehen-und-gewalt-im-namen-der-ehre
http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/newsletter/57216/deutschland-mehr-hilferufe-wegen-zwangsehen-und-gewalt-im-namen-der-ehre
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 23365
(A) (C)
(B) (D)
und Hilfsangebote vor Ort schaffen, unbürokratische kur-
ze Wege und Angebote anbieten, die es den Betroffenen
leichtmachen, Hilfe auch anzunehmen . Genau hier haben
wir, hat Deutschland, gute Ergebnisse vorzuweisen .
Wir haben mittlerweile ein breites Netzwerk von
Hilfs- und Beratungsangeboten . Das Hilfetelefon „Ge-
walt gegen Frauen“, ein bundesweites und vom Bund
finanziertes Beratungsangebot, hat vor kurzem, am
30. März, seinen vierten Jahresbericht veröffentlicht.
Demnach gab es im Jahr 2016 über 34 400 Beratungen,
die auch von immer mehr Frauen mit Fluchthintergrund
angenommen werden . Dies entspricht einem Anstieg von
rund 27 Prozent im Vergleich zum Vorjahr 2015 . Auch
das mehrsprachige Beratungsangebot des Hilfetelefons
wird häufig genutzt. Zum 1. Januar dieses Jahres wurde
der Dolmetscherdienst um die Sprachen Albanisch und
Kurdisch erweitert . Beratungen sind nun in 17 Fremd-
sprachen möglich .
Diese Zahlen bestätigen, dass Gewalt gegen Frauen
weit verbreitet ist, sie machen aber auch deutlich, dass
unsere Hilfsangebote bekannt sind und von immer mehr
betroffenen Frauen genutzt werden. Allein in 16 000 Fäl-
len konnten die Expertinnen des Hilfetelefons 2016 be-
troffene Frauen an örtliche Unterstützungseinrichtungen
wie Frauenhäuser oder Beratungsstellen weitervermit-
teln .
Das Hilfetelefon ist damit eine wichtige Säule im
Unterstützungssystem für von Gewalt betroffene Frauen
und hat sich als sinnvolle Ergänzung der Angebote vor
Ort bewährt .
Cornelia Möhring (DIE LINKE): Die Ratifizierung
der Istanbul-Konvention ist nun nur noch eine Formali-
tät . Wie sehr sich Frau Ministerin Schwesig dafür jetzt
dennoch feiern lässt, verdeckt, wie lange die Bundesre-
gierung gebraucht hat, die notwendigen Gesetzesände-
rungen umzusetzen und damit ihrer völkerrechtlichen
Verpflichtung, Mädchen und Frauen das Recht auf ein
Leben ohne Gewalt zu gewährleisten, nachzukommen –
ganze drei Jahre . Und es verdeckt noch viel mehr, wie
viele Maßnahmen noch folgen müssen, wenn wir dieses
Recht ernst nehmen .
Letztes Jahr haben wir hier im Bundestag einstimmig
die Reform des Sexualstrafrechts beschlossen . Ein Rie-
senerfolg vor allem für all die engagierten Frauen, die
jahrelang dafür gekämpft haben, dass Nein auch Nein
heißt! Aber die rechtliche Verankerung reicht nicht, denn
es kommt immer auch auf die Umsetzung an . Damit das
sexuelle Selbstbestimmungsrecht zukünftig auch tat-
sächlich in der Praxis geachtet wird, braucht es allem
voran qualifizierte und verpflichtende Fortbildungen und
Sensibilisierungen für Polizei und Justiz .
Ja, es gibt nicht nichts: Es wurde das Hilfetelefon ein-
gerichtet, es gibt Beratungsstellen und rund 350 Frauen-
häuser und etwa 40 Zufluchtswohnungen mit insgesamt
circa 6 800 Plätzen für gewaltbetroffene Frauen und de-
ren Kinder. Ich finde nicht, dass damit die Anforderun-
gen der Istanbul-Konvention erfüllt sind, wie es die Bun-
desregierung in der Denkschrift schreibt, und wundere
mich, ehrlich gesagt, stark über diese Interpretation . Aber
ich möchte mich nicht mit Ihnen streiten, ob das formal
stimmt oder nicht; das ist nicht mein Maßstab . Der sprin-
gende Punkt ist doch: Es gibt auf keinen Fall genug .
18 000 Frauen mit ihren Kindern werden jährlich
in den Frauenhäusern aufgenommen – aber noch mal
genauso viele werden jährlich abgelehnt, wie es der
7 ./8 . CEDAW-Alternativbericht feststellt . Und dass
nicht noch viel mehr Frauen, die von ihrem Partner ge-
schlagen, gedemütigt und misshandelt werden, an der
Schwelle zu einem Schutzraum abgewiesen werden, ist
vor allem dem Personal zu verdanken, das längst jenseits
der Belastungsgrenze arbeitet, ohne dafür angemessen
bezahlt zu werden .
Das erkennen wir an den wenigen Zahlen, die über-
haupt erhoben wurden: 35 Prozent der Frauen in
Deutschland haben körperliche und/oder sexualisierte
Gewalt erfahren . Die aktuellen Zahlen des BKAs gehen
von 100 000 Opfern von häuslicher Gewalt aus . Und da
die Gewalt gegen Frauen meistens vom Partner ausgeübt
wird, ist anzunehmen, dass die Dunkelzahl noch um ei-
niges höher liegt . All diesen Frauen hilft ein Recht ohne
konkrete Maßnahmen zu dessen Verwirklichung und
ohne angemessene Infrastruktur erst einmal wenig, vie-
len hilft es rein gar nichts .
Ja, es gibt Hilfsangebote, Beratung, Betreuung, Sensi-
bilisierungsmaßnahmen, Frauenhäuser . Aber es gibt eben
von allem nicht genug – und das ist der Hauptgrund, wa-
rum häusliche Gewalt immer noch die größte Lebensge-
fahr für Mädchen und Frauen bedeutet .
Deshalb brauchen wir endlich einen Rechtsanspruch
auf sofortigen Schutz und umfassende Hilfe für von Ge-
walt betroffene Frauen und deren Kinder. Ein Recht, das
Frauen und ihre Kinder unabhängig von Einkommen,
Wohnort, Aufenthaltstitel, Herkunftsort, gesundheitli-
chen Einschränkungen oder Behinderungen wirklich in
Anspruch nehmen können! Das bleibt trotz der Ratifizie-
rung der Istanbul-Konvention das drängende Problem in
Deutschland .
Die Bundesregierung muss hier endlich ihre Verant-
wortung übernehmen, anstatt sich nur feiern zu lassen .
Ulle Schauws (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit
der Istanbul-Konvention haben die europäischen Staaten
2014 ein starkes Instrument geschaffen, um die vielfäl-
tigen Formen geschlechtsspezifischer Gewalt an Frau-
en zu bekämpfen, weil sie zum ersten Mal umfassende
Maßnahmen in den Bereichen Prävention, Betreuung
und Hilfe, Rechtsschutz und Verfahren vorsieht . Dass
die Bundesregierung diesen wichtigen völkerrechtlichen
Vertrag nun endlich ratifizieren will, ist allerdings längst
überfällig, und das haben wir Grüne schon seit langem
gefordert . Denn Gewalt gegen Frauen ist kein individu-
elles, sondern ein gesellschaftliches Problem . Jede drit-
te Frau in Deutschland wurde bereits einmal Opfer von
körperlicher oder sexualisierter Gewalt. Betroffen sind
Frauen jeden Alters, jeder Schicht und jeder Nationalität .
Leider haben Sie von der Bundesregierung, insbeson-
dere Bundesjustizminister Maas sowie das Kanzleramt,
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 201723366
(A) (C)
(B) (D)
sehr lange gezögert, die Reform des Sexualstrafrechts
mit dem Prinzip „Nein heißt Nein“ umzusetzen .
Und ich will hier noch einmal ganz klar sagen: Nur
dem großen Druck der Frauenverbände, dem Gesetzent-
wurf von uns Grünen und der politischen Lage nach Köln
ist es letztlich zu verdanken, dass diese zentrale Voraus-
setzung zur Ratifizierung der Konvention heute gegeben
ist .
Jedoch kann das materiell-rechtliche Strafrecht al-
lein das Problem der sexualisierten Gewalt nicht lösen .
Auch in den Erläuterungen zu Artikel 36 der Konvention
heißt es, dass eine wirksame Strafverfolgung gewährleis-
tet werden muss . Deshalb braucht es dringend weitere
Maßnahmen wie eine qualifizierte Notfallversorgung der
Opfer sowie eine gute Ausstattung, systematische Sensi-
bilisierung und Schulung von Polizei und Staatsanwalt-
schaften .
Nach den kürzlich vorgelegten aktuellen Zahlen der
Polizeilichen Kriminalstatistik 2016 haben sich die Straf-
taten gegen die sexuelle Selbstbestimmung signifikant
um 18 Prozent gegenüber 2015 erhöht . Auch darum ist
es notwendig, die Praxis und Strafverfolgung nach dem
neuen Sexualstrafrecht regelmäßig zu evaluieren, damit
seine Wirksamkeit überprüft werden kann .
Neben den Maßnahmen im Rahmen des Sexualstraf-
rechts muss die Bundesregierung aber noch weitere
Schritte im Hinblick auf eine koordinierte Gesamtstra-
tegie gehen, um eine effektive Umsetzung der Istan-
bul-Konvention sicherzustellen . Den von körperlicher
und sexualisierter Gewalt betroffenen Frauen und Mäd-
chen Schutz und Hilfe zu gewähren, ist ein Menschen-
recht und staatliche Verpflichtung.
Der Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frau-
ennotrufe (Bff) und die Zentrale Informationsstelle au-
tonomer Frauenhäuser (ZIF) mahnen in ihren Stellung-
nahmen zum Gesetzentwurf der Bundesregierung mit
zahlreichen Beispielen hier weiteren dringenden Hand-
lungsbedarf an .
Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Ko-
alition, fordere ich Sie auf, sicherzustellen, dass Fach-
beratungsstellen, Frauenhäuser und Notrufe finanziell
und personell besser ausgestattet werden . Es muss durch
Bund und Länder gemeinsam gewährleistet werden, dass
allen von Gewalt betroffenen Frauen ein schneller, siche-
rer und unbürokratischer Zugang zu diesen Einrichtun-
gen gewährt wird .
Auch im Bereich der in Artikel 11 der Konvention
geforderten umfangreichen Erhebung und Aufschlüs-
selung von Daten über alle Formen der Gewalt, über
die Wirksamkeit der getroffenen Maßnahmen zu ihrer
Verhinderung sowie Forschungsprojekte zum Thema
„Gewalt gegen Frauen in Deutschland“ muss die Bun-
desregierung noch weitere Anstrengungen unternehmen,
um diese Vorgaben zu erfüllen . Außer der Polizeilichen
Kriminalstatistik sind beispielsweise weitere Statistiken
zu Strafverfahren oder Verurteilungen oft nicht nach Ge-
schlechtern differenziert.
Um eine stringente Koordinierung, Umsetzung, Beob-
achtung und Bewertung aller der von der Istanbul-Kon-
vention geforderten Maßnahmen zur Verhütung und Be-
kämpfung von Gewalt gegen Frauen zu gewährleisten,
ist eine Monitoringstelle auf Bundesebene erforderlich .
Die in der Denkschrift zu Artikel 10 vorgesehenen vier
Bund-Länder-Arbeitsgruppen können diese weitreichen-
den Aufgaben meines Erachtens nicht zielführend über-
nehmen .
Zum Schluss fordere ich die Bundesregierung auf,
sich nicht länger an ihre eingelegten Vorbehalte zu den
Artikeln 59 Absatz 2 und 3 zu klammern und die Kon-
vention endlich vorbehaltlos zu ratifizieren. Die Bundes-
regierung darf nicht länger geflüchteten oder migrierten
Frauen und Mädchen, die von häuslicher Gewalt betrof-
fen sind oder als Zeuginnen in Strafverfahren aussagen,
die Möglichkeit auf ein eigenständiges Aufenthaltsrecht
verweigern .
Elke Ferner, Parl . Staatssekretärin bei der Bun-
desministerin für Familie, Senioren, Frauen und Ju-
gend: Ich freue mich sehr, dass wir nun auch endlich in
Deutschland die Istanbul-Konvention ratifizieren kön-
nen . Deutschland hat bei den Verhandlungen über die
Istanbul-Konvention eine treibende Rolle gespielt und
das Übereinkommen sofort am Tag der Zeichnungsaufle-
gung am 11 . Mai 2011 in Istanbul gezeichnet .
Doch ratifizieren konnten wir die Istanbul-Konventi-
on bisher nicht, weil die Regelungen der Konvention bis
zum Herbst letzten Jahres noch nicht vollständig in nati-
onales Recht umgesetzt waren . Dennoch war die Istan-
bul-Konvention für die nationale Gleichstellungspolitik
ein wertvolles Druckmittel . Nach und nach haben wir die
Lücken geschlossen .
Die Istanbul-Konvention verlangt ein adäquates Hilfs-
und Unterstützungssystem für gewaltbetroffene Frauen.
Dazu gehört auch eine Telefonberatung . Artikel 24 der
Istanbul-Konvention wurde mit dem bundesweiten Hil-
fetelefon „Gewalt gegen Frauen“ 2013 umgesetzt . Das
Hilfetelefon ist 24 Stunden entgeltfrei erreichbar, jeden
Tag, barrierefrei und mittlerweile in 17 Sprachen . Auch
Beratung in Gebärdensprache wird angeboten . Fach-
kräfte, durchweg Frauen, leisten am Hilfetelefon eine
qualifizierte Erstberatung und vermitteln auf Wunsch zu
Einrichtungen am Ort der Anruferin . Zusätzlich gibt es
über die Webseite des Hilfetelefons Beratung per E-Mail
und im Chat . Bis Ende 2016 hatte das Hilfetelefon über
100 000 Beratungskontakte – von Frauen, die von Ge-
walt betroffen sind, von Menschen aus ihrem Umfeld und
von Fachkräften aus Hilfe und Beratung .
Änderungsbedarf gab es auch bei der Datenerhebung .
Artikel 11 der Konvention wurde mit einer geänderten
Polizeilichen Kriminalstatistik umgesetzt . Wir haben
die Erfassung in der Polizeilichen Kriminalstatistik wei-
terentwickelt, sodass Fälle häuslicher Gewalt nun ab-
gebildet werden . Dadurch wissen wir, dass allein 2015
104 000 Frauen von häuslicher Gewalt in der Partner-
schaft betroffen waren. Fast die Hälfte dieser Frauen leb-
te zum Tatzeitpunkt mit dem Tatverdächtigen unter einem
Dach . Wir wissen mehr über die Merkmale der Opfer und
der Tatverdächtigen und über deren Beziehung . Dadurch
lassen sich Fälle häuslicher Gewalt besser identifizieren
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 23367
(A) (C)
(B) (D)
und besser analysieren, um geeignete Maßnahmen für
Schutz und Intervention zu treffen.
Auch das deutsche Sexualstrafrecht stand einer Rati-
fizierung im Wege. Denn Artikel 36 der Istanbul-Kon-
vention verlangt, dass alle nichteinvernehmlich sexu-
ellen Handlungen unter Strafe gestellt werden . Hier
gab es noch Schutzlücken im Sexualstrafrecht: Obwohl
nach den Vorgaben der Istanbul-Konvention der Straf-
tatbestand erfüllt war, blieben die Täter nach deutschem
Strafrecht straffrei. Im letzten Jahr hat der Deutsche Bun-
destag mit Zustimmung aller Fraktionen einen Paradig-
menwechsel im Strafrecht beschlossen und das Prinzip
„Nein heißt Nein“ im deutschen Strafrecht verankert .
Dafür möchte ich Ihnen nochmals danken – vor allem
den weiblichen Abgeordneten, die sich fraktionsüber-
greifend dafür eingesetzt haben . Ich erinnere mich noch
gut an die Debatten hier im Bundestag zur Strafbarkeit
der Vergewaltigung in der Ehe . Vor fast 20 Jahren, am
15 . Mai 1997, waren die Mehrheiten knapper . Aber auch
1997 waren es die Frauen, die fraktionsübergreifend die
Mehrheit im Bundestag davon überzeugen konnten, dass
auch die Vergewaltigung in der Ehe ein Verbrechen ist .
Mein besonderer Dank gebührt allerdings der Zivilge-
sellschaft und dem Bündnis „Nein heißt Nein“ . Ohne de-
ren Unterstützung und ohne die Unterstützung der Sach-
verständigen hätten wir die Reform des Sexualstrafrechts
nicht hinbekommen .
Endlich ist der Wille der Frau ausschlaggebend . End-
lich ist es nicht mehr erforderlich, dass zusätzlich eine
Gewaltanwendung des Täters hinzukommen muss, damit
eine Tat als Vergewaltigung strafbar ist . Wer ein Nein der
Frau ignoriert, macht sich strafbar . Strafbar macht sich
auch, wer eine Frau überrumpelt . Und es gibt einen Straf-
tatbestand der sexuellen Belästigung, mit dem Grapsche-
reien bestraft werden können . Die geänderte Gesetzesla-
ge wird dazu beitragen, dass sich mehr betroffene Frauen
zu einer Anzeige entschließen, dass weniger Strafver-
fahren eingestellt werden und dass sexuelle Übergriffe
besser geahndet werden können . Dies ist ein historischer
Schritt im Kampf gegen sexualisierte Gewalt und für die
sexuelle Selbstbestimmung der Frauen .
Die Voraussetzungen zur Ratifizierung der Istan-
bul-Konvention haben wir erfüllt . Mit dem Gesetz zur
Ratifizierung verpflichten wir uns, die geschaffenen
Standards im Kampf gegen Gewalt gegen Frauen dau-
erhaft aufrechtzuerhalten und weiterzuentwickeln . Denn
Gewalt gegen Frauen ist kein Randphänomen. Sie findet
mitten in unserer Gesellschaft statt; viele Frauen erlei-
den Gewalt, doch viele von ihnen schweigen – aus Angst
vor weiterer Gewalt oder aus Angst, dass niemand ihnen
glaubt .
Bürgerinnen und Bürger können sich bei Klagen in
Zukunft vor Gericht direkt auf die Istanbul-Konvention
beziehen. Die Ratifizierung der Istanbul-Konvention ist
ein wichtiger Meilenstein, aber nicht das Ende des We-
ges . Das ist erst dann erreicht, wenn die Forderungen
der Istanbul-Konvention nicht nur im Recht, sondern im
Alltag Wirklichkeit geworden sind und in der Rechtspre-
chung angewandt werden .
Dazu ist eine Fortbildung für Angehörige von Justiz,
Ermittlungsbehörden und Polizei erforderlich . Das liegt
in der Zuständigkeit der Länder, und ich kann diese nur
ermutigen, Justiz-, Ermittlungs- und Strafverfolgungsbe-
hörden schnell mit den neuen Anforderungen vertraut zu
machen . Denn nur wenn Gewalt gegen Frauen erkannt
wird, kann sie auch bekämpft und geahndet werden .
Die Ratifizierung der Istanbul-Konvention und die
sich daraus ergebenden Rechte müssen aber auch in der
Bevölkerung bekannt gemacht werden . Nur so können
gewaltbetroffene Frauen und Mädchen geschützt werden.
Jede Gewalttat ist eine zu viel . Die BVG hier in Berlin
hat vor kurzem bereits eine tolle Kampagne zur Bekannt-
machung des Prinzips „Nein heißt Nein“ initiiert . Ich
hoffe, dass es noch viele solche Kampagnen geben wird.
Ich freue mich auf die weiteren Beratungen .
Anlage 4
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Ver-
arbeitung von Fluggastdaten zur Umsetzung der
Richtlinie (EU) 2016/681 (Fluggastdatengesetz –
FlugDaG) (Tagesordnungspunkt 21)
Clemens Binninger (CDU/CSU): Mit dem Flug-
gastdatengesetz, das wir heute beschließen, setzen wir
die EU-Richtlinie über die Verwendung von Fluggastda-
tensätzen in nationales Recht um .
Luftfahrtunternehmen, Reisebüros und Reiseveran-
stalter werden Informationen über ihre Fluggäste – wie
Namen, Adresse, Angaben zur Reiseroute und zur Zah-
lungsart etc . – an die nationale Fluggastdatenzentralstel-
le, in Deutschland das Bundeskriminalamt, übermitteln .
Die Zentralstelle gleicht die Fluggastdaten mit bestimm-
ten Datenbanken und Kriterien ab, um auf diese Weise
Personen zu identifizieren, die mit einer terroristischen
Straftat oder mit schweren Kriminalitätsdelikten in Zu-
sammenhang stehen könnten . Damit verfügen wir über
ein weiteres Instrument im Kampf gegen den internati-
onalen Terrorismus und bei der Bekämpfung schwerer
Kriminalität .
Europäische Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich
ist nicht neu . Strafverfolgungs- und Sicherheitsbehörden
in Europa tauschen Erkenntnisse und Informationen zu
verdächtigen Personen regelmäßig aus, wobei ich mir
von manchen Mitgliedstaaten deutlich mehr Engagement
wünschen würde. Die Erkenntnisse betreffen bei den
bereits bestehenden Instrumenten und Einrichtungen je-
doch hauptsächlich bereits bekannte Personen .
Wir wissen aber, dass die Täter in den Bereichen in-
ternationaler Terrorismus und schwere Kriminalität häu-
fig von Drittstaaten aus in die Europäische Union und
zurück reisen . Sie bewegen sich darüber hinaus oft auch
länderübergreifend innerhalb der Europäischen Union
selbst . Die Täter sind hochmobil, und sie agieren ver-
stärkt deliktübergreifend und international . Es ist daher
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 201723368
(A) (C)
(B) (D)
nur konsequent, den zuständigen Behörden die Befugnis-
se an die Hand zu geben, die es ihnen ermöglichen, auch
solche Personen zu identifizieren, die ihnen bislang noch
nicht bekannt waren und die mit einer schweren oder ter-
roristischen Straftat in Zusammenhang stehen könnten .
Die EU-Richtlinie heute in nationales Recht umzuset-
zen, ist daher ein richtiger Schritt . Die genannten Gründe
gebieten es auch, über die Richtlinie hinauszugehen und
ebenfalls innereuropäische Flüge einzubeziehen .
In der Sachverständigenanhörung waren die rechtli-
chen Bewertungen – wie zu erwarten war – sehr unter-
schiedlich . Stellen die Maßnahmen einen Grundrechts-
eingriff dar? Ja. Sind die mit dem Gesetz verfolgten Ziele,
nämlich die Verhütung und Verfolgung terroristischer
Straftaten und schwerer Kriminalität, weniger gewich-
tig? Nein, im Gegenteil! Nach ständiger Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichtes und auch des EuGH hat
der Staat die grundrechtlich und rechtsstaatlich fundier-
te Pflicht, eine effektive Strafverfolgung sicherzustellen
und Individualrechte vor den Taten durch Schwerkrimi-
nelle und Terroristen zu schützen .
Um schließlich noch der zu erwartenden Kritik von-
seiten der Opposition bezüglich eines Mangels an Daten-
schutz entgegenzutreten: Es besteht einerseits eine enge
Zweckbindung für die Verwendung von Fluggastdaten
im Rahmen des Fluggastdaten-Informationssystems . Sie
dürfen nur zu den im Gesetzentwurf bezeichneten Zwe-
cken an die zuständigen deutschen Behörden übermittelt
werden . Andererseits werden personenbezogene Daten
auch streng geschützt . Daten, die etwa Angaben zur ras-
sischen oder ethnischen Herkunft enthalten, zu politi-
schen Meinungen, zu religiösen oder weltanschaulichen
Überzeugungen, zur sexuellen Orientierung etc ., werden
unverzüglich nach ihrem Eingang bei der Fluggastda-
tenzentralstelle gelöscht . Darüber hinaus werden die
Fluggastdaten, die verwendet werden dürfen, sechs Mo-
nate nach der Übermittlung depersonalisiert, sodass die
Identität der betroffenen Person nicht mehr festgestellt
werden kann bzw . nur dann, wenn der Datenabgleich zur
Verhütung oder Verfolgung von terroristischen Straftaten
erforderlich und richterlich genehmigt ist .
Ehrlicherweise muss man in der Debatte aber darauf
hinweisen, dass die Kosten, die unter anderem den deut-
schen Behörden entstehen, sehr hoch sind . Allein beim
Bundesverwaltungsamt und beim Bundeskriminalamt
sind für diese Aufgabe über 500 neue Stellen vorgesehen .
Ich rate daher dringend dazu, das Gesetz zu evaluieren,
sobald valide Zahlen vorliegen, damit wir auch sicher
sagen können, ob der hohe Personalaufwand und der Er-
kenntnisgewinn durch die Maßnahme in einem vernünf-
tigen Verhältnis stehen .
Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU): In zweiter
und dritter Lesung beraten wir heute abschließend über
das neue Fluggastdatengesetz . Mit diesem Gesetz set-
zen wir eine europäische Richtlinie zur Speicherung von
Fluggastdaten aus dem letzten Jahr um .
Wie die ebenfalls heute beschlossene Novelle des Eu-
ropol-Gesetzes ist auch dieses Gesetz ein Baustein, um
Terrorismus und Kriminalität in der EU zu bekämpfen .
Ich betone dabei ausdrücklich: ein Baustein, denn – und
darin sind wir uns, glaube ich, alle einig – Verbrechen
werden wir niemals völlig verhindern können . Wir kön-
nen es allerdings denen, die Verbrechen begehen, schwe-
rer machen . Und schon dies ist aus meiner Sicht ein Fort-
schritt . Zudem sind wir es als Politiker den Bürgerinnen
und Bürgern dieses Landes schuldig, alles Mögliche zu
tun, um Verbrechen zumindest zu erschweren .
Mit dem nun zu verabschiedenden Gesetz werden un-
sere Sicherheitsbehörden in die Lage versetzt, zukünftig
noch besser Passagierlisten mit Fahndungsbeständen ab-
zugleichen und, wenn nötig, entsprechend zu reagieren,
um zu verhindern, dass verdächtige Personen Deutsch-
land verlassen oder nach Deutschland einreisen können .
Weiterhin wird es anhand der demnächst vorliegenden
Daten möglich sein, kriminellen Netzwerken schneller
auf die Spur zu kommen, um so ihrem Treiben ein Ende
zu bereiten .
In diesem Zusammenhang ist es wichtig, zu erwäh-
nen, dass nicht nur die Passagierdaten von Flügen aus
Europa und nach Europa ausgewertet werden . Im nun zu
beschließenden Gesetz ist von Artikel 2 der EU-Richt-
linie Gebrauch gemacht worden, nach dem auch Passa-
gierdaten von Flügen innerhalb der EU ausgewertet wer-
den können . Aus meiner Sicht ist dies richtig, und man
kann sich schon die Frage stellen, warum diese Regelung
erst auf Anregung des Europäischen Rates Eingang in
die PNR-Richtlinie gefunden hat . Denn Kriminelle und
Terroristen reisen ja nicht nur über die Außengrenzen
der EU . Sie reisen auch innerhalb der EU, und auch dies
muss aus unserer Sicht verhindert werden .
Mir ist natürlich bewusst, dass viele Reisende ange-
sichts der Sammlung und Auswertung von Millionen von
Passagierdaten große Sorgen bezüglich des Datenschut-
zes haben . Im vorliegenden Gesetzentwurf ist aus mei-
ner Sicht hierzu eine gute Lösung gefunden worden . Die
Daten werden beim Bundesverwaltungsamt im Auftrag
des BKA gespeichert und nach dessen Weisung verarbei-
tet . Erst im Fall einer Übereinstimmung mit Merkmalen,
die einen Verdacht begründen, wird dies an das BKA als
zuständige Fluggastdatenzentralstelle gemeldet, damit
dann aus polizeilicher Sicht entschieden wird, wie weiter
zu verfahren ist . Damit ist sichergestellt, dass dem BKA
nur solche Personen bekannt werden, bei denen es An-
haltspunkte gibt, dass sie eine im Fluggastdatengesetz
genannte Straftat begangen haben oder innerhalb eines
übersehbaren Zeitraumes begehen werden . Die übrigen
Passagierdaten verbleiben beim Bundesverwaltungsamt
und werden dem BKA nicht zugänglich gemacht .
Im Zusammenhang mit dem Datenschutz möchte ich
noch erwähnen, dass in der diesem Gesetz zugrunde lie-
genden EU-Richtlinie geregelt ist, dass die gespeicherten
Daten sechs Monate nach der Übermittlung anonymisiert
werden müssen und sie nur auf richterliche Anordnung
wieder mit Namen verknüpft werden können . Nach ins-
gesamt fünf Jahren müssen die Daten insgesamt gelöscht
werden .
Wie ich eingangs schon gesagt habe: Der heute zu be-
schließende Gesetzentwurf ist nur ein Baustein, um zu
verhindern, dass Verbrecher und Terroristen ihre Taten
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 23369
(A) (C)
(B) (D)
begehen können . Gänzlich verhindern können wir Taten
nicht . Dennoch sollten wir keine Möglichkeit außer Acht
lassen, es zumindest so schwer wie möglich zu machen,
Straftaten zu begehen oder Terroranschläge zu verüben .
In diesem Zusammenhang können Passagierdaten wert-
voll sein, um dieses Ziel zu erreichen .
Daher sollten wir dem vorliegenden Gesetzentwurf
nicht nur zustimmen, weil wir dazu verpflichtet sind, eu-
ropäische Vorgaben in deutsches Recht umzusetzen, son-
dern weil es ein sinnvoller Schritt ist, um die Sicherheit
in Deutschland und Europa zu erhöhen .
Wolfgang Gunkel (SPD): Seit fast zwölf Jahren bin
ich nun schon Bundestagsabgeordneter, und genauso lan-
ge begleiten mich Fluggastdaten . Erst die verschiedenen
Abkommen der EU mit den USA, Kanada und Australien
und nun europaweit .
Wir haben den Gesetzentwurf schon hier im Plenum
diskutiert und zu Beginn dieser Woche auch noch eine
Expertenanhörung im Innenausschuss durchgeführt .
Für mich war diese Anhörung sehr aufschlussreich . Die
Punkte, bei denen ich Bauchschmerzen habe, wurden
auch von einigen Experten kritisch gesehen . Einige mei-
ner Bedenken konnten aber auch ausgeräumt werden .
Ein Punkt, den ich schon in meiner ersten Rede er-
wähnt habe und bei dem ich weiterhin sehr große Be-
denken habe, ist die Weitergabe der Fluggastdaten an
Drittländer . Da sehe ich eine Weitergabe von Daten, die
unter Umständen völlig zweckentfremdet werden oder
ganz anderen datenschutzrechtlichen Standards unterlie-
gen, sehr kritisch . Wir haben es einfach nicht mehr in der
Hand, was mit unseren Daten passiert . Wer Daten abgibt,
hat die Kontrolle darüber verloren .
Auch in der Anhörung wurden meine Bedenken nicht
ausgeräumt; einige Sachverständige teilten diese .
Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entschei-
dung zum BKA-Gesetz im Jahr 2016 darauf hingewie-
sen, dass eine Übermittlung von Daten ins Ausland dazu
führt, dass die Gewährleistungen des Grundgesetzes nach
der Übermittlung nicht mehr als solche zur Anwendung
gebracht werden können und stattdessen die im Ausland
geltenden Standards Anwendung finden. Das Bundes-
verfassungsgericht hat deshalb die Datenübertragung
an Drittstaaten nicht grundsätzlich ausgeschlossen, aber
einige Bedingungen gestellt . So ist die Gewährleistung
eines angemessen materiellen datenschutzrechtlichen
Niveaus für den Umgang mit den übermittelten Daten im
Empfängerstaat geboten . Zwingend auszuschließen ist
außerdem die Datenübermittlung an Staaten, wenn zu be-
fürchten ist, dass elementare rechtsstaatliche Grundsätze
verletzt werden . Keinesfalls darf der Staat seine Hand zu
Verletzungen der Menschenwürde reichen . Der Gesetz-
entwurf verweist auf das Datenschutzgesetz und auf die
Kontrolle durch den Datenschutzbeauftragten des BKA .
Das ist richtig und wichtig, aber ich möchte dennoch auf
die Wahrung der Standards, die uns das Bundesverfas-
sungsgericht mit auf den Weg gegeben hat, hinweisen .
Ein weiterer Punkt, den ich bereits in der ersten Le-
sung ansprach, war für mich die Erhebung der Daten
durch das Bundesverwaltungsamt . Es war für mich nicht
verständlich, warum eine weitere Behörde für eine so
sensible Aufgabe herangezogen wird . Ich bin dem von
der SPD benannten Sachverständigen für die Anhörung
im Innenausschuss, Herrn Münch, dem Präsidenten des
Bundeskriminalamtes, dankbar, dass er diese Bedenken
in der Anhörung ausräumen konnte . Das Bundesverwal-
tungsamt ist auch in anderen Bereichen schon Datenhal-
ter für das Bundeskriminalamt und insofern ein bewähr-
ter Partner . Es stößt den Abgleich der Daten an, sieht aber
die Treffer nicht. Ich gehe davon aus, dass diese gute Zu-
sammenarbeit auch bei der Erhebung der Fluggastdaten
stattfinden wird.
Ein Aspekt, der mir in der Diskussion bisher etwas zu
kurz gekommen ist, betrifft die Überprüfung des Flug-
gastdatenabkommens zwischen der EU und Kanada
durch den Europäischen Gerichtshof . Obwohl der Sach-
verhalt nicht unmittelbar vergleichbar ist, finde ich es
bedauerlich, dass das Gesetzgebungsverfahren hier ab-
geschlossen wurde, bevor es zu einer Entscheidung des
EuGH kam . Es wird schon interessant sein, zu erfahren,
für wie vereinbar mit der Grundrechtecharta der EU der
EuGH das Abkommen mit Kanada halten wird . Der Ge-
neralanwalt beim EuGH zweifelte eine Vereinbarkeit mit
dem Grundrecht auf Schutz personenbezogener Daten
und der Privatsphäre bei seinem Schlussvortrag zu dem
Abkommen im September des vergangenen Jahres an .
Wir diskutieren hier eine Vorlage aus Brüssel, und wir
sind verpflichtet, die Richtlinie umzusetzen; insofern ist
unser Gestaltungsspielraum nicht allzu groß . Ich erkenne
an, dass sich der Gesetzentwurf stark an der Richtlinie
orientiert .
Ich hätte es aber gern gesehen, wenn man das Gesetz
nicht auf innereuropäische Flüge ausgedehnt hätte . Die-
se Variante war optional, und nach meinem Empfinden
wäre es völlig ausreichend gewesen, wenn wir uns auf
Flüge von einem Mitgliedstaat in einen Drittstaat oder
umgekehrt beschränkt hätten .
Gleichzeitig begrüße ich es, dass es keine weiter ge-
henden Verschärfungen oder etwa eine Ausdehnung des
Anwendungsbereiches auf Züge wie etwa in Belgien
gibt . Eine völlige Überwachung aller Reisebewegungen
innerhalb der EU ist doch völlig utopisch und mit dem
Gedanken der Freiheit, der für mich die EU sehr stark
ausmacht, unvereinbar .
Ich habe einige Kritikpunkte genannt; aber mir ist auch
klar, dass wir nicht umhinkommen, angesichts der stei-
genden Gefahr durch islamistischen Terror zu handeln .
Die Speicherung von Fluggastdaten und somit die Kon-
trolle von Gefährdern und das Herausarbeiten von Mus-
tern können dafür geeignete Bausteine sein . Ich werde
aufmerksam verfolgen, welche Bedrohungen verhindert
und welche Fahndungserfolge durch die Speicherung
und Bewertung aller Fluggastdaten eintreten werden .
Die SPD-Bundestagsfraktion stimmt dem Gesetzent-
wurf zu .
Martina Renner (DIE LINKE): Auch dieser von der
Bundesregierung vorgelegte Gesetzentwurf reiht sich ein
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 201723370
(A) (C)
(B) (D)
in die Reihe jener Antiterrorgesetze, die über die rech-
te Leitplanke der Verfassungsmäßigkeit hinausschießen
und nicht nur daran entlangschrammen .
Erneut ein Gesetz mit Mindesthaltbarkeitsdatum . Wer
sich die Messlatten der Entscheidung des Europäischen
Gerichtshofs zur Vorratsdatenrichtlinie oder des Bundes-
verfassungsgerichts zur Rasterfahndung anschaut, der
weiß: Dieses Gesetz wird nicht bestehen .
Die Gründe dafür sind:
Mit dem Gesetzentwurf wird das BKA im Verbund mit
dem Bundesverwaltungsamt zur anlasslosen Erhebung,
Speicherung, Rasterung der Daten von jährlich circa
170 Millionen Menschen ermächtigt . Bis zu 60 Einzelda-
ten sollen verdachtsunabhängig gesammelt und für fünf
bis zu 15 Jahre lang gespeichert werden . Hinzu kommt
die uferlose Weitergabemöglichkeit der Daten ohne ei-
nen konkreten Anhaltspunkt für künftige Straftaten und
ohne Zweckbindung auch an ausländische Nachrichten-
dienste . Das ist eine verdachts- und anlasslose Massen-
datenerhebung und -speicherung! Egal ob ein Flug nur
innerhalb der Europäischen Union stattfindet oder in
ein Land außerhalb der EU, einziger Anknüpfungspunkt
ist eine Flugreise . Dies soll ausreichen, um anhand von
Algorithmen und Mustern als Terrorverdächtiger der
Zukunft enttarnt zu werden? Wohl kaum . Eher werden
unzählige Menschen falschen und abwegigen Verdäch-
tigungen ausgesetzt, die zudem heimlich und ohne ihr
Wissen durch ganz Europa verbreitet werden .
Problematisch ist weiter, welche Fülle an Informatio-
nen dem BKA für die Rasterung zur Verfügung gestellt
werden soll . Dazu gehören nicht nur Namen und ähnli-
che Daten . Zahlungsinformationen, genutzte Buchungs-
portale und nicht zuletzt ein Freifeld . Welche sensiblen
Daten in diesem Freifeld eingetragen werden können,
kann kaum begrenzt oder ernsthaft datenschutzrechtlich
geprüft werden . Am Ende kann dort vermerkt sein, wel-
che Tageszeitung ich mit habe oder ob ich ein Kopftuch
trage . Welche Anhaltspunkte sich daraus für die Raste-
rung geben, ist völlig unklar und nicht erkennbar .
Die Richtlinie sollte eigentlich dazu dienen, „auslän-
dische Kämpfer“, die nach Syrien und in den Irak bzw .
wieder nach Europa zurückkehren, zu finden. So wurde
es nach dem EU-Gipfel im August 2014 verkündet . Wie
dieses Ziel mit den Daten von Urlaubsreisenden auf die
Kanaren, nach Athen oder Rom erreicht werden kann,
bleibt ein Geheimnis der Big-Brother-Fraktion im Bun-
desinnenministerium und in der Großen Koalition . Noch
2011 war die damalige Bundesregierung selbst gegen die
Aufnahme von innereuropäischen Flügen in eine Da-
tenbank. Aber die Verlockungen des unerschöpflichen
Heuhaufens zur Datenauswertung waren wohl zu groß .
Erst mal alles speichern und rastern . Den Bürgerinnen
und Bürgern wird ein angeblicher Mehrwert an Sicher-
heit verkauft . Dass damit tatsächlich Straftaten verhütet
werden, erscheint kaum vorstellbar und konnte auch vom
BKA in der Anhörung des Innenausschusses nicht an ei-
nem einzigen Fall aus den Ländern mit entsprechender
Praxis belegt werden .
Immer wieder ist zu hören, dass beispielsweise das
Bundeskriminalamt kaum in der Lage sei, die Vielzahl
von Verfahren mit Terrorismus- oder OK-Bezug noch zu
bewältigen . Wären dann die 200 Stellen für die geplan-
ten zwei neuen Referate nicht sinnvoller dafür eingesetzt,
die bereits vorhandenen Aufgaben zu bewältigen? Dann
würde vielleicht eine Liste mit Besitzern kinderporno-
grafischer Bilder nicht monatelang ungesichtet und unbe-
arbeitet herumliegen . Oder die Hinweise auf Aktivitäten
der Mafia oder rechtsterroristischer Gruppen in Deutsch-
land mit Nachdruck untersucht . Das wäre allemal zweck-
dienlicher, als unbescholtene Bürgerinnen und Bürger zu
Verdächtigen zu machen . Das würde die Sicherheit in
Deutschland tatsächlich verbessern!
Die Fraktion Die Linke lehnt deshalb den Gesetzent-
wurf zur Fluggastdatenspeicherung ab .
Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): In die Flut von Gesetzen, welche die Sicherheit
der Bürgerinnen und Bürger in der Bundesrepublik schüt-
zen und die Gefahren des internationalen Terrorismus be-
kämpfen sollen, reiht sich nun auch die Umsetzung der
Richtlinie über die Verarbeitung von Fluggastdaten ein .
Nach ihrem Willen sollen die Fluggastdaten von al-
len Flugreisenden, die in und aus der EU ein- und aus-
reisen oder innerhalb der EU eine Flugreise antreten,
gespeichert werden . Dienen soll dies der Verhütung,
Aufdeckung, Ermittlung und Verfolgung von terroristi-
schen Straftaten und schwerer Kriminalität . Ziel ist es,
durch die Einführung einer Vorratsdatenspeicherung von
Fluggastdaten nicht nur bekannte, sondern auch „bisher
unbekannte Verdächtige“ zu identifizieren. So weit die
bekannte Datensammelwut der großkoalitionären Bun-
desregierung .
Aber um die Fragwürdigkeit und Absurdität dessen,
dass Sie heute hier diesen Gesetzentwurf verabschieden
wollen, muss man sich seine Genese in Brüssel verdeut-
lichen .
Es handelt sich um die Umsetzung einer Richtlinie,
die bereits einmal auf europäischer Ebene gestoppt wur-
de . Der LIBE-Ausschuss des Europäischen Parlaments
hatte sie damals zurückgewiesen . Auch die juristischen
Dienste sowohl des Rates der EU als auch des Europä-
ischen Parlaments hielten sie für rechtswidrig . Aus die-
sem Grund wurde sie erst in einem zweiten Anlauf 2016
verabschiedet .
Aber die Zweifel an ihrer Vereinbarkeit mit den eu-
ropäischen und deutschen Grundrechten bleiben . Denn
nach Artikel 16 Absatz 1 AEUV und Artikel 8 Absatz 1
der EU-Grundrechtecharta hat jede Person das Recht
auf Schutz der sie betreffenden personenbezogenen Da-
ten . Dieses Grundrecht darf nach Artikel 52 Absatz 1
der EU-Grundrechtecharta nur eingeschränkt werden,
wenn die gesetzliche Regelung den Wesensgehalt dieser
Rechte und Freiheiten achtet . Zudem bedarf es bei der
Einschränkung der Wahrung des Grundsatzes der Ver-
hältnismäßigkeit . Dies bedeutet, eine sie einschränkende
Regelung muss erforderlich sein und den von der Union
anerkannten, dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen
oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und
Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 23371
(A) (C)
(B) (D)
Dies ist aber bei der massenhaften und völlig anlass-
und verdachtslosen Speicherung der Fluggastdaten von
allen Flugreisenden gerade nicht der Fall .
Gespeichert werden sollen zig Datenkategorien von
allen Bürgerinnen und Bürgern, die in ein Flugzeug
steigen, darunter sämtliche Kontaktangaben, Sitzplatz,
Gepäck bis hin zur Sachbearbeiterin des Reisebüros . In
keiner Weise wird aber in dem Gesetzentwurf festgelegt,
weshalb diese Kategorien im Einzelnen für den Zweck
der „Verhütung von Straftaten“ – ein denkbar weiter Be-
griff, der bereits Fragen hinsichtlich der Normbestimmt-
heit aufwirft – notwendig sein sollen . Hinzu kommt, dass
es zusätzlich ein „Freitextfeld“ geben soll, bei dem sogar
all das gespeichert werden kann, was über diese Katego-
rien hinausgeht, und eine gesetzgeberische Bestimmtheit
nicht einmal mehr vorgegaukelt wird .
Damit werden die Daten von unbescholtenen Bürge-
rinnen und Bürgern bis zu fünf Jahre beim Bundeskrimi-
nalamt gespeichert, ohne dass diese Bürger irgendeinen
anderen Anlass dazu gegeben haben, als in ein Flugzeug
zu steigen . Die umfangreiche Fluggastdatenspeicherung
geht also bereits deutlich über das Maß hinaus, das zur
Verhinderung und Aufdeckung terroristischer Straftaten
und grenzübergreifender schwerer Kriminalität erforder-
lich ist .
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht einen
sogenannten Abgleich mit Mustern vor . Hierbei handelt
es sich faktisch um eine Rasterfahndung ohne hinrei-
chende Eingriffsschwelle. Die Rasterfahndung aber ist
eine polizeiliche Ermittlungsmaßnahme mit besonders
hoher Eingriffsintensität: Diejenigen Daten einer großen
Menge unverdächtiger Personen werden herausgefiltert,
die aus Sicht des BKA für den weiteren Verlauf konven-
tioneller Ermittlungen „interessant“ sind, ohne dass ir-
gendein Verdacht gegen die Person oder eine konkrete
Gefahr besteht . Der Verdacht wird also überhaupt erst
durch ein mögliches Muster generiert . Für die Vereinbar-
keit einer solchen Maßnahme, die tief in das Grundrecht
auf informationelle Selbstbestimmung eingreift, mit dem
Grundgesetz bedarf es aber – das hat das Bundesverfas-
sungsgericht 2006 entschieden – einer konkreten Gefahr
für hochrangige Rechtsgüter wie den Bestand oder die
Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder für Leib,
Leben oder Freiheit einer Person .
Gerade an diese Vorgaben an die Eingriffsschwelle hat
sich die Große Koalition in ihrem Gesetzentwurf aber
nicht gehalten – mit möglicherweise hochproblemati-
schen Konsequenzen und massiven Einschränkungen der
Grundrechte auch für unbescholtene Bürgerinnen und
Bürger. Denn es ist bei jeder Profiling-Maßnahme immer
auch mit „false positive alerts“ zu rechnen und nicht aus-
zuschließen, dass die Muster selbst diskriminierend sein
können .
Nach alledem ist sowohl die Erforderlichkeit der
Speicherung einer Vielzahl der vorgesehenen Datenka-
tegorien als auch die hinreichende Eingriffsschwelle für
den Musterabgleich verfassungs- und europarechtlich
bedenklich .
Die Möglichkeiten zur Verarbeitung von PNR-Daten
über das unbedingt erforderliche Maß hinaus, unabhän-
gig von dem Zweck der öffentlichen Sicherheit und der
Verhinderung und Aufdeckung terroristischer Straftaten
und grenzübergreifender schwerer Kriminalität, hat auch
der Generalanwalt beim EuGH Paolo Mengozzi in sei-
nem Schlussplädoyer in der Verhandlung des EuGH über
das Fluggastdatenabkommen der EU mit Kanada für mit
den europäischen Grundrechten unvereinbar bezeichnet .
Und ebendies macht die Tatsache, dass wir heute
über die Umsetzung dieser Richtlinie zu entscheiden
haben, besonders perfide. Denn die Entscheidung des
EuGH über das Fluggastdatenabkommen mit Kanada
steht unmittelbar bevor . Aus den dargelegten Gründen
ist es sehr wahrscheinlich, dass eine Entscheidung die
Unvereinbarkeit mit EU-Grundrechten in Teilen erklä-
ren wird, welche die Richtlinie und somit auch das hier
vorliegende Umsetzungsgesetz unmittelbar betreffen.
Sehenden Auges schaffen Sie also ein wahrscheinlich
verfassungs- und europarechtswidriges Gesetz, welches
die Steuerzahler sage und schreibe 65 Millionen Euro im
Jahr und einmalig 78 Millionen Euro kostet und einen
tiefen Einschnitt in die Bürgerrechte bedeutet . Und dies
übrigens ohne Not – denn die Umsetzungsfrist der Richt-
linie endet erst 2018 . Die Entscheidung des EuGH hätte
also bequem abgewartet werden können .
All dies in Betracht ziehend, kann man Ihnen beim
besten Willen keine Fahrlässigkeit mehr unterstellen . Sie
wollen Fakten schaffen, ohne Rücksicht auf Verluste.
Und nach Ihrer Manier wieder einmal zulasten der Bür-
gerrechte . So diskreditiert man einen Rechtsstaat .
Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Europol-Gesetzes (Tagesordnungs-
punkt 22)
Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU): Diese No-
velle war aufgrund der neuen Europol-Verordnung aus
dem vergangenen Jahr, die zum 1 . Mai dieses Jahres in
Kraft treten wird, nötig geworden . Es ist aus meiner Sicht
erfreulich, dass der Deutsche Bundestag mit der Anpas-
sung des Europol-Gesetzes fristgerecht fertig wird .
Im Rahmen der parlamentarischen Beratungen ist
auch eine Anregung des Bundesrates aufgegriffen wor-
den, welche eine Klarstellung zum Zugriff bzw. zur
Zusammenarbeit der Polizeien der Länder und Europol
vorsieht . Mit dieser Klarstellung wird eindeutig geregelt,
dass auch die Länderpolizeien direkten Zugriff auf den
Wissens- und Analyseschatz von Europol bekommen
werden . In der europäischen Richtlinie ist ein solcher
Zugriff ebenfalls angelegt.
In der heutigen Zeit, in der wir alle mobiler werden
und immer schneller durch Europa reisen können, ist
auch das Verbrechen – gerade das organisierte Verbre-
chen – immer mobiler geworden und macht auch an den
nationalen Grenzen keinen Halt . Von daher ist es aus
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 201723372
(A) (C)
(B) (D)
meiner Sicht wichtig, dass wir auf europäischer Ebene
verstärkt zusammenarbeiten .
In diesem Zusammenhang spielt Europol eine ent-
scheidende Rolle, um dem grenzüberschreitenden Ver-
brechen mit möglichst wenig Zeitverlust entgegentreten
zu können . Aber auch die Polizeibehörden der Bundes-
länder spielen hier eine entscheidende Rolle . Von daher
ist die Anregung des Bundesrates zu dieser Klarstellung
wichtig und richtig . Wir haben sie daher gerne in die vor-
liegende Gesetzesnovelle mit aufgenommen .
Zu diesem organisierten Verbrechen gehören aber
auch professionelle Schleppernetzwerke . Diese Netz-
werke agieren nicht aus reiner Menschlichkeit, um den
Flüchtlingen einen gut organisierten Weg in die EU zu
ebnen . Nein, hier geht es um das ganz große Geschäft
auf dem Rücken von Menschen, deren Flucht ich zuwei-
len auch nachvollziehen kann . Gerade wenn die Heimat
verlassen wird, um vor politischer Verfolgung oder Krieg
zu fliehen.
Leider wird mit den Einnahmen aus diesem Geschäft
aber in der Regel nichts Gutes gemacht. Es fließt zu gro-
ßen Teilen in die Taschen einiger weniger Hintermänner,
die es für den Ausbau weiterer Geschäfte nutzen, um so
ihren persönlichen Reichtum zu mehren, oder sogar Ter-
rorismus damit finanzieren. Dies können und dürfen wir
nicht zulassen . Daher ist es richtig, dass Europol auch
gegen diese Netzwerke vorgeht .
Aus diesem Grund, werte Kollegin Jelpke, kann ich
auch nicht Ihre Äußerungen in der ersten Lesung zu der
vorliegenden Gesetzesnovelle nachvollziehen, in der Sie
ein Verständnis für die Arbeit von Schleppernetzwerken
haben anklingen lassen .
In der im vergangenen Jahr verabschiedeten Euro-
pol-Verordnung findet sich auch eine Regelung bezüg-
lich der parlamentarischen Kontrolle von Europol . Die
nationalen Parlamente und das Europaparlament sollen
gemeinsam die Arbeit von Europol kontrollieren . In den
vergangenen Wochen haben wir fraktionsübergreifend –
zusammen mit dem Bundesrat – an einer gemeinsamen
Position bezüglich der Zusammensetzung und Arbeits-
weise dieses Kontrollgremiums gearbeitet . Dies war
nicht einfach, aber vieles von dem, was uns in Deutsch-
land wichtig war, konnten wir auf europäischer Ebene
auch durchsetzen .
Das nun Erreichte wird sicherlich auch für eine zu-
künftige Zusammenarbeit der Parlamente auf europäi-
scher Ebene wegweisend sein . Gerade in einer Zeit der
Europa-Skepsis und des Brexits ist diese Zusammenar-
beit wichtig, damit niemand das Gefühl hat, dass über
seinen Kopf hinweg entschieden wird . Die Bürgerinnen
und Bürger dieses Landes erwarten, dass wir für die Si-
cherheit in Deutschland arbeiten. Dies schaffen wir aber
nur, wenn wir über die nationalen Grenzen hinweg in
Europa kooperieren . Ein wichtiges Instrument für diese
Kooperation im Kampf gegen Verbrechen und Terroris-
mus ist Europol .
Mit der zum 1 . Mai dieses Jahres in Kraft tretenden
neuen Europol-Verordnung hat die europäische Ebene
geliefert, und nun liegt es an uns, dass wir die Vorausset-
zungen auch in Deutschland für einen Erfolg von Euro-
pol schaffen. Ich bitte Sie daher, der vorliegenden Geset-
zesnovelle die Zustimmung zu geben .
Barbara Woltmann (CDU/CSU): Am 1 . Mai 2017
wird die neue europäische Europol-Verordnung, be-
schlossen vom Europäischen Parlament und Rat im Jah-
re 2016, in Kraft treten . Sie ersetzt bisherige Beschlüsse
des Rates von 2009 zur damaligen Errichtung des Euro-
päischen Polizeiamtes .
Diese neue EU-Verordnung ist in nationales Recht
zu übernehmen . Es handelt sich auch nach Aussage des
Nationalen Normenkontrollrates um eine Eins-zu-eins-
Umsetzung von europäischem Recht in unser nationales
Recht . Die CDU/CSU-Fraktion wird daher ihre Zustim-
mung zu diesem ersten Gesetz zur Änderung des Euro-
pol-Gesetzes geben .
Gerade in Zeiten von internationalem Terrorismus
und grenzüberschreitender organisierter Kriminalität ist
die Stärkung der Sicherheitsarchitektur der Europäischen
Union besonders wichtig . Es gilt für den Gesetzgeber,
konzentriert und schnell zu handeln . Und das haben wir
mit dem Europol-Gesetzentwurf getan .
Wenn es um Sicherheit geht, dann bringt Europa ei-
nen erheblichen Mehrwert . Wenn wir auf europäischer
Ebene besser zusammenarbeiten, führt Europa zu mehr
Sicherheit . Die Arbeit von Europol ersetzt natürlich die
notwendigen nationalen Maßnahmen nicht, aber sie er-
gänzt sie .
Aufgrund seiner Stellung im Zentrum der europä-
ischen Sicherheitsarchitektur ist Europol in der Lage,
spezifische Dienstleistungen zu erbringen. Europol un-
terstützt Strafverfolgungsmaßnahmen und ist die zentrale
Schaltstelle für Informationen über kriminelle Aktivitä-
ten in Europa . Eine der wichtigsten Neuerungen im Eu-
ropol-Gesetz ist die Erweiterung und Vereinheitlichung
des polizeilichen Informationsaustausches . Dies ermög-
licht den Mitgliedstaaten, einen erweiterten Zugang zu
Analysedaten zu erhalten . Bislang erhalten die Mitglied-
staaten nur die sie selbst betreffenden Analyseberichte.
Zukünftig erhalten sie die Befugnis, auf thematische und
strategische Analysedaten und auch auf operative Analy-
sedaten zuzugreifen .
Vor dem Hintergrund der hohen Zahl von Wohnungs-
einbrüchen, nicht nur bei uns in Deutschland, sondern
auch in unseren Nachbarländern, ist die internationale
Zusammenarbeit bei der Erarbeitung von Ermittlungs-
ansätzen gegen die Strukturen reisender Täter enorm
wichtig . Hier ist beispielsweise die Erhebung, Auswer-
tung und Eingabe von Tatortspuren in die polizeilichen
Informationssysteme von großer Bedeutung, ohne die die
Tatzusammenhänge nicht erkannt werden können .
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf erhalten die
Bundespolizei, der Zollfahndungsdienst und die Länder-
polizeien direkten Zugriff auf alle Daten und auf opera-
tive Analysedateien bei Europol, und zwar in Form eines
Vollzugriffs. Dies erleichtert die Ermittlungsarbeit im-
mens, die ja so schnell wie möglich erfolgen soll . Durch
einen direkten Zugriff auf das Europol-System durch die
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 23373
(A) (C)
(B) (D)
oben genannten Stellen und nicht mehr wie bisher über
das BKA werden die Ermittlungsmöglichkeiten der zu-
greifenden Stellen erweitert und beschleunigt .
Der Zugriff auf Personendaten wird mit dem Ände-
rungsgesetz datenschutzrechtlich flankiert. Der Europäi-
sche Datenschutzbeauftragte, der zuständig für die Kon-
trolle von Europol ist, wird darauf festgelegt, dass er mit
den nationalen Kontrollbehörden für den Datenschutz
eng zusammenarbeiten muss . Die Datenmenge, die na-
tionale Zentralstellen mit Europol bislang austauschen,
hat sich in den vergangenen zwei Jahren verzehnfacht .
Wir gehen davon aus, dass sich der Datenverkehr mit
dem neuen Europol-Gesetz drastisch erhöht . Erwartet
werden allein aus der Bundesrepublik 5 000 zusätzliche
Abfragen sowie 800 neue Zulieferungen für die Auswer-
teschwerpunkte .
Wichtig erscheint mir die Einrichtung eines Beirates
zu sein, in den Deutschland seine Datenschutzbeauftrag-
te entsenden wird . Auch der Europäische Datenschutz-
beauftragte wird diesem Gremium angehören . Dem
Bundesrat soll die Befugnis eingeräumt werden, einen
Vertreter oder eine Vertreterin zu benennen .
Die Umsetzung der zum 1 . Mai 2017 wirksam wer-
denden Europol-Verordnung ist aufgrund des europäi-
schen Rechtsrahmens vorgeschrieben und findet in dem
vorliegenden Gesetzentwurf unsere Zustimmung . Die ef-
fektive und schnelle Zusammenarbeit der Sicherheitsbe-
hörden in der Europäischen Union ist von entscheidender
Bedeutung, um unseren Bürgerinnen und Bürgern Schutz
vor grenzüberschreitenden international agierenden Ban-
den oder Einzeltätern zu gewähren .
Susanne Mittag (SPD): Heute haben wir schon ei-
nige Gesetze beschlossen, die unsere Sicherheit stärken
sollen: das Bundeskriminalamtgesetz, damit unmittelbar
verknüpft die Umsetzung der neuen europäischen Richt-
linien zum Datenschutz . Diese Gesetze ergänzen sich in
der praktischen Umsetzung, organisatorisch und ermitt-
lungstechnisch, und wir reagieren damit auf neue Gefah-
ren- und Kriminalitätsstrukturen .
Mit dem jetzt zu beratenden Gesetz zur Anwendung
der EU-Verordnung 2016/7694 – wie es nun nach dem
Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen heißt – pas-
sen wir unser deutsches Europol-Gesetz der neuen Eu-
ropol-Verordnung an . Wir organisieren dienstlich kurze
Wege, damit die deutschen Polizeien den direkten Aus-
tausch von Informationen mit Europol nutzen können .
Grenzen, seien es zwischen Bundesländern oder Staa-
ten, seien es innereuropäische oder außereuropäische,
sind keine Hindernisse für Kriminelle und ihre Straftaten .
Sie schlagen zu, wo es sich lohnt . Und entziehen sich ger-
ne den Ermittlungen durch ein Ausweichen über Grenzen
hinweg . Damit müssen sich auch die ermittelnden Poli-
zeien über Grenzen hinweg austauschen und kooperieren
können . Europol ist dafür ein wichtiger Baustein!
In den langen Verhandlungen auf europäischer Ebene
wurde das Europäische Polizeiamt neu aufgestellt und
gestärkt . Denn wir brauchen einen starken, international
sehr guten Polizeipartner, um den Herausforderungen der
organisierten Kriminalität und des Terrorismus begegnen
zu können . Diese Erkenntnis ist ja nicht erst seit den letz-
ten Anschlägen vorhanden .
Dabei spielt der Datenaustausch, den Europol zwi-
schen den Mitgliedstaaten organisiert, eine herausragen-
de Rolle . Darauf werde ich gleich noch eingehen .
Aber Europol ist nicht nur eine Sammelstelle für Da-
ten, sondern die Ermittler analysieren die Daten, stellen
ihre Erkenntnisse den Polizeien zur Verfügung und er-
mitteln auch selbst .
Ein gutes Beispiel für die erfolgreiche Arbeit von
Europol konnten wir in dieser Woche sehen: Bei der
gemeinsamen Operation OPSON VI, die Europol mit
Interpol in 61 Staaten unternommen hat, wurden knapp
10 000 Tonnen sowie 26 Millionen Liter verfälschte Le-
bensmittel durch Polizei, Zoll und die Lebensmittelbe-
hörden beschlagnahmt . Ob das gefälschtes Mineralwas-
ser in Italien oder mit billigsten Zusatzstoffen gestrecktes
Olivenöl in Dänemark oder eben nicht bzw . falsch de-
klarierte Nüsse in Deutschland sind: Das organisierte
Verbrechen nutzt den freien Warenverkehr in der EU, um
sich durch Betrug zu bereichern .
Aber es bleibt eben nicht nur bei einem riesigen fi-
nanziellen Schaden von geschätzten 230 Millionen Euro
für den Verbraucher . Nein, man bedenke nur, was falsch
deklarierte Inhaltsstoffe bei Allergikern auslösen kön-
nen . Diese Kriminellen nehmen schwerste gesundheitli-
che Risiken für ihren Gewinn in Kauf . Gefälschte und
verfälschte Waren haben inzwischen einen erheblichen
Anteil am Handelsvolumen .
Um diese Ermittlungsarbeit aber erledigen zu können,
war es nötig, Europol auch in der Informationsverarbei-
tung zukunftsfähig zu machen . Deshalb wurden in der
Verordnung nicht mehr konkret einzelne IT-Systeme,
wie Europol-Informationssystem oder die Arbeitsdatei
zu Analysezwecken, benannt . In der neuen Europol-Ver-
ordnung wurde die Informationsverarbeitung technik-
neutral anhand der Verarbeitungszwecke bestimmt . Also
nicht mehr das festgelegte System, bei dem technische
Neuerungen dann wieder auch gesetzgeberisch nach-
vollzogen werden müssten . Nein, es wurden die Zwecke
der Verarbeitung benannt, ohne sich auf die technische
Ebene zu begeben, die sich immer wieder ändert durch
neue Techniken . Das ist der richtige Weg, führt aber auch
dazu, dass wir in Deutschland unseren gesetzlichen Rah-
men jetzt anpassen müssen .
Die Vielzahl unterschiedlicher Datensysteme ist schon
länger als Problem erkannt . Aber nicht nur bei den Syste-
men selbst, sondern auch bei den Zugriffsmöglichkeiten
wurden Veränderungen vorgenommen:
Bisher war das BKA immer die Zentralstelle, über die
alle Kommunikation mit Europol laufen musste . Nun
können auch die Bundespolizei, das Zollkriminalamt und
die Länderpolizeien auf die Daten zugreifen . Das BKA
wird aber nicht von den Informationen abgehängt, son-
dern bleibt als Zentralstelle weiterhin von herausragen-
der Bedeutung .
Das haben wir auch im Änderungsantrag zu diesem
Gesetzentwurf klargestellt . Im Bundesrat kamen Be-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 201723374
(A) (C)
(B) (D)
fürchtungen auf, dass durch das ebenfalls heute verän-
derte Bundeskriminalamtgesetz die Länderpolizeien
wieder nur in Ausnahmefällen sich direkt an Europol
wenden können, um schnell Informationen zu erhalten .
Diese Befürchtungen sind unbegründet .
Und es ist klar: Wo Sicherheitsbehörden mit teils sehr
sensiblen Daten umgehen, braucht es einen guten Da-
tenschutz – in Europa und in Deutschland . Deshalb war
es auch im Änderungsantrag nötig, zu präzisieren, wie
Daten, die von Europol stammen, in das neu zu schaffen-
de System des BKA integriert und unter welchen daten-
schutzrechtlichen Vorgaben das Ganze stattfinden soll.
Wir haben daher festgeschrieben, dass die Berichtigung
und Löschung von personenbezogenen Daten sowie
die Einschränkung der Verarbeitung künftig unter dem
Dach des Bundesdatenschutzgesetzes in der Fassung
des Entwurfes zur Anpassung des Datenschutzrechts an
die EU-Verordnung 2016/679 und zur Umsetzung der
EU-Richtlinie 216/680 geregelt ist .
Die Europol-Verordnung tritt schon in der kommen-
den Woche, nämlich am 1 . Mai 2017, in Kraft . Durch die
enge inhaltliche Verzahnung mit dem neuen BKA-Gesetz
und dem ebenfalls heute beschlossenen Bundesdaten-
schutzgesetz ist es notwendig, das Inkrafttreten des Eu-
ropol-Gesetzes nach hinten zu verschieben . Diese treten
nämlich erst am 25 . Mai 2018 in Kraft . Ich denke aber,
dass ein guter und effektiver Datenschutz ein etwas spä-
teres Nachvollziehen der europäischen Beschlüsse unse-
rerseits rechtfertigt und die Rechtskraft des Europol-Ge-
setzes ebenfalls erst zum Mai 2018 eintreten sollte .
Deshalb möchte ich Albert Einstein zitieren: „Meine
Arbeit ist getan .“
Ulla Jelpke (DIE LINKE): Es geht in dieser Debatte
um die Anpassung des deutschen Rechts an die neue Eu-
ropol-Verordnung .
Ich möchte hier zunächst eines betonen: Die Euro-
pol-Verordnung selbst steht in unserem Parlament über-
haupt nicht zur Debatte . Sie wurde vom Europaparlament
und dem Europäischen Rat, also den Regierungen der
Mitgliedstaaten, ausgekungelt; die nationalen Parlamen-
te dürfen da gar nicht mitreden . Das ist eines von vielen
Beispielen, die Zweifel an der demokratischen Legitima-
tion der Europäischen Union säen .
Trotzdem ist es mir wichtig, dass auch im Bundestag
einmal beschrieben wird, was das Problematische an Eu-
ropol ist .
Selbstverständlich ist es vom Prinzip her nicht ver-
kehrt, vielmehr geboten, dass europäische Polizeien
grundsätzlich zusammenarbeiten – Kriminelle machen ja
an den Grenzen auch nicht halt . Nur: Die Art und Weise,
wie das geschieht, geht eindeutig auf Kosten der Grund-
und Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger .
Denn Europol erhält immer mehr Kompetenzen, ohne
dass der Datenschutz damit Schritt hält . Wir können ja
schon froh sein, dass Europol jetzt – jetzt erst! – wenigs-
tens grundsätzlich einer parlamentarischen Kontrolle
durchs Europaparlament unterzogen wird . Allerdings:
Während die Europol-Verordnung Anfang Mai dieses
Jahres wirksam wird, ist das Datenschutzreglement nach
wie vor nicht festgelegt. Das zeigt schon die Schiefla-
ge, die wir zwischen europäischen Polizeibefugnissen
und ihrer Kontrolle haben, und ich sage ganz klar: Einen
Polizeiapparat, der außerhalb einer effektiven, auch par-
lamentarischen, Kontrolle agiert, den wollen wir nicht,
weil das mit dem Schutz unserer freiheitlichen Gesell-
schaft nichts mehr zu tun hat .
Ich nenne dafür nur einige Beispiele: Europol hat in
jüngster Zeit eine sogenannte Internetmeldestelle aufge-
baut . Dort werden jede Menge Daten über „verdächtige“
Internetnutzer, insbesondere wo es um Gewaltverherrli-
chung geht, gesammelt . Was als verdächtig gilt, was als
Gewaltverherrlichung, das entscheidet Europol selbst
bzw . jene nationalen Polizeibehörden, die Europol mit
den Daten versorgen . Das Amt darf aber die Daten der
Nutzer an die private Wirtschaft, zum Beispiel an Face-
book, weitergeben und auf eine „freiwillige“ Löschung
des jeweiligen Internetinhaltes drängen . Problematisch
daran ist schon, dass Europol quasi exekutive Befugnis-
se erhält . Nicht weniger problematisch ist, dass private
Unternehmen von der Polizei personengebundene Daten
über Verdächtige erhalten sollen . Das hatten wir so noch
nie . Doch im vorliegenden Gesetzentwurf wird die damit
verbundene Grundrechteproblematik noch nicht einmal
angedeutet .
Anderes Beispiel: das Europäische Zentrum für Ter-
rorismusbekämpfung. Dort werden nach offiziellen An-
gaben von Europol jede Menge Informationen zwischen
den nationalen Polizeibehörden ausgetauscht . Aber was
denn genau? Das bleibt im Dunkeln, ebenso wie die zu-
nehmende Kooperation von Europol mit Geheimdiens-
ten . Bekannt ist allerdings die Absicht der Kommission,
eine Art gemeinsames Zentrum europäischer Polizeibe-
hörden und Geheimdienste zu installieren .
Dabei haben die verschiedenen Polizeibehörden in
Europa ganz verschiedene Befugnisse zur Datenerhe-
bung . Wir können diese unterschiedlichen Rechtsgrund-
lagen ja gar nicht alle überblicken . Aber bei Europol
fließt alles zusammen, und jede andere nationale Polizei-
behörde kann diese Daten abrufen . Die Tatsache, dass es
in Ländern wie Polen und Portugal Polizeibehörden gibt,
die zugleich geheimdienstliche Befugnisse haben, wird
dabei überhaupt nicht berücksichtigt . Das Europol-Ge-
setz erlaubt in Deutschland künftig nicht nur dem BKA,
sondern auch jeder Länderpolizei den Datenabruf, sofern
er zur eigenen Aufgabenerfüllung als „erforderlich“ er-
achtet wird . Dabei ist es angesichts der realen Gefahren
durch Kriminalität nicht verkehrt, den Informationsfluss
zwischen den Polizeibehörden zu vereinfachen . Aber es
wäre im Interesse des Datenschutzes gewesen, hier we-
nigstens klarzustellen: Informationen abrufen dürfen nur
solche Organisationseinheiten bei den LKA, die auch
selbst in den entsprechenden Bereichen arbeiten, also
vereinfacht gesagt: Auf Europol-Daten zu Drogenhan-
del greifen nur die Drogendezernate zu und nicht alle
anderen, die denken, sie könnten die Daten vielleicht
auch ganz gut gebrauchen . Aber eine solche Beschrän-
kung fehlt im Gesetz, was erneut zeigt, wie gering hier
der Datenschutz geachtet wird und wie einseitig nur auf
vermeintliche polizeiliche Effektivität gesetzt wird.
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 23375
(A) (C)
(B) (D)
Wenn künftig auch noch alle Polizeien mit allen
Geheimdiensten zusammensitzen und ihre Erkenntnis-
se miteinander tauschen, dann wäre dies wirklich ein
schwarzes Loch für das Recht auf informationelle Selbst-
bestimmung . So ein Europa, ein Europa der totalen Über-
wachung, wollen wir nicht!
Und noch ein Beispiel: Erst vor wenigen Tagen war
in den Medien zu lesen, dass Europol jetzt auch mit dem
US-Militär zusammenarbeitet. Man hofft darauf, von
dort Informationen aus den diversen Kriegsschauplätzen
zu erhalten – DNA-Spuren, Fingerabdrücke usw . Unsere
Polizei soll also von völkerrechtswidrigen Kriegen profi-
tieren – wollen wir das? Die Linke jedenfalls lehnt diese
Entwicklung ab .
Ich fasse das einmal zusammen: Europol soll künftig
alle Informationen von den europäischen Polizeibehör-
den erhalten, die es für nötig hält . Jede Länderpolizei
wiederum kann nahezu nach Belieben Informationen von
Europol abrufen. Dabei fließen die Ergebnisse polizei-
licher und perspektivisch auch geheimdienstlicher und
militärischer „Recherche“ zusammen . Und weil wir wis-
sen, dass es nichts geschenkt gibt, können wir uns aus-
rechnen, dass dieser Datenfluss natürlich auch umgekehrt
verläuft: Alles, was bei Europol eingegeben wird, kann
am Ende zum Beispiel bei der NSA und dem US-Militär
wieder herauskommen . Wenn also ein deutsches Landes-
kriminalamt Informationen über einen mutmaßlichen
„Gefährder“ an Europol übermittelt – ohne dass über-
haupt klar geregelt wäre, was eigentlich einen Gefährder
ausmacht –, riskiert es damit, dass die CIA eine Killer-
drohne startet . Das ist unverantwortlich .
Es entsteht ein Datenberg, wie wir ihn uns heute noch
gar nicht vorstellen können . Die Bürgerinnen und Bürger
verlieren vollends die Kontrolle über ihre Daten .
Aus diesem Grund haben die linken Parteien im Eu-
ropaparlament die Verordnung abgelehnt . Wie eingangs
erwähnt, ist der Bundestag in Hinblick auf die Verord-
nung gar nicht zustimmungspflichtig. Wir haben hier nur
noch über den Vollzug zu beraten . Nach dem, was ich
eben geschildert habe, versteht es sich von selbst, dass
wir diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen .
Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Über
die Neuordnung der polizeilichen Datenstruktur beim
Bundeskriminalamt haben wir gerade heute noch im
Rahmen der Debatte zu dem Entwurf für ein neues
BKA-Gesetz gesprochen . Jetzt soll diese Struktur, de-
ren Verfassungskonformität mindestens zweifelhaft ist
und die sich noch kein Stück in der Praxis bewährt hat,
auch gleich im Europol-Gesetz festgeschrieben werden .
Ich finde das falsch! Auf meine schriftliche Frage hat mir
die Bundesregierung erst letzte Woche mitgeteilt, dass es
beim BKA dazu erst seit wenigen Monaten oder Wochen
ein „Vorprojekt“ gibt . Die Pläne haben aber noch nicht
„die nötige Reife“, um sie insbesondere mit der Bundes-
beauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit zu
erörtern, so die Antwort der Bundesregierung .
Warum also diese Eile, zumal die Regelung erst in über
einem Jahr in Kraft treten soll? Glauben Sie wirklich, ein
zukünftiger Bundestag würde sich einer entsprechenden
Anpassung verschließen, wenn das System einmal tat-
sächlich umgesetzt sein wird und sich im polizeilichen
Alltag bewährt? Oder schätzen Sie die parlamentarische
Befassung schlicht so gering, dass es Sie einfach nicht
stört, dass wir hier über die Anwendung von etwas ent-
scheiden sollen, von dem noch niemand wirklich sagen
kann, wie es tatsächlich einmal aussehen soll?
Meine Vorstellung von parlamentarischer Demokratie
sieht jedenfalls anders aus, und vor allem vermisse ich –
gerade in der Innenpolitik dieser Bundesregierung – den
Bezug zu Fakten . Deutschland ist ein großer Wissen-
schaftsstandort, aber die Sicherheitspolitik tut gerne so,
als agiere sie im luftleeren Raum . Was nicht per se alter-
nativlos ist, wird behandelt, als gäbe es keine Alternati-
ven . Wie eng dieser Blickwinkel in Zeiten der Großen
Koalition allgemein geworden ist, erschreckt mich .
Europol bietet für die Sicherheitsbehörden in Europa
eine gute Möglichkeit, zusammenzuarbeiten und sich zu
vernetzen . Wäre es da nicht eigentlich naheliegend gewe-
sen, einmal nachzufragen, wie die anderen europäischen
Staaten ihre polizeilichen Daten organisieren und diese
Schnittstellen zu Europol betreiben? Da das Gesetz in-
soweit erst Ende Mai 2018 in Kraft treten soll, bestünde
dazu eigentlich auch jetzt noch Zeit . Und überhaupt: Wer
kann schon sagen, ob die IT beim BKA in einem Jahr be-
reits umgestellt und einsatzbereit ist? Mit Großprojekten
ist das ja manchmal so eine Sache .
Eines darf dabei aber vor allem nicht aus dem Auge
verloren werden: Die Verbesserung der Arbeit der Sicher-
heitsbehörden ist eine Daueraufgabe . Die Kooperation in
Europa darf auch nicht einen Moment ins Stocken gera-
ten . Das erwarten die Menschen – hier und anderswo –
zu Recht von dieser und der nächsten Bundesregierung .
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung
der Richtlinie (EU) 2016/1148 des Europäischen
Parlaments und des Rates vom 6. Juli 2016 über
Maßnahmen zur Gewährleistung eines hohen ge-
meinsamen Sicherheitsniveaus von Netz- und In-
formationssystemen in der Union (Tagesordnungs-
punkt 23)
Thomas Jarzombek (CDU/CSU): Ende Novem-
ber 2016 gab es den wahrscheinlich zahlenmäßig größten
Angriff auf IT-Infrastruktur in Deutschland. Nur mit viel
Glück im Unglück sind 900 000 Internetrouter der Deut-
schen Telekom nicht Bestandteil eines weltumspannen-
den Botnetzes geworden . Daneben gibt es immer wie-
der Meldungen zum Verlust von Nutzerdaten bei großen
Internetplattformen; Spielzeug überträgt mitgeschnittene
Unterhaltungen der Kinder mit einer Spielzeugpuppe an
den Hersteller .
Die Gefahren aus dem Internet sind allgegenwärtig .
Nicht alles ist ein Hackerangriff, nicht immer steckt eine
Cyberarmee hinter entwendeten Nutzerdaten . Für alle
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 201723376
(A) (C)
(B) (D)
erdenklichen Szenarien gibt es ausreichend Beispiele tat-
sächlicher Fälle im Netz . Einen Kulturwandel zu mehr
Sicherheit im Internet gibt es aber immer noch nicht . Das
weltweit beliebteste Passwort des vergangenen Jahres
war „123456“, in Deutschland lagen „hallo“; „passwort“
und „hallo123“ auf den ersten drei Plätzen .
Mit der Digitalen Agenda hat sich die Bundesregie-
rung im Jahr 2014 vorgenommen, die IT-Sicherheit durch
den Ausbau von Partnerschaften mit Betreibern kritischer
Infrastrukturen und durch gesetzliche Vorgaben zu Min-
destsicherheitsstandards und eine Meldepflicht für erheb-
liche IT-Sicherheitsvorfälle im Rahmen eines IT-Sicher-
heitsgesetzes zu stärken . Im Rückblick kann man sagen,
dass hier nicht nur versprochen, sondern auch geliefert
wurde . Natürlich ist es Augenwischerei eine, hundertpro-
zentige Sicherheit im Internet zu versprechen; man muss
aber den Blick darauf richten: Was ist kritisch, und was
ist nicht kritisch?
Deutschland war Vorreiter mit dem IT-Sicherheitsge-
setz, war Blaupause für europäische Verhandlungen . Die
deutsche Position wurde in Verhandlungen auf europäi-
scher Ebene erfolgreich eingebracht . Die EU hat mit der
NIS-Richtlinie nachgezogen . Das Gesetz erhöht die Sen-
sibilität messbar, denn Betreiber kritischer Infrastruktu-
ren müssen sich spätestens jetzt auf Mindeststandards
verpflichten. Wichtig ist hier immer, dass die Sicherheits-
maßnahmen auch immer realistisch sein müssen, der Wi-
derspruch zwischen Nutzerkomfort und Sicherheit muss
immer wieder neu austariert werden . Es bringt nichts,
die Maßnahmen hochzuschrauben, wenn der Nutzer von
IT-Infrastruktur sich quasi zum Ausweichen auf unsiche-
re Lösungen gezwungen sieht .
Das IT-Sicherheitsgesetz hat aber auch konkret das
Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik
(BSI) gestärkt – sowohl finanziell als auch personell.
Im letzten Haushaltsjahr gab es insgesamt 88,7 Millio-
nen Euro bei 661,5 Planstellen . Das IT-Sicherheitsgesetz
war wichtig, um für die Gefahren erfolgreicher Angriffe
auf die IT-Systeme kritischer Infrastrukturen zu sensibi-
lisieren und auch die Abwehrfähigkeiten zu verbessern .
Kritische Infrastrukturen finden sich nicht nur in Atom-
kraftwerken und in Wasserwerken, sondern auch der
Ausfall von Flughäfen, Krankenhäusern, Banken und
Versicherungen kann schwerwiegende Folgen für das
Funktionieren unseres Alltags und die öffentliche Sicher-
heit haben . Bisher haben wir immer Glück gehabt, wenn
Verschlüsselungstrojaner, sogenannte Ransom-Ware, die
IT in Krankenhäusern lahmgelegt haben . Zwar muss-
ten Operationen verschoben werden, aber es gab keine
weiteren lebensbedrohlichen Folgen . Gerade weil es
immer wieder diese Beispiele gibt, die zum Glück ohne
schwerwiegende Folgen geblieben sind, bin ich mir si-
cher, wir haben den richtigen Weg beschritten, und es ist
richtig, dass sich die deutschen Vorschriften auch in der
NIS-Richtlinie der Europäischen Union wiederfinden.
Die betroffenen Anbieter werden verpflichtet, ihre
IT-Systeme auf Schwachstellen zu überprüfen und gege-
benenfalls zusätzliche Schutzmaßnahmen zu ergreifen .
Außerdem erstreckt sich die Meldepflicht auf Sicher-
heitsvorfälle mit erheblichen Auswirkungen, wobei auch
anonyme Meldungen erfolgen können, sofern nicht ein
Systemausfall droht . Hier zeigen sich deutlich die Paral-
lelen zum IT-Sicherheitsgesetz .
Ich begrüße außerdem sehr, dass der Bundesminister
des Innern Thomas de Maizière das nationale Gesetz zur
Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/1148 des Europäi-
schen Parlaments und des Rates vom 6 . Juli 2016 über
Maßnahmen zur Gewährleistung eines hohen gemeinsa-
men Sicherheitsniveaus von Netz- und Informationssys-
temen in der Union so schnell vorgelegt hat . Das zeigt:
Die Sicherheit der kritischen Infrastrukturen in unserem
Land hat in diesem Haus eine hohe Bedeutung, und dank
des IT-Sicherheitsgesetzes ergibt sich nur ein geringer
Anpassungsbedarf für deutsches Recht . Außerdem sollen
die von der Richtlinie erfassten Betreiber und Dienstean-
bieter so früh wie möglich Rechtssicherheit erhalten .
Mit dem neuen § 5a des BSI-Gesetzes werden Unter-
stützungsleistungen des BSI zur Wiederherstellung der
Sicherheit oder Funktionsfähigkeit von IT-Systemen in
herausgehobenen Fällen durch Mobile Incident Respon-
se Teams (MIRT) geregelt . In der Vergangenheit haben
einige IT-Vorfälle offen gezeigt, dass die betroffenen
Unternehmen teilweise nur auf unzureichende Unterstüt-
zung zurückgreifen können . Operativ einsetzbare Exper-
ten für solche Fälle sind rar . Das Bundesinnenministe-
rium und das BSI haben daher an einem Konzept zum
Ausbau von Mobile Incident Response Teams (MIRT)
beim BSI gearbeitet . Der Bundestag hat dazu bereits ent-
sprechende Haushaltsmittel für das laufende Jahr bewil-
ligt, jetzt schaffen wir die rechtlichen Voraussetzungen
für den Einsatz . Experten aus der Wirtschaft können also
mit ihrem Know-how und als zusätzliches Personal zur
Verfügung stehen und die Response Teams des BSI un-
terstützen .
Gelegentlich werden diese Teams als Cyberwehr be-
zeichnet . Diese Cyberwehr soll aus freiwillig und kos-
tenlos zur Verfügung stehenden Spezialisten von Un-
ternehmen bestehen, die bei der schnellen Beseitigung
technischer Folgen eines erfolgreichen IT-Angriffs zur
Verfügung stehen . Das BSI soll dazu mit entsprechenden
Unternehmen Kooperationsvereinbarungen abschließen .
Angesichts des hohen Wettbewerbs auf dem Markt von
IT-Fachkräften ist das ein nachvollziehbarer Schritt .
Gleichzeitig möchte ich hier die Möglichkeit nutzen,
mit Befürchtungen und Halbwahrheiten aufzuräumen:
Schon jetzt unterliegen nach den geltenden Vorschriften
qualifizierte Dritte, die im Auftrag des BSI tätig werden,
denselben Vertraulichkeits- und Unabhängigkeitsanfor-
derungen wie das BSI selbst .
Der heute zu debattierende Gesetzentwurf ist aber mit-
nichten nur die Umsetzung der NIS-Richtlinie, sondern
er wird durch einen wichtigen Änderungsantrag ergänzt .
Die Koalition hat sich darauf verständigt, das Telekom-
munikationsgesetz zu ergänzen .
Der massenhafte Angriff auf die Internetrouter der
Deutschen Telekom Ende November 2016 hat die Bedeu-
tung von Maßnahmen zur IT-Sicherheit auch einer brei-
ten Öffentlichkeit deutlich gemacht. Leider sind Angriffe
von Botnetzen nichts Neues, sie sind aber Anlass zu gro-
ßer Sorge. Nicht mehr nur der infizierte Laptop oder PC
kann Ausgangspunkt solcher Attacken werden, sondern
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 23377
(A) (C)
(B) (D)
auch IP-Kameras, Drucker mit Internetverbindung, Rou-
ter oder andere mehr oder weniger smarte Geräte, die mit
dem Internet verbunden sind . Gleichzeitig wird prognos-
tiziert, dass die Zahl von Nutzern ohne technische Erfah-
rung zunimmt, die Geräte in der Standardkonfiguration
ins Netz bringt . Die Gefahren, die aus solchen Botnetzen
erwachsen, sind vielfältig. Schon jetzt ein häufiges Pro-
blem sind DDoS-Attacken auf Zahlungssysteme, Web-
shops oder andere Plattformen .
Deshalb ist es richtig, dass wir mit dem Änderungsan-
trag neu regeln, wie Internetanbieter zukünftig mit dem
Datenverkehr in ihren Netzen umgehen können, um von
Netzseite die IT-Sicherheit zu verbessern . Denn nicht
nur die Nutzer haben die Verantwortung für ein sicheres
Netz . Zukünftig sollen Diensteanbieter Teile des Daten-
verkehrs von und zu einem Nutzer, von denen eine Stö-
rung ausgeht, zum Zwecke der Information der Nutzer
umleiten können (sogenanntes Sinkholing) . So können
noch im eigenen Netz Nutzer mit schadhaften Systemen
identifiziert und in die Lage versetzt werden, die Störung
zu beseitigen . Wird ein Nutzer nicht tätig, soll der Netz-
betreiber das Recht erhalten, den Datenverkehr eines
Nutzers bei Vorliegen einer Störung einzuschränken, um-
zuleiten oder zu unterbinden oder den Datenverkehr zu
filtern, um Gefahren, insbesondere für die Verfügbarkeit
von Informations- und Kommunikationsdiensten, durch
IT-Angriffe abzuwehren.
Wir müssen auch nach diesem Gesetz weiterarbeiten .
In der nächsten Periode müssen wir den gesetzlichen
Rahmen für das Internet of Things verschärfen . Das be-
deutet Produkthaftungsregeln für IT-Sicherheitsmängel
und Sicherheitsvorgaben für Hard- und Softwareherstel-
ler im Internet der Dinge .
Leider konnten wir das Thema IT-Produkthaftung in
diesem Gesetzgebungsvorhaben nicht mehr aufgreifen,
da Teile des Hauses zu der Auffassung gekommen sind,
dass dies Gegenstand europäischer Regelungen ist . Ich
bedaure das, denn seit Jahren lässt sich ein gewisses
Laissez-faire bei bestimmten Herstellern beobachten .
Die Cyber-Sicherheitsstrategie der Bundesregierung
2016 stellt daher Vorgaben für eine angemessene Vertei-
lung von Verantwortlichkeiten und Sicherheitsrisiken im
Netz in Aussicht . Das müssen der neue Bundestag und
die nächste Bundesregierung mit der notwendigen Auf-
merksamkeit wieder aufgreifen . Ich persönlich kann mir
vorstellen, dass hier Schadenersatzansprüche im Rahmen
von Rücknahmepflichten der Hersteller diskutiert werden
sollten, wenn während des üblichen Nutzungszeitraums
eines Produktes keine Sicherheitsupdates mehr zur Ver-
fügung gestellt werden oder wenn Hersteller nichts ge-
gen bekannte Sicherheitslücken unternehmen . Hier sehe
ich klare Defizite. Das muss auf EU-Ebene flankiert wer-
den, um verbindliche IT-Sicherheitseigenschaften für in-
ternetfähige Produkten zu schaffen.
In meinen Augen kann das freiwillige Gütesiegel ein
weiterer Schritt zur Verbesserung der IT-Sicherheit sein .
In der aktuellen Cyber-Sicherheitsstrategie der Bun-
desregierung heißt es deshalb richtigerweise, dass die
Sicherheit von IT-Produkten und Dienstleistungen ins-
besondere für die Bürgerinnen und Bürger sowie kleine
und mittelständische Unternehmen transparenter darge-
stellt werden kann . Dazu wird die Bundesregierung ihre
Aktivitäten auf dem Gebiet der Gütesiegel und Zertifika-
te für IT-Sicherheit ausbauen und geeignete Vorschläge
unterbreiten, insbesondere hinsichtlich übergreifender
Systeme für die Zertifizierung und einer einheitlichen
Kennzeichnung . Die Anwender sollen künftig auf Basis
eines einheitlichen Gütesiegels bei der Kaufentscheidung
für neue IT-Produkte und bei der Inanspruchnahme ent-
sprechender Dienstleistungen leicht und schnell feststel-
len können, welches Angebot sicher ausgestaltet ist und
hierdurch zum Schutz der Daten beiträgt . Der Hersteller
eines IT-Produktes sollte zum Beispiel im Rahmen eines
Gütesiegels seinen zukünftigen Umgang mit Sicherheits-
updates offenlegen müssen. Cybersicherheit soll dadurch
für jedermann verständlicher und leichter realisierbar ge-
macht werden . Das erhöht das Vertrauen in die sichere
Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft .
Marian Wendt (CDU/CSU): Der europäische digitale
Binnenmarkt braucht einheitliche Standards für die IT-Si-
cherheit . Die Richtlinie (EU) 2016/1148 vom 8 . August
2016 gibt einen einheitlichen europäischen Rechtsrah-
men für den EU-weiten Aufbau nationaler Kapazitäten
für die Cybersicherheit und eine stärkere Zusammenar-
beit der Mitgliedstaaten der Europäischen Union vor . Da-
rüber hinaus werden Mindestsicherheitsanforderungen
für Netze und Systeme geschaffen und Meldepflichten
für Betreiber festgelegt .
Ziel unserer Bemühungen insgesamt und dieses Ge-
setzes im Besonderen ist, ein hohes Sicherheitsniveau
von Netz- und Informationssystemen in Deutschland und
der Europäischen Union zu erwirken . Ein solches hohes
Niveau kann nicht mit Sonntagsreden und guten Absich-
ten erreicht werden . Es muss auch gegen Widerstand er-
arbeitet werden . Die Arbeit der Europäischen Union ist
auch hier zu loben .
Der Gesetzgeber muss für ein Mindestmaß an Si-
cherheit sorgen, wo die Hersteller von internetfähigen
Geräten sich gegen ausreichende Sicherheitsvorkehrun-
gen entscheiden . Die Unternehmen unterliegen einem
Zielkonflikt: Sicherheit macht ein Produkt meistens
komplizierter, damit auch teurer . Aber tendenziell nutze-
runfreundlicher. Diesen Zielkonflikt kann die Wirtschaft
bisher nicht zufriedenstellend lösen . Das marktwirt-
schaftliche Argument, Kunden würden ein weniger si-
cheres Produkt nicht kaufen, zieht nicht . Hersteller haben
noch keinen einen eigenen Anreiz, nur Geräte herzustel-
len, die einem hohen Sicherheitsstandard entsprechen .
Hersteller haben diesen Anreiz nicht, weil die meis-
ten Menschen die Folgen ihrer unsicheren Geräte gar
nicht direkt zu spüren bekommen . Das Babyphon mit
WLAN-Schnittstelle funktioniert zwar, aber dass es im
Hintergrund gerade für einen Angriff auf eine Anlage der
kritischen Infrastruktur genutzt wird, erfahren die Besit-
zer im Normalfall nicht . Hier liegen Haftung und Risiko
nicht in einer Hand . Da muss der Gesetzgeber korrigie-
rend eingreifen .
Auf nationaler Ebene hat die unionsgeführte Bundes-
regierung bereits entscheidende Schritte unternommen,
die NIS-Richtlinie umzusetzen . Das IT-Sicherheitsge-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 201723378
(A) (C)
(B) (D)
setz sorgt für sicherere Einrichtungen der kritischen In-
frastruktur, und die Cyber-Sicherheitsstrategie gibt den
Rahmen vor für die Absicherung Deutschlands gegen das
digitale organisierte Verbrechen .
Mit dem Bundesamt für Sicherheit in der Informati-
onstechnik, BSI, auf deutscher Ebene und der Europä-
ischen Agentur für Netz- und Informationssicherheit,
ENISA, auf europäischer Ebene haben wir bereits zwei
höchstkompetente staatliche bzw . überstaatliche Stellen .
In deren Hand liegt nun nicht nur Beratung, sondern im
Falle des BSI aktive Bekämpfung von digitalen Bedro-
hungen. Die geschaffenen Mobile Incident Response
Teams sind ein Beispiel für koordiniertes Vorgehen des
Staates gegen Cybercrime . Sie sollen Unternehmen, die
von Angriffen betroffen sind, schnell helfen, die Lage
wieder unter Kontrolle zu bringen . Dies ist entscheidend,
weil von befallenen Systemen wiederum Gefahr für an-
dere Systeme ausgeht .
Hervorzuheben ist neben den besonderen Maßnah-
men in unserer Sicherheitsarchitektur auch, dass es
Diensteanbietern nun ausdrücklich erlaubt ist, Daten-
verkehr, von dem eine Störung ausgeht, zu unterbinden .
So können Störungen in den Telekommunikations- und
Datenverarbeitungssystemen abgewendet werden . Einen
entsprechenden Änderungsantrag haben meine Kollegen
und ich, nach schwierigen Gesprächen mit der SPD-Sei-
te, eingebracht und wollen ihn heute mit beschließen .
Wichtig ist meines Erachtens, auf den heute ebenfalls
in der Beschlussempfehlung aufgefassten Entschlie-
ßungsantrag hinzuweisen . Hier stellen wir noch einmal
klar fest, dass grundsätzlich von sämtlichen an das Inter-
net angeschlossenen Geräten Gefahren für unsere Tele-
kommunikationsnetze und damit für unsere Infrastruktur
ausgehen können. Die Anzahl entsprechender Angriffe
steigt stetig und wird auf absehbare Zeit nicht kleiner
werden . Es ist daher absolut erforderlich, weitere Maß-
nahmen zur Erhöhung der IT-Sicherheit vorzunehmen .
Darunter sollte den Anbietern von Telekommunikations-
dienstleistungen ermöglicht werden, stärker als bisher
gegen Störungen und Schadprogramme vorzugehen . Im
gleichen Atemzug muss die Sicherheit jedes einzelnen an
das Internet angeschlossenen Geräts erhöht werden .
Dies soll durch die Schaffung eines freiwilligen Gü-
tesiegels erreicht werden . Ein Gütesiegel, das den Men-
schen in Deutschland zeigt, welches Produkt ausreichend
hohe Sicherheitsstandards erfüllt und welches nicht . Ein
solches Gütesiegel würde die ungleiche Verteilung des
Wissens, was ein sicheres Produkt ist und was nicht, zu-
mindest zum Teil auflösen und so Hersteller motivieren,
bessere Geräte zu verkaufen . Insbesondere im Bereich
der regelmäßigen Sicherheitsupdates kann ein Gütesiegel
Transparenz schaffen. Es ermöglicht sicheres und selbst-
bestimmtes Handeln in einer digitalisierten Umgebung .
Ein solches Gütesiegel ist bereits in der Cyber-Sicher-
heitsstrategie für Deutschland 2016 angelegt . Wichtig ist
es, dass ein solches Gütesiegel bedarfsgerecht ausgestal-
tet wird . Ein völlig am Markt vorbeidesigntes digitales
Produkt wird kein Mensch brauchen, und dementspre-
chend wird es die digitale Sicherheit nicht erhöhen . Es
muss also von vornherein klar sein, was ein solches Gü-
tesiegel leisten kann und was nicht . Ein Gütesiegel muss
dem einzelnen Nutzer glaubwürdig vermitteln, dass das
jeweilige mit dem Internet verbundene Produkt auch
wirklich sicher ist, und dieses Versprechen muss es hal-
ten .
