2) Anlage 16
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
(A) (C)
(B) (D)
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 23019
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Amtsberg, Luise BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
30.03.2017
Barthle, Norbert CDU/CSU 30.03.2017
Böhmer, Dr. Maria CDU/CSU 30.03.2017
Buchholz, Christine DIE LINKE 30.03.2017
Bülow, Marco SPD 30.03.2017
Dröge, Katharina * BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
30.03.2017
Flisek, Christian SPD 30.03.2017
Fuchtel, Hans-Joachim CDU/CSU 30.03.2017
Gehrcke, Wolfgang DIE LINKE 30.03.2017
Gohlke, Nicole DIE LINKE 30.03.2017
Gröhe, Hermann CDU/CSU 30.03.2017
Gunkel, Wolfgang SPD 30.03.2017
Hajek, Rainer CDU/CSU 30.03.2017
Hardt, Jürgen CDU/CSU 30.03.2017
Heller, Uda CDU/CSU 30.03.2017
Huber, Charles M. CDU/CSU 30.03.2017
Hüppe, Hubert CDU/CSU 30.03.2017
Jung, Andreas CDU/CSU 30.03.2017
Koenigs, Tom BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
30.03.2017
Krüger, Dr. Hans-Ulrich SPD 30.03.2017
Merkel, Dr. Angela CDU/CSU 30.03.2017
Möhring, Cornelia DIE LINKE 30.03.2017
Mosblech, Volker CDU/CSU 30.03.2017
Nahles, Andrea SPD 30.03.2017
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Nouripour, Omid BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
30.03.2017
Petzold (Havelland),
Harald
DIE LINKE 30.03.2017
Rüthrich, Susann * SPD 30.03.2017
Schipanski, Tankred CDU/CSU 30.03.2017
Schmidt (Fürth),
Christian
CDU/CSU 30.03.2017
Schmidt (Ühlingen),
Gabriele
CDU/CSU 30.03.2017
Schmidt, Dr. Frithjof BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
30.03.2017
Stauche, Carola CDU/CSU 30.03.2017
Strebl, Matthäus CDU/CSU 30.03.2017
Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
30.03.2017
Wagner, Doris BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
30.03.2017
Wöllert, Birgit DIE LINKE 30.03.2017
Woltmann, Barbara CDU/CSU 30.03.2017
Zech, Tobias CDU/CSU 30.03.2017
*aufgrund gesetzlichen Mutterschutzes
Anlage 2
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Ursula Groden-Kranich (CDU/
CSU) zu der Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Geset-
zes zum Verbot des Betriebs lauter Güterwagen
(Schienenlärmschutzgesetz – SchlärmschG) (Ta-
gesordnungspunkt 5)
Dem Entwurf eines Gesetzes zum Verbot des Betriebs
lauter Güterwagen werde ich zustimmen.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 201723020
(A) (C)
(B) (D)
Wir setzen damit ein – besonders für meinen Wahl-
kreis – wichtiges Projekt des Koalitionsvertrages um.
Die Anwohner im Mittelrheintal leiden seit vielen Jahren
unter Schienenlärm, der insbesondere von Güterwagen
verursacht wird. Der Deutsche Bundestag hat bereits in
erheblichem Umfang finanzielle Mittel zur Verfügung
gestellt, um innovative Methoden des Lärmschutzes,
angepasst an die besondere Topographie der Region, zu
entwickeln und in der Praxis zu erproben. Mit dem nun-
mehr vorliegenden Gesetz fügen wir dem Lärmschutz-
konzept für das Mittelrheintal einen weiteren, wichtigen
Baustein hinzu.
Ab dem Fahrplanwechsel am 13. Dezember 2020
wird ein Schallemissionswert festgelegt, den nur leise
Güterwagen einhalten können bzw. laute Güterwagen
nur dann, wenn sie mit deutlich reduzierter Geschwin-
digkeit fahren. Damit wird es wesentlich leiser auf den
deutschen Schienenwegen. Der Betrieb lauter Güterzü-
ge auf dem deutschen Schienennetz ist dann nur noch in
Ausnahmefällen möglich. Diese Ausnahmefälle sind so
konstruiert, dass sie den Betrieb lauter Güterwagen wirt-
schaftlich unattraktiv machen und somit einen weiteren
Anreiz zur Umrüstung oder Ausmusterung darstellen. Er-
gänzend hierzu fördert der Bund schon heute die Umrüs-
tung der Güterwagen auf lärmmindernde Bremstechnik.
Natürlich dürfen wir in unseren Bemühungen um
Lärmreduzierung jetzt nicht nachlassen. Die rechtlichen
Rahmenbedingungen müssen mit den technischen Neu-
erungen Schritt halten. Dies bleibt eine Daueraufgabe –
gerade zum Wohl der Menschen im Mittelrheintal.
Anlage 3
Erklärungen nach § 31 GO
zu der Abstimmung über den von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Förderung der Transparenz von Entgeltstrukturen
(Tagesordnungspunkt 12 a)
Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Der Deutsche Bundes-
tag stimmt heute über den Entwurf des Gesetzes zur För-
derung der Transparenz von Entgeltstrukturen ab.
Ich stimme mit meiner Fraktion für den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung und gegen die Anträge von
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Linken.
Immer noch verdienen Frauen im Durchschnitt 21 Pro-
zent weniger als Männer. Auch wenn man he rausrechnet,
dass sie häufiger in Teilzeit arbeiten, seltener in Füh-
rungspositionen aufsteigen oder eher in sozialen Berufen
mit geringeren Verdiensten tätig sind, verbleibt eine Lü-
cke von durchschnittlich 7 Prozent.
Wir haben uns bereits in der letzten Legislaturperiode
unter anderem mit einem detaillierten Gesetzentwurf für
die Beseitigung dieser Entgeltlücke eingesetzt und die
Verabschiedung eines Gesetzes zur Lohngerechtigkeit
2013 zu Beginn dieser Wahlperiode im Koalitionsvertrag
mit der Union vereinbart.
Im Dezember 2015 hat das Bundesfamilienministe-
rium dazu einen wirksamen Gesetzesentwurf vorgelegt,
der von der Union fast ein Jahr lang blockiert wurde.
Ich freue mich, dass es uns nun gelungen ist, die Uni-
on vor dem Ende der Wahlperiode mit einem verschlank-
ten Entwurf zum Einlenken zu bewegen und das Entgelt-
gleichheitsgesetz doch noch zu verabschieden.
Sicherlich hätten wir uns als Sozialdemokratinnen
und Sozialdemokraten, genauso wie Gewerkschaften
und Frauenverbände, mehr gewünscht. Vorgaben, wie
zum Beispiel ein Verbandsklagerecht oder Verpflich-
tungen zur Entgeltgleichheit für Unternehmen mit unter
200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, halte auch ich für
sinnvoll. Jedoch sehe ich im aktuellen Gesetzesentwurf
einen ersten zentralen Schritt zu mehr Lohngerechtigkeit,
der die Diskussion voranbringen wird und der auch eini-
ge Chancen bietet.
Denn wir sorgen dafür, dass in Deutschland durch das
Gesetz mehr über „das Gehalt“ gesprochen wird und die
Höhe des Verdienstes nicht mehr länger als Tabu gelten
kann. Damit unterstützen wir das Ziel, zu Lohngleichheit
bei gleicher und gleichwertiger Arbeit zwischen Män-
nern und Frauen zu kommen.
Hinzu kommt, dass Unternehmen nun die Möglichkeit
haben, vorne mit dabei zu sein und bestehende Diskri-
minierungen offensiv zu beheben. Damit kann Lohnge-
rechtigkeit in Zukunft zu einem wichtigen Argument für
Betriebe im Wettbewerb um gute Arbeitskräfte werden.
Dr. Kristina Schröder (Wiesbaden) (CDU/CSU):
Ich lehne das „Gesetz zur Förderung der Transparenz von
Entgeltstrukturen“ ab.
Der Beweis, dass die Lohndifferenz zwischen Män-
nern und Frauen systematisch auf eine Diskriminierung
von Frauen zurückzuführen ist, wurde nicht erbracht.
Auch in der in diesem Zusammenhang oft zitierten Studie
des Statistischen Bundesamtes (2006) wird darauf hin-
gewiesen, dass auch die bereinigte Lohndifferenz nicht
mit einer erwiesenen Diskriminierung gleichzusetzen
ist. Unbezahlte Überstunden etwa, die in Deutschland
nach einer Studie des Leibniz-Instituts für Wirtschafts-
forschung Halle (2012) mehr als doppelt so oft von Män-
nern wie von Frauen geleistet werden, werden in keiner
der einschlägigen Studien berücksichtigt.
Man kann die Lohnlücke darauf zurückführen, dass
Frauen „in traditionellen Rollenbildern verharren“, „glä-
serne Decken nicht durchstoßen können“ oder in die
„Teilzeitfalle gedrängt“ werden. Ich hingegen gehe da-
von aus, dass Menschen in ihrem Leben Entscheidungen
treffen, darüber, welchen Beruf sie ergreifen, welches
Gewicht sie der Karriere einräumen und wie viel Zeit sie
für ihre Familie haben möchten. Diese Entscheidungen,
mit allen ihren jeweiligen Vor- und Nachteilen, hat der
Staat nicht zu bewerten. Erst recht ist es nicht Aufgabe
des Staates, den Versuch zu unternehmen, Menschen um-
zuerziehen, damit sich männliche und weibliche Biogra-
fien möglichst angleichen. Denn nur dann, wenn Männer
und Frauen sich in der Wahl ihrer Ausbildungen und Stu-
dienfächer, in der Länge ihrer beruflichen Auszeiten nach
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 23021
(A) (C)
(B) (D)
der Geburt eines Kindes, ihrer Bereitschaft, Teilzeit zu
arbeiten, Unternehmen zu gründen und unbezahlte Über-
stunden zu leisten, nicht mehr unterscheiden, wird sich
rechnerisch keine Lohndifferenz mehr zwischen Frauen
und Männern ergeben.
Der vorliegende Gesetzentwurf zielt im Kern auf eine
Angleichung männlicher und weiblicher Biografien ab.
Er trägt dies auf dem Rücken von Unternehmen aus, die
unter den Generalverdacht gestellt werden, ihre Mitar-
beiterinnen grundlos schlechter zu entlohnen als ihre
Mitarbeiter. Dass daran irgendetwas nicht stimmen kann,
zeigt schon eine schlichte ökonomische Betrachtung:
Wenn wirklich Frauen in Deutschland für die gleiche
Arbeit bei gleicher Ausbildung, gleicher Erfahrung und
gleichem Arbeitseinsatz sechs Prozent weniger Gehalt
bekämen, warum kommen dann nicht mehr Unterneh-
men auf die Idee, ausschließlich Frauen einzustellen, um
so sechs Prozent Lohnkosten zu sparen?
Anlage 4
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Haushaltsausschusses zu dem Antrag
der Abgeordneten Heidrun Bluhm, Norbert Müller
(Potsdam), Caren Lay, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE: Keine Beteiligung des
Bundes am Wiederaufbau der Garnisonkirche
Potsdam (Tagesordnungspunkt 21)
Rüdiger Kruse (CDU/CSU): „Ja! Wir werden Tür-
me haben, zum Beispiel einen Turm fürs Rathaus, einen
Turm fürs Kulturhaus. Andere Türme können wir in der
sozialistischen Stadt nicht gebrauchen“, so hat der SED-
Chef Walter Ulbricht seine städtebaulichen Vorstellun-
gen 1953 zum Ausdruck gebracht. Und das SED-Regime
wurde dieser Ansage gerecht. Zwischen 1949 und 1985
wurden auf dem Gebiet der DDR ungefähr 50 Kirchen
abgerissen oder gesprengt. Nach Einschätzung von
Fachleuten hätten die meisten Kirchen gerettet werden
können. Das Schicksal traf auch die Garnisonkirche von
Potsdam.
Walter Ulbricht hatte sich am 22. Juli 1967 vor einer
Wahlkundgebung in Potsdam die Stadt angeschaut und
beschlossen, dass der Turm der Garnisonkirche entfernt
werden soll. Im Protokoll seines Besuches kann man
seinen Satz lesen: „Die Ruine der Garnisonkirche kann
man auch auf der Fotografie zeigen und sie verkaufen als
Postkarten für Ausländer.“
Auch die Zeit der Sprengung – Sonntagvormittag um
10 Uhr – wurde bewusst auf die Zeit gesetzt, wo jede
Woche traditionell die Gemeinde zum Gottesdienst zu-
sammenkam. Bei mehreren anderen Kirchensprengun-
gen verlief das nach gleichem Muster.
Die Garnisonkirche von Potsdam ist kein Bau mit ei-
ner einfachen Geschichte gewesen. Sie war mit der Zeit
des preußischen Militarismus und noch mehr mit der des
Nationalsozialismus bedauerlich eng verbunden. Sollten
die Gebäude aber dafür haften, was in ihnen passiert ist,
würden wir wegen des dann notwendigen Abreißens un-
sere Städte nicht wiedererkennen.
Doch dem ist nicht so. Wir haben vielmehr die Mög-
lichkeit, durch das Erhaltene oder auch das Wiederauf-
gebaute nicht zu vergessen und daraus zu lernen. Dieje-
nigen, die sagen, dass auch Bronzetafeln diesen Zweck
erfüllen können, müssen sich fragen lassen: Wie wenig
lebendig ist denn die Erinnerung durch eine Tafel im Ver-
gleich zu einem Kirchenturmbau mit einer Kapelle, unter
dessen Dach Aufarbeitung stattfindet und Versöhnung an
Kraft gewinnt?
Nur wer sich eigener Geschichte stellt, kann versöhnt
in die Zukunft blicken. Oft wird dies auf die Aufarbei-
tung der großen tragischen Kriegsereignisse des 20. Jahr-
hunderts bezogen. Und es stimmt auch. Allerdings gilt es
auch für jeden einzelnen Menschen, in dessen Inneren
nicht immer nur das Gute waltet. Die wiederaufgebaute
Garnisonkirche wird insofern nicht nur ein Erinnerungs-
ort sein, sondern auch als Besinnungsort dienen können.
Denn Versöhnung zwischen den Völkern steht und fällt
mit der Fähigkeit zu friedvoller Verständigung ihrer ein-
zelnen Glieder – der einzelnen Menschen. Auch für die
Linkspartei bietet die Garnisonkirche die Chance, sich
mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen und
diese anzunehmen.
Hier sehe ich die versöhnliche Rolle der wiederaufzu-
bauenden Garnisonkirche. Der Erfolg des Projektes wird
nicht daran gemessen, ob die letzte Barockverzierung ih-
ren Platz an der Fassade findet, sondern daran, ob hier
Menschen zueinanderfinden werden und sich aufrichtig
der Geschichte stellen.
Der Turm der Garnisonkirche wird auch in der finanzi-
ell kleineren Variante mit allen Räumlichkeiten und Aus-
sichtsplattform nutzbar sein. Die inhaltliche Arbeit wird
unabhängig von der Fassadengestaltung vollständig und
ohne Einschränkungen stattfinden können.
Daher war es richtig, dass wir hier im Deutschen Bun-
destag vor einigen Wochen die Unterstützung für das
Projekt signalisiert haben. Dies war das entscheidende
Signal, das den Start dieses wichtigen Bauvorhabens
demnächst ermöglicht.
Dr. Philipp Lengsfeld (CDU/CSU): Es ist eine wirk-
lich schöne Nachricht, dass der Turm der Garnisonkirche
in Potsdam nun wieder errichtet wird. So sehr ich es be-
grüße, dass wir uns im Deutschen Bundestag mit dem
Thema noch einmal befassen, so sehr bedaure ich, dass
die Linkspartei weiterhin gegen dieses Projekt kämpft.
Ich registriere zwar, dass sich der Tonfall in den Reihen
der Linkspartei insgesamt gemäßigt hat, aber dies ändert
am Grundsätzlichen leider nichts. Die Linkspartei ver-
passt – mal wieder – die Gelegenheit, ein Zeichen der
Versöhnung zu senden. Sie ist und bleibt die Partei der
Spaltung, sei es in Potsdam oder anderswo.
Hauptziel des Wiederaufbaus des Turms der Gar-
nisonkirche ist die Wiederherstellung eines barocken,
stadtprägenden kirchlichen Prunkstücks, dessen kultu-
relle Bedeutung weit über Potsdam hinausreicht. Und da
hat sich die Diskussion in Potsdam doch stark beruhigt.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 201723022
(A) (C)
(B) (D)
Der Landtag arbeitet im wiedererstandenen Schloss, das
Interhotel kann weiterhin mit schönstem Blick, in bester
Innenstadtlage und mit Geschichten aus der alten Zeit
Gäste beherbergen, und sogar das Rechenzentrum mit
seiner sozialistischen Kitschkunst hat seinen Platz neben
dem Kirchturm.
Darüber hinaus geht es auch um die Wiederbelebung
einer ehemals aktiven christlichen Gemeinde, ein nicht
zu unterschätzender Punkt. Deshalb hat das Projekt ja
eine so breite Zustimmung innerhalb der EKD, trotz des
lautstarken Protests einer kleinen innerkirchlichen Min-
derheit. In den Kirchen der Reformation lebt eben eine
tief demokratische Tradition.
Und auch die Diskussion um den geschichtlichen
Symbolismus hat sich doch stark versachlicht. Hier muss
insbesondere die Wiederaufbauinitiative ausdrücklich
gelobt werden: Die problematischen Kapitel der Kir-
che – Stichwort „Tag von Potsdam“ oder „preußische
Militärkirche“ – werden offensiv und damit nachhaltig
aufgegriffen.
Eigentlich könnten wir uns alle sehr einvernehmlich
hinter dieses Projekt stellen. Aber das scheint ja leider
für die Linkspartei keine Option zu sein. Stattdessen
führt sie wie die anderen verbliebenen Gegner des Pro-
jekts bewusst oder unbewusst das Werk der SED fort. Die
Sprengung des nur mittelmäßig beschädigten markanten
Kirchturms und die Beseitigung einer aktiven Gemein-
de – es gab eine Kapelle – war und ist durch nichts zu
rechtfertigen. Und es ging nicht nur um die Garnisonkir-
che, sondern um die Bekämpfung des religiösen Lebens
und religiöser Bauten in Ostdeutschland insgesamt. Das
war damals das Ziel der Kampagne von Walter Ulbricht
und der SED, dem neben der Garnisonkirche Potsdam
viele weitere Kirchen in Ostdeutschland zum Opfer
fielen. In Summe waren es bis 1968 satte 50 Gebäude,
darunter die vollkommen intakte Universitätskirche
Leipzig, die Ulrichskirche in Magdeburg oder die Gna-
denkirche Berlin. Dieses Vorgehen reihte sich ein in die
Unterdrückung der Jungen Gemeinden in den ersten
Jahrzehnten der DDR und der schulischen, beruflichen
und akademischen Benachteiligung von getauften Kin-
dern, insbesondere von Kindern aus Pfarrerfamilien.
Es ist für mich schon eine ganz bittere Ironie, dass eine
geschichtsvergessene Enkelgeneration mit überborden-
dem Selbstbewusstsein den ideologischen Feldzug ihrer
Funktionärsgroßeltern weiterführt.
Um versöhnlich zu enden: Auf der exzellenten und
sehr sachlichen Webseite Kirchensprengung.de von
Dr. Tobias Köppe aus Magdeburg, einem plastischen
Chirurgen und Vorsitzenden des Kuratoriums Ulrichskir-
che Magdeburg, werden die ganzen großen und kleinen
Barbareien der SED-Kampagne aufgelistet. An einigen
zentralen Punkten hat es schon versöhnende Neuanfänge
geben; prominentestes Beispiel ist der Kompromiss bei
der Universitätskirche in Leipzig. Der Wiederaufbau des
Garnisonkirchenturms in Potsdam reiht sich in diese po-
sitive Geschichte ein. Darüber freue ich mich sehr.
Johannes Kahrs (SPD): März 2017: Ein amerika-
nischer Präsident verweigert der deutschen Bundeskanz-
lerin den Handschlag vor laufenden Kameras – ein sehr
ungewöhnlicher, unhöflicher und symbolträchtiger Vor-
gang.
März 1933: Ein deutscher Präsident reicht dem deut-
schen Reichskanzler Adolf Hitler auf den Stufen der Gar-
nisonkirche die Hand – ein Bild wird zum Symbol.
Beide Vorgänge stehen selbstredend in keinem politi-
schen oder zeitlichen Zusammenhang, verraten uns aber
viel über die Macht der Bilder, und sie verdeutlichen, wie
Bilder instrumentalisiert werden können.
Leider entstand kein Bild im März des Jahres 1809,
als in Potsdam der erste freigewählte Magistrat zusam-
mentrat und im selben Jahr in der Potsdamer Garnison-
kirche feierlich vereidigt wurde – ein historischer Mo-
ment für die Stadt Potsdam und dennoch weitestgehend
vergessen.
Die Linke ist offenbar der Meinung – anders erklärt
sich ihr Antrag nicht –, dass wir der Geschichtsklitterung
der Nationalsozialisten, die sich um den sogenannten
„Tag von Potsdam“ rangt, nichts entgegenzusetzen ha-
ben. Dieser Meinung bin ich explizit nicht.
Die Potsdamer Garnisonkirche ist weit mehr als das
Symbol, das die Nationalsozialisten daraus gern ma-
chen wollten, und ich weigere mich, ihnen darin die
Deutungshoheit zu überlassen. Die Kirche gilt als der
bedeutendste Sakralbau des barocken Preußens und war
das Wahrzeichen Potsdams. Sie prägte das Stadtbild. Sie
ist Motor für jahrelanges bürgerschaftliches Engagement
und nicht zuletzt für kontroverse Debatten, von denen
unsere Demokratie ja bekanntlich lebt.
Ich glaube, dass es deshalb wichtig und richtig ist, die
Kirche wieder aufzubauen. Einer der prominentesten Un-
terstützer des Wiederaufbaus, Günther Jauch, sagte, man
brauche diese „authentischen Orte, um uns an die Viel-
schichtigkeit unserer Geschichte zu erinnern und unsere
Lehren daraus zu ziehen ... Dort, wo nichts mehr steht,
wird auch nach nichts gefragt.“
Und er hat recht. Denn es gibt ja einen guten Grund,
warum wir selbst die ultimativsten Orte des Bösen, die
Konzentrationslager der Nazis, als Gedenkstätten erhal-
ten haben. Sie sind Teil unserer Geschichte, und die darf
nicht in Vergessenheit geraten.
Und wenn das wahr ist, dann gilt das mindestens ge-
nauso für Orte, die die Nazis für sich vereinnahmen woll-
ten, obwohl deren Geschichte in Wahrheit weit mehr ist.
Deshalb ist es richtig, dass mit dem Wiederaufbau der
Kirche ein Ort für Frieden und Versöhnung geschaffen
werden soll, der die vielschichtige Vergangenheit des Or-
tes nicht leugnet, sondern sie richtig einordnet.
Der Stiftung „Garnisonkirche“ wurden 12 Millionen
Euro des Bundes zugesagt, wenn die restlichen Mittel
für den Wiederaufbau des Turms durch Spenden gesi-
chert seien. Nach Informationen der Stiftung betragen
die Spenden nach heutigem Stand 9,1 Millionen Euro.
Weitere 5 Millionen Euro sollen durch ein zinsfreies Dar-
lehen der evangelischen Kirche bereitgestellt werden.
Die Stiftung bittet den Bund nun, für 26,1 Millionen
Euro zunächst eine reduzierte Version des Turms bauen
http://www.kirchensprengung.de
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 23023
(A) (C)
(B) (D)
zu dürfen. Damit verbindet sich die berechtigte Hoff-
nung, dass das Spendenaufkommen weiter steigt, sobald
für die Menschen etwas Greifbares zu sehen ist. In einer
zweiten Stufe könnte dann der Turm inklusive Turmhau-
be, Glocken, Glockenspiel und einem Teil der Schmuck-
fassade wiederhergestellt werden.
Die zuständigen Berichterstatter der Koalition haben
dem zugestimmt. Sie haben aber auch klargestellt, dass
der Bund sich an der zweiten Bauphase nicht noch ein-
mal beteiligen wird. Die Bundesbeauftrage für Kultur
und Medien hat die Aufgabe, den Bau zu begleiten, und
ich habe Vertrauen darin, dass das Projekt in Kooperation
mit der Stadt Potsdam und der Stiftung „Garnisonkirche“
zu einem guten Ende geführt wird.
Hiltrud Lotze (SPD): Die Garnisonkirche blickt auf
eine wechselvolle Geschichte zurück. Berühmte Preu-
ßenkönige wurden in der Gruft der Garnisonkirche bei-
gesetzt; berühmte Musiker wie Johann Sebastian Bach
spielten in der Kirche auf der Orgel. Auch Demokratie-
feinden hat die Garnisonkirche immer wieder eine Büh-
ne geboten. Bereits in der Weimarer Republik war sie
Kundgebungsort für rechtsgerichtete Organisationen. Im
Nationalsozialismus avancierte die Kirche zu einer der
wichtigsten Stätten der Nazis, insbesondere am „Tag von
Potsdam“. 1945 wurde die Kirche dann durch Bomben-
angriffe schwer beschädigt und in der DDR endgültig
gesprengt.
Dass die Garnisonkirche bis 1945 vor allem für Mi-
litarismus und Demokratiefeindlichkeit stand, ist un-
umstritten. Die Garnisonkirche aufzubauen, ohne daran
zu erinnern, ist ausgeschlossen. Da gebe ich der Linken
recht.
Die Linke schreibt jedoch in ihrem Antrag, der Wie-
deraufbau der Garnisonkirche sei ein falsches politisches
Signal. Das sehe ich anders. Nach dieser Logik hätte man
auch das Brandenburger Tor nach dem Zweiten Weltkrieg
nicht instand setzen dürfen. Es ist ja nicht das Bauwerk
an sich, das verantwortlich ist für die nationalsozialisti-
sche Vereinnahmung, sondern es sind die dort handeln-
den Akteure und ihre Taten. Deswegen kommt es heute
darauf an, welches Konzept hinter dem Wiederaufbau
steht. Eine unkritische Rekonstruktion des Vergangenen
darf es nicht geben.
Darum geht es der Stiftung „Garnisonkirche Potsdam“
aber auch nicht. Das haben mir Gespräche gezeigt. Die
Stiftung leugnet die Vergangenheit nicht, sondern greift
sie auf. Die wiederaufgebaute Garnisonkirche plant sie
als Zentrum für Frieden und Versöhnung. Sie soll eine
Bürgerkirche und ein offener Ort für alle Menschen in
Potsdam sein. Das spiegeln auch die offene Bauweise wi-
der und die Pläne für die Aussichtsplattform.
Es gibt noch einen weiteren Punkt, weswegen der
Wiederaufbau unterstützenswert ist: Die Garnisonkirche
war einer der schönsten barocken Kirchenbauten aus der
Zeit Preußens. Städtebaulich und architektonisch würde
die Garnisonkirche die historische Mitte Potsdams her-
vorragend ergänzen.
Mittlerweile ist auch die Finanzierung geklärt. Die
Variante mit der reduzierten Version des Turmes ist eine
gute Lösung. Die Haushälter haben die BKM darum ge-
beten, auch in Zukunft auf dem aktuellen Stand der Fi-
nanzierung gehalten zu werden. Sie werden also weiter-
hin ein Auge auf dieses Projekt haben. Das gilt auch für
uns Kulturpolitiker.
Die Garnisonkirche ist kein „normales“ Wiederauf-
bauprojekt. Wir als SPD stehen zu der Förderung durch
den Bund. Aber die ist an Bedingungen geknüpft, und
dazu gehört für mich der kritische Umgang mit der Ge-
schichte.
Ich werde das Projekt dementsprechend weiter beglei-
ten.
Norbert Müller (Potsdam) (DIE LINKE): Wie kaum
ein anderes Bauwerk stand die Potsdamer Garnisonkir-
che für den preußischen und deutschen Militarismus und
Nationalismus. Sie war die Hof- und Militärkirche Preu-
ßens. Militärs ließen hier ihre Kriegszüge segnen und
feierten anschließend eben hier ihre Siege. So war die
Garnisonkirche Symbol der militärischen Stärke und des
Herrschaftsanspruches Preußens. Auch im Ersten Welt-
krieg wurde hier in Predigten und Gebeten zum Krieg
aufgerufen, und die ins Feld ziehenden Soldaten wurden
hier gesegnet.
So ist es kaum verwunderlich, dass sich die Garnison-
kirche in der Zwischenkriegszeit schnell zum Pilgerort
all jener deutschnationalen, revisionistischen und reak-
tionären Kräfte entwickelte, die vor allem eines im Sinn
hatten: die schnellstmögliche Beseitigung der Weimarer
Republik. Der sogenannte „Tag von Potsdam“, der mit
dem öffentlichen Schulterschluss zwischen konservati-
ven Eliten und Nationalsozialisten das Ende der Weima-
rer Republik besiegelte, war da nur noch das Tüpfelchen
auf dem i.
Festzuhalten ist: Die Potsdamer Garnisonkirche stand
wie kaum ein anderes Gebäude für die lange Traditions-
linie des preußisch-deutschen Militarismus und Nationa-
lismus, die letztendlich in den unvergleichlichen Verbre-
chen des Zweiten Weltkrieges mündete. Und festzuhalten
ist auch: Eine neuaufgebaute Kopie der Potsdamer Gar-
nisonkirche würde genauso für ebenjene unsägliche Tra-
ditionslinie stehen. Da ist es ganz egal, ob in diesem Ge-
bäude dann auch ein sogenanntes Versöhnungszentrum
Platz findet oder nicht.
Der Bau der Garnisonkirchenkopie wäre aber nicht
nur unter historischen Gesichtspunkten ein riesiger Feh-
ler, auch aus städtebaulicher Sicht würde mit dem Baube-
ginn ein großes Risiko eingegangen werden. Wenn vom
„Wiederaufbau der Garnisonkirche“ gesprochen wird,
meint dies ja schon lange nicht mehr den Nachbau der
kompletten Kirche. Schließlich wissen auch die Befür-
worter und Befürworterinnen, dass es völlig aussichtlos
ist, die finanziellen Mittel für die gesamte Kirche inklu-
sive Schiff zusammenzubekommen. Stattdessen geht es
nur noch um den Bau des Turms. Da es aber offenbar
schwierig ist, selbst hierfür die entsprechenden Gelder zu
akquirieren, will die Garnisonkirchenstiftung zunächst
mit dem Bau des Turmrumpfes ohne Zierrat und Turm-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 201723024
(A) (C)
(B) (D)
haube beginnen, und das, obwohl der Bau auf wunder-
same Weise in den langen Jahren der Planung nach An-
gaben der Stiftung immer billiger geworden ist und sich
dabei die anvisierte Bauzeit auch noch ständig verkürzt
hat. Ich möchte, wenn ich mir andere Bauprojekte so an-
schaue, ja schon fast von einem Hauch göttlichen Segens
für die Garnisonkirchenkopie sprechen.
Nun Spaß beiseite: Tatsächlich setzen die Befürwor-
terinnen und Befürworter vor allem auf eines: auf Spe-
kulation, die Spekulation nämlich, die restlichen Gelder
für den Bau des gesamten Turmes würden im Laufe des
Baugeschehens schon noch irgendwie zusammenkom-
men. Was hierdurch droht, ist offensichtlich: eine riesige
Bauruine mitten in Potsdams Zentrum.
Wenn der Bund nun tatsächlich 12 Millionen Euro für
die Garnisonkirchenkopie bereitstellen sollte, dann ist
das erinnerungs- und geschichtspolitisch also nicht nur
völlig daneben, sondern auch noch aus städtebaulichen
sowie haushalterischen Erwägungen im höchsten Maße
unvernünftig.
Daher werbe ich für die Zustimmung für unseren An-
trag. Lassen Sie uns das Kapitel Garnisonkirche ein für
alle Mal beenden!
Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): „Stadt trifft Kirche“ ist das Motto des Potsdamer
Beitrags zum Reformationsjubiläum. Auf eine Potsda-
mer Kirche – und um die geht es hier heute Abend – trifft
das Motto aber leider nicht so ganz zu: die Potsdamer
Garnisionkirche bzw. das, was davon noch übrig ist. Hier
müsste das Motto eher heißen: Stadt streitet über Kirche.
In der einstigen Hof- und Militärkirche Preußens fand
am 21. März 1933 – nach dem Reichstagsbrand –, beglei-
tet von Protesten der Kirchenleitung, der Festakt zur kon-
stituierenden Sitzung des Reichstages statt. Den dortigen
Handschlag Adolf Hiltlers mit dem Reichspräsidenten
Paul von Hindenburg nutzten die Nationalsozialisten, um
das Ereignis zum „Tag von Potsdam“ zu überhöhen, was
wiederum in der DDR dazu genutzt wurde, die Kirche als
angebliches Symbol des deutschen Militarismus spren-
gen zu lassen.
Ob die Kirchengemeinde nach 1933 besonders rechts
und linientreu gewesen ist, darüber gibt es unterschied-
liche Quellen. Und daher halte ich auch den Feststel-
lungsteil des Linkenantrags, über den wir hier heute
abstimmen, für sachlich nicht angemessen. In anderen
Potsdamer Kirchen soll im Gegensatz zur Garnisonkir-
che „Mein Kampf“ auf dem Altar neben der Bibel gele-
gen haben. Mit dem NS-Regime verbundene Pfarrer sol-
len sich eher über die mangelnde Linientreue innerhalb
der Garnisonkirchengemeinde beschwert haben. Adolf
Hitler war zwei Stunden in der Garnisonkirche. Aus der
gleichen Kirchgemeinde sind aber mehr als zwanzig
Männer und Frauen hingerichtet worden, weil sie gegen
Hitler waren.
Was meine Fraktion und ich aber definitiv unterstüt-
zen, ist die Forderung des Linkenantrags, dass der Bund
sich nicht finanziell an dem Wiederaufbau beteiligen soll.
Wir werden daher trotz einiger für uns kritischer Formu-
lierungen im Feststellungsteil dem Antrag der Linken
insgesamt zustimmen.
Einer privaten Aufbauinitiative, die sich kritisch der
Geschichte des Bauwerks stellt, stehen wir nicht im
Wege. Aber wir sehen keine Veranlassung zu öffentlicher
Förderung in Millionenhöhe von einem Streitobjekt, zu-
mal Potsdam weder einen Mangel an Kirchen noch an
historischen Bauwerken hat und die Stiftung Garnison-
kirche 2008 zu Beginn ihrer Arbeit für den Wiederaufbau
versicherte, ausschließlich Spendengelder für den Wie-
deraufbau einzuwerben.
In diesem Sinne kann ich nur an die Worte des ehe-
maligen obersten Brandenburgischen Denkmalschüt-
zers Detlef Karg erinnern, der im Februar 2012 zu dem
geplanten Bau sagte, es sei „nicht Aufgabe der Denk-
malpflege, einen verlorenen Bau wieder aufzurichten.
… Wenn man in Potsdam am alten Standort eine Kirche
bauen will, kann man das auch in der heutigen Architek-
tursprache tun.“ Er verwies in seiner Kritik, an die Ad-
resse der Evangelischen Kirche gerichtet, insbesondere
darauf, dass im Land Brandenburg 1 164 Dorfkirchen
und 700 Stadtpfarrkirchen in ihrer Bausubstanz ernsthaft
gefährdet seien. Ich habe etliche dieser Dorfkirchen be-
sucht und bin überzeugt, dass ihr Erhalt für das Gemein-
wohl weitaus wichtiger wäre.
Was diesen lokalen Kirchenneubau gegenüber ande-
ren Projekten so national bedeutsam macht, dass dafür
Millionenbeträge aus dem Kulturhaushalt des Bundes
bereitgestellt werden, ist meiner Fraktion jedenfalls ver-
schlossen geblieben. Wir könnten viele andere Kultur-
projekte nennen, die das Geld aus unserer Sicht dringen-
der bräuchten. An anderer Stelle im Land Brandenburg
wie zum Beispiel in Frankfurt/Oder kann die dortige
Kommune die für die Sanierung ihrer Konzerthalle not-
wendigen 5,2 Millionen Euro einfach nicht aufbringen.
Dabei ist sie die Spielstätte des international anerkannten
Brandenburgischen Staatsorchesters und die ehemalige
Kirche des 1270 errichteten früheren Franziskanerklos-
ters.
Unsere Ablehnung der öffentlichen Förderung bedeu-
tet jedoch nicht, dass wir das Anliegen der Nagelkreuz-
gemeinschaft, wovon das Garnisonkirchen-Projekt seit
2004 Mitglied ist, nicht auch als Grüne teilen würden.
Die Ziele der weltweiten Nagelkreuzgemeinschaft lau-
ten neben der Aussöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg:
Wunden der Geschichte heilen, mit Verschiedenheiten
leben und die Vielfalt feiern, an einer Kultur des Frie-
dens bauen. Allein in Deutschland sind das 63 Orte in
49 Städten.
Aus unserer Sicht muss sich das Neubauprojekt dann
aber auch kritisch mit der militärisch geprägten Ge-
schichte des Bauwerks auseinandersetzen und einen kla-
ren Schnitt vollziehen. Der Potsdamer Historiker Martin
Sabrow, Direktor des Zentrums für Zeithistorische For-
schung, formulierte treffend, dass „das Projekt zum
Wiederaufbau der Kirche nur dann seine Realisierungs-
chance wird nutzen können, wenn es die feine Trennlinie
zwischen Mythos und Erinnerungsort nicht überschreitet
und immer wieder deutlich macht, dass es darum geht,
https://de.wikipedia.org/wiki/Paul_von_Hindenburg
https://de.wikipedia.org/wiki/Tag_von_Potsdam
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 23025
(A) (C)
(B) (D)
das Zeugnis der Vergangenheit zu restaurieren, nicht aber
die Vergangenheit selbst“.
Ob diese Trennlinie tatsächlich gewahrt wird, da ha-
ben wir bisher jedoch Zweifel. Warum ist in der Baupla-
nung das Nagelkreuz von Coventry als Versöhnungszei-
chen von der alten Wetterfahne mit preußischem Adler
und anderen Herrscherinsignien verdrängt worden? Wa-
rum wurde das „Internationale Versöhnungszentrum“ aus
dem Nutzungskonzept gestrichen? Auch ein ausgearbei-
tetes inhaltliches Konzept zur geplanten Versöhnungsar-
beit ist nicht bekannt.
Als Nagelkreuzgemeinde darf der Kirchenneubau aus
unserer Sicht zudem nicht wieder zum Ort für Soldaten-
segnungen werden; denn dann bestünde eine Kontinuität
zum Vorgängerbau aus Kaiserzeiten, die wir alle nicht
wollen. Viele Christen könnten die Kirche dann zu Recht
nicht als die ihre betrachten. Soldaten als Einzelpersonen
und in Zivil sollten willkommen sein, aber keine militä-
rischen Formationen.
Die Tatsache, dass auch dies alles nicht geklärt ist,
unterstreicht für uns, wie falsch es ist, nun öffentliche
Gelder fließen zu lassen. Doch die Stiftung steht unter
Druck: Da die Baugenehmigung für den Turm Ende 2018
abläuft, muss das Bauwerk nach brandenburgischem
Baurecht spätestens ein Jahr später fertiggestellt sein. Ob
diese Kirche so die Stadt trifft, ist mehr als fraglich.
Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– des von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurfs eines zweiten Gesetzes zur Novellie-
rung von Finanzmarktvorschriften auf Grund
europäischer Rechtsakte (Zweites Finanz-
marktnovellierungsgesetz – 2. FiMaNoG)
– der Beschlussempfehlung und des Berichts des
Finanzausschusses zu dem Antrag der Abgeord-
neten Uwe Kekeritz, Dr. Gerhard Schick, Harald
Ebner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: zu dem Vorschlag
für eine Delegierte Verordnung der Kommission
zur Ergänzung der Richtlinie 2014/65/EU des
Europäischen Parlaments und des Rates durch
technische Regulierungsstandards für die An-
wendung von Positionslimits für Warenderivate
K(2016)4362 endg.; Ratsdok. 15163/16
hier: Stellungnahme des Deutschen Bundesta-
ges gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grund-
gesetzes i. V. m. § 8 des Gesetzes über die
Zusammenarbeit von Bundesregierung
und Deutschem Bundestag in Angelegen-
heiten der Europäischen Union
Nahrungsmittelspekulationen stoppen – Kommis-
sionsvorschlag zurückweisen
– der Beschlussempfehlung und des Berichts des
Finanzausschusses zu dem Antrag der Abge-
ordneten Susanna Karawanskij, Klaus Ernst,
Jutta Krellmann, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE: Finanzaufsicht nach
Anlagepleiten zum Schutz von Verbraucher-
interessen stärken
(Tagesordnungspunkt 22 a bis c)
Matthias Hauer (CDU/CSU): Mit der abschließen-
den Beratung des Zweiten Finanzmarktnovellierungsge-
setzes verankern wir die Finanzmarktrichtlinie MiFID II,
die dazugehörige Verordnung MiFIR sowie weitere
europäische Rechtsakte – die SFT-Verordnung und die
Benchmark-Verordnung – im deutschen Recht.
Bei den europäischen Vorgaben handelt es sich um
umfangreiche Modernisierungen und Überarbeitungen
bestehender Regelungen, in die viele Erfahrungen, die
wir in der Folge der Finanzkrise ab 2007 gesammelt ha-
ben, eingeflossen sind. Das nun zu beschließende deut-
sche Umsetzungsgesetz wie auch die zugrunde liegenden
europäischen Rechtsakte verfolgen das Ziel, die Märkte
zu stabilisieren, die Anfälligkeit für neue Finanzkrisen zu
reduzieren und den Anlegerschutz zu erhöhen.
Wir von der Union begrüßen, dass es sich bei dem von
der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurf wei-
testgehend um eine Eins-zu-eins-Umsetzung der euro-
päischen Vorgaben handelt. So wird sichergestellt, dass
EU-weit ein einheitlicher Rechtsrahmen gilt. Gleichzei-
tig steht dadurch aber auch fest, dass der Gestaltungs-
spielraum für den nationalen Gesetzgeber gering ist. Die
parlamentarischen Beratungen haben wir daher vor allem
dazu genutzt, dort, wo es geboten und möglich war, Er-
gänzungen und Klarstellungen vorzunehmen.
Erfreulich ist, dass wir das Gesetzgebungsverfahren
zudem dazu nutzen konnten, auf Initiative der Union
Verbesserungen in der Aktienberatung vorzunehmen.
Wir kommen damit einen guten Schritt voran – für mehr
und verständlichere Beratung in Aktien. Die Änderungen
betreffen Aktien, die an organisierten Märkten gehandelt
werden. Derzeit müssen Berater Hunderte individuali-
sierte Produktinformationsblätter vorhalten, wenn sie
Aktienberatung anbieten wollen. Diese Produktinfor-
mationsblätter werden wir nun standardisieren. Die der-
zeitige Regelung ist für Anlageberater und Verbraucher
gleichermaßen unbefriedigend, da sie auf der einen Seite
zu höheren Kosten sowie mehr Bürokratie führt und auf
der anderen Seite keinen Mehrwert für den Verbraucher
bietet. Wir mussten sogar einen Rückgang in der Aktien-
beratung feststellen, weil sich vor allem kleinere Institute
wegen des hohen bürokratischen Aufwands aus der Akti-
enberatung zurückgezogen haben.
Wir brauchen in Deutschland aber mehr statt weniger
Aktienkultur. Deshalb gehen wir das Thema mit dem
Gesetzentwurf an. Wir beseitigen damit Bürokratie und
sorgen für mehr Verbraucherschutz. Künftig wird es die
Option geben, individuelle Informationsblätter durch ein
einheitliches Informationsblatt zu ersetzen, welches die
Gattung Aktie beschreibt. Das wird den Bankkundinnen
und Bankkunden – gerade in der aktuellen Niedrigzins-
phase – zugutekommen und die Aktienkultur in Deutsch-
land stärken. Bei der Formulierung des standardisierten
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 201723026
(A) (C)
(B) (D)
Aktieninformationsblattes wird es auf Initiative der Uni-
on neben einer Einbeziehung von Vertreterinnen und Ver-
tretern aus Kreditwirtschaft und Verbraucherschutz auch
eine Unterstützung durch die Gesellschaft für deutsche
Sprache geben. Das stellt die Verständlichkeit und Trans-
parenz sowie eine praxistaugliche Ausgestaltung sicher.
Auch beim Beratungsprotokoll gibt es nun Änderun-
gen. Dieses sorgte seit seiner Einführung 2010 für großen
bürokratischen Aufwand und oft sogar für zusätzlichen
Streit zwischen Anlegern und Anlageberatern. Das Be-
ratungsprotokoll wird nun durch die sogenannte Geeig-
netheitserklärung ersetzt. Darin muss der Anlageberater
künftig schriftlich erklären, aus welchen Gründen er
dem Kunden ein Finanzprodukt empfiehlt. Die bislang
vorgeschriebene bürokratische Protokollierung der Bera-
tungsgespräche entfällt. Die Erfahrungen mit dem Bera-
tungsprotokoll haben uns zudem veranlasst, das Bundes-
ministerium der Finanzen zu bitten, bis Ende 2020 die
praktischen Erfahrungen mit der Geeignetheitserklärung
im Hinblick darauf zu evaluieren, ob eine stärkere Stan-
dardisierung angebracht ist.
Darüber hinaus haben wir das Ministerium gebeten,
sich auf europäischer Ebene für Lösungen für die mit
der Gesetzesnovelle einhergehenden besonderen Proble-
me im Telefonordergeschäft und bei den Förderbanken
einzusetzen, da in diesen Fällen dem nationalen Gesetz-
geber durch die europäischen Vorgaben weitgehend die
Hände gebunden sind.
Abschließend möchte ich noch kurz auf die ebenfalls
zur Debatte stehenden Anträge der Opposition eingehen.
Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen befasst sich mit
dem Thema Nahrungsmittelspekulationen. Sie fordern
darin die Bundesregierung auf, einen Vorschlag der Eu-
ropäischen Kommission zurückzuweisen. Der Antrag ist
allein schon deshalb abzulehnen, weil die Aufforderung
an die Bundesregierung ins Leere läuft, da der Vorschlag
der Kommission auf europäischer Ebene bereits be-
schlossen ist.
Wir, CDU und CSU, gehen klar gegen Nahrungsmit-
telspekulationen vor. Die europäischen Vorgaben bilden
dafür einen guten Rahmen. Über die auf nationaler Ebe-
ne zuständige Bundesanstalt für Finanzdienstleistungs-
aufsicht wollen wir als Koalition erreichen, dass bei
der Festlegung von Positionslimits in Bezug auf Nah-
rungsderivate strenge Maßstäbe angelegt werden – ge-
rade um der Entstehung monopolistischer Strukturen an
den Nahrungsmittelderivatemärkten entgegenzuwirken.
Damit bekämpfen wir Nahrungsmittelspekulationen in
Deutschland.
Auch der Antrag der Linken schießt weit über das Ziel
hinaus. Insbesondere verkennt die Linke darin die Auf-
gaben einer Aufsichtsbehörde. Sie will die Grenze zur
Zuständigkeit von Zivilgerichten verwischen. Das leh-
nen wir ab.
Zum Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens bedan-
ke ich mich bei meinen Berichterstatterkollegen, Herrn
Staatssekretär Dr. Meister sowie den zuständigen Fach-
beamten des Bundesministeriums der Finanzen für die
gute und konstruktive Zusammenarbeit.
Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Das Zweite Finanz-
marktnovellierungsgesetz ist ein weiterer Schritt zur
Aufarbeitung der Finanzkrise, zur Verhinderung weiterer
Verwerfungen und zu mehr Anlegerschutz. Mit diesem
Gesetzentwurf werden die Rechtsakte des europäischen
Gesetzgebers nachvollzogen und in das deutsche Recht
umgesetzt.
Der Deutsche Bundestag hat bereits in der laufenden
Legislaturperiode mit dem Ersten Finanzmarktnovellie-
rungsgesetz auf die Folgen der Finanzkrise reagiert. Es ist
erklärtes Ziel, die Transparenz und Integrität der Finanz-
märkte zu stärken. Die Finanzkrise ab dem Jahr 2008 hat
uns gezeigt, dass die Märkte nicht ausreichend reguliert
waren. Die unmittelbar spürbare Folge der Finanzkrise
war der Vermögensverlust vieler Anleger. Das Vertrauen
der Verbraucher in Geldanlagen und in die Finanzbran-
che wurde nachhaltig erschüttert.
Der Zweite Finanzmarktnovellierungsgesetz stellt den
Anlegerschutz, regulierte Märkte, Informationspflichten
und eine Stärkung der Aufsichtsbefugnisse in den Vor-
dergrund. Die Finanzmarktrichtlinie MiFID II und die
dazugehörigen Finanzmarktverordnung MiFIR stellen
das regulatorische Rahmenwerk in der Europäischen
Union dar. Die MiFID II ist die Grundlage für das Wert-
papiergeschäft in Europa mit Verhaltens- und Organisa-
tionspflichten von Wertpapierdienstleistungsunterneh-
men. Im nationalen Recht werden sich diese Vorgaben
im Wertpapierhandelsgesetz, im Kreditwesengesetz, im
Börsengesetz, im Kapitalanlagegesetzbuch und im Ver-
sicherungsaufsichtsgesetz widerspiegeln. Hervorzuhe-
ben ist eine Eins-zu-eins-Umsetzung der europäischen
Vorgaben, sodass ein einheitlicher Rechtsrahmen in den
verschiedenen nationalen Rechtsordnungen geschaffen
wird. Jetzt muss der Anlegerschutz dokumentieren, dass
das Produkt für den Anleger geeignet ist. Das ist ein Fort-
schritt für den Anlegerschutz.
Dieser Gesetzentwurf ist auch eine Antwort auf Al-
leingänge einzelner Staaten innerhalb der Europäischen
Union. Mit der Harmonisierung der Vorschriften werden
wirksame Instrumente für transparentere Finanzmärkte
geschaffen. Die grenzüberschreitenden Finanzmärkte
sind ein gutes Beispiel, weshalb mehr Zusammenarbeit
in Europa notwendig ist. Mit diesem Gesetz wird nicht
zuletzt bezweckt, eine gemeinsame Stabilisierung zu
erreichen und die Anfälligkeit für neue Finanzkrisen zu
reduzieren.
Der Anlegerschutz ist mir ein persönliches Anliegen,
weshalb ich einen Punkt herausgreifen möchte. Mit die-
sem Gesetz wird das Beratungsprotokoll abgeschafft.
Das Beratungsprotokoll wurde im Jahr 2010 mit dem
Ziel eingeführt, Rechtssicherheit bei der Anlageberatung
zu schaffen und mögliche Fehler nachweisen zu können.
In der Praxis wurden die Erwartungen durch fehlerhafte
und unpräzise Angaben nicht erfüllt. Für Anlageberater
führt das Beratungsprotokoll zu einem übermäßigen bü-
rokratischen Aufwand. Es ist ein unbefriedigender Zu-
stand für alle Seiten entstanden. Mit der Ersetzung des
Beratungsprotokolls durch eine Geeignetheitserklärung
gehen wir einen Schritt weiter. Anleger erhalten künftig
eine schriftliche Erklärung über die konkrete Geeignet-
heit eines Finanzinstruments. Der Anlageberater proto-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 23027
(A) (C)
(B) (D)
kolliert nicht mehr den Verlauf der Beratung, sondern
wird verpflichtet, die Gründe für die Empfehlung eines
Produktes darzulegen. Mit der Geeignetheitserklärung
wird mehr Rechtssicherheit geschaffen. Das Anleger-
schutzniveau wird erhöht, indem eine fehlerhafte Anla-
geberatung künftig besser nachzuweisen sein wird.
Zu den beiden Anträgen sind nur ein paar kurze Wor-
te nötig. Mit dem Kleinanlegerschutzgesetz wurden die
Befugnisse der BaFin bereits erweitert und der Schutz
der kollektiven Verbraucherinteressen als weiteres Auf-
sichtsziel in den Statuten der BaFin verankert. Mit dem
vorliegenden Zweiten Finanzmarktnovellierungsgesetz
wird der Verbraucherschutz an den sinnvollen Stellen
verbessert. Ich bitte Sie um Zustimmung zu diesem Ge-
setz.
Christian Petry (SPD): Das Zweite Finanzmarktno-
vellierungsgesetz verankert vier europäische Rechtsakte
im deutschen Recht: die europäische Richtlinie „Market
in Financial Instruments“ (MiFID II), die dazugehörige
Durchführungsverordnung MiFIR, die Verordnung über
die Transparenz von Wertpapierfinanzierungsgeschäften
sowie die Benchmark-Verordnung.
Die Regelungen des Gesetzes haben umfangreiche
Auswirkungen auf die Struktur der Finanzmärkte in Eu-
ropa. Die Schaffung einer weiteren Kategorie für den
organisierten Wertpapierhandel und die Ausweitung von
Transparenzpflichten wird die Marktransparenz für Anle-
gerinnen und Anleger dabei spürbar erhöhen.
Daneben werden durch europaeinheitliche Regelun-
gen der Hochfrequenzhandel sowie der außerbörsliche
OTC-Handel umfassender reguliert und eingeschränkt.
Besonders die EU-weite Regulierung des Hochfrequenz-
handels ist überfällig. Diese Art des „Handels“ erfüllt
keinen sittlichen Mehrwert. Die ökonomische Sinnhaf-
tigkeit dieser Zockerei darf mehr als bezweifelt werden.
Die jetzt umzusetzenden Regeln sind ein erster wichtiger
Schritt zur Eindämmung des Hochfrequenzhandels. Wei-
tere Schritte müssen folgen.
Vertriebsseitig stärkt das Zweite Finanzmarktnovel-
lierungsgesetz den Schutz der Anlegerinnen und Anleger
deutlich. Durch die EU-weit zu erstellende Geeignet-
heitserklärung muss Kunden zukünftig im Rahmen der
Anlageberatung eine Erklärung zur Geeignetheit des
empfohlenen Finanzproduktes übermittelt werden. Für
jedes Finanzprodukt muss deshalb ein Zielmarkt defi-
niert werden, der sicherstellt, dass das jeweilige Produkt
mit den Kundenbedürfnissen übereinstimmt.
Durch die Einführung des „unabhängigen Hono-
rar-Anlageberaters“ wird die Möglichkeit, Provisionen
oder andere nichtmonetäre Vorteile einzubehalten, bei
der unabhängigen Finanzanlageberatung stark einge-
schränkt. Zudem müssen alle Passagen eines Beratungs-
gesprächs, die zu einer Order führen, aufgenommen und
mindestens fünf Jahre dokumentiert werden.
Einen wichtigen Teil der parlamentarischen Beratun-
gen zum Zweiten Finanzmarktnovellierungsgesetz nahm
die Diskussion über die Regulierung von Warenderivaten
ein. Auf Druck der SPD fordert der Deutsche Bundes-
tag in seinem Abschlussbericht die Bundesanstalt für Fi-
nanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) auf, Positionslimits
bei Nahrungsmittelderivaten so festzulegen, dass mono-
polistische Strukturen an diesen Märkten ausgeschlossen
sind. Der Bundestag hat in diesem Punkt aufgrund der
europäischen Vorgaben keinen Gestaltungsspielraum.
Das Festlegen der Positionslimits ist Aufgabe der natio-
nalen Aufsichtsbehörden.
Die von der BaFin zu erstellenden Positionslimits
werden wir sehr aufmerksam verfolgen. Die Bundes-
anstalt untersteht der direkten Aufsicht des Bundesfi-
nanzministeriums. Die Bundesregierung muss deshalb
sicherstellen, dass das unanständige Spekulieren mit
Nahrungsmittel- und Rohstoffderivaten entsprechend
den europäischen Vorgaben eingedämmt wird. Der Ge-
staltungsspielraum, der der BaFin hierbei zur Verfügung
steht, muss so genutzt werden, dass Monopole beim De-
rivatehandel ausgeschlossen sind.
Ein weiterer wichtiger Diskussionspunkt betrifft die
deutschen Förderbanken. Die Regelungen der europä-
ischen Finanzmarktrichtlinie MiFID II, auf denen das
Zweite Finanzmarktnovellierungsgesetz in weiten Teilen
beruht, erfassen alle Wertpapiergeschäfte eines Unter-
nehmens, das Mitglied einer Börse ist. Förderbanken in
Deutschland führen an Börsen durch Wertpapiere besi-
cherte Geschäfte des Liquiditätsmanagements durch. Sie
unterfallen demnach den Regeln der MiFID II. Dieser
Umstand ist innerhalb der beiden Regierungsfraktionen
umstritten.
Der Bundestag fordert die Bundesregierung deshalb
in seinem Abschlussbericht auf, die Europäische Kom-
mission auf die besondere Funktion der öffentlichen För-
derbanken des Bundes und der Länder aufmerksam zu
machen. Die risikoaversen Anlagestrategien der Förder-
banken müssen bei der Regulierung berücksichtigt wer-
den. Sowohl regulatorisch als auch aufsichtstechnisch
muss man dem Förderauftrag der Banken gerecht wer-
den. Dies hat der Bundestag in seinem Abschlussbericht
noch einmal deutlich gemacht und festgeschrieben.
Die parlamentarischen Beratungen zum Zweiten Fi-
nanzmarktnovellierungsgesetz verliefen konstruktiv und
geräuschlos. Die öffentliche Sichtbarkeit dieses Mam-
mutgesetzes im Deutschen Bundestag entspricht aber
leider nicht seiner großen Bedeutung.
Sarah Ryglewski (SPD): Mit dem Zweiten Finanz-
marktnovellierungsgesetz stärkt die Koalition den An-
legerschutz. Wir sorgen für mehr Transparenz und Ge-
rechtigkeit, insbesondere im Hinblick auf Vergütung,
Charakter und Qualität von Finanzberatung.
Provisionen können in der Beratung zu Interessen-
konflikten führen, weil Berater dem Anreiz unterliegen,
nicht das beste Produkt anzubieten, sondern das mit den
höchsten Provisionen. Jedoch scheuen viele Verbrau-
cherinnen und Verbraucher noch davor zurück, für un-
abhängige Beratung zu bezahlen. Wir lassen mit dem
Zweiten Finanzmarktnovellierungsgesetz, das wir heute
im Bundestag beschließen wollen, bewusst beide Wege
offen – die provisionsbasierte und die unabhängige Ho-
norarberatung. Wir stellen jedoch sicher, dass die Kos-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 201723028
(A) (C)
(B) (D)
ten der Beratung in jedem Fall offengelegt werden. Da-
bei gilt: Provisionen sind nur dann erlaubt, wenn sie die
Beratungsqualität verbessern. Außerdem sollen Kunden
schon beim Betreten einer Bank wissen, ob sie unabhän-
gig oder auf Provisionsbasis beraten werden. Erst diese
Transparenz ermöglicht den fairen Vergleich zwischen
den Anbietern und verringert die bestehenden Wettbe-
werbsnachteile der unabhängigen Honorarberatung.
Wir Sozialdemokraten hätten auch Vertriebsmargen
aus Festpreisgeschäften wie Provisionen behandelt. Da-
bei kauft der Kunde die Wertpapiere direkt von der Bank
zu einem festgelegten Preis. Der Gewinn des Instituts
resultiert daraus, dass es die Wertpapiere teurer verkauft
als es die Wertpapiere selbst einkauft. Auch hieraus ent-
stehen Anreize, die zu Interessenkonflikten bei Beratern
führen können. Doch für Festpreisgeschäfte werden die
uneingeschränkten Offenlegungspflichten nicht gelten.
Die SPD wird auch in Zukunft daran arbeiten, diese Un-
gleichbehandlung zu überwinden.
Gleichermaßen setzen wir uns weiter dafür ein, auch
die begriffliche Ungleichbehandlung zwischen unabhän-
giger Honorarberatung und provisionsbasierter Beratung
zu überwinden: Unabhängige Beratung sollte auch be-
grifflich für Anlegerinnen und Anleger erkennbar sein
und eine Betonung des „Honorars“ vermieden werden.
Neben den Offenlegungspflichten ersetzen wir das
Beratungsprotokoll, das in der Praxis Schwächen zeigte,
durch die neue Geeignetheitserklärung. In Zukunft sollen
damit inhaltsleere Sätze wie: „Das Produkt ist für den
Kunden geeignet, weil es zu seinen Präferenzen passt“,
der Vergangenheit angehörigen. Das heißt, Berater müs-
sen künftig für den einzelnen Kunden nachweisen, dass
das Produkt für den Kunden geeignet ist und darlegen,
warum sie es empfohlen haben. Wir haben deshalb im
Gesetz eine Evaluierung festgeschrieben und werden
nachsteuern, falls auch die Geeignetheitserklärung nicht
zu mehr Anlegerschutz führt.
Susanna Karawanskij (DIE LINKE): Ich möchte
mich hier in der Schlussdebatte auf drei Bereiche kon-
zentrieren, in denen wir jeweils per Antrag ganz konkrete
Forderungen gestellt haben, auf die Sie von der Großen
Koalition leider nicht im Geringsten eingegangen sind.
Beim ersten Punkt, dem Hochfrequenzhandel, hat-
ten Sie in der Vergangenheit schon ganz andere Töne
angestimmt. Die SPD hat in der letzten Wahlperiode
eine Mindestverweildauer für Orders gefordert, um den
Hochfrequenzhandel einzudämmen. So hat der Kollege
Binding in einer Pressemeldung verkündet: „Außerdem
müssen Mindesthaltefristen verbindlich vorgegeben wer-
den, um eine tatsächliche Ausführung der Handelsorder
zu gewährleisten und der Schaffung von Scheinliquidität
entgegenzuwirken.“ Der Kollege Zöllmer pflichtete ihm
2013 hier im Plenum bei: „Es gäbe einen wirklichen He-
bel, um die Märkte zu entschleunigen, um Luft heraus-
zulassen aus dem, was heißgelaufen ist: die Einführung
einer Mindesthaltefrist.“ Auch die Bundesbank sieht in
dieser Richtung Handlungsbedarf. Dann lassen Sie uns
dies doch endlich beschließen! Wir stellen heute einen
Änderungsantrag zur Einführung einer Mindestverweil-
dauer zur Abstimmung in der Hoffnung, dass sich gerade
unsere Kolleginnen und Kollegen von der SPD an ihre ei-
genen Forderungen erinnern; denn damit und obendrein
mit einer Finanztransaktionsteuer würden wir es schaf-
fen, ein bisschen Luft aus dem hochgepuschten, teils nur
noch absurden Finanzmarktkapitalismus zu lassen.
Der zweite Bereich umfasst die Anlageberatung. Die
Koalition scheint leider nicht zur Kenntnis zu nehmen,
dass die Qualität der Anlageberatung in Deutschland
ziemlich schlecht ist. Dies haben etliche Untersuchun-
gen unter anderem von Stiftung Warentest belegt. Die
Folgen für die Bürger sind verheerend. Wegen Fehlbe-
ratung beim Abschluss von Geldanlagen und Versiche-
rungen erleiden diese je nach Schätzungen zwischen 30
und 98 Milliarden Euro Verlust, und das pro Jahr. Geld
geht verloren, das die Menschen dringend für ihre Al-
tersvorsorge benötigen. Zentrales Problem ist die Bera-
tung, die auf Provisionen und anderen Verkaufsanreizen
beruht. Allzu oft wird leider das Produkt empfohlen, das
dem Berater/Verkäufer die höchste Provision bringt, aber
nicht den Kundenbedürfnissen entspricht. Auch dazu
gibt es zahlreiche Studien. Die Linke fordert daher mit-
telfristig die Überwindung der Provisionsberatung.
In einem ersten Schritt müsste aber die unabhängige
Beratung, also zum Beispiel die Honorarberatung, zu-
mindest mit der abhängigen Beratung, der Provisionsbe-
ratung, auf Augenhöhe stehen. Doch der Gesetzentwurf
benachteiligt weiter die unabhängige Beratung. Wir wol-
len den Bestandsschutz der Provisionsberatung beseiti-
gen und zunächst einen fairen Wettbewerb zwischen den
Vertriebsformen einleiten. Dafür müssen unter anderem
nicht nur die Provisionen, sondern insbesondere die Mar-
gen im Rahmen der Festpreisgeschäfte offengelegt wer-
den. Ansonsten kann die Branche immer wieder die Pro-
visionsoffenlegung umgehen und weiter kassieren. Auch
muss den Kunden bereits vor der Beratung klar sein, um
welche Form der Beratung es sich handelt und wo die
jeweiligen Vor- und Nachteile liegen. Es ist zudem un-
gerecht, dass die unabhängigen Berater das Wort „Hono-
rar“ in ihrer Berufsbezeichnung tragen müssen, während
Provisionsberater freier ihren Titel wählen dürfen. Dies
muss dringend geändert werden, wenn Sie es mit ver-
brauchergerechter Anlageberatung ernst meinen.
Neben einer nicht manipulierbaren Dokumentation
des Beratungsvorgangs sowie einer einheitlichen Be-
aufsichtigung der Finanzanlagenvermittler durch die
Finanzaufsicht BaFin statt durch Gewerbeämter fordern
wir speziell für einkommensschwache Menschen eine
unabhängige Finanzberatung insbesondere durch Ver-
braucherzentralen sowie eine Stärkung der Schuldnerbe-
ratungsstellen.
Wenn Sie tatsächlich etwas für besseren finanziellen
Verbraucherschutz tun wollen, sollten Sie die Forde-
rungen aus unserem lesenswerten Entschließungsantrag
ebenso umsetzen wie die zentrale Forderung aus unserem
tollen Antrag „Finanzaufsicht nach Anlagepleiten zum
Schutz von Verbraucherinteressen stärken“. Dies alles
sind kleine, aber sehr effektive Hebel, um die Rechte von
Verbrauchern zu stärken.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 23029
(A) (C)
(B) (D)
Wir kommen folglich zum dritten Bereich: Uns geht
es nicht nur darum, dass Kunden ein Produkt empfoh-
len bekommen, das zu ihren Bedürfnissen und ihrer Ri-
sikoneigung passt. Uns geht es ebenfalls darum, dass
die Käufer einer solchen Geldanlage auch dann besser
geschützt werden, wenn durch Marktmissbrauch oder
betrügerisches Handeln der Anbieter einer Geldanlage
„pleitegeht“ und sich der Anbieter nun zum Beispiel aus
dem Staub machen oder in die Insolvenz gehen will, ohne
seine Kunden zu entschädigen. An dieser Stelle muss die
Finanzaufsicht BaFin stellvertretend für die Gesamtheit
der geschädigten Verbraucher dafür sorgen, dass gesi-
chert ist, dass die Anleger ihre Rechte auch durchsetzen
können. Anbietern darf es nicht ermöglicht werden, eine
Pleite zu vertuschen oder schlicht auszusitzen, weil für
viele Verbraucher eine Klage zu teuer ist oder deren An-
sprüche schon längst verjährt sind. Die Finanzaufsicht
soll nur die Türen offen halten und damit sichern, dass
die Gruppe der geschädigten Anleger überhaupt recht-
zeitig die Chance bekommt, ihre Rechte durchzusetzen.
Bisher ist mir noch kein stichhaltiges Argument gegen
diese kleine Forderung untergekommen; denn es gibt ja
noch keine umfassenden Möglichkeiten zur Muster- bzw.
Gruppenklage.
Apropos „Klage“: Wie Sie sich hinter der schnöden
Umsetzung einer EU-Richtlinie verstecken, ist schon
kläglich. Da ist viel mehr Luft nach oben. Wenn Sie von
der Regierungskoalition nicht mehr Bestandsschützer
der Provisionsberatung wären, Verbraucher nach Anla-
gepleiten besser schützen und endlich Luft aus den Fi-
nanzmärkten nehmen würden, gäbe es deutlich weniger
Gründe für Klagen.
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ich will zunächst auf zwei Geschäftsmodelle eingehen,
um deren wirksame Regulierung wir Grünen seit Jahren
in Deutschland und Europa ringen: den Hochfrequenz-
handel und die Nahrungsmittelspekulation.
Die durchschnittliche Haltedauer von Wertpapieren
wurde vor wenigen Jahrzehnten noch in Jahren angege-
ben. Daraus wurden dann Monate, Wochen, Tage, und
in den USA, dem Epizentrum des Hochfrequenzhandels,
soll sie mittlerweile bei knapp über 20 Sekunden liegen.
Dabei hat sich das Anlageverhalten privater und instituti-
oneller Anleger kaum verändert – der Hochfrequenzhan-
del, in dem Millisekunden Millionen bedeuten können,
ist für die Veränderung des Durchschnitts verantwortlich,
und das zeigt das gewaltige Ausmaß, das er mittlerweile
angenommen hat.
Aber bei der Regulierung des Hochfrequenzhan-
dels tut dieses Gesetz zu wenig. Sie haben Angst, eine
wirksame Regulierung einzuführen, da Sie den Hochfre-
quenzhandel in Deutschland halten wollen. Doch warum
eigentlich? Der Mehrwert von Hochfrequenzhändlern ist
höchst umstritten, wahrscheinlich schaden sie sogar. Die
Bundesbank hat dazu im Oktober 2016 eine Studie vor-
gelegt. Ihr Ergebnis war eindeutig: Hochfrequenzhandel
wird dann gefährlich, wenn sich Märkte krisenhaft ent-
wickeln. Die vermeintliche Bereitstellung von Liquidität
verschwindet genau dann, wenn sie benötigt wird.
Der Antrag der Linken hat hier das richtige Ziel vor
Augen. Wir teilen dieses, sehen aber andere Instrumente
als wirkungsvoller an, weshalb wir uns enthalten.
Auch bei Nahrungsmittelspekulationen ist die Große
Koalition inkonsequent. Um diese einzudämmen, sieht
die MiFID II Positionslimits für bestimmte Warenderiva-
te vor. Die Regeln hierzu werden auf EU-Ebene gemacht.
Doch die dort vorgelegten Standards sind schwach und
verhindern Spekulation nicht. Wir haben in unserem
Antrag dazu aufgefordert, bei diesen EU-Regeln nach-
zubessern. Sie haben den Antrag dann an den Ausschuss
verwiesen, obwohl klar war, dass dadurch die Frist zur
Nachbesserung verstreichen würde. Jetzt fordern Sie,
dass die Aufsicht die schwachen Regeln besonders streng
umsetzt. Das erschließt sich mir nur folgendermaßen:
Entweder, Sie haben spät eingesehen, dass unser Anlie-
gen richtig war, oder Ihr Interesse an der Eindämmung
der Nahrungsmittelspekulation ist nur Schaufensterpoli-
tik.
Auf dem Gebiet des Verbraucherschutzes hat die Bun-
desregierung es versäumt, die von vielen Seiten geäußer-
ten Kritikpunkte aufzugreifen. Wir müssen uns fragen:
Warum ist das Anlageverhalten von Verbraucherinnen
und Verbrauchern in Deutschland von so geringer Kos-
teneffizienz und entsprechend geringer Rendite geprägt?
Warum stecken deutsche Haushalte ihr Geldvermögen zu
vier Fünfteln in Bargeld, Einlagen oder Versicherungs-
und Alterssicherungsansprüche, obwohl das oft nicht
zum individuellen Bedarf passt?
Betrachtet man die MiFID-II-Umsetzung, dann sind
die Antworten bekannt: Es mangelt an einer verbraucher-
gerechten Beratung und Offenlegungspflichten vor und
während der Vertragsdauer, damit Verbraucherinnen und
Verbrauchern überhaupt die Möglichkeit gegeben wird,
Produkte zu vergleichen und eine mündige Anlageent-
scheidung zu treffen. Es geht um Wettbewerbsneutralität
bei der Benennung und Regulierung der unabhängigen
Honorarberatung und der nichtunabhängigen Provisi-
onsberatung. Und es geht auch darum, dass wir als Ge-
setzgeber ehrlich sind gegenüber den Bürgerinnen und
Bürgern: Die Bundesregierung hält daran fest, dass die
bloße Bereitstellung eines weitverzweigten regionalen
Filialnetzes die Qualität der individuellen Beratungs-
dienstleistung für Kundeninnen und Kunden verbessern
würde. Die gesetzliche Folge wäre, dass als eine weitere
Ausnahme vom eigentlichen Provisionsverbot auch in
diesen Fällen Provisionen ohne Weiteres erlaubt blie-
ben. Das ist absurd. Liebe Kolleginnen und Kollegen
der Regierungskoalition, ich gehe davon aus, dass Sie
demnächst deutlich häufiger bei McDonald’s konspi-
rieren als im Borchardt’s; schließlich gewährleistet das
weitverzweigte regionale Filialnetz des großen „M“ ein
gesteigertes Maß an Qualität. Der Antrag der Linken hat
hier ebenfalls viele wichtige Punkte aufgegriffen, die ich
daher nicht weiter ausführen will.
Wenn wir über den Tellerrand dieses Gesetzes blicken,
dann gibt es noch andere Gründe für das ineffiziente Anla-
geverhalten in Deutschland. Wer rechtlichen Rat braucht,
sucht sich einen Anwalt, wer seine Steuern regeln will,
einen Steuerberater. Aber wer eine Anlageentscheidung
treffen will, müsste sich überlegen: Gehe ich zum Versi-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 201723030
(A) (C)
(B) (D)
cherungsberater, zum Versicherungsvermittler oder doch
eher zum Finanzanlageberater? Dabei sage ich „müsste“;
denn wem sind die gewerberechtlichen Unterschiede
zwischen diesen Berufsgruppen überhaupt bekannt?
Ähnlich wie bei der Rechts- und Steuerberatung
brauchen wir ein einheitliches Berufsbild des Finanz-
beraters, der Verbraucherinnen und Verbraucher umfas-
send und unabhängig bei ihren Anlageentscheidungen
zur Seite steht. Zusammengehörende Themenkomple-
xe wie die Offenlegungs- und Informationspflichten in
MiFID II und IDD müssen dafür inhaltlich kongruent
sein. Es darf beispielsweise nicht passieren, dass für Fi-
nanzprodukte andere Offenlegungspflichten gelten als
für kapitalbildende Versicherungen. Mit ihrem jüngsten
Änderungsantrag verschärft die Regierungskoalition die-
se Problematik weiter. Ausgerechnet bei Altersvorsor-
ge- und Basisrentenverträgen, also in zentralen Fragen
der persönlichen Lebensplanung, sollen Kundinnen und
Kunden die eigentlich nach der MiFID II vorgesehenen
Informationen über Kosten und Nebenkosten erst auf
Nachfrage zur Verfügung gestellt bekommen. Standar-
disierung und Harmonisierung von Informationsblättern
sind ein wichtiges Anliegen. Aber sie müssen auf dem
höchstmöglichen Verbraucherschutzniveau stattfinden,
wenn sie nicht als Einladung für Umgehungsgeschäfte
genutzt werden sollen.
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von den Abgeordneten Halina
Wawzyniak, Jan Korte, Dr. Andre Hahn, weite-
ren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhe-
bung des Artikel 10-Gesetzes und weiterer Gesetze
mit Befugnis für die Nachrichtendienste des Bun-
des zu Beschränkungen von Artikel 10 des Grund-
gesetzes (G 10-Aufhebungsgesetz – G 10-AufhG)
(Tagesordnungspunkt 23)
Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Wir beraten
heute das G 10-Aufhebungsgesetz, einen Gesetzentwurf
der Fraktion der Linken. Und um es gleich vorwegzuneh-
men: Es passiert wirklich selten, dass hier ein Gesetzent-
wurf gelesen wird, der so sehr die Zeichen der Zeit – kon-
kret sind es hier die aktuellen Herausforderungen durch
den internationalen Terrorismus – verkennt, wie dieser
Entwurf.
Worum geht es inhaltlich? Die vorgelegten Rege-
lungsvorschläge sind schnell zusammengefasst: Den
Nachrichtendiensten von Bund und Ländern sollen die
Befugnisse entzogen werden, die das G 10-Gesetz ihnen
einräumt; das Gesetz soll in Gänze aufgehoben werden.
Nachrichtendienstliche Eingriffe in das Brief-, Post-
oder Fernmeldegeheimnis wären nicht mehr möglich.
Im Klartext: Abgesehen von den menschlichen Quellen
wären Nachrichtendienste „blind“; sie müssten ihren
Erkenntnisgewinn auf öffentlich zugängliche Quellen
beschränken, im Klartext: Sie dürften nur noch googeln
oder – etwas traditioneller – Zeitungsausschnitte sam-
meln. Auf diese Idee, das G 10-Gesetz ersatzlos zu strei-
chen und den Nachrichtendiensten das nach allgemeiner
Ansicht aller Fachleute unverzichtbare Instrumentarium
zu nehmen, muss man erst einmal kommen!
Aber vielleicht nennt der Gesetzentwurf ja gute Grün-
de für die Abschaffung von G 10-Maßnahmen. Welche
Beweggründe werden angeführt? Zuerst heißt es, „dass
die Nachrichtendienste mittelbar Aufgaben der Gefah-
renabwehr- und der Strafverfolgung (mit)übernehmen“.
Der Erklärungsansatz erscheint schlicht unverständlich;
denn Aufgaben und Zuständigkeiten von Polizei und
Strafverfolgungsbehörden einerseits und Nachrichten-
diensten andererseits sind aus guten Gründen klar von-
einander getrennt.
Es wird ein weiterer Aufhebungsgrund genannt: Eine
wirksame Kontrolle der G 10-Maßnahmen sei nicht
möglich, da gemäß § 1 des Gesetzes über die Kontrol-
le der Nachrichtendienste des Bundes allein die Bundes-
regierung Gegenstand der Kontrolle sei. Das ist schlicht
falsch! Ich zitiere aus einem Kommentar zu § 1 PKGrG,
wo es klar und eindeutig heißt: „Die Kontrolle des Parla-
mentarischen Kontrollgremiums ist auf die Bundesregie-
rung und die ihr untergeordneten Nachrichtendienste des
Bundes beschränkt“. Ein anderer Kommentar schreibt zu
den Kontrollobjekten nicht minder eindeutig: „Beobach-
tungsobjekt der parlamentarischen Kontrolle ist nur die
Tätigkeit der in § 1 Satz 1 genannten drei Nachrichten-
dienste des Bundes“. Es ist somit völlig klar, dass sich
die Kontrolltätigkeit des PKGr nicht auf die Bundesre-
gierung beschränkt. Die hier gegebene Begründung ist
völlig falsch. Hinzu kommt, dass die G 10-Kommissi-
on hier überhaupt nicht genannt wird. Die G 10-Kom-
mission entscheidet von Amts wegen als unabhängiges
und an keine Weisungen gebundenes Organ über die
Notwendigkeit und Zulässigkeit sämtlicher durch die
Nachrichtendienste des Bundes – Bundesnachrichten-
dienst, Bundesamt für Verfassungsschutz, Militärischer
Abschirmdienst – durchgeführten Beschränkungsmaß-
nahmen im Bereich des Brief-, Post- und Fernmeldege-
heimnisses nach Artikel 10 des Grundgesetzes. Wie man
ihre Tätigkeit in diesem Zusammenhang hier übersehen
kann, ist bemerkenswert. Da zudem die Reichweite der
Aufgabe des PKGr, wie soeben gezeigt, zudem völlig
falsch verstanden wird, kann man an dieser Stelle nur zu
dem Schluss kommen: Dieser Gesetzentwurf ist – einmal
abgesehen von allen politischen Bewertungen – bereits
handwerklich missglückt und schon insoweit eine ärger-
liche Fehlleistung.
Wichtiger und viel problematischer als die dargeleg-
ten formalen Unzulänglichkeiten des Gesetzentwurfs ist
die inhaltliche Zielrichtung, die er verfolgt. Um das zu
zeigen, müssen wir uns bloß die noch frische furchtba-
re Blutspur anschauen, die der islamistische Terrorismus
allein in der jüngsten Zeit durch Europa gezogen hat.
Ich beginne quasi vor der Haustür: Amri, der Attentäter
vom Breitscheidplatz, kommunizierte im Vorfeld – ich
betone: im Vorfeld, denn ich komme später noch darauf
zurück – unter Nutzung sogenannter Messengerdienste
wie WhatsApp oder Telegram. Ein weiterer Terrorakt
aus Deutschland: Die Planungen für einen Anschlag auf
den Sikh-Tempel wurden gar innerhalb einer Whats-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 23031
(A) (C)
(B) (D)
App-Gruppe geplant, zu der sich die Täter zusammen-
schlossen. Und ganz aktuell: Nach den jüngsten An-
schlägen in London fordert die britische Innenministerin
Amber Rudd den Zugriff auf WhatsApp; die Sicherheits-
behörden bräuchten den Zugang zu den verschlüsselten
Nachrichten der einschlägigen Messengerdienste.
Warum erwähne ich all das? Es zieht sich wie ein ro-
ter Faden durch die Vorbereitungshandlungen aller terro-
ristischen Anschläge – meine Aufzählung erhebt keinen
Anspruch auf Vollständigkeit – der jüngeren Vergangen-
heit, dass die Kommunikation im Vorfeld über Messen-
gerdienste vorgenommen wurde, die den Sicherheitsbe-
hörden erhebliche Probleme bereiten, weil sie hier nicht
mitlesen können. Ihnen fehlen sowohl die technischen
als auch die rechtlichen Voraussetzungen zum Sammeln
der dort kommunizierten Informationen.
Was hat das jetzt alles mit dem vorliegenden Gesetz-
entwurf zu tun? Nach allgemeiner Ansicht aller Sicher-
heitsexperten brauchen wir ein Mehr an Überwachung
der Kommunikation von Terroristen im Vorfeld von
Anschlägen. Und die Linke fordert ein Weniger an tech-
nischen Mitteln! Die offensichtlich nicht ausreichenden
Möglichkeiten, die unsere Nachrichtendienste – darum
hatte ich vorhin auf die Kommunikation im Vorfeld abge-
stellt; ihre Überwachung obliegt nämlich den Nachrich-
tendiensten, nicht den Polizeien – haben, wollen Sie noch
einschränken, nein, sogar abschaffen.
Es ist erstaunlich, in welchem Maße der Gesetzent-
wurf nicht nur die innenpolitischen Zeichen der Zeit ver-
kennt; verwunderlich ist zudem, dass kaum jemand in
der Bevölkerung Verständnis dafür haben dürfte, wenn
der Staat bei der Wahrnehmung seiner Kernzuständig-
keit, der Gewährleistung der inneren Sicherheit, auf die
bereits jetzt kaum ausreichenden Instrumente auch noch
ohne Not verzichtet. Ich wage die Prognose, dass auch
die Anhänger und Wähler der Linken zu schätzen wissen,
wenn unser Staat angemessen gerüstet ist, um den He-
rausforderungen durch den islamistischen Terrorismus
wehrhaft gegenübertreten zu können. Daher erscheint
mir der Anlass für die Vorlage dieses Gesetzentwurfs
umso rätselhafter, je länger ich über ihn spreche.
Schließlich bleibt die Frage: Wozu soll der Gesetzent-
wurf denn überhaupt gut sein? Ein fachlicher Grund ist
nicht erkennbar. Was ist es dann? Ich sage es Ihnen: Es
ist ihr fast schon pathologisches Misstrauen gegenüber
unseren Nachrichtendiensten. Ich versage mir Spekula-
tionen, woher es rühren mag; ich verweise lieber darauf,
dass unsere Nachrichtendienste wie im Übrigen auch alle
anderen Sicherheitsbehörden viele Anschläge – nicht
nur in Deutschland, sondern auch zum Schutz unserer
Soldaten in Afghanistan – erfolgreich verhindert haben,
weshalb sie unsere Unterstützung verdienen und kein ge-
nerelles Misstrauen.
Weltweit gibt es in jedem Land Nachrichtendienste;
aber die Vorbehalte, die ihnen in Deutschland vor allem
von Ihnen entgegengebracht werden, dürften weltweit
einzigartig sein. Begleiten Sie die Arbeit der Nachrich-
tendienste ruhig mit konstruktiver Kritik, und bringen
Sie sich sachlich und kenntnisreich in die Debatte ein –
aber verschonen Sie uns mit Gesetzentwürfen wie dem
vorliegenden, der neben seinen handwerklichen Feh-
lern auch inhaltlich in die völlig falsche Richtung geht.
Wenn Sie sich in den Debatten zur inneren Sicherheit,
die Deutschland auf absehbare Zeit beschäftigen werden,
Gehör verschaffen wollen: Konzentrieren Sie sich auf
seriöse Reformvorschläge, und Sie werden auch gehört
werden. Legen Sie weiterhin Gesetzentwürfe dieser Art
vor, kann Sie niemand ernst nehmen. Ich glaube kaum,
dass das Ihr politisches Ziel sein kann.
Clemens Binninger (CDU/CSU): Eine starke und
wehrhafte Demokratie braucht leistungsfähige und pro-
fessionelle Nachrichtendienste, die in der Lage sind, mit
ihrer Arbeit die Sicherheit im Land zu gewährleisten.
Dies gilt besonders in Zeiten großer Herausforderun-
gen, wie wir sie momentan erleben. Zu dieser Arbeit der
Sicherheitsbehörden kann und muss auch die Überwa-
chung der Telekommunikation von extremistischen Ge-
fährdern gehören.
Es geht im Artikel 10-Gesetz um eine Beschränkung
des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses nach Arti-
kel 10 unseres Grundgesetzes. In § 1 heißt es ganz deut-
lich, dass die Überwachung und Aufzeichnung von Tele-
kommunikation zur Abwehr von drohenden Gefahren für
die freiheitlich-demokratische Grundordnung oder den
Bestand oder die Sicherheit des Bundes erfolgen kann,
wenn hierfür tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen. Ich
bin der Meinung, dass eine solche Beschränkung des
Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses zu rechtferti-
gen ist.
Sie ist deshalb zu rechtfertigen, weil es hierbei nicht
um eine willkürliche Überwachung von beliebigen Bür-
gerinnen und Bürgern geht, sondern weil es eine ganz
gezielte Maßnahme ist, die dazu beiträgt, die Sicherheit
der Bundesrepublik bei einer konkreten Gefahr sicher-
zustellen. Es ist doch zwingend erforderlich, dass unsere
Nachrichtendienste die Kommunikation von Terroristen
aufzeichnen und überwachen, um Terroranschläge effek-
tiv verhindern zu können. Zudem müssen wir doch nach-
vollziehen können, mit wem diese Terroristen in Kontakt
standen, um an Hintermänner und deren Netzwerke he-
ranzukommen.
Der vorgelegte Gesetzentwurf soll die Handlungsfä-
higkeit der Nachrichtendienste in einer Zeit, in der wir
alles Notwendige tun sollten, die innere Sicherheit weiter
zu stärken, massiv einschränken. Das ist angesichts der
aktuellen Bedrohungen nicht nur total falsch, sondern in
Bezug auf unsere Sicherheitsinteressen sogar fahrlässig.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Die Lin-
ke, Sie führen in Ihrer Begründung aus, dass eine Kon-
trolle der Maßnahme nicht gewährleistet sei. Lassen Sie
mich kurz begründen, warum das nicht stimmt: Mit der
G 10-Kommission haben wir ein unabhängiges Gremium,
das über die Zulässigkeit von solchen Beschränkungs-
maßnahmen entscheidet. Die Beschränkungsmaßnahmen
können erst vollzogen werden, wenn die G 10-Kommis-
sion den Antrag der Sicherheitsbehörde genehmigt hat,
der zuvor auch vom Bundesministerium des Innern als
berechtigt eingestuft wurde. Ansonsten kann eine solche
Überwachung aufgrund des Artikel 10-Gesetzes nicht
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 201723032
(A) (C)
(B) (D)
erfolgen. Selbst wenn die Umstände es erfordern, sofort
Daten zu erheben, können diese nur mit Zustimmung der
Kommission, die in diesem Fall innerhalb von 24 Stun-
den erfolgen muss, ausgewertet werden. Andernfalls
sind sie unverzüglich wieder zu löschen. Die zwingend
notwendige parlamentarische Kontrolle ist daher im Ar-
tikel 10-Gesetz gegeben. Den Nachrichtendiensten in der
Begründung Ihres Entwurfs zu unterstellen, die Maßnah-
me teilweise durchzuführen, ohne dies vorher zu beantra-
gen, da sie darin keinen Eingriff in die Grundrechte se-
hen würden, halte ich nicht nur für sehr abwegig, sondern
schlicht auch für unprofessionell.
Unsere Nachrichtendienste wurden in den vergange-
nen Jahren mehrfach – und teilweise ja auch zu Recht –
kritisiert; dennoch waren und sind sie für unsere Sicher-
heit von höchster Bedeutung. Wir haben in den letzten
Jahren erlebt, dass unsere Nachrichtendienste vor großen
technischen Herausforderungen stehen; denn Terroristen
nutzen immer mehr verschlüsselte Kommunikationswe-
ge. Daher war es auch zwingend notwendig, mit ZITIS
eine zentrale Stelle zur Beratung und Unterstützung der
Terrorismusbekämpfung ins Leben zu rufen, die unsere
Sicherheitsbehörden bei diesen neuen Herausforderun-
gen zur Seite steht.
Die innere Sicherheit so leichtfertig infrage zu stel-
len, wie Sie das tun, halte ich für sehr gefährlich. Zum
Kampf gegen den islamistischen Terrorismus sollten wir
den Nachrichtendiensten alle notwendigen Instrumente
zur Verfügung stellen, damit Anschläge in Zukunft noch
effektiver verhindert werden können. Ihnen die notwen-
digen Instrumente mit einem solchen Gesetzentwurf
wieder wegnehmen zu wollen, entbehrt daher jeglicher
Logik. Welchen Eindruck macht es denn auf die Bürge-
rinnen und Bürger, wenn die Sicherheit im Falle einer
konkreten Gefahr für unsere freiheitlich-demokratische
Grundordnung nicht gewährleistet werden kann, weil die
Nachrichtendienste nicht die notwendigen Maßnahmen
anwenden können?
Ihr Entwurf zeigt wieder einmal, dass eine vernünftige
Sicherheitspolitik mit Ihrer Fraktion nicht zu machen ist.
Ich möchte dazu auch ganz klar sagen: Wer die Nach-
richtendienste langfristig abschaffen will, der trägt sicher
nicht zur Sicherheit in unserem Land bei. Gleichzeitig
stellt sich dann auch die Frage, ob man mit so einer Ein-
stellung die Nachrichtendienste überhaupt objektiv kon-
trollieren kann.
Der Gesetzentwurf jedenfalls verhindert die wichtige
professionelle nachrichtendienstliche Arbeit, schränkt
unsere Sicherheitsbehörden in ihren Möglichkeiten mas-
siv ein und ist daher abzulehnen.
Uli Grötsch (SPD): Die Linke bringt heute einen
zweifelhaften Gesetzentwurf zur Abschaffung des so-
genannten G 10-Gesetzes ein. Das G 10-Gesetz ist die
rechtliche Grundlage dafür, dass unsere Nachrichten-
dienste des Bundes und die Verfassungsschutzbehörden
der Länder zur Terrorabwehr Grundrechtseingriffe in das
Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis tätigen können.
Nach dem Willen der Linken, brauchen unsere Nach-
richtendienste in Zukunft diese Befugnisse nicht mehr.
Nachrichtendienstliche Aufklärungsarbeit, zum Beispiel
das Abhören von Telefonaten, um Terroranschläge zu
verhindern, sind dann nicht mehr möglich. Ich weiß gar
nicht, was ich dazu sagen soll? Vielleicht handelt es sich
ja um einen verfrühten und missglückten Aprilscherz? Ihr
Gesetzentwurf reiht sich in andere ähnliche Forderungen
wie die Abschaffung des Verfassungsschutzes in Gänze
etc. ein und ist so absurd, dass ich als Sicherheitspolitiker
nur die Hände über dem Kopf zusammenschlagen kann.
Dieser Vorschlag sei ein erster Schritt zur Auflösung der
Nachrichtendienste, das schreiben Sie ja auch hier.
Ich will gerne versuchen – weil Sie es ja offenbar nicht
verstehen –, Ihnen zu erklären, warum unsere Nachrich-
tendienste die Befugnisse, die sie haben, auch brauchen.
Sie schreiben: Durch die Abschaffung des G 10, das
den Nachrichtendiensten des Bundes die Befugnis zur
Beschränkung der Grundrechte aus Artikel 10 GG zu-
gesteht, entstehe keine Schutzlücke. Das ist eine sehr
waghalsige Behauptung. Sie argumentieren, dass es ja
das BKA-Gesetz und § 100 a StPO gibt. Liebe Kollegin-
nen und Kollegen von den Linken, Strafverfolgung ist
doch etwas völlig anderes. Bei G 10 geht es um terroris-
tische Bedrohungen, die möglichst im Vorfeld weiterer
Konkretisierung entdeckt werden sollen, also setzt G 10
vor der polizeilichen Gefahrenschwelle an. Aufklärung
im Vorfeld, das ist es, was Nachrichtendienste tun, ob
es Ihnen gefällt oder nicht. Ich finde, unsere Nachrich-
tendienste machen ihren Job hervorragend; davon habe
ich mich erst diese Woche für den Bereich Cyberabwehr
überzeugt.
Die angeblich ausreichenden Grundlagen, die Sie nen-
nen, setzen doch eine konkretere Gefahr voraus im Ge-
gensatz zu den Befugnissen nach G 10. Aber auch diese
Grundlagen, BKAG und § 100 a StPO, sind Ihnen ja wie-
derum nicht gut genug. Sie sollen so zurechtgestutzt wer-
den, dass notwendige grundrechtsintensive Maßnahmen
am besten gar nicht mehr gehen. Und dann noch behaup-
ten, es entstünde keine Schutzlücke? Das geht gar nicht.
Ich sage Ihnen noch etwas: Ihr Antrag ist aus 2015. In
der Zwischenzeit sind in Deutschland furchtbare terroris-
tische Angriffe geschehen. Und dennoch legen Sie diese
abenteuerliche Vorlage vor? Sie bemängeln doch im Fall
Anis Amri Behördenhandeln und wollen als Antwort da-
rauf die nachrichtendienstlichen Aufklärungsmöglichkei-
ten wegnehmen? Sie blamieren sich mit Ihrem Entwurf,
der schnellstmöglich in der Mülltonne landen sollte. Er
ist nichts weiter als verantwortungslos.
Ich möchte auch auf den Bereich „parlamentarische
Kontrolle der Nachrichtendienste“ eingehen, weil ich
Mitglied in diesem Gremium bin und weil das nicht
richtig ist, was Sie dazu schreiben. Sie schreiben, dass
das PKGr allein die Tätigkeit der Bundesregierung in
Bezug auf Nachrichtendienste kontrolliert und nicht
direkt die Nachrichtendienste. Dann frage ich Sie: Wer
trägt denn die politische Verantwortung für das Handeln
der Nachrichtendienste? Wem gegenüber sind denn die
Dienste weisungsgebunden und rechenschaftspflichtig?
Außerdem möchte ich Sie daran erinnern, dass wir die
parlamentarische Kontrolle gerade deutlich gestärkt ha-
ben. Dass Sie das in Ihrem Antrag jetzt als „Kosmetik“
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 23033
(A) (C)
(B) (D)
bezeichnen und Ihnen die Kontrollbefugnisse nicht weit
genug gehen, kann ich aus Ihrer Warte verstehen. Wir als
SPD sehen das jedenfalls als ersten Schritt in die richtige
Richtung.
Ich möchte außerdem etwas Grundsätzliches zum
Schluss sagen: Ihr Gesetzentwurf zeugt von tiefem Miss-
trauen gegenüber den Nachrichtendiensten und ihren Tä-
tigkeiten. Ich glaube, dass Sie den Tausenden Mitarbeite-
rinnen und Mitarbeitern, die jeden Tag für die Sicherheit
in Deutschland ihren Dienst verrichten, unrecht tun.
Auch dank unserer Nachrichtendienste haben wir bereits
zahlreiche terroristische Anschläge in den letzten Jahren
vereitelt. Jetzt tun Sie in Ihrem Gesetzentwurf so, als ob
die Nachrichtendienste willkürlich zum Selbstzweck in
die Grundrechte von unschuldigen Bürgerinnen und Bür-
gern eingreifen und nicht ausreichend an die Kette gelegt
werden. Das ist undankbar. Daran ändert auch nichts,
dass Sie die Mitarbeiter, die durch Ihren Vorschlag ihren
Job verlieren würden, durch Umschulungen in andere
Behörden verfrachten wollen.
Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Wir reden heu-
te über einen von der Fraktion Die Linke vorgelegten
Gesetzentwurf. Es geht uns mit diesem Gesetzentwurf
darum, den Nachrichtendiensten des Bundes die Befug-
nis zu entziehen, einen Eingriff in das Brief-, Post- und
Fernmeldegeheimnis vorzunehmen. Das sogenannte
G-10-Gesetz – das steht für Artikel 10 GG – und weitere
Gesetze räumen den Nachrichtendiensten des Bundes ge-
nau diese Befugnis ein.
Ein Eingriff in das Brief-, Post- und Fernmeldegeheim-
nis ist für eine Demokratie immer ein schwerwiegender
Eingriff, weil die Möglichkeit, frei von staatlicher Kennt-
nisnahme zu kommunizieren, wesentlicher Bestandteil
einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung ist.
Wir sind der Auffassung, dass dieser Eingriff so schwer
und die Hürde für den Eingriff durch Nachrichtendienste
des Bundes und die Verfassungsschutzbehörden der Län-
der so gering ist, dass ein Rechtsstaat auch ohne diese
Eingriffe auskommen kann, ohne dass Sicherheitslücken
entstehen.
Es ist zunächst darauf hinzuweisen, dass das G-10-Ge-
setz die Befugnisse zur Einschränkung der Telekommu-
nikationsfreiheit für die Landespolizeien, die Bundespo-
lizei und das Bundeskriminalamt unberührt lässt. Deren
Befugnisse zur Einschränkung der Telekommunikations-
freiheit sind im BKAG und in der StPO geregelt. Wir
nehmen also keine Einschränkung der Befugnisse für die
Landespolizeien, die Bundespolizei und das Bundeskri-
minalamt vor. Wir beschränken uns ausdrücklich auf die
Nachrichtendienste des Bundes.
Das hat auch eine innere Logik. Die einfache und
bestechende Logik besteht darin, dass der Rechtsstaat
wieder vom Kopf auf die Füße gestellt wird. Ein grund-
legendes Prinzip des Rechtstaates besteht darin, von
staatlichen Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen
ausgenommen zu sein, soweit keine Anhaltspunkte für
ein strafrechtlich relevantes Verhalten vorliegen.
Für die Bekämpfung von Straftaten sowie die Abwehr
von Gefahren entsteht keine Schutzlücke, soweit auf das
G-10-Gesetz verzichtet wird. Die in den §§ 3, 5 und 8
G-10-Gesetz benannten Gefahren fallen als Straftaten in
den Bereich des § 100 a StPO und in die Zuständigkeit
des deutschen Strafrechts. Wir haben das in der Anla-
ge 1 unseres Gesetzesentwurfes detailliert dargestellt. Da
nicht nur die Begehung von Straftaten nach dem Straf-
gesetzbuch strafbar ist, sondern im konkreten Fall auch
der Versuch, kann mit den Mitteln der StPO also bereits
vor Schadenseintritt gearbeitet werden. Wer eine Straftat
des Kataloges des § 100 a StPO versucht, hat wiederum
keinen Anspruch darauf, von staatlichen Kontroll- und
Überwachungsmaßnahmen verschont zu bleiben.
Das tatsächliche Problem besteht ja derzeit darin, dass
bis auf die Entführungsfälle nach § 8 G-10-Gesetz die
anderen Voraussetzungen für eine Einschränkung des
Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses niedriger lie-
gen als für die Gefahrenabwehr- und Strafverfolgungsbe-
hörden. Im G-10-Gesetz werden „tatsächliche Anhalts-
punkte“ verlangt, im § 100 a StPO hingegen „bestimmte
Tatsachen“. Für strategische Beschränkungsmaßnahmen
wiederum soll weder eine konkrete Gefahr, wie sie tradi-
tionell im Bereich der Gefahrenabwehr gefordert wird,
noch gar ein hinreichender Tatverdacht, der Maßnahmen
im Bereich der Strafverfolgung erlaubt, ausreichend sein,
um in das Grundrecht nach Artikel 10 GG einzugreifen.
Das finden wir aus dem genannten Grund problematisch.
Hinzu kommt, dass damit die Nachrichtendienste des
Bundes Aufgaben der Strafverfolgung und Gefahrenab-
wehr zumindest mit übernehmen.
Die Frage der tatsächlich nicht zu realisierenden
Kontrolle hinsichtlich der Einhaltung der Vorgaben des
G-10-Gesetzes durch die Nachrichtendienste würde sich
bei einer Abschaffung des G-10-Gesetzes nicht stellen.
Durch das Parlamentarische Kontrollgremium werden
nicht die Nachrichtendienste des Bundes kontrolliert,
sondern allein die Tätigkeit der Bundesregierung in Be-
zug auf die Nachrichtendienste. Die vom Parlamentari-
schen Kontrollgremium bestellte G-10-Kommission ent-
scheidet nach § 15 G-10-Gesetz von Amts wegen oder
aufgrund von Beschwerden über die Zulässigkeit und
Notwendigkeit von Beschränkungsmaßnahmen. Sie soll
insoweit an die Stelle eines Gerichtes treten. Dabei ist
aber zu beachten, dass das Verfahren wie folgt abläuft –
ich zitiere –:
Der jeweilige Dienst stellt einen Antrag beim Bun-
desministerium des Inneren. Das Ministerium prüft
den Antrag … Wenn es ihn für berechtigt hält, ge-
nehmigt es diesen Antrag und erlässt eine entspre-
chende Anordnung, die aber in der Regel nicht voll-
zogen darf, bevor nicht die G-10-Kommission ihre
Zustimmung erteilt hat.
So Huber in vorgänge Nr. 206/207, S. 43.
Die G 10-Kommission kann also lediglich das ge-
nehmigen, was Nachrichtendienste des Bundes bei ihr
beantragen. Soweit die Nachrichtendienste des Bundes
der Ansicht sind, es liege überhaupt kein Eingriff in das
Grundrecht aus Artikel 10 GG vor, wird die G 10-Kom-
mission davon nichts erfahren und kann demzufolge auch
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 201723034
(A) (C)
(B) (D)
keine Entscheidung treffen. Leider hat der NSA-Skandal
gezeigt, dass dies nicht nur ein theoretisches Szenario ist.