Die Festlegung von Standards, die Produkte erfüllen
müssen, um mit einem Gütesiegel ausgestattet werden
zu können, ist ein komplexes Problem . Daher muss dem
BSI, dem die Festlegung dieser Standards auf nationa-
ler Ebene obliegen sollte, ein entsprechender Ansatz an
Stellen und Mitteln zur Verfügung gestellt werden . Ein
Gütesiegel ohne glaubwürdige Vergabestelle ist nutzlos,
internationale, neueste Standards zu erfassen, und in Vor-
gaben für ein Gütesiegel umzusetzen, ist die große He-
rausforderung in dieser Sache .
Die Errungenschaften einer digitalisierten Gesell-
schaft zu nutzen, bringt den Menschen mehr Wohlstand
und mehr Freiheit . Freiheit geht aber nicht ohne Sicher-
heit . Diese Sicherheit gibt es nur, wenn sich die Unkultur
der Nachlässigkeit im Bereich der IT-Sicherheit ändert .
Den großen Schaden, den mangelhafte IT-Sicherheit in
der Zukunft anrichten wird, können wir nur abwenden,
wenn Verbraucher und Hersteller gemeinsam mit der
Politik an besseren Mechanismen arbeiten und Anreize
schaffen, dass jeder so sicher wie möglich im Netz ist.
Gerold Reichenbach (SPD): 10 660 379 . Dies ist
die von dem Unternehmen Check Point ermittelte Anzahl
der Hackerangriffe, die allein gestern weltweit stattge-
funden hat. Deutschland befindet sich hier zumeist unter
den ersten zehn der am meisten attackierten Länder, aber
auch der Länder, aus denen Attacken gefahren werden .
Dabei handelt es sich oft nicht nur um Server, sondern
auch sogenannte Botnetze, also infizierte private Rechner
oder andere internetfähige Geräte .
Was sagen uns diese Zahlen? Zum einen: Wir haben
ein enormes Problem im Bereich der Cyberkriminalität .
Zum anderen: Cybersicherheit ist ein Thema, das ganz
oben auf der politischen Agenda stehen muss .
Das Internet der Dinge hat in einem sehr kurzen Zeit-
raum eine enorme Größe erreicht. Selten finden bei die-
sen Geräten Softwareupdates statt . Weltweit entstehen so
bei Millionen Geräten Sicherheitslücken, die es Krimi-
nellen leichtmachen, die Geräte zu kapern . Dieses Pro-
blem zeigt, dass wir nicht nur auf gesetzgeberischer Seite
im Bereich der Produktsicherheit und der Produkthaf-
tung aktiv werden müssen, sondern auch in der Gesamt-
bevölkerung über Bildungsmaßnahmen und Kampagnen
ein Bewusstsein für die Thematik schaffen müssen: Wer
von uns würde permanent die Fenster und Türen seines
Hauses oder seiner Wohnung unverschlossen lassen, ins-
besondere dann, wenn er wüsste, dass sich in unmittelba-
rer Nähe potenzielle Einbrecher aufhalten? Und wer von
uns würde den Einbrechern dauerhaften Zugang zur ei-
genen Wohnung gewähren? Hier schaltet sich schnell der
gesunde Menschenverstand ein, der sagt: Niemals! Hier
gibt es ein Bewusstsein für Eigentum, für Privatsphäre
und für Eigenverantwortung .
In der IT-Welt sieht es jedoch anders aus . Dafür, dass
ein unzureichend geschützter IT-fähiger Fernseher Kri-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 23379
(A) (C)
(B) (D)
minellen Einblick in das eigene Wohnzimmer gewähren
kann oder dass unzureichend geschützte IT-fähige Baby-
phones, Kühlschränke und Waschmaschinen von Krimi-
nellen gehackt und vom Besitzer unbemerkt über Wochen
und Monate gekapert und für den Aufbau eines Botnetzes
zum Angriff auf kritische Infrastrukturen wie beispiels-
weise die Stromversorgung genutzt werden können, ist
die allgemeine Bewusstseinslage noch sehr gering . So
werden Massenwaren, die von jeder Privatperson gekauft
werden können, leichtfertig zu einer Gefährdungsquelle
der öffentlichen Sicherheit. Ein Schritt, um das Bewusst-
sein für dieses Problem zu erhöhen, ist die Einführung
eines IT-Gütesiegels, das dem Verbraucher Orientierung
mit Blick auf den Sicherheitsaspekt beim Kauf von IT-fä-
higen Produkten bietet. Wir benötigen Eingriffsbefugnis-
se für die Provider, um Gefahren erkennen und abwehren
zu können, und wir benötigen Produkthaftungsregeln in
diesem Bereich, um Hersteller zur Erhöhung der Sicher-
heitsstandards ihrer Produkte zu bewegen . Zumindest in
Teilen konnten einige dieser Aspekte im Zuge des Um-
setzungsgesetzes der Richtlinie zur Gewährleistung eines
hohen gemeinsamen Sicherheitsniveaus von Netz- und
Informationssystemen in der Europäischen Union, kurz
NIS-Richtlinie, über welches wir heute in zweiter und
dritter Lesung beraten, angegangen werden .
Wir haben mit dem IT-Sicherheitsgesetz 2015 bereits
viel erreicht . Gleichzeitig sind weiterführende Maßnah-
men wie die im NIS-Richtlinien-Umsetzungsgesetz und
unseren Anträgen nötig, da das Problem, wie die eingangs
angeführten Zahlen eindrucksvoll belegen, ein globales
Problem ist . Eine engere Abstimmung auf europäischer
Ebene ist daher ein wichtiger und richtiger Schritt . Die
NIS-Richtlinie bildet die Grundlage für einen einheit-
lichen europäischen Rechtsrahmen, einen EU-weiten
Ausbau nationaler Kapazitäten für die Cybersicherheit
und eine stärkere Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten
in diesem Bereich . Es werden außerdem Mindestanfor-
derungen und Meldepflichten nicht nur für die Betreiber
wesentlicher Dienste, also für Betreiber kritischer In-
frastrukturen, sondern auch für die Betreiber bestimmter
digitaler Dienste geschaffen, also für Unternehmen, die
Cloud-Services, Onlinemarktplätze oder auch Online-
suchmaschinen anbieten .
Unseren Änderungsantrag zum Umsetzungsgesetz
sowie den Antrag zum Gütesiegel sehen wir als eine
notwendige Ergänzung, um die IT-Sicherheit in Deutsch-
land und der Europäischen Union zu erhöhen . In einem
im Innenausschuss von den Koalitionsfraktionen parallel
zum Änderungsantrag verabschiedeten Antrag fordern
wir die Bundesregierung auf, ein Gütesiegel in Abstim-
mung mit Verbraucherschützern, Wirtschaftsvertretern,
IT-Sicherheitsexperten und Gewerkschaften auszuar-
beiten und sich auf europäischer Ebene für verbindliche
Anforderungen an IT-Sicherheitseigenschaften von in-
ternetfähigen Produkten einzusetzen . Denn nur sichere
IT-fähige Produkte, deren Verbreitung durch ein IT-Gü-
tesiegel und durch eine Produkthaftungskette gefördert
werden können, könnten langfristig die Cybersicherheit
in Deutschland erhöhen und das geschilderte Problem
einzudämmen helfen . Hierfür bedarf es Regelungen auf
Ebene der EU sowie langfristig auch auf internationaler
Ebene . Denn weder das Internet noch der Handel enden
heute an nationalen Grenzen .
Mit dem Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen
zum Gesetzentwurf der Bundesregierung nehmen wir
weitere Schritte zur Erhöhung der IT-Sicherheit vor .
Im Bereich der Meldepflichten führen wir die doppelte
Meldepflicht von Sicherheitsvorfällen ein: die Meldung
an die Bundesnetzagentur (BNetzA) und an das Bun-
desamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) .
Aktuelle Cyberangriffe im Telekommunikationsbereich
haben gezeigt, dass die Meldewege von der Bundesnetz-
agentur zum BSI bei Vorfällen in Telekommunikations-
netzen nicht mehr gerecht werden . Durch die parallele
Meldung wird es dem BSI ermöglicht, seine Ressourcen
und Kompetenzen zeitnah und besser einzusetzen .
Aus den Sicherheitsvorfällen der vergangenen Monate
haben wir darüber hinaus weitere Lehren gezogen und
die Befugnisse von Anbietern von Telekommunikations-
diensten zur Abwehr oder Beseitigung von erheblichen
Störungen auf rechtssicheren Boden gestellt . Unter sehr
engen Vorgaben werden Anbieter nun befugt, Netzwerk-
daten zu analysieren, um Angriffswellen und gravierende
Folgeschäden einzudämmen sowie Angriffe erkennen
und abwehren zu können . Kommunikationsinhalte blei-
ben hiervon unberührt . Entgegen mancher Spekulation
im Vorfeld handelt es sich hierbei folglich auch um kei-
ne Light-Version von Deep Packet Inspection . Hier gilt
die Koalitionsvereinbarung . Im Gegenteil, wir haben im
Gesetzeswortlaut deutlich formuliert, dass es sich ledig-
lich um solche Netzwerkprotokolldaten handeln darf, die
unabhängig vom Inhalt eines Kommunikationsvorganges
übertragen werden, und dass der Zugriff auf Inhaltsdaten
vollständig ausgeschlossen ist . DPI geht so in keinem
Fall . Zur Abwehr von Attacken ist es zwingend erfor-
derlich, die Netzwerkprotokolldateien zu analysieren .
Entscheidend ist, dass dies die Ausnahme und nicht die
Regel ist, dass also konkrete Anhaltspunkte vorliegen,
die eine solche Analyse zwingend erforderlich machen .
Aber dieser Zugriff auf Netzwerkprotokolldaten muss
im Bereich der Abwehr von Angriffen erlaubt sein, sonst
kann man keine Angriffe und Muster erkennen und alle
Cyberabwehr vergessen .
Die Gewährleistung von Notrufverbindungen bleibt
von den neuen Eingriffsbefugnissen der Diensteanbieter
unberührt . Der Diensteanbieter hat weiterhin alle erfor-
derlichen Maßnahmen zu treffen, damit Notrufverbin-
dungen jederzeit möglich sind .
Die Entwicklungen in unserer extrem verwundbaren
IT-basierten Lebenswelt sind rasant schnell, und täglich
nimmt die Zahl der Hackerangriffe zu. Da zunehmend al-
les mit allem vernetzt ist – Stichwort Internet der Dinge,
Internet of Things, IoT –, stellt sich immer drängender
die Frage, wie die IT-Sicherheit der vernetzten Dinge si-
chergestellt werden kann und wer in der Haftung ist . Wir
dürfen uns daher nicht ausruhen . Die Bundesregierung
sollte gesetzgeberische Maßnahmen zur Produkthaftung
und die Einführung eines verlässlichen Gütesiegels weit
oben auf die Agenda setzen und hier auch in Europa mit
gutem Beispiel vorangehen . Der vorliegende Gesetzent-
wurf der Bundesregierung sowie Änderungsantrag und
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 201723380
(A) (C)
(B) (D)
Antrag bieten hierfür eine gute Grundlage, die als Aus-
gangspunkt für weiter gehende gesetzgeberische Maß-
nahmen auf EU-Ebene genutzt werden sollte .
Martina Renner (DIE LINKE): Die Sicherheit der
Informationstechnologie ist eine wichtige Aufgabe, die
nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa und
weltweit seit Jahren an Bedeutung gewinnt . Aufgrund der
fortschreitenden Vernetzung durch Smartphones, IP-Te-
lefonie, der Digitalisierung von Arbeit und Leben und
des Internets der Dinge ist Politik gefordert . Es besteht
eine staatliche Schutzpflicht gegenüber den Bürgerinnen
und Bürgern, die sich nicht in der Einrichtung eines Cy-
berabwehrzentrums, eines Cyber-Sicherheitsrates oder
Meldepflichten für kritische Infrastrukturen erschöpft.
Und schon gar nicht durch das ständige Wiederholen von
Cyber, Cyber, Cyber .
Tatsächlich ist dem vorgelegten Entwurf zur Um-
setzung der Richtlinie zur Verbesserung der Netz- und
Informationssicherheit anzumerken, dass Deutschland
nicht – wie der Kollege Binninger in der ersten Beratung
behauptete – vorangegangen ist . Die Bundesregierung
hechelt hinterher!
Der Gesetzentwurf zum Umsetzungsgesetz bleibt so-
wohl in der Definition als auch in der Konkretisierung
der Anforderungen für digitale Diensteanbieter weiter-
hin völlig unbestimmt . Im Zweifel müssten sich diese
Anbieter sowohl an die Regelungen für Anbieter von
Telemediendiensten als auch für Anbieter von „digita-
len Diensten“ halten . Eine solche Doppelregulierung
und unklare Sicherheitspflichten für die Anbieter stärken
die Netz- und Informationssicherheit im Ergebnis nicht .
Eine nicht eindeutige Regelung widerspricht vielmehr
dem Zweck der Richtlinie . Netz- und Informationssi-
cherheit werden nicht erhöht, sondern Schlupflöcher
geschaffen. Niemandem, weder den Verbrauchern noch
den Anbietern, ist damit gedient . Der Systematisierung
der IT-Sicherheitspflichten für alle Anbieter und Dienste
geht die Bundesregierung aus dem Weg . Tatsächlich sind
die Sicherheitsanforderungen von Telekommunikations-
netzen, Telemediendiensten, den sogenannten wesentli-
chen Diensten, den Vertrauensdiensten und den digitalen
Diensten aufgesplittert . Dieses Manko wird nicht durch
das vorliegende Umsetzungsgesetz beseitigt .
Mittels Änderungsantrag hat die Große Koalition
zwischenzeitlich eine begleitende Ergänzung des Te-
lekommunikationsgesetzes auf den Weg gebracht . Zur
Begründung wird angeführt, dass Telekommunikations-
anbieter neben den Bestandsdaten bei einer Störung auch
die sogenannten Steuerungsdaten auswerten müssten .
Allerdings ist auch dieser Vorschlag viel zu unbestimmt .
Tatsächlich wird hier der Weg freigemacht, um bei spä-
teren Gesetzänderungen draufsatteln zu können . Dass
die Diensteanbieter gehalten sind, Störungen und deren
Ursachen zu analysieren, ist das eine . Dass aber dabei
aber die Möglichkeit eröffnet wird, die Steuerungsdaten
auch für künftige Analysen greifbar zu machen, ist mit
dem Datenschutz nicht vereinbar . Der Ausschluss der In-
haltsdaten dient hierbei nur der Kosmetik. Der Zugriff
auf die Steuerungsdaten erlaubt im Zusammenspiel mit
den Bestandsdaten weitreichende Analysen der Betreiber
und der Behörden .
Anders als behauptet wird das Bundesamt für Sicher-
heit in der Informationstechnik (BSI) nicht etwa für die
kommenden Entwicklungen gerüstet . Tatsächlich wird
das BSI weiter zu einer operativen Behörde ausgebaut .
Demgegenüber bleibt der Geburtsfehler der Behörde
bestehen, denn sie wird institutionell nicht gestärkt . Das
BSI bleibt dem Bundesinnenministerium unterstellt . Sei-
ne Unabhängigkeit ist also nicht gewährleistet . Die Sen-
sibilität der beim BSI gesammelten Informationen über
Sicherheitslücken und -strukturen sowie der Umgang
mit persönlichen Daten aus Unternehmen und von Pri-
vatpersonen erfordert aber zwingend, es als unabhängige
Bundesbehörde mit unzweideutigem Sicherheitsauftrag
aufzustellen . Nur so kann das unklare Verhältnis des
BSI zu den polizeilichen Sicherheitsbehörden und den
Geheimdiensten beseitigt werden . Es braucht diese kla-
ren Zuständigkeiten . Andernfalls droht der Sicherheits-
auftrag des BSI durch die intensive Zusammenarbeit
mit BND, BfV und MAD national über das Cyber-Ab-
wehrzentrum oder international in der Kooperation mit
der NSA ins Leere zu laufen . Erst recht, wenn die Ge-
heimdienste gleichzeitig Sicherheitslücken einkaufen
oder erforschen, wie mit der Behörde ZITiS geplant . Das
Vertrauensproblem in Bezug auf die für IT-Sicherheit
hauptsächlich zuständige Bundesbehörde BSI wird auf
diese Weise nicht gelöst .
Schließlich verzichtet die Bundesregierung erneut
darauf, Regelungen zur Produktsicherheit und Produkt-
haftung für IT-Produkte und IT-Dienste einzuführen .
Schon bei Verabschiedung des IT-Sicherheitsgesetzes
2015 wurde dies versäumt und bis heute nicht nachge-
holt . Ausgangspunkt von Sicherheitsproblemen aber sind
in den allermeisten Fällen Sicherheitslücken in der ein-
gesetzten Software . Aber auch Router und vernetzte Ge-
räte sind eine besondere Gefahrenquelle . Zum Kern des
Problems in der IT-Sicherheit vorzudringen, heißt daher,
Haftungsverschärfungen für IT-Sicherheitsmängel im
IT-Sicherheitsrecht aufzunehmen . Da entsprechende Re-
gelungen fehlen, springt das Umsetzungsgesetz zu kurz .
Die fehlenden Verschärfungen im IT-Sicherheitsrecht
und die Zersplitterung der Sicherheitsanforderung zeigen
einmal mehr, dass die Bundesregierung keineswegs vor-
angeht, sondern Bruchstücke zur Strategie verklärt .
Aus diesen Gründen werden wir dem Umsetzungs-
gesetz im Ergebnis nicht zustimmen und den Gesetzent-
wurf ablehnen .
Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Nahezu wöchentlich häufen sich die Meldungen
über Hacking-Angriffe auf den Bundestag, auf kleinere
und größere Unternehmen mit teils umfangreichen Kun-
dendatenbanken, auf Krankenhäuser oder auch immer
öfter auf vernetzte Geräte in Küche und Kinderzimmer:
All das macht deutlich, dass die Sicherheit im Digitalen
zu einer zentralen Herausforderung unserer Infrastruk-
turen und Kommunikationssysteme geworden ist, und
zwar in so gut wie jedem Lebens-, Gesellschafts- und
Wirtschaftsbereich .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 23381
(A) (C)
(B) (D)
Angesichts dieser vielfachen systemischen Risiken in
einer immer vernetzteren Welt besteht ein enormer Hand-
lungsdruck. Scheinbar simple Programmier- und Konfi-
gurationsfehler in Produkten, bei Diensten und Dienst-
leistungen können weitreichende Folgen für die gesamte
Bevölkerung haben . Potenziell jedes System kann von
staatlichen wie nichtstaatlichen Akteuren gehackt und
zum Ziel von Überwachung, Kriminalität oder militäri-
schen Strategien werden . Die Sicherheit im Digitalen ist
somit heute eine wesentliche Bedingung unserer grund-
rechtlichen Freiheiten, unserer verfassungsrechtlichen
Ordnung sowie der völkerrechtlichen Friedensordnung .
IT-Sicherheit geht mithin uns alle an, der entsprechen-
de Schutz steht uns allen zu – und nicht nur kritischen
Infrastrukturen und strategischen Zielen . Zu oft wird die
Debatte um Cyberwar auf militärische Eskalationsszena-
rien und kritische Infrastrukturen verengt . Gerade hier
darf die Verantwortung zum Selbstschutz nicht allein auf
die einfachen Endnutzerinnen und -nutzer oder auch die
kleinen und mittelständischen Unternehmen abgewälzt
werden . Dem Staat kommt eine direkt aus unserer Ver-
fassung abzuleitende Schutzverantwortung zu . Vielmehr
ist daher ein ganzheitlicher Ansatz insbesondere auch auf
europäischer und internationaler Ebene gefragt .
Vielleicht sollte sich die Bundesregierung anlässlich
des gestrigen Hochamts auf ihre Digitale Agenda einmal
an das eigene Versprechen, Deutschland zum Verschlüs-
selungsland Nummer eins zu machen, besinnen – denn
genau das wäre eine solche grundlegende Maßnahme,
die Sicherheit im Digitalen effektiv für alle anzugehen.
Stattdessen ergingen Sie sich während der vergangenen
Jahre vornehmlich in Sonntagsreden, nur um dann in
eine Art aktionistischen Schweinsgalopp zu verfallen .
Ihre immer neuen hochtrabendenden „Strategien“ von
wenig Substanz und umso kürzerer Lebensdauer wirken
planlos und wenig koordiniert: Man denke nur an das
Cyberabwehrzentrum, die fragwürdigen Hacking-Pläne
im ZITiS oder zuletzt gar eine private Cyberwehr . Zum
überhasteten nationalen Alleingang mit dem IT-Sicher-
heitsgesetz komme ich noch im Folgenden .
Anstatt aus den Snowden-Enthüllungen gerade mit
Blick auf die Sicherheit im Digitalen die eigentlich ja
offensichtlich zwingenden Konsequenzen zu ziehen,
mussten wir viel eher ein Rollback der Massenüberwa-
chung erleben: Mit dem BND-Gesetz wurde diese Pra-
xis schlichtweg nachträglich legalisiert . Unkontrollierte
Massenüberwachung gefährdet nicht nur unsere Grund-
rechte, sie gefährdet auch immer unsere Sicherheit im
Digitalen . Umso bezeichnender ist nun, dass Sie dem
staatlichen und militärischen Aufrüsten im Digitalen das
Wort reden . Weiterhin halten staatliche Stellen Sicher-
heitslücken für ihre Überwachungszwecke offen, kaufen
gar entsprechendes Wissen auf – anstatt diese zugunsten
der Allgemeinheit umgehend bekannt zu geben und zu
schließen .
Es ist diese Ambivalenz in der Frage der Sicherheit
im Digitalen, die leider die noch so überfälligen und in
vielem richtigen Ansätze der nun vorliegenden NIS-Um-
setzung konterkarieren . Und genau dieses staatliche
Überwachungsinteresse überschattet auch die Arbeit des
Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik .
Solange dieses am langen Arm des Innenministers bleibt,
wird es bei noch so guter Arbeit kein vertrauenswürdiger,
weil unabhängiger und allein der IT-Sicherheit verpflich-
teter Akteur werden können . Die weit hinter den Erwar-
tungen gebliebenen Meldezahlen zu erfassten Anlagen
bzw . Störfällen in jenen Sektoren, die bereits nach dem
IT-Sicherheitsgesetz meldepflichtig sind, sprechen hier
Bände . Und umso problematischer sind in der vorliegen-
den NIS-Umsetzung die schwammigen Datenschutzvor-
gaben für die nun noch erweiterten Eingriffsbefugnisse
der BSI-Response-Teams . Gerade in einem so sensiblen
Bereich wie den kritischen Infrastrukturen stellt sich hier
die Frage nach Datenschutz und Fernmeldegeheimnis zu-
mal bei personenbezogenen Daten in verschärfter Form .
Apropos IT-Sicherheitsgesetz: Obwohl bereits 2015
absehbar war, dass in Bälde mit der NIS-Richtlinie eine
weiter gehende Harmonisierung ganz sinnvollerweise
auf europäischer Ebene ansteht, mussten Sie entgegen
aller Warnungen partout noch mit einem nationalen
Schnellschuss vorpreschen .
Immerhin wurden nun dank Brüssel mit den ver-
schärften Melde- und Auditpflichten auch jene Störfälle
erfasst, die wegen ihrer potenziellen System- und Aus-
fallrelevanz so sensibel sind, und auch die entsprechen-
den ursächlichen Störungsfälle in Gänze meldepflichtig
gemacht . Studien zeigen, dass Sicherheitsbeauftragte
solcher Infrastrukturen systematisch das eigene Angriffs-
risiko unterschätzen – umfassende Kontroll- und Mel-
depflicht sind hier dringend angebracht, wie auch ein
abgestimmtes Verfahren bei den ja allzu oft länderüber-
greifenden Störfällen . Hingegen werden Sie bei den di-
gitalen Diensten mit Ihrer rein formalen Umsetzung ein
Dickicht überlappender Regelungen schaffen – Rechtssi-
cherheit stellt man so nicht her in diesem Bereich . Zudem
wird interessanterweise just in eigener Sache, nämlich
bei der Nutzung von Cloud-Angeboten durch die öffent-
liche Verwaltung, eine Ausnahme gemacht .
Und leider haben die Koalitionsfraktionen mit ihrer
Änderung einer TKG-Erweiterung kurz vor der Aus-
schusssitzung eine gravierende Verschlimmbesserung
eingebaut . Es ist ja löblich, wenn Sie mit Blick auf die
schon nach geltender Rechtslage weitreichenden Ein-
griffsrechte der Anbieter zur Störungsabwehr eine Prä-
zisierung vornehmen wollen . Nur sorgen Sie mit dem
rechtlich unbestimmten Begriff der Steuerdaten eher für
mehr Sorgen vor einer Deep Packet Inspection durch die
Hintertür, die eben nicht trennscharf von Kommunika-
tionsinhalten erfolgt . Spätestens seit der parlamentari-
schen Aufklärung der massenhaften Geheimdienstüber-
wachung sollten wir doch wissen, welchen Aussagewert
eben gerade jene Verbindungsdaten zum Beispiel aus
entsprechenden Protokolldaten haben . Daher haben wir
hierzu im Ausschuss wie auch jetzt im Plenum klar Nein
gesagt .
Auch diese an sich überfällige, aber leider unent-
schlossen umgesetzte und zu wenig abgestimmte Re-
form wird an der Grundsatzproblematik nichts ändern:
Solange die Bundesregierung aufgrund eigener Überwa-
chungsinteressen wie auch aufgrund des Lobbydrucks in
der Regulierungs- und Haftungsfrage weiterhin so ambi-
valent bleibt und einen umfassend entschlossenen Ansatz
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 201723382
(A) (C)
(B) (D)
scheut, steht es schlecht bestellt um die Sicherheit im Di-
gitalen von uns allen .
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuord-
nung des Rechts zum Schutz vor der schädlichen
Wirkung ionisierender Strahlung (Tagesordnungs-
punkt 24)
Stephan Albani (CDU/CSU): Dies ist ein guter Tag
für die forschende Wissenschaft! Nach monatelangen
zähen Verhandlungen konnten wir erreichen, dass mit
unserem Änderungsantrag die deutsche Forschungsland-
schaft endlich Fortschritt im Bereich der Genehmigungs-
verfahren für Studien mit ionisierender Strahlung im Be-
reich der medizinischen Forschung sieht . Nach 15 Jahren
Stillstand ist dies ein gutes Ergebnis .
Wir beraten hier über die Novellierung des Gesetzes
zur Neuordnung des Rechts zum Schutz vor der schädli-
chen Wirkung ionisierender Strahlung . Hintergrund hier-
bei ist, dass wir einer Umsetzung der Euratom-Grundnor-
men in deutsche Rechtsnormen nachkommen wollten,
zur Festlegung grundlegender Sicherheitsnormen für den
Schutz vor den Gefahren einer Exposition gegenüber io-
nisierender Strahlung zum Schutz des Menschen .
Bislang war das Strahlenschutzrecht in der auf dem
Atomgesetz basierenden Strahlenschutzverordnung und
der Röntgenverordnung geregelt . Wir novellieren also
hiermit nicht nur ein vorhandenes Gesetz und wollen
bisherige Einzelgesetze zusammenfügen, sondern möch-
ten erstmals und grundsätzlich auf Basis von neuesten
wissenschaftlichen Erkenntnissen den Einsatz von Stof-
fen oder ionisierender Strahlung zur Früherkennung von
Krankheiten regeln .
Darüber hinaus gilt es ebenso, die Grenzwerte von
Verfahren in der Messung und Überprüfung im Zusam-
menhang mit Strahlenbelastung zu verbessern . Diese
Reformierung ist für die deutsche Forschungslandschaft
dringend nötig und längst überfällig . In der Wissenschaft
gibt es ja bekanntermaßen keinen Stillstand . Hier hat
sich in den vergangenen Jahren sehr viel getan . So war
bislang der Einsatz von Röntgenstrahlung allein für die
Früherkennung von Brustkrebs erlaubt . Die neue Rege-
lung zur medizinischen Forschung betrifft auch weiterhin
nur studienbedingte zusätzliche Strahlenbelastungen und
nicht Maßnahmen in der klinischen Routine .
Seit dem Jahre 2003 machten medizinische Fachge-
sellschaften und Prüfzentren das Bundesministerium
für Umwelt wiederholt auf die Problematik aufmerk-
sam, dass es im Bereich der Genehmigungsverfahren
in der Begleitdiagnostik in Deutschland keine gesetz-
lichen Fristen gibt und Anträge teilweise über ein Jahr
lang beim Bundesamt für Strahlenschutz liegen bleiben .
Dies hatte in der Vergangenheit erhebliche Auswirkun-
gen auf unsere Forschungslandschaft, exakt also auf die
Gesundheitsforschungsfelder, in denen unser Land heute
eine globale Führungsrolle einnimmt . Forschende Phar-
maunternehmen in Deutschland können ohne kalkulier-
bare Fristen im Strahlenschutz nicht arbeiten . So kam es
in den letzten Jahren zu einer stetigen Abwanderung der
Phase-1- und Phase-2-Studien ins Ausland . Es führte in
der Vergangenheit sogar dazu, dass deutsche Prüfzentren
von multinationalen Studien ausgeschlossen wurden .
Dies alles gilt es zu verhindern! Stellen Sie sich vor,
Sie sind Inhaber eines Logistikunternehmens und auf den
täglichen Transport von Waren wirtschaftlich angewie-
sen . Sie haben einen Transporter, der zwecks Straßenver-
kehrstauglichkeit von einer Prüfstelle (TÜV, DEKRA)
abgenommen werden muss . Diese Prüfstelle teilt Ihnen
dann jedoch mit, dass sie Ihnen leider nicht sagen kann,
ob und wann Sie Ihr Fahrzeug weiter einsetzen können,
„sie bräuchten noch mehr Zeit“ und „wissen nicht, wann
Sie Ihren Transporter wieder einsetzen dürfen“ .
Diesen Zustand gilt es dringend zu verbessern . Das
Beispiel zeigt, dass solche Ungewissheiten nicht tragbar
sind und zu eklatanten Planungsrisiken nicht zuletzt auch
bei den forschenden Unternehmen führen .
Aus diesem Grunde ist es wichtig und richtig, dass die
CDU/CSU-Fraktion sich der Sache angenommen hat, um
nicht nur forschende Unternehmen, sondern auch zahl-
reiche Patientenverbände und medizinische Fachgesell-
schaften in ihrem drängenden Streben nach der Einfüh-
rung eines Anzeigeverfahrens mit verbindlichen Fristen
zu unterstützen . Mit Einsatz unserer Fraktion haben wir
nicht zuletzt im Jahre 2013 dieses wichtige Vorhaben im
Koalitionsvertrag mit auf den Weg gebracht . Und seit-
dem nicht lockergelassen!
Mit unserem Antrag „Transfer von Forschungser-
gebnissen und Innovationen in die Gesundheitsversor-
gung beschleunigen“ vom 15 . Dezember 2015 (Druck-
sache 18/7044) forderten wir, „bei der Zulassung der
Anwendung ionisierender Strahlung am Menschen in
der medizinischen Forschung durch das Bundesamt für
Strahlenschutz (BfS) für Fälle der sog . Begleitdiagnostik
statt des Genehmigungsverfahrens ein Anzeigeverfahren
mit verbindlichen Fristen einzuführen“ . Vieler Schreiben
an das Bundesumweltministerium hat es bedurft, um den
klaren Auftrag aus unserem Antrag in der Bundesregie-
rung in eine schnelle Umsetzung zu bringen . Nicht zuletzt
die Ergebnisse des Pharmadialogs im April 2016 zeigen,
dass dieses drängende Problem im Strahlenschutzgesetz
aufgenommen wurde .
Genehmigungsverfahren mit verbindlichen Fristen
gibt es in vielen Lebensbereichen . Auch für Studien mit
Arzneimittel- und Medizinprodukten sind diese vorhan-
den .
Heute wollen wir analog dazu auch beim Strahlen-
schutz für die medizinische Forschung erreichen, dass es
zu einer angemessenen Fristenregelung mit radioaktiven
Substanzen und ionisierender Strahlung kommt .
Ich bitte Sie um Zustimmung zu diesem uns vorlie-
genden Gesetzentwurf der Bundesregierung in geänder-
ter Fassung .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 23383
(A) (C)
(B) (D)
Oliver Grundmann (CDU/CSU): Nur die Dosis
macht das Gift! Diese rund 500 Jahre alte Erkenntnis
des berühmten Arztes und Alchemisten Paracelsus ist
unverändert gültig – insbesondere bei der radioaktiven
Strahlung. Der Begriff „Radioaktivität“ erzeugt bei vie-
len Menschen, auch in meinem Wahlkreis Stade und Ro-
tenburg, Unbehagen, und von radioaktiven Stoffen aus-
gesandte Strahlung wird oft als bedrohlich empfunden .
Dabei wird manchmal vergessen, dass jeder Mensch auf
der Erde auf natürliche Weise stets und überall der Strah-
lung radioaktiver Stoffe ausgesetzt ist. Hinzu kommen
künstliche Strahlungsquellen, die in der heutigen Welt
nicht mehr wegzudenken sind, zum Beispiel Röntgenun-
tersuchungen oder Nutzung radioaktiver Stoffe in Medi-
zin und Technik . Es handelt sich dabei um sogenannte
ionisierende Strahlung .
Keine Frage also: Das Strahlenschutzrecht, über das
wir heute beraten, hat weitreichende Bedeutung für die
menschliche Gesundheit und Relevanz für viele Lebens-
bereiche . Der vorgelegte Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung dient der Umsetzung einer EU-Richtlinie von
2013 zur Festlegung grundlegender Sicherheitsnormen
für den Schutz vor den Gefahren einer Exposition gegen-
über ionisierender Strahlung und zur Aufhebung weiterer
Richtlinien in nationales Recht .
Die Umsetzung der Richtlinie soll das deutsche Strah-
lenschutzsystem grundlegend neu strukturieren . Gleich-
zeitig werden zahlreiche bestehende Vorgaben infolge
des wissenschaftlichen Fortschritts angepasst sowie
der thematisch bereits breite Anwendungsbereich des
deutschen Strahlenschutzrechts erheblich erweitert . Die
damit verbundene umfassende Novellierung des Strah-
lenschutzrechts bezweckt, den Strahlenschutz zu verbes-
sern, übersichtlich und vollzugsfreundlich zu gestalten
sowie unnötige bürokratische Hemmnisse abzubauen .
Ferner wird der radiologische Notfallschutz auf Grundla-
ge der Erfahrungen der Ereignisse in Fukushima konzep-
tionell fortentwickelt .
Der umfangreiche Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung stellt ein Rahmengesetz dar . Vielfache Detailrege-
lungen müssen also nachträglich durch entsprechende
Rechtsverordnungen festgelegt werden . Zum Gesetzent-
wurf haben wir als Koalition einen umfangreichen Ände-
rungsantrag eingebracht, der fast alle in der Gegenäuße-
rung der Bundesregierung zugestandenen Punkte aus der
Stellungnahme des Bundesrates umsetzt . Ich bin damit
sehr zufrieden; entscheidende Punkte sind aus Sicht der
CDU/CSU-Fraktion umgesetzt .
Ein schnelleres Zulassungsverfahren für medizinische
Forschung und Diagnostik war dabei ein Herzensan-
liegen der Unionsfraktion . In der Vergangenheit wurde
seitens Industrie und Forschungseinrichtungen immer
wieder stark kritisiert, dass für Zulassungs- bzw . Anzei-
geverfahren für die Anwendungen ionisierender Strah-
lung am Menschen – Begleitdiagnostik und medizinische
Forschung – keine Genehmigungsfristen festgelegt sind,
wodurch einzelne Verfahren sehr stark in die Länge ge-
zogen wurden .
Dem wird jetzt durch die Festlegung von festen Fristen
entgegengewirkt . Das ist ein ganz wichtiger Punkt, ins-
besondere auch für die Menschen, deren Gesundheit von
Forschung und Diagnostik abhängt. Wer selbst betroffen
ist oder nahestehende Angehörige bei einer Strahlenthe-
rapie begleitet hat, weiß darum, dass diese Therapiefor-
men oftmals die letzte Hoffnung auf Heilung bedeuten.
Und deshalb ist der Faktor Zeit so wichtig . In meiner
Heimatstadt Stade gibt es mit der Klinik Hancken eine
der renommiertesten onkologischen Einrichtungen in
Deutschland . Hier leisten die Mitarbeiter des Hauses mit
viel Einfühlungsvermögen einen großartigen Job . Aus
zahlreichen Gesprächen weiß ich: Komplizierte und lan-
ge Zulassungsverfahren bei neuartigen Bestrahlungsver-
fahren kosten nicht nur Zeit und Geld, sondern können
sogar Menschenleben gefährden, wenn die bestmögliche
Therapie nicht – oder zu spät – zur Anwendung kommt .
Ein anderer uns wichtiger Punkt: Im Gesetzentwurf
wird eine gesundheitlich zulässige Radonkonzentrati-
on in Innenräumen (Wohnräume und Arbeitsplätze) mit
einem Referenzwert von 300 Becquerel/Kubikmeter
festgelegt . Für Neubauten müssen bei höheren Referen-
zwerten Schutzmaßnahmen getroffen werden. Bestands-
bauten sind hiervon ausgenommen. Für betroffene Ar-
beitsplatzbereiche müssen entsprechende Maßnahmen
seitens des Arbeitgebers ergriffen werden. Die Länder
werden zukünftig verpflichtet, Gebiete auszuweisen, in
denen in Gebäuden mit erhöhten Radonwerten zu rech-
nen ist, sogenannte Radonvorsorgegebiete . Um den Län-
dern hierbei entgegenzukommen, werden diese Pläne
nun die Länder im Rahmen der Bundesauftragsverwal-
tung erarbeiten . Die hierbei entstehenden Kosten für den
Bund werden für die nächsten Jahre auf circa 20 Milli-
onen Euro geschätzt (vor allem Kosten der Vorortmes-
sungen von Radon). Das Bundesfinanzministerium hat
zugestimmt .
Auch der radiologische Notfallschutz zwischen Bund
und Ländern wird verbessert: Alle Behörden und Organi-
sationen, die bei einer gegebenen Notfallbewältigung ge-
braucht werden, müssen ab sofort ihre Maßnahmen zum
Schutz der Bevölkerung eng miteinander abstimmen . Im
Gesetzentwurf werden deshalb abgestimmte Notfallplä-
ne zwischen Bund und Ländern sowie die Einrichtung
eines radiologischen Lagezentrums unter der Leitung des
Bundesumweltministeriums vorgeschrieben .
Als ehemaliger Geschäftsführer aus der Privatwirt-
schaft begrüße ich, dass auch einem Anliegen der Leicht-
betonindustrie unbürokratisch Rechnung getragen wird .
Es ging um die Frage, ob im Gesetz Bims als Rohstoff
benannt werden soll, bei dessen Verwendung als Baupro-
dukt eine Bestimmung der spezifischen Aktivität erfor-
derlich ist . Eine Aufzählung der Regelbeispiele, um wel-
che Gesteine es sich bei sauren magmatischen Gesteinen
sowie daraus entstandenen metamorphen und sedimentä-
ren Gesteinen handelt, ist nach unserer Intervention nun
aber nicht mehr erforderlich . Das Umweltministerium
war erfreulicherweise bereit, die ursprünglichen Regel-
beispiele, die auch Bims umfassten, wieder zu streichen .
Dadurch kann Missverständnissen vorgebeugt werden,
beispielsweise im Hinblick auf Bims, dessen Zusammen-
setzung sowohl sauer als auch basisch sein kann .
Mit dem heute vorgelegten umfangreichen Gesetzes-
werk, das ich für die CDU/CSU-Fraktion ausdrücklich
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 201723384
(A) (C)
(B) (D)
begrüße, ist ein weiteres wichtiges Vorhaben aus dem Ko-
alitionsvertrag auf den Weg gebracht worden . Das neue
Strahlenschutzrecht hat weitreichende Bedeutung für die
menschliche Gesundheit und Relevanz für viele Lebens-
bereiche auch in meiner Heimat Niedersachsen . Mit dem
modernisierten und ausgeweiteten Regelwerk schaffen
wir aus meiner Sicht nun eine verlässliche Grundlage für
einen umfassenden Schutz der Bürgerinnen und Bürger
vor ionisierender Strahlung .
In diesem Sinne danke ich abschließend den Mitar-
beiterinnen und Mitarbeitern des Bundesumweltministe-
riums, der Kollegin Hiltrud Lotze als SPD-Berichterstat-
terin sowie meinem Kölner Fraktionskollegen Karsten
Möring, der als Berichterstatter für die Union die intensi-
ven und detailreichen Verhandlungen in den letzten Mo-
naten erfolgreich geführt hat .
Hiltrud Lotze (SPD): Ionisierende Strahlung tritt in
sehr vielen Situationen auf . Deswegen hat der Strahlen-
schutz eine hohe Bedeutung für die menschliche Gesund-
heit .
Bislang war das Strahlenschutzrecht in der Strahlen-
schutzverordnung und der Röntgenverordnung geregelt .
Jetzt werden alle Bereiche des Schutzes vor ionisieren-
der Strahlung systematisch in einem Gesetz zusammen-
gefasst .
Das Gesetz regelt unter anderem den Einsatz von
Röntgenstrahlung oder radioaktiven Stoffen an Men-
schen zur Früherkennung von Krankheiten . Auch der
Schutz vor Radon an Arbeitsplätzen und in Wohnräumen
wird geregelt . Radon ist ein radioaktives Edelgas, das aus
dem Erdreich in Gebäude eindringen kann . Radon ist sta-
tistisch nach Tabakrauch die zweithäufigste Ursache für
Lungenkrebs . Es ist deswegen gut, dass der Schutz vor
Radon erheblich ausgeweitet wird .
Der radiologische Notfallschutz zur Bewältigung von
Katastrophen in kerntechnischen Anlagen wird weiter-
entwickelt . Abgestimmte Notfallpläne von Bund und
Ländern decken sowohl Unfälle in Atomkraftwerken im
In- und Ausland als auch regionale Unfälle wie zum Bei-
spiel Transportunfälle ab .
Gerade dieser Tage jährt sich die Katastrophe von
Tschernobyl zum 31 . Mal, und wir denken an die Opfer .
Wir hoffen, dass uns nie ein Atomunfall ereilt. Sollte es
aber doch zu einem ernsthaften Zwischenfall kommen,
sind wir mit diesem Gesetz besser vorbereitet .
Der Rahmen für den Umgang mit radioaktiven Alt-
lasten, die zum Beispiel beim Rückbau von Atomkraft-
werken entstehen, wird geregelt . Details müssen in einer
noch folgenden Rechtsverordnung festgelegt werden .
Auch die Regelungen zur medizinischen Forschung
werden grundlegend modernisiert, insbesondere durch
die Einführung verbindlicher Fristenregelungen zur Prü-
fung von Forschungsvorhaben . Wir haben hier einen gu-
ten Kompromiss zwischen den Sicherheitserfordernissen
und den Interessen der Forschung gefunden .
Das Gesetz stellt einen erheblichen Fortschritt für den
Umwelt- und Gesundheitsschutz dar . Der Strahlenschutz
wird modernisiert, an den Stand der wissenschaftlichen
Erkenntnisse angepasst, und bisherige Schutzlücken
werden geschlossen .
Ich bitte Sie, diesem wichtigen Gesetzentwurf zuzu-
stimmen .
René Röspel (SPD): Als Forschungspolitiker
möchte ich die Aufmerksamkeit auf die medizinische
Forschung und den entsprechenden Absatz im Gesetz
lenken . Deutschland ist weltweit mit an der Spitze der
Gesundheitsforschung . In kaum einem anderen Land
werden mehr klinische Studien durchgeführt als bei uns .
Diese Forschungsergebnisse leisten einen wichtigen Bei-
trag zur Verbesserung der Patientenvorsorge, denn nur
durch Forschung entstehen Innovationen und damit neue
Behandlungsmöglichkeiten in der Medizin .
Bei vielen dieser klinischen Studien ist es notwendig,
Untersuchungsverfahren mit ionisierender Strahlung ein-
zusetzen . Zum Schutz der Probanden und Patientinnen
und Patienten ist für solche Untersuchungen eine Ge-
nehmigung notwendig . Diesen klinischen Studien ging
bisher ein kompliziertes, mitunter lang dauerndes Geneh-
migungsverfahren voraus, das weder für die Gesellschaft
noch für Probanden, Patientinnen und Patienten und die
Forscherinnen und Forscher zusätzliche Vorteile gebracht
hat . Viele Studien konnten aufgrund des langwierigen
und komplizierten Genehmigungsverfahrens nur mit
zum Teil großer Verzögerung beginnen . Oftmals wurden
dadurch klinische Studien mit ionisierender Strahlung in
anderen Ländern oder ohne eine deutsche Beteiligung
durchgeführt . Seit vielen Jahren wird die Vereinfachung
des Genehmigungsverfahrens von vielen Forscherinnen
und Forschern nachvollziehbar gefordert . Bislang konn-
ten wir in den Verhandlungen nur kleine Änderungen und
damit zu wenige Verbesserungen für die Genehmigung
von klinischen Studien erreichen .
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf können wir nun
endlich eine deutliche Verbesserung für die medizinische
Forschung in Deutschland durchsetzen . Insbesondere die
Einführung von Fristen für die Genehmigung von For-
schungsvorhaben mit ionisierender Strahlung war drin-
gend notwendig .
Dabei möchte ich betonen, dass die Einführung von
Fristen in keinem Fall zulasten der Probanden- oder Pa-
tientensicherheit vorgenommen wird . Der Schutz der
Patientinnen und Patienten steht für uns an erster Stelle,
und das soll auch so bleiben! Die Bestätigung des medi-
zinisch-wissenschaftlichen Vorhabens durch eine Ethik-
kommission bleibt weiterhin Grundvoraussetzung für die
Durchführung einer klinischen Studie . Die langwierigen
Genehmigungsverfahren ohne Zusatznutzen schaden
aber nicht nur dem deutschen Forschungsstandort, son-
dern auch den vielen Patientinnen und Patienten, die auf
die Ergebnisse der medizinischen Forschung angewiesen
sind . Medizinischer Fortschritt und damit neue Behand-
lungsmöglichkeiten werden beschleunigt, wenn klini-
sche Studien nicht monatelang auf eine Genehmigung
warten müssen .
Auch wenn ich mir natürlich wünsche, dass Geneh-
migungsverfahren sorgfältig, aber auch so schnell wie
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 23385
(A) (C)
(B) (D)
möglich und innerhalb der Fristen bearbeitet werden,
kann in begründeten Fällen eine Fristverlängerung not-
wendig sein . Mit einer Fristverlängerung um weitere
90 Tage können auch kompliziertere medizinische Unter-
suchungsvorhaben geprüft werden . Wichtig war uns aber
auch – und dafür haben wir uns in den parlamentarischen
Verhandlungen stark gemacht –, dass nach Ablauf dieser
insgesamt 180-tägigen Frist eine Entscheidung getroffen
wird .
Wir haben uns lange für eine Verbesserung der Bedin-
gungen für klinische Studien eingesetzt . Mit der Rege-
lung eines Anzeigeverfahrens für Begleitdiagnostik und
darüber hinaus einem klaren Genehmigungsverfahren,
wenn radioaktive Stoffe oder ionisierende Strahlung Ge-
genstand des Forschungsvorhabens sind, ist ein deutli-
cher Fortschritt erzielt worden .
Hubertus Zdebel (DIE LINKE): Wie sind die Men-
schen vor den gesundheitlich schädlichen Wirkungen ra-
dioaktiver Strahlung zu schützen?
Nach dem Willen der Bundesregierung und dem hier
nun vorgelegten Strahlenschutzgesetz können wir sagen:
unzureichend . Denn der Gesetzentwurf ist nach Stand
von Wissenschaft und Forschung von vorgestern .
Von vorgestern war im Grunde auch schon die Richt-
linie der EU, als sie 2014 verabschiedet wurde . Als Basis
für die Festsetzung der Dosiswerte für die radioaktiven
Strahlen wird auf eine veraltete Empfehlung der Interna-
tionalen Strahlenschutzkommission IRCP zurückgegrif-
fen, die aus dem Jahr 2007 stammt . Schon damals gab es
massive Kritik, dass diese Stellungnahme wichtige For-
schungsergebnisse ignorierte .