Lassen Sie mich am Ende noch etwas klarstellen. Die
von dem Wegfall der Aufgaben nach dem G-10-Gesetz
betroffenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollen in
anderen Behörden, gegebenenfalls nach einer Umschu-
lung, eine Anstellung finden. Denn für uns als Linke ist
klar, ein Stellenabbau im öffentlichen Dienst ist mit dem
vorliegenden Gesetz nicht angestrebt, da dies eine rote
Haltelinie überschreiten würde.
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Mit diesem Gesetzentwurf, für den die
Linke primär ein „Fleißkärtchen“ verdient, will sie das
G-10-Gesetz aufheben und diverse Gesetze bezüglich
Telekommunikationsüberwachung anpassen. Das „G 10“
sei für die Bekämpfung der darin genannten Gefahren
weder geeignet, erforderlich noch angemessen.
In weitem Umfang Kritik an zunehmender Telekom-
munikationsüberwachung – wir haben dies schon weit
früher kritisiert, als es Linke bzw. PDS noch gar nicht
gab. Die Problemanalyse und Schlussfolgerung der Lin-
ken in ihrem Gesetzentwurf ist aber in mehrfacher Hin-
sicht unscharf, unzutreffend und nicht weitreichend ge-
nug.
Unscharf ist die Analyse zum Beispiel, weil die Lin-
ken das Problem zunehmender Kommunikationsüber-
wachung nicht, wie nötig, schon verorten bei der 1968
verfügten Einschränkung des Grundrechts auf Fernmel-
defreiheit. Vielmehr setzt die Kritik der Einbringer erst
an bei dem Ausführungsgesetz hierzu, dem G 10. Dieses
Gesetz ist in der Tat seither vielfach erweitert worden,
wie auch wir kritisiert haben.
Unzutreffend scheint uns etwa die Analyse hinsicht-
lich des Umfangs bzw. der zahlenmäßigen Bedeutung
formeller G-10-Überwachungen; denn nach dem kürz-
lich veröffentlichten Bericht des Bundestages hat der
BND im Jahr 2015 aus 2 000 strategisch erfassten Kom-
munikationen nur 52 als relevant eingestuft und weiter-
bearbeitet. Die Presse fasste dies ironisch zusammen als
„eine Mail pro Woche“. Ähnlich gering sind die Zahlen
bei individueller G-10-Überwachung. Demgegenüber
sind nach Quantität und Qualität weit bedeutsamer die
millionenfachen Massenüberwachungen sogenannter
Routineverkehre, die der BND im Ausland durchführt.
Dazu hat der NSA-Untersuchungsausschuss ja sehr vie-
le Details zutage gefördert. Dieses Problem aber würde
nicht beseitigt, ja soweit erkennbar, nicht einmal berührt
durch den Gesetzentwurf. Insofern ist dieser Regelungs-
entwurf nicht weitreichend genug.
Die Schlussfolgerungen des Gesetzentwurfs sind so-
gar teils richtiggehend kontraproduktiv. Ein Beispiel: Wir
teilen zwar die Analyse des Gesetzentwurfs, die im G 10
vorgesehene sogenannte G 10-Kommission zur Kontrol-
le solcher Überwachungen sei zu schwach ausgestaltet
und werde durch die Regierung sogar ausgetrickst. Doch
die daraus gezogene Folgerung des Gesetzentwurfs, die-
ses Kontrollgremium ganz abzuschaffen, verbessert die-
se Lage überhaupt nicht.
Ein zweites ärgeres Beispiel: Die Initiatoren des Ent-
wurfs meinen, bei Abschaffung des G 10 könnte ja ent-
sprechende Kommunikationsüberwachung künftig alter-
nativ durch die Polizei durchgeführt werden aufgrund
§ 100 a StPO, ohne dass eine Schutzlücke verbleibe. Die
Folgerung, der Polizei noch mehr bisher geheimdienst-
liche Befugnisse zu übertragen, halten wir schon für
rechtspolitisch zumindest bedenklich.
Uns scheint außerdem die Annahme, die G-10-Befug-
nisse könnten alternativ 1 : 1 wahrgenommen werden
durch schon bestehende polizeiliche Befugnisse, auch
rechtlich nicht sorgfältig subsumiert zu sein, sondern
eher vom politischen Bemühen darum getragen. Au-
ßerdem: Wenn bloß die wahrnehmenden Behörden und
Rechtsgrundlagen ausgetauscht würden, wo läge dann
überhaupt der Mehrwert für die Bürgerrechte, den Um-
fang der Überwachung zu reduzieren?
Schließlich glauben offenbar die Einbringer selbst
nicht ihre kühne These, bei Abschaffung des G 10 dro-
he keine Schutzlücke. Die Einbringer schreiben nämlich
auf Seite 28 ihres Entwurfs als letzten Satz selbst ein-
schränkend: „Es ergibt sich mithin keine Schutzlücke,
wenn §§ 5 und 8 G 10 abgeschafft werden. Jedenfalls
dann nicht, wenn es um die Sicherheit der Bundesrepu-
blik Deutschland geht.“ Damit räumen die Initiatoren des
Entwurfs selbst drohende Schutzlücken ein, wenn die
strategische Auslandsüberwachung – § 5 – entfiele, die
über Deutschland hinaus etwa auf internationalen Waf-
fenhandel und Kriegsgefahren zielt. Denn wer sollte das
mit welchen technischen Mitteln ersetzen, etwa die deut-
sche Polizei?
Und noch deutlicher wird die verbleibende Schutz-
lücke im zweiten von den Linken genannten Bereich,
in § 8, nämlich der Kommunikationsüberwachung des
BND zugunsten im Ausland entführter Personen. Wie
stellt sich die Linke da die Alternative vor? Sollen künf-
tig stattdessen etwa deutsche Polizisten mit Richtmikro-
fon und Peilgerät irgendwo durch den Urwald robben,
um Entführte zu orten?
Ich karikiere dies hier bewusst. Doch schon diese we-
nigen Beispiele zeigen: Über diesen Gesetzentwurf soll-
ten auch die einbringenden Kolleginnen und Kollegen
der Linksfraktion nochmals vertieft nachdenken. Dazu
haben wir miteinander im Ausschuss Gelegenheit.
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung
und des Berichts des Ausschusses für Wirt-
schaft und Energie zu dem Antrag des Bun-
desministeriums für Wirtschaft und Energie:
Anpassungsvertrag ERP-Förderrücklage
Einholung eines zustimmenden Beschlusses des
Deutschen Bundestages gemäß § 6 Absatz 3
des ERP-Verwaltungsgesetzes (Tagesordnungs-
punkt 24)
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 23035
(A) (C)
(B) (D)
Astrid Grotelüschen (CDU/CSU): Am 11. Januar
2017 hatte das Bundeskabinett dem Entwurf eines Ände-
rungsvertrages zwischen dem ERP-Sondervermögen und
der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) zur Härtung
der Kapitalrücklage (ERP-Förderrücklage I) zugestimmt.
Gleichzeitig wurden die allgemeinen Eckpunkte für
ein künftiges intensives Engagement der KfW im Be-
reich Wagniskapital- und Beteiligungsfinanzierung be-
schlossen.
Heute wollen wir den Forderungen der BaFin, die
eine Härtung der Förderrücklage I der KfW verlangt, mit
einem sogenannten Anpassungsvertrag zustimmen, mit
dem wir die Vereinbarkeit der ERP-Förderrücklage mit
den Vorgaben der Kapitaladäquanzverordnung und deren
Zurechnung als Kernkapital der KfW eindeutig regeln.
Darüber hinaus, und das ist aus meiner Sicht nicht
weniger wichtig, geht es weiterhin darum, die seit fast
70 Jahren bewährte KfW-Förderung qualitativ und quan-
titativ für ein neues Jahrzehnt aufzustellen.
Dabei gilt es bei Zeiten langanhaltender niedriger
Zinsen den Bedarf der mittelständischen Wirtschaft ab-
zufragen und der Nachfrage nach den unterschiedlichen
Kredit- bzw. Finanzierungsmodellen Rechnung zu tra-
gen. Hier ist aus meiner Sicht der Schritt der KfW, ein
zusätzliches Engagement im Bereich der Beteiligungsfi-
nanzierung am Markt anzubieten, zu unterstützen.
Aber zunächst kurz zum Verständnis der Hintergrün-
de, die eine Neuordnung der ERP-Wirtschaftsförderung
erforderlich machen:
2007 wurde ein Teil des Sondervermögens in unsere
Durchführungsorganisation KfW eingebracht, darunter
4,65 Milliarden Euro als Kapitalrücklage. Die Bundesan-
stalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) hatte vor
einem Jahr festgestellt, dass diese Kapitalrücklage aber
nicht den Vorgaben im Zusammenhang mit „Basel III“
entspricht und deshalb nicht mehr dem harten Kernkapi-
tal der KfW zugerechnet werden kann.
Damit das Fördervolumen, die gesamten Überschüs-
se des Sondervermögens, jedoch zur Finanzierung zur
Verfügung gestellt werden kann, muss eine „Härtung“
erfolgen.
Leider blieb in den vergangenen Jahren die tatsäch-
liche Förderleistung unter der angestrebten Mindest-
zielgröße zurück. Obwohl der Bundesrechnungshof hier
mehrfach intervenierte und wiederholt darauf hingewie-
sen hatte, kam es nicht zu einer Veränderung im Förder-
portfolio, das zur Verfügung stehende Kapital wurde von
den Unternehmen nicht abgefragt.
In diesem Punkt gilt es, für die Zukunft das Instru-
mentarium und die Angebote so zu verändern, dass es
zu einem verbesserten Mittelabfluss der 800 Millionen
Euro, die alleine im Jahr 2015 zur Verfügung stehen,
kommen kann – Förderkredite, die elementarer Bestand-
teil der KfW-Förderung sind.
Zusätzlich machen wir auch mit unserem Entschlie-
ßungsantrag deutlich, dass es für mittelständische Unter-
nehmen, Start-ups einen sehr großen Bedarf im Bereich
der Beteiligungsfinanzierung und auch des Wagniskapi-
tals gibt.
Aus meiner Sicht existiert daher geradezu eine för-
derpolitische Notwendigkeit, diese Innovationsfähigkeit
ganz besonders zu stärken. Es müssen hier umfassende
Angebote geschaffen werden, vor allem in der Wachs-
tumsphase dieser Unternehmen.
Zwar sind im letzten Jahr 12 Millionen Euro als Grün-
derkredite über die KfW zum Beispiel in Start-ups in
meinen Landkreis Oldenburg geflossen. Dies ist aber hier
wie auch auf ganz Deutschland bezogen zu wenig.
Zum Vergleich: In den USA werden circa 60 Milli-
arden in Wagniskapital investiert, in Deutschland aber
lediglich 800 Millionen Euro.
Um diese strukturelle Schwäche zu beseitigen, müs-
sen wir also neue Instrumente finden. Der zehn Jahre alte
Vertrag zwischen dem ERP-Sondervermögen und der
KfW ist auch aus diesem Grunde anzupassen.
Unser übergeordnetes Ziel ist klar: die Potenziale des
ERP-Sondervermögens auszuschöpfen, um damit die
Förderkraft nachhaltig zu erhöhen. Wir müssen seit lan-
gem brach liegendes Kapital endlich für die Förderung
nutzen.
Unsere Erwartung an die KfW ist, dass sie in Hinblick
auf veränderte wirtschaftliche Rahmenbedingungen und
unterschiedliche Bedürfnisse unserer Unternehmen ihre
Förderaufgaben flexibel anpasst und kompetent gestal-
tend tätig wird.
Damit könnten wir, gemeinsam mit der größten natio-
nalen Förderbank der Welt, einen wichtigen Beitrag zur
Stabilität und zudem zum wirtschaftlichen Wachstum in
Deutschland leisten.
Konkretes Ziel ist es dabei, in mehreren Stufen ein
marktrelevantes Volumen für eine Beteiligungsfinanzie-
rung mit Unterstützung der KfW aufzubauen.
Angestrebt wird eine Verdopplung des Wagniskapi-
talvolumens in Deutschland zum Vergleichsjahr 2016 in
den kommenden Jahren insbesondere durch Privatwirt-
schaft, den Bund und unter Einbeziehung verlässlicher
europäischer Finanzpartner.
Deshalb fordern wir nicht zuletzt mit dem vorliegen-
den Entschließungsantrag, jährlich ausführlich über die
ERP-Förderung informiert zu werden.
Denn die Informationen über die aktuelle Situation
beim ERP-Sondervermögen im Allgemeinen und eine
nachhaltige KfW-Beteiligungsfinanzierung im Besonde-
ren sind für eine sinnvolle Förderpolitik unerlässlich.
Dr. Andreas Lenz (CDU/CSU): Der Wohlstand von
morgen, das sind die Unternehmensgründungen von heu-
te. Deshalb müssen wir schauen, dass wir die Vorausset-
zungen schaffen, dass Gründungen von der Idee bis zum
Börsengang – bis zum Global Player – in Deutschland
auf ein bestmögliches Umfeld stoßen. Dabei müssen wir
Risiken eingehen, dabei muss der Unternehmer Vorbild
sein dürfen, und dabei brauchen wir Geschichten, die be-
geistern und zum Nachahmen einladen.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 201723036
(A) (C)
(B) (D)
Zahlen und Fakten:
Die Verfügbarkeit an Wagniskapital ist in Deutsch-
land im Verhältnis zur Größe unserer Volkswirtschaft
sehr gering. Der Anteil des investierten Wagniskapitals
am Bruttoinlandsprodukt liegt bei etwa knapp 0,03 Pro-
zent – im Vergleich liegt dieser Anteil in den USA bei
0,33 Prozent. Anders ausgedrückt: In den USA werden
circa 60 Milliarden Euro in Wagniskapital investiert,
in Deutschland 800 Millionen – obwohl unser BIP ein
Sechstel der USA beträgt.
Venture-Capital-Fonds in Frankreich und Großbri-
tannien können im Vergleich deutlich mehr Kapital ein-
sammeln: 2011 bis 2015 nahmen Venture-Capital-Fonds
in Großbritannien 1,8 Milliarden Euro, in Frankreich
1,4 Milliarden Euro, in Deutschland hingegen ledig-
lich 736 Millionen Euro Kapital auf. Fest steht also, für
Gründer und junge aufstrebende Unternehmen steht in
Deutschland zu wenig Wagniskapital zur Verfügung.
Schaut man sich den Markt für Beteiligungsfinanzie-
rungen genauer an, dann finden sich die Finanzierungs-
schwierigkeiten für junge, schnell wachsende Unter-
nehmen vor allem bei der Anschlussfinanzierung in der
Start-up- und frühen Wachstumsphase. Diese Angebots-
lücke liegt in einer Größenordnung von jährlich mindes-
tens 500 Millionen Euro. Ich glaube jedoch, dass das Po-
tenzial noch wesentlich höher ist.
Oft spielt Deutschland in den Anfangsphasen der
Entwicklung neuer Technologien, auch aufgrund der
hervorragenden Förderlandschaft, ganz vorne mit, aber
die Wachstumsphase scheitert nicht selten an fehlenden
Finanzierungsmöglichkeiten. Innovative Unternehmen
werden in der Gründungsphase häufig mit öffentlichen
Mitteln finanziert, die Marktreifephase wird aber häufig
ausländischen Venture-Capital-Gebern überlassen. Dies
gefährdet mittel- und langfristig die Entwicklung des
Wirtschaftsstandorts Deutschland.
Kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) muss
ein ausreichendes Kapitalangebot speziell in der Phase,
in der die Unternehmen neue Märkte erschließen und
schnell wachsen, zur Verfügung gestellt werden, damit
sie „durchhalten“ können und nicht scheitern.
Um diese strukturelle Schwäche im Bereich der
Wachstumsfinanzierung zu beseitigen, muss man auch in
Deutschland kreative Wege gehen.
Ziel für Deutschland muss sein, den Bereich der Wag-
nisfinanzierungen zu stärken. Wir benötigen langjährig
erfahrene Management-Teams, denen es über mehrere
Fonds-Generationen hinweg gelingt, Gelder in substan-
zieller Größenordnung von erfahrenen Investoren einzu-
sammeln. Ein neu zu entwickelndes Instrument der KfW
kann hier beispielsweise als Ankerinvestor behilflich
sein.
Stand bisher:
Die von der KfW geplanten Förderhöhen für den
Mittelstand durch die Programme des ERP-Sonderver-
mögens können momentan nicht vollständig erfüllt wer-
den. Dies liegt vor allem am Niedrigzinsumfeld, in dem
Zinsverbilligungen nicht mehr die gewünschte Wirkung
entfalten können.
2015 fand bereits eine Neuausrichtung der Beteili-
gungsfinanzierung innerhalb der KfW in Abstimmung
mit dem Bundeswirtschaftsministerium statt, fokussiert
auf die Finanzierung von Fonds. Die bereits bestehen-
den Instrumente High-Tech Gründerfonds, coparion und
ERP-VC-Fondsinvestprogramm wurden erfolgreich wei-
terentwickelt.
Seit 2015 hat die KfW mithilfe der genannten drei
Instrumente 181 Millionen Euro – davon 112 Millionen
Euro gemeinsam mit dem ERP-Sondervermögen – in den
deutschen Venture-Capital Markt-investiert. Gerade die
Gründungen in der Startphase finden also ein intaktes
Förderinstrumentarium vor.
Neue Schritte:
Ein Ausbau der Beteiligungsfinanzierung innerhalb
der KfW soll daher ein zweites Förderstandbein schaffen,
mit dem ein verbessertes Kapitalangebot in der besonders
kapitalintensiven Wachstumsphase von Unternehmen
erreicht werden soll. Ziel ist es, in mehreren Stufen ein
marktrelevantes Volumen für Beteiligungsfinanzierung
in Deutschland mithilfe der KfW aufzubauen. Konkret
sollen Beteiligungs- und Mezzaninfinanzierungen beihil-
fefrei und in allen Marktsegmenten und Strukturierungs-
formen ermöglicht werden.
Aber: Öffentliche Mittel können die Angebotslücke
nur teilweise schließen. Bedeutsamer ist die Hebelwir-
kung zur Mobilisierung privater Investoren.
Beteiligungsgesellschaft:
Eine Beteiligungsgesellschaft, die private Kapitalge-
ber hinzuzieht, kann hier ansetzen.
Zudem muss gewährleistet werden, dass durch eine
solche Gesellschaft marktgerechte Investitionsentschei-
dungen getroffen werden. Es wird sicher zusätzlichen
Know-hows bedürfen, um diese neuen Aufgaben zu
stemmen. Aber dieses Engagement wird sich lohnen.
Ein gutes Beispiel dafür ist der Europäische Inves-
titionsfonds (EIF), auch wenn natürlich keine Eins-zu-
eins-Umsetzung auf die Bundesebene erfolgen soll und
kann. Es braucht vor allem eine eigene Struktur, die auf
die spezifischen Bedürfnisse der deutschen Wagniskapi-
talindustrie eingehen kann.
Die klassische Einteilung junger Firmen in Seed-,
Start-up- oder Growth-Phase korreliert nicht direkt mit
den Mittelbedarfen. Ein Internet-Start-up kann mit 1 Mil-
lion ein fertiges Produkt entwickeln, für ein Unterneh-
men der Medizintechnik- oder Pharmabranche oder der
erneuerbaren Energien ist es ein Tropfen auf den heißen
Stein. Für reife Unternehmen können Venture-Debt- oder
Mezzanin-Finanzierungen der richtige Baustein sein.
Jedwede Wagniskapitalförderung muss sicherstellen,
dass langfristig Marktteilnehmern die für sie relevanten
Angebote zur Verfügung stehen.
Wir brauchen in Deutschland sicher auch eine höhere
Bereitschaft, Risiken einzugehen. „Wer wagt, gewinnt“ –
das gilt vor allem bei disruptiven Veränderungsprozes-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 23037
(A) (C)
(B) (D)
sen. Abwarten macht die Wahrscheinlichkeit, nicht zu
gewinnen, hingegen umso höher. Ich wünsche mir auch
innerhalb der Konzerne Deutschlands mehr Abteilungen,
die gezielt in deutsche Start-ups investieren, anstatt dies
gar nicht oder nur in Übersee zu tun.
Aber auch institutionellen Anlegern sollte der Rahmen
gegeben werden, verstärkt in Wagniskapital zu investie-
ren. Dies fördert letztlich die Diversifizierung, auch weil
die Zyklen oft gegenläufig zu denen der Kapitalmärkte
verlaufen. Hier besteht gerade in Deutschland noch ein
hohes Potenzial.
Mit der Schaffung eines neuen Instruments zur Förde-
rung von Wagnisfinanzierungen gehen wir einen ersten
Schritt nach vorne, und zwar einen richtigen.
Andrea Wicklein (SPD): Wenn auch zu später Stun-
de, so ist das Thema der heutigen Debatte dennoch enorm
wichtig für die Innovationskraft und die Wettbewerbsfä-
higkeit der deutschen Wirtschaft.
Zum einen entscheiden wir heute über den Anpas-
sungsvertrag zur ERP-Förderrücklage. Die Vertragsan-
passung ist notwendig, weil nicht sichergestellt ist, dass
die ERP-Förderrücklage I als hartes Kernkapital der
KfW anrechenbar ist. Das hatte eine Prüfung durch die
Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht erge-
ben. Eine Nichtanrechnung der Förderrücklage als hartes
Kernkapital würde dazu führen, dass die KfW die Eigen-
kapitalvorschriften gemäß Basel III in den kommenden
Jahren nicht einhalten kann. Mit dem Anpassungsvertrag
erreichen wir, dass die ERP-Förderrücklage gleichran-
gig – wie auch die übrigen Eigenkapitalbestandteile
der KfW – zum Ausgleich etwaiger Verluste zur Verfü-
gung steht. Diesen Vertragsänderungen haben sowohl
der Unterausschuss Regionale Wirtschaftspolitik und
ERP-Wirtschaftspläne am vergangenen Freitag als auch
der Wirtschaftsausschuss am Mittwoch einstimmig zuge-
stimmt, und ich gehe fest davon aus, dass heute auch der
Deutsche Bundestag die vertraglichen Änderungen zur
ERP-Förderrücklage I befürwortet. So weit die techni-
schen Details.
Zum anderen beraten wir heute über die Neuausrich-
tung der KfW im Bereich des Wagniskapitalmarktes.
Schon seit langem wissen wir, dass es in Deutschland
im Vergleich zu anderen Staaten wie den USA, Israel
oder Großbritannien noch erhebliche Reserven bei der
Aktivierung von privatem Beteiligungskapital gibt. Laut
OECD wird in den USA in Relation zum Bruttoinlands-
produkt rund 12-mal so viel Wagniskapital investiert wie
in Deutschland. Um aufzuschließen, müsste unser Wag-
niskapitalmarkt von derzeit rund 800 Millionen Euro auf
etwa 10 Milliarden Euro steigen.
Es ist und bleibt richtig: Im Bereich der Zinsvergüns-
tigungen ist die KfW unschlagbar. Die Mittelstandspro-
gramme aus dem ERP-Sondervermögen gehören mit
ihren zinsgünstigen Krediten zu den wichtigsten Instru-
menten der deutschen Wirtschaftsförderung. Seit Jahren
erreicht die KfW durch ihre sehr günstigen Refinan-
zierungen Zusagen im Bereich der inländischen Wirt-
schaftsförderung von jährlich über 50 Milliarden Euro.
Allein im Jahr 2016 konnte die KfW insgesamt rund
16 000 ERP-Kredite mit einem Gesamtvolumen von an-
nähernd 5 Milliarden Euro bereitstellen. Allerdings – und
darauf habe ich bereits im Bundestag bei den Beratungen
zum ERP-Wirtschaftsplangesetz im Herbst 2016 hinge-
wiesen – müssen sich die ERP-Programme immer wieder
aufs Neue der Realität stellen; denn wir wollen, dass die
Gelder den Mittelstand auch tatsächlich erreichen.
Der Bundesrechnungshof hatte schon mehrfach da-
rauf hingewiesen, dass das geplante Fördervolumen seit
längerem nicht vollständig ausgeschöpft werde. Ich bin
deshalb sehr froh, dass die KfW und die Bundesregie-
rung diese Hinweise aufgegriffen haben und die Säule
der Wagniskapital- und Beteiligungsfinanzierung der
KfW deutlich und nachhaltig stärken wollen.
Die deutsche Wirtschaft benötigt dringend bessere
Fördermöglichkeiten im Bereich der Wagnis- und Risi-
kokapital- sowie Mezzaninfinanzierung. Während für
innovative Unternehmen in der Gründungsphase ausrei-
chend öffentliches Kapital vorhanden ist, mangelt es in
Deutschland gerade in der besonders kapitalintensiven
Wachstumsphase an Geld, in einer Phase, wo die Unter-
nehmen von den Banken oftmals noch kein Geld erhal-
ten. Dieses Problem betrifft insbesondere Unternehmen
in den besonders kapitalintensiven Technologiefeldern
wie zum Beispiel Cleantech, Life Science oder Medizin-
technik.
Wir wissen nur zu gut, was daraus folgt, wenn in
Deutschland nicht ausreichend Wagniskapital über alle
Phasen von unternehmerischen Innovationen zur Verfü-
gung steht: Sie suchen sich ausländische Kapitalgeber,
die es in den USA und teilweise auch anderswo gibt. Sie
wandern aus und bauen im Erfolgsfall ihr Unternehmen
im Ausland auf. – Wir sollten kein Interesse daran haben,
dass Ideen in Deutschland entstehen, in der Frühphase
gut gefördert werden und nur, weil die problematische
Wachstumsphase nicht finanzierbar ist, Know-how, Be-
schäftigung und unternehmerischer Erfolg abwandern
müssen. Als eine der führenden Volkswirtschaften, die
sich auf dem Weg zur digitalen Industrie- und Arbeits-
welt befindet, können wir uns diese Abwanderung nicht
länger leisten.
Es ist an der Zeit, zu handeln. Deshalb finde ich es
richtig, dass der Anpassungsvertrag auch die entschei-
denden Eckpunkte für eine substanzielle Intensivierung
des KfW-Engagements im Bereich Wagniskapital- und
Beteiligungsfinanzierung enthält.
Im Unterausschuss haben wir die ersten Details der
Planungen mit Vertretern der KfW und des BMWi in-
tensiv diskutiert. Bei einer Expertenanhörung in der ver-
gangenen Woche haben wir von Sachverständigen von
Banken, Kapitalbeteiligungsgesellschaften und Fonds
erfahren, wo genau der Bedarf gesehen wird. Die Ein-
schätzungen der Experten stimmen mit unseren überein:
Wagniskapital wird insbesondere in der Wachstumsphase
gebraucht. Benötigt werden vor allem größere Finanzie-
rungssummen. Eine Lücke besteht gerade im Bereich der
Hightechbranchen wie Medizintechnik. Synergien mit
den Landesbanken wie etwa der NRW-Bank oder der
Bürgschaftsbank Brandenburg, die kleinere Finanzierun-
gen anbieten, wären sinnvoll. Eine neue Sparte im Be-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 201723038
(A) (C)
(B) (D)
reich Wagniskapital- und Beteiligungsfinanzierung bei
der KfW würde vor allem mehr privates Fondskapital
anregen. – Gerade den letzten Punkt möchte ich betonen:
Die KfW wäre aus meiner Sicht der ideale Ankerinvestor
für bedeutend mehr privates Kapital. Allein aus öffent-
lichen Mitteln können die Kapitalbedürfnisse nicht ge-
schultert werden.
Alles in allem haben die Experten der Anhörung die
Gründung einer inländischen Beteiligungsgesellschaft
der KfW befürwortet. Auch der Unterausschuss steht die-
sem Ziel positiv gegenüber und hat deshalb den Antrag
der Bundesregierung einstimmig angenommen.
Die SPD-Bundestagsfraktion wird den Aufbau einer
Beteiligungsgesellschaft intensiv begleiten. Wir haben
mit unserem Koalitionspartner und den Grünen einen
Entschließungsantrag eingebracht, der Maßgaben an die
Bundesregierung enthält. Es ist uns sehr wichtig, dass
die Finanzierungssäule des Beteiligungskapitals deutlich
und nachhaltig gestärkt wird. Klar ist, dass dies Schritt
für Schritt geschehen muss.
Wir erwarten, dass die Bundesregierung in Zusam-
menarbeit mit der KfW bis Juni 2017 ein Gesamtkonzept
erstellt und dem Deutschen Bundestag übermittelt. Die
Struktur-, Rechts- und Finanzierungselemente der subs-
tanziellen Intensivierung des KfW-Engagements müssen
klar definiert und geregelt sein.
Unser Ziel in den kommenden Jahren ist eine Ver-
dopplung des Wagniskapitalvolumens in Deutschland
zum Vergleichsjahr 2016 durch Privatwirtschaft, Bund,
KfW und unter Einbeziehung europäischer Finanzpart-
ner. Dabei wird die KfW als Ankerinvestor eine entschei-
dende Rolle spielen.
Entscheidend ist für uns, dass das Substanzerhal-
tungsgebot des ERP-Sondervermögens gewahrt und die
Risikotragfähigkeit und angemessene Kapitalausstattung
der KfW gesichert bleiben. Wir erwarten darüber hinaus,
dass dem Bundestag jährlich ein aussagekräftiger Bericht
vorgelegt wird, der die aktuelle Situation beim ERP-Son-
dervermögen bei der KfW-Beteiligungsfinanzierung aus-
führlich darstellt.
Der eingeschlagene Weg zum Ausbau der Beteili-
gungsfinanzierung ist notwendig und richtig. Ich bitte Sie
um Zustimmung zum Anpassungsvertrag zur ERP-För-
derrücklage und zum Entschließungsantrag der Koaliti-
onsfraktionen und der Fraktion der Grünen.
Thomas Nord (DIE LINKE): Wir diskutieren heute
einen Entschließungsantrag über den Anpassungsvertrag
für die ERP-Förderrücklage zwischen dem Ministerium
für Wirtschaft und der KfW. Im Kern geht es um zwei
Dinge: erstens um die Härtung der ERP-Förderrücklage I
als Kernkapital für die KfW und zweitens um die Ver-
wendung der daraus zu erwartenden Erträge als Wagnis-
kapital und Beteiligungsfinanzierung.
Zu Ersterem ist zu sagen, dass mit dem Erlass des
ERP-Wirtschaftsförderungsneuordnungsgesetzes von
2007 die aus dem ERP-Sondervermögen finanzierte
Wirtschaftsförderung neu geordnet wurde. Heute gelten
neue aufsichtsrechtliche Anforderungen für die KfW;
diese resultieren aus europäischem Recht und sind ent-
sprechend anzuwenden. Unter anderem aus diesen Grün-
den verlangt die BaFin eine zügige Anpassung der betref-
fenden Regelungen des Durchführungsvertrages, damit
die ERP-Förderrücklage als hartes Kapital zur Verfügung
steht. Dem sollten wir nachkommen.
Zweitens geht es um die Verwendung der dabei wahr-
scheinlichen Steigerungen der Erträge aus dem ERP-SV.
Die vom Bundesrechnungshof 2016 festgestellte Un-
terauslastung des ERP-Förderpotenzials muss reduziert
werden.
Mit den bisherigen ERP-Förderprogrammen konnte
die vorgesehene Förderleistung, beispielsweise zinsver-
billigte Kleinkredite, nicht erreicht werden. Zugleich
gibt es im Bereich „Wagniskapital und Beteiligungsfi-
nanzierung“ eine Finanzlücke. Um den technologischen
Wandel besser zu unterstützen, soll die Finanzierung von
Start-ups unter anderem im Bereich digitaler Technologi-
en weiterentwickelt und ausgeweitet werden.
Im Ergebnis soll dies zu einer substanziellen Intensi-
vierung des KfW-Engagements im Venture Capital füh-
ren. In mehreren Stufen soll ein marktrelevantes Volumen
für Beteiligungsfinanzierung in Deutschland mithilfe der
KfW aufgebaut werden. Im Vergleich zum Jahr 2016 soll
das Wagniskapitalvolumen in Deutschland durch Privat-
wirtschaft, Bund, KfW und unter Einbeziehung europäi-
scher Finanzpartner verdoppelt werden.
Die Linke stimmt der Einschätzung zu, dass gerade
Start-ups im Hightechbereich und im Bereich der digi-
talen Technologien deutlich zur Verbesserung der wirt-
schaftlichen Entwicklung beitragen können, was aber
ohne einen erhöhten Ansatz an Risikokapital nicht funk-
tionieren wird. Insbesondere auch für die wirtschaftliche
Entwicklung in Berlin, Brandenburg und weiteren Wirt-
schaftskernen im Osten sind die Förderung von Start-ups
und die Sicherung ihrer langfristigen Entwicklung in der
Region von besonderer Bedeutung.
Dieses Engagement der KfW im VC-Bereich verlangt
den Aufbau eines eigenständigen Geschäftsbereichs für
Beteiligungsmanagement in der KfW. Dies fordert je-
doch eine große Transparenz und starke Kontrolle.
Bis Juni 2017 soll die KfW dem Deutschen Bun-
destag ein kohärentes Gesamtkonzept übermitteln. Die
Linke erwartet, dass die Struktur-, Rechts- und Finan-
zierungselemente der substanziellen Intensivierung des
KfW-Engagements darin klar definiert und geregelt sind.
Wir werden diese Elemente bei aller konstruktiven Be-
gleitung einer sehr kritischen Überprüfung unterziehen.
Es kommt darauf an, eine für die Erfordernisse des
Mittelstands geeignete institutionelle, personelle, beihil-
ferechtliche und aufsichtsrechtlich transparente Struktur
zu erarbeiten, in der die substanzielle Erweiterung des
KfW-Engagements im Bereich Wagniskapital-, Beteili-
gungs- und Mezzaninfinanzierungen dauerhaft umge-
setzt werden kann.
Wichtig ist für die Linke, dass das Substanzerhal-
tungsgebot des ERP-Sondervermögens gewahrt bleibt.
Wichtig ist es, auch zukünftig angemessene Rückstellun-
gen zu bilden, um Sonderbelastungen für das ERP-SV zu
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 23039
(A) (C)
(B) (D)
vermeiden. Wichtig ist, ein ausreichendes Kapitalpolster
oberhalb des realen Vermögenssubstanzerhalts zu ge-
währleisten.
Die Linke dringt darauf, dass der Deutsche Bundes-
tag im Rahmen der jährlichen Berichterstattung über die
ERP-Förderung jeweils bis Mitte des Jahres über die ak-
tuelle Situation des ERP-Sondervermögens im Allgemei-
nen und die KfW-Beteiligungsfinanzierung im Besonde-
ren detailliert informiert wird.
Bei der Erarbeitung des Entwurfs des ERP-Wirt-
schaftsplangesetzes soll auch zukünftig die substanziel-
le Intensivierung des Engagements der KfW im Bereich
Beteiligungsfinanzierung berücksichtigt werden. Die
Planungsansätze für Beteiligungs- und Kreditfinanzie-
rung sollen getrennt ausgewiesen und nachvollziehbar
erläutert werden.
Für die Linke erfordert die Zustimmung zum Engage-
ment im Risikokapital einen hohen Vertrauensvorschuss
für die KfW. Jüngste Überweisungspannen vor allem bei
Überweisungen werfen da Fragen auf, ob das gerecht-
fertigt ist. Trotz dieser Bedenken stimmt die Linke dem
Antrag zu.
Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Mit der heutigen Vertragsanpassung wollen wir
das Engagement im Bereich der Wagniskapital- und
Beteiligungsfinanzierung verstärken. Das ist ein rich-
tiger Schritt und ein wichtiges Signal, das wir Grüne
ausdrücklich befürworten; denn für Gründer und junge
aufstrebende Unternehmen ist die Finanzierung – vor
allem in der Wachstumsphase – eine, wenn nicht die
entscheidende Hürde bei der Entwicklung ihres unter-
nehmerischen Vorhabens. Im Vergleich insbesondere mit
den USA ist der Anteil der Wagniskapitalinvestitionen
am BIP in Deutschland fast verschwindend: Während in
den USA die Investitionen mit Wagniskapital, kurz VC
für Venture Capital, mit 60 Milliarden US-Dollar jähr-
lich beziffert werden, beträgt das VC in Deutschland nur
800 Millionen Euro, also etwas mehr als ein Hundertstel
des in den USA investierten VC. Dabei beträgt der Grö-
ßenunterschied der Volkswirtschaften nur das Zehnfache.
Und der Trend ist eher negativ in Deutschland: Von 2015
zu 2016 verzeichnet Deutschland laut Bericht des Wirt-
schaftsministeriums einen Investitionsrückgang um be-
achtliche 30 Prozent im VC-Bereich. Diesem Trend gilt
es zu begegnen.
Der Wettbewerb um gute Ideen und Unternehmen
wird am Unternehmen Mobileye beispielhaft deutlich.
1999 in Israel gegründet, hat das Unternehmen sich eine
Führungsposition bei der Digitalisierung im Fahrzeug-
bereich erarbeitet. So stellt das Unternehmen heute die
Prozessoren für autonom fahrende Fahrzeuge her. Einer
der Hauptabnehmer ist BMW. Künftig wird Mobileye
wohl die komplette künstliche Intelligenz zur Fahrzeug-
steuerung insbesondere für BMW entwickeln. Die Zu-
kunftstechnologie auch im Bereich des Fahrzeugwesens
wird sich verlagern vom konstruktiven Kraftfahrzeug-
bau, in dem man Deutschland eine technologische Spit-
zenposition zuschreibt, zu den digitalen Technologien.
Der Wert des Autos wird nicht mehr die Fahrzeugtechnik,
sondern die Intelligenz der Fahrersysteme sein, daneben
ganz besonders auch die Qualität der internetbasierten
Servicebereitstellung. Warum erwähne ich das? Mobil-
eye wurde am 13. März 2017 von einem amerikanischen
Chipgiganten aufgekauft, Kaufpreis 15,3 Milliarden
US-Dollar. Eine solche Summe müsste ein VC-Fonds
stemmen können – um die Unabhängigkeit eines solchen
Unternehmens zu bewirken – oder müsste, will man die
Technologie in Deutschland halten, hier in Deutschland
aufgebracht werden.
Von solchen Dimensionen sind wir in Deutschland
noch weit entfernt. Bei uns in Deutschland stehen Finan-
zierungsrunden im zweistelligen Millionenbereich im
Fokus, also junge Unternehmen „in der Pubertät“, wie in
der Anhörung bezeichnet. Aber wir müssen uns in einem
immer dynamischeren Umfeld auch an Investitionen mit
weit höheren Volumina herantrauen; Zielmarke ist aber
erst einmal der dreistellige Millionenbetrag. Und dafür
gilt es, die geeigneten Strukturen innerhalb der KfW zu
schaffen.
Die Grünenfraktion unterstützt das verstärkte
KfW-Engagement. Aus diesem Grund haben wir uns
im Wirtschaftsausschuss dem gemeinsamen Entschlie-
ßungsantrag der Koalitionsfraktionen angeschlossen.
Doch wir sollten uns, bei aller Euphorie, nicht besof-
fen reden. Dass das Wagniskapitalengagement gerade
jetzt – mit Blick auf den Wahlkampf möchte man sagen
„noch“ – ausgeweitet wird, ist den aufsichtsrechtlichen
Bestimmungen geschuldet, genauer: den Eigenkapitalan-
forderungen der BaFin. Es wäre falsch, zu behaupten,
dass ein ausdrücklicher politischer Wille hinter diesem
Projekt stand. Vielmehr müssen wir der Großen Koaliti-
on an dieser Stelle eine Nichterfüllung der selbst verein-
barten Ziele attestieren. So heißt es im Koalitionsvertrag
von 2013: „Wir werden Deutschland als Investitions-
standort für Wagniskapital international attraktiv machen
und dafür ein eigenständiges Regelwerk (Venture-Capi-
tal-Gesetz) … erlassen, das unter anderem die Tätigkeit
von Wagniskapitalgebern verbessert.“ Auf ein solches
Gesetz warten wir bis heute.
Inhaltlich gibt es noch einige wichtige Ergänzungen
und Anmerkungen zu den vorgelegten Eckpunkten. Zen-
tral ist uns die realistische Risikobewertung bei der Be-
reitstellung von Eigenkapital. Die Investments können
im schlechtesten Fall vollständig aufgezehrt werden.
Über dieses Risiko sollten sich alle Beteiligten klar sein
und es einkalkulieren. Insbesondere wird die ins Auge
gefasste Beteiligungsgesellschaft – unabhängig von der
gesellschaftsrechtlichen Form – durch eine Lernkurve
gehen und Anfangsverluste in Kauf nehmen müssen.
Und in der Sache selbst steckt natürlich ein anderes Ri-
siko als das klassische Kreditrisiko: Wir können nicht
so agieren, als könnte man die Eigenkapitalrisiken wie
bei einem Kredit kontrollieren. Dies ist illusorisch. Die
Besonderheiten des Geschäftsfeldes müssen auch bei
der Risikosteuerung und den angewandten Steuerungs-
modellen berücksichtig werden. Dies gilt unabhängig
davon, ob die ins Auge gefasste Beteiligungsgesellschaft
innerhalb oder außerhalb der KfW gegründet wird.
Auch sollten wir die bisherigen KfW-Erfahrungen
im Bereich Equity berücksichtigen. 2004 hat man sich
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 201723040
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sprunghaft aus dem Beteiligungsgeschäft verabschiedet.
Damit hat man einen schlagartigen Verlust von Know-
how in der Equity-Finanzierung hingenommen. Die
entsprechenden Lehren zu ziehen, sich des langfristigen
Zeithorizonts des Engagements bewusst zu machen, ist
unabdingbar. Bei volatilen Entwicklungen mit kurzfris-
tigen Werteinbußen darf nicht panisch das Geschäftsfeld
abgebaut werden. Wir brauchen Nachhaltigkeit. Es muss
die Entwicklung einer Lernkurve, der Aufbau von Know-
how ermöglicht werden.
Neben den Strukturen innerhalb einer künftigen Ge-
sellschaft ist der Blick auf das Umfeld mindestens ge-
nauso wichtig. Wie wir in der Anhörung unisono gehört
haben, ist die Aktivierung privaten Kapitals „der Fla-
schenhals, durch den wir müssen“. Aufgrund der beihil-
ferechtlichen Vorgaben ist es wesentlich, dass zugleich
zusätzliches privates Kapital aktiviert wird. Hierzu gibt
es beispielsweise in Dänemark oder Österreich bereits
Erfahrungen, von denen wir in Deutschland profitieren
können und müssen.
Am Ende des Tages ist das heute angestoßene Projekt
auch eine „Kulturfrage“; denn Innovationen und Grün-
dergeist erfordern eine gewisse Risikobereitschaft, die in
Deutschland oft noch vermisst wird. Hier muss es gerade
die Aufgabe für uns Politiker sein, das gesellschaftliche
Umfeld zu entwickeln. Ein von mir persönlich bereits
mehrfach vorgetragener Vorschlag ist ein mindestens
vierwöchiges Praktikum in einem Unternehmen für je-
den Schüler, unabhängig vom Schultyp, und nach Mög-
lichkeit einzelne Besuche in Unternehmen schon im Vor-
schul- und im Grundschulalter. Aber in diesem Bereich
gibt es sicher noch viele weitere kreative Ideen; sie müs-
sen nur umgesetzt werden.
Wenn wir das Umfeld der Unternehmen in den Blick
nehmen, benötigen wir – neben der Finanzierung – eine
schnellere Entwicklung der Rahmenbedingungen, also
zum Beispiel Datensicherheit, aber auch solche Din-
ge wie Änderungen im Personenbeförderungsgesetz in
Hinblick auf internetgestützte Mobilität oder rechtliche
Rahmenbedingungen für das autonome Fahren. Sie sind
entscheidend für den Erfolg neuer, innovativer Unterneh-
men. Dabei haben wir eine Schere zwischen Anforderun-
gen der Gesellschaft an spezifischere, den individuellen
Gegebenheiten der einzelnen Person oder Personengrup-
pe genügenden Regelungen einerseits und den immer
schnelleren technischen und damit auch gesellschaftli-
chen Änderungen auf der anderen Seite.
Wir Grüne werden den Prozess weiterhin sehr kon-
struktiv begleiten. Über die Parteigrenzen hinweg gilt es
hier, Deutschland in Richtung Innovationsfreundlichkeit
und Gründungskultur zu entwickeln. Ich kann nur hoffen,
dass sich die konservativen Kräfte in der Union und der
SPD hier nicht als zu stark erweisen, ganz zu schweigen
von den rückwärtsgewandten Aussagen mancher Popu-
listen, wobei Risiken nicht an die Seite geschoben wer-
den dürfen; sie müssen adressiert und lösungsorientiert
eingedämmt werden. Natürlich brauchen wir bei den auf
uns zukommenden Herausforderungen und Veränderun-
gen Augenmaß, aber auch Mut für die Zukunft. Wir Grü-
ne haben diesen.
Dirk Wiese (SPD): Wir beraten heute den Entschlie-
ßungsantrag des Deutschen Bundestages zum Anpas-
sungsvertrag ERP-Förderrücklage. Ich sehe das heute als
Meilenstein. Wir haben in dieser Legislaturperiode eine
wichtige Wegstrecke bei der Stärkung der Start-up-För-
derung und der Beteiligungsfinanzierung hinter uns ge-
legt. Wir haben Förderinstrumente wie das Programm
INVEST ausgebaut und gesetzgeberische Maßnahmen
ergriffen, etwa den neuen § 8d Körperschaftsteuergesetz
zum Erhalt des Verlustvortrags.
Auch dieser heute vorliegende Antrag zeigt, dass die
Bundesregierung auf diesem Weg intensiv vom Parla-
ment begleitet wurde und parlamentarische Interessen
stark in den Prozess und in die Sache eingebracht wer-
den. Denn wir stimmen heute nicht nur der Härtung eines
Kapitalbestandteils des ERP-Sondervermögens in der
KfW in Höhe von 4,65 Milliarden Euro zu. Wir legen
hier und heute auch die Richtschnur zur Stärkung der Be-
teiligungsfinanzierung in Deutschland.
Hier hat Deutschland Nachholbedarf. Insbesondere
junge innovative Unternehmen können nur mithilfe von
Risikokapital gründen und wachsen. Und dieses Angebot
gilt es zu stärken! Wir streben im Vergleich zu 2016 eine
Verdopplung des Wagniskapitalvolumens durch Privat-
wirtschaft, Bund, KfW und EU an. Dies wollen wir auf
zweierlei Weise schaffen. In einem ersten Schritt wollen
wir gemeinsam mit der KfW die bestehenden Wagnis-
kapitalangebote wie Hightech Gründerfonds, Coparion
und ERP-VC-Fondsinvestments ausbauen. Des Weiteren
wollen wir bis Juni dieses Jahres in Zusammenarbeit mit
der KfW ein kohärentes Konzept zum Aufbau beteili-
gungsspezifischer Strukturen und Prozesse erstellen.
Die Expertenanhörung im Wirtschaftsausschuss am
22. März 2017 hat gezeigt, dass Ziel sein muss, private
Mittel für Beteiligungsfinanzierung anzuziehen. Die Ex-
perten haben sich deutlich für die Schaffung eigenständi-
ger Strukturen im Rahmen einer KfW-Tochter – Beteili-
gungsgesellschaft – ausgesprochen. Damit wird man auf
dem Markt sichtbar und gibt ein dauerhaftes verlässliches
Signal. Deutlich wurde auch, dass ein schnell agierender
Marktpartner gefordert ist, der in seinen Entscheidungs-
prozessen mit privaten Kapitalgebern mithalten und bei-
hilfefrei agieren kann.
Wir werden gemeinsam mit der KfW jetzt Strukturen
erarbeiten, die dieses ermöglichen sollen. Wir werden
den Deutschen Bundestag auch weiterhin in diesem Pro-
zess beteiligen und bis Juni 2017 ein Konzept übermit-
teln.
Mit dieser Initiative schaffen wir wesentliche Voraus-
setzungen für die Innovationskraft unserer Volkswirt-
schaft und stärken den Standort Deutschland. Ich bitte
um Ihre Zustimmung zum Entschließungsantrag.
Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Abgeordne-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 23041
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ten Annette Groth, Inge Höger, Wolfgang Gehrcke,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE: Willy-Brandt-Korps für eine solidarische
humanitäre Hilfe (Tagesordnungspunkt 25)
Frank Heinrich (Chemnitz) (CDU/CSU): Im Mai
vergangenen Jahres haben wir über diesen Antrag ge-
sprochen, und ich hatte damals schon die Gelegenheit,
hierzu Stellung zu beziehen. Wir standen kurz vor dem
ersten Humanitären Weltgipfel in Istanbul. UN-General-
sekretär Ban Ki-Moon lud selbst dazu ein.
Ich freue mich, zu sehen, dass sich das öffentliche
Verständnis und die staatliche Bereitschaft in den vergan-
genen Monaten weiter zum Positiven gewandelt haben.
Bürgerinnen und Bürger verstehen immer besser, warum
es so wichtig ist, dass wir humanitäre Hilfe wie auch Ent-
wicklungszusammenarbeit leisten. Und die Bundesregie-
rung hat für dieses Jahr 1,2 Milliarden Euro des Bundes-
haushaltes für die Humanitäre Hilfe vorgesehen. Das ist
gut, doch es ist auch notwendig!
In dem Antrag werden als Begründung für die For-
derung nach einem Willy-Brandt-Korps die großen He-
rausforderungen an die internationale Hilfe genannt.
Der Finanzierungsbedarf allein von Organisationen der
Vereinten Nationen war 2015 nicht einmal zur Hälfte ge-
deckt. Deshalb stimme ich Ihnen zu: Ja, wir müssen die
humanitäre Hilfe mehr in den Fokus rücken. Und dabei
müssen wir uns auch die Freiheit lassen, diese neu zu
denken.
Dass Planungssicherheit für Hilfsorganisationen be-
steht und eine enge Zusammenarbeit mit lokalen NGOs
gegeben sein muss, ist ein wichtiges Anliegen dieses An-
trags. Und ich denke, da kann die Internationale Gemein-
schaft noch besser werden, auch wenn wir hier schon in
die richtige Richtung gehen. Doch eine Konkurrenz zu
diesen NGOs und UN-Agenturen zu schaffen, sehe ich
als den falschen Weg an. Sie zu stärken und ihnen zu hel-
fen, dass sie ihre Arbeit sicher tun können, sollte unser
Anliegen sein.
Vor einigen Tagen waren spätabends noch Offiziere
bei mir im Büro. Während unseres Gesprächs bemerkte
eine von ihnen: Der Bundeshaushalt sieht doch vor, einen
gewissen Anteil des BIP an die Armee zu geben. Könnten
nicht 0,1 Prozent an die Arbeit der Heilsarmee gehen? –
Die Offizierin war eben von der Heilsarmee, und natür-
lich war die Frage von einem Augenzwinkern begleitet.
Auch wenn das natürlich schwierig ist, hat der Gedan-
ke einen wahren Kern. Wir müssen die unterstützen, die
vor Ort Hilfe leisten. Es muss sichergestellt sein, dass sie
die finanziellen Mittel, die Nahrung, das Personal haben,
um den Menschen in Not zu helfen. Wir können, nein,
wir dürfen es nicht akzeptieren, dass Kinder im Südsu-
dan teilweise mit zehn Liter Wasser pro Tag auskommen
müssen. Ich weigere mich, die Krise im Jemen oder in
Nigeria einfach zu vergessen und die Menschen dort ver-
recken zu lassen. Da müssen wir hinschauen. Und des-
halb bin ich dankbar, wenn wir die Gelegenheit haben,
diese Länder und das Schicksal einzelner Personen vor
Ort hier auf die Tagesordnung zu bringen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Die Lin-
ke, Sie fordern in Ihrem Antrag, dass Deutschland seine
internationale Verantwortung ausschließlich mit zivilen
Mitteln wahrnehmen soll. Genau hier liegt die Schiefla-
ge Ihrer Sichtweise. Sie lassen uns keine andere Wahl,
als den Antrag abzulehnen. Es wird nicht gefordert, zu-
nächst alle diplomatischen und zivilgesellschaftlichen
Instrumente zu nutzen. Die internationale Verantwortung
der Bundesrepublik Deutschland soll zukünftig ohne die
Bundeswehr wahrgenommen werden. Jedes militärische
Eingreifen wird ausgeschlossen.
Gerade das Beispiel Südsudan – erst vor ein paar
Stunden durfte ich zu der Lage vor Ort sprechen – zeigt,
dass die humanitäre Hilfe allein nicht die Probleme löst.
Diese Krise ist nicht Resultat einer Naturkatastrophe,
auch wenn El Niño natürlich die Situation noch verstärkt.
Doch der Bürgerkrieg, der seit über drei Jahren wütet,
kann nicht durch humanitäre Hilfe beendet werden. Die
Regierung vor Ort tut momentan fast nichts, um der ei-
genen Bevölkerung zu helfen. Warum soll Deutschland
hier politisch keine Verantwortung übernehmen? Unser
Botschafter in Juba ist es, der immer wieder mit dem Prä-
sidenten spricht und ihn darin bestärkt, mit den verschie-
denen ethnischen Gruppen in den Dialog zu treten. Ihr
Antrag lässt vermuten, dass Sie die naive These vertre-
ten, dass es nur schwarz oder weiß gibt, humanitäre Hil-
fe oder Kriegseinsatz. Aber dass dazwischen noch eine
Menge Spielraum ist, den wir nutzen können, ja nutzen
sollen, lässt ihr Antrag und ein Willy-Brandt-Korps, wie
Sie es fordern, gar nicht zu.
Nein, es ist ein Antrag, der die Bundeswehr abschaffen
und in eine Art zweites Technisches Hilfswerk umbau-
en will. Die Bundesregierung verfügt jedoch durch das
THW schon über einen sehr leistungsfähigen Akteur in
der Katastrophenhilfe. Es leistet technische Hilfe im Zi-
vilschutz und in der Katastrophenbekämpfung.
Das Engagement der über 80 000 ehrenamtlichen Hel-
ferinnen und Helfer des THW verdient unser aller Aner-
kennung. Deshalb haben wir im November letzten Jahres
beschlossen, die Mittel für das THW auf 260 Millionen
Euro aufzustocken und ein Förderprogramm zur Fahr-
zeugbeschaffung in Höhe von 100 Millionen Euro zur
Verfügung zu stellen. Damit erhält das THW insgesamt
170 zusätzliche Stellen. Und damit können insgesamt bis
2023 mehr als 621 Lkw und Bergungsräumgeräte ange-
schafft und ausgetauscht werden.
Hier wird schon viel erfüllt, was die Linken mit ihrem
Willy-Brandt-Korps fordern.
Unsere Bundeswehr als Parlamentsarmee hat einen
zentralen sicherheits- und friedenspolitischen Ansatz.
Sie schreiben in Ihrem Antrag, dass die Vermischung
von politischen, militärischen und humanitären Zielen
gefährlich ist. Da stimme ich Ihnen zu. Doch das Ziel,
Frieden, Sicherheit und Entwicklung in einem Land zu
schaffen, kann nicht nur auf einem Weg erreicht werden
und braucht ein Zusammenspiel vieler unterschiedlicher
Akteure.
Das Weißbuch 2016, das im vergangenen Jahr von
unserer Verteidigungsministerin vorgestellt wurde, zeigt
deutlich, wie wichtig dieses Zusammenspiel ist und dass
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dieses von der Bundesregierung ausdrücklich gefördert
wird. Dazu gehört die humanitäre Versorgung durch zi-
vile und öffentliche Organisationen, doch eben auch ein
Instrument, das es den Organisationen gewährleistet, zu
den Menschen in Not sicher zu gelangen und dabei nicht
selbst Zielscheibe von Gewalt und Krieg zu werden. Ge-
nau für diese Sicherheit sorgt unsere Bundeswehr. Das
Grundverständnis eines jeden Soldaten in der deutschen
Bundeswehr ist es, der Allgemeinheit zu dienen und für
das Wohl derer einzutreten, die sich selber nicht verteidi-
gen können oder wollen.
Es heißt nun, in dem Zusammenspiel Missbrauchs-
möglichkeiten zu minimieren, aber das Prinzip der ge-
meinsamen Zielerreichung voranzubringen und in guter
Zusammenarbeit Konflikt- und Krisensituationen immer
weiter zurückzudrängen. Doch Ideologien sind kein Er-
satz für eine verantwortungsbewusste wertegeleitete Au-
ßen- und Sicherheitspolitik.
Ich möchte meine Ausführungen schließen mit einer
persönlichen Erfahrung, die ich mit der Bundeswehr und
ihrem Einsatz gemacht habe, und das in dem nicht gerade
unumstrittenen Einsatz in Afghanistan. Die International
Security Assistance Force ist schon über 13 Jahre dort
vor Ort. Viel wurde seither erreicht. Deutschland betei-
ligt sich seit dem 1. Januar 2015 an Resolute Support
mit mittlerweile 980 deutschen Soldaten. In der Regi-
on Masar-i-Scharif konnte ich zusammen mit Kollegen
vor einiger Zeit mit verschiedenen Vorsitzenden lokaler
NGOs sprechen. Ich werde nie vergessen, wie sie uns für
den Einsatz unserer Bundeswehr dankten. Seit die deut-
schen Schutztruppen für Sicherheit sorgen, können ihre
Kinder wieder ungehindert Bildungsangebote und Ge-
sundheitsvorsorge wahrnehmen. Sie müssen keine Angst
mehr haben, dass die Taliban ungehindert um sich schie-
ßen kann. Natürlich gibt es auch kritische Stimmen, und
es wird nicht alles perfekt laufen; aber diese Begegnung
zeigt mir, wie wichtig der Einsatz unserer Bundeswehr
ist.
In der Erklärung „Gerechter Friede“ der deutschen Bi-
schöfe von 2000 heißt es: „Eine Welt, in der den meisten
Menschen vorenthalten wird, was ein menschenwürdi-
ges Leben ausmacht, ist nicht zukunftsfähig. Sie steckt
auch dann voller Gewalt, wenn es keinen Krieg gibt.“
Ich möchte werben und selbst dafür eintreten, dass im-
mer mehr Menschen das nicht nur wissen, sondern auch
erleben. Ich will, dass Menschen weltweit eine Zukunft
haben. Ich will, dass sie wissen, wer sie sind und was sie
ausmacht. Ich will, dass sie in Sicherheit leben können.
Dafür müssen wir humanitäre und politische Verantwor-
tung übernehmen. Doch manchmal ist eine militärische
Option eine letzte politische Notwendigkeit, um dieses
Ziel zu erreichen. Diese von vornherein komplett auszu-
schließen, halte ich für feige und verantwortungslos.
Dr. Ute Finckh-Krämer (SPD): Mit dem Antrag der
Linken wird ein wichtiges Thema angesprochen. Aller-
dings greift der Antrag zu kurz, denn wir haben bereits
Strukturen für internationale humanitäre und die Kata-
strophenhilfe. Es macht daher aus meiner Sicht keinen
Sinn, dafür ein neues Instrument zu entwickeln. Das wür-
de zu Doppelstrukturen führen, und genau die sollten wir
vermeiden, wenn wir effektive Hilfe leisten wollen.
Auf die Vielfalt der humanitären Hilfsorganisationen
in Deutschland bin ich bereits in der ersten Lesung des
Antrags am 12. Mai 2016 eingegangen.
In dem Antrag wird der Humanitäre Weltgipfel ange-
sprochen, der am 23. und 24. Mai 2016 abgehalten wur-
de. Ich habe in meiner Rede zur ersten Lesung zusätzlich
den Flüchtlingsgipfel in New York angesprochen, und
wir haben in diesem Haus nach dem Gipfel bereits über
die Ergebnisse diskutiert. Nun bietet sich die Gelegen-
heit, kurz Bilanz zu ziehen: Was haben wir auf dem Hu-
manitären Weltgipfel erreicht, was haben wir getan, was
ist noch zu erledigen?
Bei dem Gipfel ging es nicht um Finanzzusagen, son-
dern um strukturelle Reformen der globalen humanitä-
ren Hilfe. Deutschland hat auf dem Gipfel insbesondere
zugesagt, die finanziellen Strukturen zu stärken und ei-
nen Paradigmenwechsel hin zu vorausschauender Hilfe
zu unterstützen. Konkret wollen wir insbesondere den
Schutz für Klimaflüchtlinge stärken.
Bereits im Jahr 2012 hat Deutschland damit begon-
nen, Mechanismen für vorausschauende Hilfe zu etablie-
ren. Am 1. Juli 2016 hat es zusammen mit Bangladesch
den Vorsitz der „Platform on Disaster Displacement“
übernommen. Wir befinden uns gerade in der Testpha-
se des Aufbaus eines Systems, das Vorwarnungen und
damit schnelle Handlungsfähigkeit im Katastrophenfall
ermöglicht. Diese Aktivitäten werden vom Deutschen
Roten Kreuz unterstützt.
Auf dem Gipfel haben wir 174 Zusagen über die ge-
meinsamen Vereinbarungen hinaus gegeben. Auf der
„Platform for Action, Commitments and Transforma-
tion“, PACT, sind die Zusagen aller Teilnehmerstaaten
des Gipfels veröffentlicht. Sie lassen sich dort nachlesen.
Fortschritte bei der Umsetzung können die Akteure dort
selbst eintragen.
Organisatorisch will ich besonders die Rolle des Bü-
ros der Vereinten Nationen zur Koordinierung der Huma-
nitären Hilfe – Office for Coordination of Humanitarian
Aid, OCHA – betonen. Es soll die Umsetzung der Vor-
haben des Gipfels beobachten und darüber regelmäßig
Bericht erstatten.
Ich komme zur deutschen humanitären Hilfe. Mit Ih-
rem Antrag ignorieren Sie die humanitäre Hilfe, die wir
in Zusammenarbeit mit Hilfsorganisationen und Nichtre-
gierungsorganisationen bereits leisten. Die Koalition hat
auf Betreiben der SPD die Mittel für humanitäre Hilfe
dauerhaft deutlich erhöht und dem realen Bedarf ange-
nähert.
Darüber hinaus haben wir bereits eine funktionierende
technische Institution, das Technische Hilfswerk, THW,
das nationale und internationale Katastrophen- und hu-
manitäre Hilfe leistet. Das THW führt Projekte mit den
Vereinten Nationen durch und ist in den Zivil- und Ka-
tastrophenschutz der Europäischen Union bestens inte-
griert. Es war schon in mehr als 130 Ländern im Einsatz.
Als Beispiele will ich die Unterstützung bei der Flut in
Polen 2010 und die Hilfe für die Menschen in Indonesi-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 23043
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en nach dem Tsunami 2004 nennen. Sie sehen: Mit dem
Vorschlag der Linken würden wir nicht etwas qualitativ
Neues, sondern lediglich Doppelstrukturen schaffen.
Das andere große Thema, gerade angesichts der ka-
tastrophalen humanitären Lage im Nahen und Mittleren
Osten, ist die Flüchtlingsfrage. Deutschland leistet in
großem Umfang humanitäre Hilfe in der Region. Auch
das THW war dort am Aufbau von Flüchtlingsunter-
künften und der Versorgung von Flüchtlingslagern mit
funktionierenden Wasser- und Abwassersystemen be-
teiligt. Deutschland hat in den letzten Jahren zusätzlich
eine große Zahl von Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlin-
gen aufgenommen. Hier möchte ich besonders auf die
vielen Menschen in Deutschland hinweisen, die täglich
dabei helfen, Flüchtlinge zu integrieren. Leider war es
in der Europäischen Union nicht möglich, zu einer ein-
heitlichen Flüchtlingspolitik zu kommen. Die bisherigen
Ergebnisse, wie das Abkommen mit der Türkei und die
Abgrenzungspolitik im Mittelmeer, sind auf Dauer keine
Lösung. Wer glaubt, dadurch das Flüchtlingsproblem lö-
sen zu können, denkt völlig unrealistisch.
Im letzten Jahr gab es im September zwei Gipfel in
New York zu diesem gegenwärtig dringlichsten humani-
tären Problem der globalen Flucht und Zwangsmigrati-
on: den Flüchtlingsgipfel der Vereinten Nationen in New
York und, auf Einladung des damaligen US-Präsidenten
Barack Obama, einen Gipfel, der konkrete Hilfszusagen
bringen sollte. Auf dem Weltflüchtlingsgipfel der Verein-
ten Nationen wurde beschlossen, bis 2018 einen globalen
Flüchtlingspakt zu erarbeiten. Zum US-Flüchtlingsgip-
fel, bei dem unter anderem auch Deutschland Mitgast-
geber war, haben die 52 teilnehmenden Länder die Zu-
sage gemacht, 360 000 Flüchtlinge aufzunehmen. Am
Ergebnis beider Gipfel kann man sehen, dass trotz Fort-
schritten die Arbeit mühsam bleibt. Außerdem wurden
Maßnahmen vereinbart, die Bildungs- und Ausbildungs-
möglichkeiten für Flüchtlingskinder und Jugendliche zu
verbessern. Solange man nicht auf der internationalen
Ebene zu substanziellen Verbesserungen kommt, können
wir nur mit den Mitteln, die wir haben, arbeiten und diese
Schritt für Schritt verbessern.
Wie ich am Humanitären Weltgipfel und dessen Fol-
low-up-Prozess gezeigt habe, engagiert sich Deutschland
intensiv. Wir sollten weiterhin die bestehenden Struktu-
ren, national und international, unterstützen und in ihrer
Handlungsfähigkeit stärken. Die Vielfalt der bestehenden
Organisationen mit unterschiedlichen Kompetenzen und
Fähigkeiten bieten eine gute Grundlage dafür.
Zusammenfassend kann ich sagen: Obwohl der Antrag
wichtige Themen anspricht und es gut und notwendig ist,
darüber zu diskutieren, fehlen die Voraussetzungen für
eine Zustimmung. Ich denke, wir befinden uns mit unse-
rer Politik auf einem guten Weg.
Inge Höger (DIE LINKE): Nach Angaben des Aus-
wärtigen Amtes vom letzten Jahr hat sich die Zahl der
Menschen, die dringend auf humanitäre Hilfe angewie-
sen sind, in den letzten zehn Jahren vervierfacht: Welt-
weit sind es heute mindestens 125 Millionen. Die welt-
weite humanitäre Lage bleibt unübersehbar. In Ostafrika
bedroht derzeit eine Hungersnot das Leben Tausender
Menschen; aktuell gibt es Hungertote im Nordosten Ni-
gerias, in einigen Dörfern dort leben keine Kinder unter
fünf Jahren mehr. Weltweit zählen wir über 40 Millionen
Binnenflüchtlinge und mehr als 20 Millionen Menschen,
die außerhalb ihres Heimatstaates Zuflucht suchen. Ex-
treme Armut, Hunger, Wassermangel, fehlende Gesund-
heitsversorgung und Epidemien verlangen dringend tat-
kräftige humanitäre Hilfe.
Das millionenfache Leid ist keine zufällige Entwick-
lung. Eine Ursache sind ungleiche Handelsbeziehungen.
Insbesondere durch westliche Freihandels- und Inves-
titionsschutzabkommen werden Entwicklungsländer
wirtschaftlich geschröpft und ihre sozio-ökonomischen
Grundlagen zerstört. Zunehmend entzieht ebenso der
Klimawandel vielen Menschen ihre Lebensgrundlage,
insbesondere durch Dürren und Flutkatastrophen. Der
Klimawandel, der sowohl zu Überschwemmungen als
auch zu verheerenden Dürreperioden führt, ist das Pro-
dukt der profitorientierten Wirtschaftsaktivität der west-
lichen Industriestaaten.
Eine wichtige Ursache der sozialen Zerstörung sind
zudem Kriege, welche durch zahlreiche westliche Mili-
tärinterventionen und Rüstungsexporte geschürt werden.
Unter den größten Herkunftsländern bei Geflüchteten
befinden sich beispielsweise Afghanistan und Somalia.
Das sind Staaten, in denen die Bundeswehr seit Jahren in
militärischen Auslandseinsätzen aktiv ist, vorgeblich zur
Herstellung von nationaler Sicherheit und zum Schutz
der Bevölkerung. Real geht es um die Umsetzung geopo-
litischer und geoökonomischer Interessen.
Statt dieser Militärinterventionen muss die Bundesre-
gierung ihre internationale Verantwortung deutlich mehr
und ausschließlich zivil wahrnehmen. Im Haushaltse-
tat für 2017 ist eine derartige Strategie nicht erkennbar.
Während lediglich rund 1,2 Milliarden Euro für huma-
nitäre Hilfsmaßnahmen bereitstehen, steigt der Wehretat
um 2,7 Milliarden Euro auf insgesamt über 37 Milliarden
Euro. Obwohl die Bundeswehr explizit keinen humani-
tären Auftrag hat, greift die Bundesregierung bei großen
Krisen immer wieder auf die personelle und logistische
Infrastruktur der Bundeswehr zurück. Eine auf Kriegs-
führung spezialisierte Armee im Einsatz für humanitäre
Hilfsmaßnahmen bedeutet eine Vermischung militäri-
scher Interessen mit ureigenen zivilen Aufgaben!
Für den Schutz der Bevölkerung in akuten Krisensi-
tuationen sind zivile Maßnahmen zur humanitären Ver-
sorgung der richtige Schritt. Entscheidend ist dabei, dass
ausreichend finanzielle Mittel vorhanden sind, die nöti-
ge Schnelligkeit gegeben ist und die beteiligten Akteure
aufeinander abgestimmt arbeiten. Nötig sind zivile Ka-
pazitäten; dazu gehören Transportflugzeuge, Hubschrau-
ber, Schiffe, Lastwagen, mobile Krankenhäuser sowie
Logistikzentren und weitere technische Hilfsmittel. Das
sind notwendige Voraussetzungen, um in Katastrophen-
gebieten flexibel Hilfe leisten zu können. Für eine zivile
humanitäre Hilfe müssen diese durch Konversionsmaß-
nahmen aus dem Bestand der Bundeswehr umgerüstet
oder notfalls neu angeschafft werden.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 201723044
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(B) (D)
Deshalb beantragt die Linke, logistische Hilfe ab so-
fort durch eine unabhängige Instanz und nicht über die
Bundeswehr zu organisieren. Die Aufstellung eines zivi-
len Willy-Brandt-Korps für internationale Katastrophen-
hilfe, ein Gemeinschaftswerk aus zivilgesellschaftlichen
und öffentlichen Organisationen, ist unseres Erachtens
die richtige Antwort auf den genannten massiven Bedarf
an humanitärer Hilfe und die dafür benötigte Infrastruk-
tur. Auf diese Weise kann die Neutralität von humanitärer
Hilfe gewährleistet werden. Eine feste und ausreichende
Finanzierung muss sichergestellt werden, eine zuver-
lässige Koordinierung gewährleistet und die öffentliche
Kontrolle über die internationale humanitäre Hilfe der
Bundesregierung verbessert werden.
Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Der Antrag der Linken fordert, jegliches militäri-
sches Engagement im Ausland abzuschaffen. Das betrifft
also auch die friedenserhaltenden Missionen der Verein-
ten Nationen, die ja weitgehend gewaltfrei – wenn auch
mit militärischer Unterstützung – zivile Ziele verfolgen.
Damit fordert die Linke, eines der wichtigsten frieden-
spolitischen Instrumente, das die Weltgemeinschaft be-
sitzt, abzuschaffen.
Dass die Aufgabe der friedenserhaltenden Missionen
unendlich schwierig ist, ist keine Frage. Das ist aber kein
Grund, sie nicht anzugehen; denn dass die UN-Friedens-
missionen in zahlreichen Konfliktregionen dieser Welt
Entscheidendes geleistet haben, kann niemand ernst-
haft bezweifeln. Dabei haben sie keinen militärischen
Kampfauftrag, vielmehr werden militärische Kapazitä-
ten eingesetzt, um Zivilisten vor Angriffen bewaffneter
Gruppen zu schützen, um Kombattanten zu entwaffnen,
um einen Friedensschluss zu begleiten, Wahlen zu si-
chern oder zwei Kriegsparteien zu trennen, bis eine Ei-
nigung erzielt ist. Über 70 Missionen sind in den letzten
70 Jahren entsandt worden. Über 22 000 Zivilisten arbei-
ten heute in den Friedensmissionen der Vereinten Natio-
nen, ebenso wie über 100 000 Soldatinnen und Soldaten
und 12 000 Polizeikräfte.
Die Aufgaben der Blauhelme sind über die Jahre im-
mer komplexer, immer vielfältiger geworden. Der Bedarf
an Friedenssicherung war nie größer als heute, und die
finanziellen, personellen und materiellen Kapazitäten,
die die Mitgliedstaaten bereitstellen, reichen nicht aus,
um diesen Bedarf zu decken. Immer noch wird ungleich
mehr Geld aufgewendet, um Kriege vorzubereiten, als
um Frieden zu schaffen. Dennoch – und unter teilweise
widrigsten Umständen – haben die Vereinten Nationen
in den letzten Jahren die Friedensprozesse in Liberia, in
Sierra Leone, in Nepal, in Timor-Leste, in der Elfenbein-
küste, in Guinea-Bissau, in Haiti vorangebracht. Derzeit
stehen der Kongo, Mali, Kolumbien, die Zentralafrika-
nische Republik oder der Süd-Sudan auf der Tagesord-
nung, aber auch rein politische Vermittlungsbemühungen
in Libyen oder Syrien.
Diese Missionen, so verschieden ihre Aufgaben auch
sein mögen, sind vor allem dann erfolgreich, wenn sich
die Kriegsparteien dem Friedensprozess verpflichtet füh-
len und wenn die internationale Gemeinschaft sie dabei
tatkräftig unterstützt. Es geht also nicht darum, einen
Krieg mit militärischen Mitteln zu beenden, sondern da-
rum, den gesellschaftlichen Frieden und die Menschen-
rechte so zu etablieren helfen, dass der Rückfall in Krieg
und Konflikt unwahrscheinlich wird. Das hat die Linke
offenbar missverstanden.
Nun möchte die Linke statt alledem ein national orga-
nisiertes „Korps“ entsenden, also Deutsche, die in aller
Welt „helfen“. Die Probleme, die die humanitäre Hilfe
heute hat – vom Fehlen der Mittel, über die schwierige
Koordination der zahlreichen Hilfsorganisationen bis hin
zum Problem, die Betroffenen im Bombenhagel über-
haupt zu erreichen –, werden aber sicherlich nicht durch
eine weitere Truppe nichtlokaler, westlicher „Experten“
gelöst, die dann vor Ort im Weg herumstehen.
Wir haben zwar eine hoch angesehene Organisation
für Katastrophenhilfe, das Technische Hilfswerk. Dieses
kommt in dem uns vorliegenden Antrag aber gar nicht
vor, ebenso wenig wie die zahlreichen humanitären
Hilfsorganisationen, die hervorragende Arbeit leisten.
Eine – wie die Linke will – deutsche „zivil humanitäre
Dachstruktur“ brauchen sie nicht.
Welchen Vorteil ein neu zu gründendes, deutsches
Willy-Brandt-Korps haben soll, ist also nicht ersichtlich.
Im Gegenteil, viele der Schwierigkeiten, die die humani-
täre Hilfe heute plagen, würden mit einem solchen Korps
ja noch verstärkt. Dringend benötigte Mittel würden von
etablierten und gut funktionierten Organisationen ab-
gezogen, und die humanitäre Hilfe würde nationalisiert
anstatt internationalisiert werden, obwohl sie ein von
Grund auf multilaterales Unterfangen ist und sein muss.
So scheint das Willy-Brandt-Korps nur ein ideologi-
scher Schlenker zu sein auf dem Weg zum eigentlichen
Ziel: Deutschland nimmt seine internationalen Ver-
pflichtungen ausschließlich mit zivilen Mitteln wahr. –
Wir sollen uns also in unverantwortlicher Weise vom
UNO-System verabschieden und überlassen die Verant-
wortung für die internationale Ordnung den anderen. Wir
suchen einen deutschen Sonderweg in die internationale
Isolation. Da treffen sich dann die Nationalisten von links
und rechts.
Anlage 9
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Ener-
gie:
– zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Eu-
ropäischen Parlaments und des Rates über den
Elektrizitätsbinnenmarkt (Neufassung)
KOM(2016) 861 endg.; Ratsdok. 15135/16
– zu dem Vorschlag für eine Verordnung des
Europäischen Parlaments und des Rates zur
Gründung einer Agentur der Europäischen
Union für die Zusammenarbeit der Ener-
gieregulierungsbehörden (Neufassung)
KOM(2016) 863 endg.; Ratsdok. 15149/16
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 23045
(A) (C)
(B) (D)
hier: Stellungnahme gemäß Protokoll Nr. 2 zum
Vertrag von Lissabon (Grundsätze der
Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeits-
prüfung)
(Tagesordnungspunkt 26)
Thomas Bareiß (CDU/CSU): Die Europäische Uni-
on hat sich ehrgeizige Ziele gesetzt: Bis 2030 sollen
die Treibhausgasemissionen in Europa um mindestens
40 Prozent reduziert werden, die Energieeffizienz soll
um bis zu 30 Prozent gesteigert werden, und die erneu-
erbaren Energien auf einen Mindestanteil von 27 Prozent
am europäischen Stromverbrauch ausgebaut werden.
Diese Ziele machen deutlich: Unsere Energieversor-
gung wird sich auch auf europäischer Ebene radikal wan-
deln. Volatile erneuerbare Erzeugung wird zunehmen,
konventionelle Kraftwerke kommen weniger zum Ein-
satz, Energieeffizienz muss angereizt und Instrumente
zur Senkung der Treibhausgasemissionen im Verkehrs-
und Wärmesektor müssen entwickelt werden. Uns sind
diese Herausforderungen aus der Umsetzung der deut-
schen Energiewende teils gut bekannt.
Mit dem Winterpaket „Saubere Energie für alle Eu-
ropäer“ hat die Europäische Kommission ein umfassen-
des und teils komplexes Rechts- und Regelungspaket
vorgelegt, das diese Herausforderungen adressiert. Die
ambitionierten Ziele werden mit einem konkreten regu-
latorischen Rahmen für die ganze EU hinterlegt, um so
gemeinsam den Wandel unserer Energieversorgung zu
meistern. Das ist zu begrüßen; denn die Energie- und
Stromversorgung macht an den Staatsgrenzen nicht halt.
Der europäische Energiebinnenmarkt ist eine große
Errungenschaft der Europäischen Union. Eine rein na-
tionale Energieversorgung ist kaum noch denkbar. Der
gemeinsame Binnenmarkt sichert unsere Energieversor-
gung und sorgt für ausreichend Wettbewerb. Das kommt
den Verbrauchern in Form von wirtschaftlichen Ener-
giepreisen zugute. Diesen Binnenmarkt weiterzuentwi-
ckeln, ist richtig, und sieben Jahre nach Verabschiedung
des dritten Energiebinnenmarktpakets auch notwendig.
Die Grundausrichtung des europäischen Marktde-
signs, die von der Kommission vorgeschlagen wird,
findet sich bereits in unserer energiepolitischen Gesetz-
gebung wieder, wie zum Beispiel die freie Preisbildung,
der Wettbewerb der Flexibilitätsoptionen und die schritt-
weise Heranführung der erneuerbaren Energien an den
Markt.
Auch die ACER, die Agentur für die Zusammenarbeit
der Energieregulierungsbehörden, hat seit ihrer Grün-
dung im Jahre 2009 durchaus gute und wertvolle Arbeit
bei der Koordinierung der nationalen Energieregulie-
rungsbehörden geleistet.
Problematisch ist jedoch, dass in zwei zentralen
Rechtsakten des Winterpakets – die Elektrizitätsbin-
nenmarktverordnung und die ACER-Verordnung – eine
Fülle von Kompetenzerweiterungen vorgesehen sind, die
nicht mit den Grundsätzen der Subsidiarität und der Ver-
hältnismäßigkeit vereinbar sind. Es werden Sachverhalte
auf die europäische Ebene gezogen, die auf nationaler
Ebene bisher erfolgreich, auch mit unseren europäischen
Partnern, geregelt werden konnten.
Besonders hervorheben möchte ich die neuen Verfah-
ren zur Festlegung von Gebotszonen. Deutschland hat
bisher eine Preiszone. Bislang kann diese nur mit un-
serer Zustimmung aufgeteilt werden. Zukünftig soll die
EU-Kommission die Entscheidungskompetenz erhalten.
Das geht aus unserer Sicht zu weit. Gerade als Bundespo-
litiker ist es unsere Pflicht, zu gewährleisten, dass inner-
halb Deutschlands ähnliche Lebens- und Wettbewerbs-
bedingungen herrschen. Eine Aufteilung Deutschlands in
zwei oder mehrere Strompreiszonen würde dies massiv
konterkarieren. In Süddeutschland würden die Strom-
preise erheblich steigen. Im Norden würden erhebliche
Überkapazitäten am Strommarkt entstehen. Die Kompe-
tenz zum Erhalt der Strompreiszonen muss daher in der
Hand der Nationalstaaten bleiben. Nur so gibt es auch
ausreichend Anreize für einen schnellen Netzausbau in-
nerhalb unseres Landes.
Die primäre Aufgabe der ACER ist es, die Arbeit der
nationalen Energieregulierungsbehörden zu ergänzen
und zu koordinieren. Sie soll bewusst nicht die Arbeit der
nationalen Regulierer übernehmen. Aus unserer Sicht
hat sich die Arbeitsteilung bisher bewährt, und wir hal-
ten es für unangebracht, die Zuständigkeiten von ACER,
teils ohne Zustimmung des Parlaments und des Rats, zu
erweitern. Daher verstoßen bestimmte Regelungen der
ACER-Verordnung klar gegen das Subsidiaritätsprinzip.
Hinzu kommt, dass der Einfluss großer Mitgliedstaa-
ten innerhalb von ACER geschwächt werden soll. Her-
vorzuheben ist das Abstimmungsverfahren. Zwar gilt
bisher auch, dass jedes Mitgliedsland eine Stimme hat.
Aber zukünftig sollen Entscheidungen mit einfacher
Mehrheit getroffen werden. Bisher brauchte man dazu
eine Zweidrittelmehrheit. Notwendig ist daher aus unse-
rer Sicht eine Stimmgewichtung der Mitgliedstaaten wie
im Rat; große Mitgliedstaaten brauchen ein entsprechen-
des Stimmgewicht.
Mit der Subsidiaritätsrüge wollen wir klarmachen,
dass Kompetenzerweiterungen und Verhältnismäßig-
keit bei energiepolitischen Vorhaben der EU gewahrt
bleiben müssen. Das bedeutet nicht, dass wir eine ener-
giepolitische Weiterentwicklung auf europäischer Ebe-
ne verhindern wollen. Im Gegenteil: Die EU muss den
Binnenmarkt weiter vertiefen. Es bedarf jedoch einer
gemeinsamen europäischen Energiepolitik mit den Na-
tionalstaaten.
Barbara Lanzinger (CDU/CSU): Im vergangenen
November hat die Europäische Kommission umfassende
Legislativvorschläge veröffentlicht, die als „Winterpa-
ket“ unter dem Namen „Saubere Energie für alle Euro-
päer“ bekannt geworden sind. Dieses Paket ist sehr um-
fassend. Dabei ist nicht alles in dem Paket falsch; das
auszudrücken, ist nicht die Intention des vorliegenden
Antrags. Aber bei manchen Punkten geht die Europäi-
sche Kommission schlicht zu weit. Sie sind mit essen-
ziellen EU-Grundprinzipen nicht mehr vereinbar. Be-
stimmte Teile des Pakets verstoßen gegen das Prinzip der
Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit. Daher haben
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 201723046
(A) (C)
(B) (D)
wir uns in der Koalition für eine Subsidiaritätsrüge ent-
schieden.
Das Paket umfasst Regelungen beispielsweise zur
Erneuerbaren-Energien-Richtlinie, der Energieeffizi-
enz-Richtlinie, der ACER-Verordnung und der Elek-
trizitätsbinnenmarktverordnung. Dadurch soll der
EU-Energierahmen neu gestaltet werden und an neue
Gegebenheiten, beispielsweise an einen zunehmenden
Anteil erneuerbarer Energien, angepasst werden. Die
Energiewende in Europa und in Deutschland wird da-
durch entscheidend mitbestimmt.
Ich will betonen. Die grundlegende Intention dahin-
ter ist gut und richtig. Wir wollen und wir müssen die
Energiewende weiter gestalten, auch grenzübergreifend
und in Zusammenarbeit mit unseren europäischen Part-
nern. Es macht durchaus Sinn, manches auf EU-Ebene
zu regeln, länderübergreifende Kooperationen zu ver-
bessern, Koordinierungen effizienter zu gestalten, grenz-
überschreitend stärker zusammenzuarbeiten. Da liegt
noch viel Arbeit vor uns. Aber insbesondere die Rege-
lungen der ACER-Verordnung und der Elektrizitätsbin-
nenmarktverordnung des Winterpakets schießen über das
Ziel hinaus.
Subsidiarität kommt aus dem Lateinischen und be-
deutet sinngemäß „zurücktreten“ oder „nachrangig sein“.
Politisch bedeutet das in der EU, Regelungen auf der
Ebene vorzunehmen, auf der es sinnvoll ist – in Brüssel,
in Berlin oder oft doch vor Ort in einer Kommune. Im
Lissabon-Vertrag sind in Artikel 5 EUV die Prinzipien
der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit als unver-
rückbare Grundsätze festgelegt. Unter Absatz 3 heißt es:
„Nach dem Subsidiaritätsprinzip wird die Union in den
Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständig-
keit fallen, nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in
Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaa-
ten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler
Ebene ausreichend verwirklicht werden können, sondern
vielmehr wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf
Unionsebene besser zu verwirklichen sind.“ In Absatz 4
heißt es: „Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
gehen die Maßnahmen der Union inhaltlich wie formal
nicht über das zur Erreichung der Ziele der Verträge er-
forderliche Maß hinaus.“ Sowohl in der ACER- als auch
der Elektrizitätsbinnenmarktverordnung haben wir er-
hebliche Bedenken bezüglich dieser Grundprinzipien.
Exemplarisch greife ich einzelne Punkte heraus.
Vor dem Hintergrund des Artikels 5 EUV ist es nicht
zu erklären, dass die Europäische Kommission durch die
Elektrizitätsbinnenmarktverordnung die alleinige Ent-
scheidungskompetenz für die Frage des Gebotszonen-
zuschnitts innerhalb eines Mitgliedstaates erhalten solle.
Das bedeutet vereinfacht ausgedrückt, dass die Kommis-
sion darüber entscheiden kann, dass die Strompreise im
Süden Deutschlands stark steigen würden.
Vor dem Hintergrund des Artikels 5 EUV ist es nicht
zu erklären, dass durch die Elektrizitätsbinnenmarktver-
ordnung ganze Themenfelder in sogenannte delegierte
Rechtsakte übertragen werden können sollen. In einem
damit verbundenen Verfahren ist keine Zustimmung der
Mitgliedstaaten mehr vorgesehen. Das ist politisch sehr
fragwürdig, da dadurch ganze Themenbereiche mit gro-
ßer politischer Relevanz betroffen wären, aber auf Be-
amtenebene entschieden würden. Das ist unangemessen.
Es ist weiterhin nicht zu erklären, dass die EU-Kom-
mission durch die ACER-Verordnung unter bestimmten
Bedingungen zusätzliche Entscheidungskompetenzen
an die ACER-Behörde übertragen können soll. Bisher
konnten nur Aufgaben übertragen werden, die keine
Entscheidungskompetenz umfassen. Es ist die alleinige
Aufgabe des Unionsgesetzgebers, zu entscheiden, wer
welche Entscheidungsbefugnisse wahrnimmt! Auch die
geplante Abschwächung der Mehrheitsverhältnisse im
Regulierungs- wie im Verwaltungsrat der ACER ist nicht
gerechtfertigt.
Damit sind nur einige Punkte genannt.
Vor allem bei den im Antrag angesprochenen Punkten
sind wir davon überzeugt, dass die Ziele der Maßnah-
men gut auf nationalstaatlicher Ebene und nicht besser
auf EU-Ebene geregelt werden können. Daher lehnen wir
die Vorschläge ab.
Sehr geehrte Damen und Herren der Europäischen
Kommission, wir wollen mit Ihnen zusammen die Eu-
ropäische Union verbessern und weiterentwickeln, auch
im Bereich der Energiepolitik. Aber an dieser Stelle
schießen Sie über das Ziel weit hinaus. Die Prinzipien
der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit sind kei-
ne leeren Worthülsen und dürfen es nie werden. Nur mit
diesen Grundprinzipien kann dieses so vielfältige Europa
politisch funktionieren.
Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, die richtige
Balance zu finden. Bei den in unserem Antrag genannten
Punkten ist sie nicht gewahrt. Wir werden auch bei den
anderen Vorhaben des Winterpakets genau hinschauen,
wie es darum steht.
Johann Saathoff (SPD): Wie wir alle in den letz-
ten Jahren mehr und mehr erfahren haben, wird über die
deutsche Energiepolitik zunehmend auf europäischer
Ebene entschieden. Bei den EEGs, dem KWKG, dem
Strommarktgesetz und bei vielen anderen Vorhaben geht
nichts mehr ohne den Stempel aus Brüssel.
Außer für die Energiepolitik bin ich in meiner Frak-
tion auch für Fischereipolitik zuständig. Die europäi-
sche Fischerei ist seit über 30 Jahren vollständig verge-
meinschaftet. Als die Gemeinsame Fischereipolitik vor
wenigen Jahren reformiert wurde, kam es zu enormen
Kompetenzstreitigkeiten zwischen dem Europäischen
Parlament, dem Rat und der Kommission. Die Situation
stellte sich damals genauso wie heute dar: Die Kommis-
sion versucht, mittels delegierter Rechtsakte, also ohne
Beteiligung von Rat und Parlament, Kompetenzen an
sich zu ziehen. Sie darf das nach dem Lissabon-Vertrag
bei nicht-wesentlichen Teilen eines Gesetzgebungsaktes
tun.
Wir hatten nun einige Wochen Zeit, die ACER-Ver-
ordnung und die Strommarkt-Verordnung zu lesen; denn
nur um diese beiden Verordnungsentwürfe geht es heute.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 23047
(A) (C)
(B) (D)
Nach dem Studium dieser Verordnungsentwürfe kann
man sagen: Auch hier versucht die Kommission wie-
der, Kompetenzen an sich zu ziehen und Rat und Par-
lament gegeneinander auszuspielen. Und dabei geht es
eben nicht um nicht-wesentliche Bestandteile des Pakets,
sondern um entscheidende Fragen, wie zum Beispiel die
regionalen Betriebszentren, die Ausgestaltung von Netz-
kodizes oder eine mögliche Aufteilung in Gebotszonen.
Das sind für jeden Mitgliedstaat zentrale Fragen der
Energiepolitik, und die wollen wir auch zukünftig selbst
entscheiden. Das hat gar nichts zu tun mit Europafeind-
lichkeit, denn die Zuständigkeiten sind in den EU-Verträ-
gen klar geregelt. In unseren Augen geht es nur darum,
dass die Kommission hier versucht, sich unzulässiger-
weise Kompetenzen anzueignen.
In diesem Zusammenhang möchte ich noch meine
Sorge zum Ausdruck bringen, was künftige Entschei-
dungskompetenzen bei den angesprochenen Verord-
nungsentwürfen betrifft. Mag man es vielleicht noch
hinnehmen, dass die EU einzelne zentrale Fragen der
Energiepolitik im Sinne der Koordinierung und Verein-
heitlichung regeln möchte, so halte ich es aber nicht für
akzeptabel, dass sich die Entscheidungskompetenzen
auch mit diesen Entwürfen immer weiter vom Parlament
auch in der EU hin zur Exekutive verlagern sollen.
„So sitt Hark in’t Steel“, sagt man in Ostfriesland,
wenn man die Deutungshoheit über eine Sache behalten
möchte. Und genau um diese Deutungshoheit muss es
uns als Parlamentarier gehen.
Aus diesen Gründen freue ich mich, dass wir hier heu-
te als Parlament diese Subsidiaritätsrüge verabschieden
und uns damit in guter Gesellschaft mit einigen ande-
ren Mitgliedstaaten befinden. Damit stärken wir unse-
rer Bundesregierung bei den weiteren Verhandlungen in
Brüssel den Rücken, und selbstverständlich werden wir
auch die weiteren Verordnungen mit Blick auf das Subsi-
diaritätsgebot prüfen.
Auf jeden Fall bildet die heutige Debatte nur den Auf-
takt zu einem längeren Diskussionsprozess; denn bis zur
endgültigen Verabschiedung des Clean-Energy-Pakets
wird es noch eine ganze Zeit dauern.
Ich freue mich auf diese Debatte.
Dr. Nina Scheer (SPD): In Form des vorliegenden
Antrags befasst sich das Parlament mit der Frage, inwie-
fern Maßnahmen aus dem sogenannten EU-Winterpaket
bzw. „Saubere Energien für alle Europäer“ die Grundsät-
ze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit tangie-
ren bzw. gegen diese verstoßen.
Auch wenn der Antrag nur zwei Bereiche benennt –
die Elektrizitätsbinnenmarktverordnung sowie die
ACER-Verordnung –, möchte ich unterstreichen, dass
sich der Bundestag hiermit ausdrücklich vorbehält, auch
zu weiteren Aspekten des Vorschlagspakets Stellung zu
beziehen; denn das betreffende und noch im Einzelnen
zu beratende Paket erzielt solch grundlegende Neu-
strukturierungen zum Umgang mit Energie, dass hierbei
zwangsläufig auch Bereiche angesprochen sind, die aus-
weislich des Vertrages von Lissabon Angelegenheit der
Mitgliedstaaten sind.
Die mit dem EU-Energiepakt zu klärenden Fragen
werfen somit zugleich eine ganz grundsätzliche Frage
auf: Wie gehen wir mit Kompetenzüberschneidungen zur
Ausgestaltung des Binnenmarktes in EU-Zuständigkeit
auf der einen Seite und Artikel 192 sowie 194 des Vertra-
ges von Lissabon auf der anderen Seite um, wonach der
Energiemix Angelegenheit der Mitgliedstaaten ist? Dies
betrifft auch Maßnahmen, die die allgemeine Struktur
der Energieversorgung eines Mitgliedstaates erheblich
berühren.
Am Beispiel Deutschlands lässt sich gut erkennen,
wie sich dieses Spannungsverhältnis darstellt: Mit einem
wachsenden Anteil erneuerbarer Energien, insbesondere
Wind und Solar und damit sogenannten fluktuierenden
Energien, steigt der Bedarf an Flexibilitäten, um eine
Versorgung kontinuierlich aufrechtzuerhalten. Sinn-
vollerweise sind hierbei Synergien zu heben, sowohl in
Form einer Verknüpfung der Sektoren Strom, Wärme
und Mobilität als auch unter Einbindung von bereits vor-
handener oder auszubauender Infrastruktur. Wenn etwa
die Einbeziehung von Speichern sowohl mit Blick auf
kontinuierliche Verfügbarkeit von Energie als auch für
die Mobilität gelingt, ist dies ökonomisch sinnvoll und
lässt uns schneller sektorübergreifend den klimapolitisch
und ressourcenverknappungsbedingt notwendigen Um-
stieg auf erneuerbare Energien gelingen. Dies ist auch
aus Gründen der Gerechtigkeit wichtig: Nicht erst, wenn
der Klimawandel um sich greift und verknappte Ener-
gieressourcen zum Spekulationsobjekt werden, sollten
wir die Energiewende vollzogen haben. Die skizzierte
Entwicklung bedeutet aber auch, dass sich Fragen des
Energiemixes, des Einsatzes von Energie und Fragen der
Energievermarktung sowie Energieverbringung immer
enger miteinander verflechten. Damit wird ein Ausein-
anderhalten der unterschiedlichen Kompetenzen immer
schwerer.
Im Lichte der Subsidiarität und der geschilderten
Zusammenhänge erwarte ich, dass die Kommission ein
stärkeres Augenmerk darauf richtet, welcher Bereich der
Energiewirtschaft sinnvollerweise als Angelegenheit der
Mitgliedstaaten in deren Regelungshoheit verbleibt. Der
europäische Energiemarkt darf sich nicht überfordern. Er
sollte nicht stärker zusammenwachsen, als dies der Um-
gang mit dem jeweiligen Energiemix der Mitgliedstaaten
mit Blick auf alle Sektoren sinnvollerweise erlaubt.
Im Sinne der Subsidiarität sollten Staaten Netzma-
nagementaufgaben insoweit regelungstechnisch vorbe-
halten bleiben, wie dies mit Blick auf ihren jeweiligen
Energiemix sinnvollerweise ihrerseits zu regulieren ist.
So ist etwa die Änderung des ACER-Abstimmungs-
verfahrens kritisch zu sehen. Die Gestaltung des Ener-
giemarktes sollte wegen dessen Verquickung mit dem
nationalen Energiemix nicht den nationalen Gestal-
tungsmöglichkeiten entzogen werden. Andernfalls droht
insbesondere in solchen Staaten die Energiewende ins
Stocken zu geraten, in denen ein vergleichsweise hoher
Flexibilitätsbedarf besteht, somit in Staaten mit einem
wachsenden bzw. hohen Anteil erneuerbarer Energien.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 201723048
(A) (C)
(B) (D)
Damit würden wir weder unseren internationalen Klima-
schutzverpflichtungen gerecht noch den mit der Energie-
wende gegebenen Chancen.
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Da es unmög-
lich ist, die acht Dossiers zum Winterpaket der EU-Kom-
mission zusammen zu beraten, ist es gut, dass wir von
dem 4 300-seitigen Werk heute zunächst nur zwei Doku-
mente anberaten.
Zunächst ein paar Schlaglichter zum Winterpaket
insgesamt aus unserer Sicht. Das größte Manko: Das
Winterpaket basiert auf den veralteten EU-Klimaschutz-
zielen. Die Kommission hat bei ihren Vorschlägen offen-
sichtlich verdrängt, dass uns der Klimavertrag von Paris
Aufgaben gestellt hat, um die 1,5- bis 2-Grad-Grenze
nicht zu überschreiten. So orientiert es sich an dem, was
der Europäische Rat im Oktober 2014 beschlossen hat,
also lediglich 40 Prozent Treibhausgasminderung bis
2030, 27 Prozent-Erneuerbaren-Anteil und plus 27 Pro-
zent Energieeffizienz. Damit liegt Europa aber bei wei-
tem nicht auf einem Zielpfad, der zu rund 95 Prozent we-
niger Treibhausgasen bis 2050 führt.
In den einzelnen Vorschlägen ist nicht zu erkennen,
dass die Dekarbonisierung des Energiesektors oder der
rasante Ausbau der Erneuerbaren wirkliches Ziel der
Kommission ist. Schwerpunkte sind vielmehr Marktre-
geln für einen stärkeren Energieverbund und zudem selt-
same Governance-Regeln, die eigentlich nur kaschieren
sollen, dass es in der Energieunion an Verbindlichkeit der
Ziele für die einzelnen Mitgliedsländer mangelt.
Es gibt, isoliert betrachtet, ein paar positive Aspekte,
aber die sind schnell aufgezählt. So soll das Effizienzziel
für die EU insgesamt nun verbindlich sein, ähnlich wie
das EE-Ausbauziel. Allerdings mangelt es beiden daran,
dass die Verbindlichkeit nicht verteilt wird auf die Mit-
gliedstaaten. Es gibt also nur eine kollektive Pflicht der
EU-Länder zur Zielerreichung. Die Regeln zur Gover-
nance, die allerdings erst ab 2024 wirken sollen, sollen
dann einzelne Mitgliedstaaten irgendwie finanziell zur
Verantwortung ziehen. Bis dahin kann eigentlich jeder
machen, was er will. Das wird Europa in ärgste Schwie-
rigkeiten bei der Erfüllung der Klimaschutzziele bringen.
Nun zur Neufassung der Elektrizitätsbinnenmarkt-
verordnung. Das Paket erteilt beim Marktdesign zwar
Kapazitätsmärkten weitgehend eine Absage, der Ener-
gy-only-Markt soll hier Vorrang haben. Kapazitätsme-
chanismen, in denen alte Technologien überwintern kön-
nen, sind unter bestimmten Bedingungen dann aber doch
wieder zugelassen. Und in diesen Mechanismen dürfen
zwar infolge des eingezogenen Emissionsstandards –
550 g CO2 pro Kilowattstunde – Kohlekraftwerke nicht
mehr vergütet werden, der Einsatz von Atomkraftwerken
für diese Zwecke wäre jedoch nicht ausgeschlossen.
Eine der umstrittensten Fragen dieses Entwurfs ist,
inwieweit künftig der Einspeisevorrang für EE-Anlagen
gelten und wirken wird. Auch uns ist dies etwas unklar.
Zunächst schafft die Kommission den EE-Einspeisevor-
rang als „expliziten Grundsatz“ ab. Er soll aber zumin-
dest weitgehend ersetzt werden durch einen „relativen/
impliziten“ Einspeisevorrang im Rahmen des Einspei-
semanagements sowie durch Bestandsschutzklauseln.
Möglicherweise gibt es darüber hinaus einen Transpa-
renzgewinn durch erweiterte Berichts- und Rechtferti-
gungspflichten der ÜNB/VNB im Falle von Abregelun-
gen.
Was den Einspeisevorrang beim Dispatch betrifft, so
sind die Schwellenwerte für einen garantierten Marktzu-
gang bei Neuanlagen für Wind, PV und Biomasse wohl
kein Problem; denn in Deutschland liegen sie schließlich
mit der EEG-Festvergütung, also der garantierten Abnah-
me durch den Übertragungsnetzbetreiber, bis zur Leis-
tung von maximal 100 Kilowatt bereits heute unter je-
nen 250 Kilowatt, die die Kommission nun vorschreiben
will. Über diesen Wert hinaus muss jeweils verpflichtend
direkt an der Börse vermarktet werden. Weil die Markt-
prämie die EE-Differenzkosten deckt, der Betreiber also
seinen EE-Strom sicher los wird, kann man hier von
einem impliziten Einspeisevorrang sprechen, der auch
in Zukunft gewährt wird. Das gilt zwar in Deutschland
nicht für Situationen mit negativen Preisen länger als
sechs Stunden, aber das ist ein anderes Thema.