Vor diesem Hintergrund ist es im Grunde beschämend,
wenn das Bundesumweltministerium auch noch erklärt,
es wolle mit diesem Gesetzentwurf lediglich eine Eins-
zu-eins-Umsetzung einer entsprechenden EU-Richtlinie
vollziehen . Also genauer: Das BMUB erklärt, dass es se-
henden Auges einen veralteten Stand von Wissenschaft
und Forschung zur Grundlage dieses Gesetzes macht,
und die Regierungsfraktionen stimmen dem im Kern
auch noch zu .
Studien über die Schädlichkeit auch geringer Strah-
lenbelastungen kommen immer wieder zu dem Ergebnis,
dass die IRCP nicht ausreichend konservativ vorgeht .
Es geht um die biologische Wirksamkeit der Strahlung .
Die Kinderkrebsstudie KiKK hat aufgezeigt, dass die
Gesundheitsrisiken steigen, je näher Kinder an einem
Atomkraftwerk wohnen . Auch für Beschäftigte in Atom-
anlagen in England, Frankreich und den USA hat sich
gezeigt: Die Risiken einer Erkrankung auch bei geringen,
dafür langanhaltenden Strahlenwerten sind höher als er-
wartet .
Die Konsequenz daraus muss sein: Die Dosiswerte,
wie hier jetzt wieder festgezurrt werden sollen, müssten
insgesamt um den Faktor 10 reduziert werden . Genau
diese Konsequenz aber ziehen Bundesregierung und die
Fraktionen von CDU/CSU und SPD mit dem vorliegen-
den Gesetzentwurf nicht . Damit setzen sie die Bevölke-
rung und die Beschäftigten, die mit Radioaktivität zu tun
haben, einem höheren Gesundheitsrisiko aus . Das halten
wir nicht für verantwortbar!
Ähnlich ist es auch beim Schutz gegen das natürlich
vorkommende Radon, das für einen hohen Anteil von
Lungenkrebs verantwortlich ist . Das Bundesamt für
Strahlenschutz hält einen Richtwert von 100 Beque-
rel pro Kubikmeter Luft für notwendig . Aber der Wert
wird im Gesetzentwurf nicht übernommen . Dort wird ein
Richtwert von 300 reingeschrieben . Das ist nicht verant-
wortbar, wenn man sieht, wie viele Lungenkrebserkran-
kungen damit schlicht hingenommen werden .
Auch beim Umgang mit den Abfällen, die beim Abriss
der Atommeiler jetzt in großen Mengen entstehen, sehen
wir nicht, dass die mangelhafte Praxis verbessert werden
soll, auch wenn eine entsprechende Verordnung noch
aussteht . Unstrittig ist: Abrissabfälle, die tatsächlich frei
von Radioaktivität sind, können in den Bereich der nor-
malen Abfallwirtschaft . Das aber muss mit Messungen
zweifelsfrei belegt werden . Die Abfälle aber, die gering
kontaminiert sind, dürfen nicht länger freigemessen und
zum Beispiel im Straßenbau oder beim Stahlrecycling
landen . Wir brauchen eine kontrollierte Lagerung und
Überwachung dieser Abfälle auf verbesserten Deponien .
Ein letztes Wort noch zu den Notfallplanungen: Die
Bundesregierung versucht in dem Gesetzentwurf mit al-
len Mitteln, so zu tun, als könnten staatliche und andere
Stellen im Falle einer Nuklearkatastrophe die Menschen
schützen . Das ist natürlich Unsinn . Neue Untersuchun-
gen mit Blick auf Fukushima zeigen, dass die Gebiete, in
denen Schutzmaßnahmen erfolgen müssten, viel größer
sind als bislang unterstellt .
Der Staat muss nach dem Grundgesetz die Gesundheit
der Menschen schützen . Bei der Atomenergie aber kann
das nur heißen: Schalten Sie jetzt alle noch laufenden
AKWs ab, bevor es zu spät ist!
Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Radioaktive Strahlung ist mit den menschlichen Sinnen
nicht zu fassen, sie ist geruchlos, geräuschlos, unsicht-
bar. Strahlenbelastungen können uns daher zwangsläufig
nicht so bewusst sein wie andere Gesundheitsgefahren,
wie zum Beispiel sichtbarer und riechbarer Zigaret-
tenrauch . Und dementsprechend können wir im Alltag
Strahlenbelastung oft auch dann nicht aus dem Weg ge-
hen, wenn wir das gerne täten . Umso wichtiger ist es,
dass der Staat hier seiner Pflicht der Schadensvorsorge
für die Bevölkerung möglichst gut nachkommt . Mög-
lichst gut heißt, der Gesundheitsschutz muss an erster
Stelle stehen .
Grundsätzlich ist es sehr begrüßenswert, dass es in
Deutschland für den Strahlenschutz nunmehr ein eigenes
Gesetz geben wird . Bedauerlicherweise geht die Bun-
desregierung bei der Umsetzung der zugrundeliegenden
Richtlinie 2013/59/Euratom jedoch inkonsequent vor und
nutzt die Möglichkeit, über deren Maßgaben hinauszuge-
hen, nur an einzelnen Stellen . In weiten Teilen setzt Ihr
Gesetzentwurf die Richtlinie dagegen selbst dann eins zu
eins um, wenn deren Vorgaben um Jahre hinter den Stand
der deutschen Fachdebatte zurückfallen – gerade auch
an entscheidenden Stellen . Dies führt dazu, dass der Ge-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 201723386
(A) (C)
(B) (D)
setzentwurf dem wesentlichen Ziel eines möglichst guten
Strahlenschutzes nicht gerecht wird . Daran haben auch
nach der Einbringung noch vorgenommene Änderungen
nichts geändert . Der vorliegende Gesetzentwurf fällt also
nach wie vor weit hinter das zurück, was er leisten müss-
te .
Wie wir in unserem Entschließungsantrag dargelegt
haben, beginnt es damit, dass der Gesetzentwurf kon-
sequent am Ziel des Gesundheitsschutzes und am Vor-
sorgeprinzip auszurichten ist . Das heißt insbesondere, es
muss über die Regelungen der Grundnormenrichtlinie hi-
nausgegangen werden, wenn entsprechende Erkenntnisse
bzw . Positionen hiesiger Fachkreise vorliegen . Konkret
müssen deshalb etliche Grenz- und Referenzwerte deut-
lich gesenkt werden . Denn den im Entwurf festgelegten
Werten liegt eine Fehlannahme zugrunde, die die deut-
sche Fachszene in breiter Einmütigkeit von staatlichen
Stellen über selbstständige Expertinnen und Experten
bis hin zu Umweltschutzverbänden schon vor etlichen
Jahren abgeräumt hat: dass Dauerniedrigstrahlung weni-
ger schädlich sei als kurzzeitige höhere Strahlendosen .
Doch anstatt diese fachliche Steilvorlage zu nutzen und
mit dem Gesetz endlich eine längst überfällige Fehler-
korrektur vorzunehmen, von der Tausende Menschen in
Deutschland gesundheitlich profitieren würden, hat sich
die Regierung bewusst anders entschieden . Das ist un-
klug, mutlos und pflichtvergessen.
Wenn selbst einem so evidenten Handlungsbedarf
nicht nachgekommen wird, verwundert es nicht, dass
sich die Bundesregierung mit weitergehenden Forde-
rungen der Expertinnen und Experten nach Grenzwert-
senkungen ebenfalls nicht konstruktiv auseinandersetzt .
Dabei kann auch das Argument nicht gelten, dass sich
bestimmte Forderungen noch nicht so eindeutig begrün-
den lassen wie andere . Denn gerade im Strahlenschutz
gilt das Prinzip der Vorsorge, also dass man im Zweifel
auch dann präventive Maßnahmen ergreifen soll, wenn
es noch keine wissenschaftliche Gewissheit über das ge-
naue Ausmaß einer Gefährdung gibt . Wir fordern daher,
dass es einen Fachdialog gibt zwischen der Bundesregie-
rung und reformorientierten Expertinnen und Experten,
um weitere sinnvolle Verschärfungen bei Grenzwerten
und anderen Regelungen zu identifizieren.
Die Bevölkerungsgruppe, die in der Regel den höchs-
ten Dosen ausgesetzt ist, sind die Menschen, die von
Berufs wegen Strahlung ausgesetzt sind . Um ihre Ge-
sundheit besser zu schützen, fordern wir neben Grenzwer-
tehalbierungen unter anderem, das Strahlenschutzregister
so zu erweitern, dass man herausstechende Belastungen
identifizieren kann. Beispielsweise wenn beim Rück-
bau eines Atomkraftwerks das dortige Personal deutlich
mehr Strahlung abbekommt als in anderen AKW, die
auch zurückgebaut werden . Oder auch, um beim Bei-
spiel AKW-Rückbau zu bleiben, wenn der Großteil der
Monatsdosis auf eine bestimmte Dekontaminationsmaß-
nahme zurückzuführen ist . Dann kann man gezielt anset-
zen mit Veränderungen, die die größten Reduktionen der
Strahlenbelastung bringen und damit besonders großen
Nutzen für die Gesundheit . Ein weiteres Problem bei die-
ser Berufsgruppe ist die Frage, inwieweit sich immer an
die Vorschriften gehalten wird . Ohne jemandem etwas zu
unterstellen, sollte man dieser Frage mit einer Erhebung,
mit einem Forschungsvorhaben nachgehen . Denn wenn
zum Beispiel die Strahlenschutzvorschrift besagt, dass
bei einer bestimmten Arbeit ein Mundschutz zu tragen
ist, der aber in Wirklichkeit nicht getragen wird, besteht
das Risiko, dass es zu einer relevanten, aber unerkannten
Aufnahme von Radioaktivität kommt .
Für die Bevölkerung muss und kann der Strahlen-
schutz durch verstärkte Aufklärung über Strahlenbe-
lastungen im Alltag gestärkt werden . Wer weiß schon,
welche Belastungen ein Langstreckenflug, eine Rönt-
genuntersuchung oder Strahlenbelastungen aus der Natur
im Vergleich zueinander bedeuten? Wo man im Alltag
besonders viel Strahlung abbekommt, ohne es zu ah-
nen? Hier gibt es Aufklärungsbedarf, den man nicht der
Nuklearindustrie überlassen darf, die damit gerne die Ge-
fahren aus ihrem Bereich verharmlost . Denn gerade im
AKW-Bereich liegt natürlich eines der größten Risiken
für die Bevölkerung; deshalb steigen wir ja auch richti-
gerweise aus der Atomkraft aus in Deutschland .
Aber mit diesen Abschaltdaten für AKW ist es nicht
getan . Der Strahlenschutz in Notfallsituationen, so wie
ihn das Gesetz vorsieht, ist wieder ein Negativbeispiel .
Er basiert auf einer Empfehlung der sogenannten Inter-
nationalen Strahlenschutzkommission ICRP aus dem
Jahr 2007 . Darin heißt es, dass die Vorsorge und der
Umgang mit radiologischen Notfallsituationen wie zum
Beispiel einer Atomkatastrophe wie die von Fukushima
so gestaltet werden sollten, dass die Belastung für die Be-
völkerung sich in einer Bandbreite von 20 bis 100 Mil-
lisievert bewegt . Wenn man den Katastrophenschutz so
plant, dass er auf die untere Grenze, also möglichst we-
nig Strahlung für die Bevölkerung, abzielt, ist das natür-
lich besser . Natürlich auch anspruchsvoller, aber es muss
doch darum gehen, einen möglichst guten Katastrophen-
schutz zu haben und nicht einen möglichst unaufwendi-
gen .
Von den schon genannten Strahlenbelastungen aus
der Natur hat das natürliche Gas Radon eine große Be-
deutung. Es ist nach dem Rauchen die zweithäufigste
Ursache für Lungenkrebs . Und hier ist es ähnlich wie
bei den eingangs erwähnten Grenzwerten . Obwohl das
Bundesamt für Strahlenschutz, also der Teil der Exekuti-
ve mit der betreffenden Expertise, die Behörde, die man
zusammen mit der Weltgesundheitsorganisation extra ein
Radon-Handbuch hat erarbeiten lassen, sich seit Jahren
aus gesundheitlichen Gründen für einen bestimmten Re-
ferenzwert beim Radonschutz ausspricht, legen Sie einen
Gesetzentwurf vor, der erheblich davon abweicht, der um
ein Dreifaches laxer ist . Das ist inakzeptabel . Dement-
sprechend fordert unser Entschließungsantrag auch hier
eine sofortige Korrektur .
Ein Thema, das bereits kontrovers in der Öffent-
lichkeit diskutiert wird, ist der Strahlenschutz beim
AKW-Rückbau . Da wir in unserem Antrag auch hierzu
konkrete Forderungen aufgestellt haben, lassen Sie mich
hervorheben: Es wird Zeit, dass die Bundesregierung
in den Dialog mit den Kritikerinnen und Kritikern der
bisherigen Praxis tritt. Erstens betrifft das Thema ganz
Deutschland, zweitens ist der Konflikt jetzt schon groß,
drittens wird er mit jedem weiteren AKW, das zurück-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 23387
(A) (C)
(B) (D)
gebaut wird, noch zunehmen . Die letzten Jahre haben
gezeigt, dass die gängige Praxis nicht dazu geeignet ist,
Vertrauen zu schaffen. Da hilft es wenig, wenn man sie
einfach verteidigt oder schweigt .
Schließlich bleibt wieder einmal festzustellen, dass es
zu vielen Fragen im Strahlenschutzbereich immer noch
erheblichen Forschungsbedarf gibt . Es ist unverständ-
lich, ärgerlich und inakzeptabel, stattdessen gebetsmüh-
lenartig Millionenausgaben für sinnlose Atomforschung
zu verteidigen . Damit muss endlich Schluss sein . Sowohl
das Forschungsministerium als auch der eine oder ande-
re unbeirrbar atomkraftvernarrte Professor muss endlich
einsehen, dass Deutschland einen Beschluss gefasst hat,
den man nicht mit steuergeldfinanzierter Forschung hin-
tertreiben kann . Es ist doch aberwitzig, dass wir immer
noch Millionen für die Forschung an neuen Reaktortypen
oder andere Blütenträume atomkraftbegeisterter Forscher
ausgeben, andererseits viele Fragen zu Strahlenschäden
und Gesundheitsrisiken auch nach Jahrzehnten immer
noch nicht und nicht ausreichend beantworten können .
Mit dieser Fehlallokation von öffentlichen Mitteln muss
endlich Schluss sein!
Abschließend möchte ich noch darauf hinweisen, dass
vieles, was wir an dem Gesetzentwurf kritisieren, rasch
geändert werden könnte . Es gibt auch keinen Grund, wa-
rum wir ihn nicht erst in der kommenden Sitzungswoche
beschließen könnten . Darum meine eindringliche Bitte:
Es gibt erheblichen Verbesserungsbedarf an dem Ge-
setzentwurf . Kommen wir ihm nach! Die Maxime muss
dabei sein: Die staatliche Pflicht der Schadensvorsorge
gilt hier umso mehr, als sich Bürgerinnen und Bürger vor
Strahlung nicht so gut selbst schützen können wie vor
anderen Gesundheitsgefahren .
Rita Schwarzelühr-Sutter, Parl . Staatssekretärin
bei der Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, Bau
und Reaktorsicherheit: Ich freue mich, dass das Gesetz
zur Neuordnung des Rechts zum Schutz vor der schädli-
chen Wirkung ionisierender Strahlung heute in eine ent-
scheidende Phase kommt .
Das Gesetz erfüllt den Auftrag aus dem Koalitionsver-
trag, das Strahlenschutzrecht zu modernisieren und den
radiologischen Notfallschutz auf Grundlage der Erfah-
rungen nach Fukushima konzeptionell fortzuentwickeln .
Gleichzeitig setzt das Gesetz die neue europäische Strah-
lenschutz-Richtlinie um .
Radioaktivität ist ein Phänomen, das uns in vielen Si-
tuationen begegnet . Uns ist sie vor allem im Zusammen-
hang mit der Kerntechnik ein Begriff. Strahlung kommt
jedoch auch in ganz anderen Bereichen unseres Alltags
vor . Ein großer Anteil der Strahlenbelastung für die Be-
völkerung entsteht zum Beispiel im Zusammenhang mit
der Medizin . Hier müssen Regeln und Vorkehrungen ge-
troffen werden, damit der Schutz der Patientinnen und
Patienten sowie des Personals gewährleistet wird . Des
Weiteren spielt auch die natürlich vorkommende Strah-
lung eine deutlich größere Rolle als die Strahlenbelastung
bei kerntechnischen Anwendungen und muss ebenfalls
von den Regelungen zum Strahlenschutz erfasst werden .
Im Zusammenhang mit der Kerntechnik hat Fukushi-
ma uns gelehrt, dass ein Unfall in einem Atomkraftwerk
oder ein anderer radiologischer Notfall auch in einem
modernen Industriestaat eintreten kann . Die Bevölkerung
erwartet daher von uns zu Recht, dass wir im Strahlen-
schutzgesetz möglichst effektive Vorkehrungen für einen
solchen Notfall treffen.
Dies alles wird mit dem neuen Strahlenschutzgesetz
erreicht, und deshalb ist es für mich ein Meilenstein
für den Umwelt- und Verbraucherschutz . Bisher ist der
Strahlenschutz vor allem in der Strahlenschutzverord-
nung und in der Röntgenverordnung adressiert worden .
Nun wird das Strahlenschutzrecht erstmals umfassend
in einem eigenen formellen Gesetz geregelt . Dadurch
bekommt das Thema die Sichtbarkeit, die ihm aufgrund
seiner großen Bedeutung für die Bürgerinnen und Bürger
unseres Landes gebührt .
Der hohe Schutz, den das bisherige Strahlenschutz-
recht für die Bürgerinnen und Bürger gewährleistet hat,
wird mit der Umsetzung der Richtlinie noch deutlich ver-
bessert:
Das Strahlenschutzgesetz erleichtert den Vollzug des
Strahlenschutzrechts durch die Zusammenführung von
Regelungen, die bisher in unterschiedlichen Verordnun-
gen zu suchen waren .
Es setzt Rahmenbedingungen, wenn ionisierende
Strahlung zur Früherkennung von Krankheiten einge-
setzt wird .
Es bestimmt, wie bei radioaktiven Altlasten vorzuge-
hen ist .
Es enthält Anforderungen für die Prüfung von Radio-
aktivität in Bauprodukten .
Es enthält erstmals Vorgaben zum Schutz der Bürge-
rinnen und Bürger vor Radon in Aufenthaltsräumen .
Das Gesetz schafft ferner – und das ist mir beson-
ders wichtig – die Grundlage für ein zwischen Bund
und Ländern abgestimmtes modernes Notfallmanage-
mentsystem . Dabei geht der Bund, und hier speziell das
Bundesumweltministerium, mit der Einrichtung eines ra-
diologischen Lagezentrums und der Beschaffung der Jod-
tabletten für die sogenannte Jodblockade in Vorleistung .
Mithilfe der zu erstellenden Notfallpläne werden wir alle
für eine Notfallbewältigung erforderlichen Ressourcen
von Bund und Ländern konkret aufeinander abstimmen .
Ich erwarte, dass wir dadurch, sollte es einen Ereignisfall
geben, auf allen Ebenen sofort voll handlungsfähig sein
werden .
Ich hoffe, meine Aufzählung vermittelt Ihnen einen
Eindruck von der Breite des Strahlenschutzes und seiner
Relevanz für uns alle .
Erstmals adressiert das Strahlenschutzrecht den
Schutz vor Radon in Aufenthaltsräumen . Radon ist ein
natürliches radioaktives Edelgas, das im Boden vor-
kommt und sich in Gebäuden anreichern kann . Es gibt
Regionen in Deutschland, in denen das Vorkommen von
Radon höher ist als in anderen . Es gilt, Vorgaben zu ma-
chen, die einerseits für einen wirksamen Schutz der Bür-
gerinnen und Bürger sorgen, ohne sie – auf der anderen
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 201723388
(A) (C)
(B) (D)
Seite – in unverhältnismäßiger Weise zu belasten . Ich
glaube, dies ist in dem Gesetzentwurf gut gelungen . Zum
Beispiel gewährleistet der vorgesehene Referenzwert
von 300 Becquerel pro Kubikmeter ein hohes Schutzni-
veau im Einklang mit dem aktuellen wissenschaftlichen
Erkenntnisstand . Er entspricht auch vollumfänglich den
Anforderungen der Richtlinie 2013/59/Euratom . Das
Prinzip preisgünstigen Bauens wird dadurch trotzdem
nicht gefährdet .
Das Gesetz modernisiert außerdem die Regelungen
zur Prüfung medizinischer Forschungsvorhaben, bei
denen ionisierende Strahlung eingesetzt wird . Es sieht
nun verbindliche Fristenregelungen vor . Dadurch wer-
den die Prüfverfahren wesentlich beschleunigt und ein
wichtiger Beitrag zur Sicherung des Forschungsstandor-
tes Deutschland geleistet . Wir haben entsprechend den
Wünschen der Unionsfraktion und der Bundesländer ins-
besondere die Fristenregelungen für das Genehmigungs-
verfahren weiter präzisiert und mit noch mehr Berechen-
barkeit für die Antragsteller versehen .
Das Gesetz stellt einen erheblichen Fortschritt für
den Umwelt- und Gesundheitsschutz dar . Der Strahlen-
schutz in Deutschland wird durch das Gesetz wesentlich
modernisiert und an den Stand der wissenschaftlichen
Erkenntnisse angepasst . Bisherige Schutzlücken werden
geschlossen .
Ich möchte daher schon jetzt an die Länder appellie-
ren, diesem Gesetz im kommenden Monat im Bundes-
rat zuzustimmen und so sicherzustellen, dass die darin
enthaltenen Verbesserungen für den Strahlenschutz noch
vor den Bundestagswahlen verabschiedet werden . Ich
hoffe auf Ihre breite Unterstützung für den vorgelegten
Gesetzentwurf .
Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– des von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Anlage VI des Um-
weltschutzprotokolls zum Antarktis-Vertrag
vom 14. Juni 2005 über die Haftung bei umwelt-
gefährdenden Notfällen (Antarktis–Haftungs-
annex)
– des von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Ausführung der
Anlage VI des Umweltschutzprotokolls zum
Antarktis Vertrag vom 14. Juni 2005 über die
Haftung bei umweltgefährdenden Notfällen
(Antarktis-Haftungsgesetz – AntHaftG)
(Tagesordnungspunkt 25)
Dr. Klaus-Peter Schulze (CDU/CSU): Als James
Cook während seiner zweiten Südseereise die Antarktis
umsegelte, war auch ein junger Preuße namens Georg
Forster an Bord . Während der Reise beteiligte er sich an
Studien zur Tier- und Pflanzenwelt sowie zur Länder-
und Völkerkunde . Forster wurde später zu einem angese-
henen Ethnologen und war zudem glühender Verfechter
der französischen Revolution .
Wohl aus diesen Gründen wählte die DDR ihn als
Namenspatron für ihre antarktische Forschungsstation,
die sie im Jahr 1976 in Betrieb genommen hatte . Heute
verfügt Deutschland über fünf Stationen in der Antarktis .
Auf diesen werden unter anderem das antarktische Kli-
ma, die Tier- und Pflanzenwelt sowie das Erdmagnetfeld
erforscht .
Insgesamt gibt es in der Antarktis über 80 Forschungs-
stationen, in denen bis zu 4 000 Wissenschaftler aus der
ganzen Welt arbeiten . Die Forschung ist somit die wich-
tigste menschliche Aktivität im ewigen Eis am Südpol .
Die mit der Wissenschaft verbundenen Personen- und
Logistiktransporte führen allerdings auch zu Umweltbe-
lastungen . Zudem kann es bei Unfällen zum Austritt von
Öl oder Chemikalien kommen . Mit Blick auf das Span-
nungsverhältnis zwischen der überaus wichtigen For-
schung und dem Schutz der antarktischen Umwelt gilt es
somit, die negativen Umweltauswirkungen so gering wie
möglich zu halten .
Der zweite nennenswerte Bereich, der in der Antarktis
zu Umweltbelastungen führt, ist der Tourismus . Mittler-
weile kommen pro Saison mehr als 30 000 Besucher vor
allem auf Kreuzfahrtschiffen in die Antarktis. Früher lag
der Schwerpunkt des Tourismus auf kleinen Landgängen
in Küstennähe und dem reinen Besichtigen der Natur .
Mittlerweile haben sich die touristischen Aktivitäten je-
doch grundlegend gewandelt . Heute steht das Abenteuer
Wildnis mit Berg- und Skiwanderungen, Paragliding und
Touren ins Landesinnere im Mittelpunkt . Die mit dem
Tourismus einhergehenden Umweltbelastungen haben
folglich in den vergangenen Jahren zugenommen . Hinzu
kommt, dass sich die antarktische Umwelt aufgrund der
niedrigen Temperaturen deutlich langsamer regeneriert
als in anderen Gebieten der Erde .
Der Umfang der Forschungsaktivitäten sowie der
wachsende Tourismus machen deutlich, wie wichtig eine
umfassende internationale Regelung zum Schutz der
sensiblen antarktischen Umwelt und der verbundenen
Ökosysteme ist .
Im letzten Jahr wurde bereits ein wichtiger Schritt
vollzogen, um den Schutzstatus der Antarktis weiter zu
verbessern: die Einrichtung des weltweit größten Mee-
resschutzgebietes im antarktischen Rossmeer . Das Ross-
meer ist ein Teil des Südpolarmeeres und gilt als eines
der letzten intakten Meeresökosysteme der Erde . Das
Schutzgebiet ist mehr als viermal so groß wie Deutsch-
land . Im größten Teil ist für die nächsten 35 Jahre jegliche
Fischerei verboten . Deutschland tritt darüber hinaus für
die Einrichtung eines weiteren Meeresschutzgebiets in
der Antarktis ein . Dabei handelt es sich um das Weddell-
meer, dessen Artenvielfalt mit der tropischer Korallenrif-
fe vergleichbar ist. So gibt es im Weddellmeer Eisfische,
die mit Frostschutzproteinen ein Gefrieren ihres Blutes
verhindern . Die große biologische Vielfalt ist Grund für
das deutsche Bestreben, die Aktivitäten im Weddellmeer
allein auf die wissenschaftliche Forschung zu beschrän-
ken . Bisher konnte sich Deutschland mit seinem Anlie-
gen leider nicht durchsetzen . Die Europäische Union
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 23389
(A) (C)
(B) (D)
will aber im Herbst dieses Jahres einen entsprechenden
Vorschlag bei der Antarktis-Schutzkonferenz einbringen .
Der Antarktis-Vertrag stellte das erste internationale
Abkommen nach dem Zweiten Weltkrieg dar . In einer
Hochphase des Kalten Krieges einigten sich die West-
mächte und die Sowjetunion auf eine gemeinsame, fried-
liche Nutzung der Antarktis . Der im Jahr 1961 in Kraft
getretene Vertrag umfasste dabei noch keine Bestimmun-
gen zum Schutz der Umwelt . Diese Ergänzung übernahm
das 1991 beschlossene Antarktis-Umweltschutzproto-
koll . Die Anlage VI des Protokolls, der sogenannte Haf-
tungsannex, wurde im Jahr 2005 vereinbart und regelt für
alle Betreiber von Aktivitäten in der Antarktis den Um-
gang in Bezug auf umweltgefährdende Notfälle . Ziel ist
es, solche Notfälle in der Antarktis zu vermeiden sowie
deren Auswirkungen auf die Umwelt zu beschränken .
Der Haftungsannex des Antarktis-Umweltschutzpro-
tokolls enthält Bestimmungen, die erst noch in das natio-
nale Recht übertragen werden müssen . Hierfür nun wird
das Antarktis-Haftungsgesetz verabschiedet . Es bildet
die rechtliche Grundlage, damit die entsprechenden Re-
gelungen auch für die Bundesrepublik Deutschland An-
wendung finden.
Für den Schutz der antarktischen Umwelt sieht das
Gesetz verschiedene Regelungen vor . Diese zielen auf
die Bereiche Prävention, Gegenmaßnahmen und Haftung
ab . Im Hinblick auf die Prävention bestehen für die Be-
treiber von Aktivitäten in der Antarktis Vorgaben . Diese
betreffen die technische Ausrüstung von Transportmit-
teln, die Schulung von Personal sowie die Anfertigung
von Einsatzplänen für den Notfall . Sollte es trotz dieser
präventiven Maßnahmen zu einem umweltgefährdenden
Notfall kommen, sind die Betreiber zu Gegenmaßnah-
men verpflichtet. Diese Gegenmaßnahmen sollen die
negativen Auswirkungen auf die Umwelt verhindern
oder abmildern . Kommt der Verursacher eines umwelt-
gefährdenden Notfalls dieser Pflicht nicht nach, können
ihm Kostenersatz- und Ausgleichszahlungen auferlegt
werden .
Wie Maßnahmen zu Verminderung umweltschädli-
cher Auswirkungen aussehen können, zeigt das Vorgehen
deutscher staatlicher Betreiber bei entsprechenden Vor-
fällen in der Vergangenheit . Um die negativen Folgen für
die antarktische Umwelt so gering wie möglich zu halten,
wurde öl- oder treibstoffkontaminierter Schnee einge-
sammelt, in Fässern gelagert und zurück nach Deutsch-
land transportiert .
Das Umweltbundesamt ist die zuständige Genehmi-
gungsbehörde für alle Tätigkeiten in der Antarktis, die in
Deutschland organisiert werden oder vom deutschen Ho-
heitsgebiet ausgehen . Dabei ist es Aufgabe der Behörde,
zu prüfen, ob die jeweiligen Aktivitäten umweltverträg-
lich durchgeführt werden . Aus diesem Grund betraut das
Antarktis-Haftungsgesetz das Umweltbundesamt mit der
Überwachung der Einhaltung der im Gesetz vorgesehe-
nen Betreiberpflichten.
Die Antarktis hat eine große Bedeutung für das
Weltklima und den globalen Süßwasserhaushalt . Zu-
dem befinden sich hier einige der letzten unberührten
Ökosysteme mit einer großen Artenvielfalt . Die globa-
le Gemeinschaft hat eine historische Pflicht, dieses Ge-
biet mit seinen empfindlichen Tiergemeinschaften und
Ökosystemen zu schützen . Der Antarktis-Haftungsannex
und somit das Antarktis-Haftungsgesetz leisten hier ei-
nen wichtigen Beitrag .
Carsten Träger (SPD): Die Antarktis ist eines der
wenigen noch weitgehend unbeeinflussten natürlichen
Ökosysteme und verdient besonderen Schutz . Deshalb
wurde schon im Jahre 1961 der Antarktisvertrag beschlos-
sen . In ihm haben die Unterzeichnerstaaten geregelt, dass
die Antarktis ausschließlich zu friedlichen, nicht aber zu
militärischen Zwecken genutzt werden darf . Schwer-
punkt muss die wissenschaftliche Forschung sein . Die
Antarktis ist aber nicht nur als Ökosystem schützenswert,
sie ist auch eine Schlüsselregion für das Klima auf unse-
rer Erde . Und sie ist das größte Süßwasserreservoir der
Welt . Rund 70 Prozent des Süßwassers der Erde sind in
der Antarktis als Eis gebunden . Gründe für einen beson-
deren Schutz der Antarktis gibt es somit mehr als genug .
Um das fragile Ökosystem zu schützen, wurde der
Antarktisvertrag 1991 durch das Zusatzprotokoll ergänzt .
Es verbietet seither unter anderem alle Aktivitäten zur Öl-
und Erzförderung bis 2046 – eine wichtige Entscheidung
für den Schutz dieser letzten großen Wildnis der Erde .
Doch wer haftet, wenn in der Antarktis ein Unfall
passiert, der die Umwelt gefährdet? Nachdem 13 Jah-
re verhandelt wurde, konnte im Jahr 2005 endlich die
Anlage VI des Umweltschutzprotokolls zum Antark-
tis-Vertrag (USP) beschlossen werden . In ihr werden
Haftungsfragen bei umweltgefährdenden Notfällen in
der Antarktis geregelt . Damit wird eine bislang bestehen-
de Lücke im völkerrechtlichen System des antarktischen
Umweltweltschutzes geschlossen . Nach jahrelangen Ver-
handlungen ist endlich klar geregelt: Wer die Umwelt in
der Antarktis beschädigt oder verschmutzt, soll zukünftig
für die Vermeidung oder Beseitigung der Schäden haf-
ten . Wer in Zukunft in der Antarktis aktiv ist, muss dann
Vorsorge- und Gegenmaßnahmen zur Vermeidung und
Bekämpfung umweltgefährdender Notfälle treffen. Als
Notfall wird jeder Unfall definiert, der zu erheblichen
nachteiligen Auswirkungen auf die antarktische Um-
welt führt oder unmittelbar zu führen droht . Auch wird
im Antarktis-Haftungsgesetz festgelegt, dass Organisa-
tionen oder Unternehmen für entstandene Schäden und
deren Beseitigung aufkommen müssen .
Die neuen Regelungen müssen nun international und
national umgesetzt werden . Mit dem Antarktis-Haf-
tungsgesetz setzt Deutschland den Haftungsannex zum
internationalen Antarktis-Umweltschutzprotokoll in in-
nerstaatliches Recht um . Er wurde im Januar vom Bun-
deskabinett verabschiedet . Neben dem Haftungsgesetz
hat das Kabinett einen weiteren Gesetzentwurf beschlos-
sen . Dieser dient der Genehmigung des Haftungsannexes
und schafft damit die Voraussetzung, dem Haftungsan-
nex völkerrechtlich bindend beitreten zu können .
Als zuständiger Berichterstatter für Naturschutz und
Biodiversität begrüße ich diese Umsetzung ausdrücklich
und bin mir sicher, dass dieser Gesetzentwurf hier im
Haus große Zustimmung finden wird. Es ist ein weiterer
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 201723390
(A) (C)
(B) (D)
Schritt, um die einzigartige Umwelt in der Antarktis zu
schützen . Endlich gibt es konkrete Regeln und Verfahren,
um die Auswirkungen umweltgefährdender Situationen
auf die antarktische Umwelt zu verhindern oder zu kom-
pensieren .
So wichtig die heutige Verabschiedung von Haftungs-
regeln ist, für den Erhalt der Antarktis steht etwas ande-
res ganz oben auf der Tagesordnung: die Begrenzung der
globalen Erderwärmung . Lange Zeit schien der Klima-
wandel der Antarktis nichts anhaben zu können . In den
vergangenen Jahren aber mehren sich die Hinweise der
Wissenschaftler darauf, dass in der Antarktis schon ver-
hältnismäßig kleine Veränderungen gigantische Folgen
haben können . Denn nirgendwo sonst auf der Erde wird
es schneller warm als in der Arktis und Antarktis . Ent-
sprechend schrumpfen die Eisflächen an Nord- und Süd-
pol . Nach Berechnungen verschiedener Wissenschaftler
würde das Verbrennen aller weltweit verfügbaren fos-
silen Ressourcen von Kohle, Öl und Gas dazu führen,
dass es zu einem vollständigen Abschmelzen der antark-
tischen Eisdecke kommen kann . Wir müssen also – auch
um die Antarktis zu schützen – dem Klimaschutz obers-
te Priorität einräumen und alles tun, damit die Staaten
ihre Klimaziele erhöhen und die globale Erwärmung die
Zwei-Grad-Schwelle nicht überschreitet .
Birgit Menz (DIE LINKE): Zwar gleicht die Antarktis
einer unwirklichen Welt, die scheinbar nur aus einer di-
cken Schicht Eis besteht . Doch so karg und verlassen die-
ser riesige Kontinent wirkt, ist er bei Weitem nicht . Vor
allem an und in den umliegenden Meeren leben verschie-
denste Tier- und Pflanzenarten. An den teils eisfreien
Küsten gibt es unter anderem Wale, Robben, aber auch
zahlreiche Vogel- und Pinguinarten . Nicht zu vergessen,
die gigantischen Krill- und Fischschwärme, die elemen-
tar für eine funktionierende Nahrungskette sind .
Um die Antarktis in ihrer Einzigartigkeit und weit-
gehenden Unberührtheit als wichtiges Element des glo-
balen Ökosystems zu schützen und dennoch zu nutzen,
wurde bereits im Jahr 1991 das Umweltschutzprotokoll
als Teil des antarktischen Vertragssystems beschlossen .
Es ist mit seinen insgesamt sechs Anhängen eines der
umfangreichsten internationalen Regelungsabkommen
für den Schutz der Umwelt einer bestimmten Region un-
seres Planeten .
Nun, nach fast zwölf Jahren, liegt uns endlich der Ent-
wurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Haftungsrege-
lungen für die Antarktis vor . Die Umsetzung und Etablie-
rung geeigneter Regeln und Verfahren zur Haftung bei
umweltgefährdenden Notfällen sind von großer Wich-
tigkeit, um negative Auswirkungen auf die antarktische
Umwelt zu verhindern .
Betrachtet man die globale und ökologische Wichtig-
keit der Antarktis, kann die Umsetzung des Haftungs-
annexes jedoch nur ein weiterer Schritt von vielen noch
folgenden sein, um einen nachhaltigeren und umfassen-
deren Schutz der Antarktis voranzutreiben .
Denn trotz aller Bemühungen, menschliche Einflüsse
von der Antarktis fernzuhalten, stellen auch hier Um-
weltverschmutzung, Überfischung – insbesondere durch
illegale Fischerei – und Klimawandel für das antarkti-
sche Ökosystem eine reale Bedrohung dar .
Vor allem der ansteigende Tourismus hat das Potenzi-
al, die antarktische Umwelt negativ zu beeinträchtigen .
Damit einher gehen beispielsweise der vermehrte Perso-
nenverkehr mittels Flugzeug oder Schiff und somit auch
der zunehmende Ausstoß von Abgasen, mehr Müll und
natürlich auch die Gefahren potenzieller Schiffsunfälle
und deren für die Umwelt verheerenden Folgen .
In diesem Zusammenhang zitiere ich gerne das Um-
weltbundesamt mit den Worten: „Touristinnen und Tou-
risten haben die Möglichkeit, in bisher völlig unberührte
Gebiete der Antarktis zu gelangen, und stellen somit per
se eine Gefährdung für die unangetastete Wildnis dar .“
Es ist daher wichtig, im Rahmen zukünftiger Entwick-
lungen des antarktischen Vertragssystems dafür Sorge zu
tragen, dass der menschliche Einfluss durch Tourismus,
Forschung oder auch Fischerei auf ein absolutes Min-
destmaß reduziert wird, um dieses Gebiet in seiner Ur-
sprünglichkeit und Wichtigkeit für das globale Öko- und
Klimasystem so weit wie möglich zu erhalten .
Im Sinne des internationalen Ratifizierungsprozesses
wäre es wichtig gewesen, einen Entwurf zum Haftungs-
gesetz schon viel eher einzubringen . Beabsichtigt man,
eine tragende Rolle in Sachen Umweltschutz in der Ant-
arktis zu spielen, ist Deutschland in der Pflicht, derartige
Abkommen so schnell wie möglich in nationales Recht
umzusetzen und damit ein Signal an die übrigen Staaten
zu senden .
Meeres- und Umweltschutz sind entscheidend, um
die ökologische Vielfalt der Antarktis zu bewahren, aber
auch, um die Widerstandsfähigkeit im Kampf gegen den
Klimawandel zu erhöhen . Daher ist es nicht nur wichtig,
Verantwortliche für entstandene Umweltschäden in der
Antarktis haftbar zu machen, sondern in Zukunft auch
unberührte Ökosysteme und Meeresgebiete in der Ant-
arktis vor menschlichen Eingriffen zu schützen.
Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mehr
als ein Jahrzehnt ist es her, dass die internationalen Ver-
tragsstaaten des 1961 in Kraft getretenen Antarktis-Ver-
trags in Stockholm zusammengekommen sind, um Ei-
nigung über Haftungsfragen bei umweltgefährdenden
Notfällen in der Antarktis zu erzielen . Und so hat es auch
länger als ein Jahrzehnt gedauert, damit die Bundesregie-
rung nun endlich die Anlage VI des Antarktis-Umwelt-
protokolls in die Deutsche Rechtsordnung überträgt .
Durch den vorliegenden Gesetzentwurf werden Prä-
ventions-, Reaktions- und Kompensationspflichten für
in der Antarktis agierende Akteure etabliert . Es hat Si-
gnalwirkung, dass Deutschland sich diesen Pflichten
stellt, und es ist wichtig, dass weitere Staaten diesem
Beispiel folgen . Denn die Einzigartigkeit des antarkti-
schen Ökosystems und seine Rolle für die Regulation des
Weltklimas und als Kinderstube für Tausende von Polar-
und Meeresorganismen sind herausragend . Durch die ex-
tremen Eigenschaften dieses Ökosystems besteht jedoch
auch eine besondere Fragilität . Deswegen begrüßen wir
die Umsetzung des Antarktis-Haftungsannexes in dem
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 23391
(A) (C)
(B) (D)
von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurf .
Dass dieser jedoch erst ein Jahrzehnt nach der Einigung
von Stockholm vorgelegt wird, ist schlicht und einfach
zu spät .
Mit 80 internationalen Forschungsstationen und bis
zu 4 000 stationierten Wissenschaftlern, zunehmendem
Tourismus und Nutzungsinteressen im Südpolarmeer ist
auch die Gefahr von umweltgefährdenden Notfällen in
den letzten Jahren angestiegen und wird weiter steigen .
Gerade Deutschland hat die Verantwortung, als eine der
führenden Forschungsnationen im Bereich der Meeres-
und Polarforschung mit positivem Beispiel voranzu-
gehen . Für die Bundesregierung gilt es nun, sich dieser
Verantwortung bewusst zu sein und sich auf internatio-
naler Ebene engagiert für die Ratifizierung durch weitere
Staaten einzusetzen, damit der Schutz der Antarktis wei-
ter gestärkt wird .
Seit der Übereinkunft der Vertragsstaaten zum Ant-
arktis-Vertrag 1959 und der Verabschiedung des Um-
weltschutzprotokolls in den 1990ern hat sich die Welt
drastisch verändert . Die dramatischen Auswirkungen der
Klimakrise sind der eigentliche umweltgefährdende Not-
fall in der Antarktis . Bisher galt die Antarktis als weitest-
gehend verschont von der Klimakrise und musste als Ar-
gumentationsstütze für Klimakrisenleugner von der AfD
bis zum US-amerikanischen Präsidenten herhalten . Doch
spätestens in diesem antarktischen Sommer ist Schluss
damit . Die Eisbedeckung hat einen nie dagewesenen
Negativrekord erreicht, und die Temperaturen haben mo-
natlich neue Hitzerekorde erreicht . Das bedroht nicht nur
die an die antarktischen Lebensbedingungen angepassten
und hochgradig spezialisierten Tiere, sondern durch das
massive Abschmelzen der antarktischen Gletscher auch
Millionen von Menschen weltweit: auf Inselstaaten, in
Küstenregionen und durch vermehrt auftretende Extrem-
wetterereignisse auch in Deutschland . Wer übernimmt
die Haftung für diesen umweltgefährdenden Notfall in
der Antarktis?
Zwar war der Anteil der Antarktis am ansteigenden
Meeresspiegel bisher eher zu vernachlässigen, die letz-
ten Erkenntnisse von deutschen Wissenschaftlern lassen
jedoch einen klaren Trend erkennen . Das bisher als Kor-
ken fungierende Schelfeis schmilzt durch den Anstieg
der Temperaturen dahin . Der Korken der antarktischen
Gletscher wird langsam, aber stetig gezogen . In der Ant-
arktis befinden sich bis zu 80 Prozent des weltweiten
Süßwasservorrats . Rein theoretisch würde ein gesamtes
Abschmelzen der antarktischen Gletscher einen Mee-
resspiegelanstieg von 60 Metern zur Folge haben . Ganz
real hat jedoch schon heute jeder Zentimeter Meeresspie-
gelanstieg weitreichende Konsequenzen weltweit .
In der gestrigen Sitzung des Umweltausschusses hat
die Parlamentarische Staatssekretärin Rita Schwarzelühr-
Sutter verdeutlicht, dass sich die Bundesregierung der
Lage in der Antarktis durchaus bewusst ist, und auf den
Klimavertrag von Paris verwiesen . Und selbstverständ-
lich ist der Klimavertrag von Paris ein historischer Erfolg
für den Klimaschutz, aber dann muss die Bundesregie-
rung eben auch national für diesen entschieden eintreten
und nicht schon im ersten Jahr diesen nach allen Regeln
der Kunst verwässern .
Anlage 9
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchfüh-
rung der Verordnung (EU) 2015/848 über Insol-
venzverfahren (Tagesordnungspunkt 26)
Dr. Heribert Hirte (CDU/CSU): Wir beraten heute in
zweiter und dritter Lesung den von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Durchführung
der Verordnung (EU) 2015/848 über Insolvenzverfahren .
Erstens . Der Entwurf passt zunächst die Bestimmun-
gen der Neufassung der Europäischen Insolvenzverord-
nung (EuInsVO) in das deutsche Verfahrensrecht ein .
Dazu sieht er insbesondere die Einführung eines neuen
Artikels 102c EGInsO vor, der sich an den geltenden
Bestimmungen des Artikels 102 EGInsO orientiert . Der
neue Artikel 102c EGInsO berücksichtigt jedoch auch
die Ergänzungen und Änderungen, die die Neufassung
im Vergleich zur noch geltenden Fassung der EuInsVO
erfahren hat . So enthält er insbesondere Bestimmungen
zu den in der Neufassung erstmals vorgesehenen Rechts-
behelfen und gerichtlichen Entscheidungen, zur örtli-
chen Zuständigkeit bei sogenannten Annexklagen, zu
verfahrensrechtlichen Einzelheiten der „synthetischen“
Abwicklung von Sekundärinsolvenzverfahren und zu
Einzelfragen bei der Bewältigung der Insolvenz der Mit-
glieder von Unternehmensgruppen . Das alles ist im We-
sentlichen „technisches Recht“ .
Wir konnten hier noch viele Details im Gesetzge-
bungsverfahren klarer regeln . Den Sachverständigen
Kolja von Bismarck, Stephan Madaus und Christoph
Niering, die uns hierbei mit ihren Stellungnahmen für
unser erweitertes Berichterstattergespräch unterstützt
haben, sei deshalb auch an dieser Stelle ein herzliches
Dankeschön gesagt .
Zweitens . Wichtiger erscheint – wie ich schon in
meiner Rede anlässlich der ersten Lesung des Gesetz-
entwurfs gesagt habe – die sozusagen am Rande vorge-
schlagene Änderung der §§ 13 und 15a der Insolvenzord-
nung . Hier geht es um Reaktionen auf Unstimmigkeiten,
die sich bei früheren Änderungen der Insolvenzordnung
ergeben haben . So hatte der Deutsche Bundestag näm-
lich im ESUG die Anforderungen an einen „korrekten“
Insolvenzantrag in § 13 InsO deutlich erhöht, letztlich
um den Insolvenzgerichten eine schnellere und bessere
Sachbehandlung des Antrags zu ermöglichen . Das aber
hat – naturgemäß – die Fehleranfälligkeit von Insolvenz-
anträgen erhöht .
Nachdem aber im aktuell geltenden Recht § 15a Ab-
satz 4 InsO die Strafbarkeit auch eines „nicht richtig“
gestellten Insolvenzantrages wegen Insolvenzverschlep-
pung begründet, gibt es einen Zielkonflikt: Die eigentlich
vom Gesetzgeber gewollte zügige Antragstellung wird
nämlich schwierig, wenn alle Anforderungen des § 13
InsO korrekt beachtet werden sollen . Werden sie ande-
rerseits nicht beachtet, droht Strafbarkeit . Die Insolvenz-
gerichte haben sich hier damit beholfen, die (schnelle)
Nachbesserung eines zunächst nicht richtigen – und da-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 201723392
(A) (C)
(B) (D)
mit möglicherweise unzulässigen – Insolvenzantrages zu
verlangen . Wer in einem solchen Fall rechtzeitig nach-
bessert, entgeht auch der Strafbarkeit . Diesen Ansatz
greift der Gesetzentwurf nunmehr – zu Recht – auf .