Die vorgeschlagene Grenze der EU-Kommission
wäre übrigens einmal Anlass, den Schwellenwert für die
Direktvermarktung in Deutschland von 100 auf 250 Ki-
lowatt zu erhöhen. Dann hätten Bürgerenergien wieder
mehr Chancen, an der garantierten Einspeisevergütung
zu partizipieren.
Der Einspeisevorrang ist nicht nur für den Dispatch
wichtig, sondern auch im Falle des Managements von
Netzengpässen. Im Rahmen dessen dürfen in Deutsch-
land erst dann, wenn Kohle und Atom auf die technische
Mindesterzeugung abgeregelt worden sind, wenn nötig,
auch Erneuerbare zwangsweise vom Netz, gegen 95-pro-
zentige Entschädigung. Wir wissen zwar, dass gegen die
Abregelungshierarchie in der Praxis häufig verstoßen
wird, weil sie kaum kontrolliert wird. Aber es gibt sie.
Nunmehr soll es hierbei nach dem Willen der Kommis-
sion künftig ein Primat eines „marktlichen Redispatchs“
geben, in den dann auch Erneuerbare einbezogen sein
würden. In Deutschland unterliegen dagegen momen-
tan sowohl das Einspeisemanagement der EE-Anlagen
als auch das Redispatch der konventionellen Erzeugung
überwiegend den Netzbetreibern.
Wir fragen uns, was von einem Vorrang für einen
„marktlichen Redispatch“ zu erwarten wäre. Nach mei-
nem Verständnis haben die Erneuerbaren eine hohe
Flexibilität und werden in einigen Fällen billiger abzu-
schalten sein als Kohlekraftwerke. Entsprechende Aus-
schreibungen, die etwa adäquat zum Regelenergiemarkt
stattfinden könnten, könnten sie gewinnen. Dabei verlö-
ren die EE-Betreiber zwar kein Geld, es ginge aber auf
Kosten des Klimaschutzes.
Sollte es stimmen, dass mit dem Entwurf der Bundes-
regierung weitgehende Entscheidungskompetenzen zur
Gestaltung der Netzentgeltsystematik entzogen werden,
so wäre dies zunächst kritisch zu sehen. Allerdings hat
die Bundesregierung diese Kompetenz bislang kaum im
Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher eingesetzt;
denn es werden weder bundesweit einheitliche Netzent-
gelte eingeführt noch unberechtigte Industrieprivilegien
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 23049
(A) (C)
(B) (D)
abgebaut, die andere über die hohen Netzentgelte bezah-
len.
Zum Schluss ein Wort zur Regulierungsbehörde
ACER. Koalition und Bundesregierung haben Beden-
ken, dass sich die EU-Behörde zu viel Kompetenzen auf
den Tisch zieht und vielleicht sogar Deutschland in zwei
Gebotszonen spalten könnte. Mein Vorschlag: Leiten Sie
zügig den Einstieg in den Kohleausstieg ein. Dann ent-
spannt sich auch die Netzsituation, und die Aufteilung in
zwei Strompreiszonen wäre gebannt.
Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Gestern, während in den verschiedenen Bundes-
tagsausschüssen Ihre Subsidiaritätsrüge beraten wurde,
war Theresa May unterwegs, um mit Artikel 50 den Bre-
xit zu notifizieren. Dies kam nicht überraschend; denn
der Austrittsantrag wurde seit dem Referendum vor neun
Monaten erwartet. Trotzdem ist es traurig, dass die Koa-
litionsfraktionen in den dunkelsten Stunden unserer Eu-
ropäischen Union erneut die Keule der Subsidiaritätsrüge
schwingen und sich zum Steigbügelhalter mancher An-
ti-Europäer machen. Erst in der letzten Sitzungswoche
erklärte Frau Strothmann von der CDU bei Ihrer letzten
KoA-Subsidiaritätsrüge, es wäre jetzt auch mal Zeit, dass
der Bundestag sich diesbezüglich nicht so zurückhalte.
Ähnliche Töne zu meinem Erschrecken nun auch von der
SPD im Wirtschaftsausschuss, wonach man Brüssel ja
schon lange einmal zeigen müsse, wer energiepolitisch
das Sagen hätte, und Brüssel ohnehin zu viel Energiepo-
litik betreibe.
Mit dem vorgelegten Winterpaket macht die Kommis-
sion einen Umsetzungsvorschlag für die Ratsschlussfol-
gerungen aus dem Oktober 2014. Dort war Ihre Bundes-
regierung durch die Bundeskanzlerin vertreten und hat
die Richtung vorgegeben.
Wenn wir uns hier und heute über die Ausreizung euro-
parechtlicher Vorgaben für die Energiepolitik verständi-
gen, dann gehört auch zur Wahrheit, dass die Staats- und
Regierungschefs damals weit über politische Leitlinien
hinausgingen und bis auf die letzte Kommastelle detail-
lierte Vorgaben für Energie- und Klimapolitik machten.
Damit schränkten sie den Spielraum der Kommission
extrem ein und verdealten nationale Egoismen. In den
Zielen wiederum waren diese Vorgaben energie- und
klimapolitisch viel zu schwach und reichen bei weitem
nicht aus, um unsere klimapolitischen Verpflichtungen
und Notwendigkeiten zu erfüllen.
Wenn wir heute hier Ihre zweite Subsidiaritätsrüge
innerhalb von drei Wochen behandeln, dann riecht das –
mit Verlaub – auch ein wenig nach plumpem Wahlkampf
auf Kosten der Europäischen Kommission. Damit, liebe
Kolleginnen und Kollegen von SPD und CDU, stellen
Sie sich wahlkampftaktisch in die Reihe von Verkehrs-
minister Dobrindt und seiner europafeindlichen Wahl-
kampfmaut. Zumindest haben Sie sich anders noch als
letzte Sitzungswoche diesmal zumindest die Mühe ge-
macht, nicht mehr nur die schlechte Vorlage Ihrer baye-
rischen Kollegen aus dem Bundesrat abzuschreiben, son-
dern sind auch wirklich bei den entscheidenden Punkten
in die Tiefe gegangen.
Bevor ich darauf im Detail eingehe, möchte ich aber
noch einmal betonen: Die Energiewende ist kein deut-
sches Projekt. Die Energiewende ist ein europäisches
Projekt und braucht gemeinsame europäische Politiken.
Hier kann die Kommission groß in großen Dingen sein,
wie es Präsident Juncker zu Beginn seiner Amtszeit ver-
kündete; denn der Umbau und die Modernisierung un-
serer Wirtschaft und Energiegewinnung zum Wohle un-
serer künftigen Generationen gehören zweifelsohne zu
den größten Dingen unserer Zeit. Und auch unser Ziel
„von den fossilen Energien auf 100 Prozent erneuerbare
Energien“ werden wir nur erreichen können, wenn wir es
europäisch angehen.
Die Kommission macht in ihrem Winterpaket dafür
auch einige gute Vorschläge. Manche Vorschläge sehen
auch wir kritisch; die müssen und werden wir im norma-
len Gesetzgebungsverfahren verändern und verbessern.
Grundlage der Vorschläge ist Artikel 194 AEUV. Da-
rin heißt es in Absatz 1: „Die Energiepolitik der Union
verfolgt im Geiste der Solidarität zwischen den Mitglied-
staaten im Rahmen der Verwirklichung oder des Funkti-
onierens des Binnenmarkts und unter Berücksichtigung
der Notwendigkeit der Erhaltung und Verbesserung der
Umwelt folgende Ziele:
a) Sicherstellung des Funktionierens des Energie-
markts;
b) Gewährleistung der Energieversorgungssicher-
heit in der Union;
c) Förderung der Energieeffizienz und von Energie-
einsparungen sowie Entwicklung neuer und er-
neuerbarer Energiequellen und
d) Förderung der Interkonnektion der Energie-
netze.“
Sie sehen: Selbst im Vertrag von Lissabon sind die
Ziele des Netzausbaus und der europäischen Netzverbin-
dung, der Ausbau der erneuerbaren Energien und die Ver-
besserung der Energieeinsparung festgeschrieben.
Zugespitzt könnte man vielleicht sogar sagen, dass Ihr
schwarz-rotes Festhalten an der schmutzigen und gefähr-
lichen Braunkohle, der schleppende Netzausbau und die
Belastung der Stromnetze unserer Nachbarn mit drecki-
gem deutschem Kohlestrom aus massiven Kohleüber-
kapazitäten dem Europarecht widerspricht, zumindest
unseren Zielen. Klar ist aber zumindest, dass Ihr diesbe-
zügliches Handeln in diesen Bereichen auch dazu geführt
hat, dass die Kommission hier aktiv werden muss.
Aber kommen wir zu den Details Ihrer Rüge. Subsi-
diarität bedeutet im engeren Sinne, dass die Europäische
Union in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche
Zuständigkeit fallen, nur tätig wird, sofern und soweit
die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den
Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler
oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden kön-
nen, sondern wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen
auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind.
Die Ministerien der Bundesregierung und auch die
Juristen des Bundestags haben nun festgestellt, dass
die beiden heute hier beratenen Verordnungsvorschläge
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 201723050
(A) (C)
(B) (D)
grundsätzlich mit dem Prinzip der Subsidiarität vereinbar
sind. Sie melden aber in Detailfragen Subsidiaritätsbe-
denken an. Diese Bedenken sind aus unserer Sicht auch
berechtigt. Die europäische Organisation von Gebotszo-
nen kann zwar grundsätzlich helfen, die Versorgungssi-
cherheit auch bei zunehmendem Anteil fluktuierender
Solar- und Windstromanteile im Netz stabil zu halten
und zu hohe Kosten sowie die Überkapazitäten zu ver-
hindern. Dies sollte aber im Einklang durch enge Koope-
ration der Mitgliedstaaten geschehen und nicht im allei-
nigen Zuständigkeitsbereich der Kommission liegen. Bei
der Frage unterstützen wir das Ansinnen der Koalition,
sagen aber auch, dass dies besser durch eine glaubhaf-
te und klare Arbeit der Bundesregierung statt durch eine
Subsidiaritätsrüge erreicht werden sollte.
Die Vorschläge zur Einrichtung regionaler Betriebs-
zentren sollten so ausgestaltet werden, dass die nationalen
und die für die Versorgungssicherheit verantwortlichen
Übertragungsnetzbetreiber sowie die Bundesnetzagentur
als zuständige Aufsichtsbehörde zwar in einem engen
Austausch mit den europäischen Nachbarstaaten zur Be-
wältigung der Herausforderungen eines zunehmend eu-
ropäisierten Netzverbunds und Energiemarkts stehen, in
letzter Instanz jedoch alleine entscheidungsbefugt blei-
ben. Hier kann man beim bewährten Prinzip bleiben und
die Verantwortung und Entscheidungsbefugnis für die
Netzführung in nationalstaatlicher Hand behalten, aber
gleichzeitig die grenzüberschreitende Kooperation for-
cieren. Und hier passiert auch Ihrerseits zu wenig.
Bei der Frage der Netzkodizes gemäß Artikel 55 des
Verordnungsvorschlags zum Elektrizitätsbinnenmarkt
erklären uns unsere Juristinnen: Die Kommission ist
nach geltendem Recht grundsätzlich befugt, Rechtset-
zungsakte ohne Gesetzgebungscharakter zu erlassen.
Diese als „exekutive Rechtsetzung“ bezeichnete und im
Vertrag von Lissabon – Artikel 290 AEUV – geregelte
Befugnis ermöglicht es ihr, innerhalb gewisser Grenzen
Elemente eines Sekundärrechtsakts durch einen biswei-
len sogenannten „tertiären“ Rechtsakt zu ändern.
Zu Recht wird kritisiert, dass die KOM hierzu nicht
ausreichend dargelegt hat, warum derartig weit gefasste
delegierte Rechtsakte notwendig sind.
Als Europäerinnen sollten wir alle sagen, dass die ge-
planten Maßnahmen sich der Regelungskompetenz für
die Themenbereiche einem ordentlichen parlamentari-
schen Verfahren entziehen und wir das ändern wollen.
Hierfür können wir die Bundesregierung auffordern und
sagen: Lasst uns die Netzkodizes nicht durch legitime,
aber zu weitreichende delegierte Rechtsakte klären, son-
dern vom tertiären Recht zurück ins sekundäre Recht
holen, zum Beispiel bei Regeln für den Netzanschluss
oder Netzzugang Dritter, Regeln für den Datenaustausch
und die Abrechnung, die Interoperabilität oder operative
Verfahren bei Notfällen. Dies können und wollen wir zu-
rück in eine Verordnung holen. Doch von dieser mögli-
chen Option hört man bei Ihnen nichts, und damit ist Ihre
Rüge ein reines Wahlkampfgetöse.
Die Subsidiaritätsrüge ist ein wichtiges Instrument. Sie
beweisen mit Ihrer Rüge auch, dass Brüssel nicht irgend-
wo weit weg ist, sondern wir Parlamentarier im Bundes-
tag ganz selbstverständlich Einfluss auf die Vorschläge
der EU-Kommission nehmen können. Wir wissen aber
auch, dass die Subsidiaritätsrüge eines der schärfsten
Schwerter ist, die uns in unserer demokratischen par-
lamentarischen Arbeit in Europa zur Verfügung stehen.
Dieses Schwert taugt nicht zum Säbelrasseln. Übermä-
ßiger Gebrauch macht es stumpf. Daher hoffen wir sehr,
dass Sie es nun nicht alle paar Wochen einsetzen.
Da wir Ihre materielle Kritik bei der Frage der Netz-
kodizes jedoch teilen und Nachbesserungen bei den regi-
onalen Betriebszentren und Gebotszonen sehen, enthal-
ten wir uns bei der Abstimmung über Ihren Antrag.
Anlage 10
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über das
Fahrlehrerwesen und zur Änderung anderer stra-
ßenverkehrsrechtlicher Vorschriften (Tagesord-
nungspunkt 27)
Karl Holmeier (CDU/CSU): Mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf realisieren wir ein Projekt, das wir im Ko-
alitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD vereinbart
haben: Wir verbessern die Ausbildung der Fahranfänger
und erhöhen die Qualität der pädagogischen Ausbildung
der Fahrlehrer. Wir kommen mit dem Gesetzentwurf
auch einer Bitte der Verkehrsministerkonferenz aus dem
April 2012 nach, auf der Grundlage eines Eckpunktepa-
piers einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe eine umfassen-
de Reform des Fahrlehrerrechts in Angriff zu nehmen.
Wir wollen mit unserem Gesetz auch den Problemen
des Fahrschulsektors Rechnung tragen und das in seinen
Grundzügen seit 1969 unveränderte Fahrlehrerrecht re-
formieren.
Ferner hat die Bundesregierung den Abbau von An-
zeige- und Nachweispflichten für Fahrschulen, die Er-
leichterung der Zusammenarbeit von Fahrschulen sowie
die Überarbeitung der Zugangsvoraussetzungen für den
Fahrlehrerberuf mit dem Ziel der Verbesserung der wirt-
schaftlichen Situation von Fahrschulen und der Bekämp-
fung des Nachwuchsmangels in ihr Arbeitsprogramm
„Bessere Rechtsetzung 2016“ aufgenommen.
Ziel der von uns angestrengten Reform ist die Verbes-
serung der Fahrlehreraus- und -weiterbildung, die für die
Erhöhung der Verkehrssicherheit gerade der besonders
gefährdeten jungen Fahranfängerinnen und Fahranfänger
von besonderer Bedeutung ist. Durch eine zielorientierte
Entbürokratisierung und Erleichterung von Kooperatio-
nen wollen wir schließlich die wirtschaftliche Situation
der überwiegend durch kleinstbetriebliche Strukturen ge-
prägten Fahrschulen verbessern. Mit der Überarbeitung
der Zugangsvoraussetzungen für den Fahrlehrerberuf
soll auch dem drohenden Nachwuchsmangel begegnet
werden.
Gerade der Begegnung des Nachwuchsmangels ist in
Zeiten des demografischen Wandels hin zur alternden Be-
völkerung besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Da
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 23051
(A) (C)
(B) (D)
unterscheidet sich der Fahrlehrerberuf kaum von vielen
anderen Berufsständen, die über fehlenden Nachwuchs
klagen. Die Zahl der Fahrlehrer ist das siebte Jahr in Fol-
ge gesunken. Bundesweit haben nur noch etwas mehr
als 45 000 Personen eine Fahrlehrererlaubnis, und das
Durchschnittsalter liegt bei 53 Jahren. Mit großer Masse
ist der überwiegende Teil der Fahrlehrerlaubnisinhaber –
75 Prozent plus x – 45 Jahre oder älter und wird sich in
den nächsten zehn bis zwanzig Jahren aus dem Beruf ver-
abschieden. Frauen stellen derzeit weniger als 9 Prozent
aller Fahrlehrer in Deutschland. Der Nachwuchsmangel
hängt auch mit der geringen finanziellen Perspektive des
Berufes zusammen, und das Fahrlehrergehalt ist starken
regionalen Schwankungen ausgesetzt. In strukturschwa-
chen Gebieten mit wenigen Fahrschülern und niedrigen
Fahrstundenpreisen verdienen Fahrlehrer tatsächlich oft
nicht mehr als 1 400 Euro brutto im Monat.
Im Rahmen der Expertenanhörung am 8. März 2017
haben wir unser Reformprojekt dem Praxistest unterzo-
gen. Ich möchte an dieser Stelle den Sachverständigen
danken, dass sie uns umfangreich Rede und Antwort ge-
standen haben.
Die Anregungen zu den Themenkomplexen Wegfall
der Zweigstellenbegrenzung, Rolle des verantwortlichen
Leiters, Nutzen der 495-Minuten-Regelung, Wegfall der
Verpflichtung des Tagesnachweises, Nachwuchsmangel
bei Fahrschulen, wirtschaftliche Situation der Fahrschu-
len, Zugangsvoraussetzungen für Fahrlehrer insbeson-
dere im Hinblick auf Schulabschluss und Mindestalter,
Standards für die Überwachung von Fahrschulen, Teil-
zeitausbildung, Verkehrssicherheit als Ausbildungsziel
und Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes haben wir
nach der Anhörung ausgiebig in der Koalition diskutiert.
Mit unserem Änderungsantrag haben wir die Arbeits-
zeit auf 495 Minuten und die Anzahl der Zweigstellen
auf zehn begrenzt. Das ist ein angemessener Mittelweg.
Auch die Einbeziehung freiberuflicher Fahrlehrer ist
sachgerecht, da diese zwar die Ausnahme bilden, aber
dennoch in der Praxis zu berücksichtigen sind.
Mit der heutigen Verabschiedung des Gesetzes und
den Änderungen, die die Koalition im parlamentari-
schen Verfahren vorgenommen hat, bringen wir einen
bereits länger dauernden Prozess zu einem guten Ende
und entsprechen der Forderung der Fahrlehrerschaft nach
einer Vereinfachung und Verbesserung der gesetzlichen
Grundlagen. Wir stärken die Wettbewerbsfähigkeit und
erhöhen die Qualität der Ausbildung.
Gero Storjohann (CDU/CSU): Seit 2012 versuchen
wir, eine Reform des Fahrlehrerwesens anzustreben, um
eine Verbesserung des Fahrschullehrerwesens zu erzie-
len. Heute debattieren wir einen Entwurf, der nur eine
Schlussfolgerung zulässt: Dieses Anliegen ist uns nun
endlich, nach einem langen Weg, gelungen. Lassen Sie
mich diesen Weg kurz skizzieren:
Beginnen möchte ich im Jahre 2012. Damals bat die
Verkehrsministerkonferenz das Bundesministerium für
Verkehr und digitale Infrastruktur, auf Grundlage eines
Eckpunktepapiers eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe für
eine umfassende Reform der Fahrlehrerrechts zu grün-
den. Seitdem ist viel passiert.
Den Grundstein für die Reform legte der 2013 ge-
schlossene Koalitionsvertrag. Die Ausbildung der Fahr-
anfänger zu verbessern und die Qualität der pädagogi-
schen Ausbildung der Fahrlehrer zu erhöhen, lautet der
Leitsatz. Dieser Grundstein wurde erweitert durch die
Aufnahme des Themas in das Arbeitsprogramm ,,Besse-
re Rechtsetzung 2016“ der Bundesregierung. Hierdurch
kamen die folgenden Grundpfeiler, wie die Erleichterung
der Zusammenarbeit von Fahrschulen sowie die Über-
arbeitung der Zugangsvoraussetzungen für den Fahrleh-
rerberuf mit dem Ziel der Verbesserung der wirtschaftli-
chen Situation von Fahrschulen und der Bekämpfung des
Nachwuchsmangels, zu unserem Arbeitsauftrag hinzu.
Seit 2016 befassen wir uns nun intensiv im Ausschuss
für Verkehr und digitale Infrastruktur mit diesem Arbeits-
auftrag, der keinen anderen Schluss zuließ, um den An-
liegen der Länder und der Bundesregierung zu entspre-
chen und gleichzeitig den gegenwärtigen Problemen des
Fahrschulsektors Rechnung zu tragen: Eine umfassende
Reform musste her.
Das Ziel stand somit fest: Das in seinen Grundzügen
seit 1969 unveränderte Fahrlehrerrecht sollte grundle-
gend reformiert werden. Ein Hauptziel dieser Reform ist
die Verbesserung der Fahrlehrerausbildung und Fahrleh-
rerweiterbildung, die für die Erhöhung der Verkehrssi-
cherheit gerade der besonders gefährdeten jungen Fahr-
anfänger und Fahranfängerinnen von großer Bedeutung
ist.
Zudem soll mit Maßnahmen zur Entbürokratisierung –
Erleichterung von Kooperationen sowie Vergrößerung
der Zweigstellenanzahl – die wirtschaftliche Situation
der überwiegend durch kleinstbetriebliche Strukturen ge-
prägten Fahrschulen grundlegend verbessert werden.
Außerdem soll durch die Überarbeitung der Zugangs-
voraussetzung für den Beruf des Fahrlehrers dem dro-
henden Nachwuchsmangel begegnet werden. Um diesem
Nachwuchsmangel konkret entgegenzuwirken, wurden
insbesondere die Berufszugangsregelungen, die struktu-
relle und inhaltliche Gestaltung der Fahrlehrerausausbil-
dung und auch der Fahrlehrerweiterbildung und die Fahr-
schulüberwachung an aktuelle Erfordernisse angepasst.
Die angesprochene wirtschaftliche Situation soll mit
diesem Gesetz nach Berechnungen des Ministeriums für
Verkehr und digitale Infrastruktur durch mehr als 84 Mil-
lionen Euro für die Fahrschulen entlastend wirken. Die
Fahrschulen sollen weniger Zeit mit Formalien verbrin-
gen müssen und mehr Zeit für die Fahrschulausbildung
ihrer Schüler haben. Die neuen Regelungen der Fahr-
schulüberwachung sollen eine verbesserte Fahrschulaus-
bildung bewirken.
Um die Einhaltung dieser neuen Vorschriften zu ga-
rantieren, schaffen wir den Rahmen für eine bundesein-
heitliche Überwachung der Fahrschulen, bei der es sich
jetzt nicht nur um eine reine Formalüberwachung han-
delt. Vielmehr legen wir Wert darauf, dass diese Überwa-
chung auch auf pädagogischer Ebene erfolgt.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 201723052
(A) (C)
(B) (D)
Besonders hervorheben möchte ich noch drei weitere
Erneuerungen, welche aus der Arbeit im Ausschuss für
Verkehr und digitale Infrastruktur resultieren:
Erstens. Die nicht erforderliche Übergangsfrist im
§ 69 Fahrschullehrgesetz für Kooperationen und Zweig-
stellen aus dem ersten Entwurf des Fahrlehrergesetzes
konnte gestrichen werde; denn die Fahrschulunterneh-
men sind schon jetzt bereit, die Erneuerungen umzu-
setzen. Es bedurfte folglich keinerlei Übergangsfrist für
diese Regelung.
Zweitens. Die seit Jahren bestehende Beschränkung
auf drei Zweigstellen, welche mit dazu beigetragen hat,
dass das Fahrschulgewerbe kleinstbetrieblich strukturiert
ist, ist nicht mehr länger als zeitgemäß anzusehen. Die
Anzahl künftig möglicher Zweigstellen wird auf zehn
Zweigstellen angehoben. Einerseits wird damit dem
auch wirtschaftlichen Wunsch nach größeren Unterneh-
menseinheiten Rechnung getragen. Anderseits zeigt die
Beibehaltung der gesetzlichen Beschränkung und keine
grenzenlose Lockerung der Zweistellenanzahl, dass die
Inhaber einer Fahrschulerlaubnis bzw. die verantwortli-
che Leitung von Ausbildungsfahrschulen die im Fahrleh-
rergesetz festgelegten Pflichten in Bezug zur Ausbildung
der Fahrschüler nach den Qualitätskriterien für die Fahr-
schulausbildung und zur Überwachung der Ausbildung
ausreichend nachkommen können. Dies ist gerade wegen
der hohen Bedeutung einer ordnungsgemäßen Ausbil-
dung der Fahrschüler für die Verkehrssicherheit und für
die Unfallbekämpfung als sachgerecht zu sehen.
Die Anhebung der Zahl möglicher Zweigstellen ist
allein mit Blick auf die heute bestehenden Möglichkei-
ten der modernen Kommunikation und Unternehmens-
führung geboten. Sie ist im ersten Schritt mit einer Be-
schränkung auf zehn Zweigstellen, was einer spürbaren,
aber gleichwohl noch maßvollen Steigerung entspricht,
auch ausreichend. Damit wird allen Fahrschulen, die sich
an die gesetzlich vorgegebene Zweigstellenbeschrän-
kung gehalten haben, unter Beibehaltung des Lehrauf-
trags ein fließender Übergang von der kleinstgewerbli-
chen Struktur zu anderen Unternehmensstrukturen und
anderen Formen der Zusammenarbeit, wie den neu ge-
schaffenen Kooperationen, erleichtert. Umgekehrt wer-
den Unternehmen, die wachsen wollen und können, nicht
darin behindert.
Drittens. Die Arbeitszeitbegrenzung des praktischen
Unterrichts wurde auf 495 Minuten begrenzt. Diese Re-
gelung gilt für den angestellten Fahrlehrer wie auch für
den selbstständigen Fahrlehrer. Dies ist sehr im Sinne der
Verkehrssicherheit.
Damit kommen wir zu einem Punkt, der mir sehr am
Herzen liegt: Die Verkehrssicherheit. Der aktuelle Un-
fallverhütungsbericht macht wieder einmal deutlich, dass
wir immer mehr Mittel einsetzen müssen, um die Zahl
der Verletzten und Getöteten im Straßenverkehr weiter
zu reduzieren. Das größte Unfallrisiko bleibt laut diesem
Bericht in unserem Straßenverkehr der Faktor Mensch.
Diesem Faktor können wir mit einem verbesserten Fahr-
schullehrerwesen entgegenwirken. Gut qualifizierte
Fahrlehrer produzieren auch gut qualifizierte Fahranfän-
ger. Bedauerlicherweise sind es gerade die Fahranfän-
ger, welche weiterhin die am stärksten unfallgefährdete
Gruppe aller Verkehrsteilnehmer darstellen. Dagegen
wollen wir mit diesem Gesetz etwas tun.
Bitte stimmen Sie mit Freude für diesen Gesetzesent-
wurf und unseren Änderungsantrag; denn dies dient der
Verkehrssicherheit und der Verbesserung der Fahrschul-
branchen in Deutschland.
Stefan Zierke (SPD): Zuerst möchte ich drei Stich-
worte nennen, von denen man sagen kann, dass sie im
Jahre 1969 – im Jahr der Verabschiedung des Fahrleh-
rergesetzes in seiner ursprünglichen Version – wohl wie
eine Zukunftsvision geklungen haben müssen: automa-
tisiertes Fahren, selbstfahrende Autos und Elektromobi-
lität.
Nun reformieren wir mit dem heute zu verabschieden-
den Fahrlehrergesetz und der entsprechenden Verordnung
weder das automatisierte Fahren noch die E-Mobilität.
Dafür haben wir parallel laufende Gesetzesvorhaben
bzw. Förderprogramme. Aber ich möchte mit diesen
Stichworten verdeutlichen, dass die Mobilitätsbranche
durch viele technische Neuerungen und eine hohe Inno-
vationsrate gekennzeichnet ist. Von vielem, was uns heu-
te alltäglich erscheint, konnte vor etwa 50 Jahren noch
keine Rede sein. Autos von früher sind nicht mit denen
von heute zu vergleichen.
Ebenso hat sich die pädagogische Wissensvermittlung
sowohl in der Ausbildung als auch in der praktischen An-
wendung weiterentwickelt. So ging es früher, ob in Schu-
le, Ausbildung, Universität oder Fahrschule, verstärkt
um Wissensvermittlung, oft auch als Frontalunterricht
für Schüler oder Auszubildende. Heute rückt das Thema
Kompetenzen in den Vordergrund. Das „Lernen lernen“
ist hier zum geflügelten Wort geworden.
Auch vor der Ausbildung der Fahrlehrer und Fahrleh-
rerinnen haben technische Innovationen und veränderte
Ansprüche an pädagogische Konzepte nicht haltgemacht.
Und da im Fahrlehrergesetz über die Jahre Reformbedarf
in den gerade kurz skizzierten Bereichen entstanden ist,
haben sich die Koalitionsfraktionen diesem Thema auch
im Koalitionsvertrag von 2013 gewidmet, zwar nur in
einem kleinen Satz, aber dieser Satz führt nun zu der not-
wendigen Reform, über die wir heute abstimmen werden.
In Zusammenarbeit mit dem Ministerium, mit den
Fahrschulverbänden und nicht zuletzt mit dem Koaliti-
onspartner haben wir über einen langen Zeitraum in sehr
guter und sachlicher Art und Weise einen Gesetzestext
zusammengebracht. Wir als SPD-Fraktion haben schon
allein zwei Runde Tische mit Fahrlehrerverbänden und
einzelnen Fahrschulen organisiert, ganz abgesehen von
den vielen Hintergrund- und Expertengesprächen. Das
Gesetz, das nun als Entwurf vorliegt, und der von un-
serer Fraktion und der CDU/CSU eingebrachte Ände-
rungsantrag enthalten natürlich Kompromisse. In seiner
Gänze wird aber das eingelöst, was SPD und CDU/CSU
in ihren Koalitionsvertrag geschrieben haben, und auch
vieles von dem, was aus der Fahrschulbranche im Ge-
setzgebungsverfahren an uns herangetragen wurde.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 23053
(A) (C)
(B) (D)
Doch lassen Sie mich nun konkreter auf einige einzel-
ne Punkte des Gesetzes und unseren gemeinsamen Ände-
rungsantrag eingehen:
Neben formalen Änderungen nehmen wir in unserem
Änderungsantrag einige Empfehlungen des Bundesra-
tes auf. So wird nun geregelt, dass bei Kooperations-
fahrschulen die nach Landesrecht zuständige Behörde
zuständig ist, in deren Gebiet der Sitz der Auftrag ge-
benden Fahrschule zuständig wird. Bisher war das nicht
in dieser Form geregelt. Ebenso dürfen auf Empfehlung
des Bundesrates Auszüge aus dem Bundeszentralregister
nun zum Beispiel nicht älter als drei Monate sein. Alles
vernünftige Dinge, die wir in den Änderungsantrag auf-
genommen haben.
Als SPD-Fraktion haben wir uns darüber hinaus er-
folgreich für die Beibehaltung der 495-Minuten-Rege-
lung starkgemacht. Dies ist meiner Fraktion, aber auch
mir persönlich, eine unheimlich wichtige Sache, und
zwar aus Sicherheitsaspekten und aus Kontrollgründen.
Wir wollen damit verhindern, dass Fahrlehrer oder Fahr-
lehrerinnen, die freiberuflich praktischen Fahrunterricht
geben, dies ohne Kontrolle und ohne zeitliche Begren-
zung machen. Daher die Reglementierung auf 495 Mi-
nuten pro Tag.
Lassen Sie mich an dieser Stelle auch gleich zu den
Freiberuflern kommen. Wir, die SPD-Fraktion, sehen
dies eigentlich so wie die Mehrzahl der Verbände. Der
Freiberufler ist schwer zu kontrollieren und – das sagt ja
schon sein Name – „frei“ beruflich unterwegs. Wenn also
ein Fahrschulinhaber einen Freiberufler einsetzt, kann er
diesen, anders als einen eigenen angestellten Fahrlehrer,
nur bedingt kontrollieren. Ob er zum Beispiel vorher
schon in einer anderen Fahrschule ein paar Stunden ge-
geben hat oder nach den beiden Stunden, die er gerade
gibt, noch eine Nachtfahrt hinten dranhängt, ist schwer
zu kontrollieren. Hier sieht meine Fraktion ein Problem
unter dem Gesichtspunkt der Verkehrssicherheit. Fahr-
lehrer müssen fit sein, das Fahrgeschehen ihrer Schü-
ler dauerhaft beobachten, und ja, gegebenenfalls auch
schnell und beherzt ins Fahrgeschehen eingreifen. Dazu
müssen sie aber wach und konzentriert sein. Das kann
man aber nicht mehr nach elf Fahrstunden!
Nun kann man sagen – und glauben Sie mir, das habe
ich schon oft als Argument gehört; aber es wird dadurch
aber nicht stichhaltiger –, wir hätten doch auch freibe-
rufliche Ärzte, Rechtsanwälte oder freiberufliche Pro-
grammierer. Die reglementiere man doch auch nicht. Ja,
sage ich Ihnen, das stimmt, und unsere Kritik am frei-
beruflichen Fahrlehrer richtet sich ja auch nicht als An-
griff auf das Freiberuflertum an sich. Sie müssen meines
Erachtens hier aber unterscheiden, was zum Beispiel die
Honorare von Ärzten und Fahrlehrern betrifft. Ein Arzt
oder Rechtsanwalt hat in der Regel bessere Stundensätze
als ein Fahrlehrer. Und wenn ein freiberuflicher Kreati-
ver einschläft und seinen Kopf auf die Tastatur sinken
lässt, geht davon keine Gefahr aus. Vielleicht ist das vor-
her Programmierte gelöscht. Aber davon ist keiner gegen
einen Baum gefahren. Ein Fahrlehrer darf aber nicht ein-
mal kurz einen Sekundenschlaf haben oder unkonzent-
riert sein. Das ist zu gefährlich. Und hier sehen wir die
Sorge, dass sich Freiberufler gewissermaßen selbst aus-
beuten, mehr Stunden machen, als sie sich zutrauen soll-
ten, gegebenenfalls für einige Jahre die Beiträge für die
Sozialversicherung „sparen“, um besser über die Runden
zu kommen – mit den entsprechenden Konsequenzen,
was zum Beispiel das Thema Altersarmut angeht. Dies
wollte meine Fraktion so nicht. Aber wir haben uns mit
unserem Koalitionspartner nun darauf geeinigt und wol-
len die notwendige Verkehrssicherheit als SPD über die
495-Minuten-Regelung erreichen. Besser wäre es für uns
ohne Freiberufler. Aber so steht nun der Kompromiss.
Im alten Fahrlehrergesetz war die Zweigstellenanzahl
auf drei festgelegt. Das Ziel des Gesetzes ist es unter
anderem, eine stärkere Konzentration und damit nicht
zuletzt Skaleneffekte mit größeren Fahrschuleinheiten
herstellen zu können. Daher hat sich die Koalition, nach-
dem im Entwurf keine Zahl genannt ist, nun auf zehn
Zweigstellen geeinigt. So kann eine Konzentrationswir-
kung stattfinden; aber auch aus Kontrollgesichtspunkten
werden keine riesigen Fahrschulkonglomerate möglich
sein – wobei es so sein wird, dass bei Gemeinschafts-
fahrschulen diese Regelung für jeden Gesellschafter gilt,
also auch hier weiterhin in der Praxis Spielraum besteht.
Für viel Aufregung sorgte die Übergangsfrist aus dem
§ 69 Absatz 1, die bisher im Gesetzentwurf stand. Die-
se hätte bedeutet, dass Zweigstellen und Kooperations-
fahrschulen erst ab dem 1. Juli 2019 möglich geworden
wären, auch wenn wir das Gesetz jetzt schon auf den
Weg bringen. Wenn das Gesetz aber genau diese Punkte
einräumen will, brauchen wir hier nicht zu warten. Die
ganze Branche sagte uns, sie seien bereit und warteten
auf diese Regelung. Deshalb besteht hier kein Bedarf
für diese Übergangsfrist; wir können sie ohne Weiteres
und ohne schlechtes Gewissen herausnehmen. Auch dies
werden Sie daher in unserem Änderungsantrag finden.
Es ist ein hohes Gut, ortsnahe und kompetente Fahr-
schulen in ganz Deutschland zu haben. Von der Ucker-
mark bis in den hintersten Bayerischen Wald wollen wir
die Fahrschullandschaft stabilisieren und modernisieren,
damit junge Menschen sicher und verantwortungsvoll
auf unseren Straßen Auto und Motorrad fahren können.
Ich denke, wir haben hier auf der Grundlage unseres gu-
ten Koalitionsvertrages ein gutes Gesetz entworfen. Ich
bitte daher um Ihre Zustimmung.
Thomas Lutze (DIE LINKE): Zunächst einmal ist
es erfreulich, dass bei der Debatte zum Gesetzentwurf
fachliche Fragen im Vordergrund standen und wir uns die
ideologischen Schaukämpfe, wie sie die Diskussion um
die Pkw-Maut prägten, sparen können. Die Linksfrakti-
on unterstützt, dass die Bundesregierung die Ausbildung
der Fahranfänger verbessern und auch die pädagogische
Ausbildung der Fahrlehrer erhöhen möchte. Bereits im
April 2012 hatte die Verkehrsministerkonferenz dazu auf-
gefordert, eine umfassende Reform des Fahrlehrerrechts in
Angriff zu nehmen. Das wird allerhöchste Zeit; schließlich
hatte es seit 1969 kaum Anpassungen gegeben.
Wir alle wissen, dass Fahranfänger im Straßenverkehr
zum einen besonders gefährdet sind, zum anderen von
ihnen aber auch die meiste Gefahr für andere Verkehrs-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 201723054
(A) (C)
(B) (D)
teilnehmer ausgeht. Eine gute Ausbildung der Fahrlehrer
erhöht die Verkehrssicherheit insgesamt.
Es ist begrüßenswert, dass der Besitz der Führerschei-
ne A und C als zwingende Voraussetzung für den Erwerb
der Fahrlehrerlaubnisklasse BE wegfallen soll. Ein Ge-
setz zu erlassen, ist die eine Sache. Zu schauen, ob die
Folgeentwicklungen auch tatsächlich so eintreten, wie
man sich es erhofft hat, ist die andere Sache. Wir sollten
daher in der Zukunft ganz genau darauf schauen, ob ge-
gebenenfalls noch Anpassungen vorgenommen werden
müssen: Der Bedarf an Kompetenz für diese Fahrzeug-
klassen wird weiterhin vorhanden sein. Die Lockerung
von Zugangsmöglichkeiten ist oft eine Gratwanderung.
Es darf keine Situation eintreten, bei der am Ende zu we-
nig Fahrlehrer dieser Klassen vorhanden sind. Außerdem
schadet es nicht, wenn ein Fahrlehrer auch die Perspekti-
ve eines Motorrad- oder Lkw-Fahrers kennt. Auch wenn
die Führerscheinklassen A und C nicht mehr zwingende
Voraussetzung sein sollten, sollte also dennoch darauf
hingewirkt werden, dass die Auszubildenden auch dahin
gehende Kompetenzen vermittelt bekommen.
Die Linksfraktion unterstützt, dass mit der Reform der
Fahrlehrerausbildung pädagogischen Aspekten mehr Be-
deutung zukommen soll. Fahrlehrer sind heute oftmals
mit einer veränderten Altersstruktur konfrontiert: Neben
18- oder 17-Jährigen sitzen immer öfter Menschen mitt-
leren Alters in der Fahrschule. Ferner ist es richtig, die
Ausbildungsinhalte zu straffen und von überflüssigem
Ballast zu befreien. Hierbei muss jedoch darauf geachtet
werden, dass „überflüssig“ auch genau das heißt: Straf-
fung darf nicht auf Kosten der Qualität gehen. Kompe-
tenzvermittlung muss den Raum bekommen, den eine
gute Ausbildung verlangt. Um genau das zu erkennen,
wird es nötig sein, die Fahrlehrerausbildung künftig bes-
ser zu evaluieren. Bedauerlich ist, dass es für die päda-
gogische Fahrschulüberwachung keine einheitlichen in-
haltlichen Kriterien geben soll. Dass diese Überwachung
im Laufe der Gesetzgebung von einer Muss- zu einer
Kannbestimmung geworden ist, macht das Ganze noch
ärgerlicher.
Was in anderen Branchen bereits lange möglich ist,
gilt bisher nicht so für die Fahrschulen. Die Linksfrakti-
on unterstützt, dass künftig Kooperationen möglich sein
sollen, wie dies für andere Branchen längst üblich ist.
Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund begrüßens-
wert, dass die Ausstattung von Unterrichtsräumen mit
moderner Technik einiges kostet, und in Netzwerkstruk-
turen ist dies eindeutig besser zu stemmen.
Die Probleme, die heute im Fahrlehrerwesen existie-
ren, sind zu einem großen Teil darauf zurückzuführen,
dass die Politik viel zu lange weggeschaut hat. Das betrifft
insbesondere die Arbeitsbedingungen. Wir brauchen eine
bessere Angestelltenkultur, und auch die Verdienstmög-
lichkeiten müssen sich verbessern. Im Fahrlehrerwesen
sind Arbeitsverträge ohne Arbeitszeitkonto, ohne Festge-
halt und ohne bezahlte Fortbildung nicht selten. Oft wer-
den arbeitsrechtliche Bestimmungen nicht eingehalten,
sodass in der Folge Feiertage und Urlaub nicht bezahlt
werden oder es im Krankheitsfall keinen Lohn gibt. Auch
über die im Gesetzentwurf geplanten Änderungen hinaus
muss die Politik bei der Bezahlung nach Branchenmin-
destlöhnen für Fahrschulen genauer hinschauen.
Stephan Kühn (Dresden) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): „Was lange währt, wird endlich gut“, so heißt es
in einem bekannten Sprichwort. Das Gesetz zum Fahr-
lehrerwesen war auf jeden Fall ein langwieriges Vorha-
ben, das ohne die intensiven Vorarbeiten der Länder –
und in diesem Zusammenhang möchte ich insbesondere
das Engagement des Landes Baden-Württemberg her-
vorheben – heute nicht beschlossen werden könnte. Von
dieser Seite also auch noch einmal einen Dank für die
konstruktive Zusammenarbeit zwischen Landes- und
Bundesebene.
Insgesamt bringt das Gesetz zum Fahrlehrerwesen
in wichtigen Punkten Fortschritte. Zu nennen sind die
Neuregelung der Zugangsvoraussetzungen zum Fahr-
lehrerberuf, die Modernisierung der Fahrlehreraus- und
-weiterbildung, die Verbesserung der Kooperationsmög-
lichkeiten von Fahrschulen und der Fahrschulüberwa-
chung, die Einführung der Fortbildungspflicht bis hin zur
Entbürokratisierung.
Ein zentraler Baustein der modernisierten Fahrlehrer-
ausbildung ist die deutliche Erhöhung des Anteils päd-
agogischer Inhalte. Die Orientierung des Curriculums
der Fahrlehrerausbildung an Kompetenzstandards und
die Berücksichtigung neuer Inhalte wie E-Mobilität und
Fahrerassistenzsysteme sind weitere Puzzleteile, die die
Qualität der Fahrlehrer- und damit auch der Fahrschul-
ausbildung anheben.
Durch die jüngsten Änderungen konnten weitere Ver-
besserungen erreicht werden, die meine Fraktion schon
frühzeitig angemerkt hat. Dazu zählt die Arbeitszeitbe-
schränkung, die jetzt wieder nach der 495-Minuten-Re-
gel erfolgen soll. Damit soll vor allem dem Missbrauch
durch die unter besonderem wirtschaftlichen Druck ste-
henden selbstständigen Fahrerlehrer vorgebeugt werden.
Auch die Streichung der Übergangsfrist, wonach Ko-
operationen unter Fahrschulen und die Errichtung von
Zweigstellen erst ab dem 1. Juli 2019 möglich sein soll-
ten, findet unsere Zustimmung. Damit kann der anhalten-
de Strukturwandel in der Fahrschulbranche hin zu wirt-
schaftlich tragfähigen Unternehmensgrößen nun endlich
unter verlässlichen Rahmenbedingungen stattfinden und
von den Fahrschulen vorbereitet und gestaltet werden.
Allerdings wird mit dem Änderungsantrag der Gro-
ßen Koalition nun wieder der Einsatz von freiberuflichen
Fahrlehrern ermöglicht. Das lehnen wir ab. Denn hier
geht es in Wirklichkeit nicht um den „freien Beruf“ des
Fahrlehrers, sondern letztendlich um die Verschleierung
prekärer Arbeitsverhältnisse.
Schließlich lehnt meine Fraktion auch die jetzige Re-
gelung bei den Überwachungsvorschriften und Kontrol-
len für die Fahrschulen und Fahrlehrerausbildungsstätten
ab. Wichtig wäre in diesem Zusammenhang gewesen,
dass die dazu notwendigen Regelungen bundesweit
einheitlich umgesetzt werden. Die vorgesehene Sollbe-
stimmung hätte unbedingt durch eine Mussbestimmung
ersetzt werden müssen. In der jetzigen Fassung bleibt es
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 23055
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daher sehr zweifelhaft, ob die angestrebte Verbesserung
der pädagogischen Qualität in der Praxis auch gelingt, da
es keine einheitlichen und klaren Kriterien für ihre Über-
wachung gibt.
Meine Fraktion wird sich daher enthalten.
Anlage 11
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– des von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Neufassung des
Gesetzes zur Regelung von Sekundierungen im
Rahmen von Einsätzen der zivilen Krisenprä-
vention
– der Beschlussempfehlung und des Berichts
des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag
der Abgeordneten Kathrin Vogler, Wolfgang
Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE: Für eine aktive
zivile Friedenspolitik
– der Beschlussempfehlung und des Berichts
des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag
der Abgeordneten Dr. Franziska Brantner,
Annalena Baerbock, Marieluise Beck (Bre-
men), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Zivile Krisenprä-
vention und Friedensförderung stärken – Neue
Lösungsansätze erarbeiten und umsetzen
– der Beschlussempfehlung und des Berichts des
Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der
Abgeordneten Dr. Franziska Brantner, Tom
Koenigs, Annalena Baerbock, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN: ,,Group of Friends“ für Konfliktprä-
vention im Rahmen der Vereinten Nationen
(Tagesordnungspunkt 28 a bis d)
Thorsten Frei (CDU/CSU): Deutschland muss allein
schon aus Eigeninteresse mehr internationale Verantwor-
tung übernehmen – unabhängig von den Forderungen un-
serer Partner. Dabei geht es nicht nur darum, dass wir uns
an die Vereinbarungen halten, zu denen wir uns selbst
verpflichtet haben. Es geht auch darum, dass wir selbst
Verantwortung für unsere Sicherheit und den Schutz
unserer Bürger übernehmen. Dazu gehören sowohl die
Stärkung der militärischen Fähigkeiten als auch unsere
Möglichkeiten etwa in der zivilen Krisenprävention.
Das betrifft neben unserer Bereitschaft, vor Ort mehr
zu leisten und insgesamt mehr Geld in die Hand zu neh-
men, zuallererst die Erledigung unserer Hausaufgaben in
Deutschland, um die entsprechenden Rahmenbedingun-
gen für mehr Engagement zu legen. Mit der Novellierung
des Sekundierungsgesetzes legt die Bundesregierung den
Grundstein für gesteigerte Entsendezahlen von zivilen
Experten in die Krisenregionen rund um Europa und vor
allem in Afrika. Schließlich sind die Menschen und ihr
Know-how das Fundament für ein erfolgreiches Kri-
senmanagement. Mit dem neuen Sekundierungsgesetz
werden wir unserer Verantwortung nach innen und nach
außen besser als bisher gerecht.
Zum einen galt und gilt es, die Rahmenbedingungen
von Friedenseinsätzen so zu verbessern, dass das not-
wendige zivile Personal quantitativ mehr, deutlich ziel-
genauer und insgesamt spürbar schneller rekrutiert und
entsendet werden kann. Dadurch können wir in der je-
weiligen Krisensituation besser als bisher einen Beitrag
für Stabilität und Sicherheit leisten. Die Übertragung der
Sekundierungsaufgaben an das Zentrum für Internationa-
le Friedenseinsätze, ZIF, wird dies ermöglichen, genauso
wie die Dualität von Sekundierungs- und Arbeitsver-
trägen für mehr Flexibilität beim ZIF und die höheren
Absicherungsstandards für mehr Attraktivität bei den
zu entsendenden Experten sorgen werden. Durch mehr
entsendete Experten würde auch die Befähigung zum ei-
genverantwortlichen Handeln krisengebeutelter Staaten
schneller sichtbar und die Durchdringungstiefe unserer
Bemühungen nähme zu.
Wenn man an die Vielzahl der unterschiedlichen
Aufgaben der Sekundierten wie beispielsweise den
Aufbau unabhängiger Medien, Vermittlung demokrati-
scher Strukturen und Prozesse, Flüchtlingsarbeit, Über-
wachung der Menschenrechte, politische Beratung und
Analyse, Wahlbeobachtung und Begleitung von Versöh-
nungsprozessen denkt, wird offenkundig, dass es für die
erfolgreiche Konfliktbeilegung einen sehr hohen Bedarf
an außenstehender Hilfe gibt. Hier können und müssen
wir weiter deutlich zulegen. Ich hoffe, dass wir dieses
Ziel offensiv angehen.
Ich bin überzeugt, dass durch die nunmehr besseren
Rahmenbedingungen tatsächlich auch mehr Menschen
bereit sein werden, die Strapazen der Missionen auf sich
zu nehmen. Im gleichen Atemzug wird auch das quali-
tative Angebot von Interessenten weiter zunehmen. Das
wird auch unseren Friedensbemühungen zugutekommen.
Und es ist auch klar, dass schnellere Reaktionen der in-
ternationalen Gemeinschaft in Bezug auf das frühzeitige
und kurzfristige Entsenden von Expertenteams deeska-
lierend auf schwelende und anwachsende Konflikte wir-
ken können. Die Friedensaussichten und die Hoffnungen
auf Vermeidung unnötiger und dauerhafter Schäden stei-
gen. Das neue Sekundierungsgesetz verspricht uns damit
eine echte Friedensdividende.