Gegenüber der Fassung des Regierungsentwurfs ha-
ben wir die zunächst vorgeschlagene Neufassung des
§ 13 Absatz 3 InsO geändert: Die jetzt vorgeschlagene
Fassung sieht vor, dass das Gericht den Antragsteller
im Falle der Unzulässigkeit des gestellten Insolvenzan-
trags auf diese Unzulässigkeit hinweist und ihm Gele-
genheit gibt, den Mangel binnen einer angemessenen
Frist zu beseitigen . Unvollständigkeiten des Antrages
sind danach nur noch dann von Bedeutung, wenn sie
zur Unzulässigkeit des Antrags führen . Vor allem aber
haben wir auf die Festlegung einer Höchstfrist verzich-
tet, um kein Einfallstor dafür zu öffnen, die Eröffnung
von Insolvenzverfahren durch fehlerhaft gestellte Insol-
venzanträge zu verschleppen . Für die Bestimmung des
für eine Insolvenz anfechtung maßgeblichen Zeitraums
bleibt aber alles beim Alten: Es kommt also für etwaige
Rückrechnungen auf den Zeitpunkt der Stellung des un-
richtigen Insolvenz antrages an, auch wenn ein zunächst
unrichtig gestellter Antrag erst infolge seiner späteren
Nachbesserung zur Verfahrenseröffnung führt.
Als Folge konnte § 15a Absatz 4 InsO zunächst ver-
einfacht werden, indem – wie im bislang noch geltenden
Recht – nur noch auf die „nicht richtige“ Stellung des
Insolvenzantrages abgestellt wird . Das Stellen eines un-
richtigen Insolvenzantrags ist damit zunächst unabhängig
davon strafbar, ob dem Antragsteller ein entsprechender
Hinweis nach dem auch neu zu fassenden § 13 Absatz 3
InsO gegeben wurde oder er sonst Kenntnis davon erhal-
ten hat . Allerdings wollen wir die Strafbarkeit, wie im
neuen § 15a Absatz 6 InsO vorgeschlagen, jetzt an die
„objektive Bedingung“ knüpfen, dass das Insolvenzge-
richt den gestellten Antrag auch tatsächlich als unzuläs-
sig zurückweist . Eine Strafbarkeit soll danach künftig
nur noch dann in Betracht kommen, wenn der Antragstel-
ler einen entsprechenden gerichtlichen Hinweis mit dem
Ziel einer Nachbesserung binnen einer gesetzten Frist
missachtet oder ihn nicht richtig umsetzt, der Antrag also
unzulässig bleibt .
Drittens . In der ersten Lesung zum Gesetzentwurf
hatte ich darauf hingewiesen, dass es im Bereich der In-
solvenzantragspflicht noch weiteren Handlungsbedarf,
insbesondere für den Bereich der „Gründungsfinanzie-
rung“ gibt; meine Fraktion hatte hierzu entsprechende
Formulierungsvorschläge vorgelegt . Alle genannten
Sachverständigen haben diese Einschätzung in dem er-
wähnten Berichterstattergespräch geteilt, insbesondere
was den Vorschlag angeht, die Strafbarkeit wegen Ver-
letzung der Insolvenzantragspflicht nur noch auf Antrag
zu verfolgen . In diesem Punkt abweichend von unserem
Vorschlag ergab sich dort zudem ein relativ weit reichen-
der Konsens, dass es Sinn machen könnte, die Antragsbe-
rechtigung in die Hände des Insolvenzrichters zu legen .
Bedauerlicherweise war unser Koalitionspartner un-
ter Verweis auf die Position des Bundesministeriums der
Justiz und für Verbraucherschutz nicht bereit, diese – ei-
gentlich recht einfache – Änderung in diesem Gesetzge-
bungsverfahren zu verwirklichen . Dass die ebenfalls un-
sererseits vorgeschlagenen Änderungen im Bereich des
Überschuldungsbegriffs (§ 19 InsO) breit diskutiert wer-
den müssen, ist zwar richtig . Ich meine aber: Diese Dis-
kussion haben wir schon lange geführt, und wir sollten
jungen Unternehmensgründern nicht noch weiter Steine
in den Weg legen .
Ich bitte um Zustimmung zu dem Gesetzentwurf .
Alexander Hoffmann (CDU/CSU): Das deutsche
Insolvenzrecht unternimmt den Versuch, in der schwieri-
gen Situation der Zahlungsunfähigkeit zu einem gerech-
ten Ausgleich der unterschiedlichen Interessen zu kom-
men, die im Raum stehen . Dabei geht es auch um den
Schutz des Rechtsverkehrs und der Allgemeinheit . Den-
noch muss der Rechtsstaat der Versuchung widerstehen,
zu diesem Schutzzweck übertriebene Anforderungen
zu stellen. Dies betrifft insbesondere die Frage, welche
Anforderungen an einen Insolvenzantrag zu stellen sind .
Deshalb bin ich froh, dass der vorliegende Entwurf hier
für Klarheit in der Praxis sorgen wird .
Zudem ziehen Veränderungen der Märkte und der
praktischen Handhabe auch immer wieder Änderungs-
und Anpassungsbedarf in der Rechtsordnung nach sich .
Ziel ist, die Rechtsordnung an die Herausforderungen
unserer Zeit anzupassen .
Im Mittelpunkt steht zunächst eine Neufassung des
§ 15a Insolvenzordnung . Die Tatbestandsalternative des
„nicht richtig“ gestellten Insolvenzantrags wird gestri-
chen werden . Stattdessen erfolgt eine Neustrukturierung
des Absatzes 2 . Eine Strafbarkeit wegen eines rechtzeitig,
aber nicht richtig gestellten Insolvenzantrags soll dem-
nach nur noch dann vorliegen, wenn der antragstellende
Schuldner seinen Antrag innerhalb von drei Wochen ab
Zustellung einer richterlichen Aufforderung nicht nach-
bessert . Diese Neuregelung verklart und konkretisiert
damit in erfreulicher Art und Weise die bisherige Rechts-
praxis und verändert diese Sachfrage sachgerecht und
angemessen .
Daneben werden weitere Unklarheiten beseitigt, die
in der bisherigen Rechtspraxis seit der letzten EU-Ver-
ordnung durch die Rechtsprechung aufgeworfen wurden .
Auch hier enthält der vorliegende Entwurf zahlreiche
weitere Verbesserungen in der Praxis .
Ich bin dem Kollegen Hirte sehr dankbar, dass er im
parlamentarischen Verfahren eine weitere praktische He-
rausforderung aufgeworfen hat: Gerade im Bereich der
Start-ups und der Gründungen besteht immer wieder
das Problem, dass dort die Finanzausstattung von Tag
zu Tag stark schwanken kann – gerade dann, wenn die
Neugründung auch ohne ein großes Polster an Eigenka-
pital gewagt wird . Umgekehrt wünschen wir uns aber
am Technologie- und Forschungsstandort Deutschland
Gründergeist und Start-up-Initiativen .
Leider sind wir hier in den parlamentarischen Bera-
tungen mit unserem Koalitionspartner nicht weiter ge-
kommen . Um Missverständnisse auszuräumen: Es geht
bei dieser Frage nicht um eine Aufweichung des Insol-
venzrechts, sondern um eine praxistaugliche Ausrich-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 23393
(A) (C)
(B) (D)
tung – ein Ansatz, den wir über die heutige Anpassung
hinaus nicht aus den Augen verlieren sollten .
Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD): Mit der heutigen
Debatte schließen wir eine gute Sache ab . Ich kann sehr
stolz sagen, dass wir den Prüfauftrag, den wir im Koaliti-
onsvertrag vereinbart haben, mit dem Gesetz zur Durch-
führung der EU-Verordnung über Insolvenzverfahren
vollständig erfüllt haben . Es ist uns nicht nur gelungen,
unterschiedliche Schwachstellen in den bisherigen Vor-
schriften zu finden und diese nachzubessern, nein, es ist
auch gelungen, die deutsche Insolvenzordnung in Ein-
klang mit den europäischen Vorschriften zu bringen .
Einer Umsetzung in das deutsche Recht bedarf die
Verordnung nicht; das Gesetz passt aber die Bestim-
mungen der Neufassung in das deutsche Verfahrensrecht
ein . Es sieht insbesondere die Einführung eines neuen
Artikels 102c EGInsO vor, der sich an den geltenden
Bestimmungen des Artikels 102 EGInsO orientiert . Der
neue Artikel 102c EGInsO enthält insbesondere Bestim-
mungen zu den in der Neufassung erstmals vorgesehenen
Rechtsbehelfen und gerichtlichen Entscheidungen, zur
örtlichen Zuständigkeit bei sogenannten Annexklagen,
zu verfahrensrechtlichen Einzelheiten der Abwicklung
von Sekundärinsolvenzverfahren und zu Einzelfragen
bei der Bewältigung der Insolvenz der Mitglieder von
Unternehmensgruppen .
Wie es zu einer ordentlichen Gesetzgebung gehört,
wurden Expertenmeinungen auch hier nicht außer Acht
gelassen . Nach dem intensiven fachlichen Austausch der
Sachverständigen wurden durch den Änderungsantrag
weitere Nachbesserungen eingepflegt. Bemerkenswert
war jedoch, dass sämtliche Sachverständige den Regie-
rungsentwurf als durchaus gelungen bezeichneten . Die-
ses Lob gebe ich gerne an Bundesminister Maas und sein
Haus weiter . Darüber hinaus wurde das vom Bundestag
am 9 . März 2017 mühsam verabschiedete Gesetz zur Er-
leichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen
eingepflegt.
Die Ausschussberatungen haben gezeigt, dass die Re-
gelungen des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zur
Insolvenzverschleppung (§§ 13, 15a der Insolvenzord-
nung in der Entwurfsfassung – InsO-E) Anlass geben,
das Insolvenzstrafrecht weitergehend und grundlegend
zu ändern . In der nun geänderten Fassung sieht § 13 Ab-
satz 3 InsO-E vor, dass das Gericht den Antragsteller im
Falle der Unzulässigkeit des gestellten Antrags auf die
Unzulässigkeit hinweist und ihm Gelegenheit gibt, den
Mangel binnen einer angemessenen Frist zu beheben .
Das ist gut und richtig . Mit der Anknüpfung an die Un-
zulässigkeit des Antrags stellt § 13 Absatz 3 InsO-E in
seiner geänderten Fassung klar, dass eine Unvollständig-
keit des Antrags nur dann relevant ist, wenn die fehlende
Angabe zu den Zulässigkeitsvoraussetzungen gehört .
Mit den Änderungen des § 15a InsO-E soll sicherge-
stellt werden, dass das Stellen eines unrichtigen Eröff-
nungsantrags unabhängig davon strafbar sein kann, ob
dem Antragsteller der gerichtliche Hinweis im Sinne
von § 13 Absatz 3 InsO-E zugestellt worden ist oder der
Antragsteller auf sonstige Weise von diesem Kenntnis
erlangt . Die Strafbarkeit wird allerdings an die objekti-
ve Bedingung geknüpft, dass das Gericht den Antrag als
unzulässig zurückweist .
Ich freue mich ausdrücklich, dass die konstruktive
Zusammenarbeit aller Beteiligten zu einen guten Ergeb-
nis geführt hat . Es bedeutet aber nicht, dass wir weitere
Entwicklungen nicht berücksichtigen werden . Nach der
Evaluierung des Gesetzes zur weiteren Erleichterung der
Sanierung von Unternehmen ist es nicht ausgeschlossen,
ich meine sogar erwartbar, dass wir erneut nachsteuern
müssen . Aber auch hier gilt der Grundsatz allen Han-
delns: Das Einzige, was gewiss ist, ist die Veränderung .
Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Seit Inkrafttreten
der Europäischen Insolvenzverordnung 1346/2000 im
Jahr 2002 besteht in der Europäischen Union ein einheit-
licher Rechtsrahmen für die Behandlung von grenzüber-
schreitenden Insolvenzen . Aus dem 2012 von der Euro-
päischen Kommission vorgelegten Evaluationsbericht
zur Europäischen Insolvenzverordnung ist die Verord-
nung 2015/848 hervorgegangen, die am 26 . Juni 2017 in
Kraft tritt und die bisherigen Regelungen der Europäi-
schen Insolvenzverordnung neu fasst .
Bei den Regelungen handelt es sich nicht um eine
Anpassung oder Vereinheitlichung der nationalen Vor-
schriften zum jeweiligen Insolvenzrecht, sondern über-
wiegend um Kollisions- und Verfahrensregeln, um die
unterschiedlichen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten
so zu verzahnen, dass grenzüberschreitende Insolvenzen
im Binnenmarkt besser bewältigt werden können . Es
werden damit unter anderem Fragen der Gerichtszustän-
digkeit, der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit so-
wie des im Einzelfall anwendbaren Rechts beantwortet .
Europäische Verordnungen wie die Insolvenzverord-
nung sind Rechtsakte, die in jedem Mitgliedstaat unmit-
telbar als Gesetz gelten . Im Gegensatz zu Richtlinien
bedürfen sie keiner Umsetzung in nationales Recht und
lassen keine nennenswerten Spielräume für den nationa-
len Gesetzgeber offen.
Der deutsche Gesetzgeber nahm das Inkrafttreten der
Europäischen Insolvenzverordnung dennoch zum An-
lass, im deutschen Recht Verfahrensvorschriften aufzu-
nehmen, um das nationale Insolvenzrecht besser in die
vorgeschriebenen Verfahrensabläufe des Unionsrechts
einzupassen .
Auch das vorliegende Gesetz ist ein solches Durch-
führungsgesetz, das die Änderungen der Europäischen
Insolvenzverordnung aufgreift .
Es ist eine undankbare Aufgabe für Abgeordnete,
zu einem solchen Gesetz zu debattieren . Zwar ist das
internationale Insolvenzrecht durchaus eine praktisch
relevante und spannende Materie . Doch die laut zu ver-
nehmende Kritik an Einzelregelungen der Europäischen
Insolvenzverordnung muss in Brüssel debattiert werden .
Hier im Deutschen Bundestag müssen wir uns auf das
Durchführungsgesetz beschränken . Und selbst wenn es,
wie bei jedem Gesetz selbstverständlich auch hier, auf
eine ordentliche handwerkliche Umsetzung ankommt –
praktische Relevanz haben die Regelungen im Zweifels-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 201723394
(A) (C)
(B) (D)
fall nicht, da die Europäische Verordnung Vorrang hat
und alleiniger Maßstab bei der Bewältigung auftretender
Rechtsprobleme ist .
Insgesamt ist die Fachwelt, die täglich mit dem Gesetz
konfrontiert ist, mit den Durchführungsvorschriften ein-
verstanden . Wir begrüßen, dass sich die Koalitionsfrak-
tionen im Rechtsausschuss die Verbesserungsvorschläge
der Praktiker zu Herzen genommen und entsprechend
nachgebessert haben .
Besonders begrüßen wir die in der Beschlussempfeh-
lung dargelegte Einsicht, nicht das gesamte Insolvenz-
strafrecht auch noch im Zuge dieses Gesetzgebungsvor-
habens und allein aufgrund von Ausschussberatungen
umfassend zu reformieren – eine Einsicht, die bei ande-
ren Vorhaben in diesem Hause leider nicht häufig zu be-
obachten ist . Die von meinem Kollegen Professor Hirte
in den Beratungen zur Diskussion gestellten Vorschläge
zur Begrenzung der Strafbarkeit im Rahmen von Insol-
venzen sind rechtspolitisch diskussionswürdig, bedürfen
aber intensiverer Beratungen in einem eigenständigen
Gesetzgebungsvorhaben .
Abschließend bleibt anzumerken, dass die vom
Rechtsausschuss hier empfohlene Änderung des § 15a
InsO – Insolvenzverschleppung – gegenüber dem Regie-
rungsentwurf ein erster richtiger Schritt zu mehr Klarheit
und Bestimmtheit der Norm ist .
Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Diesen
Gesetzentwurf hätten wir eigentlich bereits im März in
abschließender Lesung gemeinsam mit dem Konzernin-
solvenzrecht behandeln können .
Gleich zu Beginn möchte ich vorwegnehmen, dass ich
dem Gesetzentwurf in seiner jetzigen Fassung zustim-
men werde .
Er dient im Wesentlichen der Durchführung der
EU-Verordnung vom 20 . Mai 2015 über Insolvenzver-
fahren und löst die bestehende Verordnung aus dem
Jahr 2000 für neu zu eröffnende Insolvenzverfahren ab.
Das Gesetz passt das deutsche Verfahrensrecht an die
neue EU-Verordnung an und schafft in Zeiten zuneh-
mender grenzüberschreitender Handelsbeziehungen ein-
heitliche Regelungen für die Abwicklung in der EU im
Falle des wirtschaftlichen Scheiterns . Die Umsetzung
des europäischen Rechts in nationales Recht wird zum
Anlass genommen, auch die Regelungen zur Insolvenz-
verschleppung zu reformieren .
Eine Strafbarkeit wegen Insolvenzverschleppung wird
nach dem neu eingefügten Absatz 6 in § 15a InsO auf die
Fälle beschränkt, in denen der Antragsmangel dazu führt,
dass das Gericht den Antrag auf Eröffnung des Insol-
venzverfahrens rechtskräftig zurückweist . Die Strafbar-
keit tritt also nur noch dann ein, wenn der Antragsteller
den Eröffnungsantrag nach einem erteilten gerichtlichen
Hinweis nicht nachbessert oder wenn die entsprechende
Nachbesserung nicht zur Zulässigkeit des Eröffnungsan-
trags führt und die Chance zur Antragsberichtigung so-
mit ungenutzt bleibt .
Das bloße „nicht richtige“ Stellen eines Antrags ge-
nügt anders als bisher also nicht mehr für die Strafbarkeit
und trägt in sinnvoller Weise dem Umstand Rechnung,
dass das Verfahren der Insolvenzeröffnung sehr komplex
ist . Für den Laien ist es oftmals kaum durchschaubar,
welche Angaben für eine wirksame Verfahrenseröffnung
erforderlich sind . Nach dem gerichtlichen Hinweis ist der
Antragsteller damit im Bilde und in der Lage, die fehlen-
den Angaben zu ergänzen .
In der im vorigen Entwurf vorgesehenen Fassung soll-
te bereits der „nicht vollständig“ gestellte Antrag eine
Strafbarkeit begründen, wenn dieser nicht innerhalb einer
Frist von drei Wochen nach Zustellung ergänzt wird . Das
hätte gegenüber der jetzigen Rechtslage keine Verbesse-
rung gebracht . Von daher ist es zu begrüßen, dass sich die
Koalition an dieser Stelle doch noch durchgerungen hat,
eine Strafvorschrift zu entschärfen . Angesichts der Fülle
an neuen Straftatbeständen und Strafverschärfungen, die
Sie in den letzten Monaten hier verabschiedet haben, ist
jede Strafentschärfung mal eine erfreuliche Nachricht . In
diesem Fall wurden die Sachverständigen, die als Prak-
tiker näher an der Materie dran sind und die alltäglichen
Probleme in der praktischen Umsetzung kennen, mit
ihren Vorschlägen ausnahmsweise mal gehört, und ihre
vorgeschlagenen Änderungen haben teilweise Eingang
in das Gesetz gefunden . Daher hat sich das Expertenge-
spräch in diesem Fall doch sehr gelohnt .
Trotzdem bleibt das Grundproblem bei den Insolvenz-
anträgen aber bestehen . Wir müssen von vornherein
mehr zulässige Anträge schaffen, indem das Verfahren
an sich vereinfacht wird und den Antragstellern mehr
Hilfen etwa bei der Antragstellung zur Verfügung ge-
stellt werden . Es wäre ja auch zu schade, wenn es in der
nächsten Legislaturperiode keinen Anlass mehr gäbe, das
Insolvenzrecht auf die Tagesordnung zu setzen . Ich be-
fürchte allerdings, dass wir an diesen Anlässen auch in
der nächsten Periode keinen Mangel haben werden .
Anlage 10
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zu bereichsspe-
zifischen Regelungen der Gesichtsverhüllung (Ta-
gesordnungspunkt 27)
Robert Hochbaum (CDU/CSU): Der heute ver-
handelte Gesetzentwurf ist von größerer Bedeutung für
unsere Bundeswehr . Denn neben jenen Regelungen zur
Gesichtsverhüllung wird er auch die Neuregelung des
Auslandsverwendungszuschlags umfassen . Und dieser
ist insbesondere für unsere Soldatinnen und Soldaten be-
deutsam, die fernab ihrer Heimat Dienst leisten .
Es ist ja kein Geheimnis, dass sich die Sicherheitsla-
ge, auch in Europa, verändert hat . Zu Recht wurde in der
Vergangenheit von verschiedenen Seiten nachdrücklich
darauf hingewiesen, dass Deutschland diesen veränder-
ten Bedingungen vielfach Rechnung tragen muss .
Wenn nun besonders unsere östlichen NATO-Part-
ner in Sorge sind und auf den entschlossenen Beistand
ihrer Verbündeten hoffen, so ist es nur natürlich, wenn
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 23395
(A) (C)
(B) (D)
Deutschland diese Sorgen ernst nimmt und entsprechend
handelt . Deshalb sind zum Beispiel auch Einheiten der
Bundeswehr in das Baltikum entsandt worden . Diese Art
von Aufträgen bezeichnen wir als einsatzgleiche Ver-
pflichtungen, und sie werfen die Frage auf, wie wir sie
unseren Soldatinnen und Soldaten vergüten sollen .
Aktuell wird der AVZ ja nur denjenigen Frauen und
Männern gewährt, die sich in mandatierten Einsätzen
befinden. Einsatzgleiche Verpflichtungen werden jedoch
nicht entsprechend vergütet . Momentan werden sie durch
Auslandsdienstbezüge oder durch Vergütung zeitlicher
Mehrleistung abgegolten . Das sollte kein dauerhafter
Zustand bleiben! Denn damit entsteht ein prinzipieller
Unterschied zwischen Soldatinnen und Soldaten in ähn-
lichen Gebieten und mit ähnlicher Belastung . Das führt
zum Beispiel zu Ungerechtigkeiten bei Soldatinnen und
Soldaten, die im Baltikum eingesetzt sind, oder jenen
Marineangehörigen, die in der Ägäis gegen das Schlep-
perwesen engagiert sind . Auch diese Frauen und Männer
sind über Wochen und Monate von zu Hause, von ihren
Familien, getrennt . Auch sie sind täglich harten Bedin-
gungen ausgesetzt, die sich nicht gravierend von denen
mandatierter Einsätze unterscheiden .
Völlig zu Recht hat unsere Ministerin betont, dass es
eine Frage der Gerechtigkeit ist, wenn auch für diese ein-
satzgleichen Verpflichtungen der AVZ gewährt wird. Es
ist unser Auftrag, dem heute nachzukommen .
Wenn nun von manchen gefordert wird, dass die Zah-
lung dieser Vergütung auch rückwirkend gilt, so mag dies
durchaus nachvollziehbar sein . So verständlich es aber
ist, so muss doch festgehalten werden – und das Bun-
desministerium der Justiz hat es bestätigt –: Ein rückwir-
kendes Inkrafttreten ist ein Fall der echten Rückwirkung .
Und dieser ist grundsätzlich verfassungsrechtlich unzu-
lässig . Dieses Rückwirkungsverbot zu ignorieren, mag
die Absicht auch noch so edel sein, hieße nichts anderes,
als geltendes Recht bewusst zu ignorieren . Das ist sicher
nicht Ziel dieses Vorstoßes und dient auch nicht den da-
mit verbundenen Absichten .
Jedes Gesetz entsteht in einem Prozess des Austauschs
von Interessen und des Findens von Kompromissen . Der
hier vorliegende Gesetzentwurf ist ein wichtiger Schritt
im Interesse unserer Soldatinnen und Soldaten und unse-
rer Sicherheitspolitik .
Wenn wir uns mit diesen Themen befassen, so dürfen
wir nicht vergessen: Sicherheit und Frieden in Deutsch-
land werden nicht zuletzt durch die Soldatinnen und Sol-
daten gewährleistet, die oft unter zahlreichen Risiken und
mit größtem persönlichem Einsatz täglich ihren Dienst
verrichten. Darum sollten wir uns ihnen verpflichtet füh-
len . Ich bitte um Ihre Zustimmung zum Gesetzentwurf .
Dr. Tim Ostermann (CDU/CSU): Zum Abschluss
des parlamentarischen Verfahrens zu den bereichsspezi-
fischen Regelungen der Gesichtsverhüllung möchte ich
die Gelegenheit nutzen, meine Zustimmung zu dem Ge-
setzentwurf einschließlich der Änderungen, die wir von
der CDU/CSU-Fraktion gemeinsam mit unserem Koali-
tionspartner eingebracht haben, zu erläutern .
Demnach dürfen Beamtinnen und Beamte sowie Sol-
datinnen und Soldaten bei Ausübung ihres Dienstes so-
wie bei Tätigkeiten mit unmittelbarem Dienstbezug ihr
Gesicht nicht verhüllen . Ausnahmen sind nur aus dienst-
lichen und gesundheitlichen Gründen möglich . Endlich
schaffen wir als Gesetzgeber eine klare Regelung, mit
der untersagt wird, aus weltanschaulich-religiösen Mo-
tiven in bestimmten Bereichen im Dienst das Gesicht zu
verhüllen. Wir leben in einer offenen Gesellschaft. Unser
Zusammenleben beruht darauf, dass man sich unterei-
nander offen begegnet. So ist es meiner Ansicht nach nur
folgerichtig, dass die Repräsentanten des Staates bei der
Ausübung ihrer Tätigkeit Offenheit zeigen und dadurch
zur Vertrauensbildung beitragen . Dies ist mit einem ver-
hüllten Gesicht nicht möglich .
Aus dem gleichen Grund finden sich im vorliegen-
den Gesetzentwurf Verbote der Gesichtsverhüllung auch
für Mitglieder der Wahlausschüsse und Bürger, die ihre
Stimme abgeben möchten . Es muss zu jeder Zeit ein Ab-
gleich des Gesichts mit einem Ausweispapier möglich
sein .
Für mich ist dies eigentlich eine Selbstverständlich-
keit . Keiner, der sich in unserem Land aufhält, kann sich
einer Identitätsfeststellung entziehen . Dies werden wir
nun im Personalausweisgesetz regeln .
Wir haben uns in den Beratungen zu dem Gesetzent-
wurf darauf geeinigt, das Verfahren dazu zu nutzen, wei-
tere dienstrechtliche Regelungen zu treffen. Ich möchte
hierzu einzelne Punkte herausgreifen:
Um den Dienstbetrieb und die Einsätze der Bundes-
wehrfeuerwehr weiterhin sicherzustellen, werden wir
eine kurzfristige Verlängerung der bis 2017 befristeten
Opt-out-Regelung der Arbeitszeitverordnung festlegen .
Die freiwillige Erhöhung der Arbeitszeit für Feuerwehr-
leute der Bundeswehr wird bis Ende 2019 gelten .
Mit einer Änderung des Beamtenversorgungsgesetzes
bezüglich der Ruhensregelung für Renten aus der Al-
terssicherung der Landwirte haben wir den Forderungen
des Bundesrechnungshofes und des Rechnungsprüfungs-
ausschusses des Deutschen Bundestages Rechnung ge-
tragen . Nunmehr unterliegt künftig die Anrechnung von
Renten aus der Alterssicherung für Landwirte auf die be-
amtenrechtlichen Versorgungsbezüge nicht der Ruhens-
regelung .
Eine Verbesserung für unsere Bundeswehrsoldaten
wird durch eine Änderung des Beamtenbesoldungsge-
setzes erfolgen . Verwendungen von Bundeswehrsolda-
ten sollen künftig einheitlich mit dem Auslandsverwen-
dungszuschlag abgegolten werden . Damit werden die
bislang für vergleichbare Verwendungen mit vergleich-
baren Belastungen in unterschiedlicher Höhe gezahlten
Bezüge auf einen einheitlichen Satz gebracht .
Viele notwendige Neuerungen im Zuständigkeitsbe-
reich des Innenressorts werden mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf angegangen und sinnvoll umgesetzt . Den
Kern des Entwurfes bilden aber die bereichsspezifischen
Regelungen der Gesichtsverhüllung . Wir von der Uni-
onsfraktion im Deutschen Bundestag sind davon über-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 201723396
(A) (C)
(B) (D)
zeugt, dass wir mit dem Gesetz das richtige Signal an
unsere Gesellschaft senden .
Ich möchte noch einmal verdeutlichen: In der Burka
oder Nikab sehen wir ein Integrationshemmnis . Für mich
bedeutet Integration auch, dass wir unsere Werte und die
Grenzen unserer Toleranz gegenüber anderen Kulturen
deutlich machen . Der vorliegende Gesetzentwurf leistet
hierzu einen wertvollen Beitrag .
Dr. Lars Castellucci (SPD): Wir beraten heute den
Gesetzentwurf zur bereichsspezifischen Regelung der
Gesichtsverhüllung in zweiter und dritter Lesung . Im
Zusammenhang mit diesem Gesetzentwurf wurde in
der Diskussion gerne argumentiert, dies sei Symbolpo-
litik oder symbolische Politik. Dabei wird der Begriff
„symbolische Politik“ meist unpräzise und oft abfällig
verwendet . Es ist deshalb sehr erhellend, sich einmal mit
den theoretischen Konzeptionen zur symbolischen Poli-
tik zu beschäftigen .
Grundlegend für das Verständnis des Begriffs ist das
auf Murray Edelman zurückgehende Konzept der „sym-
bolischen Politik“ . Edelmans Ansatz geht von einer Dop-
pelung der politischen Realität aus . Darunter versteht er,
dass alle politischen Handlungen und Ereignisse gekenn-
zeichnet sind durch die Trennung in eine instrumentelle
Dimension bzw . einen Nennwert – also die tatsächlichen
Effekte der politischen Handlung – und eine expressive
Dimension bzw . einen dramaturgischen Symbolwert –
die Darstellung der Handlung für die Öffentlichkeit.
In unserem Fall beschreibt gerade diese Zweiteilung –
Nennwert und Symbolwert – die Problematik recht gut .
Denn im Nennwert, also bei der Frage, was der tatsächli-
che Effekt dieses Gesetzes ist, ist relativ wenig geregelt,
das den Alltag der Menschen in unserem Land betrifft. Es
gibt nach unseren Erkenntnissen kaum Soldatinnen, die
eine Burka tragen wollen . Auch in den Wahllokalen zur
Bundestagswahl waren vollverschleierte Frauen bisher
nicht als Problem aufgefallen, soweit mir das bekannt ist .
Insofern regelt der Entwurf vor allem Probleme, die nur
am Rande und in vernachlässigenswerten Größenord-
nungen und Fallzahlen vorkommen .
Auf der anderen Seite ist der Symbolwert recht hoch,
denn wir zeigen damit unsere Missbilligung für eine sol-
che Verschleierung und Entpersonalisierung von Frauen
an . Wir zeigen damit auf, dass wir – wo wir können – die
offene Gesellschaft auch leben wollen und wir deshalb
auch eine gewisse Offenheit von anderen erwarten bzw.
erhoffen.
Zudem können sich die Verfechterinnen und Verfech-
ter dieses Antrags der Unterstützung der Mehrheit der
Bevölkerung sicher sein: Nach einer ARD-Umfrage sind
bis zu 80 Prozent der Deutschen für ein Burkaverbot;
rund 50 Prozent für ein generelles Verbot und immerhin
31 Prozent für ein teilweises Verbot etwa im öffentlichen
Dienst und in Schulen .
Häufig werden dafür Gründe wie Integration und die
Wahrung westlicher Werte angeführt . Vollschleier wie
Burka oder Nikab werden als Zeichen der Unterdrückung
der Frauen angesehen, als Zeichen einer patriarchalen
Gesellschaft, als Hindernis der Integration und des wech-
selseitigen Austausches . Das mag alles stimmen – und
in der Tat ist es schwierig, mit einem Gegenüber, das als
Individuum quasi unsichtbar ist, in Kontakt zu treten . Die
Frage ist allerdings, inwiefern Kleiderverbote und Buß-
geldverfahren kulturelle Differenzen aufbrechen sollen,
geschweige denn Wege der Integration öffnen.
Aber wenn wir bei den Umfragezahlen bleiben, wür-
den wir also das Bedürfnis der Mehrheit der Bürgerin-
nen und Bürger bedienen, wenn wir ein Gesetz erlassen
würden, das die Burka verbieten soll, und könnten zur
Tagesordnung übergehen .
Ich möchte jedoch nochmals etwas differenzierter
auf die Diskussion eingehen, die sich um ein Burkaver-
bot in den letzten Jahren entsponnen hat . Der Innenmi-
nister Dr . de Maizière hat im Dezember 2015 der Welt
am Sonntag gesagt, dass er Bedenken gegen ein Burka-
verbot habe . Ein Verbot wäre kompliziert; zudem seien
viele Verfassungsrechtler der Meinung, dass ein solches
Verbot vor dem Bundesverfassungsgericht nicht Bestand
haben würde, so der Minister damals, und man könne
schließlich nicht alles verbieten, was einem nicht gefällt .
Hier kann ich Herrn de Maizière nur recht geben .
Auch ich denke, dass wir ein generelles Verbot nicht
verfassungskonform erreichen können . Daher haben wir
uns auf einen eher symbolträchtigen Verbotskatalog ge-
einigt, der niemanden in seinen religiösen Selbstbestim-
mungsrechten verletzt . Verbunden ist dies aber mit einem
starken Appell, dass Integration nur gelingen kann, wenn
beide Seiten aufeinander zugehen und Offenheit nicht
nur vom Gegenüber erwartet wird .
Zum Schluss noch einige Worte zu den Vorwürfen, wir
würden mit dem Verschleierungsverbot das Geschäft der
AfD betreiben und antimuslimische Ressentiments ver-
stärken . Aus meiner Sicht sollte es schon möglich sein,
Dinge anzusprechen und Debatten zu initiieren . Denn
nur so schaffen wir ein Verständnis auch füreinander –
für unsere Gemeinsamkeiten und unsere Differenzen. In
den Debatten zur Verschleierung wurde sehr viel darüber
gesprochen, was dies für die Frauen bedeutet und dass
sie dadurch unterdrückt werden; auch ich habe mich in
dieser Richtung geäußert . Aber: Hat irgendwer von uns
auch mit diesen Frauen gesprochen? Oder nehmen wir
das einfach auf Basis unseres – vermeintlichen – Wissens
an? Ich bin überzeugt, dass auf dieser Ebene viel eher
eine Lösung und Verständigung zu erreichen ist als durch
Verbote und Strafen .
Deshalb hoffe ich, dass wir mit diesem Gesetz nicht
das Ende der Debatte erreicht haben, sondern sie im Ge-
genteil erst beginnen . Diese Debatte müssen wir aber
mit den Menschen führen, die davon betroffen sind und
die uns etwas dazu sagen können . Denn sonst ist das nur
eine selbstreferenzielle Ausgrenzung von Personen und
Lebensstilen, die an der Debatte nicht beteiligt werden .
Ulla Jelpke (DIE LINKE): Die Bundesregierung will
mit dem Entwurf eines Gesetzes zu bereichsspezifischen
Regelungen der Gesichtsverhüllung verbieten, dass Be-
amtinnen und Beamten während ihres Dienstes ihr Ge-
sicht verbergen .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 23397
(A) (C)
(B) (D)
Neue Gesetze werden in der Regel beschlossen, weil
ein gesellschaftliches Problem erkannt wurde, dem zu-
mindest nach Meinung der Regierenden mit den bishe-
rigen Gesetzen nicht beizukommen ist . Doch im vorlie-
genden Fall haben wir es mit einer Gesetzesinitiative zu
tun, der keinerlei reelles Problem zugrunde liegt . Es geht
hier um rein ideologisch motivierte Propaganda . Union
und SPD lassen sich hier vor den Karren der AfD span-
nen . Zum Glück nicht im Bund, aber auf Länderebene in
Sachsen-Anhalt machen da sogar die Grünen mit . Und
das ist nicht nur peinlich, das ist regelrecht gefährlich!
Denn auch wenn es nicht so explizit im Gesetzestext
genannt ist, so ist doch jedem klar, dass es beim geplan-
ten Verbot um gesichtsverhüllende Schleier muslimi-
scher Frauen geht . In letzter Zeit ist oft von Fake News
die Rede . Doch bei der Debatte um ein sogenanntes Bur-
kaverbot haben wir es mit noch weniger als Fake News
zu tun, nämlich mit gar keinen, auch keinen erfundenen
Fakten . Denn die Bundesregierung konnte bislang kein
einziges praktisches Beispiel für die Notwendigkeit die-
ses Gesetzes anführen .
Amtliche Statistiken darüber, wie viele Frauen in
Deutschland Nikab oder gar Burka tragen, gibt es nicht,
da hier zum Glück – noch? – keine Meldepflicht besteht.
Die niedrigsten Schätzungen liegen bei 200 bis 300 Bur-
katrägerinnen, wobei hier wohl nicht zwischen der af-
ghanischen Burka und dem wenigstens die Augen frei-
lassenden Nikab unterschieden wird . Der Betreiber der
Website www .burkaverbot .de kommt auf eine Zahl von
4 000 bis 6 500 Mitgliedern der Nikabi-Gemeinschaft,
also aus religiösen Gründen vollverschleierten Mädchen
und Frauen in Deutschland . Die Zahl beinhaltet auch
Flüchtlinge und arabische Touristinnen sowie andere nur
vorübergehend in Deutschland aufhältige Muslimas mit
Gesichtsschleier, die sich garantiert nicht um eine Stelle
im öffentlichen Dienst bewerben werden. Die Website
www .burkaverbot .de setzt sich übrigens entgegen ihrem
Namen für das Recht der Muslimas auf freie Religions-
ausübung einschließlich des Rechts auf Vollverschleie-
rung ein und will Fakten zu dieser Debatte liefern .
Egal welche dieser Zahlen wir nehmen: Es geht hier
nur um eine verschwindend geringe Zahl unter den rund
2 Millionen Muslimas in Deutschland, die sich überhaupt
zumindest zeitweilig vollständig verschleiern . Wie vie-
le in ihrer Freizeit vollverschleierte Frauen als Bundes-
beamtinnen tätig sind, ist nicht bekannt . Auf jeden Fall
habe ich noch von keinem einzigen Fall gehört, in dem
eine Beamtin tatsächlich vollverschleiert zum Dienst er-
schienen ist .
Entweder haben wir es also mit einem unnötigen Vor-
ratsgesetz für einen bislang nicht eingetretenen hypothe-
tischen Fall zu tun oder sogar mit einem rechtlich unzu-
lässigen Einzelfallgesetz . Beides ist abzulehnen .
Nach Ansicht der Bundesregierung steht eine Ge-
sichtsverhüllung einer „vertrauensvollen Kommunikati-
on der staatlichen Funktionsträger mit den Bürgerinnen
und Bürgern“ entgegen . Da diese Kommunikation heute
in vielen Fällen telefonisch, per Post oder E-Mail statt-
findet, kann der Bürger in der Regel gar nicht erfassen,
ob die Beamtin, mit der er kommuniziert, Minirock oder
Nikab trägt .
Eine Ausnahme ist mir freilich bekannt, und das sind
Mitglieder von Polizeisonderkommandos . Deren freilich
nicht religiös begründete Vermummung etwa am Rande
von Demonstrationen und zum Schutze von Großver-
anstaltungen stellt allerdings alles andere als eine „ver-
trauensvolle Kommunikation“ dar . Doch ein derartiges
einschüchterndes Auftreten von SEK-Polizisten wird ja
durch den vorliegenden Gesetzentwurf ausdrücklich ge-
deckt .
Wir haben es nicht nur mit einer Regelung zu tun, die
einfach nur sinnlos ist . Es ist schlimmer: Diese Regelung
trägt, genauso wie die zum Teil noch viel weiter gehen-
den Gesetze auf Landesebene, zur Stimmungsmache
gegen ganze Bevölkerungsgruppen bei . Denn hier wird
eine seit Jahren wachsende Muslim- und Islamfeind-
schaft weiter mit Nahrung versorgt . Und auch viele Mus-
lime und Muslimas, die selbst die Vollverschleierung
oder überhaupt das Kopftuch ablehnen, empfinden diese
Debatte zu Recht als ausgrenzend und diskriminierend .
Lassen Sie mich abschließend noch klarstellen, dass
ich persönlich nicht nachvollziehen kann, warum sich
eine Frau im Namen einer Religion gänzlich verhüllt .
Ich kann darin nichts Emanzipatorisches erkennen . Doch
letztlich müssen die Muslimas selbst entscheiden . Sollte
allerdings Zwang dabei sein – etwa durch männliche Fa-
milienmitglieder –, dann lehne ich das entschieden ab .
Frauen, die sich aus freier Entscheidung von Nikab oder
Burka oder auch nur dem einfachen Schleier lossagen
wollen, verdienen dabei jede moralische Unterstützung .
Sondergesetze wie das vorliegende sind aber gänzlich
ungeeignet zum Schutze der Rechte der betroffenen
Frauen. Daher lehnt die Linke dieses völlig überflüssi-
ge, aber gleichwohl in seiner Signalwirkung schädliche
Gesetz ab .
Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): „Wir
sollten bei den Regelungen bleiben, die wir haben, und
nicht neuen Unfrieden in unser Land bringen mit einer so
sehr spaltenden Diskussion“, so äußerte sich der Bundes-
innenminister noch im August letzten Jahres zum Thema
Burkaverbot . Dennoch wurde die Diskussion geführt, als
habe die Frage der Gesichtsverhüllung für die innere Si-
cherheit irgendeine Relevanz . Dem ist nicht so, und da-
von ist im vorliegenden Gesetzentwurf auch nicht mehr
die Rede .
Der Entwurf eines Gesetzes zu bereichsspezifischen
Regelungen der Gesichtsverhüllung datiert auf den
15 . Februar 2017, und es wäre wahrlich besser gewesen,
der Entwurf wäre früher vorgelegt worden; denn von den
markigen Forderungen aus den Reihen der schwarzen
Sheriffs bei CDU und CSU ist wahrlich nicht viel übrig
geblieben. Dennoch ist offen, ob es für die nun vorgeleg-
ten Regelungen, die sich insbesondere auf Bundesbeam-
tinnen, Soldatinnen und Richterinnen beziehen, je einen
möglichen Anwendungsfall gegeben hat .
Dieser Nachweis hätte jedoch geführt werden müs-
sen, denn die allgemeine Erfahrung deutet darauf hin,
dass die allgemeinen Regelungen für Beamte, Richter
http://www.burkaverbot.de
http://www.burkaverbot.de
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 201723398
(A) (C)
(B) (D)
und Soldaten ausreichen, im notwendigen Maß Fragen
der amts- und dienstangemessenen Bekleidung zu regeln .
Ohne diesen Nachweis stellt die Regelung – eben gerade
aufgrund dieser fehlenden Regelungsbedürftigkeit – in
ihrer speziellen Ausprägung eine ungerechtfertigte Vor-
verurteilung dar .
Dasselbe gilt für jene Regelungen des Entwurfs, die
die Identifizierung anhand von Lichtbildern regeln. Auch
hier ist nicht bekannt, dass es tatsächlich zu Anwen-
dungsfällen kommt, die aufgrund der bestehenden ge-
setzlichen Regelungen nicht zu lösen sind .
Anders verhält es sich jedoch hinsichtlich derjenigen
Regelungen, die gänzlich ohne Sachbezug zur Frage der
Gesichtsverhüllung zum ursprünglichen Antrag durch
den Änderungsantrag hinzugekommen sind . Eine An-
passung der Versorgungsregelungen insbesondere auch
für die Soldatinnen und Soldaten erscheint angezeigt .
Meine Fraktion hat dieses Anliegen durch einen eigenen
Änderungsantrag konstruktiv unterstützt . Die Verbin-
dung zweier völlig unterschiedlicher Sachfragen in einer
Initiative mag dem baldigen Ende der Legislaturperiode
geschuldet sein; für die öffentliche Wahrnehmung parla-
mentarischer Entscheidungen finde ich es wenig glück-
lich .
Anlage 11
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Siebten Gesetzes zur Än-
derung des Bundesfernstraßengesetzes (Tagesord-
nungspunkt 30)
Gero Storjohann (CDU/CSU): Die Verantwortung
für den Bau der Radverkehrsinfrastruktur liegt unstreitig
bei Land und Kommunen . 1,3 Milliarden Euro stellt der
Bund den Ländern als Entflechtungsmitteln unter ande-
rem auch für Radverkehr zur Verfügung . Diese bleiben
zum größten Teil für den Radverkehr ungenutzt . Daher
schieben wir als Bund das Thema Radschnellwege jetzt
an .
Mit einer erstmaligen Fördersumme von 25 Milli-
onen Euro im Haushaltsjahr 2017 für Radschnellwege
investieren wir in ein nachhaltiges und zukunftsfähiges
Verkehrssystem in Deutschland . Radschnellwege verei-
nen die Begriffe Mobilität und Modernität als ein neues
Instrument der Verkehrsplanung . Sie sind gerade für ur-
bane Räume und Metropolregionen geeignet . Denn Rad-
schnellwege sollen gezielt dazu genutzt werden, Quel-
le-Ziel-Verkehre zu zentrifugieren, Pendlerverkehre auf
das Fahrrad zu verlagern, Staus zu minimieren und den
Verkehr zu verflüssigen. Weiter dienen sie auch der Ent-
lastung des Bundesfernstraßennetzes, welches gerade in
Ballungsgebieten stark für Kurstrecken frequentiert wird .
Neben diesen vielen positiven Effekten auf den Ver-
kehr können durch Radschnellwege auch negative Ver-
kehrsfolgen wie Lärmbelastung und Schadstoffemissio-
nen stark minimiert werden . Im Klimaschutz liegt auch
der Kern für die Gesetzgebungskompetenz des Bundes
zur Schaffung einer bundesgesetzlichen Ermächtigungs-
grundlage zur Gewährung von Finanzhilfen für den Bau
von Radschnellwegen in fremder Straßenbaulast . Die
Ermächtigungsgrundlage folgt aus Artikel 104b Absatz 2
Satz 1 Grundgesetz . Nach diesem Artikel ist es möglich,
dass der Bund den Ländern Finanzhilfen für besondere
bedeutsame Investitionen gewährt . Für den vorliegenden
Fall des Baus von Radschnellwegen in der Baulast der
Länder und Gemeinden liegt diese bedeutsame Investiti-
on in Artikel 74 Absatz 1 Nummer 24 Grundgesetz, der
Luftreinhaltung .
Die Einführung von Radschnellwegen ist somit sehr
im Interesse des Bundes als Träger der Straßenbaulast für
Bundesfernstraßen . Zwar bestehen jetzt schon Möglich-
keiten, den Bau von Radwegen als Bestandteil von Bun-
desfernstraßen in der Baulast des Bundes zu finanzieren,
jedoch wird mit dem vorliegenden Gesetz nun ermöglicht
werden, sich finanziell am Bau von Radschnellwegen in
fremder Baulast, das heißt an Radverkehrswegen, welche
in der Baulast von Ländern, Gemeinden und Gemeinde-
verbänden stehen, durch die gezielte Gewährung von
Finanzhilfen zu beteiligen, mit dem Ziel, somit eine er-
höhte Umsetzung von Radverkehrsprojekten zu fördern .
Die Voraussetzungen für diese Finanzhilfen haben
wir bereits 2016 mit der Verabschiedung des Bundesver-
kehrswegeplanes 2030 geschaffen. Mit der Umsetzung
des vorliegenden Gesetzeses haben wir unseren Arbeits-
auftrag erfüllt und eine gesetzliche Grundlage zur Um-
setzung der Förderung von Radschnellwegen geschaf-
fen . Einzelheiten zu der Verteilung dieser Finanzmittel
regelt eine Verwaltungsvereinbarung, welche zwischen
Bund und Ländern jetzt geschlossen werden muss . Die-
se Verwaltungsvereinbarung wird bis zum Sommer 2017
erstellt werden, sodass es möglich sein wird, noch in die-
sem Jahr Finanzhilfen für Radschnellwege abzurufen .
Gegenstand dieser speziellen Förderung sind nicht
Radwege im Allgemeinen, sondern wirklich nur spezifi-
sche Radschnellwege .