Ganz besonders wichtig ist mir jedoch, dass das über-
arbeitete Sekundierungsgesetz vor allem auch Ausdruck
für unsere Verantwortung nach innen und die Wertschät-
zung der Arbeit und Aufopferung der vielen zivilen Ex-
pertinnen und Experten ist. Endlich erhalten die, die sich
zum Teil von ihren Aufgaben im Inland entbinden lassen
und oft von altruistischen Motiven geleitet werden, die
notwendige Rechtssicherheit und die notwendige per-
sönliche Sicherheit. Sie werden künftig in arbeits- und
versorgungsrechtlichen Fragen sowie in Haftungsangele-
genheiten besser geschützt.
Die Änderungen werden der deutschen Krisenprä-
vention hoffentlich einen spürbaren Schub verleihen. Im
Moment werden wir unserer Verantwortung mit jährlich
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 201723056
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gerade einmal 160 sekundierten Personen nur sehr ein-
geschränkt gerecht. Auch hier gilt: Geld allein ist nicht
alles. Auch wenn wir eines der größten Geberländer sind,
kann Geld allein nicht die notwendigen Veränderungen
im Feld herbeiführen.
Seit dem Jahr 2002 hat das Berliner Zentrum für In-
ternationale Friedenseinsätze einen Expertenpool aufge-
baut, der mittlerweile über 1 400 Fach- und Führungs-
kräfte aus unterschiedlichen Branchen beinhaltet. Aber
wir brauchen heute angesichts der Herausforderungen
deutlich mehr Potenzial und Kapazität.
Bisher konnten andere Entsendeorganisationen oft at-
traktivere Konditionen anbieten. Auch deswegen ist die
Novellierung ein wichtiger Schritt in die richtige Rich-
tung. Die gesetzlich verankerte Verbesserung von so-
zialer Absicherung und finanzieller Vergütung wird für
mehr Attraktivität und Konkurrenzfähigkeit des ZIF in
Entsendungsfragen sorgen. Die Bindung an den Tarif-
vertrag im öffentlichen Dienst sowie die Möglichkeiten
zur Eingruppierung oberhalb dieses Rahmens sind rich-
tig, um Spitzenpersonal zu gewinnen. Durch den Wegfall
der Aufwandsentschädigungen fallen endlich die mit den
vom Bundesrechnungshof zur Geltung gebrachten Steu-
erunsicherheiten weg. Wichtige Anpassungen erfolgen
außerdem im Bereich der Arbeitslosen- und Rentenver-
sicherungen, insbesondere für den Fall, dass während
einer Mission ein dauerhafter Schaden an Leib und Le-
ben eintritt, sowie beim Abschluss einer Haftpflichtver-
sicherung. Dadurch, dass die Entsendeorganisation die
Kosten übernimmt und Gleichstellungen mit den Vor-
schriften normaler Arbeitsverhältnisse geregelt werden,
werden die notwendigen Vorkehrungen nicht mehr auf
den Dienstleistenden abgewälzt, was in der Vergangen-
heit immer wieder zu schlechten Schutzniveaus aus Kos-
tengründen führte. Die vorliegenden Änderungen sind
wir unseren Experten längst schuldig.
Zusätzlich werden die Familienverhältnisse der Se-
kundierten stärker berücksichtigt. Die „Duty of care“,
also die Fürsorge für die entsandten Personen und deren
Familienmitglieder, erfährt im neuen Gesetz einen ganz
anderen Stellenwert. Dieser findet sich in einer Familien-
versicherung, einem Mietzuschuss und einem möglichen
Familiennachzug wieder.
Da das ZIF zu einer vollwertigen Entsendeorganisati-
on ausgebaut werden soll, kann sich diese Organisation
gleichzeitig zu einem attraktiven Arbeitgeber entwickeln
und eine aktive Personalentwicklung betreiben. Beides
bringt viele Vorteile mit sich. Die bestehenden Reibungs-
verluste im Dreiecksverhältnis Entsendeperson – ZIF –
Ministerium werden der Vergangenheit angehören. Die
gesamte organisatorische Abwicklung wird in Zukunft
vom ZIF übernommen. Dies kann bei dringendem Be-
darf und im konkreten Fall viel Zeit sparen. Es gibt eine
zentrale Anlaufstelle für alle Bewerber und Mitglieder
des Expertenpools. Kurz: Das Berliner Forum wird pro-
fessionalisiert.
All diese – aus meiner Sicht längst fälligen – Anpas-
sungen unterstreichen die von der Bundesregierung emp-
fundene Anerkennung für die Arbeit der zivilen Experten
in Friedensmissionen. Viele unter uns wissen, was es
bedeutet, oft von zu Hause weg und von der Familie ge-
trennt zu sein. Sekundierte, gerade in akuten Krisenregi-
onen, bekommen ihre Familie und Freunde mehrere Mo-
nate nicht zu Gesicht. Die Zurückgebliebenen fürchten
oft um das Wohlergehen der in der Ferne Arbeitenden.
Das neue Gesetz ist auch ein Ausdruck der Wertschät-
zung für eine derartig getroffene Lebensentscheidung.
Dennoch ist uns allen bereits heute klar, dass wir kei-
ne Zeit haben, um uns auf dem Status quo auszuruhen.
Die in den vergangenen Jahren gestiegene Anzahl von
Menschen auf der Flucht und der immer weiter steigen-
de, wirtschaftlich intendierte Migrationsdruck aus Afrika
werden dafür sorgen, dass der Bedarf an qualifizierten
Helfern und die Erwartungen an Deutschland weiter stei-
gen werden. Wir werden auf absehbare Zeit mehr Helfer
ins Feld bringen müssen, um die Lebensbedingungen
zu verbessern. Deshalb werden wir die Rahmenbedin-
gungen für die begrenzte Anzahl infrage kommender
Helfer weiter anpassen und verbessern müssen, und die
Strukturen des ZIF – auch das wird sich im Haushalt wi-
derspiegeln müssen – müssen einer vollständigen und
leistungsfähigen Entsendeorganisation entsprechen. Es
reicht nicht einfach, die 4,5 im Auswärtigen Amt veran-
schlagten Stellen ins ZIF zu verlegen. Wenn man höhere
Zahlen als 160 erreichen will, braucht es mehr Geld im
Einzelplan 5. Aus meiner Sicht wäre mehr Geld für das
ZIF eine gute Investition in die Zukunft Deutschlands,
vor allem wenn man bedenkt, dass Deutschland in 2016
23 Milliarden Euro für die Versorgung und Unterbrin-
gung von Asylbewerbern in Deutschland ausgegeben hat,
während für den Transfer von Expertise zur Bekämpfung
von Fluchtursachen lediglich 13,3 Millionen Euro im
Einzelplan 5 vorgesehen sind. Auch darüber werden wir
in Zukunft weiter sprechen müssen.
Bei aller zum Ausdruck kommenden Wertschätzung
für unsere zivilen Experten müssen wir aber auch immer
an die Entsendung von Soldaten und den großen Be-
darf – den wir ebenfalls viel stärker bedienen sollten –
an deutschen Polizisten in VN-Missionen denken. Wir
wissen nicht zuletzt durch die angeregten gesellschaft-
lichen Diskussionen über unsere NATO- und ODA-Zu-
sagen oder über die Idee eines 2+1-Prozent-Ziels, dass
die Erwartungen an uns in diesem Bereich ebenso hoch
sind. Und wenn man bedenkt, dass nicht wenige Marine-
soldaten angesichts der Missionen UNIFIL, Atalanta und
Sophia teilweise mehr als 280 Seetage pro Jahr auf dem
Buckel haben, erkennt man auch in diesem Bereich aku-
ten Handlungsbedarf. Auch diesem Bedarf müssen wir in
der ganzheitlichen Betrachtung unseres Engagements der
Krisenprävention und Konfliktbeilegung gerecht werden.
Leider ist es eben viel zu oft so, dass die Präsenz von
Militär und Polizei überhaupt erst den Einsatz ziviler
Mittel und Akteure erlaubt. Jüngstes Beispiel ist die Hun-
gerkatastrophe in Ostafrika. Knapp 20 Millionen Men-
schen droht der Hungertod. Dabei ist es nicht so, dass
die Dürre von El Niño nicht vorhersehbar war. Vielmehr
leiden die Menschen in Südsudan, Somalia, Nordnigeria,
der Zentralafrikanischen Republik oder dem Jemen, weil
dort Konflikte im vollen Gange sind. Die lokalen Regie-
rungen investieren lieber in Waffen als in Nahrungsmit-
tel. Wegen der Gefahren können die Bauern weder säen
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 23057
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noch ernten. Hilfsorganisationen werden zum Teil offen-
siv von ihrer Hilfeleistung abgehalten und kommen gar
nicht in die notwendigen Regionen, obwohl sie sogar vor
Ort vertreten sind. Hier braucht es eben auch den ande-
ren Teil des Instrumentenkastens. Das sollten wir heute
in der Diskussion nicht vergessen.
Unsere Erfahrungen machen schließlich deutlich, dass
der vernetzte Ansatz, also der Rückgriff auf diplomati-
sche, zivilgesellgesellschaftliche, entwicklungspoliti-
sche, polizeiliche und militärische Mittel, die beste Basis
bietet, um den heutigen Konfliktherausforderungen zu
begegnen und einen nachhaltigen Frieden zu schaffen.
Deshalb haben wir in einem gesamthaften Ansatz unsere
Leitlinien für die Krisenprävention, Stabilisierung und
Friedensförderung konzeptionell erneuert, um die Leh-
ren aus den bisherigen Einsätzen einzuarbeiten, unsere
Fähigkeiten zu verbessern und gerade auch die Perspek-
tiven der zivilgesellschaftlichen Akteure deutlicher her-
auszuarbeiten.
Die neuen Leitlinien, die Ertüchtigungsinitiative und
das Sekundierungsgesetz gehen Hand in Hand, um die
passenden Antworten auf die heutigen und zukünftigen
Herausforderungen in unserer Nachbarschaft zu geben.
Die Bundesregierung unterstreicht mit ihren vielfältigen
Initiativen und ihrem ambitionierten Handeln, dass sie
Deutschlands Rolle als Friedensbeschleuniger sehr ernst
nimmt und aktiv führen wird.
Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (SPD): Ich freue mich
außerordentlich, dass wir heute den Gesetzentwurf zur
Neuregelung von Sekundierungen im Rahmen von Ein-
sätzen der zivilen Krisenprävention diskutieren.
Seit vielen Jahren leisten zivile Expertinnen und Ex-
perten aus Deutschland weltweit einen wichtigen Beitrag
zur internationalen Krisenprävention. Dafür gebühren
ihnen unser Respekt und unsere Anerkennung. Zugleich
haben sie einen Anspruch darauf, dass sie durch ih-
ren Einsatz keine persönlichen Nachteile erleiden. Die
SPD-Bundestagsfraktion hat sich daher seit langem für
eine bessere rechtliche Absicherung dieser Friedenskräf-
te eingesetzt.
Mit diesem Gesetz schaffen wir erheblich bessere
Rahmenbedingungen für die Einsätze ziviler Fachkräf-
te in Krisengebieten. Dieses Gesetz ist gleichzeitig ein
Ausdruck des hohen Stellenwerts und der Wertschät-
zung, den das Parlament der Arbeit und Leistung dieser
Fachkräfte zumisst.
Die Notwendigkeit für eine Neuregelung des Gesetzes
wurde besonders klar, als im Mai 2014 mehrere Helfer,
darunter auch drei deutsche sekundierte Mitarbeiter einer
EU-Mission in Dschibuti, Opfer eines Anschlags wur-
den. Schwerverletzt mussten sie nach Deutschland aus-
geflogen werden. Sie waren durch das Sekundierungsge-
setz von 2009 nur unzureichend abgesichert. Von einer
vergleichbaren Absicherung, zum Beispiel im Vergleich
zur Bundeswehr, konnte keine Rede sein.
Aber nicht nur für Ausnahmesituationen wollten wir
unsere zivilen sekundierten Fachkräfte besser absichern;
auch bei der Ausgestaltung der Verträge für sekundierte
zivile Expertinnen und Experten zeigte sich in der Praxis
Nachbesserungsbedarf. Mit dem vorliegenden Gesetz-
entwurf wird die Sekundierung für zivile Fachkräfte zu-
künftig deutlich verbessert; denn durch die Änderungen
im Gesetz wird die Sekundierung flexibler, effizienter,
und vor allem bieten die Sekundierungsverhältnisse zu-
künftig eine bessere soziale Absicherung.
Das zivile Fachpersonal, das häufig unter schwierigs-
ten Bedingungen in Krisengebieten seine Arbeit durch-
führt, hat diese spürbar bessere Absicherung mehr als
verdient. Es leistet für uns alle eine unermesslich wich-
tige Arbeit. Es leistet für die Menschen in den Krisen-
regionen einen wichtigen Beitrag zur friedlichen Kon-
fliktbewältigung, zur Versöhnungsarbeit, zum Aufbau
von Rechtsstaatlichkeit, zu einer besseren Bildung und
besseren wirtschaftlichen Perspektiven.
Weder innerstaatliche Konflikte noch Konflikte zwi-
schen Staaten können durch militärische Interventionen
gelöst werden. Letztere können einen Waffenstillstand
erzwingen, der Konflikt selbst aber muss durch Verhand-
lungen und Vereinbarungen gelöst werden. Deshalb hat
die zivile Krisenprävention und Konfliktbearbeitung für
die Förderung von Frieden und Sicherheit weltweit eine
besonders hohe Bedeutung. Mit der Neuregelung des Se-
kundierungsgesetzes leisten wir einen wichtigen Beitrag
dazu, Deutschlands zivile Fähigkeiten zur Krisenpräven-
tion und Konfliktbeilegung zu verbessern.
Momentan befinden sich ungefähr 160 Personen als
sekundierte zivile Expertinnen und Experten in Friedens-
missionen. Zukünftig werden wir eher mehr als weniger
sekundierte Fachkräfte benötigen. Und wir brauchen die
besten Expertinnen und Experten, die wir bekommen
können.
Viele Länder vertrauen auf deutsche, europäische
und internationale Unterstützung beim Wiederaufbau
staatlicher Strukturen, bei der Korruptionsbekämpfung
oder beim Voranbringen von Verfassungsreformen. Auch
wenn Krisen und Konflikte hoffnungslos erscheinen,
gibt es immer wieder positive Beispiele, aus denen wir
neue Energie schöpfen. Die Friedensprozesse in Ruan-
da, Sierra Leone oder in Kolumbien zeigen: Auch schier
unlösbare Konflikte, auch von Kriegen zutiefst verletzte
Länder können wieder Frieden finden.
Für diese oft langwierigen Aufgaben benötigen wir
motivierte und tatkräftige zivile Fachkräfte. Ob Rich-
ter, Journalisten, Finanzexperten oder Supply Chain
Manager, sie alle sind gefragt in der Krisenprävention
und Friedensförderung. Das neue Sekundierungsgesetz
schafft die Grundlage, damit diese zivilen Expertinnen
und Experten ihre Arbeit unter sicheren und besseren
Rahmenbedingungen leisten können.
Sekundierungsverträge werden zukünftig zum Aus-
nahmefall; sie sollen hauptsächlich bei kurzen Wahlbe-
obachtungen verwendet werden. Für längerfristige Se-
kundierungen werden Arbeitsverträge zum Regelfall, die
an die TVÖD-Entgelttabelle angelehnt sind. Die soziale
Absicherung, also Altersvorsorge, Kranken-, Pflege- und
Rentenversicherung, sowie die Einbeziehung in den
Schutzbereich der Arbeitsförderung werden im neuen
Sekundierungsgesetz explizit geregelt.
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Seit unter Rot-Grün im Jahr 2002 das Zentrum für In-
ternationale Friedenseinsätze, kurz: ZIF, gegründet wur-
de, arbeitet es im Auftrag der Bundesregierung und des
Bundestages eng mit dem Auswärtigen Amt zusammen.
Das ZIF übernimmt die Personalvorauswahl, trainiert
und vermittelt die ausgewählten Fachkräfte in interna-
tionale Friedenseinsätze. Der Abschluss des Sekundie-
rungsvertrages lag bisher in der Hand des Auswärtigen
Amtes. Um Effizienzverluste zu vermeiden, soll diese
Aufgabe nun auch dem ZIF übertragen werden. So wird
das ZIF zu einer vollwertigen Entsendeorganisation
ausgebaut. Das ist eine sehr positive Entwicklung. Das
ZIF leistet eine hervorragende und unersetzliche Arbeit.
Vielen Dank an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des
ZIF.
Die Neuregelung des Sekundierungsgesetzes ist ein
wichtiger Schritt, um die deutsche zivile Krisenpräven-
tion und damit die deutsche Außenpolitik weiter zu stär-
ken. Ungewollte Versorgungslücken werden geschlos-
sen, die Sekundierung wird attraktiver. Zivile Fachkräfte
müssen sich zukünftig keine Sorgen mehr um ihre Absi-
cherung machen.
Wenn es um die Wertschätzung von zivilen Exper-
tinnen und Experten und ihre Reintegration in den deut-
schen Arbeitsmarkt nach einem Auslandseinsatz geht, ist
hiermit ein wichtiger Schritt gemacht. Zivile Fachkräfte
in Friedensmissionen leisten Außerordentliches unter
enormen Druck, jeden Tag. Wir ehren diese besonderen
Persönlichkeiten seit 2013 mit dem Tag des Peacekeepers
und sagen Danke für die wichtige Arbeit, die deutsche
Friedensmacher in Mali, Afghanistan oder im Kosovo
leisten. Das Thema gehört in die Mitte der Gesellschaft.
Ohne tatkräftige zivile Expertinnen und Experten wäre
deutsches Engagement in Friedenseinsätzen und unsere
Außenpolitik deutlich weniger wirksam!
Kathrin Vogler (DIE LINKE): Ich freue mich, dass
wir heute ein gemeinsames Anliegen aller Bundestags-
fraktionen hier auf den Weg bringen können: die bessere
soziale Absicherung von Fachkräften, die in der zivilen
Krisenprävention und Konfliktbearbeitung im Ausland
eingesetzt werden. Tatsächlich macht sich vermutlich
niemand, der es nicht selbst erlebt hat, Gedanken darü-
ber, welche rechtlichen Spitzfindigkeiten zu beachten
sind, wenn Deutschland zivile Fachkräfte in Friedens-
missionen etwa der Vereinten Nationen oder der OSZE
entsendet. Da geht es um recht komplizierte Fragen des
Arbeitsverhältnisses und der sozialen Absicherung, über
Krankenversicherung, Rente, Arbeitslosenversicherung
oder steuerrechtliche Fragen, die den Betroffenen noch
zusätzlich zu ihrem oft komplizierten Einsatz in Krisen-
gebieten erheblich zu schaffen machten.
Das Sekundierungsgesetz löst viele dieser Probleme,
und in der Anhörung haben uns sowohl das Auswärtige
Amt als auch das Zentrum für Internationale Friedensein-
sätze, das nun zur Entsendeorganisation für die Fachkräf-
te wird, glaubhaft versichert, dass sie in der Praxis auch
solche Fragen, die hier nicht geregelt sind, wohlwollend
im Sinne der Betroffenen zu lösen gewillt sind, wie etwa
die Heimflüge zur Familie, die Kosten für notwendige
Gepäcktransporte oder die betriebliche Mitbestimmung
der Entsandten. Deswegen stimmt meine Fraktion die-
sem Gesetzentwurf nun auch zu.
Gleichzeitig stimmen wir hier heute auch über einen
Antrag meiner Fraktion ab, der die Bundesregierung dazu
auffordert, ein ziviles Leitbild für eine friedensfördernde
Außenpolitik zu entwickeln und umzusetzen. Noch Au-
ßenminister Steinmeier hat im vergangenen Jahr einen
Prozess in Gang gesetzt, der zu einem Leitbild der Bun-
desregierung für das außenpolitische Handeln in Krisen
und Konflikten führen sollte. Das Ergebnis wollte er ei-
gentlich im Februar präsentieren. Doch nach allem, was
man hört, stockt der Beratungsprozess im Kabinett, weil
sich vor allem das Verteidigungsministerium gegen jede
politische Festlegung auf einen Vorrang von ziviler Kri-
senprävention und Konfliktbearbeitung stemmt. Nichts
soll nach Auffassung der Ministerin von der Leyen den
Machtanspruch der Bundeswehr einschränken, nicht ein-
mal symbolisch. Und an keiner Stelle soll eine Präferenz
für ziviles und gewaltfreies Handeln in internationalen
Krisen auch nur angedeutet werden. Das politische An-
liegen, das sich 2004 im Aktionsplan „Zivile Krisen-
prävention“ noch widergespiegelt hat, dass nämlich die
Bundesrepublik Deutschland ihre Friedensverantwor-
tung in der Welt vorwiegend zivil und nicht militärisch
wahrnimmt, soll nun vollständig entkernt und seiner Be-
deutung entkleidet werden.
Da rächt sich nun, dass die Bundeswehr seit 1992
systematisch zur Einsatzarmee und zum Instrument für
sogenannte deutsche Interessen in aller Welt umgebaut
wurde. Ein wenig erinnert das an Goethes Zauberlehr-
ling, der die militaristischen Geister, die er zum schein-
bar wohltätigen Werk rief, nun nicht mehr loswird. Und
manchmal hat man ja sogar den Eindruck, dass jemand
wie Wladimir Putin oder Donald Trump den politischen
Eliten dieses Landes gerade recht ist – als billige Begrün-
dung dafür, das eigene Militär noch mehr aufzuwerten,
weiter aufzurüsten und auch die EU in ein Militärbündnis
umzubauen.
Überaus billig und durchschaubar ist auch der Ver-
such, das 2-Prozent-Ziel der NATO hinter einem 3-Pro-
zent-Ziel zu verstecken, in dem dann Ausgaben für Di-
plomatie, Krisenprävention, Entwicklungspolitik und
sogar Humanitäre Hilfe aufgehen. Sie wissen nämlich
genau, dass die Bevölkerung die massive Aufstockung
der Militärausgaben ablehnt, und so wollen Sie den Men-
schen Sand in die Augen streuen. Seien Sie gewiss: Die
Linke wird diese falsche und fatale Politik nicht akzep-
tieren, nicht heute, nicht nach der Wahl und auch nicht
in 10 oder 20 Jahren. Wir werden weiter dafür kämpfen,
dass deutsche Außenpolitik endlich zivile Friedenspolitik
wird, ohne Wenn und Aber.
Dr. Franziska Brantner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Mitte Februar, bei der ersten Lesung, waren es
mickrige 25 Minuten Debattenzeit; jetzt wird der Tages-
ordnungspunkt „zivile Krisenprävention“ zu nachtschla-
fender Zeit abgehandelt. So feiert diese Bundesregierung
die bislang umfangreichste Verbesserung für ihre zivilen
Expertinnen und Experten, die sie in internationale Ein-
sätze schickt. Wie Sie sich ihr immer wieder betontes
Plädoyer für „mehr Verantwortung“ vorstellen, meine
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 23059
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Damen und Herren von der Großen Koalition, soll offen-
bar niemand mitbekommen.
Aber zum Glück wirkt das Gesetz in der Praxis, und
damit wird es demnächst konkret spürbar für alle Betrof-
fenen. Alle zivilen Expertinnen und Experten erhalten
demnächst einen regulären Arbeitsvertrag. Damit sind
sie erstmals versicherungsrechtlich abgesichert. Dadurch
verschwindet das Risiko von internationalen Einsätzen
zwar nicht; aber es lässt sich besser abschätzen und ob-
liegt nicht mehr gänzlich den jeweiligen Betroffenen. Die
Bundesregierung übernimmt also die Verantwortung, die
ihr zukommt, wenn sie Menschen in ihrem Auftrag zur
Friedensarbeit in der Welt entsendet. Endlich!
Auch das Zentrum für Internationale Friedenseinsätze
wird das neue Gesetz spüren, wenn es demnächst eine
vollständige Entsendeorganisation ist und ihre Aufgabe
als Arbeitgeberin noch besser wahrnehmen kann. Es sind
und werden spannende Zeiten für das ZIF, die hoffentlich
zum Ergebnis haben werden, dass wir in Zukunft mehr
deutsche Expertise in weltweiten Einsätzen erleben wer-
den.
Trotz der Verbesserungen, die erreicht wurden: Das,
was wir heute hier abschließend beraten, könnte für die
Sekundierten noch besser sein. Ich denke da an simple,
aber wichtige Dinge wie Beschränkungen des Reisege-
päcks, keine regelmäßigen Heimatflüge, keine Regelung
für den Familiennachzug. Kurzum: Da ist noch Luft nach
oben!
So wenig die Öffentlichkeit offenbar von den Verbes-
serungen erfahren soll, so unklar bleibt die Bundesregie-
rung auch bei ihren Zielen in den zukünftigen Leitlinien
zur zivilen Krisenprävention. Unsere Anträge wurden
routinemäßig abgelehnt. Dabei vergibt die Bundesregie-
rung eine Chance, die zivile Konfliktbearbeitung kontro-
vers zu diskutieren und nach bestmöglichen Lösungen zu
suchen. Wo ist denn das neue Grundsatzdokument zur zi-
vilen Krisenprävention, das ursprünglich für Anfang des
Jahres angekündigt war? Gibt es etwa – auch bei diesem
Thema – koalitionsinternen Zoff? Oder wissen Sie nicht,
worum es gehen soll? Wir geben Ihnen gern Nachhilfe.
Warum brauchen Sie so lange? Greifen Sie einfach unse-
re Ideen auf! Gerade wir Grünen haben uns intensiv mit
den Möglichkeiten und Grenzen der zivilen Krisenprä-
vention auseinandergesetzt. Dieses Thema gehörte und
gehört immer zum Kern unserer Außenpolitik.
Wer im Bereich „zivile Krisenprävention, Menschen-
rechts- und Entwicklungszusammenarbeit“ eine so
schlechte Bilanz hat, der muss sich nicht feiern lassen –
oder er weiß genau, warum er zu nachtschlafender Zeit
darüber debattieren lässt.
Anlage 12
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Ge-
setzes zur Entlastung insbesondere der mit-
telständischen Wirtschaft von Bürokratie
(Zweites Bürokratieentlastungsgesetz) (Zusatzta-
gesordnungspunkt 4)
Helmut Nowak (CDU/CSU): Ein hochentwickel-
tes staatliches Gemeinwesen wie die Bundesrepublik
Deutschland benötigt eine leistungsfähige Bürokratie.
Dennoch müssen wir uns fragen, ob es bei uns seit länge-
rem nicht ein Zuviel des Guten gibt.
Allein zwischen Juli 2015 und Juli 2016 sind die jähr-
lichen Folgekosten von Gesetzen für Bürger, Wirtschaft
und Verwaltung insgesamt um 453 Millionen Euro an-
gestiegen. Der hohe Anstieg in diesem Zeitraum ist vor
allem auf ein Regelungsvorhaben zurückzuführen: Allein
das Gesetz zur Digitalisierung der Energiewende verur-
sacht 139 Millionen Euro Folgekosten, jährlich! Von dem
Anstieg besonders betroffen ist, wie auch in den vergan-
genen Jahren, die Wirtschaft. Hier erhöhten sich die Fol-
gekosten im Vergleich zur Vorperiode um 299 Millionen
Euro, vor allem durch die Umsetzung von EU-Recht.
Wir müssen zusehen, dass wir die derzeitigen Erfol-
ge der deutschen Wirtschaft auch noch in Zukunft feiern
können. Nur eine erfolgreiche Wirtschaft sichert unseren
sozialen Wohlstand. Unternehmer und Freiberufler sollen
sich doch in erster Linie um ihre Unternehmung küm-
mern und nicht primär um die Befriedigung der Statistik.
Schaut man sich einmal die Unzahl an Berichtspflichten
und Meldungen an staatliche Stellen an, die bereits klei-
ne Firmen heute zu bewerkstelligen haben, so lässt sich
durchaus nachvollziehen, dass viele Menschen in unse-
rem Land schlicht keine Lust haben, sich selbstständig
zu machen. Wir sollten daher als Politik dringend han-
deln und sehen, wo wir denjenigen, die in Deutschland
im besten Sinne des Wortes etwas „unternehmen“, Steine
aus dem Weg räumen können.
Die Rahmenbedingungen, die die Politik setzen will
und muss, dürfen nicht mehr Bürokratie aufbauen, als er-
forderlich ist. Dieser Leitspruch hat uns auch in dieser Le-
gislaturperiode begleitet. Das führte zu zwei erfolgreich
verabschiedeten Bürokratieentlastungsgesetzen. Das ers-
te wies einen reduzierten jährlichen wirtschaftsseitigen
Erfüllungsaufwand von rund 744 Millionen Euro auf.
Mit dem vorliegenden erreichen wir erneut eine große
Entlastung für die Wirtschaft, circa 365 Millionen Euro
pro Jahr. Zusammen mit der Modernisierung im Vergabe-
recht kommen wir damit auf eine Entlastung von bis zu
2 Milliarden. Ein wirklich erfreuliches Ergebnis!
Der aktuelle Gesetzentwurf ist also wieder ein Schritt
in die richtige Richtung. Er enthält viele gute Ansätze,
insbesondere in der Schwerpunktsetzung für die mittel-
ständische Wirtschaft. So müssen künftig Unternehmen
Lieferscheine, die keine Buchungsbelege sind, nicht
mehr zwingend aufbewahren. In einem zukünftigen
Schritt wäre es wünschenswert, die Aufbewahrungsfris-
ten insgesamt zu überprüfen und gegebenenfalls neu zu
definieren bzw. deutlich zu verkürzen. Die unterschiedli-
chen Aufbewahrungsfristen führen bei manchen Firmen
dazu, vorsichtshalber nahezu alles aufzubewahren, so-
dass auch die von uns gutgemeinten Verkürzungen teil-
weise ins Leere laufen.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 201723060
(A) (C)
(B) (D)
Die Anhebung der Grenze für die Fälligkeit von
Lohnsteuer von 4 000 auf 5 000 Euro wird insbesondere
kleinere Unternehmen spürbar von Meldepflichten be-
freien. Es wäre noch besser, die Grenze auf zumindest
5 500 Euro anzuheben. Lassen Sie mich das kurz ver-
deutlichen: Mit zwei Mitarbeitern, vollzeitbeschäftigt,
mit dem Mindestlohn von 8,84 Euro, 40 Arbeitsstunden
an 52 Wochen – das ergibt 36 780 Euro. Die Grenze für
5 000 Euro liegt bei 34 850 Euro.
Die Erhöhung der Kleinbetragsgrenzen von 150 auf
250 Euro ist eine gute und bürokratieentlastende Vor-
schrift. EU-rechtlich wären sogar 400 Euro möglich.
Zu begrüßen ist auch die Vereinheitlichung der Fäl-
ligkeit von Sozialversicherungsbeiträgen, bei der, wie
vom Nationalen Normenkontrollrat vorgeschlagen, eine
bisherige Ausnahmeregelung nunmehr als vereinfachtes
Verfahren zur dauerhaften Regelung wird. Diese Rege-
lung stellt ebenfalls eine Verbesserung dar. Hier habe
ich mir gewünscht, dass wir den Mut gehabt hätten, die
Rückkehr zur alten Regelung von vor 2006 zu beschlie-
ßen. Die Änderung wurde damals mit der angespannten
Haushaltssituation der sozialen Sicherungssysteme be-
gründet, was heute wahrlich nicht mehr zutrifft.
Einmal als sinnvoll erachtete und daher zugestande-
ne Freibeträge und Schwellenwerte sollten daher einer
regelmäßigen Anpassung unterzogen werden, um ihren
ursprünglichen Sinn zu erhalten. Das trifft insbesonde-
re auch auf die Anhebung der Schwellenwerte für die
Sofortabschreibung geringwertiger Wirtschaftsgüter,
GWG, zu. Das ist übrigens ein gutes Beispiel dafür, wie
langwierig es sein kann, ein kleines Stück Bürokratie
abzubauen: Die GWG-Grenze ist seit 53 Jahren nicht
mehr angehoben worden und liegt unverändert bei um-
gerechnet 410 Euro, was heute inflationsbereinigt etwa
1 570 Euro entspricht. Die letzte Anpassung war im
Jahr 1964! Ich habe mich seit drei Jahren für eine Erhö-
hung des Schwellenwertes eingesetzt und nach langem,
stetigem Einsatz nun endlich eine Einigung mit dem Ko-
alitionspartner gefunden: die Anhebung von 410 Euro
auf 800 Euro.
In diesem Zusammenhang möchte ich mich auch für
die erfolgreiche Zusammenarbeit mit Frau Wicklein von
der SPD bedanken, mit der ich stets einen vertrauens-
vollen Austausch hatte. Noch besser wäre die von mir
favorisierte Anhebung auf 1 000 Euro gewesen. Damit
wäre die Poolabschreibung entfallen und zusätzliche Bü-
rokratie abgebaut worden. Ich freue mich trotzdem, dass
wir durch diese Anhebung auf 800 Euro auch insbeson-
dere kleinere und mittlere Unternehmen erreichen, die
davon profitieren und einen Investitionsimpuls von circa
400 Millionen Euro auslösen werden.
Eine weitere positive Entwicklung ist bei der One-in-
one-out-Regel zu beobachten. In den anderthalb Jahren
seit Einführung der Regel zum 1. Januar 2015 ist das
„out“, die Entlastung der Wirtschaft, um knapp 1 Milliar-
de Euro höher ausgefallen als das „in“, also die Belastung
der Wirtschaft. Ausschlaggebend für diese Entlastungen
sind vor allem die beiden Bürokratieentlastungsgesetze.
Dadurch wurden insbesondere kleine und mittlere Un-
ternehmen sowie Unternehmensgründer von unnötigem
bürokratischem Aufwand befreit.
Kern der One-in-one-out-Regel ist, in gleichem Maße
Belastungen abzubauen, wie durch neue Regelungsvor-
haben zusätzliche Belastungen entstehen. Die Bundes-
regierung ist damit auf einem guten Weg, ihr Ziel, den
Anstieg von Belastungen dauerhaft zu begrenzen, ohne
politisch gewollte Maßnahmen zu behindern, zu errei-
chen.
Eine weitere positive Entwicklung sehe ich bei dem
von der Bundesregierung 2015 initiierten Lebenslagen-
modell. Das Statistische Bundesamt befragt seit 2014
ergänzend zu den bisher eingeführten quantitativen
Verfahren des Regierungsprogramms „Bürokratieabbau
und bessere Rechtsetzung“ regelmäßig Bürgerinnen und
Bürger und Unternehmen: Wie werden innerhalb be-
stimmter Lebenslagen der Kontakt und die Zusammen-
arbeit mit der Verwaltung wahrgenommen? Gerade die
Behördenkontakte sind es doch, bei denen der Einzelne
mit überbordender Bürokratie konfrontiert wird. Aus den
Ergebnissen der Befragung können Hinweise zu mögli-
chen Optimierungen von Verwaltungskontakten abgelei-
tet werden. Die Ergebnisse der ersten Befragung waren
sehr aufschlussreich. Vor allem eine transparentere und
schnellere Verwaltung wäre sowohl für Bürger als auch
für Unternehmen erstrebenswert. Die Lebenslage „Bau
einer Betriebsstätte“ schien Betrieben besondere Sorgen
zu bereiten.
Zu Beginn dieses Jahres startete eine weitere Befra-
gungsrunde. Wünschenswert wäre es, wenn die Zufrie-
denheit bei Transparenz und Schnelligkeit zugenommen
hätte, also eine spürbare Verbesserung wahrgenommen
worden wäre.
Bürokratie ist ein wichtiges Thema und wird dies auch
zukünftig bleiben. Das zeigt auch die heutige Debatte
zum Bürokratieentlastungsgesetz II.
In dieser Legislaturperiode sind wir bereits ein gutes
Stück vorangekommen. Darauf sollten wir uns nicht aus-
ruhen. Wir müssen in Zukunft noch besser darauf achten,
dass Gesetze für Bürger, Wirtschaft und Verwaltungen
verständlicher sind und auf unnötige Bürokratie verzich-
tet wird. Wie die öffentliche Anhörung zum Bürokratie-
entlastungsgesetz deutlich gezeigt hat, besteht noch viel
Handlungsbedarf.
Die Wichtigkeit des Bürokratieabbaus wurde auch be-
reits am Anfang der Legislaturperiode von der Bundes-
kanzlerin herausgestellt und als zentrales Querschnitts-
thema identifiziert. Es war daher nur folgerichtig, das
Bürokratieentlastungsgesetz II anzugehen, wobei ich mir
sicher bin, dass uns dieses Thema auch künftig begleiten
wird.
Andrea Wicklein (SPD): Heute ist ein guter Tag für
den Bürokratieabbau in Deutschland. Heute beschließen
wir das Zweite Bürokratieentlastungsgesetz in dieser Le-
gislaturperiode. Wir werden damit den Verwaltungsauf-
wand in den Unternehmen um insgesamt jährlich rund
360 Millionen Euro verringern. Das sind etwa 10 Millio-
nen Arbeitsstunden.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 23061
(A) (C)
(B) (D)
Unsere Bilanz beim Bürokratieabbau und bei besserer
Rechtsetzung in dieser Legislaturperiode kann sich sehen
lassen: Bereits mit dem Ersten Bürokratieentlastungsge-
setz 2015 haben wir die Wirtschaft um rund 700 Milli-
onen Euro pro Jahr entlastet. Damals haben wir über-
flüssige Buchführungs- und Aufzeichnungspflichten oder
Meldepflichten für Existenzgründerinnen und Existenz-
gründer sowie junge Unternehmen reduziert und rund
150 000 Unternehmen spürbar entlastet.
Beim Zweiten Bürokratieentlastungsgesetz haben wir
jetzt Kleinstunternehmen mit nur zwei bis drei Mitar-
beiterinnen und Mitarbeitern in den Blick genommen.
Gerade diese Kleinstunternehmen spüren unnötige bü-
rokratische Belastungen besonders stark. Wir müssen
uns immer wieder bewusst machen: Große Unternehmen
können sich eigene Steuer- oder Personalabteilungen
leisten. Bei Kleinstunternehmen muss der Handwerker
oder Freiberufler die Bürokratie neben der eigentlichen
Arbeit selbst erledigen. Davon wollen wir sie jetzt mit
dem Zweiten Bürokratieentlastungsgesetz noch mehr
entlasten, damit mehr Zeit für das Wesentliche bleibt.
Laut Statistischem Bundesamt ist mehr als jedes vierte
Unternehmen in Deutschland ein Kleinstunternehmen mit
maximal drei Mitarbeitern. Was viele nicht wissen: Diese
Kleinsten haben eine enorme wirtschaftliche Bedeutung
für unser Land, für Beschäftigung und Wohlstand. Sie
zählen etwa 1,6 Millionen sozialversicherungspflichtig
Beschäftigte und erwirtschaften einen Umsatz von mehr
als 240 Milliarden Euro. Dazu gehören das Handwerk
und die Freien Berufe und zählen vor allem Branchen
wie das Baugewerbe, der Handel, das Gastgewerbe oder
der Dienstleistungsbereich.
Worum geht es im Zweiten Bürokratieentlastungsge-
setz? Wir modernisieren die Handwerksordnung. Künf-
tig sollen Handwerkskammern mit ihren Mitgliedern
stärker digital kommunizieren können. Hierfür können
sie elektronische Kontaktdaten erfragen und in die Hand-
werksrolle aufnehmen. Das Entlastungvolumen wird da-
bei 14,2 Millionen Euro betragen.
Wir vereinfachen die Berechnung der Sozialversiche-
rungsbeiträge. Anstatt jeden Monat die Beitragshöhe zu
schätzen und im darauffolgenden Monat eine Korrektur
vorzunehmen, können die Unternehmen künftig den
Vormonatswert verwenden. Dieses erleichterte Beitrags-
berechnungsverfahren werden geschätzt zusätzlich rund
300 000 Unternehmen nutzen. Die Entlastung beträgt
hier alleine 64 Millionen Euro.
Wir erleichtern die vereinfachte Rechnungsstellung.
Wir heben deshalb den Schwellenwert für Kleinbetrags-
rechnungen von 150 Euro auf 250 Euro Rechnungsbetrag
an – Entlastung: mindestens 43 Millionen Euro.
Wir verbessern das Verfahren bei den Lohnsteueran-
meldungen. Die Grenze, bis zu der eine vierteljährliche
anstelle der üblichen monatlichen Abgabe von Lohnsteu-
eranmeldungen möglich ist, wird von 4 000 Euro auf
5 000 Euro angehoben – Entlastung: 2 Millionen Euro.
Wir stärken den Einheitlichen Ansprechpartner und das
E-Government. Der Bund wird künftig Auslegungshilfen
zu Gesetzen und Verordnungen auf den Internetportalen
von Bund, Ländern und Kommunen bereitstellen. Hier-
durch wird gewährleistet, dass auf den verschiedenen
Verwaltungsebenen einheitliche, auf gemeinsamen Stan-
dards beruhende Informationen verfügbar sind.
Und schließlich entlasten wir die Pflege. Künftig wird
eine sichere Übermittlung aller für die Abrechnung von
pflegerischen Leistungen erforderlichen Unterlagen in
Form elektronischer Dokumente möglich sein – Entlas-
tung: 12,4 Millionen Euro.
Die Expertenanhörung zum Zweiten Bürokratieent-
lastungsgesetz hat deutlich gemacht, dass diese Entlas-
tungen richtig sind. Sie hat aber auch gezeigt, dass wir
den Abbau unnötiger bürokratischer Regelungen konse-
quent fortsetzen müssen. Ich bin deshalb sehr froh, dass
wir uns mit der CDU/CSU-Fraktion doch noch auf eine
deutliche Anhebung des Schwellenwertes für die So-
fortabschreibung geringwertiger Wirtschaftsgüter eini-
gen konnten. Zwar wird diese Entlastung nicht Teil des
Zweiten Bürokratieentlastungsgesetzes sein, sondern auf
Wunsch der Unionsfraktion in einem Steuergesetz unter-
gebracht. Aber das Gesetz ist mir eigentlich egal. Ent-
scheidend ist vielmehr, dass die Sofortabschreibung ab
2018 dann nicht mehr nur für geringwertige Wirtschafts-
güter bis 410 Euro, sondern bis 800 Euro möglich wird.
Darauf haben gerade die kleinen Unternehmen schon viel
zu lange gewartet. Es stimmt: In der Politik braucht man
oft einen langen Atem. Aber diese Anpassung hat schon
eine kleine Ewigkeit gedauert.
Seit 1965 sind die Schwellenwerte für die Sofortab-
schreibung geringwertiger Wirtschaftsgüter von 800 DM
und jetzt umgerechnet 410 Euro netto unverändert ge-
blieben. 410 Euro sind es seit 52 Jahren! In keiner der
vorherigen Legislaturperioden gab es im Deutschen Bun-
destag eine Mehrheit für eine Anpassung des Schwellen-
wertes. Selbst die Erfindung des Handys oder des Tablets
hat nicht zu einer Anpassung des Schwellenwertes für die
Sofortabschreibung geführt. Dabei muss doch allen klar
sein, dass sich die Preise für geringwertige Wirtschafts-
güter in den vergangenen Jahrzehnten mehr als verdop-
pelt haben. Ich war deshalb sehr froh, als der damalige
Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel diesen Punkt
bereits Anfang 2014 auf seine Agenda bei den Bürokra-
tieentlastungsmaßnahmen gesetzt hat.
Und ich bin sehr froh, mit meinem Kollegen von der
CDU, Helmut Nowak, einen hartnäckigen Partner im po-
litischen Streit um die Anhebung der Geringwertigen an
meiner Seite zu wissen. Dafür möchte ich mich an dieser
Stelle ausdrücklich und ganz herzlich bei Helmut Nowak
bedanken. Gemeinsam auch mit vielen weiteren Mitstrei-
tern ist es uns am Ende gelungen, wie gesagt, nach mehr
als 50 Jahren!
Der höhere Schwellenwert wird bei Freiberuflern,
Handwerk und Mittelstand zu Entlastungen führen und
darüber hinaus Investitionen auslösen. Alle Sachverstän-
digen haben bei der Anhörung unterstrichen: Die Anhe-
bung verringert Aufzeichnungspflichten und entlastet
Unternehmen, Kommunen sowie Finanzverwaltungen.
Der größte Vereinfachungseffekt entsteht für nicht buch-
führungspflichtige Unternehmen, also Gewerbetreibende
mit einem Gewinn bis maximal 50 000 Euro jährlich bzw.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 201723062
(A) (C)
(B) (D)
Umsatz bis maximal 500 000 Euro jährlich und Freibe-
rufler. Damit ist diese Anhebung eine Vereinfachung für
die mehrheitlich kleinen Unternehmen. Der DIHK geht
von wenigstens 3 Millionen betroffenen Unternehmen
und zusätzlich 15 Millionen Wirtschaftsgütern aus und
beziffert die Entlastung auf sogar rund 385 Millionen
Euro.
Mit den beiden Bürokratieentlastungsgesetzen und
dem neuen Vergaberecht haben wir in dieser Legisla-
turperiode den Erfüllungsaufwand für Unternehmen
um 2 Milliarden Euro gesenkt. Das ist erheblich. Hin-
zu kommt die One-in-one-out-Regelung, die bereits seit
1. Juli 2015 in Kraft ist und die Bundesregierung dazu
verpflichtet, wenn durch neue Regelungen Belastungen
für die Wirtschaft entstehen, sie an anderer Stelle abzu-
bauen. Das hat zusätzlichen Druck in die Ministerien
gebracht, die eigenen Regelungen auf das Notwendige
zu beschränken und immer wieder kritisch zu verfolgen.
Ich finde, wir haben mit unseren Maßnahmen zum Ab-
bau von unnötiger Bürokratie und besserer Rechtsetzung
in dieser Legislaturperiode einen guten Weg eingeschla-
gen, der vom kommenden Bundestag fortgesetzt werden
muss; denn Abbau von unnötiger Bürokratie und bessere
Rechtsetzung sind und bleiben eine Daueraufgabe von
Regierung und Parlament.
Michael Schlecht (DIE LINKE): Es ist bemerkens-
wert, dass die Koalition beim Ersten Bürokratieentlas-
tungsgesetz noch die ganz große Bühne in der Kernde-
battenzeit des Parlaments gesucht hat und nun mehr das
Thema gleich sehr weit nach hinten gerutscht ist. Offen-
sichtlich haben Sie auch erkannt, dass das Thema nur be-
grenzt begeistern kann.
Ich will es kurz halten: Ich hatte Ihnen, den Damen
und Herren der Regierungsparteien, beim ersten Büro-
kratieentlastungsgesetz einen Tipp gegeben, wie sie mit
dem Thema Bürokratieabbau massenhaft Jubelstürme
auslösen könnten. Schaffen Sie das Bürokratiemonster
Hartz IV ab. Die durchschnittliche Akte eines Hartz-IV-
Haushalts bei der Agentur für Arbeit ist etwa 650 Seiten
dick. Das ist und bleibt Bürokratieunfug.
Jetzt liegt uns also das Zweite Bürokratieentlastungs-
gesetz vor. Und wieder geht es um bürokratische Entlas-
tungen ausschließlich für Unternehmen. Unternehmerin-
nen und Unternehmer dürfen sich freuen, für alle anderen
bringt dieses Bürokratieentlastungsgesetz wieder nichts.
In den Gesetzesbegründungen nehmen Sie wieder
Bezug auf die sogenannte One-in-one-out-Regelung,
nach der bei einer zusätzlichen bürokratischen Belastung
durch ein neues Gesetz eine zwingende Entlastung für
Unternehmen vorzusehen ist. Mit der One-in-one-out-
Regelung entscheidet nicht mehr Sach- und Fachpolitik
über Sinnhaftigkeit von gesetzlichen Regelungen, son-
dern das Gebot, dass die Kostenbelastung der Unterneh-
men nicht durch Regelungstatbestände – auch wenn sie
sinnvoll sind – erhöht werden darf. Das lehnen wir wei-
terhin ab. Notwendige soziale oder ökologische Regulie-
rungen werden so nur künstlich erschwert.
Den meisten einzelnen konkreten Maßnahmen im
vorliegenden Gesetz könnten wir durchaus zustimmen,
allerdings halten wir den Grundansatz des Gesetzes für
falsch. Daher können wir uns hier nur enthalten.
Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Bürokratieentlastung – wer von uns fordert dies
nicht, wenn Steuererklärungen ausgefüllt, eine Bestel-
lung aufgegeben oder ein Anmeldeformular ausgefüllt
werden muss. Auch wenn wir die Sinnhaftigkeit mancher
Information in Zweifel ziehen, so müssen wir aber immer
wieder zugeben: Viele der Informationen sind unabding-
bar für ein geordnetes gesellschaftliches Zusammenle-
ben. Aber spätestens bei zum Beispiel dem Schriftver-
kehr zu einer Ordnungswidrigkeit im Verkehr oder der
Einladung zu einem Gerichtstermin, der Beantragung ei-
ner Zahnbehandlung oder eines neuen Personalausweises
ist man erschrocken, in welch geringem Umfang die mo-
dernen Methoden der digitalen Wirtschaft Einzug in Ver-
waltungshandeln gefunden haben. Was im persönlichen
Bereich lästig ist, kostet im Bereich der Unternehmen
aber schlicht Geld und mindert die Wettbewerbsfähigkeit
von Unternehmen.
Damit komme ich zu einem zentralen Vorwurf an die
Regierungsfraktionen gleich vorab: Viel zu gering sind
Ihre Bemühungen, die Chancen für einen substanziellen
Bürokratieabbau durch Digitalisierung zu nutzen. Mir ist
schon klar, dass dies nicht im Vorbeigehen zu erledigen
ist, umso mehr kritisiere ich, dass die Bundesregierung
weder in der Zusammensetzung entsprechender Gremi-
en noch im Projektmanagement die Herausforderungen
der Digitalisierung angenommen hat. Das hat mindestens
die Dimension des Versagens der Aufsicht beim Berliner
Flughafen BER – mit dem Unterschied, dass das Versa-
gen der Regierung hier nicht offenkundig, aber Abhilfe
noch weniger in Sicht ist als beim Berliner Flughafen.
So sind wir im Bereich der Digitalisierung bald deutlich
mehr als fünf Jahre hintendran – und das wird zuneh-
mend ein Wettbewerbsnachteil für Deutschland.
Aber schauen wir uns den vorliegenden Gesetzentwurf
genauer an. Ja, es ist ja richtig: Bei Bürokratieentlastung
geht es nicht um den ganz großen Wurf. Vielmehr sind
viele kleine Schritte nötig, um bürokratische Belastungen
abzubauen. Mit dieser Perspektive ist zunächst auch das
heute vorliegende Gesetz zu bewerten. So die positive
Feststellung: Die vorgeschlagenen Maßnahmen gehen in
die richtige Richtung und sorgen für punktuelle Erleich-
terungen. Deshalb werden wir dem Gesetzentwurf auch
zustimmen.
Gleichzeitig müssen wir aber auch massive Kritik an-
melden. Einige Maßnahmen sind definitiv nicht weitfüh-
rend genug. Und viele Maßnahmen fehlen gänzlich.