Diese Radschnellwege werden durch speziel-
le Merkmale gekennzeichnet: bauliche Anforderun-
gen zur Gewährleistung eines schnellen Radverkehrs;
eine Prognosebelastung von in der Regel mindestens
2 000 Fahrradfahrten pro Tag; ein Fahrbahnquerschnitt
von in der Regel von 4 Metern Breite; Bildung eines zu-
sammenhängenden Netzes; alleiniger oder Mitbestand-
teil einer Radschnellwegeverbindung mit einer Mindest-
länge von in der Regel 10 Kilometern .
Es freut uns, dass auch der Bundesrat dieses Radver-
kehrsvorhaben so positiv unterstützt hat . Auf seine Forde-
rung der Herabsetzung der Mindestlänge auf 5 Kilometer
konnten wir nicht eingehen . Denn für die Förderkriterien
müssen wir Radschnellwege von sonstigen Radwegen
unterscheiden können . Um größere Nutzerpotenziale zu
erschließen, bedarf es einer längeren Fahrstrecke, die mit
dem Fahrrad abgewickelt werden kann .
Radschnellwege generieren uns auch einen volkswirt-
schaftlichen Nutzen, zum Beispiel durch Stauvermei-
dung . Bis 2030 werden wachsende Verkehre im Straßen-
verkehr bis zu 18 Prozent prognostiziert . Eine Entlastung
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 23399
(A) (C)
(B) (D)
des Straßenverkehrs ist daher dringend notwendig; auch
hierfür können Radschnellwege wichtige Impulse setzen .
Bereits heute blicken wir auf eine aufstrebende Zu-
kunft für Radschnellwege . Schon vor Umsetzung dieses
Bundesfernstraßengesetzes sind dem Ministerium für
Verkehr und digitale Infrastruktur 80 Maßnahmen mit
einer Streckenlänge von rund 1 400 Kilometern benannt
worden . Ein Bedarf an diesen Projekten ist da und wird
auch noch steigen, was eine Erhöhung der Haushaltsmit-
tel erforderlich macht .
Daher stimmen Sie bitte mit Freude für diesen Gesetz-
entwurf, denn er dient der Verbesserung des Radverkehrs
und fördert ein modernes, nachhaltiges und zukunftsfähi-
ges Verkehrssystem in Deutschland .
Sabine Leidig (DIE LINKE): Mit dem Siebten Ge-
setz zur Änderung des Bundesfernstraßengesetzes will
die Regierungskoalition vor allem eines: 41 Autobahn-
und fünf Bundesstraßenausbauprojekte möglichst un-
gehindert durchsetzen, damit noch mehr Lkw-Verkehr
durch die Republik rollen kann .
Das aber ist genau das Gegenteil von Klimaschutz und
Verkehrswende, die wir dringend brauchen . Vielerorts
haben Bürgerinitiativen und Umweltverbände sinnvolle
Alternativen zu noch mehr Autobahnen ausgearbeitet;
und es gibt sehr viele berechtigte Einwände, die bei den
Plänen der Bundesregierung nicht berücksichtigt werden .
Um sich diese möglichst schnell „vom Hals zu schaffen“,
will sie für diese 46 im § 17e Absatz 1 genannten Vor-
haben den Klageweg einschränken: Das Bundeverwal-
tungsgericht soll in erster und letzter Instanz zugleich
entscheiden . Das Verfahren auf Landesebene entfällt,
und Berufung wird unmöglich .
Die Linksfraktion beantragt, dass dieser Paragraf ge-
strichen wird . Die ohnehin mageren Rechte der Bürge-
rinnen und Bürger dürfen nicht eingeschränkt werden!
Es entspricht auch nicht dem föderalen Zustän-
digkeitsverständnis, dass ein Bundesgericht erst- und
letztinstanzlich entscheidet . Dies ist nur in begrenzten
Ausnahmen zulässig, was mit dieser Regelung deutlich
überschritten wird . Bedenklich ist zudem, dass damit
ein Bundesgericht verbindlich über die Anwendung und
Auslegung von Landesrecht entscheidet, weil die Ver-
einbarkeit mit den Naturschutz-, Wasser-, Wege- oder
Denkmalschutzgesetzen der Länder regelmäßig Teil des
gerichtlichen Prüfungsumfangs bei Klagen gegen Plan-
feststellungsbeschlüsse ist . Die Gründe, die dazu führten,
dass die Alleinzuständigkeit des Bundesverwaltungsge-
richtes bei der Anwendung des früheren Verkehrswe-
geplanungsbeschleunigungsgesetzes von Verfassungs-
experten für ausnahmsweise zulässig erachtet wurde,
beruhen ausschließlich auf den Erfordernissen im Zu-
sammenhang mit der deutschen Einheit .
Die Regierungskoalition will aber die Verfassungs-
rechte aus vielerlei Gründen aushebeln: Einbindung der
neuen Mitgliedstaaten in die Europäische Union, Verbes-
serung der Hinterlandanbindung der deutschen Seehäfen,
sonstiger internationaler Bezug oder „besondere Funkti-
on zur Beseitigung schwerwiegender Verkehrsengpäs-
se“ – damit lässt sich fast jedes Straßenbauprojekt be-
gründen .
Der ursprüngliche Grund „Herstellung der deutschen
Einheit“ gilt auch noch und soll ausgerechnet den völlig
unsinnigen und (vom Land Berlin) unerwünschten Wei-
terbau der A 100 (17 . Bauabschnitt) beschleunigen . Auch
andere hochumstrittene Autobahnen wie die A 20 oder
die A 39 stehen auf der „Beschleunigungsliste“ .
Wir lehnen diese Projekte ab, und wir lehnen die Ein-
schränkung der Bürgerbeteiligung ab!
Einem ganz anderen Punkt, der ebenfalls Teil der vor-
gelegten Gesetzesänderung ist, stimmen wir allerdings
zu: Sie führen die Möglichkeit ein, dass der Bund Finanz-
hilfen für den Bau von Radschnellwegen an Länder, Ge-
meinden und Gemeindeverbände geben kann . Das wird
von der Linksfraktion selbstverständlich unterstützt . Al-
lerdings haben wir dafür plädiert, dass der Bund den Bau
solcher Radwege nicht erst ab einer Mindestlänge von
10 Kilometern fördern kann, sondern schon ab 5 Kilo-
meter – so wie es auch der Bundesrat vorgeschlagen hat .
Anlage 12
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur
Änderung des Kraftfahrzeugsteuergesetzes (Ta-
gesordnungspunkt 31)
Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU): Mit der
vorliegenden Gesetzesänderung übernehmen wir die Er-
gebnisse eines neuen Testverfahrens für den CO2-Aus-
stoß von Kraftfahrzeugen als Grundlage für die künftige
Bestimmung der Kraftfahrzeugsteuer . Zur Bestimmung
realitätsnäherer Werte für Abgasemissionen für soge-
nannte leichte Kraftfahrzeuge hat man sich weltweit auf
ein neues einheitliches Testverfahren verständigt . Diese
Einführung des Verfahrens in der EU ist schrittweise bis
zum 1 . September 2018 vorgesehen . Damit entfällt zu-
gleich das bisherige Verfahren, dessen Werte in die Be-
rechnung unserer Kfz-Steuer eingehen . Eine Änderung
des Kfz-Steuergesetzes ist also unausweichlich .
Wir müssen aber als Gesetzgeber dafür sorgen, dass
dieses Verfahren transparent und ohne Verwirrung für
den Verbraucher geschieht . Deshalb begrüßen wir es
als Unionsfraktion, dass die Bundesregierung in ihrem
Gesetzentwurf vorsieht, die neuen Werte erst ab 1 . Sep-
tember 2018 zur Grundlage der Kfz-Steuerberechnung
bei Neuzulassungen zu machen . Damit wird verhindert,
dass in einem Übergangszeitraum zwei Berechnungs-
verfahren für Neuzulassungen nebeneinander bestehen .
Alles andere würde zu einem für die Verbraucher unüber-
schaubaren Durcheinander führen . Außerdem wäre eine
gleichmäßige Anwendung der neuen Werte und damit
auch der Steuerberechnung unmöglich . Deshalb ist das
gewählte Vorgehen für die Verbraucher transparent und
fair .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 201723400
(A) (C)
(B) (D)
Dass die Bundesregierung der Forderung des Bun-
desrates nicht folgt, zusätzlich ein Förderprogramm für
Maßnahmen zur Reduzierung des Schadstoffausstoßes
in durch Stickoxide belasteten Innenstädten aufzulegen,
ist für uns nachvollziehbar . Diese Forderung ist nur ein
weiterer Versuch, immer neue Programme finanziell ein-
seitig beim Bund abzuladen, und zwar völlig unabhängig
von der tatsächlichen Zuständigkeit und Verantwortung .
Abgesehen davon, dass hier erneut einseitig auf einen
einzigen Abgaswert abgehoben wird . Wir können schon
erwarten, dass die Länder und Kommunen die vorhande-
nen Möglichkeiten nutzen, um ihren Beitrag zu leisten .
Die Behauptung, dass den Ländern und Kommunen kei-
ne ausreichenden Möglichkeiten zur Senkung der Luft-
schadstoffe zur Verfügung stehen, ist nicht nachvollzieh-
bar . Abgesehen davon bestehen bereits Programme zur
Elektromobilität und zu Carsharing . Deshalb stimmen
wir dem Gesetzentwurf in der vorliegenden Fassung zu .
Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU): Wir beraten heu-
te nun abschließend die Änderung des sechsten Kraft-
fahrzeugsteuergesetzes . Mit diesem Gesetz legen wir den
Grundstein für die Einführung eines neuen Messverfah-
rens zur Ermittlung von Emissionswerten bei Autos .
Durch die Einführung des WLTP-Verfahrens – das
steht für Worldwide Harmonized Light Duty Test Proce-
dure – werden wir zukünftig verbesserte, und das heißt
realitätsnähere, CO2-Emissionswerte im Zuge der Er-
mittlung von Abgasemissionen erhalten .
Das neue WLTP-Verfahren löst das bisher geltende
NEFZ-Verfahren (Neuer Europäischer Fahrzyklus) ab .
Im Gegensatz zum NEFZ-Verfahren, bei dem die Emissi-
onswerte der Autos unter reinen „Laborbedingungen“ er-
mittelt werden, wird das WLTP-Verfahren unter realitäts-
nahen Bedingungen die Emissionswerte messen . Wobei
diese Realitätsnähe natürlich differenziert zu betrachten
ist, da der tatsächliche CO2-Ausstoß im Alltag auch im-
mer vom persönlichen Fahrverhalten und den jeweiligen
Streckenbedingungen abhängt .
Realitätsnähe heißt hier, dass so, wie ein Auto im
Straßenverkehr durchschnittlich genutzt wird, auch der
Emissionsausstoß gemessen wird . Kein erhöhter Reifen-
druck, keine abgebauten Außenspiegel zur Reduzierung
des Luftwiderstandes, kein leerer Tank, keine ausgebaute
Klimaanlage .
Ab dem 1 . September 2018 ist für jedes zugelassene
Auto die Abgasmessung mit dem neuen WLTP-Verfah-
ren verpflichtend. Die Anhörung hat deutlich gemacht,
dass diese Stichtagsregelung allen Betroffenen Planungs-
sicherheit bietet, zwangsläufig aber eine unterschiedliche
Besteuerung der Fahrzeuge mit sich bringt . Alle anderen
Autos auf unseren Straßen, die vor diesem Stichtag zu-
gelassen wurden, haben aber natürlich Bestandsschutz!
Was wir im Zuge des neuen Messverfahrens ändern,
ist aber nicht die Steuerbemessungsgrundlage, sondern
die Zulassungsbestimmungen . Haben wir bisher nur
„typenbezogen“ zugelassen, so werden wir in Zukunft
„autobezogen“ zulassen . Demnach wird es nicht mehr
nur eine Rolle spielen, ob man einen Golf, eine S-Klasse
oder einen Corsa fährt, sondern welche konkreten Beson-
derheiten das Fahrzeug aufweist . Mit oder ohne Klima-
anlage? Schmale oder breite Reifen? Wie viele Airbags?
Wie viel Hubraum?
In der Konsequenz heißt das: Nicht nur der Prüfzyklus
wird kleinteiliger, auch die Zulassung von Fahrzeugen
wird differenzierter. Diese Differenzierung spiegelt auch
die immense Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Autos
wider, die auf deutschen Straßen unterwegs sind . Inner-
halb eines Autotyps wird es aber wohl zur Bildung von
„Familien“ kommen, denn eine vollständig individuelle,
autobezogene Zulassungsmessung würde den Aufwand
extrem in die Höhe treiben .
Nach dem ersten großen Aufschrei sollte also nun
auch dem Letzten klar geworden sein, dass wir nicht an
der Steuerschraube drehen, sondern ausschließlich die
Erfassung der Bemessungsgrundlage für die Steuererhe-
bung ändern .
Weil hier oft Fakten durcheinandergeraten, möchte ich
noch einmal folgende Punkte klarstellen:
Erstens . Der vorliegende Gesetzentwurf regelt aus-
schließlich die Einführung eines neuen Messverfahrens
im Verkehrsrecht . Die konkrete technische Ausgestaltung
des Messverfahrens wird hingegen über eine unmittelbar
wirkende EU-Verordnung ins deutsche Recht implemen-
tiert . Die Verordnung kommt aller Voraussicht nach im
Mai 2017 . Ab dann gilt prinzipiell auch die Anwendung
des WLTP-Verfahrens bei Neufahrzeugen . Diese Verord-
nung beschreibt dann genau, wie der Testzyklus auszuse-
hen hat . Wir als Gesetzgeber haben auf die Ausgestaltung
des Testzyklus keinen Einfluss. Eine Einschätzung, wie
das Messverfahren in der Praxis konkret aussehen wird,
konnte auch bei der Anhörung keiner der Sachverständi-
gen vornehmen .
Um bei Käufern und Herstellern Planungs- und
Rechtssicherheit zu schaffen und die Gleichmäßigkeit
der Besteuerung sicherzustellen, ist der Stichtag zur An-
wendung des neuen Messverfahrens zur Ermittlung der
CO2-Werte für die Besteuerung aber erst der 1 . Septem-
ber 2018 . Klarzustellen ist: Bestandsfahrzeuge bleiben
unangetastet!
Zweitens . Anhand früherer Tests mit Fahrzeugen
unter realitätsnahen Bedingungen geht man davon aus,
dass es zu einem 20 Prozent höheren CO2-Ausstoß beim
WLTF-Verfahren kommen wird . Im Vorhinein können
jedoch weder Aussagen über erwartete CO2-Werte ge-
macht, noch kann die dadurch zu erwartende Höhe der
Kfz-Steuer prognostiziert werden . Studien, die schon
jetzt konkrete Zahlen nennen, sehe ich skeptisch . Denn
wir wissen de facto weder genau, wie die Autoindustrie
auf dieses Messverfahren reagieren wird – zum Beispiel
durch veränderte Antriebskonzepte –, noch, für welches
Auto sich der Käufer am Ende entscheidet – ob für oder
gegen ein CO2-armes Fahrzeug mit mehr oder weniger
Ausstattung . Klar ist nur: Wir setzen mit diesem Gesetz
einen ganz klaren Anreiz, sich für ein emissionsarmes
Fahrzeug zu entscheiden und dadurch selbst zu entschei-
den, welche Steuerlast man tragen kann oder will .
Drittens . Das vorliegende Gesetz bringt ausdrücklich
keine Steuererhöhung mit sich . Was sich ändert, ist aus-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 23401
(A) (C)
(B) (D)
schließlich die Erfassung der Bemessungsgrundlage für
die Kfz-Steuer . Und auf die, so habe ich es ausgeführt,
haben wir keinen Einfluss.
Eine realitätsnähere Ermittlung des Emissionsaussto-
ßes ist in unser aller Interesse und wird auf EU-Ebene
im Übrigen auch nicht erst seit dem VW-Abgasskandal
forciert . Die deutschen Kraftfahrzeughersteller stellen
sich schon seit Jahren auf ein neues Messverfahren ein
und haben die internationale Standardisierung mit voran-
getrieben .
Abschließend möchte ich festhalten:
A: Unser Ziel, mit der Kfz-Steuer eine Lenkungswir-
kung zu erreichen und kleinere und emissionsarme Fahr-
zeuge zu bevorteilen, wird mit dem neuen Messverfahren
weiter verstärkt .
B: Wie sich das Aufkommen der Kfz-Steuer tatsäch-
lich entwickelt, haben Sie in der Hand – die Käufer neuer
Fahrzeuge, je nachdem, wofür Sie sich entscheiden . Sie
haben die Freiheit und damit auch die Verantwortung .
C: Unser wirtschaftspolitisches Leitziel gilt weiter:
Deutschland soll ein attraktiver Standort für moderne
Fahrzeugtechnologien bleiben – für die Fahrer ebenso
wie für die Autohersteller und ihre Technologiezuliefe-
rer . Dafür werden wir uns auch weiter einsetzen!
Sie können dem Gesetzentwurf also mit Freude zu-
stimmen .
Arno Klare (SPD): Das Gesetz vollzieht einen im
Grunde lapidaren Schritt: Es wird ein steuerrechtlicher
Stichtag festgesetzt, ab dem Neufahrzeuge nach dem
neuen Fahrzyklus WLTP eingestuft werden . WLTP steht
übersetzt für „weltweit harmonisiertes Testverfahren für
leichte Nutzfahrzeuge“; damit sind Pkw gemeint . Was
so einfach erscheint, ist aus verkehrs- und umweltpoliti-
scher Sicht ein Meilenstein .
In der EU-Verordnung 715/2007 ist bei der Rand-
notiz 15 sowie im eigentlichen VO-Teil unter Arti-
kel 14 Absatz 3 davon die Rede, dass die Testverfahren
zur Feststellung der Verbrauchswerte – und damit der
CO2-Emissionen – in einem neuen Prüfstandsmessver-
fahren gemessen werden sollten . Seit zehn Jahren, das
heißt meilenweit vor dem sogenannten VW-Skandal,
begannen die Überlegungen zum neuen Verfahren . Der
WLTP wurde seit 2008 auf der Ebene der Wirtschafts-
kommission der Vereinten Nationen für Europa entwi-
ckelt und als globale technische Regelung (GTR) Nr . 15
durch das Weltforum für die Harmonisierung der Rege-
lungen für Kraftfahrzeuge (WP . 29) im März 2014 an-
genommen . Später wurde er in EU-Europa zum neuen
Testzyklus, der ab dem 1 . September 2018 gilt . Insofern
markiert dieses Datum sehr richtig auch den heute zu be-
schließenden Stichtag .
Der WLTP ist deutlich realitätsnäher als der alte
Prüfzyklus NEFZ . Parallel zur Entwicklung des WLTP
begannen – auch dies weit vor dem VW-Skandal – die
Überlegungen, Fahrzeuge nicht nur auf der Rolle, also im
Labor, sondern auch sozusagen live, also bei der Fahrt im
Straßenverkehr, zu testen . Dieses Verfahren heißt RDE,
Real Driving Emissions . WLTP plus RDE ergeben zu-
sammen ein realistisches Bild der Emissionen . Der La-
bortest dient der Ermittlung der steuerrelevanten Ver-
brauchsdaten . Diese zu ermitteln, geht rechtssicher nur in
Labortests, weil diese allein standardisiert und reprodu-
zierbar sind . RDE misst dann zusätzlich, ob die Emissio-
nen auch im realen Betrieb auf der Straße unter definier-
ten Limits bleiben . Alles in allem haben Verbraucher ab
dem 1 . September 2018 bei Autokauf wirklichkeitsnahe
Verbrauchswerte und können über die Aussagen aus dem
RDE-Test überdies ersehen, ob ihr Wagen die Werte ein-
hält, die er verspricht .
Der heutige Beschluss ist also weit mehr als lediglich
die notwendige Fixierung eines steuerrechtlich notwen-
digen Stichtags .
Andreas Schwarz (SPD): Mit dem heutigen Be-
schluss schließen wir ein Gesetzgebungsverfahren ab,
dessen Umsetzung einer EU-Richtlinie geschuldet ist .
Mit dem heutigen Beschluss implementieren wird das
neue sogenannte WLPT-Verfahren, eine weltweit harmo-
nisierte Testprozedur zur Ermittlung von Abgasemissio-
nen, das realitätsnähere CO2-Emissionswerte darstellen
soll. Auch vor dem Hintergrund der Dieselaffären ver-
schiedener Autokonzerne begrüßen wir dieses Gesetz .
Wir begrüßen, dass das neue Prüfverfahren bei uns
erst ab dem 1 . September 2018 für alle dann neu zuge-
lassenen Fahrzeuge gelten soll und für alle anderen Fahr-
zeuge Bestandsschutz gilt . Ich betone: Die Zustimmung
zu diesem Gesetzentwurf bedeutet keineswegs, dass nun
alles geklärt ist und wir uns jetzt um nichts mehr küm-
mern müssen . Das Gegenteil ist der Fall . Denn die gro-
ße Frage lautet: Wie entwickelt sich die Kfz-Steuer? Ich
weiß, da machen sich manche Leute Sorgen .
Zur Kenntnis genommen haben wir Äußerungen des
Bundesfinanzministeriums, wonach Auswirkungen auf
die Steuereinnahmen nur schwer voraussagbar seien,
zumal es ja auch noch einige Details beim Messverfah-
ren zu klären gibt und die Verordnung wohl erst Ende
Mai 2017 vorliegen wird .
Wir haben uns deshalb mit unserem Koalitionspartner
darauf verständigt, dass wir vom Bundesfinanzministe-
rium zwölf Monate nach Inkrafttreten des Gesetzes eine
Evaluierung erhalten . Das BMF wird die Auswirkungen
des neuen Gesetzes prüfen und den Finanzausschuss des
Deutschen Bundestages unterrichten .
Wir wollen wissen, wie sich durch die Neuberechnung
die Kraftfahrzeugsteuerbeträge entwickeln und ob und
vor allem in welcher Höhe sich eventuelle Mehrbelastun-
gen für die Bürgerinnen und Bürger ergeben . Zunächst
ändert sich durch das Gesetz lediglich die Bemessungs-
grundlage . Ob es dadurch tatsächlich zu Steuererhöhun-
gen kommt, ist also überhaupt noch nicht absehbar . Wir
wollen uns als Gesetzgeber nach einem Jahr genau an-
schauen, wie sich der Fahrzeugbestand in der Bundes-
republik entwickelt und ob wir hier gegebenenfalls ge-
gensteuern und Maßnahmen ergreifen müssen, damit die
Beiträge nicht zu stark ansteigen .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 201723402
(A) (C)
(B) (D)
Herbert Behrens (DIE LINKE): Der Neue Europäi-
sche Fahrzyklus (NEFZ) ist inzwischen gar nicht mehr so
neu . Ein in den 70er-Jahren entwickeltes Verfahren zur
Ermittlung des Schadstoffausstoßes kann das Emissions-
verhalten von Kraftfahrzeugen nicht mehr angemessen
abbilden . Die Autos sind heute viel schwerer und leis-
tungsstärker als vor 40 Jahren . Und so hat sich die Sche-
re zwischen Laborwerten – gemessen nach NEFZ – und
realem Kraftstoffverbrauch und Ausstoß von Kohlendi-
oxid in den letzten Jahren immer weiter geöffnet. Autos
verbrauchen inzwischen fast die Hälfte mehr, als in den
Hochglanzprospekten angegeben . Das ist nichts anderes
als eine systematische Täuschung der Verbraucherinnen
und Verbraucher, und es ist überfällig, dass der Uraltzy-
klus NEFZ aus dem Verkehr gezogen wird .
Mit dem neuen Prüfverfahren Worldwide Harmoni-
zed Light Duty Test Procedure (WLTP) und dem dazu-
gehörigen neuen Prüfzyklus kommt man der Wahrheit
zumindest ein bisschen näher . In diesem Zyklus werden
höhere Geschwindigkeiten gefahren, und die Standzeiten
werden reduziert . Reduziert werden damit auch die Mög-
lichkeiten für die Hersteller, durch kleine Tricks große
Emissionskosmetik zu betreiben . Das ist ein Fortschritt
und sollte sofort angewendet werden .
Von daher wundere ich mich sehr, dass die Einfüh-
rung des WLTP faktisch um ein Jahr verschoben wird .
Bereits in diesem Jahr könnte für neue Fahrzeugtypen
dieses strengere Prozedere Anwendung finden. Opel
hat für seinen neuen Astra das WLTP-Verfahren schon
für Juni 2016 angekündigt . Aber die Bundesregierung
nimmt lieber eine Kernforderung der Autoindustrie auf
und verschiebt den Stichtag auf September 2018 . Das ist
völlig kontraproduktiv, und die Linke kann dem vorge-
legten Gesetzentwurf daher nicht zustimmen .
Dieses Detail im vorgelegten Gesetzentwurf sagt zu-
dem viel darüber aus, wie ernst es der Bundesregierung
mit der Einführung realistischer Tests wirklich ist . Glei-
ches gilt auch für die jahrelangen Bemühungen der Bun-
desregierung, in den internationalen Verhandlungsrunden
den WLTP zu verwässern . Es sind Unterlagen bekannt
geworden, in denen sich die Bundesregierung für einen
pauschalen Abschlag von 4 Prozent auf WLTP-Messer-
gebnisse einsetzte . Durch Anpassungen der Rahmenbe-
dingungen des Fahrzyklus sollten die Werte um weitere
10 Prozent schlechter ausfallen dürfen . Mit ihren Bemü-
hungen war die Bundesregierung leider so erfolgreich,
dass die USA und Japan aus dem WLTP-Prozess aus-
gestiegen sind, weil dessen Vorgaben ihnen schlicht zu
lasch sind .
Es ist also keineswegs so, dass wir uns jetzt entspannt
zurücklehnen können, weil mit dem WLTP alle Probleme
gelöst wurden . Am Ende kommt es nämlich darauf an,
dass die Zielwerte für klimaschädliche Abgase in der täg-
lichen Fahrpraxis eingehalten werden und nicht auf dem
Prüfstand . Um Verbrauchern realistische Werte angeben
zu können und vor allem endlich einen wirksamen An-
reiz zur Reduktion des CO2-Ausstoßes zu schaffen, müs-
sen Verbrauchs- und CO2-Werte auf der Straße ermittelt
werden . Denn wir wissen alle, dass Testzyklen durch die
Motorsoftware erkannt werden können; das heißt, Be-
trügereien können im Labor nie ausgeschlossen werden .
Mit dem Real-Driving-Emissions-Verfahren (RDE), das
für die Messung von Stickoxiden und Rußpartikeln bald
zum Standard wird, haben wir bereits eine gute Vorlage,
an dem sich eine realistischere Messmethode des Kraft-
stoffverbrauches orientieren kann. Dies ist sicherlich Zu-
kunftsmusik, aber wenn wir heute nicht mit der Entwick-
lung einer Verbrauchsprüfung im Realbetrieb beginnen,
wird in den nächsten zehn Jahren auch nichts Anwendba-
res auf dem Tisch liegen .
Wer dem Klima einen Gefallen tun will, muss aufhö-
ren, der Autoindustrie stets und ständig Gefallen zu tun .
Diese Forderung richtet sich vor allem an den Verkehrs-
minister, der in den letzten Monaten die Hersteller nur
mit Samthandschuhen angefasst hat, obwohl die harte
Hand nötig gewesen wäre . Wenn es Ihnen, meine Damen
und Herren von CDU/CSU und SPD, mit den eigenen
Klimazielen wirklich ernst ist, dann werden Sie sofort
aktiv und sorgen dafür, dass die wohlklingenden, aber
völlig aberwitzigen „Supercredits“, durch die die Au-
tokonzerne mit ein paar Elektroautos den CO2-Ausstoß
ihrer Fahrzeugflotte schönrechnen können, nicht mehr
angewendet werden .
Sorgen Sie für Tempolimits auf Autobahnen, für den
Ausbau des öffentlichen Verkehrs, und fahren Sie klima-
schädliche Subventionen wie das Dienstwagenprivileg
und die Steuerbegünstigung für Diesel sofort zurück . Das
nützt dem Klima mehr als der beste Prüfzyklus . Politi-
sche Stellschrauben zum Klimaschutz im Straßenverkehr
gibt es wirklich genügend; man muss nur gewillt sein,
daran zu drehen .
Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir haben
heute in der Aktuellen Stunde schon ausführlich darüber
gesprochen, wie die Bundesregierung unabhängige Ab-
gaskontrollen für die Autoindustrie in Brüssel blockiert
und den Dieselskandal einfach aussitzt, anstatt dafür zu
sorgen, dass die Automobilindustrie zur Verantwortung
gezogen und die Autobesitzer entschädigt werden .
Da passt sehr gut ins Bild, was die Experten der Kraft-
fahrzeughersteller bei der öffentlichen Anhörung verlaut-
baren lassen haben .
Ab dem 1 . September 2018 werden die bei der Bemes-
sung der Kfz-Steuer relevanten CO2-Emissionen nach ei-
nem neuen Verfahren gemessen . Das weltweit harmoni-
sierte Testverfahren WLPT bietet weniger Schlupflöcher
für Tricksereien als sein Vorgänger – das derzeit noch
verwendete NEFZ-Verfahren . Und es orientiert sich stär-
ker am realistischen Fahrverhalten, weil es beispielswei-
se mehr Beschleunigungs- und Bremsvorgänge abdeckt .
Durch die Umstellung auf das verbesserte WLTP-Ver-
fahren werden sich die gemessenen CO2-Emissionen der
Fahrzeuge deswegen aller Voraussicht nach erhöhen .
Was eigentlich ein Grund zur Freude ist, verringert sich
doch so die Diskrepanz zwischen Real- und Laborwert .
Die liegen laut Berechnungen des International Council
on Clean Transportation im aktuellen NEFZ-Verfahren
bei durchschnittlich 42 Prozent .
Nicht so für die deutsche Automobilindustrie . Deren
Experten beschwerten sich in der öffentlichen Anhörung
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 23403
(A) (C)
(B) (D)
darüber, dass es durch die Erhöhung der CO2-Emissio-
nen zu einer Erhöhung der Kraftfahrzeugsteuer kommen
wird . Um eine solche „Steuererhöhung durch die Hin-
tertür“ zu verhindern, forderten sie doch allen Ernstes
Steuersenkungen – in Form eines Abschlagsfaktors beim
Steuertarif. Und das finde ich dann schon ein starkes
Stück – werden hier doch Tatsachen verdreht und zu-
rechtgebogen . Ohne die leiseste Einsicht, was in den ver-
gangenen Jahren alles schiefgelaufen ist .
Das Forum Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft hat
die gegenteilige Rechnung aufgestellt . Es zeigt, dass dem
Fiskus durch die Differenz zwischen realem CO2-Aus-
stoß und Laborwert allein für den Zeitraum 2010 bis
2015 Steuereinnahmen in Höhe von 3,3 Milliarden Euro
entgangen sind .
Die geringeren Laborwerte und damit auch die gerin-
geren Steuereinnahmen erklären sich teilweise aus den
Unzulänglichkeiten des aktuellen NEFZ-Verfahrens, aber
teilweise eben leider auch, wie im Abgasskandal deutlich
wurde, aus betrügerischem Vorgehen bis hin zur bewuss-
ten Manipulation seitens der Automobilhersteller . Die
durch die Umstellung auf das neue Verfahren zu erwar-
tenden höheren Kfz-Steuern sind also keinesfalls Steu-
ererhöhungen, sondern schlicht und einfach die Anpas-
sung der Kfz-Steuer an die Realität . Die wird diejenigen
härter treffen, die die bestehenden Spielräume im NEFZ
systematisch ausgenutzt haben und nun im neuen Ver-
fahren mit stark erhöhten CO2-Werten rechnen müssen .
Eine pauschale Verschiebung der Bemessungsgrundlage
in Form eines Abschlagsfaktors wäre also nicht nur nicht
sachgerecht, sondern auch ungerecht, weil es die ehrli-
cheren Hersteller bestrafen würde .
Beipflichten muss ich den Experten vom VDA und
vom VDIK in dem Punkt, dass die Umstellung des Ver-
fahrens nichts an der Effizienz der Fahrzeuge ändern
wird. Hier ist die Automobilindustrie selbst in der Pflicht,
mit innovativen Antrieben weltweite Standards zu setzen
und sich fit für den Markt des 21. Jahrhunderts zu ma-
chen .
Aber auch die Politik kann noch mehr tun, um einen
erfolgreichen Technologiewandel in der Automobilin-
dustrie einzuleiten . Durch die Umstellung auf das neue
Verfahren wird die Lenkungswirkung der Kfz-Steuer
aufgrund realistischerer CO2-Werte zwar verbessert . Hier
ist aber noch deutlich Luft nach oben . Erstens handelt
es sich bei dem WLPT-Verfahren nach wie vor um ein
Laborverfahren, das nicht vor Manipulationen gefeit ist .
Hinzukommen müssen deswegen strukturelle Reformen,
was die Typgenehmigung betrifft. Bis heute können die
Hersteller sich ihren Lieblingsprüfdienst auswählen . Hier
brauchen wir Veränderungen, wie sie auch die EU-Kom-
mission anstrebt: Prüfdienste müssen rotieren und dürfen
zudem nicht mehr direkt von Herstellern, sondern sollten
über ein Gebührensystem und den Staat bezahlt werden .
Dem Umweltbundesamt wollen wir zudem eine klare
Zuständigkeit für eine wirksame Marktüberwachung in
Betrieb befindlicher Fahrzeuge geben.
Außerdem kann kein noch so gutes Verfahren reale
Straßentests ersetzen. Für Schadstoffe sollen solche RDE
(Real Driving Emissions) demnächst eingeführt und für
die Zulassung neuer Fahrzeugtypen relevant werden . Wir
fordern diese realen Straßentests nicht nur für Stickoxi-
de, sondern auch für CO2-Emissionen .
Vor allem muss aber Schluss damit sein, dass wir in
Deutschland eine Technologie unterstützen, die verhee-
rende Auswirkungen auf Gesundheit und Umwelt hat .
Deswegen wollen wir die Dieselsubventionen schrittwei-
se abbauen . Gleichzeitig wollen wir die Fahrer von Die-
sel-Pkw entlasten, indem wir die Kfz-Steuer konsequent
nach dem CO2-Ausstoß von Kraftfahrzeugen ausrichten
und so jene Dieselmotoren belohnen, die im realen Fahr-
betrieb effizienter sind als Ottomotoren.
Obwohl wir also die Umstellung auf das verbesserte
WLPT-Verfahren ausdrücklich begrüßen, werden wir uns
bei der Abstimmung über den Gesetzentwurf enthalten .
Ganz einfach um deutlich zu machen, dass uns die Be-
mühungen der Großen Koalition in Bezug auf den drin-
gend notwendigen Wechsel hin zu effizienten und emissi-
onsfreien Antrieben in der deutschen Automobilindustrie
nicht weit genug gehen .
Anlage 13
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung
des Schutzes von Geheimnissen bei der Mitwirkung
Dritter an der Berufsausübung schweigepflichtiger
Personen (Tagesordnungspunkt 32)
Dietrich Monstadt (CDU/CSU): Wir alle müssen
uns darauf verlassen, dass Vertrauliches vertraulich
bleibt . Das gilt beim Anwalt . Das gilt beim Arzt . Das gilt
in vielen anderen Fällen . Der Schutz privater Geheimnis-
se genießt in Deutschland einen hohen Stellenwert . Und
zwar zu Recht!
In Deutschland macht sich nach § 203 StGB strafbar,
„wer unbefugt ein fremdes Geheimnis, namentlich ein
zum persönlichen Lebensbereich gehörendes Geheimnis
oder ein Betriebs- oder Geschäftsgeheimnis, offenbart“.
Natürlich handelt ein Berufsgeheimnisträger nicht un-
befugt, wenn er sich bei seiner Arbeit durch Berufsge-
hilfen im Sinne des § 203 StGB unterstützen lässt . Hier
geht es um enge Mitarbeiter, die zum Beispiel Ärzte und
Anwälte bei ihrer täglichen Arbeit unterstützen und Ih-
nen zuarbeiten, die Informationen aufnehmen und wei-
terleiten, die Recherchen durchführen und vieles mehr .
Doch oft reicht dies nicht aus: Gerade heutzutage gibt
es viele Aufgaben, die eine besondere Spezialisierung er-
fordern . Denken Sie zum Beispiel an die Einrichtung und
Wartung komplexer IT-Anlagen . Derartige Aufgaben
können regelmäßig nicht durch Berufsgehilfen übernom-
men werden . Die Einstellung von spezialisiertem Perso-
nal ist im Regelfall hier nicht wirtschaftlich – gerade mit
Blick auf unsere überwiegend mittelständisch geprägten
Strukturen .
Regelmäßig und praxisnah sind Berufsgeheimnisträ-
ger daher auf die Unterstützung externer Unternehmen
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 201723404
(A) (C)
(B) (D)
oder selbstständig tätiger Personen angewiesen . Doch
gerade diese Notwendigkeit bedeutet für Ärzte, Anwälte
und viele andere nicht selten, sich potenziell strafbar zu
machen . Dies kann unter Umständen dann der Fall sein,
wenn externe Dienstleister bei ihrer Arbeit Kenntnis über
Geheimnisse erlangen können bzw . keine ausdrückliche
Einwilligung des Berechtigten vorliegt . Diesen Graube-
reich schließen wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
der Bundesregierung und erreichen einen deutlichen Zu-
gewinn an Rechtssicherheit . Dafür danke ich schon jetzt
allen Beteiligten ausdrücklich .
In der gebotenen Kürze darf ich die wichtigsten An-
sätze kurz umreißen:
Die für Rechtsanwälte und Patentanwälte bereits im
Satzungsrecht bestehende Pflicht, Mitarbeiter zur Ver-
schwiegenheit zu verpflichten, wird in das Gesetz über-
nommen .
Außerdem werden in die Bundesrechtsanwaltsord-
nung, Bundesnotarordnung, Patentanwaltsordnung, das
Steuerberatungsgesetz und die Wirtschaftsprüferordnung
Befugnisnormen eingefügt .
Damit werden Voraussetzungen und Grenzen, unter
denen dritten Dienstleistern der Zugang zu fremden Ge-
heimnissen eröffnet werden darf, festgelegt.
Für andere Berufsgruppen ist eine Einschränkung der
Strafbarkeit vorgesehen, soweit dies für die ordnungsge-
mäße Durchführung der Tätigkeit der mitwirkenden Per-
sonen erforderlich ist . Dazu wird zunächst klargestellt,
dass ein Offenlegen von Geheimnissen gegenüber unmit-
telbar in die Sphäre des Berufsgeheimnisträgers einge-
bundenen Personen kein strafbares Offenbaren ist. Ist das
Offenbaren auch gegenüber externen Dritten beruflich
erforderlich, handelt der Berufsgeheimnisträger befugt
und damit nicht rechtswidrig .
In beiden Konstellationen folgt eine Verringerung des
Geheimnisschutzes . Dies wird jedoch dadurch ausgegli-
chen, dass mitwirkende Personen in die Strafbarkeit nach
§ 203 StGB einbezogen werden . Auch haben Berufs-
geheimnisträger verpflichtend dafür zu sorgen, dass die
einbezogenen Personen zur Geheimhaltung verpflichtet
werden .
Mit dem vorliegenden Entwurf haben wir eine solide
Grundlage, mit der wir nun ins parlamentarische Verfah-
ren gehen können . Bereits im Mai werden wir im Rah-
men einer Anhörung die Gelegenheit haben, bezüglich
der konkreten Ausgestaltung ins Detail zu gehen .
Lassen Sie mich abschließend einige Punkte anreißen,
die wir dabei unter anderem noch einmal in den Fokus
nehmen sollten:
§ 203 Absatz 4 Satz 2 Nummer 1 und 2 StGB-Ent-
wurf:
Wie bereits erwähnt, sollen Berufsgeheimnisträger
künftig dafür sorgen, dass in ihre Berufsausübung einge-
bundene externe Personen zur Geheimhaltung verpflich-
tet werden . Bei Verwirklichung bedeutet dies das Bege-
hen einer vorsätzlich strafbaren Handlung .
Praxisnah könnte dies jedoch oft eine Sorgfaltspflicht-
verletzung darstellen . Aufgrund fehlender Fahrlässig-
keitsstrafbarkeit bliebe dies sanktionslos .
Erforderlichkeitsanforderung in § 203 StGB unbe-
stimmt:
Auch im vorliegenden Gesetzentwurf sollten wir Wert
darauf legen, unbestimmte Rechtsbegriffe möglichst zu
vermeiden . Mit Blick auf die Erforderlichkeit des § 203
StGB sollten wir zumindest prüfen, ob die Aufnahme
praxisnaher Beispiele in die Begründung mehr Rechtssi-
cherheit schaffen kann.
Mitwirkende Personen:
Auch bezüglich des Kreises der mitwirkenden Perso-
nen scheint eine Nachschärfung sinnvoll . Beispielswei-
se ist in vielen Berufsordnungen von Dienstleistern die
Rede. Dabei werden wir in der Praxis häufig Fälle sehen,
in die ein beauftragter Dienstleister wiederum seine Mit-
arbeiter einsetzen wird, die dann die tatsächlich mitwir-
kenden Personen sind . Auch hier sollten wir geeignet für
Klarheit sorgen .
Insgesamt schafft der vorliegende Gesetzentwurf ei-
nen guten Ausgleich zwischen dem Schutz von Geheim-
nissen und einer praxistauglichen Neuerung, die die Le-
benswirklichkeit abbildet .
Es war höchste Zeit, insbesondere für eine Vielzahl
von Freiberuflern, mehr Rechtssicherheit zu schaffen.
Dementsprechend positiv ist auch die Resonanz, die uns
bisher erreicht hat . In diesem Sinne freue ich mich auf
die weiteren Beratungen .
Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Die Verschwiegen-
heit zählt zu den Kardinalspflichten eines jeden Arztes,
Rechtsanwalts oder Steuerberaters . Verstöße können für
die Beteiligten zu irreparablen Schäden führen . Neben
einer zivilrechtlichen Haftung wird das unbefugte Offen-
baren von Geheimnissen in § 203 Strafgesetzbuch unter
Strafe gestellt . Schwerwiegender sind oftmals die berufs-
rechtlichen Konsequenzen, die bis zu einem Entzug der
Zulassung reichen .
Berufsgeheimnisträger können ihre Tätigkeit nicht al-
leine bewerkstelligen, sodass sie sich oftmals von weite-
ren angestellten Personen unterstützen lassen . Damit die
Verschwiegenheitspflicht nicht ins Leere läuft, ist diese
Gruppe in strafbewehrter Weise ebenfalls darin einge-
schlossen .
Allerdings hat sich die Arbeitswelt gewandelt . Eine
Vielzahl der unterstützenden Tätigkeiten werden von
angestelltem Personal nicht mehr erledigt . Als Beispie-
le seien nur die IT-Systemwartung, die Speicherung von
Daten durch Cloud-Lösungen oder die Aktenarchivie-
rung genannt . Selbst die klassischen Tätigkeiten in Kanz-
leien wie die Entgegennahme von Telefonanrufen oder
Schreibarbeiten werden oftmals von externen Dienstleis-
tern erbracht .
Diese externen Dienstleister sind im Gegensatz zum
angestellten Personal in der Sphäre des Berufsgeheim-
nisträgers jedoch nicht mehr zu verorten . Ein Berufsge-
heimnisträger macht sich möglicherweise strafbar, wenn
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 23405
(A) (C)
(B) (D)
er externe Personen, beispielsweise bei der Wartung des
IT-Systems, Zugang zu Geheimnissen gewährt . Es be-
steht eine erhebliche Rechtsunsicherheit, die gelöst wer-
den muss .
Mit diesem Gesetzentwurf möchten wir wieder
Rechtssicherheit schaffen. Der Gesetzgeber ist aufgeru-
fen, die Vorschriften zum Geheimnisschutz an die tat-
sächlichen Gegebenheiten anzupassen .
Es soll festgeschrieben werden, dass sich Berufsge-
heimnisträger nicht strafbar machen, wenn sie sich der
Unterstützung externer Dienstleister bedienen . Das hohe
Schutzniveau von Geheimnissen muss jedoch aufrechter-
halten bleiben, sodass die Erweiterung des Personenkrei-
ses unter mehreren Voraussetzungen stehen muss .
Die Mitwirkung eines externen Dienstleisters muss
für den Berufsgeheimnisträger erforderlich sein . Damit
soll der Notwendigkeit einer Ausweitung des Geheim-
nisses auf einen nur begrenzten Personenkreis Rechnung
getragen werden . Zugleich ist der erweiterte Kreis von
Geheimnisträgern zur Verschwiegenheit verpflichtet und
macht sich bei Verstößen strafbar .
Die Grundrichtung des Gesetzentwurfs ist damit vor-
gegeben . Im Detail besteht jedoch noch Bedarf an Ände-
rungen und Klarstellungen . Ich möchte dabei drei Punkte
herausgreifen:
Der Gesetzentwurf spricht im Strafgesetzbuch von be-
rufsmäßig tätigen Gehilfen und sonstigen mitwirkenden
Personen . Im Recht der freien Berufe, wie beispielswei-
se der Wirtschaftsprüferordnung, finden sich stattdessen
die Begriffe der beschäftigten Person und des Dienstleis-
ters . Für mehr Rechtssicherheit und zur Vermeidung von
Strafbarkeitslücken sollte eine einheitliche Terminologie
verwendet werden . Es wäre beispielsweise an den ein-
heitlichen Begriff der mitwirkenden Person zu denken,
der sich schließlich in allen relevanten Regelungen wie-
derfindet.
Eine weitere Frage stellt sich bei sogenannten Unter-
auftragsketten . Darf sich der externe Dienstleister weite-
rer mitwirkender Personen bedienen? Um einer Absen-
kung des Schutzniveaus entgegenzuwirken, sollten wir
noch eine gesetzliche Klarstellung vornehmen . Ohne
Beauftragung oder Einverständnis des Berufsgeheim-
nisträgers sollte die Offenbarung von Geheimnissen an
Unterauftragsnehmer unzulässig sein .
Wir müssen auch noch korrespondierende Regelun-
gen in der Strafprozessordnung schaffen. Der Geheim-
nisschutz wäre nicht durchgehend gewahrt, wenn ein
externer Dienstleister im Rahmen seiner Zeugenpflicht
in einem Gerichtsverfahren aussagen und das Geheimnis
offenbaren müsste. Es bedarf für diese Gruppe der Schaf-
fung eines Zeugnisverweigerungsrechts, um Widersprü-
che in der Rechtsordnung zu vermeiden .
Ich bin zuversichtlich, dass wir die noch offenen Fra-
gen in der Anhörung und den Beratungen im Ausschuss
klären können . Machen wir uns an die Arbeit!
Dr. Johannes Fechner (SPD): Angehörige be-
stimmter Berufsgruppen gewinnen innerhalb ihrer beruf-
lichen Tätigkeit Einblick in die Privatsphäre derer, die
sich hilfesuchend an sie wenden . Bei Rechtsanwälten,
Ärzten oder auch Psychologen ist die Kenntnis des per-
sönlichen Lebensbereichs des Mandanten oder Patienten
mehr oder weniger Voraussetzung für die Erbringung ih-
rer Dienstleistung . Umgekehrt muss der Hilfesuchende
darauf vertrauen können, dass die von ihm anvertrauten
Details nicht unbefugt Dritten offenbart werden. Die
Verletzung der Verschwiegenheitspflicht ist – neben be-
rufsrechtlichen Konsequenzen – gemäß § 203 StGB mit
Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe bedroht .
Das gleiche gilt für die Beschäftigten der sogenannten
Berufsgeheimnisträger . Im Binnenverhältnis Berufsge-
heimnisträger/Angestellter begründet die Offenbarung
von Geheimnissen keine Strafbarkeit, da das Geheimnis
den Wissenskreis nicht verlässt .
So weit, so gut – zumindest für lange Zeit . Die Digi-
talisierung der Arbeitsprozesse hat jedoch zu Schutzlü-
cken geführt. Immer häufiger werden Tätigkeiten nicht
mehr von eigenen Angestellten erledigt, sondern „ausge-
lagert“ . Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn für
die Tätigkeit spezielle Kenntnisse erforderlich sind, über
die das eigene Personal nicht verfügt, die Einstellung ei-
ner Person mit entsprechenden Kenntnissen jedoch nicht
wirtschaftlich wäre . Zudem bieten Betrieb, Wartung und
Anpassung von informationstechnischen Anlagen und
Systemen die Möglichkeit, Kenntnis von allen Daten und
damit von geschützten Geheimnissen zu nehmen . Perso-
nen, die an der beruflichen oder dienstlichen Tätigkeit des
Geheimnisträgers mitwirken, ohne jedoch in seine Sphä-
re eingebunden zu sein, sind nach herrschender Meinung
nicht von § 203 StGB erfasst . Dies führt zu der Situation,
dass sich der Berufsgeheimnisträger strafbar zu machen
droht, wenn er bestimmte Aufgaben auslagert . Zudem ist
der Patient, Mandant oder der sonst eine Dienstleistung
in Anspruch Nehmende nur lückenhaft strafrechtlich
geschützt, da die Offenbarung von Geheimnissen durch
sonstige Mitwirkende nicht strafbewehrt ist .
Der Entwurf will die geschilderte Strafbarkeitslücke
schließen . Der Berufsgeheimnisträger soll zur Weiter-
gabe oder dem Zugänglichmachen von Geheimnissen
an externe Dienstleister befugt sein, soweit es für die
Inanspruchnahme der Tätigkeit erforderlich ist . Im Um-
kehrschluss machen sich diese mitwirkenden Personen
strafbar, wenn sie das Geheimnis ihrerseits Dritten offen-
baren .
Die vorgeschlagene Regelung trägt den veränderten
Umständen der Arbeitswelt adäquat Rechnung .
Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Grundsätzlich ist
der Gesetzentwurf längst überfällig, Deutschland hat
aber insbesondere auch hier mal wieder die technische
Entwicklung verschlafen und alle Berufsgeheimnisträger
seit Jahren der Gefahr strafrechtlicher Verfolgung ausge-
setzt, wenn sie zum Beispiel IT-Systeme verwenden, die
von Dritten betreut werden . Dies ist jedoch zwischenzeit-
lich der Standard bei jeder noch so kleinen Anwaltskanz-
lei oder Arztpraxis .
Denn diese Helfer waren bisher nicht ausreichend
in § 203 StGB berücksichtigt und der im Rahmen ihrer
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 201723406
(A) (C)
(B) (D)
vertraglichen Tätigkeit notwendige Zugriff durch sie auf
Daten der entsprechenden Berufsgeheimnisträger de lege
lata strafbar . Das betraf auch andere Dienstleistungen
wie Aktenvernichtung, Aktenarchivierung etc .
Die BRAK hat schon versucht, dem durch Änderun-
gen der Berufsordnung der Rechtsanwälte Rechnung zu
tragen . Dort ist in § 2 geregelt, dass der Rechtsanwalt
seine Mitarbeiter zur Verschwiegenheit schriftlich zu
verpflichten und anzuhalten hat, auch soweit sie nicht
im Mandat, sondern in sonstiger Weise für ihn tätig
sind . Dies gilt auch hinsichtlich sonstiger Personen, de-
ren Dienste der Rechtsanwalt in Anspruch nimmt und
denen er verschwiegenheitsgeschützte Tatsachen zur
Kenntnis gibt oder die sich gelegentlich ihrer Leistungs-
erbringung Kenntnis von verschwiegenheitsgeschützten
Tatsachen verschaffen können. Nimmt der Rechtsan-
walt die Dienste von Unternehmen in Anspruch, hat er
diesen Unternehmen aufzuerlegen, ihre Mitarbeiter zur
Verschwiegenheit über die Tatsachen gemäß Satz 1 zu
verpflichten. Die vorgenannten Pflichten gelten nicht,
soweit die dienstleistenden Personen oder Unternehmen
kraft Gesetzes zur Geheimhaltung verpflichtet sind oder
sich aus dem Inhalt der Dienstleistung eine solche Pflicht
offenkundig ergibt.
Nun soll dem durch Änderung des § 203 StGB Rech-
nung getragen werden, indem die Kenntnisnahme von
Geheimnissen im Rahmen der vorgenannten Tätigkeiten
kein Offenbaren im strafrechtlich relevanten Sinne dar-
stellen soll .
Allerdings werden die Änderungen nicht durch das
Prozessrecht – wie zum Beispiel dem Zeugnisverweige-
rungsrecht der Berufshelfer entsprechend § 53a StPO –
hinreichend flankiert, was Folgeprobleme aufwirft und
zu Rechtsunsicherheit führen wird . Bezeichnenderweise
enthält der Gesetzentwurf dazu keinerlei Aussagen .
Auch ist der Gesetzgeber wieder im Bereich der In-
formationstechnik naiv, wenn er im Rahmen der Ände-
rungen zur Rechtsanwaltsordnung bei der Inanspruch-
nahme von Dienstleistungen ausländische Anbieter nur
zulässt, wenn ein entsprechendes Schutzniveau im Aus-
land herrscht. Begriffe wie Cloud und das Problem, dass
selbst die USA unter Datenschutzgesichtspunkten nicht
als gleichwertig betrachtet werden, finden damit keine
hinreichende praxistaugliche Abbildung .
Dass darüber hinaus spezifische berufsrechtliche Re-
gelungen notwendig sind, erscheint überengagiert und
dürfte der Rechtssicherheit ebenfalls abträglich sein .
Vollkommen abwegig ist die Einführung eines neu-
en Straftatbestandes für Berufsgeheimnisträger, die
die Hilfs personen ihrerseits nicht auf Geheimhaltung
verpflichten – die Geheimhaltungspflicht ist bereits ge-
setzlich für die Hilfspersonen fixiert, und wer sich als
Dienstleister in einem solchen Umfeld bewegt, muss
seine Pflichten selbst kennen. Überspitzt gesagt: Auch
der Messerverkäufer wird nicht bestraft, wenn er Messer
verkauft, ohne darauf hinzuweisen, dass damit tunlichst
keine Menschen umgebracht werden dürfen . Allenfalls
als sanktionierbare Berufspflicht käme die Geheimhal-
tungsverpflichtung in Betracht.
Na, mal sehen, ob die Beratungen was retten; derzeit
kann man den Gesetzentwurf nur ablehnen .
Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der Ge-
setzentwurf der Bundesregierung nimmt sich eines Pro-
blems an, dass für viele Berufsgeheimnisträger in der
Praxis schon länger besteht und will dazu sowohl das
Strafrecht als auch das anwaltliche Berufsrecht ändern .
Anwälte, Steuerberater oder Ärzte sind zur Verschwie-
genheit verpflichtet und benötigen dennoch die Unter-
stützung Dritter bei der Ausübung ihres Berufs . Anwalts-
gehilfen oder Arzthelfer sind schon berufsmäßig in die
Geheimnisse der Mandanten bzw . Patienten eingebunden
und gehören zum sogenannten „geschlossenen Geheim-
nisträgerkreis“ .
Die freien Berufe müssen sich aber heute aufgrund der
fortschreitenden Digitalisierung immer häufiger externer
Dienstleister bedienen . Das fängt bei der Datenspeiche-
rung an und geht bis hin zur regelmäßigen Nutzung von
IT-Dienstleistern, um nur einige relevante Beispiele zu
nennen . Jede Anwältin, die eine IT-Firma beauftragt,
steht quasi mit einem Fuß im Knast, weil die Firmen-
mitarbeiter Zugang zu den Mandatsdaten haben . Und seit
neuestem zwingen wir per Gesetz sogar kleine Kanzleien
zu diesem Schritt, weil alle ein elektronisches Postfach
vorhalten müssen, das die Datensicherung und -speiche-
rung immer komplizierter macht .
Für alle Berufsgeheimnisträger soll deshalb jetzt das
Strafrecht angepasst bzw . der strafrechtliche Geheimnis-
schutz „verlängert“ werden . Es geht um die Vorschrift
des § 203 StGB: „Verletzung von Privatgeheimnissen“ .
So soll das Offenbaren eines Geheimnisses nicht mehr
rechtswidrig sein, wenn die Inanspruchnahme der mit-
wirkenden Personen „erforderlich“ war und der Dienst-
leister zur Verschwiegenheit verpflichtet wurde.
Hier stellt sich schon die Frage, was eigentlich „erfor-
derlich“ ist. Entsprechendes soll auch bei mehrstufigen
Auftragsverhältnissen gelten, also wenn sich die Dienst-
leister ihrerseits weiterer Personen zur Aufgabenerfül-
lung bedienen .
Wie aber soll der Berufsgeheimnisträger praktisch da-
für Sorge tragen, dass ein von ihm beauftragter Dritter
auch seine Angestellten zur Verschwiegenheit verpflich-
tet? Was muss er tun, um das auch zu überprüfen? Hier
muss klar bestimmt werden, welchen Umfang die Sorg-
faltspflichten zum Geheimnisschutz tatsächlich haben.
Immerhin geht es um Freiheitsstrafen bis zu einem Jahr .
Zudem hat der Bundesrat zu Recht moniert, dass es
hier eigentlich um eine Vorsatztat geht und nicht um die
Verletzung von Sorgfaltspflichten.
Der schwerwiegendste Mangel des Gesetzes ist aller-
dings der, dass das Problem nicht zu Ende gedacht wur-
de: Es fehlt nämlich das Zeugnisverweigerungsrecht für
mitwirkende Personen in der Strafprozessordnung .
Bislang ist in § 53a StPO geregelt, dass die klassi-
schen Berufshelfer – ebenso wie Ärzte und Rechtsanwäl-
te selbst – ein Zeugnisverweigerungsrecht haben . Davon
sind aber die IT-Dienstleister gerade nicht erfasst! Was
bringt also eine Verschwiegenheitserklärung, wenn die
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 23407
(A) (C)
(B) (D)
Mitarbeiter der IT-Dienstleister ihre Kenntnisse ggf . als
Zeugen gegenüber der staatlichen Ermittlungsbehörde
preisgeben müssen? Auf Seite 22 der Begründung Ihres
Gesetzentwurfs wird auf ein gesondertes Gesetzgebungs-
verfahren verwiesen, in dem das demnächst geregelt wer-
den soll . Dieses Gesetz zur Umsetzung der Berufsaner-
kennungsrichtlinie haben wir allerdings in der vorletzten
Sitzungswoche bereits verabschiedet, nachdem Sie alles
Mögliche daraus wieder gestrichen haben .
Auch das Zeugnisverweigerungsrecht wurde dort ge-
rade nicht geregelt, weil die Dinge mal wieder kompli-
zierter sind, als gedacht .
Die Frage, die beantwortet werden muss, ist doch, ob
wirklich alle Mitarbeiter von IT-Dienstleistern, Reini-
gungsfirmen etc. vom Zeugnisverweigerungsrecht nach
§ 53a StPO erfasst werden sollen oder nicht?! Ich finde
darüber kann und muss man nachdenken .
Der Kreis der zeugnisverweigerungsberechtigen Per-
sonen wird dann in der Tat zwar sehr groß, aber ande-
rerseits betrifft es ja auch nur Geheimnisse, von denen
gerade im Hinblick auf das konkrete Dienstverhältnis
Kenntnis genommen wurde .
Auf der anderen Seite hat der Bundesrat nicht zu
Unrecht angemahnt, dass die Geheimschutzbelange der
betroffenen Personen – also Mandanten bzw. Patienten –
nicht genug berücksichtigt werden . Es geht mal wieder
um des Pudels Kern in der digitalisierten Welt: Muss
ich wirklich damit rechnen, dass meine Scheidungsakte
oder meine Vergewaltigungsakte in einer I-Cloud oder
wo auch immer gespeichert sind, auf die dann eine un-
begrenzte Zahl mir nicht bekannter IT-Spezialisten einer
von meiner Anwältin beauftragten Firma zugreifen kön-
nen?
Ich habe hier schon mehrfach deutlich gemacht, dass
ich die Pflicht zum elektronischen Rechtsverkehr kritisch
sehe . Wenn Sie aber zu dieser Entscheidung stehen wol-
len, müssen Sie auch beim Zeugnisverweigerungsrecht
nachziehen . Beides sind Seiten ein und derselben Me-
daille .
Solange Sie diese Frage nicht klar beantworten, ist Ihr
Gesetzentwurf in dieser Form bloßes Stückwerk .
Christian Lange, Parl . Staatssekretär beim Bun-
desminister der Justiz und für Verbraucherschutz: Nach
§ 203 des Strafgesetzbuches machen sich die dort ge-
nannten Berufsgeheimnisträger strafbar, wenn sie ein
Geheimnis, das ihnen in beruflicher Eigenschaft anver-
traut wurde, unbefugt offenbaren. Das gilt beispielsweise
für Ärzte, Apotheker, Rechtsanwälte, Notare, Steuerbe-
rater und Wirtschaftsprüfer .
Dieser strafrechtliche Schutz ist notwendig, denn
ohne die Pflicht zur Verschwiegenheit kann kein Vertrau-
ensverhältnis zwischen den Berufsgeheimnisträgern und
dem Anvertrauenden entstehen. Und ohne diese Pflicht
kann auch der Berufsgeheimnisträger die ihm zugedach-
te Funktion nicht sinnvoll erfüllen .
Allerdings können diese Berufsgruppen heute ihre be-
ruflichen Tätigkeiten nicht mehr allein oder ausschließ-
lich mit der Unterstützung eigenen Personals ausüben .
Vielmehr sind sie für bestimmte Tätigkeiten auf darauf
spezialisierte Unternehmen oder selbständig tätige Per-
sonen angewiesen .
Ein besonders plastisches Beispiel ist die Einrichtung,
der Betrieb, die Wartung und die Anpassung von IT-Sys-
temen . Schon aus Gründen der Informationssicherheit,
die nicht zuletzt auch den Personen dient, die den Berufs-
geheimnisträgern ihre Geheimnisse anvertrauen, ist es
angezeigt, dass hier Fachleute tätig werden . Dass solche
Fachleute in einer kleinen Arztpraxis oder Anwaltskanz-
lei nicht als eigenes Personal beschäftigt werden können,
liegt auf der Hand . Aber auch bei größeren Unternehmen
ist es oftmals wirtschaftlich nicht sinnvoll, für all diese
unterstützenden Tätigkeiten eigenes Personal vorzuhal-
ten .
Wer sich mit IT auskennt, dem ist klar, dass mit der
Arbeit an solchen Systemen in den meisten Fällen die
Möglichkeit verbunden ist, von den dort verarbeiteten
Daten Kenntnis zu erlangen .
Liegt in diesen Fällen nicht die ausdrückliche Einwil-
ligung aller Personen vor, von denen die dort abgespei-
cherten Geheimnisse stammen, und regelt auch das Be-
rufsrecht die Inanspruchnahme externer Unterstützung
nicht, so läuft der Berufsgeheimnisträger nach geltender
Rechtslage Gefahr, sich nach § 203 des Strafgesetzbu-
ches strafbar zu machen .
Mit unserem Gesetzentwurf zur Neuregelung des
Schutzes von Geheimnissen bei der Mitwirkung Dritter
an der Berufsausübung schweigepflichtiger Personen
wollen wir hier Rechtssicherheit schaffen.
Der Gesetzentwurf schlägt daher im Wesentlichen vor,
ein Offenbaren von Geheimnissen durch den Berufsge-
heimnisträger gegenüber dritten Personen zu erlauben,
die an der beruflichen oder dienstlichen Tätigkeit der
Berufsgeheimnisträger mitwirken, soweit dieses Offen-
baren für die Inanspruchnahme der Tätigkeit der mitwir-
kenden Person erforderlich ist .
Kompensiert werden soll die damit verbundene Ver-
ringerung des strafrechtlichen Geheimnisschutzes durch
eine Einbeziehung aller mitwirkenden Personen in den
Kreis der tauglichen Täter nach § 203 des Strafgesetz-
buches. Den Berufsgeheimnisträger selbst trifft eine
strafbewehrte Pflicht dafür Sorge zu tragen, dass die
einbezogenen Personen ihrerseits zur Verschwiegenheit
verpflichtet werden.
Darüber hinaus sieht der Gesetzentwurf Änderungen
in einigen Berufsordnungen vor . In die Bundesrechts-
anwaltsordnung, die Bundesnotarordnung, die Patent-
anwaltsordnung, das Steuerberatungsgesetz und die
Wirtschaftsprüferordnung werden nun insbesondere Be-
fugnisnormen eingefügt, die Voraussetzungen und Gren-
zen festlegen, unter denen Dienstleistern, die an der Be-
rufsausübung der Berufsgeheimnisträger mitwirken, der
Zugang zu fremden Geheimnissen eröffnet werden darf.
Damit regeln wir berufsrechtlich das, was der Bun-
desgesetzgeber regeln kann . Denn für andere Berufsge-
heimnisträger, wie zum Beispiel Ärzte, liegt die Gesetz-
gebungskompetenz nicht beim Bund .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 201723408
(A) (C)
(B) (D)
Ich bitte um Unterstützung für diesen Gesetzentwurf .
Es ist dringend notwendig, die rechtlichen Regelungen
für die Berufsgeheimnisträger den tatsächlichen Erfor-
dernissen anzupassen. Bei den Verbänden der betroffe-
nen Berufsgruppen, die wir zu dem Referentenentwurf
beteiligt hatten, ist das Vorhaben auf breite Zustimmung
gestoßen und allgemein die Hoffnung geäußert worden,
dass dieses Projekt schnell zu einem erfolgreichen Ab-
schluss kommt .
Anlage 14
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– des von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen
vom 11. Juli 2016 zwischen der Regierung der
Bundesrepublik Deutschland und der Regie-
rung der Arabischen Republik Ägypten über
die Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich
– des von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen
vom 26. September 2016 zwischen der Regie-
rung der Bundesrepublik Deutschland und der
Regierung der Tunesischen Republik über die
Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich
(Tagesordnungspunkte 33 a und b)
Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU): Heute be-
raten wir abschließend über zwei Abkommen im Si-
cherheitsbereich mit Tunesien und Ägypten . Mit diesen
Abkommen wird die Zusammenarbeit im Sicherheitsbe-
reich auf eine neue Stufe gestellt, und die freundschaft-
lichen Beziehungen mit Ägypten und Tunesien werden
vertieft . Ziel ist insbesondere die Zusammenarbeit im
Kampf gegen die schwere Kriminalität, wie zum Beispiel
Menschenhandel und Zuhälterei, Schleuserkriminalität,
aber auch Geldwäsche, Korruption und Computerkrimi-
nalität . Daneben spielt der Kampf gegen den Terrorismus
eine wichtige Rolle .
Um diese Ziele zu erreichen, sollen sich zukünftig
Fachleute aus Deutschland, Tunesien und Ägypten über
Methoden der Kriminalitätsverhütung und -bekämpfung
austauschen und voneinander lernen . Über diese prak-
tische Zusammenarbeit hinaus wird in den Abkommen
auch der Informationsaustausch zwischen den Vertrags-
parteien geregelt, wobei klargestellt ist, dass hierbei in-
nerstaatliches Recht beachtet werden muss .
Zusätzlich zu dieser vereinbarten Zusammenarbeit
im Bereich der Verbrechensbekämpfung enthält insbe-
sondere das Abkommen mit Tunesien noch ausführliche
Kapitel zu den Themen Migration und Flüchtlinge sowie
der Zusammenarbeit im Bereich des Katastrophenschut-
zes . Dabei geht es im Bereich Migration auch um die
„Sicherstellung des Schutzes der Rechte von Migranten
und Flüchtlingen entsprechend den internationalen Stan-
dards“ .
Mir ist bewusst – und dies wurde auch im Innenaus-
schuss diskutiert –: Die menschenrechtliche Lage gera-
de in Ägypten entspricht nicht unseren Vorstellungen .
Die ägyptische Regierung schränkt vielmehr massiv die
Rechte der eigenen Bürger ein . Ich will in diesem Rah-
men auch noch einmal klar unterstreichen, dass wir die
Todesstrafe als nicht mit den Menschenrechten vereinbar
ansehen und sie ablehnen . Daher appelliere ich an dieser
Stelle an die ägyptische Regierung, hier Schritte für Ver-
besserungen zu unternehmen .
Uns allen sollte aber klar sein, dass wir in einer Welt
leben, in der Menschenrechte und Demokratie nach un-
seren Vorstellungen leider nicht der globale Standard
sind, wobei man anmerken könnte, dass wir auch Mit-
gliedstaaten in der Europäischen Union haben, in denen
dieser Standard nicht unbedingt hundertprozentig erfüllt
wird .
Wenn aber nun aus dieser Erkenntnis, dass nur die
wenigsten Staaten in dieser Hinsicht unseren Wertvor-
stellungen entsprechen, die Konsequenz gezogen werden
sollte, mit den übrigen Staaten keine Zusammenarbeit im
Kampf gegen Kriminalität und Terror anzustreben, dann
macht das weder das Leben in Deutschland noch woan-
ders in der Welt sicherer . Dies kann und sollte nicht unser
Ziel sein .
Wie Sie dem Vertragstext im Abkommen mit Ägypten
entnehmen können, ist sich die Bundesregierung der dor-
tigen Probleme bei den Menschenrechten bewusst und
hat deren Schutz ausdrücklich in den Vertragstext mit
aufgenommen . Das geht bis zum möglichen Abbruch der
Kooperation, um auf Verletzungen der Menschenrechte
zu reagieren .
Ich möchte außerdem hervorheben, dass die Zusam-
menarbeit im Bereich Forschung und Aus- und Weiter-
bildung einen zentralen Teil des Abkommens darstellt .
Daraus ergibt sich für uns die Möglichkeit, im Rahmen
dieser Kooperation einen konstruktiven Einfluss auf die
Ausbildung der Sicherheitskräfte in den betreffenden
Ländern zu nehmen . Ich bin überzeugt, dass die Erfah-
rungen, die die ägyptischen und tunesischen Sicherheits-
kräfte im Austausch mit der Bundesrepublik Deutschland
und ihren rechtsstaatlichen Standards machen werden,
langfristig positiv auf deren Arbeit zurückwirken werden .
Die Welt, in der wir leben, ist nicht perfekt, damit
müssen wir zurechtkommen. Die nun zur Ratifikation
vorliegenden Verträge können aber dazu beitragen, zu-
mindest einen kleinen Schritt in die richtige Richtung zu
gehen, um die Welt besser zu machen .
So können wir Tunesien helfen, auf seinem Weg zu
mehr Demokratie und Menschrechten voranzukommen .
Gerade dieses Land hat ja seit dem Beginn des sogenann-
ten Arabischen Frühlings eine für die Region recht vor-
bildliche Entwicklung genommen .
Wenn wir einen Anteil zur Stabilisierung der tunesi-
schen Erfolge leisten wollen, dürfen wir nicht die Hände
in den Schoß legen . Wir müssen auf mehreren Ebenen
ansetzen .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 23409
(A) (C)
(B) (D)
Da sehe ich zum einen ganz stark die politische Bil-
dung und die Förderung der Zivilgesellschaft und der
demokratischen Strukturen .
All diese Bemühungen können ihre Wirkung aber nur
in einem sicheren Umfeld entfalten . Dazu können die
vorliegenden Abkommen einen wertvollen Beitrag leis-
ten .
Ebenso haben wir auch in Ägypten die Chance, un-
seren positiven Einfluss in diesem Bereich geltend zu
machen . Besonders im Falle Ägyptens mit seinen über
87 Millionen Einwohnern muss es uns ein Herzensanlie-
gen sein, die Bindungen und Kanäle zu diesem wichtigen
Staat aufrechtzuerhalten . Denn das Land am Nil kann im
besten Falle ein nach außen wirkender Stabilitätsanker
für die Region sein, im schlechtesten Falle Herkunfts-
und Transitland von Terroristen, die nicht nur die Leben
der Menschen dort, sondern auch bei uns in Europa be-
drohen .
Die Ägypter sind bereits erheblich durch die Gefahr
des Terrorismus bedroht . Gerade Minderheiten leiden
unter der jetzigen Situation . Besonders die seit längerem
bedrohten christlichen Gemeinden werden immer mehr
zur Zielscheibe von gewalttätigen Extremisten .
Dass wir den Kontakt zur ägyptischen Regierung auch
in schwierigen Zeiten halten und auch in der Sicherheits-
kooperation vertiefen, ist im Interesse unserer beiden
Staaten und deren Bewohner .
Das Gleiche gilt für Tunesien . Dies sage ich im Be-
sonderen vor dem Hintergrund des Anschlages in Berlin
im vergangenen Dezember . Der Fall des Berlin-Attentä-
ters Anis Amri, der ja aus Tunesien kam, zeigt doch ganz
eindeutig, dass wir die Zusammenarbeit im Sicherheits-
bereich vor allem mit den Ländern, die besonders unter
dem Extremismus leiden, ausbauen müssen .
Dazu gehört im Rahmen des vorliegenden Abkom-
mens dementsprechend auch ein Schwerpunkt auf der
Fälschungssicherheit von Ausweisdokumenten sowie der
Steuerung von Migration in legale und besser kontrollier-
bare Kanäle . Glaubt denn jemand hier im Haus ernsthaft,
dass sich unsere Sicherheit hier in Deutschland oder die
Situation in unseren Partnerländern verbessert, wenn wir
auf Abkommen wie dieses verzichten?
Gerade auch damit wir Verbrechen wie den Berliner
Anschlag in Zukunft effektiver verhindern können, brau-
chen wir eine bessere Zusammenarbeit mit den Her-
kunftsstaaten von Gefährdern . Und dazu gehören bedau-
erlicherweise nun einmal auch Tunesien und Ägypten .
Die Abkommen bieten hier die Möglichkeit für positive
Entwicklungen . Nichts zu tun, wird jedenfalls nichts be-
wirken .
Ich bitte Sie daher, den vorliegenden Gesetzen die Zu-
stimmung zu erteilen, damit die Abkommen mit Tunesi-
en und Ägypten zur Zusammenarbeit im Sicherheitsbe-
reich in Kraft treten können .
Wolfgang Gunkel (SPD): Polizeiliche Zusammen-
arbeit ist ein wichtiger Eckpfeiler unserer inneren Si-
cherheit . Ohne länderübergreifende polizeiliche Zusam-
menarbeit sind wir den aktuellen Bedrohungen nicht
gewachsen, denn im Bereich des Terrorismus und auch
im Bereich der organisierten Kriminalität wird durchaus
länderübergreifend zusammengearbeitet . Dem können
wir uns nicht verschließen . Polizeiliche Zusammenarbeit
ist wichtiger denn je .
Immer wieder haben wir in den vergangenen Jahren
über diese Art von Abkommen diskutiert . Zuletzt ging es
um die Zusammenarbeit mit Serbien, Albanien und Ge-
orgien, und nun wird die Kooperation auch über Europa
hinaus ausgedehnt .
Wie sieht die Zusammenarbeit konkret aus?
Im Bereich der Kriminalitäts- und Terrorismusbe-
kämpfung geht es vor allem um Informationsaustausch
unter Fachleuten: zu Methoden der Kriminalitätsbe-
kämpfung und Verhütung, ebenso zu Tätern und Metho-
den im Bereich der kriminalistischen und kriminologi-
schen Forschung .
Bei operativen Maßnahmen soll kooperiert werden .
So soll bei operativen Ermittlungen durch aufeinander
abgestimmte polizeiliche Maßnahmen zusammenge-
wirkt und dabei personell, materiell und organisatorisch
Unterstützung geleistet werden .
Weiterhin sollen sich die Vertragsparteien einander
bei der Durchführung von Seminaren, Lehrgängen und
praktischen Übungen, der Entsendung von Fachleuten
zum Erfahrungsaustausch sowie bei der Erarbeitung von
Lehrgangsunterlagen und Lehrplänen unterstützen .
Im Bereich des Katastrophenschutzes geht es um die
Zusammenarbeit bei Ausbildung und Ausstattung sowie
der Entsendung von qualifiziertem Personal im Katast-
rophenfall .
Im Innenausschuss haben wir bereits die Kehrseite
solcher Abkommen diskutiert .
Wir können nicht überall von den menschenrechtli-
chen Standards ausgehen, die wir an Polizeiarbeit stellen .
Gerade das Thema Ägypten bereitet sicher nicht nur
mir erhebliche Bauchschmerzen . Die menschenrechtli-
che Lage ist nach wie vor sehr angespannt . Die Polizei-
arbeit ist nicht immer frei von Willkür und Korruption .
Oppositionelle und Minderheiten werden verfolgt, und
die Gefahr besteht, dass der Wissensaustausch und die
Zusammenarbeit dazu führen, dass Repressionen noch
erfolgreicher durchgeführt werden können .
Solche Probleme gilt es auch im Rahmen eines part-
nerschaftlichen Zusammenarbeitens klar zu benennen .
Der vielfältige Erfahrungsaustausch, aber auch die Zu-
sammenarbeit bei der Ausbildung und der Gestaltung
von Lehrplänen wurden bereits erwähnt . Hier sind die
deutschen Partner gefordert, ihre rechtsstaatlichen Ideale
und Kenntnisse zu vermitteln und vorbildhaft einzuset-
zen .
Das Abkommen zeigt daneben auch die Grenzen der
Zusammenarbeit auf: Der Zusammenarbeit kann wider-
sprochen werden, wenn zum Beispiel wesentliche Inte-
ressen einer Vertragspartei beeinträchtigt werden oder
die Zusammenarbeit im Widerspruch zu ihrem inner-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 201723410
(A) (C)
(B) (D)
staatlichen Recht steht . Hier wird klar formuliert, dass
eine Zusammenarbeit nicht stattfinden kann, wenn damit
Menschenrechtsverletzungen unterstützt werden .
Ich vertraue auf die Kompetenz der handelnden Be-
hörden, diese Grenzen zu erkennen und aufzuzeigen .
Insgesamt überwiegen die sicherheitspolitischen Inte-
ressen, die eine solche Zusammenarbeit erforderlich ma-
chen, sodass die SPD-Bundestagsfraktion den Gesetzent-
würfen zustimmen kann .
Ich bin mir sicher, dass wir durch eine effiziente Zu-
sammenarbeit viel erreichen können .
Ulla Jelpke (DIE LINKE): Wir beraten hier über Ent-
würfe für zwei Gesetze zu Sicherheitsabkommen zwi-
schen der Bundesrepublik und den nordafrikanischen
Staaten Tunesien und Ägypten .
Dabei geht es nicht nur um Kooperation bei der Be-
kämpfung von Terrorismus und schwerer Kriminalität,
sondern auch um die Bekämpfung unerwünschter Migra-
tion . Zum Hintergrund beider Abkommen gehört das Be-
streben der Bundesregierung, die Migration von Flücht-
lingen immer stärker zu kontrollieren und diese Kontrolle
auch geografisch vorzuverlagern. Denn geht es nach der
Bundesregierung, dann sollen Flüchtlinge bereits in ih-
ren Herkunfts- und Transitstaaten gestoppt werden . Ob
dort autoritäre Regimes herrschen und Flüchtlinge in ih-
ren Menschenrechten auf Verlassen eines Landes verletzt
werden, das ist der Bundesregierung offensichtlich völlig
egal .
Über die derzeitigen Regelungen hinausgehende Si-
cherheitsabkommen mit Ägypten und Tunesien verbieten
sich zum jetzigen Zeitpunkt aus Sicht der Linken, da bei-
de Staaten nicht die erforderlichen menschenrechtlichen
und rechtsstaatlichen Standards aufweisen . Dies gilt ins-
besondere für Ägypten . Nach dem Putsch gegen die Zi-
vildiktatur des islamistischen Präsidenten Mursi herrscht
dort jetzt eine noch rigidere Militärdiktatur unter General
el-Sisi . Laut dem Jahresbericht 2016 von Amnesty In-
ternational ist die Menschenrechtslage verheerend . Es
gibt Massenverhaftungen bei Protesten gegen die Regie-
rung, auch Journalisten und Menschenrechtsverteidiger
werden von Sicherheitskräften verschleppt, Gefangene
des Geheimdienstes verschwinden an unbekannten Or-
ten . Immer wieder kommt es zu Todesopfern durch un-
verhältnismäßige Polizeigewalt . Die Todesstrafe wird
regelmäßig verhängt und auch vollstreckt . Polizei und
Küstenwache hindern zudem Tausende Flüchtlinge am
Verlassen des Landes und damit an der Wahrnehmung
ihres Menschenrechts, in einem anderen Land Asyl zu
suchen . Gleichzeitig sind Schutzsuchende in Ägypten
nicht sicher vor Abschiebungen in ihre Verfolgerstaaten .
Mit dem bereits am 11 . Juli 2016 von der deutschen
und ägyptischen Regierung unterzeichneten Sicher-
heitsabkommen, das jetzt durch das vorliegende Gesetz
umgesetzt werden soll, wurde der berüchtigte ägypti-
sche Sicherheitsdienst NSS zum Partner des Bundes-
kriminalamtes . Der über geheimdienstliche Befugnisse
verfügende NSS ist bekannt für seine Folterungen auf
Polizeiwachen und in Gefängnissen . Dutzende ranghohe
NSS-Beamte wurden bereits nach Deutschland eingela-
den, um sie dort in der Bekämpfung des „Terrorismus
und Extremismus“ zu schulen . Gelehrt werden etwa
Überwachungstechniken für das Internet – die Leidtra-
genden werden gewaltfreie Oppositionelle und regime-
kritische Journalisten in Ägypten sein, die ebenfalls im
Fokus des NSS stehen . Einer der Kooperationspartner
deutscher Polizeibehörden wird die ägyptische Stadi-
onpolizei sein, die für das Massaker in einem Fußball-
stadion in Port Said im Jahr 2012 verantwortlich ist, bei
dem über 70 Menschen getötet wurden . Zukünftig soll
die Bundespolizei dieser Mördertruppe Fortbildungen
geben . Das ist doch ungeheuerlich!
Die Bundesregierung wäre gut darin beraten, das
Militärregime zu ächten, anstatt mit den Generälen zu
kollaborieren . In einer gerade laufenden Petition von
Ägyptern gegen dieses Sicherheitsabkommen heißt es:
„Unterstützung benötigen wir bei der Aufarbeitung von
Verbrechen der ägyptischen Regierungen der vergange-
nen Jahrzehnte und nicht beim Verüben von neuen Ver-
brechen durch Polizei, Geheimdienste und Militär von
el-Sisi .“ Dem kann sich die Linke nur anschließen .
Ganz so dramatisch wie in Ägypten ist die Lage zwar
in Tunesien nicht . Doch auch dort herrscht seit Novem-
ber 2015 der Ausnahmezustand im Kampf gegen isla-
mistische Terrorgruppen . Ein Ende Februar von Amnesty
International vorgelegter Bericht über „Menschenrechts-
verletzungen unter dem Ausnahmezustand“ beklagt
willkürliche Verhaftungen, Einschränkungen der Bewe-
gungsfreiheit von Verdächtigen, Repression gegen An-
gehörige von Terrorismusverdächtigen . Konkret benennt
der Amnesty-Bericht 23 Fälle von Folter, Misshandlun-
gen und Vergewaltigung durch Sicherheitskräfte .
Für den Bereich der Strafverfolgung reichen die beste-
henden gesetzlichen Regelungen mit Tunesien völlig aus .
Doch darüber hinaus soll das Abkommen eine Grund-
lage für den Austausch von Informationen im Bereich
der Verhütung von Straftaten bei vielen verschiedenen
Kriminalitätsbereichen schaffen. Datenschutzrechtliche
Bestimmungen sind zwar vorgesehen . Doch ob diese
wirklich konsequent eingehalten werden, ist zu bezwei-
feln, da keine wirksamen Mechanismen gegen den Miss-
brauch von Informationen durch die tunesischen Sicher-
heitskräfte vorgesehen sind .
Die Intention der Bundesregierung, Fluchtbewegun-
gen aus Tunesien durch den Erhalt und Ausbau innen-
politischer Stabilität in dem nordafrikanischen Land zu
begegnen, ist nachvollziehbar . Wenn eine solche Stabili-
tät aber vor allem auf einem repressiven Apparat lastet,
werden damit nicht Fluchtursachen bekämpft, sondern
erst geschaffen.
Dass die Bundesregierung zugleich darauf drängt,
sogenannte islamistische Gefährder, die sich häufig
erst in Europa radikalisiert haben, schneller und unbü-
rokratischer nach Tunesien abzuschieben, führt die Si-
cherheitszusammenarbeit geradezu ad absurdum . Denn
schon jetzt gibt es in Tunesien Demonstrationen, die von
der Regierung fordern, dschihadistischen Kämpfern die
Rückkehr zu verweigern . Die junge tunesische Demokra-
tie verdient jede Unterstützung . Doch durch das Sicher-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 23411
(A) (C)
(B) (D)
heitsabkommen würden gerade die autoritären, willkürli-
chen und nicht rechtsstaatlichen Strukturen gestärkt . Und
das lehnt die Linke ab .
Was wir brauchen, ist eine ernsthafte Bekämpfung
von Fluchtursachen . Dazu gehört auch eine Stabilisie-
rung der Staaten in Nordafrika durch wirtschaftliche und
infrastrukturelle Förderung . Doch wer Militärdiktaturen
und autoritäre Regimes als Türsteher der Festung Euro-
pas einspannt und dafür zu Menschenrechtsverletzungen
in diesen Ländern schweigt, trägt nur zu weiteren Flucht-
gründen bei . Das hat uns der Flüchtlingspakt mit der
Türkei gezeigt . Und das wird mit Ägypten oder Tunesien
nicht anders sein .
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Die Bundesregierung plant erneut, mit zwei
Staaten Sicherheitsabkommen zu schließen, in denen
die menschenrechtliche Lage problematisch ist . Beson-
ders mit Ägypten steht ein Land zur Debatte, in dem mit
staatlicher Beteiligung systematische Menschenrechts-
verletzungen wie Folter, willkürliche Verhaftungen, Ver-
schwindenlassen sowie Unterdrückung der Opposition
oder die Anwendung der Todesstrafe alltäglich sind .
Es ist daher dringendst geboten, klarzustellen, ob und
unter welchen Voraussetzungen Deutschland Sicherheits-
abkommen mit Staaten schließen sollte und mit welchen
Staaten wir gar nicht zusammenarbeiten sollten . Wir sind
nicht grundsätzlich gegen Zusammenarbeit im Sicher-
heitsbereich, aber es macht einen großen Unterschied,
mit welchen Ländern die Bundesrepublik zusammenar-
beitet und welche Sicherheitsbehörden sie damit legiti-
miert und unterstützt .
Die Bundesregierung sieht das offenkundig anders: Sie
hält daran fest, immer wieder die gleichen Textbausteine
für die Abkommen zu verwenden . Dieser Standardtext
enthält aber keine verbindlichen und überprüfbaren Be-
dingungen bezüglich der Achtung der Menschenrechte
oder Rechtsstaatsprinzipien . Solange die Bundesregie-
rung nicht bereit ist, Sicherheitszusammenarbeit neu zu
gestalten und in den Abkommen die Staaten in konkreten
verbindlichen Klauseln zur Einhaltung menschenrecht-
licher und rechtsstaatlicher Standards zu verpflichten,
können wir einer solchen Zusammenarbeit nicht zustim-
men . Unsere Fraktion hat das bereits Ende 2014 in einem
Antrag gefordert, doch die Bundesregierung lehnt diesen
Vorschlag weiter ab .
Zwar ist die Präambel des Gesetzentwurfs, nach der
die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Ägypten
unter Beachtung von Grund- und Menschenrechten zu
erfolgen habe, begrüßenswert, aber die bloße Erwähnung
von Menschenrechten im Text reicht bei weitem nicht .
Es müssen überprüfbare menschenrechtliche Standards
und deren Kontrollen vereinbart werden . Dafür braucht
es klare Definitionen und eine Exit-Option bei Nichtein-
haltung . Das alles fehlt völlig .
Der Bundestag ist während der Verhandlungsphase
der Abkommen wieder nicht ausreichend über die ver-
handelten Punkte informiert worden . Wieder gibt es kei-
ne Pflicht der Bundesregierung, dem Bundestag Berichte
über die Tätigkeiten und Erfahrungen der Verbindungs-
beamten vorzulegen . Wir fordern erneut, dass anhand
klarer und vorab verbindlich festgelegter Kriterien über
Fort- oder Rückschritte im Bereich der Menschenrech-
te und der Korruptionsbekämpfung in den jeweiligen
Kooperationsländern berichtet werden muss . Anhaltend
negative Ergebnisse müssen zu einer Aussetzung oder
Beendigung des Sicherheitsabkommens führen .
Im April 2016 haben wir die Bundesregierung gefragt,
ob jemals ein geplantes Sicherheitsabkommen aufgrund
einer bedenklichen Menschenrechtslage nicht abge-
schlossen wurde . Es gab keinen einzigen Fall . Das ist
eine erschütternde Bilanz . Das bedeutet, dass nicht mal
eine desaströse menschenrechtliche Lage wie in Sau-
di-Arabien Grund genug ist, um auf ein solches Abkom-
men zu verzichten .
Desaströs ist auch die Lage in Ägypten . Zum Bei-
spiel wurde diese Woche ein Video in sozialen Netzwer-
ken veröffentlicht, das sowohl Amnesty International
als auch die New York Times für authentisch halten,
das zeigte, wie Mitglieder des ägyptischen Militärs im
November 2016 im Norden der Sinai-Halbinsel mehre-
re unbewaffnete auf dem Boden liegende Gefangen er-
schießen. Danach platzieren die Soldaten Waffen neben
den Toten und filmen sie für ein Propagandavideo der
ägyptischen Armee . Ein weiteres Beispiel ist der Fall
des gefolterten und ermordeten italienischen Studenten
Giulio Regeni, der international für Empörung gesorgt
hat, in dem vieles auf eine Verstrickung der ägyptischen
Behörden hindeutet . Organisationen wie Human Rights
Watch und Amnesty International dokumentieren seit
Jahren Fälle von Folter und andere Misshandlungen von
Häftlingen . Wir wissen, dass der NSS fürchterlich fol-
tert . Selbst Mitarbeiter des Bundeskriminalamts haben
größte Bedenken geäußert, die Sicherheitspartnerschaft
mit Ägypten weiter fortzusetzen oder zu intensivieren .
Letzten Monat hat Ägyptens höchstes Berufungsgericht
zehn Todesurteile gegen Fußball-Ultras bestätigt, die
an den Ausschreitungen in Port Said beteiligt gewesen
sein sollen . In den letzten Jahren ergingen gegen Hun-
derte Personen – nach übereinstimmend als grob unfair
bezeichneten Gerichtsverfahren – Gefängnisstrafen oder
Todesurteile . Auch das Recht auf freie Meinungsäuße-
rung sowie die Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit
werden immer stärker eingeschränkt .
Die Bundesregierung selbst antwortete auf die Kleine
Anfrage 2016, „dass bei Bekanntwerden von Menschen-
rechtsverletzungen sowie bei Nichteinhaltung demokra-
tischer und rechtsstaatlicher Grundsätze die polizeiliche
Zusammenarbeit mit diesen Staaten reduziert bezie-
hungsweise komplett eingestellt wird“ . Was muss denn
noch aus Ägypten bekannt werden, damit die Bundesre-
gierung endlich die Zusammenarbeit einstellt?
Es ist mit diesen Kooperationsabkommen einfach
nicht sichergestellt, dass die Ausbildung, das Know-how
und die Ausrüstung nicht für solche schweren Straftaten
und Menschenrechtsverletzung, wie ich sie beschrieben
habe, genutzt werden . Wer glaubt, mit solchen Sicher-
heitsbehörden ein Kooperationsabkommen schließen
zu können, ohne sich für die gravierenden Menschen-
rechtsverletzungen möglicherweise mitverantwortlich zu
machen, täuscht sich entweder selbst oder die Bevölke-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 201723412
(A) (C)
(B) (D)
rung und den Bundestag . Bei der momentanen Lage in
Ägypten kann niemand, der Menschenrechten Geltung
verleihen will, die ägyptischen Behörden ausbilden, un-
terstützen und ausrüsten wollen . Daher lehnen wir die Si-
cherheitsabkommen mit Ägypten und Tunesien ab .
Anlage 15
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einfüh-
rung eines Wettbewerbsregisters (Tagesordnungs-
punkt 35)
Barbara Lanzinger (CDU/CSU): Wir beraten heute
in erster Lesung den Gesetzentwurf zur Einführung eines
bundesweiten Wettbewerbsregisters .
Ich begrüße den Entwurf ausdrücklich . Warum brau-
chen wir dieses Gesetz? Weil es der letzte Baustein der
umfassenden Modernisierung des Vergaberechts in die-
ser Legislaturperiode ist und für einen fairen Wettbewerb
sorgt .
Bund, Länder und Kommunen vergeben jährlich Auf-
träge im Wert von über 300 Milliarden Euro an private
Unternehmen . Ein Wettbewerbsregister, in das bestimm-
te rechtskräftige strafgerichtliche Verurteilungen oder
Strafbefehle und Bußgeldentscheidungen eingetragen
werden, hilft, einen fairen Wettbewerb sicherzustellen .
Schon vor einem Jahr haben wir das Vergaberechts-
modernisierungsgesetz und die Vergaberechtsmoder-
nisierungsverordnung im Deutschen Bundestag ver-
abschiedet und damit den Wettbewerb um öffentliche
Aufträge gestärkt .
Vergabeverfahren sind nun deutlich effizienter, ein-
facher und flexibler. Kleine und mittlere Unternehmen
können leichter an öffentlichen Vergabeverfahren teil-
nehmen .
Hintergrund der Reform waren Vorgaben aus Brüssel:
das EU-Richtlinien-Paket zur Modernisierung des Verga-
berechts, das bis April 2016 umgesetzt werden musste .
Erklärtes Ziel der Vergaberechtsmodernisierung ist,
Wettbewerb und Transparenz der öffentlichen Auftrags-
vergabe zu stärken . Genau dafür ist das bundesweite
Wettbewerbsregister, das wir mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf einrichten, ein wichtiges weiteres Instru-
ment .
Mit ihm ermöglichen wir öffentlichen Auftraggebern,
schwarze Schafe einfacher als bisher von öffentlichen
Vergaben auszuschließen .
Dabei gehen wir mit Augenmaß vor . Bereits im Vorfeld
der parlamentarischen Beratungen ist es uns gelungen,
in guter Zusammenarbeit mit dem Bundeswirtschaftsmi-
nisterium und dem Koalitionspartner die Weichen so zu
stellen, dass ein praktikables Gesetz dabei herauskommt:
Öffentliche Auftraggeber werden ab einem Auftrags-
wert von 30 000 Euro verpflichtet, vor Erteilung des Zu-
schlags auf das von ihnen ausgewählte wirtschaftlichste
Angebot beim Register nachzufragen, ob das Unterneh-
men, das den Auftrag erhalten soll, eingetragen ist . Nach
Ablauf bestimmter Fristen sind eingetragene Unterneh-
men aus dem Register zu löschen .
Außerdem erhalten öffentliche Auftraggeber eine Ab-
fragemöglichkeit für Aufträge unterhalb von 30 000 Euro .
Das Gesetz regelt in einem abschließenden Katalog
die zur Eintragung führenden Straftaten und Ordnungs-
widrigkeiten – rechtskräftige Verurteilungen, Strafbefeh-
le oder bestandskräftige Bußgeldentscheidungen, zum
Beispiel wegen Bestechung, Geldwäsche und Betrug,
Vorenthalten von Sozialabgaben, Steuerhinterziehung,
Kartellrechtsverstöße, u .a .
Der Katalog enthält Straftaten, die vergaberechtlich
zwingende Ausschlussgründe darstellen, sowie nicht
zwingende Ausschlussgründe, die die Vergabestellen bis-
her im Gewerbezentralregister abfragen mussten .
Die Unternehmen werden vor der Eintragung infor-
miert und können Einwände erheben .
Das Bundekartellamt, das bereits die Zuständigkeit
für die Vergabekammern hat, wird als Registerbehörde
benannt. Wir schaffen somit Synergien und stellen sicher,
dass die Führung des Wettbewerbsregisters in kompeten-
ten Händen liegt .
Das Bundeskartellamt als registerführende Behörde
soll außerdem Leitlinien für die Selbstreinigung erarbei-
ten .
Unternehmen haben zudem die Möglichkeit, nach
erfolgter Selbstreinigung – also insbesondere nach Um-
setzung der erforderlichen Compliance-Maßnahmen –
einen Antrag auf vorzeitige Löschung aus dem Register
zu stellen .
Für die vorzeitige Löschung sollen den Unternehmen
aber nur die zur Deckung des Verwaltungsaufwands un-
bedingt notwendigen Kosten auferlegt werden, wir wol-
len keine Sanktionierung durch die Hintertür .