Ich will das gerne näher ausführen:
Wenn wir die Änderungen schon anpacken, dann bitte
schön auch so, dass wir den Rahmen der möglichen Ent-
lastung auch voll ausschöpfen. Das betrifft vor allem die
Fälligkeitsregelung der Sozialversicherungsbeiträge. Ich
komme darauf gleich noch mal darauf zurück.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 23063
(A) (C)
(B) (D)
Aber dann fehlen auch ganz wichtige Projekte und
Themen: Digitalisierung – das Thema habe ich schon an-
gesprochen – und das Thema Poolabschreibung bei ge-
ringwertigen Wirtschaftsgütern. Das hätte so dringend in
dieses Gesetz gehört, so wie mehrfach angekündigt. Da-
bei geht es nicht nur um die Erhöhung des Betrages, son-
dern ganz besonders um den Bürokratieabbau. Was für
ein gravierender Fehler, dieses Thema in die Hände der
Haushälter und Steuerberater im Wirtschaftsausschuss zu
legen. Beide sind erkennbar sehr weit von der Realität
in den Betrieben entfernt – übrigens sind das oft auch
die Steuerabteilungen in den Betrieben selbst. Wer wie
ich 25 Jahre in der Industrie zugebracht hat, weiß, dass
auch in den Betrieben das Verständnis zwischen operativ
Verantwortlichen und Steuerabteilung nicht immer vom
Respekt gegenüber der jeweils anderen Fachabteilung
geprägt ist. Also hier ist – wenn ich die Signale aus Mi-
nisterium und Koalitionsfraktion richtig empfange – ein
Desaster zu erwarten: Man habe sich auf „eine Verdopp-
lung des Wertes“, also 800 Euro, geeinigt, ohne damit
die wichtige Grenze von 1 000 Euro als Bedingung für
die Abschaffung der Poolabschreibung zu erreichen. Ich
sage das jetzt bewusst einmal so, dass es jeder verstehen
kann: Eine bescheuertere Entscheidung ist schlicht nicht
vorstellbar. Eine Schande für Herrn Gabriel, der sich
schnell auf den Außenministerposten abgemacht hat und
seine Zusagen als Wirtschaftsminister in dieser Sache im
Mittelstandsausschuss des Wirtschaftsministeriums hier
nicht mehr einlösen kann.
Hier kann ich nur erneut an die Kolleginnen und Kol-
legen der Koalitionsfraktionen appellieren: Der Wert
für die geringwertigen Wirtschaftsgüter und damit die
Sofortabschreibung wurde zuletzt 1964 unter einem
Bundeskanzler Ludwig Erhardt erhöht. Wenn wir diese
Regelung nun anpassen, dann so, dass sie eine echte Ver-
waltungsvereinfachung bringt und auch beständig ist. Es
könnte ja erneut 53 Jahre bis zu einer Anpassung dauern.
Darum: Schaffen Sie die Poolabschreibung ab. Wir Grü-
ne werden uns im weiteren Prozess hierfür einsetzen.
Und dann noch mal zurück zum Thema Abführung der
Sozialversicherungsbeiträge: Auch hier eine allenfalls
Second-best-Lösung. Dies hat der Normenkontrollrat in
seinem Gutachten geprüft und festgestellt. Ja, ich gestehe
ein: Hier kann mit der getroffenen Regelung die Bürokra-
tie deutlich eingeschränkt werden. Aber wir belasten Un-
ternehmen mit stark schwankenden Beiträgen mit hohen
Liquiditätseinbußen, indem die Lohnsumme des Vor-
monats angesetzt wird. In Zeiten guter Liquidität auch
und gerade der Sozialkassen hätte doch hier der Schritt
zur Wiedereinführung der Regelung vor 2006 erfolgen
können. Erinnern wir uns: Damals wurde das Vorziehen
der Abführung der Sozialversicherungsbeiträge aufgrund
einer akuten Notlage der Sozialversicherungskassen
vorgenommen – aber diese Notlage ist doch bei weitem
nicht mehr gegeben. Da muss man doch sehen, dass wir
uns in den guten Zeiten wieder einen Puffer zulegen.
Und natürlich gilt auch hier: Bürokratieabbau: Es
muss das Ziel sein, dass kleine und mittlere Unternehmen
nur einmal zahlen, nur einmal im Monat sich mit dem
Thema befassen müssen und damit tatsächlich entlastet
werden. Das geht nur mit Rückkehr zur Regelung, die
vor 2006 galt. Dabei kommt dann regelmäßig die Bemer-
kung: Das kostet 30 Milliarden Euro. Aber es ist eben nur
eine Verschiebung von 30 Milliarden Euro in das nächste
Haushaltsjahr. Das ist also nur ein Liquiditätseffekt, den
wir uns übrigens gerade jetzt in Zeiten niedriger Zinsen
gut leisten könnten. Wann werden sich endlich unterneh-
merisches Denken und Aspekte der Bilanzierung auch in
den Ministerien und bei den Haushältern durchsetzen?
Kommen wir aber zu weiteren Punkten: Zur Aufbe-
wahrungspflicht von Lieferscheinen sieht das Gesetz
eine neue Reglung vor. Die Pflicht zur Aufbewahrung
von Lieferscheinen entfällt dann, wenn Lieferscheine
keine Buchungsbelege sind. Diese Regelung soll rund
zwei Drittel der kalkulierten Bürokratieentlastung im ge-
samten Gesetz bringen. Aber hören wir genau hin: Diese
Höhe ist bei der Vielzahl der vorgebrachten Bedenken
von Bundesrat und Verbänden zweifelhaft. In der Anhö-
rung haben Handwerk und Industrie deutlich gemacht,
dass sie Probleme bei der praktischen Anwendung sehen.
Auch die Steuerberater kritisieren die neugeschaffene
Rechtsunsicherheit. Konkret besteht die Gefahr, dass
Lieferscheine zu früh vernichtet werden, was bei den
Unternehmen zu Problemen beim Vorsteuerabzug führen
kann. Auch die Länder im Bundesrat lehnen diese Rege-
lung ab. Weil Lieferscheine oft Bestandteil der Rechnun-
gen und bei Bargeschäften oft der einzige Anhaltspunkt
bei der Ermittlung von Steuerhinterziehung sind, kann
die neue Regelung Lücken bei der Verfolgung erzeugen.
Und auch hier noch mal der Hinweis: In der Digitalen
Welt wäre das Thema erledigt. Heute schon werden Lie-
ferungen und Leistungen zu weit über 90 Prozent digital
abgebildet – aber wir sind weit entfernt, diese Möglich-
keiten für die entsprechenden Verwaltungsvorgänge an
der Schnittstelle von Privatwirtschaft und Staat zu nut-
zen. Eine Schande!
Kurz vor Abschluss der Beratungen hat die Koalition
dann doch noch Verbesserungsbedarf gesehen und Än-
derungen eingebracht. Anpassung an erhöhten Mindest-
lohn bei pauschalierter Lohnsteueranmeldung sowie die
Anhebung der Kleinbetragsrechnung von 150 Euro auf
250 Euro. Hierfür werden rund 10 Millionen Euro Steu-
ermindereinnahmen gegenüber 28,6 Millionen Euro Ent-
lastung seitens der Wirtschaft veranschlagt. Immerhin.
Aber was für ein Armutszeugnis gegenüber dem Einspa-
rungspotenzial beim E-Government in der Größenord-
nung von einigen Milliarden Euro.
Ich möchte nicht schließen, ohne nicht noch einen
weiteren Schritt auf dem mühsamen Weg des Bürokratie-
abbaus vorzuschlagen. Eine handfeste Erleichterung und
echte Anpassung an die Lebenswirklichkeit, die wir auch
in die Ausschussberatungen eingebracht haben – leider
erfolglos. Er betrifft die Umsatzsteuervoranmeldung und
die wirklichkeitsfremde Berufseinschränkung von Bi-
lanzbuchhalterinnen und Bilanzbuchhaltern. Sie dürfen
die Umsatzsteuervoranmeldung offiziell nicht ans Fi-
nanzamt senden, obwohl ihr tägliches Brot die Erstellung
exakt dieser Unterlage ist. Eine entsprechende Änderung
würde Rechtssicherheit für die Betroffenen schaffen und
überflüssige Verwaltungsschritte in Unternehmen abbau-
en. Aber der Änderungsantrag scheiterte an den Koaliti-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 201723064
(A) (C)
(B) (D)
onsfraktionen – oder sollte ich sagen: an der fehlenden
Lobby?
Bürokratieabbau ist ein mühseliges Geschäft. Die Ko-
alitionsfraktionen haben in ihrer Mehrheit offensichtlich
nicht begriffen, dass es hier ganz wesentlich um die in-
ternationale Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft geht,
sonst hätten sie das Thema viel ambitionierter angepackt.
Ich kann nur hoffen und mich dafür einsetzen, dass In-
stitutionen wie der Normenkontrollrat gestärkt werden,
um das Thema Bürokratieabbau weiter voranzutreiben.
An uns Grünen soll es nicht liegen!
Dirk Wiese, Parl . Staatssekretär bei der Bundesmi-
nisterin für Wirtschaft und Energie: Bürokratieabbau ist
eine Daueraufgabe und ein Anliegen jeder Regierung.
Das Wirtschaftsministerium hat in dieser Legislatur-
periode mit dem Bürokratieentlastungsgesetz I und der
Vergaberechtsmodernisierung bereits maßgeblich Büro-
kratie abgebaut.
Dabei wollen wir nicht stehen bleiben. Heute beraten
Sie abschließend über das zweite Bürokratieentlastungs-
gesetz. Das BEG II wird insbesondere kleinen Betrieben
mit zwei bis drei Mitarbeitern zugutekommen und ihnen
den Alltag erleichtern. Wir können mit diesem Gesetz ei-
nige wichtige Forderungen der Wirtschaft umsetzen. Ich
denke etwa an die dort vorgesehenen Erleichterungen bei
der Berechnung der Sozialversicherungsbeiträge: Die
bisherige aufwendige Schätzung der Beiträge entfällt.
Stattdessen dürfen die Unternehmen künftig auf den Vor-
monatswert abstellen.
Große Potenziale für Entbürokratisierung bestehen im
Bereich des E-Governments und der Digitalisierung. Das
hat der NKR zu Recht wiederholt angemahnt. Mit dem
BEG II tun wir einen Schritt in diese Richtung:
Erstens. Über die zentrale Bundesredaktion werden
Leistungsinformationen bereitgestellt. Das sind Ausle-
gungshilfen zu Gesetzen und Verordnungen des Bundes.
So werden auf den verschiedenen Verwaltungsebenen
einheitliche und leicht verständliche Informationen ver-
fügbar sein.
Zweitens. Wir öffnen die Handwerksordnung für die
elektronische Kommunikation. Dadurch entlasten wir die
Handwerkskammern und ihre Mitgliedsunternehmen.
Drittens. Schließlich wird die Abrechnung von Pfle-
gedienstleistungen erleichtert. Elektronische Dokumente
ersetzen Belege in Papierform. Dadurch bleibt mehr Zeit
für Pflege.
Und schließlich: Das BEG II entlastet die Wirtschaft
im Bereich des Steuerrechts, und zwar in ganz erhebli-
chem Umfang.
Wichtige Schwellenwerte im Steuerrecht werden an-
gehoben, und zwar bei den Kleinbetragsrechnungen und
beim Verzeichnis für geringwertige Wirtschaftsgüter. Es
freut mich, dass Sie hierbei über die Vorschläge des Re-
gierungsentwurfs hinausgehen wollen.
Bei Lieferscheinen, deren Inhalt durch die Rechnung
dokumentiert ist, entfällt die Pflicht zur Aufbewahrung.
Und schließlich wird die Grenze für die vierteljährli-
che Abgabe der Lohnsteueranmeldung angehoben.
Und lassen Sie mich kurz über den Tellerrand des
BEG II schauen: Ich begrüße es besonders, dass die Ab-
schreibungsgrenze für geringwertige Wirtschaftsgüter
signifikant auf 800 Euro angehoben werden soll. Auch
dies ist eine ganz wichtige Maßnahme zur Bürokratieent-
lastung, die das BEG I und BEG II ergänzt.
Kurz: Am Ende der Legislaturperiode gelingen wich-
tige Schritte, die – besser als manches Konjunkturpro-
gramm – unsere Ziele fördern: mehr Wachstum, mehr
und bessere Beschäftigung und mehr Innovationen.
Anlage 13
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über das
Verfahren für die elektronische Abgabe von Mel-
dungen für Schiffe im Seeverkehr über das Zent-
rale Meldeportal des Bundes und zur Änderung
des IGV-Durchführungsgesetzes (Tagesordnungs-
punkt 30)
Hans-Werner Kammer (CDU/CSU): Heute Morgen
haben wir leidenschaftlich über die Zukunft der mariti-
men Branche diskutiert. Die maritime Politik der Bun-
desregierung und der Begleitantrag der Koalition zur Na-
tionalen Maritimen Konferenz machen zwei Dinge ganz
deutlich. Erstens. Bei uns sind Schifffahrt und maritime
Wirtschaft in guten Händen. Zweitens. Um die Branche
zukunftsfest zu machen, sind viele kleine Einzelmaßnah-
men notwendig.
Eine dieser kleinen, aber wichtigen Maßnahmen ist
die Modernisierung und Digitalisierung der Meldeforma-
litäten für die Seeschifffahrt. Es gibt fast ein Dutzend un-
terschiedlicher Meldepflichten: Gefahrgutmeldung, Ab-
fallmeldung, Gesundheitsmeldung, Sicherheitsmeldung,
Verkehrsmeldung usw. Zuständig sind die verschiedens-
ten Behörden von Bund und Ländern.
Ein zentrales Meldeportal für anlaufende Schiffe er-
leichtert den Schiffseignern, Reedereien und Kapitänen,
aber auch den deutschen Verwaltungsorganen die Arbeit
enorm. Seit 2015 ist daher das sogenannte National Sing-
le Window aktiv. Hier werden alle für das Anlaufen eines
deutschen Hafens erforderlichen Informationen eingege-
ben und allen betroffenen Behörden zur Verfügung ge-
stellt. Das mehrfache Melden gleicher Informationen an
verschiedene Behörden entfällt. Der Zeitaufwand und die
Kosten für die Abgabe der Meldungen sinken, die Effizi-
enz der Schifffahrt und der beteiligten Behörden steigt.
Dazu wurden die Inhalte der Meldungen harmonisiert.
Auch dieses System macht weiter einen Informations-
austausch zwischen verschiedenen Behörden mit unter-
schiedlichen Zuständigkeiten notwendig. Das Gesetz,
das als Entwurf vorliegt, schafft die rechtliche Grundlage
für diesen Datenaustausch.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 23065
(A) (C)
(B) (D)
Mit dem Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen
greifen wir einen sinnvollen Vorschlag des Bundesrates
auf. Alle Bekanntmachungen und Veröffentlichungen,
die das Seeschifffahrt-Meldeportal-Gesetz betreffen,
werden nicht nur im Bundesanzeiger, sondern auch im
Verkehrsblatt veröffentlicht. Die betroffenen Schiffseig-
ner, Reedereien, Makler und Kapitäne haben das Ver-
kehrsblatt ohnehin auf dem Schirm. Es handelt sich da-
mit um eine praxisnahe Ergänzung des Gesetzentwurfes.
Außerdem weisen wir der Berufsgenossenschaft
Verkehr zusätzliche Aufgaben beim Abwracken von
Seeschiffen zu. Die BG Verkehr soll zukünftig Besichti-
gungen durchführen und Zeugnisse ausstellen bzw. ver-
längern. Das ist eine wichtige Vorbereitung für die noch
ausstehende Ratifizierung des Übereinkommens von
Hongkong über das umweltfreundliche Recycling von
Schiffen. Gleichzeitig setzen wir eine europarechtliche
Vorgabe um.
Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein Mosaikstein-
chen eines größeren Bildes: Die Koalition steht zur mari-
timen Branche. Wir stellen uns den vielen Aufgaben und
Herausforderungen, um die maritime Wirtschaft durch
unruhige See zu begleiten; denn wir wissen um ihre Be-
deutung für unser Land. Und eines möchte ich noch ein-
mal betonen: Auch in Zukunft findet die maritime Bran-
che bei der Union immer ein offenes Ohr!
Im Ausschuss haben wir uns einstimmig für dieses
Gesetz ausgesprochen. Ich bitte Sie auch heute um breite
Unterstützung für dieses Vorhaben.
Dr. Birgit Malecha-Nissen (SPD): Wir beraten heu-
te den Regierungsentwurf eines Gesetzes über das Ver-
fahren für die elektronische Abgabe von Meldungen für
Schiffe im Seeverkehr. In Zukunft erfolgt diese Abgabe
von Meldungen über das Zentrale Meldeportal des Bun-
des. Gleichzeitig wird das Gesetz zur Durchführung der
Internationalen Gesundheitsvorschriften, IGV-Durchfüh-
rungsgesetz, neu gefasst. Dieses regelt Verpflichtungen
zur elektronischen Abgabe der Seegesundheitserklärung.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf setzen wir die
europäische Richtlinie 2010/65/EU vom 20. Oktober
2010 über Meldeformalitäten für Schiffe beim Einlau-
fen in und/oder Auslaufen aus Häfen der Mitgliedstaa-
ten um. Es war dringend notwendig, dass wir auch in
Deutschland die gesetzliche Grundlage für die elektroni-
sche Abgabe von Meldungen für Schiffe im Seeverkehr
schaffen. Nach der EU-Richtlinie sollten zum 1. Juni
2015 Meldungen in der Schifffahrt nur noch auf elektro-
nischem Weg akzeptiert werden. Bisher wurden Meldun-
gen in der Seeschifffahrt an mehrere Behörden einzeln
gemeldet. Das war umständlich und ineffizient. Mit dem
Zentralen Meldeportal erreichen wir eine erhebliche Ver-
einfachung des innereuropäischen Warenverkehrs und
verbessern das Meldewesen für die Seeschifffahrt. Dies
erhöht zusätzlich die Konkurrenzfähigkeit in Hinblick
auf die europäischen Nachbarstaaten. Es ermöglicht der
Wirtschaft, Meldungen in der Seeschifffahrt über ein mo-
dernes einzelnes zentrales Meldeportal abzugeben. Dies
führt zu einer Vereinfachung und Beschleunigung der
Arbeitsvorgänge. Besonders in Zeiten der Digitalisierung
ist das unabdingbar!
Das Zentrale Meldeportal nimmt alle Meldungen ent-
gegen und leitet sie an die zuständigen datenverarbeiten-
den Stellen weiter. Damit dient es als Eingangsschnitt-
stelle, das Meldungen automatisiert an verschiedene
Empfängerbehörden wie Bundes- und Landesbehörden
weiterleitet.
In Deutschland hat das neue System bereits am 27. Mai
2015 seine Arbeit aufgenommen. Mit dem vorliegenden
Gesetz schaffen wir nun endlich auch die gesetzlichen
Grundlagen. Die Zielsetzung ist klar: Die zusätzlichen
Regelungen sind notwendig, um Daten rechtssicher und
geschützt weiterleiten zu können. Das Gesetz regelt das
Verfahren der elektronischen Abgabe von Meldungen für
Schiffe beim Einlaufen in Häfen. Darüber hinaus wird
über das Zentrale Meldeportal der Aufenthalt in und/oder
das Auslaufen aus deutschen Gewässern oder Seehäfen
sowie das Befahren des Nord-Ostsee-Kanals geregelt.
Gleichzeitig mit diesem Gesetz wird das IGV-Durch-
führungsgesetz geändert, welches die Angabe von
Gesundheitserklärungen regelt. Die Neufassung des
Gesetzes zur Durchführung der Internationalen Gesund-
heitsvorschriften regelt nun die Verpflichtungen zur elek-
tronischen Abgabe der Seegesundheitserklärung. Insbe-
sondere aus datenschutzrechtlichen Gründen ist dieses
Gesetz notwendig. Das ist deshalb sinnvoll und zielfüh-
rend, da wir bei Fragen zur Gesundheit eine hohe Sensi-
bilität und Vertraulichkeit benötigen.
Abschließend kann man sagen, dass wir mit dem vor-
liegenden Gesetz unserer Verpflichtung als Mitgliedstaat
nachkommen, die EU-Richtlinie aus dem Jahr 2010 um-
zusetzen. Nachdem die technische Umsetzung bereits
2015 vollzogen wurde, wird hiermit die ergänzende Er-
mächtigung zur Datendurchleitung aus datenschutzrecht-
lichen Gründen in Form eines Gesetzes erteilt.
Wir begrüßen, dass der Bund eine Koordinierungs-
stelle im Bundesverkehrsministerium schafft, die daten-
schutzrechtlich das Zentrale Meldeportal betreibt.
Die Einrichtung des Zentralen Meldeportals verursacht
jährliche Kosten in Höhe von insgesamt 241 027 Euro.
Der Mehrbedarf an Sach- und Personalmitteln wird fi-
nanziell im Haushalt des Verkehrsetats ausgeglichen.
Das Zentrale Meldeportal ist ein weiterer zentraler
Schritt im Zeitalter der Digitalisierung, der dringend not-
wendig war. Besonders im Hinblick auf die Gefahr von
Cyberkriminalität ist die gesetzliche Grundlage für Da-
tenschutz und den Schutz der Persönlichkeitsrechte im
Seeverkehr von entscheidender Bedeutung.
Herbert Behrens (DIE LINKE): An dem vorliegen-
den Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen hat auch die
Fraktion Die Linke wenig auszusetzen; denn damit wird
nur die Richtlinie 2010/65/EU des Europaparlaments
und des Europäischen Rates vom 20. Oktober 2010 über
Meldeformalitäten für Schiffe beim Einlaufen in und
Auslaufen aus EU-Häfen in nationales Recht umgesetzt.
Das Ziel dabei ist die Sicherstellung des ordnungsgemä-
ßen Schiffsverkehrs.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 201723066
(A) (C)
(B) (D)
Zur Erfüllung dieser Richtlinie ist in Deutschland ein
System zur Verfügung gestellt worden, das alle Meldun-
gen entgegennimmt und an die zuständigen maritimen
Behörden weiterleitet. Es ist höchste Zeit, dass dafür die
entsprechende gesetzliche Regelung eingerichtet wird;
denn das neue System ist schon vor fast zwei Jahren,
nämlich am 27. Mai 2015, in Betrieb genommen worden.
Bisher wurden gesetzlich vorgeschriebene Meldun-
gen einzeln an oft mehrere zuständige Behörden von den
Meldenden geschickt. Künftig soll eine Meldung, die
über das Zentrale Meldeportal abgegeben wird, erst ein-
mal über die zuständige Bundesbehörde auf Anforderung
der empfangenden Stelle bei der bereitgestellten Ein-
gangsschnittstelle eingehen. Im Zentralen Meldeportal
sind lediglich der Meldungstyp und eine Anlaufreferenz-
nummer ersichtlich. Letztere ist eine standardisierte Re-
ferenznummer, die bei jeder Meldung anzugeben ist. Das
dient der Zuordnung des Vorgangs zu einem bestimmten
Hafenbesuch. Anschließend werden die Meldungen dann
mit einer technischen Rückmeldung an den Melder nach
einer Prüfung angenommen oder abgelehnt.
Aus datenschutztechnischer Sicht ist der Gesetzent-
wurf unbedenklich; denn die Verarbeitung der Schiffs-
meldungen beschränkt sich hier auf den Empfang, die
Weiterleitung und die Löschung von Daten durch die zu-
ständige Behörde. Eine inhaltliche Zugriffsmöglichkeit
ist für das Meldeportal nicht vorgesehen.
Die ergänzende Anregung des Bundesrates, dass die
Meldungen nicht nur im Bundesanzeiger, sondern auch
im Verkehrsblatt zu veröffentlichen sind, ist angesichts
der weitverbreiteten Nutzung des Verkehrsblatts im See-
verkehr zu begrüßen.
So weit, so gut. Aber mit diesem Gesetzentwurf sind
allerdings noch keine Weichen für die maritime Arbeit der
Zukunft gestellt. Davon ist die Bundesrepublik noch weit
entfernt, wie auch die DGB-Vorsitzende Katja Karger be-
stätigte. Ich zitiere aus der Verdi-Zeitung „Schifffahrt“:
„Im Hafenbereich wurde der Anschluss an Arbeit 4.0 und
die Digitalisierung bisher weitgehend verpasst, es liegt
strukturell ziemlich viel im Argen. Es müssen dringend
Ideen und Lösungen für die Zukunft her.“
Heute Morgen, bei der Debatte über die Zukunft der
maritimen Industrie, hatten die Kolleginnen und Kolle-
gen der Koalitionsfraktionen die Gelegenheit, ihre Ide-
en einzubringen. Aber stattdessen war in ihrem Antrag
nur zu lesen, dass der Bundestag beschließen möge,
„im Zuge der Digitalisierungs- und Automatisierungs-
prozesse und der zu erwartenden Entwicklungen in den
deutschen Häfen geeignete Lösungsansätze in Hinblick
auf die Ausbildungs- und Beschäftigungsstrategien zu
finden“. Am Ende einer Regierungsperiode ist die bloße
Erklärung einer Absicht, in Zukunft Lösungen zu finden,
mehr als dürftig. An dieser Stelle haben Sie Ihre Amtszeit
verschlafen, meine Damen und Herren der CDU/CSU
und der SPD!
Ich kann Ihnen nur raten, endlich die dringlichen
Aufgaben, vor denen angesichts Automatisierung und
Digitalisierung die Kolleginnen und Kollegen in den Hä-
fen, Werften und auf hoher See stehen, ernst zu nehmen.
Gehen Sie auf die berechtigte Kritik ihrer Gewerkschaft
Verdi, die letztes Jahr gezwungen wurde, aus dem Mari-
timen Bündnis auszusteigen, ein. Verhandeln Sie auf Au-
genhöhe über Maßnahmen, die die Digitalisierung und
Automatisierung im maritimen Sektor für die nächsten
Jahrzehnte sozialverträglich regeln können. Bieten Sie
den Kolleginnen und Kolleginnen wieder eine Zukunfts-
perspektive!
Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Wir debattieren heute ein Gesetz zur elektronischen Mel-
dung von Schiffsdaten. Das steht eigentlich auch im di-
rekten Zusammenhang mit dem Digitalisierungsprozess,
der zurzeit als Schlagwort kursiert. Dadurch ließe sich
das auch sehr gut mit Meldeformalitäten von Schiffs-,
Crew-, Fracht- und Zolldaten verknüpfen. Seitens der
Bundesregierung wird jetzt damit der Anfang gemacht.
Aber um das vollständig umzusetzen, fehlt noch eine
ganze Menge. Wenn der Anfang einmal gemacht ist,
wäre es jetzt nur konsequent, beim Thema Digitalisie-
rung in der Seeschifffahrt am Ball zu bleiben.
Daher haben wir heute auch in der Debatte zur mariti-
men Wirtschaft einen Antrag eingebracht, der auf genau
diese Punkte eingeht: Ein Schwerpunkt der Maritimen
Konferenz in wenigen Tagen soll ja die Digitalisierung
der maritimen Branche sein. Genau diesen Prozess könn-
ten Sie mit dem vorliegenden Gesetzentwurf eigentlich
weiterführen. Der Wunsch der maritimen Wirtschaft ist
es, dass der Staat mithilfe der Digitalisierung auch die
geforderten Meldeprozesse vereinfacht und standardi-
siert. Aber die wirklichen Probleme werden hier leider –
wen wundert es eigentlich? – nicht angegangen.
Es kann nicht sein, dass wir in Europa ein sogenanntes
Single Maritime Window für Melde- und Dokumenten-
prozesse beschließen. Doch die Mitgliedstaaten beharren
alle weiterhin auf ihren nationalen oder regionalen Lö-
sungen. Jeder schaut weiter durch sein eigenes kleines
Fenster. Sofern sich die Nationalstaaten hier nicht eini-
gen und Zollverwaltungen sich nicht einmal national,
geschweige denn europaweit abstimmen können, wird
es dauerhaft bei Insellösungen bleiben. Die eigentlich
geplanten Vorteile wie Zeit- und Geldersparnis rücken
dadurch für alle Beteiligten in weite Ferne. Das wäre nur
zu schade. Insofern hoffe ich hier auf eine deutlichere
Beweglichkeit.
Aber auch das Personal an Bord der Schiffe ist die
überbordende Bürokratie leid. Über 50 Prozent der Ar-
beitszeit werden nicht mit dem Steuern des Schiffes
verbracht, sondern mit dem Ausführen von Verwaltungs-
akten. Die Kapitäninnen und Kapitäne werden somit zu
Sekretären der Reedereien sowie der öffentlichen Ver-
waltung. Sie sind Leidtragende der fehlenden Bereit-
schaft zu Standardisierung und Kooperation der europä-
ischen Staaten. Das hat erst kürzlich sehr eindrucksvoll
ein Kapitän in einem Fachgespräch unserer Fraktion zu
diesem Thema geschildert. Deutschland darf sich daher
nicht zurücklehnen, sondern muss zusammen mit den an-
deren Mitgliedstaaten brauchbare Lösungen im Rahmen
der Digitalisierung finden. Als Antwort auf den vermeint-
lichen Trend von Protektionismus und falscher Abschot-
tung brauchen wir mehr Europa und dadurch auch ein
Zusammenwachsen der Staaten.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 23067
(A) (C)
(B) (D)
Lassen Sie mich schließlich noch einen Hinweis
geben, da die maritime Wirtschaft aktuell unter solch
großen Überkapazitäten leidet: Auch im Vorfeld von
geplanten Verschrottungen von Seeschiffen müssen
Meldungen an die nationalen Stellen durchgeführt wer-
den. Sicher haben Sie hier schon eine spätere Ratifizie-
rung des Hongkong-Abkommens für das Recycling von
Seeschiffen im Auge. Sofern in den zukünftigen dafür
relevanten Gesetzentwürfen eine Vorbereitung für das
Hongkong-Abkommen vorgesehen ist, begrüße ich das
auch. Allerdings: Machen Sie Nägel mit Köpfen, und ra-
tifizieren Sie das Abkommen sofort. Es geht nicht nur um
bessere Arbeitsbedingungen und umweltgerechtes Ent-
sorgen, auch in europäischen Werften. Es geht bei dem
Abkommen auch direkt um die Zukunft der maritimen
Wirtschaft in Deutschland in Europa.
Enak Ferlemann, Parl . Staatssekretär beim Bundes-
minister für Verkehr und digitale Infrastruktur: Heute
beraten wir das sogenannte Meldeportalgesetz. Ein-
fach gesagt, bildet Artikel 1 des Gesetzes die rechtliche
Grundlage für ein zentrales elektronisches Meldeportal
für den Schiffsverkehr in Deutschland. Das klingt erst
einmal sehr abstrakt.
Die tatsächliche Bedeutung des Gesetzes wird erst
klar, wenn man die Situation vor wenigen Jahren be-
trachtet: Jeder Hafen, jedes Bundesland und einzelne
Behörden hatten für den Schiffsanlauf ein eigenes Mel-
dewesen. Viele Meldungen wurden per Telefon, Telefax
oder über Listen und Formulare abgegeben. Wir spre-
chen hier über Meldungen in 72 deutschen Anlaufhäfen,
an insgesamt 240 betroffene Behörden bei aktuell circa
1,3 Millionen Anläufen jährlich. Gerade in der global
agierenden Seeschifffahrt ist das eine weder von den be-
troffenen Reedereien noch von den betroffenen Behörden
zu bewältigende Herausforderung und in Zeiten der Digi-
talisierung nicht hinnehmbar.
Der notwendige Prozess der Vereinheitlichung der
Meldungen in der Schifffahrt hat in Deutschland mit
der im Jahr 2012 erfolgten Umsetzung der europäischen
Richtlinie 2010/65/EU über Meldeformalitäten für Schif-
fe begonnen. Ziel ist es, alle von der Seeschifffahrt an
Behörden an Land abzugebenden Meldungen zentrali-
siert elektronisch über ein einziges elektronisches Portal
abgeben zu können. Die Durchleitung an die zuständigen
Bundes- und Landesbehörden erfolgt automatisch.
Weitere Vereinheitlichungen sind jedoch notwendig.
Zudem halten die Zunahme der Datenströme und die
Weiterentwicklung der Systeme weitere Herausforde-
rungen bereit. Auf europäischer wie auf nationaler Ebene
arbeiten wir deshalb an der Weiterentwicklung der Kon-
zepte für eine effektive Digitalisierung der Schifffahrt,
die alle Belange berücksichtigen.
Für diesen Prozess schafft der vorliegende Gesetzent-
wurf den notwendigen rechtlichen Rahmen. Er ermög-
licht eine klarere Zuordnung behördlicher Zuständig-
keiten, technische Prozesse werden beschrieben und die
datenschutzrechtliche Ermächtigung für die Erhebung
sowie Verteilung aller relevanten Daten geschaffen. Ziel
des Gesetzes ist es dabei insbesondere auch, die Grund-
lage für eine effektivere Zusammenarbeit zwischen Bund
und Ländern zu bieten. Die Digitalisierung in der See-
schifffahrt und gerade auch dieses Gesetz sind ein Bei-
spiel für die gelebte gute Zusammenarbeit zwischen Län-
dern und Bund.
Mit dem Gesetz, das als Entwurf vorliegt, wird gleich-
zeitig auch das Gesetz zur Durchführung der Internati-
onalen Gesundheitsvorschriften an die Anforderungen
des Zentralen Meldeportals angepasst. Durch die Abgabe
von Informationen zum Gesundheitszustand der an Bord
befindlichen Personen über das Zentrale Meldeportal soll
den nationalen Gesundheitsbehörden ermöglicht werden,
frühzeitig auf Gesundheitsgefahren reagieren zu können.
Ich bin meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
dankbar, die durch langwierige und komplexe Abstim-
mungsprozesse mit den Küstenländern und den betroffe-
nen Behörden einen, so glaube ich, guten Gesetzentwurf
formuliert haben. Ich danke insbesondere auch dem Bun-
desrat und den beiden Koalitionsfraktionen. Die einge-
brachten Änderungen am Meldeportalgesetz werden den
Zugang zu den für die Nutzung des Meldeportals not-
wendigen Informationen deutlich erleichtern.
Ich möchte den Koalitionsfraktionen außerdem für
den Vorschlag für einen neuen Artikel 3 danken. Die vor-
geschlagene Änderung des Seeaufgabengesetzes schafft
die Grundlage dafür, dass Deutschland zu den internati-
onalen und europäischen Bemühungen zur Verbesserung
der Situation beim Recycling von Schiffen beitragen und
die entsprechenden Regelungen zügig umsetzen kann.
Im Interesse der Umwelt und der Arbeitssicherheit sollte
Deutschland seine Verantwortung auch hier wahrneh-
men.
Insgesamt haben wir – da bin ich mir sicher – einen
guten Gesetzentwurf. Die Digitalisierung der Schifffahrt
und Schiffsrecycling sind wichtige Herausforderungen.
Hier werden die notwendigen Schritte für die dazugehö-
rige Rechtssicherheit gemacht.
Anlage 14
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung
der Eisenbahnunfalluntersuchung (Tagesord-
nungspunkt 31)
Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU): Mit dem
Gesetz zur Neuordnung der Eisenbahnunfalluntersu-
chung werden zwei Ziele verfolgt: Zum einen werden
die gesetzlichen Grundlagen geschaffen, die bisherigen
Kompetenzen des Bundes im Bereich der Untersuchung
gefährlicher Ereignisse im Eisenbahnbetrieb auf bun-
deseigenen Schienenwegen auf eine neue selbstständige
Bundesoberbehörde zu übertragen, der Bundesstelle für
Eisenbahn-Unfalluntersuchung. Diese wird dem Bundes-
ministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur unter-
stehen.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 201723068
(A) (C)
(B) (D)
Bislang war die Eisenbahnunfalluntersuchung mit
der Umsetzung der EU-Richtlinie über die Eisenbahn-
sicherheit aus dem Jahr 2007 organisatorisch zweige-
teilt. Die Leitung der Eisenbahnunfalluntersuchung des
Bundes oblag dem seinerzeitigen Bundesministerium
für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Die Untersu-
chungszentrale für die operativen Aufgaben hatte das
Eisenbahn-Bundesamt inne. Die Bundesregierung hat
gegenüber dem Bundestag ausgeführt, dass eine Orga-
nisationsuntersuchung im Jahr 2015 gezeigt habe, dass
es sinnvoller sei, die Eisenbahnunfalluntersuchung des
Bundes einer selbstständigen Behörde zu übertragen.
Zum anderen werden mit dem Gesetz Vorgaben der
EU-Richtlinie über Eisenbahnsicherheit vom 11. Mai
2016 umgesetzt. Ich begrüße es, dass die Unabhängigkeit
der Eisenbahnunfalluntersuchung von der Eisenbahnauf-
sicht, die vom Eisenbahn-Bundesamt wahrgenommen
wird, gestärkt wird. Die Mitwirkungspflichten der Eisen-
bahnen bei der Eisenbahnunfalluntersuchung und Daten-
schutzregelungen werden ebenfalls festgelegt.
Von den Rechtsänderungen betroffen sind das Allge-
meine Eisenbahngesetz und das Bundeseisenbahnver-
kehrsverwaltungsgesetz. Bisher sind im Allgemeinen
Eisenbahngesetz nur die Aufgaben und Befugnisse der
Eisenbahnaufsichtsbehörden geregelt. Diese sollen mit
den Aufgaben und Befugnissen der Stellen für Eisen-
bahn-Unfalluntersuchung ergänzt werden. So wird die
neue Bundesstelle für Eisenbahn-Unfalluntersuchung
unter anderem Meldungen zu gefährlichen Ereignissen
im Eisenbahnbetrieb entgegennehmen und kategorisie-
ren, gefährliche Ereignisse untersuchen und Untersu-
chungsberichte erstellen und veröffentlichen.
Die Bundesländer haben am 10. Februar 2017 zum
Entwurf des Gesetzes Stellung genommen und gering-
fügige Änderungsanträge eingebracht, die in einem Än-
derungsantrag der Fraktionen von CDU/CSU und SPD
berücksichtigt wurden. Die Änderungsvorschläge des
Bundesrates haben das Ziel, die Zuständigkeit der Eisen-
bahnaufsichtsbehörden der Länder für die Untersuchung
von Unfällen auf Eisenbahnnetzen, die nur für die Per-
sonenbeförderung im örtlichen Verkehr, Stadt- oder Vor-
ortverkehr genutzt werden, deutlicher hervorzuheben.
Ein weiterer Änderungsvorschlag betont die Gleichran-
gigkeit der Befugnisse der für die Strafverfolgung und
die Ahndung von Ordnungswidrigkeiten zuständigen
Behörden.
Dem Gesetzentwurf einschließlich des Änderungs-
antrags der Koalitionsfraktion wurde in der Sitzung des
Ausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur am
22. März 2017 einstimmig zugestimmt. Daher wird dem
Bundestag der Beschluss des geänderten Gesetzentwurfs
der Bundesregierung empfohlen.
Martin Burkert (SPD): Es ist stets dieselbe Frage,
und sie ist berechtigt. Sie wird nach jedem schweren
Zug unglück gestellt. Die Frage lautet: Wie sicher ist es,
in Deutschland mit dem Zug zu fahren? Die Antwort ist
eindeutig: Sehr sicher – auch wenn es immer wieder zu
Unfällen kommt. Doch deren Zahl ist niedrig, und es ster-
ben dabei viel weniger Menschen als im Straßenverkehr.
In der Vergangenheit hat es aber leider auch tragische
Zugunfälle gegeben, bei denen Menschen ihr Leben ver-
loren haben und Sachschäden in Millionenhöhe entstan-
den sind. Auch ich, mit meiner Ausbildung bei der Bahn
und heute als Verkehrsausschussvorsitzender im Bundes-
tag, kann nach so einer Katastrophe nicht einfach zum
normalen Arbeitsalltag übergehen. Eine lückenlose und
vor allem schnelle Aufklärung der Ursachen für diese
Unfälle ist wichtig, um den Eisenbahnverkehrsunterneh-
men und den Infrastrukturbetreibern mögliche Verbesse-
rungen an die Hand zu geben und die Zahl der Unfälle zu
reduzieren. Aber auch für die Opfer und Hinterbliebenen
ist es wichtig, für Klarheit zu sorgen.
Untersuchungen haben gezeigt, dass es dabei sinnvol-
ler ist, die Untersuchung von Eisenbahnunfällen in einer
Hand zu belassen. Dies regelt nun der Entwurf eines
Gesetzes zur Neuordnung der Eisenbahnunfalluntersu-
chung. Er schafft die auf Gesetzesebene erforderlichen
rechtlichen Grundlagen für die Einrichtung einer Bun-
desstelle für Eisenbahn-Unfalluntersuchung. So wird
auch die Unabhängigkeit der untersuchenden Behörde
gestärkt.
Diese eigene Behörde soll in Zukunft für Aufgaben
der Untersuchung gefährlicher Ereignisse im Eisenbahn-
betrieb zuständig sein. Hiermit soll die bestehende Auf-
teilung der Eisenbahn-Unfalluntersuchung des Bundes
beseitigt werden. Denn bisher ist die Leitung der Eisen-
bahn-Unfalluntersuchungsstelle des Bundes (EUB) im
Verkehrsministerium angesiedelt. Als operative Stelle
agiert die EUB ebenfalls seit 2008 beim Eisenbahn-Bun-
desamt (EBA).
Beamte und Arbeitnehmer des EBA, die zum Zeit-
punkt der Errichtung der Bundesstelle für Eisenbahn-Un-
falluntersuchung Aufgaben wahrnehmen, die dieser
Stelle obliegen, sind von diesem Zeitpunkt an Beamte
und Arbeitnehmer bei der Bundesstelle für Eisenbahn-
Unfall untersuchung. An dieser Stelle möchte ich zu-
nächst einmal diesen Beschäftigten danken, die in den
vergangenen Jahren durch ihren Einsatz zur Aufklärung
von Eisenbahnunfällen beigetragen haben.
Bei den Aufgaben der Eisenbahnaufsicht sollen nach
der vorliegenden Gesetzesbegründung auch keine Ände-
rungen bewirkt werden. Daher möchte ich noch einmal
dafür plädieren, dass das EBA mit mehr Personal ausge-
stattet wird und der bestehende Beförderungsstau aufge-
löst wird. Um die Schiene zu stärken, brauchen wir auch
starke Behörden, mit qualifiziertem Fachpersonal und
guten Aufstiegsmöglichkeiten.
Ich möchte gerne die enorme Bedeutung der Eisen-
bahn-Unfalluntersuchungsstelle (EUB) und zukünftigen
Bundesstelle (BEU) hervorheben und dazu ihre Aufga-
ben skizzieren:
Die EUB hat zum Ziel, die Ursachen von gefährlichen
Ereignissen im Eisenbahnbetrieb aufzuklären. Die da-
raus gewonnenen Erkenntnisse sollen dazu dienen, die
Sicherheit im Eisenbahnverkehr zu optimieren und so-
mit Unfällen vorzubeugen. In der Praxis heißt das: Die
EUB sammelt Fakten und Informationen, um das Unfall-
geschehen zu rekonstruieren. Dabei werden neben der
Infrastruktur selbstverständlich auch die betrieblichen
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 23069
(A) (C)
(B) (D)
Abläufe und die am Unglück beteiligten Fahrzeuge mit
einbezogen. Tätig wird die EUB nur nach schweren Un-
fällen. Dies regelt eine europäische Richtlinie: Ein Un-
fall gilt dann als schwer, wenn bei einem Zusammenstoß
oder bei einer Entgleisung von Zügen ein Mensch getötet
oder mindestens fünf Menschen schwer verletzt wurden.
Trifft dies bei einem Eisenbahnunglück nicht zu, kann
die Untersuchungsstelle im Einzelfall immer noch ent-
scheiden, ob sie eine Untersuchung einleitet.
Noch einmal zusammengefasst: Die Arbeit der Eisen-
bahn-Unfalluntersuchungsstelle dient dazu, die Ursache
von Unfällen zu ermitteln, damit sich solche Ereignisse
in der Zukunft nicht wiederholen und besser verhindern
lassen und damit ganz allgemein die Sicherheit im Eisen-
bahnverkehr weiterentwickelt werden kann.
Die Arbeit der Eisenbahnunfall-Untersuchungsstelle
ist nicht abhängig von gerichtlichen Ermittlungen. Sie
dient nicht dazu, Schuldzuweisungen vorzunehmen oder
Haftungsfragen zu klären.
Um die bisherige Arbeit von EUB und EBA weiter
stärken zu können, ist die Schaffung einer eigenen Bun-
desbehörde – wie im vorliegenden Entwurf eines Geset-
zes zur Neuordnung der Eisenbahnunfalluntersuchung
vorgesehen – der Schritt in die richtige Richtung. Denn
wir müssen die Schiene weiter stärken. Und dazu gehört
ganz sicher auch eine lückenlose und zügige Aufklärung
von Eisenbahnunfällen, um diese in Zukunft zu vermei-
den. Dies steht und fällt aber mit sachkundigem und in
ausreichender Anzahl vorhandenem Personal. Hier müs-
sen wir nachhaltig investieren, und ich wünsche mir, dass
das mit diesem Gesetz – ohne Wenn und Aber – umge-
setzt wird.
Sabine Leidig (DIE LINKE): Bislang gibt es für die
Untersuchung von Bahnunfällen die Eisenbahn-Unfall-
untersuchungsstelle des Bundes, EUB, die als operati-
ve Stelle beim Eisenbahn-Bundesamt, EBA, und damit
letztlich beim BMVBS/BMVI angesiedelt ist. Nun soll
die Untersuchungsstelle in eine selbstständige Behörde
umgewandelt werden.
Offenbar gibt es dafür zwei Gründe: Zum einen hat
die Organisationsuntersuchung im Jahr 2015 gezeigt,
dass es sinnvoller sei, die Eisenbahnunfalluntersuchung
des Bundes einer selbstständigen Behörde zu übertragen.
Außerdem sollen mit der geänderten Organisation die
Vorschriften der Richtlinie 2016/798 des Europäischen
Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2016 über Eisen-
bahnsicherheit umgesetzt werden.
Aus der Sicht der Linksfraktion ist es durchaus sinn-
voll, die Untersuchung von Eisenbahnunfällen zu ver-
bessern. Zwar hat die bisherige Struktur prinzipiell funk-
tioniert, allerdings extrem langsam. Die Berichte der
EBA-Untersuchungsstelle waren meist erst Monate nach
dem eigentlichen Unfall verfügbar; manchmal dauerte es
sogar Jahre.
In einigen Fällen sind die Unfallberichte auch sehr
verklausuliert und – möglicherweise aus politischen
Gründen – unzureichend auf die eigentlichen Ursachen
eingegangen. Ein Beispiel dafür waren die Untersuchun-
gen der mehrfachen Entgleisungsvorgänge im umgebau-
ten Stuttgarter Hauptbahnhof. Dort wurde letztlich auf
angeblich defekte Puffer verwiesen, während der um-
fangreiche Umbau des Bahnhofs als Vorbereitung von
Stuttgart 21 außer Acht blieb.
Unsere Fraktion stimmt der geplanten Einrichtung
einer selbstständigen Behörde zu, weil zumindest eine
größere Unabhängigkeit vom Ministerium zu erwarten
ist. Damit besteht die Chance, dass die Untersuchungs-
berichte weniger auf „Diplomatie“ und mehr auf Trans-
parenz ausgerichtet sind. Ob sich diese Hoffnung erfüllt,
wird allerdings erst die zukünftige Praxis zeigen.
Matthias Gastel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Am Abend werden die Faulen munter. Auch hier legt
die schwarz-rote Koalition kurz vor Ende der Legislatur
einen Gesetzentwurf vor, der schon hätte viel eher kom-
men können. Schon mehrfach habe ich in diesem Hohen
Haus die Trägheit bei der Bearbeitung der Fälle in der
Eisenbahnunfalluntersuchung angemahnt. Viel zu oft ist
nichts passiert.
Nehmen wir den Fall eines ICE-Achsbruchs in Köln
aus dem Juli 2008. Dieser Fall sorgte in der ganzen Repu-
blik über Wochen für Schlagzeilen. Ein ICE springt nach
einem Achsbruch auf der Hohenzollernbrücke direkt vor
dem Kölner Hauptbahnhof aus dem Gleis. Ein Glück für
die Fahrgäste dieses Zuges, dass der Hauptbahnhof in
Köln so überlastet ist, dass alle Züge auf der Brücke nur
langsam fahren dürfen. So wurde niemand verletzt. Es
wäre besser nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn
der ICE bei voller Fahrt einen Achsbruch erlitten hätte;
denn diese ICE-Züge fahren zwischen Köln und Frank-
furt mit bis zu 300 Stundenkilometern.
Die Deutsche Bahn hat danach zwar alle Züge des-
selben Typs einer umfassenden Untersuchung unterzo-
gen, mit erheblichen Folgen für Tausende Reisende in
Deutschland, die dann von Zugausfällen betroffen wa-
ren. Es geht aber um eine unabhängige Unfallaufklärung,
wie sie schon damals die EU eingefordert hat. Es ist gut,
wenn das Bahnunternehmen eigene Untersuchungen an-
stellt; aber als Unfallbeteiligte ist sie gleichzeitig auch
befangen. Daher soll eine Behörde derartige Unfälle un-
tersuchen: die Eisenbahn-Unfalluntersuchungsstelle des
Bundes. Erst auf Drängen der EU wurde sie eingerichtet
und ans Bundesverkehrsministerium angegliedert. Und
doch wartet trotz allem der Achsbruch auf der Kölner
Hohenzollernbrücke auf einen ordentlichen Abschluss-
bericht von der Eisenbahnunfalluntersuchung, seit in-
zwischen fast neun Jahren! Neun Jahre Untersuchungen
ohne Ergebnis, das sieht sehr danach aus, als ob hier
jemand etwas zu verschleiern oder zu verstecken hätte.
Neun Jahre sind aber vor allem viel zu viel Zeit für eine
Unfalluntersuchung. Die Fahrgäste haben ein Anrecht
darauf, zu erfahren, was die damaligen Unfallursachen in
Köln waren und welche Schlussfolgerungen die Bahnin-
dustrie ziehen muss. Stattdessen bis heute keine Spur von
klaren Erkenntnissen! Das darf nicht sein.
Meine deutliche Kritik zur Trägheit bei der Unfall-
untersuchung vor etwa einem Jahr hier im Hohen Haus
hat dann wohl auch einige zum Umdenken gebracht. An-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 201723070
(A) (C)
(B) (D)
fang letzten Jahres habe ich mir einmal die Arbeit der
Eisenbahnunfalluntersuchung hieb- und stichfest vom
Verkehrsministerium zusammenstellen lassen. Ernüch-
terndes Ergebnis: Eine schnelle Unfallaufklärung ist
nur graue Theorie. Zwischen April 2008 und Novem-
ber 2015 wurden 69 zu untersuchende Unfälle mit einem
Abschlussbericht versehen, aber 76 Unfälle aus diesen
sieben Jahren sind 2016 immer noch in Bearbeitung ge-
wesen. Also mehr als die Hälfte aller Fälle sind nicht ab-
gearbeitet gewesen. Mehr als die Hälfte! Das muss man
sich einmal auf der Zunge zergehen lassen.
Meine Feststellung von damals bleibt dieselbe: Die
aktuelle Arbeit in der Eisenbahnunfalluntersuchung ist
hochgradig ineffizient. Die Abschlussberichte lassen zu
lange auf sich warten, und die Ergebnisse sind häufig
nicht so, dass man wirklich Konsequenzen daraus zie-
hen kann, weil die wirklichen Unfallursachen viel zu spät
aufgeklärt werden.