Mit der Einführung eines Wettbewerbsregisters auf
Bundesebene entfallen gleichzeitig die Länderregister,
sodass es keine unterschiedlichen Eintragungsvorausset-
zungen mehr geben wird . Für Auftraggeber und betrof-
fene Unternehmen wird dadurch mehr Transparenz und
Rechtssicherheit geschaffen.
Die Verpflichtung der Staatsanwaltschaft zur Prüfung
der Übermittlungsvoraussetzungen im Hinblick über die
Zurechnung der Handlungen des strafrechtlich Verant-
wortlichen auf das Unternehmen wird eindeutig veran-
kert .
Darüber hinaus verankern wir Ermittlungsbefugnisse
für die Registerbehörde – etwa Zeugenbefragung u . a . –
im Hinblick auf die von einem eingetragenen Unterneh-
men durchgeführten Selbstreinigungsmaßnahmen im
Gesetz, für den Fall, dass das Unternehmen die Löschung
der Eintragung wegen Selbstreinigung beantragt .
Wichtig ist uns dabei: Einen automatischen Aus-
schluss der Unternehmen von öffentlichen Aufträgen
wird es nicht geben .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 23413
(A) (C)
(B) (D)
Die öffentlichen Auftraggeber entscheiden eigenver-
antwortlich beziehungsweise nach Maßgabe der Rege-
lungen des Vergaberechts, ob sie ein eingetragenes Un-
ternehmen von der Vergabe ausschließen .
Die Vorteile eines bundesweiten Registers liegen auf
der Hand: Für öffentliche Auftraggeber wird es bedeu-
tend einfacher, wenn sie sich nur noch an eine einzige
Stelle wenden müssen, um Informationen über die Un-
ternehmen einzuholen .
Auch für die Unternehmen ist ein bundesweites Re-
gister von Vorteil: Unterschiedliche Behandlungen durch
unterschiedliche Eintragsvoraussetzungen in den Bun-
desländern entfallen .
Wie wichtig das Vergaberecht für die Wirtschaft und
die öffentlichen Auftraggeber ist, haben bereits die inten-
siven Beratungen zur Modernisierung des Vergaberechts
im vergangenen Jahr gezeigt .
Mit diesem wichtigen letzten Baustein vervollstän-
digen wir die neuen Regelungen, mit denen wir mehr
Transparenz und fairen Wettbewerb bei der öffentlichen
Auftragsvergabe erreichen wollen .
Schwarze Schafe werden es künftig schwerer haben,
an öffentliche Aufträge zu kommen. Dies stärkt diejeni-
gen Unternehmen, die sich rechtskonform und fair ver-
halten .
In den anstehenden parlamentarischen Beratungen
werden wir darauf achten, dass das Wettbewerbsregister
nicht doch noch zu einer politischen Spielwiese wird .
Ich bitte Sie daher um Ihre Zustimmung .
Marcus Held (SPD): Nach der erfolgreichen Verga-
berechtsreform im Jahr 2016, bei der wir als Deutscher
Bundestag mit Zustimmung der Bundesländer auch
die Möglichkeiten zum Ausschluss von Unternehmen
von Vergabeverfahren erstmals auf gesetzlicher Ebene
im GWB geregelt haben, behandeln wir heute in erster
Lesung nun die Einführung eines sogenannten Wettbe-
werbsregisters, mit welchem wir die soeben genannte
Möglichkeit in ein praktikables Gesetz für die öffentliche
Hand umsetzen .
Mit der Einführung dieses Wettbewerbsregisters wird
Deutschland in der Europäischen Union Vorreiter in Sa-
chen Korruptionsprävention im öffentlichen Auftrags-
wesen . Damit werden wir schwarzen Schafen das Hand-
werk legen .
Für uns als SPD war dieses bundeseinheitliche Wett-
bewerbsregister seit Jahren ein wichtiges Anliegen . Zwar
gibt es schon in einigen Bundesländern solche schwarzen
Listen, jedoch werden diese nur im jeweiligen Bundes-
land geführt und reichen daher nicht aus .
Ich bin deswegen sehr dafür, dass nach der Einführung
des Wettbewerbsregisters auf Bundesebene alle beste-
henden Landesregister wegfallen . Denn nur ein einheit-
liches Bundesregister kann auch die dementsprechende
Wirkung auf schwarze Schafe vollumfänglich entfalten .
Aber wenn ich mir beispielsweise das Landesregister in
Baden-Württemberg anschaue, wo überhaupt kein Unter-
nehmen eingetragen ist, sollte das auch problemlos mög-
lich sein . Und obendrauf gibt es noch eine wesentliche
Bürokratieentlastung .
Zudem plädiere ich dafür, dass die Bundesländer
ebenso noch einmal über ihre Landesvergabegesetze
nachdenken – derzeit sind es ja noch 14 – und die Mög-
lichkeit des neuen modernen Vergabegesetzes, was wir
in Zusammenarbeit mit den Bundesländern im Jahr 2016
umfassend reformiert haben, nutzen . Auch hier würde es
dann zu einer wesentlichen Bürokratieentlastung kom-
men .
Wir haben uns innerhalb der Koalition auch verstän-
digt, dass das Bundeskartellamt die Führung dieses Bun-
desregisters künftig übernehmen soll .
Bestechung, Terrorismusfinanzierung, Geldwäsche,
Betrug zulasten öffentlicher Haushalte und zulasten des
Haushalts der EU, Steuerhinterziehung, Kartellrechtsver-
stöße, Schwarzarbeit und Verstöße gegen das Mindest-
lohngesetz, all das werden zukünftig Ausschlussgründe
für kriminelle Unternehmen bei einer öffentlichen Auf-
tragsvergabe sein . Rechtskräftige Verurteilungen von
Unternehmen oder gegen diese verhängten Bußgeldbe-
scheide bei den eben dargestellten Ausschlussgründen
sollen künftig in dieses Wettbewerbsregister eingetragen
werden. Für öffentliche Auftraggeber wird dies zukünf-
tig bei Vergabeverfahren sofort ersichtlich . Denn jährlich
vergeben Bund, Länder und Kommunen Aufträge im
Wert von 300 Milliarden Euro . Damit stärken wir Un-
ternehmen, die sich nichts haben zuschulden kommen
lassen .
Wichtig ist es mir auch, zu betonen, dass eingetragene
Straftaten nach Ablauf von fünf Jahren, Eintragen von
Bußgeldentscheidungen spätestens nach Ablauf von drei
Jahren ab dem Tag der Rechts- oder Bestandskraft der
Entscheidung gelöscht werden . Ebenso wird in § 8 eine
vorzeitige Löschung der Eintragung aus dem Wettbe-
werbsregister wegen Selbstreinigung geregelt .
Ich freue mich auf die vor uns stehende Zusammen-
arbeit in der Koalition zu diesem Gesetzentwurf im
parlamentarischen Verfahren, insbesondere mit meinen
beiden Unionskolleginnen Frau Dr . Gundelach und Frau
Lanzinger, mit denen ich auch schon bei der Vergabe-
rechtsreform hervorragend zusammengearbeitet habe .
Wir sollten dieses wichtige Gesetz schnellstmöglich auf
den Weg bringen, damit die Registerbehörde auch schnell
ihre Arbeit aufnehmen kann .
Thomas Lutze (DIE LINKE): Die Linke begrüßt die
Einführung von Maßnahmen, die die Korruption großer
Konzerne verhindern und die Bürgerinnen und Bürger
vor den weitreichenden Auswirkungen von Wirtschafts-
kriminalität schützen . Korruption schädigt die gesamte
Gesellschaft, und es ist gut, wenn die Bundesregierung
hier Maßnahmen ergreifen will . Unternehmen, die hier
Rechtsverstöße begangen haben, sollten weder von öf-
fentlichen Aufträgen und noch Konzessionen profitieren.
Wer sich der Korruption schuldig gemacht hat, hat be-
reits vom Steuerzahler gestohlen und sollte nicht weiter
an ihm verdienen dürfen .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 201723414
(A) (C)
(B) (D)
Die Einführung eines Wettbewerbsregisters, anhand
dessen öffentliche Stellen vor der Auftragsvergabe un-
saubere Unternehmen aussortieren können, wäre für
diesen Zweck ein geeignetes Mittel . Allerdings wählt die
Bundesregierung wie im Umgang mit Wirtschaftskrimi-
nalität mal wieder die mildeste Umsetzung .
Schon nach drei beziehungsweise fünf Jahren soll eine
Eintragung aus dem Wettbewerbsregister wieder gelöscht
werden . Dieser Zeitraum ist inakzeptabel kurz und dürfte
auch seine abschreckende Wirkung verfehlen . Darüber
hinaus können Unternehmen eine vorzeitige Löschung
beantragen, wenn sie daran ein berechtigtes Interesse
nachweisen . Sinn und Zweck von Wirtschaftsunterneh-
men ist das Erzielen von Profit, und eine Eintragung im
Wettbewerbsregister schmälert die Profitaussichten. Also
haben alle Unternehmen per Definition ein sogenanntes
berechtigtes Interesse . Zusätzlich sollen Maßnahmen ei-
ner sogenannten Selbstreinigung nachgewiesen werden .
Doch dazu verlassen sich die Kartellbehörden nicht auf
eigene Kontrollen, sondern akzeptieren Gutachten als
Nachweis . Auch das halte ich für völlig unzureichend .
Weiter weist der Gesetzentwurf Schlupflöcher zur
Umgehung negativer Konsequenzen eines Eintrages im
Wettbewerbsregister auf, die groß wie Scheunentore
sind . Tochterunternehmen beispielsweise werden nur er-
fasst, wenn der obersten Leitungsebene des Mutterkon-
zerns ein Fehlverhalten nachgewiesen werden kann . Es
ist absehbar, dass Konzernleitungen ihre Vergehen noch
stärker auf einzelne Mitarbeiter abwälzen werden . Aus-
und Neugründungen von Tochterunternehmen werden
die Regel zur Umgehung eines Registereintrages werden .
Wieder einmal vergibt die Bundesregierung in vo-
rauseilendem Gehorsam gegenüber der Wirtschaft eine
Chance zur wirklichen Bekämpfung von Wirtschaftskri-
minalität . Wenn das Gesetz in den Ausschussberatungen
nicht noch deutlich verschärft wird, kann die Linke hier
nicht zustimmen .
Katharina Dröge (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Wir begrüßen die Vorlage eines Gesetzentwurfes zur
Schaffung eines bundesweit einheitlichen Wettbewerbs-
registers . Dieser Schritt ist richtig . Viel zu lange war der
Grundsatz, wonach Unternehmen, die gegen bestehendes
Recht verstoßen, keine öffentlichen Aufträge bekommen
dürfen, in der Praxis reine Makulatur .
Er ist aber auch längst überfällig . Denn die Diskus-
sion um ein bundeseinheitliches Wettbewerbsregister ist
leider keinesfalls neu . Schon seit fünfzehn Jahren gab es
immer wieder Versuche, eine für ganz Deutschland ein-
heitliche Gesetzgebung zu schaffen und damit ein wirk-
sames Instrument zur Bekämpfung von Korruption und
Wirtschaftskriminalität .
Seit 2002 gab es dazu schon vier Versuche, die alle-
samt am Widerstand aus der CDU und CSU gescheitert
sind . Dass es mittlerweile in zehn Bundesländern eigene
Wettbewerbsregister gibt, liegt deshalb auch an dieser
absolut unverständlichen Blockadehaltung der Union .
Umso mehr freut es mich, dass Sie, liebe Kolleginnen
und Kollegen der CDU und CSU, endlich eingesehen
haben, dass so eine Blockade unsinnig ist und der Be-
kämpfung von Korruption und Wirtschaftskriminalität
im Weg steht .
Denn wir alle wissen doch: Fairer Wettbewerb ist
ein Eckpfeiler unserer sozialen Marktwirtschaft . Fai-
ren Wettbewerb kann es aber nur geben, wenn sich alle
Wettbewerber an die gleichen Regeln halten – und wenn
diejenigen, die das nicht tun, für ihr Fehlverhalten auch
bestraft werden .
Bleibt eine solche Bestrafung aus, schafft das Anreize
für Fehlverhalten, für Betrug und Korruption . Und um
nichts anderes geht es bei der Schaffung von Wettbe-
werbsregistern. Wir wollen die öffentliche Hand in die
Lage versetzen, gegen solche Straftaten konsequent vor-
zugehen und öffentliche Aufträge nur an Unternehmen zu
vergeben, die sich an die Spielregeln konsequent halten .
Erfreulicherweise könnte der von Ihnen vorgelegte
Gesetzentwurf diese Ziele durchaus erreichen . Aller-
dings muss ich auch Wasser in den Wein gießen . Denn an
einer Reihe von Punkten tun Sie viel zu wenig, um den
Vergabestellen das richtige Rüstzeug für eine erfolgrei-
che Bekämpfung von Korruption und Wirtschaftskrimi-
nalität zu gewährleisten .
Das sehen wir zum Beispiel bei der Frage der Tatbe-
stände, die laut Gesetzentwurf ins Register eingetragen
werden müssen . Hier rächt sich Ihre unzureichende Ar-
beit bei der GWB-Novelle . Denn § 124 GWB folgend,
geht es hier eben nur um Verstöße, die in Deutschland
oder in der EU begangen wurden . Wenn ein Unterneh-
men aber an anderer Stelle etwa in der Lieferkette gegen
internationale Bestimmungen verstößt, führt das nicht zu
einer Eintragung . Das ist nicht nachvollziehbar, hier be-
steht Nachholbedarf .
Überhaupt stellen Experten fest, dass die Eintragungs-
voraussetzungen im Gesetzentwurf zu hoch sind . So
würde das Register hinter seinen Möglichkeiten zurück-
bleiben und Korruption nur ineffektiv bekämpfen.
Transparency International hat etwa richtigerweise da-
rauf hingewiesen, dass es unangemessen und sachwidrig
ist, nur solche Unternehmen einzutragen, die rechtskräf-
tig verurteilt worden sind . Dabei verweisen die Experten
von Transparancy International auch auf die in Nord-
rhein-Westfalen bestehenden Regelungen zur Korrupti-
onsbekämpfung, die diesem Problem effektiv begegnen.
An dieser Stelle sollten Sie ebenfalls nachbessern .
Insgesamt bleibt dennoch ein durchaus positiver Ge-
samteindruck . Der Gesetzentwurf kann einen wertvol-
len Beitrag zur Bekämpfung von Korruption und Wirt-
schaftskriminalität leisten, und eine bundeseinheitliche
Regelung wäre für alle Vergabestellen von Kiel bis Kon-
stanz eine große Erleichterung . Die genannten Kritik-
punkte sollten Sie allerdings dringend aufgreifen, denn
ansonsten vergeben Sie eine wichtige Chance .
Anlage 16
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und
des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Na-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 23415
(A) (C)
(B) (D)
turschutz, Bau und Reaktorsicherheit zu der
Verordnung der Bundesregierung: Sieben-
unddreißigste Verordnung zur Durchfüh-
rung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes
(Verordnung zur Anrechnung von strombasierten
Kraftstoffen und mitverarbeiteten biogenen Ölen
auf die Treibhausgasquote – 37. BImSchV)
(Tagesordnungspunkt 36)
Oliver Grundmann (CDU/CSU): „Das Wasser
ist die Kohle der Zukunft . Die Energie von morgen ist
Wasser, das durch elektrischen Strom zerlegt worden
ist. Die so zerlegten Elemente des Wassers, Wasserstoff
und Sauerstoff, werden auf unabsehbare Zeit hinaus die
Energieversorgung der Erde sichern .” Das schrieb der
französische Schriftsteller Jules Verne 1874 in seinem
berühmten Roman Die geheimnisvolle Insel . 2011 war es
Daimler-Chef Dieter Zetsche, der bei einem Auftritt ent-
husiastisch rief: „Wasserstoff ist das neue Öl.“ Nun, diese
Vision hat sich noch nicht bewahrheitet . Was nicht heißt,
dass wir nicht versuchen, das zu ändern! Und die Energie
aus Wasserstoff und Sauerstoff könnte hier durchaus eine
wichtige Rolle spielen .
Eine Ausweitung des sogenannten Quotenhandels auf
strombasierte Kraftstoffe, insbesondere auf Kraftstoffe
aus regenerativ erzeugtem Wasserstoff, ist in den vergan-
genen Jahren auf europäischer Ebene intensiv diskutiert
worden und schließlich in der EU-Richtlinie 2015/652
des Rates vom 20 . April 2015 verankert worden . Die
vorliegende Verordnung zur Anrechnung von strom-
basierten Kraftstoffen und mitverarbeiteten biogenen
Ölen auf die Treibhausgasquote dient der Umsetzung
dieser EU-rechtlichen Vorgaben . Diese Vorgaben wer-
den eins zu eins in nationales Recht umgesetzt . Mit der
37 . BImSchV wird unter anderem geregelt, dass strom-
basierte Kraftstoffe aus erneuerbaren Energien im Sinne
des EEG auf die Biokraftstoffquote angerechnet werden
können . Nicht angerechnet werden darf Energie aus Bio-
masse einschließlich Biogas, Biomethan, Deponiegas
und Klärgas sowie aus biogenen Abfällen aus Haushalten
und Industrie .
Die Mineralölwirtschaft wird gemäß Bundes-Immis-
sionsschutzgesetz verpflichtet, die Treibhausgasemissio-
nen – bezogen auf die jährliche Gesamtabsatzmenge an
Otto- und Dieselkraftstoff (einschließlich des Biokraft-
stoffanteils) – durch das Inverkehrbringen von Biokraft-
stoffen zu senken. Die jeweilige Treibhausgaseinsparung
ist prozentual festgelegt und steigt in den nächsten Ka-
lenderjahren .
Die durch Elektrolyse hergestellten strombasierten
Kraftstoffe Wasserstoff und Methan, die mit erneuerba-
rem Strom nichtbiogenen Ursprungs hergestellt wurden,
können künftig auf die seit 2015 in Deutschland geltende
Treibhausgasquote angerechnet werden . Da Elektrolyse
einen hohen Energiebedarf aufweist, soll dieser Kraft-
stoff nur dann auf die Treibhausgasemissionen ange-
rechnet werden können, wenn der Strom aus Erneuerba-
re-Energien-Anlagen stammt .
Hierfür werden zwei Wege geöffnet, entweder eine
direkte Kopplung einer Elektrolyseanlage mit einer
Erneuerbare-Energien-Anlage oder die Entnahme des
Stroms aus dem Stromnetz (sogenannte netzentkoppelte
Anlagen) für die Elektrolyse . Für Letzteres werden Be-
dingungen festgelegt, damit auch sichergestellt ist, dass
nur EEG-Überschussstrom verwendet wird . Bei mitver-
arbeiteten biogenen Ölen werden Pflanzenöle dergestalt
verarbeitet, dass sie bestimmte Eigenschaften wie Tem-
peraturfestigkeit aufweisen . Damit können sie direkt in
der Raffinerie als Bestandteil des Kraftstoffs verarbeitet
werden .
Ich möchte betonen: Es ist richtig, erneuerbare Ener-
gie auch für den Kraftstoffbereich zu nutzen. Es ist auch
richtig, damit den Einsatz von landwirtschaftlichen
Primärrohstoffen mit den Nutzungskonkurrenzen und
Nachhaltigkeitsproblemen durch die Anrechenbarkeit
von Biomethan und Wasserstoff zu reduzieren. Die hier
getroffenen Einschränkungen sind aus umweltpolitischer
Sicht sinnvoll und tragen zur Akzeptanz der strombasier-
ten Kraftstoffe bei.
Ressourcen effizient zu nutzen, ist extrem wichtig. Ich
hatte es eingangs erwähnt: „Wasserstoff ist das neue Öl“.
Hier können wir den Verbrauch der kostbaren Ressource
Erdöl vermeiden . Und gerade im Bereich Windwasser-
stoff sehe ich riesige ungenutzte Potenziale. Überschuss-
strom einer sinnvollen Verwendung zuführen, dafür setze
ich mich mit aller Kraft ein . Im Norden Deutschlands,
insbesondere in der Elbe-Weser-Region vor den Toren
Hamburgs, haben wir die allerbesten Voraussetzungen:
Wir haben Windstrom im Überfluss, das nötige Know-
how für die Umwandlung in Windwasserstoff, natürliche
unterirdische Kavernen zur Speicherung – und wir haben
mit der Metropolregion Hamburg den idealen Abnehmer .
Die Hansestadt will ihren Busliniennahverkehr in den
nächsten Jahren auf wasserstoffbasierte Antriebstech-
niken umstellen . Zusammen mit Verkehrsstaatssekretär
Enak Ferlemann möchte ich hier eine fortschrittliche
Wind-Wasserstoff-Modellregion entwickeln.
Und hier können wir auch von anderen Ländern ler-
nen . Gemeinsam mit meinem geschätzten SPD-Kollegen
Andreas Rimkus, ebenfalls ein großer Befürworter der
Wasserstofftechnologie, habe ich mir in Japan die gro-
ßen Zukunftsfelder in diesem Bereich angesehen . Wir
haben festgestellt, dass wir hier ordentlich in die Riemen
greifen müssen, um mit den Japanern mitzuhalten . Die
Aufholjagd beginnt . Und ich bin mir sicher: Wenn wir
dieses Ziel fest vor Augen halten, fraktionsübergreifend
zusammenstehen und auch Geld für Investitionen und
Forschung in die Hand nehmen, dann können wir für
unsere deutsche Wirtschaft und für unsere Umwelt ganz
viel rausholen .
Wer wissen will, was heute technisch möglich und
vielleicht schon morgen Alltag ist, sollte nach Nieder-
sachsen reisen: Gerade in dieser Woche gilt bei der Han-
nover Messe das Motto „Get new technology first“. Das
ist etwas, das auch meine Arbeit im Wahlkreis Stade –
Rotenburg immer wieder beflügelt: Forschung, Wissen-
schaft, neue Erkenntnisse – das sind wichtige Treiber .
Wir wollen ja unseren hohen Lebensstandard erhalten .
Wir schaffen das, indem wir innovativer sind als andere.
Deshalb müssen wir auch immer wieder aufs Neue die
richtige Balance von Chancen und Risiken finden, und
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 201723416
(A) (C)
(B) (D)
bürokratische Hemmnisse abbauen, um voranzukom-
men .
Gestatten Sie mir daher an dieser Stelle noch einen Ap-
pell an die Bundesregierung bezüglich der 38 . BImSchV,
also die direkt anstehende neue Verordnung zur Festle-
gung weiterer Bestimmungen zur Treibhausgasminde-
rung bei Kraftstoffen. Ich möchte ausdrücklich anmah-
nen, dass diese Verordnung jetzt ebenfalls schnell auf den
Weg gebracht werden muss, gerade um den Unterneh-
men wichtige Planungssicherheit zu geben .
Die 37 . BImSchV hat aus meiner Sicht das Potenzial
für eine ressourcenschonende Schaffung von Arbeits-
plätzen . Die Reduzierung von Ressourcenimporten kann
die Kosten der Energiewende reduzieren sowie Industrie
und Haushalte entlasten . Die CDU/CSU-Fraktion stimmt
daher der 37 . Verordnung zur Durchführung des Bun-
des-Immissionsschutzgesetzes zu .
In diesem Sinne danke ich abschließend den Mitar-
beiterinnen und Mitarbeitern des Bundesumweltministe-
riums, der Kollegin Ulli Nissen als SPD-Berichterstat-
terin sowie meinem Kölner Fraktionskollegen Karsten
Möring, der als CDU/CSU-Berichterstatter die intensi-
ven detailreichen Verhandlungen in den letzten Monaten
erfolgreich geführt hat .
Florian Oßner (CDU/CSU): Mit dem vorliegenden
Verordnungsentwurf setzen wir einen weiteren Baustein
für die Erreichung unseres Klimaschutzzieles .
Unternehmen, die Kraftstoffe in den Verkehr bringen,
sind seit dem Jahr 2015 verpflichtet, die Treibhausgase-
missionen ihrer Kraftstoffe um einen gesetzlich festge-
legten Prozentsatz zu mindern . Man spricht hierbei von
der sogenannten Treibhausgasquote . Innerhalb dieser
Quote werden Biokraftstoffe, die eine günstigere Klima-
bilanz aufweisen, höher angerechnet als Biokraftstoffe
mit einer ungünstigeren Bilanz .
Als wir diese Quote eingeführt haben, wollten wir ei-
nen Anreiz zur Nutzung klimaschonender Biokraftstof-
fe schaffen. Dies hat sich derart bewährt, dass wir uns
entschieden haben, die Anrechnung auf die Treibhaus-
gasquote zu erweitern um Wasserstoff aus erneuerbarem
Strom, um Methan sowie um mitverarbeitete biogene
Öle .
Der Einsatz von Biokraftstoffen hat einen nicht zu
unterschätzenden Einfluss auf den Klimaschutz. Denn
ohne Biokraftstoffe müssten mehr fossile Kraftstoffe ver-
braucht werden, konkret im Jahr 2015 etwa 2,9 Millio-
nen Tonnen Benzin und Diesel mehr . Hier gilt es, beson-
ders unserem Bundesverkehrsminister ein Dankeschön
auszusprechen für seine großen Anstrengungen zur De-
karbonisierung der Mobilität; lieber Alexander Dobrindt,
herzlichen Dank .
Mit Kraftstoffen wie Wasserstoff, Power to Gas oder
Power to Liquid, die mit Strom aus erneuerbaren Ener-
gien produziert werden und bislang nicht auf die Treib-
hausgasquote angerechnet wurden, können wir den Ver-
brauch fossiler Kraftstoffe weiter reduzieren. Auch in
meiner Heimatregion Landshut-Kelheim kämpfen wir
gemeinsam in einer Wasserstoffinitiative für den Ausbau
dieser Technologie. Zudem trägt jede Tonne Biokraftstoff
mit 386 Euro zur Bruttowertschöpfung in Deutschland
bei . Im Jahr 2015 leisteten sie insgesamt einen Beitrag
von 1,3 Milliarden Euro .
Mit ihren umfassenden Investitionen im Wirtschafts-
sektor sichert die Biokraftstoffbranche darüber hinaus
schätzungsweise 22 000 Arbeitsplätze, die überwiegend
im ländlichen Raum angesiedelt sind .
Aufgrund der hohen klimapolitischen und volkswirt-
schaftlichen Bedeutung von Biokraftstoffen möchte ich
die Gelegenheit nutzen, ein paar Worte zu der sich bereits
in der Ressortabstimmung befindlichen 38. Verordnung
zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes
zu verlieren . Das Bundesumweltministerium beabsich-
tigt hier nämlich, die energetische Obergrenze für kon-
ventionelle Biokraftstoffe auf 5 Prozent herabzusenken.
Konventionelle Biokraftstoffe oberhalb der Obergrenze
sollen wie fossile Kraftstoffe behandelt werden. Das
BMUB möchte damit direkte Landnutzungsänderungen
vermeiden, also eine Verlagerung von Nahrungs- und
Futtermittelproduktion zu einem Anbau an Rohstoffen
für die Biokraftstoffproduktion.
Die Herabsetzung der Obergrenze von derzeit 7 auf
5 Prozent ist jedoch hierfür nicht nötig und hinsichtlich
der Erreichung unserer Klimaschutzziele völlig kontra-
produktiv . Der kürzlich von der Bundesregierung vor-
gelegte Bericht über die Umsetzung und Effekte der
Biokraftstoff-Nachhaltigkeitsverordnung für den Be-
richtzeitraum 2013/2014 zeigt nämlich, dass mit der der-
zeit gültigen Obergrenze von 7 Prozent konventioneller
Biokraftstoffe eine Verschiebung des Rohstoffanteils zu
mehr Rohstoffen aus europäischer Herkunft und zu mehr
Abfallstoffen möglich ist. Das Hauptargument für eine
Absenkung der Obergrenze auf 5 Prozent ist somit hin-
fällig .
Nur mit konventionellen Biokraftstoffen kann das EU-
Ziel zur Steigerung des erneuerbaren Energieanteils im
Verkehrsbereich auf 10 Prozent in 2020 erreicht werden .
Das im Klimaschutzplan vorgesehene Ziel, die Treib-
hausgasemissionen im Verkehrsbereich bis 2030 um
40 bis 42 Prozent zu senken, ist nur mit einem signifikan-
ten Beitrag der konventionellen Biokraftstoffe machbar.
Deshalb möchte ich hier an die zuständigen Kollegen
appellieren, dies bei den weiteren Beratungen für die
nächste Verordnung zu berücksichtigen, und bitte jetzt
um Zustimmung für den vorliegenden Verordnungsent-
wurf .
Ulli Nissen (SPD): Letzter Punkt auf der heutigen Ta-
gesordnung ist die Siebenunddreißigste Verordnung zur
Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes .
Zunächst geht mein Dank an das BMUB für die gute
Zusammenarbeit und vor allem für die gute und kons-
tante Information . Mein Dank geht aber auch an meinen
Mitberichterstatter von der Union, Herrn Möring, für die
wie immer gute Zusammenarbeit .
Wir haben nicht nur mit dem BMUB eine Reihe von
Runden über diese Verordnung gedreht, sondern auch mit
Interessenvertretern unterschiedlichster Art und auch mit
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 23417
(A) (C)
(B) (D)
unseren Kolleginnen und Kollegen aus anderen Fachge-
bieten .
Sehr interessant ist, welche Begehrlichkeiten diese
Verordnung dann geweckt hat . Teilweise hatte ich den
Eindruck, die THG-Quote ist die Lösung aller Probleme .
Vieles ging dann irgendwann auch mal durcheinander .
Aber: Die THG-Quote und allen voran die heute dis-
kutierte Verordnung sind leider nicht die Lösung aller
Probleme . In der 37 . BImSchV geht es um nicht mehr
und nicht weniger als das, was da auch steht: die Anrech-
nung strombasierter Kraftstoffe auf die Treibhausgasquo-
te und die Anrechnung von mitverarbeitenden biogenen
Ölen auf die Treibhausgasquote .
Wir haben 2015 die Biokraftstoffquote von einer ener-
gischen Quote auf eine Treibhausgasminderungsquo-
te (THG-Quote) umgestellt . Das war mit Blick auf den
Klimaschutz ein wichtiger Schritt . Das macht aber auch
Verordnungen wie diese nötig, damit EU-rechtliche Vor-
gaben umgesetzt werden .
Mit dieser Verordnung werden für die Quotenver-
pflichteten – für die Mineralölwirtschaft also – zwei wei-
tere Möglichkeiten geschaffen, die Quote zu erfüllen:
Wasserstoff und Methan nicht biogenen Ursprungs
können nun auf die THG-Quote angerechnet werden .
Wichtig ist, dass die Anrechnung nur möglich ist, wenn
der Wasserstoff oder das Methan als Kraftstoff im Fahr-
zeug eingesetzt wird .
Geregelt ist in der Verordnung auch, wo der Strom,
der zur Herstellung genutzt wird, herkommen muss .
Denn: Sichergestellt werden muss, dass die gesamte Kli-
mabilanz besser ist im Vergleich zu Benzin und Diesel .
Das heißt, es muss grüner Strom verwendet werden .
Es sind zum einen strombasierte Kraftstoffe aus Anla-
gen anrechenbar, die nicht netzgekoppelt sind . Das heißt,
es besteht eine direkte Verbindung mit Wind-/Photovol-
taikanlagen . Im zweiten Fall wird Netzstrom ausschließ-
lich auf Basis von Stromüberschüssen verwendet . Auch
hier legt die Verordnung fest, welche Bedingungen er-
füllt werden müssen .
Die Verordnung legt auch fest, dass biogene Öle, die
im raffinerietechnischen Verfahren gemeinsam mit mine-
ralölstämmigen Ölen hydriert worden sind, angerechnet
werden können . Dieses sogenannte Co-Processing ist in
der 37 . BImSchV bis 2020 begrenzt . Eine dauerhafte An-
rechnung dieser Kraftstoffe ist EU-rechtlich auch nicht
erforderlich .
Wir könnten es über 2020 hinaus fortführen, müssen
es aber nicht . Denn wir haben gute Gründe, warum wir
es zeitlich begrenzt haben . Hier geht mein Blick auch
ganz bewusst zu den Kolleginnen und Kollegen von
den Grünen, die im Ausschuss vermuteten, wir wüssten
nicht, was wir mit dem Co-Processing täten . Ihr könnt
sicher sein: Das tun wir . Aus guten Gründen begrenzen
wir das Co-Processing bis 2020 . Denn die Gefahr ist
groß, dass sonst ein Anreiz gesetzt wird, der nicht ge-
wollt ist, nämlich verstärkt Palmöl zu importieren und
einzusetzen . Und das ist etwas, was wir auf keinen Fall
wollen – wir wollen nicht mehr Palmöl vertanken . Wir
wollen nicht die Nachfrage nach Palmöl noch zusätzlich
durch den Biokraftstoffsektor anheizen und verstärken.
Das wollen wir genauso wenig wie ihr, und deshalb ist
die Anrechenbarkeit begrenzt bis 2020 . Damit setzen wir
keinen Anreiz, sondern im Gegenteil – wir setzen eher
einen „Anti-Anreiz“ .
Was in dieser Verordnung nicht geregelt wird und auch
nicht geregelt werden kann, ist jedoch: die Klimawen-
de im Verkehr und den Beitrag des Verkehrssektors zur
Erreichung der Klimaziele entscheidend voranzubrin-
gen . Das ist nicht die Stellschraube hierfür . Aber wir alle
wissen, dass hier noch viel geschehen muss . Wir haben
heute in der Aktuellen Stunden erneut über die Abgaspro-
blematik gesprochen, und auch da wird nur wieder deut-
lich, wie hoch die tatsächliche Schadstoffbelastung durch
Diesel-Pkw ist . Für den Klimaschutz, aber auch für den
Umweltschutz und vor allem den Schutz der Gesundheit
müssen wir endlich einmal eine emissionsarme, ja emis-
sionsfreie Verkehrswende entscheidend vorantreiben .
Die THG-Quote kann einen Beitrag dazu leisten .
Bei der 37 . Bundes-Immissionsschutzverordnung geht
es heute lediglich um zwei weitere Optionen, um die
THG-Quote zu erfüllen . Und die THG-Quote ist auch
nicht nach oben unbegrenzt, sondern eine Quote . Das
heißt, wir sparen durch die 37 . BImSchV nicht mehr
Emissionen ein, sondern andere Kraftstoffe erbringen die
Einsparungen .
Die Verordnung befasst sich auch nicht mit dem The-
ma Einsparungen im Raffineriebetrieb. Auch hier gab
es Begehrlichkeiten . Die Verordnung befasst sich auch
nicht mit dem Thema Upstream-Emissionen, also mit
den Treibhausgasemissionen, die entstanden sind, bevor
der Rohstoff in eine Raffinerie kommt. Dieses Thema der
UER wird BMUB und uns noch beschäftigen . Aber dies
passiert nicht heute und nicht mit dieser Verordnung .
Klar ist aber in diesem Zusammenhang eins: Emis-
sionsminderungen in der Raffinerie selber können nicht
angerechnet werden . Das gibt die EU-Richtlinie nicht
her .
Wir sollten diese Verordnung also als das sehen, was
sie ist: Methan und Wasserstoff, die als Kraftstoff ver-
wendet werden, können angerechnet werden . Das ist gut
für den grünen Wasserstoff und nicht schlecht für ihn.
Grundsätzlich möchte ich BMUB aber bitten und auf-
fordern, gemeinsam mit dem Bundeswirtschaftsministe-
rium, das bei den Energiethemen federführend ist, sich
dem Thema grüner Wasserstoff anzunehmen. Und mit
„annehmen“ meine ich, sich tatsächliche Förderkulissen
zu überlegen, die diese Technologie voranbringen kön-
nen . Denn daran sollten wir gemeinsam arbeiten – und
das ist das gemeinsame Interesse der Umweltpolitiker,
der Wirtschafts- und der Verkehrspolitiker .
Wir müssen mehr machen und innovativer werden,
um unsere Klimaziele zu erreichen .
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Die Verord-
nung soll aus Ökostrom hergestellte synthetische Kraft-
stoffe anrechenbar machen auf die seit dem Jahr 2015 im
Kraftstoffsektor geltende Treibhausgasquote. Das klingt
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 201723418
(A) (C)
(B) (D)
zunächst logisch, weil solcherart Kraftstoff nicht fossilen
Ursprungs ist, sondern letztlich auf Ökostrom basiert .
Leider hat die Sache einen Haken . Denn stromba-
sierte Kraftstoffe sind nur extrem aufwendig herstellbar.
Da macht uns die Physik einfach einen Strich durch die
Rechnung .
Ich zitiere einmal zwei relevante Studien:
Erstens . Das „Klimaschutzszenario 2050“ im Auftrag
des BMUB kommt auf Seite 213 zu dem Ergebnis: „Die
Herstellung stromgenerierter Kraftstoffe ist mit hohen
Wirkungsgradverlusten verbunden … Vergleicht man die
Verbrennung stromgenerierter Kraftstoffe in einem Ver-
brennungsmotor mit dem direkten Einsatz von Strom im
Elektromotor, so ist der Strombedarf für die erste Vari-
ante rund 6 Mal so hoch . Der direkte Einsatz von Strom
im Verkehr über den Elektromotor ist daher wo immer
möglich zu priorisieren .“
Zweitens . Die Umweltbundesamt-Studie „Klima-
schutzbeitrag des Verkehrs bis 2050“, schreibt auf Sei-
te 104: „Aufgrund der direkten Stromverwendung ist
bei der Verwendung von EE-Strom der Wirkungsgrad
von der Primär- zur Nutzenergie im Vergleich mit dem
Einsatz von strombasierten EE-Kraftstoffen in Verbren-
nungsmotorkonzepten um etwa den Faktor vier höher .“
Da Ökostrom aber ein ausgesprochen knappes und
wertvolles Gut ist, sehen wir diese Anrechenbarkeit kri-
tisch . Denn eine Strategie, die nicht auf eine Verkehrs-
wende und auf einen Ausstieg aus dem Verbrennungsmo-
tor setzt, sondern Unmengen von Ökostrom verlustreich
in flüssige Kraftstoffe verwandeln will, ist unserer An-
sicht nach nicht effizient und kaum zukunftsfähig. Dabei
muss Effizienz erster Maßstab sein. Ansonsten wächst
der zusätzliche Bedarf an Ökostrom genauso ins Uner-
messliche wie die Kosten . Und dies schadet der Ener-
giewende .
Aber auch aus Akzeptanzgründen darf man Ökostrom
nicht verschwenden, denn diese Methode in größerem
Stil würde letztlich höhere Akzeptanzprobleme erzeu-
gen – wir haben schon jetzt regional Antiwindkraftpro-
teste wachsenden Ausmaßes .
Es ist in Ordnung, wenn in zeitweisen Netzengpass-
gebieten mit der Sektorkopplung experimentiert wird .
Wir sollten aber nicht so tun, als gäbe es heute schon
Ökostrom im Überfluss. Zwei Drittel des Strombedarfs
werden nach wie vor mit fossil-atomarem Strom gedeckt .
Ferner sollen mit der Verordnung künftig biogene
Öle – etwa Rapsöle – auf die seit dem Jahr 2015 geltende
Treibhausgasquote auch dann anrechenbar sein, wenn sie
gemeinsam (und nicht getrennt) mit klassischen Mine-
ralölen hydriert worden sind, um daraus Diesel zu ma-
chen . Diese Regel sehen wir ebenfalls kritisch . Denn sie
wird die zentralistische Großproduktion von Biodiesel
erleichtern . Aber auch das ist eine Sackgasse, denn die
Flächen sind begrenzt und die Treibhausgasbilanz von
Biodiesel ist fraglich, wenn man auch indirekte Effekte
einbezieht . Zudem könnten auch mehr und mehr Palmöle
untergemixt werden, was ja ohnehin schon in wachsen-
dem Maße geschieht . Das ist ja vermutlich bekannt, zu
welchem Kahlschlag die Palmölproduktion in Ländern
wie Indonesien und Malaysia führt . Unser riesiger Hun-
ger nach Palmöl darf nicht noch steigen .
Wir lehnen daher diese Verordnung ab .
Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Un-
ter dem harmlos klingenden Titel „37 . Verordnung zur
Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes“
befasst sich der Deutsche Bundestag auf Initiative von
CDU/CSU und SPD heute mit der Ausweitung der Palm-
ölbeimischung in Dieselkraftstoff. Die Koalitionsfraktio-
nen haben diese Verordnung ganz am Ende der Tagesord-
nung zu nachtschlafender Zeit versteckt und versuchen
der Öffentlichkeit diese Verordnung als einen Beitrag
zum Klimaschutz zu verkaufen . Das Gegenteil ist jedoch
der Fall!
Die Folgen der Klimakrise spüren wir schon heute
deutlich: Die Arktis hat so wenig Eis wie nie zuvor . In
Peru sterben Menschen, weil der zu warme Ozean Un-
wetter auslöst, und das wundervolle Great Barrier Reef
ist durch das Korallensterben wahrscheinlich für unse-
re Nachkommen unwiederbringlich verloren . In Paris
hat die Weltgemeinschaft und damit auch Deutschland
im letzten Jahr das Internationale Klimaabkommen be-
schlossen, das die globale Erderhitzung auf 1,5 Grad be-
grenzen soll. Nur wenige Monate später ist offensichtlich,
dass die Bundesregierung ihr Klimaziel für 2020 nicht
halten wird und auch nichts Relevantes unternimmt, um
es zu erfüllen . Stattdessen versucht die Bundesregierung
nun an allen Ecken, die deutsche Klimabilanz zu schö-
nen, und dafür ist sie sogar bereit, die Beimischung von
Palmöl in den Dieselkraftstoff massiv auszuweiten. Mit
dieser Verordnung erkauft sich die Große Koalition Kli-
maschutz in Deutschland mit der Regenwaldzerstörung
in Indonesien .
Unternehmen, die Kraftstoffe in Verkehr bringen, sol-
len durch das Beimischen von Agrokraftstoffen Emissi-
onen sparen; das besagt die Treibhausgasquote . Schon
das allein war fraglich, denn es hat dazu geführt, dass
in Deutschland dem Dieselkraftstoff Palmöl beigemischt
wird und die Autofahrer – in der Regel ohne es zu wis-
sen – den Regenwald durch ihren Auspuff jagen. Der
Globiom-Bericht der EU-Kommission macht deutlich,
dass Agrokraftstoff eine schlechte Klimabilanz hat; im
Durchschnitt sind die CO2-Emissionen um 80 Prozent
höher als die aus fossilen Kraftstoffen. Grund dafür sind
unter anderem die Treibhausgasemissionen aus der indi-
rekten Landnutzung, beispielsweise der Rodung von Re-
genwald und dem Abbrennen tropischer Torflandschaf-
ten für Palmölplantagen .
Schon jetzt landen 45 Prozent des importierten Palm-
öls im Tank . Bereits jetzt trägt Deutschland mit einem
Verbrauch von 1,8 Millionen Tonnen Palmöl jährlich
massiv zur Waldzerstörung und Naturvernichtung bei,
ohne damit irgendeinen Beitrag zum Klimaschutz zu leis-
ten, wie immer wieder versucht wird zu suggerieren . Im
Gegenteil: Die Klimabilanz von Palmöl ist ganz klar ne-
gativ . Die Palmölproduktion steigt aber seit Jahrzehnten
immer weiter an . Mehr als 17 Millionen Hektar werden
derzeit für den Anbau genutzt . Die vorgeschriebene Zer-
tifizierung der Nachhaltigkeit des Palmöls für Agrosprit
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017 23419
(A) (C)
(B) (D)
greift nicht, denn indirekte Landnutzungsänderungen
werden gar nicht berücksichtigt . Wie viel Hektar Land
in anderen Regionen der Erde sollen denn noch für die
falsche Politik der Bundesregierung verbraucht werden?
Diese Fehlentwicklung soll nach dem Willen der Bun-
desregierung nun weiter angeheizt werden . Die hier vor-
gelegte Verordnung macht es Mineralölunternehmen nun
möglich, auch mitverarbeitete biogene Öle auf die Treib-
hausgasquote bis 2020 anzurechnen . Diese entstehen
während der gemeinsamen Verarbeitung von biogenen
mit fossilen Ölen in Mineralölraffinerien. Hier wird aber
hautsächlich Palmöl zum Zuge kommen, denn technisch
ist es am einfachsten zu verwenden und am günstigsten .
Die Bundesregierung ermöglicht Mineralölunternehmen,
den Verbrauchern in noch größerem Maßstab Palmöl in
den Tank zu schmuggeln, um ihre Treibhausgasquote zu
erfüllen . Der Einsatz von Palmöl wird also weiter stei-
gen – mit allen negativen Konsequenzen für Regenwald,
Landrechte, Menschenrechte, Artenvielfalt und Klima .
Und die Verbraucher werden über das Palmöl in ihren
Tanks noch nicht einmal informiert!
Bei der Beratung im Umweltausschuss hat das Bun-
desumweltministerium diese ganze Palmölsauerei sogar
eingeräumt und versucht sich damit herauszureden, dass
das Ganze nur bis 2020 gelten solle . Das ist an Naivität
fast nicht mehr zu übertreffen, denn was ab 2021 passiert,
darauf gibt uns das im letzten Herbst vorgestellte „Win-
terpaket“ der EU einen Vorgeschmack: Von der Abkehr
von Agrosprit und insbesondere Palmöl ist dort nichts zu
finden.
Palmöl und andere Agrokraftstoffe müssen raus aus
dem Tank – das ist längst überfällig . Darüber hinaus
brauchen wir eine Reduktionsstrategie für den Verbrauch
von Palmöl in allen Sektoren und ein Importverbot von
Palmöl, das nicht sozialen und ökologischen Mindestan-
forderungen entspricht .
Die europäische Richtlinie für erneuerbare Energien
lässt zahlreiche andere Möglichkeiten zur Minderung
von Treibhausgasen im Verkehrssektor zu . Ich fordere
die Bundesregierung auf, diese endlich zu nutzen, anstatt
noch mehr Umweltzerstörung durch den forcierten Pal-
möleinsatz zu verursachen .
Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
231. Sitzung
Inhaltsverzeichnis
TOP 3 Regierungserklärung zum Europäischen Rat
TOP 4 Gesetz gegen schädliche Steuerpraktiken
TOP 5, 38 Rentenpolitik
TOP 42, ZP 1 Überweisungen im vereinfachten Verfahren
TOP 43 Abschließende Beratungen ohne Aussprache
ZP 2 Aktuelle Stunde zu verschärften Abgastests in Europa
TOP 6 Neustrukturierung des Bundeskriminalamtgesetzes
TOP 7 Stärkung des Schutzes von Vollstreckungsbeamten
ZP 3 Abschiebungen nach Afghanistan
TOP 19 Ausbau der Kindertagesbetreuung
TOP 10 Deutsche Ostpolitik
TOP 11 Datenschutz-Anpassungs- und -Umsetzungsgesetz EU
TOP 12 Energieaußenpolitik
TOP 13 Aufenthaltsüberwachung extremistischer Straftäter
ZP 4 Ausstellungsvergütung für Kunstschaffende
TOP 15 Anpassung des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes
TOP 16, ZP 5 Förderung von Familien und Kindern
TOP 17 Änderung des Telekommunikationsgesetzes
TOP 18 Lobbyismus in Schulen
TOP 20 Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen
TOP 21 Fluggastdatengesetz
TOP 22 Änderung des Europol-Gesetzes
TOP 23 Sicherheit von Informationssystemen in der EU
TOP 24 Recht zum Schutz vor ionisierender Strahlung
TOP 25 Antarktis-Haftungsannex
TOP 26 Gesetz zur EU-Verordnung über Insolvenzverfahren
TOP 27 Gesetz zu Regelungen der Gesichtsverhüllung
TOP 30 Änderung des Bundesfernstraßengesetzes
TOP 31 Änderung des Kraftfahrzeugsteuergesetzes
TOP 32 Neuregelung des Schutzes von Geheimnissen
TOP 33 Abkommen mit Ägypten und Tunesien
TOP 35 Einführung eines Wettbewerbsregisters
TOP 36 37. Verordnung zum Bundes-Immissionsschutzgesetz
Anlagen
Anlage 1
Anlage 2
Anlage 3
Anlage 4
Anlage 5
Anlage 6
Anlage 7
Anlage 8
Anlage 9
Anlage 10
Anlage 11
Anlage 12
Anlage 13
Anlage 14
Anlage 15
Anlage 16