Wir wollten schon damals die Eisenbahnunfallun-
tersuchung vom Verkehrsministerium lösen, damit die
Stelle wirklich unabhängig arbeiten kann. Wir wollen
auch, dass das Personal deutlich aufgestockt wird. Bei
der Ausgliederung der Eisenbahnunfalluntersuchung im
Jahr 2008 hatte die Behörde noch 50 Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter, jetzt nur noch 21 Personen. Wenn wir
hier nicht deutlich nachsteuern, schleppen wir das Perso-
nalproblem in die neue Struktur mit hinein und dann wird
das nichts mehr mit einer schnellen Unfallaufklärung bei
den Bahnen.
Der jetzt vorliegende Gesetzentwurf hat sich nun ei-
nigen unserer Kritikpunkte tatsächlich angenommen und
damit im Kern unsere grüne Kritik an der bisherigen Form
der Eisenbahnunfalluntersuchung bestätigt. Eine Organi-
sationsuntersuchung zur Eisenbahnunfalluntersuchung
hat nun schwarz auf weiß benannt, was wir schon lange
sagen: Die bisherige Zuordnung der Eisenbahn-Unfall-
untersuchungsstelle beim Bundesverkehrsministerium
hat Effizienzverluste zur Folge, fördert im Zweifel sogar
Mauscheleien und damit unnötig Misstrauen bei den an-
sonsten guten Abschlussberichten, wenn sie denn auch
tatsächlich vorliegen. Wir Grüne wollen uns daher nicht
dem Anliegen des Gesetzentwurfes verweigern, die Ei-
senbahnunfalluntersuchung tatsächlich unabhängig zu
organisieren und so einer selbstständigen Behörde zu
übertragen. Wir stimmen daher dem Anliegen zu.
Mit dem Gesetzentwurf kommen wir zwar einen
Schritt weiter; aber unsere Grundkritik bleibt. Die Eisen-
bahnunfalluntersuchung braucht mehr Personal, sodass
wieder ein schlagkräftiges Team zu schnelleren Ergeb-
nissen und Abschlussberichten kommen kann. Nur so
kann die Bahnindustrie schnell Fehlentwicklungen auf-
nehmen, schnell Schlussfolgerungen bei der Fahrzeug-
herstellung ziehen, und nur so ist die Sicherheit der Fahr-
gäste im Bahnverkehr bestmöglich gewährleistet. Das
wird eine Aufgabe für die Zukunft bleiben, die die Große
Koalition aus CDU/CSU und SPD wohl nicht mehr in
dieser Legislaturperiode erledigen wird. Wir Grüne ha-
ben weiter ein Auge darauf; spätestens in der nächsten
Legislaturperiode wollen wir auch das Personalproblem
endlich beheben.
Enak Ferlemann, Parl . Staatssekretär beim Bundes-
minister für Verkehr und digitale Infrastruktur: Die Ei-
senbahn ist – bezogen auf die Transportleistung – eines
der sichersten Verkehrsmittel. Absolute Sicherheit gibt
es auch dort nicht, sodass seit jeher Unfälle und Ereig-
nisse, die zu einem Unfall hätten führen können, unter-
sucht und ausgewertet wurden, um die Betriebsprozesse
einschließlich des Baus und der Instandhaltung von An-
lagen und Fahrzeugen sowie die Betriebsvorschriften zu
verbessern.
Dies ist zunächst Aufgabe der Eisenbahnunternehmen
im Rahmen ihrer Betreiberverantwortung und ihres Si-
cherheitsmanagementsystems gemäß § 4 Allgemeines
Eisenbahngesetz. Seit 1994 wurde die Eisenbahnun-
falluntersuchung von den Eisenbahnaufsichtsbehörden
vorgenommen. Mit der Richtlinie 2004/49/EG des Euro-
päischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004
über Eisenbahnsicherheit in der Gemeinschaft und zur
Änderung der Richtlinie 95/18/EG über die Erteilung
von Genehmigungen an Eisenbahnunternehmen und der
Richtlinie 2001/14/EG über die Zuweisung von Fahr-
wegkapazität der Eisenbahn, die Erhebung von Entgelten
für die Nutzung von Eisenbahninfrastruktur und die Si-
cherheitsbescheinigung – Richtlinie über die Eisenbahn-
sicherheit – wurde erstmals die Forderung gestellt, be-
stimmte Unfälle unabhängig von der Eisenbahnaufsicht
durch eine funktional unabhängige Stelle zu untersuchen.
Diese Vorgabe wurde mit dem Fünften Gesetz zur Än-
derung eisenbahnrechtlicher Vorschriften vom 16. April
2007 im Allgemeinen Eisenbahngesetz umgesetzt. Da-
bei wurde in einem Organisationserlass die Leitung der
Eisenbahn-Unfalluntersuchungsstelle des Bundes, EUB,
im seinerzeitigen BMVBS verankert und als operative
Stelle die funktional unabhängige Untersuchungszentra-
le beim Eisenbahn-Bundesamt, EBA, geschaffen. Außer-
dem wurden vier Untersuchungsbezirke in Berlin, Essen,
Karlsruhe und München eingerichtet, um eventuelle Un-
fallstellen schneller als von einem Standort aus erreichen
zu können.
Eine Organisationsuntersuchung im Jahr 2015 hat
erwiesen, dass es sinnvoller ist, die Eisenbahnunfallun-
tersuchung des Bundes einer selbstständigen Behörde
zu übertragen. In diesem Zusammenhang wurde auch
die Zusammenfassung der Unfalluntersuchung für Ei-
senbahn, Luftfahrt und Schifffahrt in einer gemeinsamen
Bundesstelle geprüft. Es hat sich jedoch gezeigt, dass
hierdurch keine Synergieeffekte erzielt werden, sodass
diese Alternative nicht weiter verfolgt wurde.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden durch
Änderung des Allgemeinen Eisenbahngesetzes und des
Bundeseisenbahnverkehrsverwaltungsgesetzes die Bun-
desstelle für Eisenbahn-Unfalluntersuchung als selbst-
ständige Bundesoberbehörde eingerichtet, ihre Aufgaben
und Befugnisse beschrieben sowie Mitwirkungspflichten
der Eisenbahnen bei der Eisenbahnunfalluntersuchung
und Datenschutzregelungen festgelegt. Die Aufgaben
und Befugnisse der für die Strafverfolgung und Ahndung
von Ordnungswidrigkeiten zuständigen Behörden sowie
der für Gefahrenabwehr zuständigen Eisenbahnaufsichts-
behörden bleiben unberührt. Im Rahmen des Gesetzent-
wurfs werden Vorschriften des Kapitels V der Richtlinie
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 23071
(A) (C)
(B) (D)
(EU) 2016/798 des Europäischen Parlaments und des
Rates vom 11. Mai 2016 über Eisenbahnsicherheit um-
gesetzt, die die bereits genannte Richtlinie 2004/49/EG
ablöst.
Diese Richtlinie lässt wie auch ihre Vorgängerin für
bestimmte Infrastrukturen Ausnahmen von den Bestim-
mungen der Richtlinie zu. Dies betrifft zum Beispiel vom
übrigen Eisenbahnsystem der Union funktional getrennte
Netze, Gleisanschlüsse, Infrastrukturen und Fahrzeuge
für den lokal begrenzten Einsatz oder historische oder
touristische Zwecke. Diese Möglichkeit wurde genutzt,
soweit die gefährlichen Ereignisse sich nicht auf Eisen-
bahninfrastrukturen des Bundes ereignen. Damit wird
die Bundesstelle für Eisenbahn-Unfalluntersuchung für
gefährliche Ereignisse zuständig, die sich auf Infrastruk-
turen der Eisenbahnen des Bundes ereignen. Für die
Nichtbundeseigenen Eisenbahnen bleibt es bei der Zu-
ständigkeit der von den Ländern bestimmten Behörden
für Eisenbahnaufsicht.
Mit der Annahme des Gesetzentwurfs werden die
Unabhängigkeit der Eisenbahnunfalluntersuchung des
Bundes gestärkt und Möglichkeiten zur Steigerung der
Effizienz eröffnet. Auch wird der Kritik der EU an der
Umsetzung der Richtlinie 2004/49/EU entgegengewirkt.
Gleichwohl möchte ich die Hoffnung äußern, dass sich
nicht viele Anlässe ergeben, bei denen die Behörde tätig
werden muss.
Anlage 15
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung und Schlussabstimmung des von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zu dem Abkommen vom 19. Mai 2016 zwi-
schen der Bundesrepublik Deutschland und dem
Obersten Hauptquartier der Alliierten Mächte Eu-
ropa zur Änderung des Abkommens vom 13. März
1967 zwischen der Bundesrepublik Deutschland
und dem Obersten Hauptquartier der Alliierten
Mächte Europa über die besonderen Bedingungen
für die Einrichtung und den Betrieb internationa-
ler militärischer Hauptquartiere in der Bundesre-
publik Deutschland (Tagesordnungspunkt 32)
Dr. Mathias Edwin Höschel (CDU/CSU): Die
Grundziele der NATO, die Verteidigung der eigenen Si-
cherheit und die der Partnerstaaten sowie die Gewähr-
leistung globaler Stabilität, sind im Laufe des 68-jäh-
rigen Bestehens im Prinzip gleich geblieben. Doch die
Organisation musste im Laufe dieser Jahrzehnte immer
wieder ihre Struktur anpassen. Die Gründe hierfür lie-
gen in den großen sicherheitspolitischen Umbrüchen wie
der Weiterentwicklung der Waffensysteme, dem Ende
des Kalten Krieges, dem Aufkommen neuer Akteure, der
asymmetrischen Kriegsführung und zuletzt der Möglich-
keiten und Etablierung des Cyberwars.
Zuletzt wurde im Jahr 2011 eine solche Reform der
Kommandostrukturen der NATO beschlossen. Im Zuge
dessen wurden auch haushalterische Änderungen vorge-
nommen. Die Änderung betrifft die Kostenverteilung für
Betrieb und Einrichtung von NATO-Hauptquartieren in
Deutschland bzw. in anderen Gastgeberländern. Um die-
se Reformen umzusetzen, beschloss die Bundesrepublik
zusammen mit dem Hauptquartier der Alliierten Mächte
in Europa, die Änderung eines Abkommens aus dem Jah-
re 1967. Diese Änderung bedarf eines Gesetzes, welches
wir nun heute beschließen wollen.
Grundsätzlich ist erst einmal zu erwähnen, dass wir
mit dieser Regelung nun eine sehr faire Kostenvertei-
lung vorliegen haben. Gastgeberland und NATO teilen
sich hälftig die anfallenden Kosten für die militärischen
Einrichtungen. Die finanziellen Aufwendungen, die der
Bundesrepublik durch diese Regelung anfallen, werden
in der Gesetzesbegründung mit 200 000 Euro angege-
ben. Vonseiten des Ministeriums heißt es, dass weitere
600 000 Euro pro Jahr für personalbezogene liegen-
schaftsbezogene Leistungen eingeplant seien. Interes-
santerweise stehen diesen neuen Ausgaben jedoch Ent-
lastungen in Höhe von 1,72 Millionen Euro entgegen,
die sich aus dieser Kostenteilung zwischen NATO und
Bundesrepublik ergeben; denn da sich die Gesamtauf-
wendungen für den Betrieb von NATO-Hauptquartieren
durch die Kostenverteilung von 23,6 Millionen Euro auf
11,8 Millionen Euro verringern, senkt sich auch der Be-
trag, mit dem sich Deutschland an diesen Kosten betei-
ligt. Somit spart die Bundesrepublik durch die Änderung
des Abkommens Kosten ein.
Dass wir überhaupt von dieser Regelung betroffen
sind, verdanken wir dem Umstand, dass SHAPE, wie
die englische Abkürzung des europäischen NATO-Kom-
mandos lautet, in der Bundesrepublik drei Kommando-
behördeneinrichtungen betreibt: das Fernmeldebataillon
der NATO CIS Group in Wesel, das Combined Air Ope-
rations Centre in Uedem und natürlich das Hauptquartier
des Allied Air Command in Ramstein. Darauf können
wir stolz sein; denn als Gastgebernation für unser Ver-
teidigungsbündnis zu dienen, hat wichtige politische und
militärische Synergieeffekte.
Es liegen daher gute Gründe für die Beschließung
dieses Gesetzes vor: die Beteiligung an der finanziel-
len Verantwortlichkeit der NATO Einrichtungen als
Gastgebernation, die Würdigung der Standortwahl der
Einrichtungen in Deutschland und natürlich die daraus
resultierende faktische finanzielle Entlastung der Bun-
desrepublik.
Karin Strenz (CDU/CSU): Stettin in Polen, Lille in
Frankreich, Neapel in Italien und auch Wesel am Rhein –
was haben diese Städte gemeinsam? An jedem dieser
Orte befinden sich internationale Liegenschaften der
NATO. Die NATO hat, wie wir wissen, derzeit 28 Mit-
gliedsländer auf drei verschiedenen Kontinenten. Dem-
entsprechend viele Hauptquartiere und Liegenschaften
müssen jedes Jahr umgebaut bzw. renoviert werden;
dementsprechend viele neue Gebäude müssen errichtet
werden. Das Abkommen vom 13. März 1967 zwischen
Deutschland und dem Obersten Hauptquartier der Alli-
ierten Mächte in Europa hat bisher bestimmt: Die NATO
trägt alleine die regelmäßig anfallenden Kosten für NA-
TO-Hauptquartiere auf deutschem Gebiet.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 201723072
(A) (C)
(B) (D)
Im Jahr 2010 wurde auf dem Gipfel der NATO in
Lissabon die Reform der Kommandostruktur der NATO
beschlossen. Das bedeutete konkret: Die Zahl der mili-
tärischen Hauptquartiere wurde reduziert. Für Deutsch-
land bedeutete das konkret die Schließung des takti-
schen Kommandos der Landstreitkräfte in Heidelberg
im Jahr 2013. Durch diese Reform sind aber nicht nur
die Kommandostrukturen effizienter gestaltet worden.
Sinn der Sache war auch eine deutliche Entlastung des
gemeinsamen NATO-Militärhaushaltes.
In diesem Zusammenhang können Sie auch das Ab-
kommen vom 19. Mai 2016 verstehen. Die Außenmi-
nister der NATO-Mitgliedsländer trafen sich an diesem
Tag im letzten Frühjahr in Brüssel. Grundlegendes in der
Finanzierung der NATO-Liegenschaften weltweit hat
sich an diesem Tag geändert. Der deutsche Botschafter
bei der NATO, Hans-Dieter Lucas, und der NATO-Ober-
befehlshaber für Europa, General Curtis Scaparrotti,
haben in Brüssel gemeinsam ein Abkommen unterzeich-
net. Zukünftig sollen die Kosten für die Instandsetzung
und Instandhaltung der NATO-Liegenschaften aufgeteilt
werden. Die eine Hälfte wird durch den NATO-Haushalt
bestritten, die andere Hälfte wird durch den Aufnahme-
staat, sozusagen den Gastgeber, getragen, in unserem Fall
also die Bundesrepublik Deutschland. Damit diese sinn-
volle Vereinbarung in Kraft treten kann, muss auch der
Deutsche Bundestag zustimmen. Das ist gut und wichtig.
Konkret geht es bei uns um drei Stützpunkte: das
Hauptquartier mit dem Luftwaffenoberkommando der
NATO in Ramstein, den Gefechtsstand der NATO zur
Führung von Luftstreitkräften in Uedem/Kalkar nahe der
holländischen Grenze und das 1. NATO-Fernmeldeba-
taillon in Wesel. Zur Hälfte würden wir in Zukunft die
Infrastrukturkosten dieser Standorte übernehmen.
Lassen Sie mich Ihnen kurz darstellen, warum wir die-
sem Gesetzentwurf zustimmen sollten.
Mit diesem neuen Gesetz sind keine zukünftigen Aus-
gabenexplosionen verbunden. Ganz im Gegenteil, wir
erwarten dadurch sogar Einsparungen im siebenstelligen
Bereich. Kurz ein paar Zahlen zur Veranschaulichung:
Durch die Aufteilung dieser sogenannten Infrastruk-
turkosten wird die NATO jährlich rund 11,8 Millionen
Euro einsparen, und damit auch wir. Deutschland trägt
einen Anteil von fast 15 Prozent am gemeinsamen NA-
TO-Haushalt. Mit dem neuen Gesetz würden wir deshalb
rund 1,72 Millionen Euro an NATO-Ausgaben pro Jahr
einsparen. Demgegenüber stehen nur geringe Mehraus-
gaben für die NATO-Liegenschaften in unserem Land.
Das sind jährlich rund 200 000 Euro. Sie können nun
selbst die Rechnung aufstellen. Wir würden deutlich
mehr als 1 Million Euro pro Jahr einsparen. Das macht
für jeden Sinn. Wir stehen als Union für solide und ver-
antwortliche Haushaltspolitik. Auch deshalb unterstütze
ich diesen Entwurf ohne Vorbehalt. Ich ermutige uns,
die deutschen Militärausgaben als Ganzes zu betrachten.
Diese Rechnung macht Sinn für unseren Bund – egal wie
man es dreht und wendet.
Sie könnten jetzt vielleicht sagen: Was haben wir da-
von, wenn wir uns Mehrausgaben für Instandsetzung und
Instandhaltung von NATO-Gebäuden in Deutschland
aufhalsen? Ich sage Ihnen, das wäre zu kurz gedacht.
Wir sind eben nicht nur Gastgeber der NATO in unse-
rem Land, sondern tragen auch nicht unerhebliche Betei-
ligung an NATO-Einrichtungen in 27 anderen Ländern,
zum Beispiel beim Multinationalen Korps Nordost in
Stettin in Polen. Die Einsparungen, verbunden mit unse-
rer starken Beteiligung am NATO-Haushalt, übersteigen
die Ausgaben bei weitem.
Ich bitte Sie deshalb, diesem Gesetz ihre Zustim-
mung zu geben. Es macht Sinn für die Bundesrepublik
Deutschland, sowohl wirtschaftlich als auch finanziell.
Die Einsparungen, die wir hier erzielen, können in an-
deren Bereichen des Verteidigungshaushalts sehr gut
genutzt werden. In einer Zeit von steigenden Verteidi-
gungsausgaben für unser Land, auch weil wir uns stärker
in der NATO engagieren und das wahrscheinlich noch
zunehmen wird, müssen wir einem Gesetz zustimmen,
das an den richtigen Stellen Kosten einspart. Unsere Kol-
legen aus dem Bundesrat haben diesem Entwurf bereits
am 10. Februar ohne Einwende zugestimmt. Das ist ein
sehr gutes Zeichen.
Matthias Ilgen (SPD): Wie ich bereits anlässlich der
ersten Lesung des vorliegenden Gesetzentwurfes sagte,
spiegelt dieser die Umsetzung von Teilen einer bereits
im Jahre 2010 beschlossenen NATO-Reform wider.
Diese Reform wiederum mündete im letzten Jahr in ei-
nem Änderungsabkommen zwischen der Bundesrepu-
blik Deutschland und dem Obersten Hauptquartier der
Alliierten Mächte in Europa. Der daraus resultierende
Gesetzentwurf sieht, kurz gesprochen, eine Umschich-
tung der durch NATO-Hauptquartiere in Deutschland
bzw. in allen NATO-Staaten entstehenden Kosten vor.
Dies betrifft hierzulande beispielsweise das sogenannte
Headquarters Allied Air Command oder kurz: HQ AIR-
COM in Ramstein und auch das Headquarters Rapid
Deployable German-Netherlands Corps in Münster. Ziel
des Gesetzentwurfs respektive der NATO-Reform, die
wir hier auf nationalstaatlicher Ebene umsetzen, ist eine
gerechtere Verteilung der Kosten innerhalb des Nordat-
lantischen Bündnisses.
Die bisherige Regelung, was die Unterhaltung der NA-
TO-Hauptquartiere betrifft, entstammt dem Abkommen
von 1967 und sieht dabei eine Übernahme der Kosten
seitens der NATO zu 100 Prozent vor. Im Zuge der Re-
form der NATO-Kommandostruktur aus dem Jahre 2010
wurde beschlossen, diesen Schlüssel dahin gehend anzu-
passen, dass sich künftig NATO und Gastgeberland diese
Kosten hälftig teilen, also im Verhältnis 50 : 50, statt wie
bisher 100 : 0.
Um es noch einmal kurz zu erklären: Durch die hälf-
tige Übernahme der Kosten für Liegenschaftsinstand-
setzung und Liegenschaftsinstandhaltung entstehen im
Kapitel 1408 des Bundeshaushaltes – das Kapitel im
Haushalt des Bundesministeriums der Verteidigung, wel-
ches sich unter dem Schlagwort „Unterbringung“ auch
mit den Liegenschaften beschäftigt – Mehrausgaben in
Höhe von 200 000 Euro. Auf der anderen Seite reduzie-
ren sich die Ausgaben in Kapitel 1401 – dieses Kapitel
beinhaltet unter anderem die sogenannten „Verpflichtun-
http://www.1gnc.org/
http://www.1gnc.org/
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 23073
(A) (C)
(B) (D)
gen im Rahmen der Mitgliedschaft zur NATO“ – um gut
1,7 Millionen Euro.
Derzeit gibt die NATO 23,6 Millionen Euro für die
Unterhaltung der Hauptquartiere aus. An der in Zukunft
eingesparten Hälfte dieser Summe, nämlich 11,8 Mil-
lionen Euro, ist Deutschland, durch seinen Anteil am
NATO-Haushalt von 14,65 Prozent mit eben diesen be-
sagten 1,7 Millionen Euro beteiligt. Der hier vorliegende
Gesetzentwurf führt in seiner Konsequenz also zu Min-
derausgaben von 1,5 Millionen Euro.
Anderen NATO-Mitgliedstaaten, deren Anteil am
NATO-Budget prozentual kleiner ist, die aber über ent-
sprechende NATO-Hauptquartiere innerhalb ihrer Lan-
desgrenzen verfügen, entstehen dadurch entsprechend
Mehrkosten. Der Punkt dabei ist, dass die Verteilung der
Gesamtkosten auf die Mitgliedsländer der NATO sich in
Zukunft etwas gerechter darstellt. Der US-amerikanische
Präsident, der dahin gehend ja offenbar gerne die eine
oder andere Rechnung ausstellen würde, geriete ob die-
ser Tatsache sicherlich in leichte Verzückung.
Ich möchte es hier an dieser Stelle noch einmal in al-
ler Deutlichkeit sagen: Die Tatsache, dass die NATO im
Zuge des Machtwechsels in den USA Objekt einer De-
batte geworden ist, ist per se gar nicht verkehrt meiner
Ansicht nach. Es ist sogar begrüßenswert, wenn Europa
und die USA sich wieder mehr Gedanken machen über
die Zukunft unserer gemeinsamen Sicherheitsarchitek-
tur. Daraus aber die Ableitung zu machen, die gesamte
Zukunft des transatlantischen Bündnisses sei infrage
gestellt, halte ich für eine unsägliche Debatte und einen
vollkommen unzulässigen Schritt.
Fest steht vielmehr: Die NATO ist für Deutschland
seit über 60 Jahren ein Garant für unsere Sicherheit und
für die westliche Sicherheitsarchitektur als Ganzes. Auch
wenn das manche Kolleginnen und Kollegen in der Op-
position nicht gerne hören: Daran wird sich zukünftig
auch nichts ändern.
Gerade die veränderte sicherheitspolitische Lage in-
nerhalb Europas und an den südlichen und südöstlichen
Grenzen des Bündnisses macht die NATO auf absehba-
re Zeit unersetzlich. Umso wichtiger ist es dabei, diese
Institution auch weiterhin modern, dynamisch und fit zu
halten, um auch in Zukunft ein Instrument an der Hand
zu haben, mithilfe dessen Deutschland auf sicherheitspo-
litische Herausforderungen angemessen reagieren kann.
Deshalb ist es wichtig, die auf NATO-Ebene angescho-
benen Reformen auch hierzulande umzusetzen.
Wir als SPD-Bundestagsfraktion stimmen diesem Ge-
setz abschließend zu.
Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE): Die Sunday
Times berichtete vergangenes Wochenende, US-Präsi-
dent Trump habe im Kontext des Besuchs von Bundes-
kanzlerin Merkel in Washington in der vorvergangenen
Woche nicht nur per Twitter behauptet, Deutschland
schulde der Nato und den USA „riesige“ Summen für die
Verteidigung des Landes. Er habe ihr auch gleich eine
Rechnung über umgerechnet rund 350 Milliarden Euro
übergeben. Beginnend im Jahr 2002 seien darin – ein-
schließlich Zinsen – die Beträge aufaddiert worden, die
Deutschland zurückgeblieben sei hinter dem NATO-Ziel,
2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Militärausga-
ben aufzubringen. Die Bundesregierung dementiert, dass
eine Rechnung übergeben wurde. Ein deutscher Militär-
blogger las in dieser Meldung: Die Milliardenrechnung
sei Deutschland für die Stationierung von US-Truppen in
Deutschland präsentiert worden.
Im hier debattierten Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung geht es um die Kosten der NATO-Hauptquartiere in
Deutschland. Im Vergleich zu der bei der Sunday Times
thematisierten 350-Milliarden-Euro-Rechnung – und
auch mit Blick auf den deutschen Militäretat von in die-
sem Jahr fast 40 Milliarden Euro – geht es in dem Ge-
setzentwurf um geringere Beträge. Er soll eine veränder-
te Kostenteilung zwischen der NATO und Deutschland
als Stationierungsstaat möglich machen.
Die anderen Fraktionen weisen darauf hin, dass die
auf Grundlage des Gesetzentwurfs zu erwartenden
Mehrkosten für Instandsetzung und Instandhaltung der
NATO-Liegenschaften in Deutschland sich auf „nur“
0,2 Millionen Euro beliefen, während Einsparungen in
Höhe von 1,5 Millionen Euro zu erwarten seien, weil der
deutsche Anteil am gemeinsamen NATO-Haushalt sich
auf Basis des zugrunde liegenden Abkommens von 2016
reduziere. Was alle anderen Fraktionen zu erwähnen ver-
gessen, sind die Kosten, die damit verbunden sind, dass
die Nutzung der Hauptquartiere durch die NATO-Trup-
pen für diese unentgeltlich ist, was bedeutet: Diese Kos-
ten, die die ersparten Kostenansätze natürlich deutlich
übersteigen, tragen weiterhin die deutschen Steuerzahle-
rinnen und Steuerzahler.
Worüber die anderen Fraktionen außerdem beiläufig
hinweggehen, sind die Einrichtungen, um die es hier
konkret geht, zum Beispiel das Hauptquartier Uedem,
zum Beispiel das Hauptquartier Ramstein – das Ram-
stein, das schon seit langem als militärisches Luft- und
Drehkreuz der konventionellen Kriegführung von USA
und NATO dient und sowohl die Einsatzzentrale der in
Deutschland stationierten Atomwaffen ist als auch Füh-
rungs-, Kommando- und Kontrollstützpunkt für das NA-
TO-Raketenabwehrsystem, und das Ramstein, auf dem
die US-Armee eine Satelliten-Relaisstation errichtet hat,
über die die für den völkerrechtswidrigen Drohnenkrieg
der USA notwendigen Signale übermittelt werden – mit-
hilfe dieser Station werden die Kampfdrohnen in den
Einsatzregionen gesteuert; sie ist erforderlich, um An-
griffsbefehle an diese Killerdrohnen weiterzuleiten –, die
Airbase Ramstein also, die die Bundesregierung schon
längst hätte schließen sollen, weil die Völkerrechts-
widrigkeit von sogenannten „gezielten Tötungen“, also
Hinrichtungen mutmaßlicher Terroristen mit Drohnen
im US-Antiterrorkrieg, zugleich eine rechtswidrige Nut-
zung des Hauptquartiers in Ramstein bedeutet. Die Bun-
desregierung muss verhindern, dass vom Territorium der
Bundesrepublik Deutschland aus rechtswidrige Militär-
einsätze unterstützt werden. Da sie das ganz offenbar von
selbst nicht tut, werden wir jede Gelegenheit nutzen, sie
daran zu erinnern.
Verteidigungsministerin von der Leyen fühlt sich dem
2-Prozent-Ziel der NATO verpflichtet. Auf dem Stand des
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 201723074
(A) (C)
(B) (D)
heutigen Bruttoinlandsprodukts wären das rund 76 Mil-
liarden Euro, die sie ausgeben will – fast eine Verdopp-
lung des derzeitigen ohnehin viel zu hohen Militäretats.
Deutschland hätte damit einen der höchsten Militäretats
der Welt, höher als die russischen Militärausgaben. Das
wäre außerdem eine Summe, mit der die Kapazitäten der
NATO erhöht werden könnten.
Eine Stärkung der kriegerischen Struktur der NATO
lehnen wir ab. Wir fordern die Auflösung der NATO und
einen sofortigen Ausstieg aus den militärischen Struk-
turen der NATO. Stattdessen setzen wir uns ein für ein
System kollektiver Sicherheit unter Einschluss aller eu-
ropäischer Staaten, also beispielsweise auch Russlands,
Weißrusslands und der Ukraine; denn die NATO, über
die wir hier reden, ist gerade kein Garant für Sicherheit
irgendwo auf der Welt, wie es die anderen Fraktionen
darstellen wollen, sondern Akteurin der globalen Desta-
bilisierung.
Wir Linke lehnen den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung daher ab und bleiben bei unseren Forderungen:
Auflösung und sofortiger Ausstieg aus den militärischen
Strukturen der NATO, keine Übernahme des 2-Pro-
zent-Ziels der NATO, Ramstein schließen, und den völ-
kerrechtswidrigen Drohnenkrieg beenden!
Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir
sprechen heute über die 0,2 Millionen Euro, die Deutsch-
land zur Finanzierung der NATO-Hauptquartiere aus-
geben soll. Diese Hauptquartiere dienen der besseren
Vernetzung der Strukturen innerhalb der NATO. Diese
relativ geringe Summe ist daher gut eingesetztes Geld –
auch wenn ich es als Grüner als vertane Chance anse-
he, dass wir die kühne Dachkonstruktion im neuen NA-
TO-Hauptquartier in Brüssel nicht für mehr Solarpanels
nutzen. Heute geht es auch nicht um die Frage, ob die
Kantine in Brüssel hinreichend Diversity berücksichtigt
und sowohl Halal wie Vegan anbietet. Und selbst die ka-
tastrophal niedrige Quote an Frauen in Führungsfunkti-
onen im Brüsseler Hauptquartier soll nicht unser Thema
sein.
Mir machen nicht die 0,2 Millionen für die NA-
TO-Hauptquartiere Sorgen, sondern die 2 Prozent des
BIP, die Angela Merkel und Ursula von der Leyen dem
Donald Trump in vorauseilenden Gehorsam versprochen
haben. Dabei wäre es ein angemessener Beitrag, wenn
Europas NATO-Staaten allein doppelt so viel für Rüs-
tung ausgeben wie Russland. Das hieße, die Europäer
könnten ihre Rüstungsausgaben um ein Drittel senken;
denn die europäischen NATO-Staaten geben heute schon
dreimal mehr für Rüstung aus als Russland. Und den-
noch möchte Frau Merkel jedes Jahr 24 Milliarden mehr
für Panzer und Fregatten ausgeben, fast die Hälfte von
dem, was Donald Trump in seinem neuen Haushalt für
die US-Army verlangt. Dann würde Deutschland allein
fast so viel ins eigene Militär stecken wie die Atommacht
Russland. Das ist sicherheits- und finanzpolitischer Irr-
sinn.
Und wofür soll dieses Geld ausgegeben werden? Von
einer Nachrüstungslücke kann man bei der Bundeswehr
nicht sprechen, vielmehr von einer Beschaffungspolitik,
die aus Unfähigkeit unter Lobbyeinfluss Milliarden für
unnötige Rüstungsprojekte aus dem Fenster schmeißt.
Da gibt es Fregatten, die vor allem auf Druck der Ko-
alitionsfraktionen angeschafft wurden, und die Panzer
für den Wahlkreis des Kollegen Otte. Diese milliarden-
schweren Anschaffungen gehen vollkommen an den si-
cherheitspolitischen Realitäten vorbei.
Die größten Gefahren für Frieden und Sicherheit
sind zerfallende Staaten und Terrornetzwerke, wachsen-
de Ungleichheit und die immer weiter fortschreitende
Klima krise. Es sind asymmetrische Konflikte, die nicht
dadurch symmetrischer werden, dass wir ein paar Hun-
dert Panzer mehr anschaffen. Wir brauchen keine milli-
ardenschwere Aufrüstung, sondern gezielte Investitionen
in Fähigkeiten, mit denen wir einen substanziellen Bei-
trag zu Friedensmissionen der Vereinten Nationen und
der Europäischen Union leisten können. Und wir müssen
endlich die Zusage einhalten, 0,7 Prozent des Bruttona-
tionaleinkommens für Entwicklung auszugeben, und die
zivile Krisenprävention stärken.
0,2 Millionen für die NATO-Hauptquartiere – damit
habe ich kein Problem. 2 Prozent für milliardenschwere
Aufrüstung – das wird es mit uns Grünen nicht geben!
Anlage 16
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung
der Richtlinie (EU) 2016/97 des Europäischen Par-
laments und des Rates vom 20. Januar 2016 über
Versicherungsvertrieb und zur Änderung des Au-
ßenwirtschaftsgesetzes (Tagesordnungspunkt 33)
Astrid Grotelüschen (CDU/CSU): Wir beraten in
erster Lesung die Umsetzung der europäischen Versiche-
rungsvertriebsrichtlinie, IDD genannt, welche die Anfor-
derungen an Versicherungsvermittler, wie zum Beispiel
die Erlaubnispflicht und Registrierung sowie erweiterte
Informations- und Dokumentationspflichten gegenüber
dem Verbraucher, regeln soll.
Vor dem Hintergrund des Koalitionsvertrags besteht
das Ziel, zusätzlich ein Provisionsgebot für Versiche-
rungsvertreter bzw. Versicherungsmakler sowie ein Pro-
visionsverbot für Versicherungsberater einzuführen.
Nachdem das Kabinett am 18. Januar 2017 den Ge-
setzentwurf beschlossen hat, ist die IDD, die übrigens
recht bald – bis zum 23. Februar 2018 – in nationales
Recht umzusetzen ist, auch intensiv in den beteiligten
Ressorts diskutiert worden. Zur Umsetzung sind vor al-
lem die Gewerbeordnung – BMWi –, das Versicherungs-
aufsichtsgesetz – BMF –, aber auch das Versicherungs-
vertragsgesetz – BMJV – zu ändern.
Ebenso wie ihre Vorgängerrichtlinie aus dem
Jahr 2002 regelt die IDD die erwähnten Anforderungen
an Versicherungsvermittler, enthält allerdings einige zu
diskutierende zusätzliche Regelungen: die Einbeziehung
des Direktvertriebs, erweiterte Informations- und Doku-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 23075
(A) (C)
(B) (D)
mentationspflichten und Vorgaben für die Vermittlung
von Versicherungsanlageprodukten.
Zusätzlich zu einer Eins-zu-eins-Umsetzung, die für
mich ein Muss ist und über die es nicht hinausgehen
sollte, enthält der vorliegende Entwurf Regelungen, die
die Honorarberatung im Versicherungsbereich stärken
sollen – ein besonderes Anliegen des BMJV. Außerdem
soll das Provisionsabgabeverbot, also konkret das Verbot
der Weiterleitung von Provisionen durch den Vermittler
an den Verbraucher, ebenfalls gesetzlich festgeschrieben
werden.
Aktuell sind 228 289 Versicherungsvermittler und
-berater registriert – Tendenz fallend. Etwa 65 Prozent
sind sogenannte gebundene Versicherungsvermittler, und
21 Prozent zählen zu den Versicherungsmaklern. Abge-
sehen von fast 30 000 Versicherungsvertretern mit Er-
laubnis, haben wir noch 2 Prozent sogenannte produktak-
zessorische Vermittler und 311 Versicherungsberater auf
dem Markt. Anhand dieser Zahlen erkennen Sie, dass wir
in Deutschland ein sehr unterschiedliches „Berufsbild“
haben. Für den Verbraucher oder Käufer einer Versiche-
rung stellt dies eine große Herausforderung dar. Im Zuge
der Diskussion um mehr Transparenz sollte unser Augen-
merk auf eine möglicherweise vereinfachte Struktur der
Vertriebswege und zusätzliche Informationsgewinnung
gerichtet sein.
Eine zentrale Frage ist außerdem: Wie erreichen wir
eine gute Abwägung einerseits zwischen Verbraucher-
schutzinteressen und andererseits der Möglichkeit für
unsere mittelständischen sich am Markt zu behauptenden
Unternehmen, sich gleichzeitig zukunftsfest aufzustel-
len? Denn ich möchte nicht, dass die familiengeführten
Unternehmen, die regional langjährig erstklassige Bera-
tung leisten, oder auch jene, die sich in unterschiedlichen
Branchen erfolgreich spezialisiert haben, ihre Perspek-
tiven verlieren und mit noch mehr Bürokratie durch ein
unnötig kompliziertes Gesetzesvorhaben belastet wer-
den. Unsere mittelständischen Anbieter sollen schließ-
lich ihre wesentlichen Strukturen erhalten können; und
daher ist zunächst ganz grundsätzlich zu prüfen, was wir
unbedingt als EU-Recht umsetzen müssen.
Abschließend möchte ich aber auch für einen Bereich
der IDD sensibilisieren, der manchmal in Vergessenheit
gerät, jedoch besonders die kleinen Unternehmen und
Unternehmer treffen kann: den Vertrieb ohne persönliche
Beratung oder neudeutsch auch „Robo-Advice“ genannt.
Die Richtlinie erlaubt grundsätzlich auch den beratungs-
freien Vertrieb, anders als bisher in Deutschland, wo der-
zeit eine Beratungspflicht besteht. Wir sollten besonders
genau hinschauen, was hier aus Verbraucherschutzgrün-
den verbessert werden muss, damit ein internetbasierter
Vertrieb nach möglichst einheitlichen Strukturen einen
praktikablen Weg darstellt. Generell wird nämlich unter-
schieden zwischen der Beratung mit einer persönlichen
Empfehlung an den Kunden, also warum ein bestimm-
tes Produkt den Bedürfnissen optimal entspricht, und
dem Abschluss eines rechtsverbindlichen Vertrages, der
die Wünsche des Verbrauchers widerspiegelt aufgrund
seiner Angaben, die online ermittelt werden. Jetzt stellt
sich für mich die Frage, wie bei entsprechenden Inter-
net-Suchmasken und Vergleichsportalen optimal ermit-
telt werden kann, was der Kunde wünscht. Wie objektiv
sind die Informationen, die der Verbraucher erhält, um
seine Entscheidung – wohlgemerkt: ohne Beratung – zu
treffen? Am 17. Mai 2017 planen wir eine öffentliche Ex-
pertenanhörung im federführenden Ausschuss Wirtschaft
und Energie durchzuführen. Dann werden wir auch auf
diesen Punkt ein besonderes Augenmerk richten.
Mir ist wichtig, dass wir am Ende ein ausgewogenes
Regelwerk für den Versicherungsvertrieb entwickeln,
damit der Mittelstand sich in einem derzeit herausfor-
dernden Umfeld auch gut bewähren kann. Der hierzu nö-
tige Gesetzentwurf muss ein tragfähiges Fundament für
einen Versicherungsmarkt mit transparenten und für alle
Marktteilnehmer fairen Regeln bieten.
Barbara Lanzinger (CDU/CSU): Heute beraten wir
im Bundestag in erster Lesung den Gesetzentwurf der
Bundesregierung zur nationalen Umsetzung der Versi-
cherungsvertriebsrichtlinie. Damit beginnen wir das par-
lamentarische Verfahren. Der Gesetzentwurf ist gründ-
lich zu diskutieren.
Uns liegt ein Entwurf vor, der die EU-Richtlinie – kurz
IDD genannt – in deutsches Recht umsetzen soll. Da die
bisherige Richtlinie aus dem Jahr 2002 stammt, wurde
sie überarbeitet und an neue Gegebenheiten angepasst,
beispielsweise an neue Vertriebswege und technische
Möglichkeiten. Das Ziel ist eine Mindestharmonisierung
nationaler Vorschriften für den Versicherungs- und Rück-
versicherungsvertrieb zur Stärkung des Binnenmarktes
in diesem Bereich. Weiterhin soll der Verbraucherschutz
gestärkt werden.
Meinen Dank möchte ich an dieser Stelle den Kolle-
ginnen und Kollegen in Brüssel vor allem im Europä-
ischen Parlament aussprechen, die eine gute rechtliche
Grundlage ausgearbeitet haben. In dem darauf aufbau-
enden Gesetzentwurf der Bundesregierung werden ins-
besondere die Gewerbeordnung, das Versicherungs-
aufsichtsgesetz sowie das Versicherungsvertragsgesetz
geändert. Wir begrüßen in dem Gesetzentwurf die Eins-
zu-eins-Umsetzung der IDD. An mancher Stelle geht er
darüber hinaus. Darauf liegt unser Augenmerk.
Wir in der CDU/CSU-Fraktion wollen einerseits einen
starken Verbraucherschutz mit einer qualitativ möglichst
hochwertigen Beratung. Andererseits wollen wir aber
auch einen mündigen Verbraucher, der auf Grundlage
transparenter Informationen selber entscheiden kann,
ohne ihm alles vorzuschreiben. Manchmal ist weniger
mehr. Wir wollen einen gesunden Wettbewerb zwischen
Versicherungsanbietern und zwischen denjenigen, die
beispielsweise Versicherungsprodukte auf welchem Weg
auch immer vertreiben und vermitteln.
Was wir nicht wollen, ist Überregulierung. Der Ge-
setzentwurf soll den Verbrauchern dienen, aber genauso
praktikabel sein für unsere Wirtschaft, unseren Mittel-
stand und unsere Selbstständigen. Auf eine gesunde Ba-
lance werden wir achten.
Manches werden wir uns dabei ganz besonders genau
anschauen. Dazu zählt die neue Regelung zur Vergütung
von Versicherungsvermittlern, sprich beispielsweise Ver-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 201723076
(A) (C)
(B) (D)
sicherungsmaklern, und den Versicherungsberatern. Als
sehr positiv bewerte ich es, dass Gewerbekunden auch
in Zukunft gegen Honorar von Maklern beraten werden
dürfen.
Mit dem nun beginnenden Verfahren beginnen erst
die parlamentarischen Verhandlungen zum vorliegenden
Gesetzentwurf. Ich freue mich auf die kommenden Ver-
handlungen und darauf, mit allen Betroffenen und Be-
teiligten in einen guten Austausch zu gelangen. Ich gehe
davon aus, dass auch die SPD nach wie vor Interesse an
konstruktiver Zusammenarbeit hat.
Marcus Held (SPD): Heute behandeln wir in erster
Lesung den Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Um-
setzung der Richtlinie (EU) 2016/97 des Europäischen
Parlaments und des Rates vom 20. Januar 2016 über
Versicherungsvertrieb und zur Änderung des Außenwirt-
schaftsgesetzes. Lassen Sie mich dazu kurz ein paar Din-
ge vorwegnehmen.
Viele meiner Kolleginnen und Kollegen in der Frakti-
on wurden auf dieses Thema in ihren Wahlkreisen zuletzt
angesprochen, weil viele, die diese Umsetzung betrifft,
auch so schnell wie möglich Antworten wollen. Auch die
Kolleginnen von der Union und auch mich haben eine
Vielzahl von Stellungnahmen und Zuschriften seitens
zahlreicher Verbände, aber auch vieler Versicherungsma-
klerinnen und -makler erreicht. Viele erwecken in ihren
Schreiben den Eindruck, dass es fünf vor zwölf sei. Dazu
möchte ich gerne sagen, dass mit der ersten Lesung heute
nun auch das parlamentarische Verfahren beginnt. Das
heißt, nach der Lesung heute werden wir uns im feder-
führenden Ausschuss für Wirtschaft und Energie, aber
auch in den mitberatenden Ausschüssen für Verbrau-
cherschutz und für Finanzen intensiv mit der Umsetzung
der Richtlinie zu IDD beschäftigen. Dazu haben wir
uns vorgenommen, dass wir diese Umsetzung noch vor
der Sommerpause abschließen wollen und werden. Uns
bleibt also in noch fünf verbleibenden Sitzungswochen
die Zeit, uns vollumfänglich diesem Thema zu widmen.
Die IDD ist bis zum 23. Februar 2018 in nationales
Recht umzusetzen. Erforderlich sind dazu Änderungen
im Gewerberecht, im Versicherungsvertragsrecht und im
Versicherungsaufsichtsrecht, die in einem Artikelgesetz
zusammengeführt werden sollen.
Um was geht es bei dieser Richtlinie? Es geht
schlichtweg erst einmal um mehr Verbraucherschutz und
um mehr Qualität. Dazu enthält diese Richtlinie Weiter-
bildungsverpflichtungen und Transparenzpflichten. Zu-
gleich haben wir im Koalitionsvertrag aufgenommen,
dass „wir die Einführung der Honorarberatung als Alter-
native zu einer Beratung auf Provisionsbasis für alle Fi-
nanzprodukte vorantreiben und hohe Anforderungen an
die Qualität der Beratung festlegen“ werden.
Für mich besonders wichtig sind die Qualitätsmerk-
male, die diese Richtlinie vorgibt. Dazu gehören, wie
soeben angesprochen, die Weiterbildungsverpflichtun-
gen. Hier wurde im Gesetzentwurf in § 34d Absatz 9 neu
aufgenommen, dass „die unmittelbar bei der Vermittlung
oder Beratung mitwirkenden Beschäftigten sich in einem
Umfang von 15 Stunden je Kalenderjahr weiterbilden“
müssen. In einer Versicherungsvermittlerverordnung
werden dann mögliche Inhalte der Weiterbildung, Arten
der Weiterbildung, Nachweise etc. näher und praxisnah
geregelt.
Auch der Punkt der Beratung ist in Bezug auf die Qua-
litätssteigerung im Versicherungsbetrieb ein unverzicht-
barer Bestandteil dieses Gesetzentwurfs. So wird in § 6
des Versicherungsvertragsgesetzes neu geregelt, dass es
keine Ausnahmen von der Beratungspflicht geben soll,
auch nicht, wenn ein Versicherungsabschluss über das
Internet oder fernmündlich erfolgt, es sei denn, der Versi-
cherungsnehmer verzichtet darauf.
Ein weiterer Punkt im Gesetzentwurf, der viele Ver-
sicherungsmaklerinnen und Versicherungsmakler be-
schäftigt hat und weswegen meine Kolleginnen und
ich auch angeschrieben wurden: Der Entwurf sieht vor,
wie es auch im Koalitionsvertrag vereinbart wurde, dem
Kunden Honorarberatung einerseits und Versicherungs-
vermittlung auf Provisionsbasis andererseits als gleich-
wertige Alternativen anzubieten. Ein Mischmodell soll
zukünftig ausgeschlossen werden.
Die uns erreichten Zuschriften werden wir innerhalb
der Koalition prüfen und in unsere Beratungen einfließen
lassen. Ich freue mich auf die vor uns liegende Zusam-
menarbeit in der Koalition zu diesem Gesetzentwurf im
parlamentarischen Verfahren, insbesondere mit meinen
beiden Unionskolleginnen Frau Grotelüschen und Frau
Lanzinger, und bin guter Dinge, dass wir ein für alle Sei-
ten anständiges und annehmbares Gesetz hinbekommen
werden.
Susanna Karawanskij (DIE LINKE): Wie schon bei
der abschließenden Beratung des Zweiten Finanzmarkt-
novellierungsgesetzes – der MiFiD-II-Umsetzung – bin
ich ebenso bei der nun anstehenden ersten Beratung der
Umsetzung der Versicherungsvermittlerrichtlinie etwas
enttäuscht, dass hier im Hohen Hause keine breitere De-
batte zu solch wichtigen Inhalten geführt wird. Mir ist
bewusst, dass zum Ende einer Wahlperiode viele Vorha-
ben noch durchgedrückt werden müssen. Aber ganz ehr-
lich: Ein klein wenig zeigt sich dabei schon auch, wie
wichtig der Großen Koalition bestimmte Themen sind
und wie sehr Sie bereit sind, sich hier einer kritischen
Auseinandersetzung um die Stärkung des finanziellen
Verbraucherschutzes zu stellen.
Denn bei der IDD-Umsetzung besteht doch deutlicher
Nachholbedarf, um Verbraucher besser zu schützen. Wir
dürfen nicht vergessen, dass wir es hier mit einer Mini-
malharmonisierung zu tun haben und es somit zweifels-
frei möglich wäre, bestimmte Felder strenger zu regeln.
Doch Sie setzen die Richtlinie teilweise nicht einmal
vollständig um oder – noch schlimmer – wollen Sonder-
vorschriften erlassen wie zu den Restschuldversicherun-
gen, die schwächer als in der Richtlinie und nachteilig
für die Verbraucher sind. Restschuldversicherungen sind
oftmals stark überteuert und nicht auf den Bedarf der
Verbraucher zugeschnitten. Diesen wird suggeriert, sie
erhielten einen bestimmten Kredit nur, wenn sie dazu
eine Restschuldversicherung mit abschließen. Dazu be-
steht aber kein Zwang. Der Linken ist es hier wichtig,
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 23077
(A) (C)
(B) (D)
dass Kreditinstitute, Banken und Versicherungen ver-
pflichtet werden, zwei unterschiedliche, voneinander
getrennte Verträge zum Kredit und zur Restschuldversi-
cherung anzubieten. Dazu gehört, dass Verbraucher auf
alle Fälle ausnahmslos über die Restschuldversicherung
aufgeklärt, informiert und beraten werden.
Was die Aufsicht betrifft, sträubt sich die Bundesre-
gierung erbittert dagegen, das bestehende Aufsichtsge-
fälle einzuebnen. Wie bei den Finanzanlagenvermittlern
werden auch die Versicherungsvermittler nur durch die
Industrie- und Handelskammern bzw. durch die Gewer-
beämter beaufsichtigt. Versicherungsunternehmen wer-
den dagegen durch die Finanzaufsicht BaFin kontrolliert.
Die Linke fordert eine Abkehr von diesem zweistufigen
Aufsichtssystem und somit eine einheitliche, flächende-
ckende Aufsicht durch die BaFin.
Beim Thema Provisionen wird zum wiederholten
Male deutlich, dass Union und SPD zum Besitzstands-
wahrer des Provisionssystems verkommen sind. Das An-
sinnen, die unabhängige Beratung, die Honorarberatung
zumindest auf Augenhöhe mit der Provisionsberatung zu
stellen, erweist sich immer mehr als Lippenbekenntnis.
Unter MiFiD II sind Provisionen nur zulässig, wenn aus
der Provision ein Vorteil für den Verbraucher entsteht.
Bei IDD hingegen sind Provisionen bereits zulässig,
wenn für die Verbraucher kein Nachteil besteht. Weil es
einfacher ist, Provisionen zu beziehen, prophezeie ich,
dass künftig lieber Versicherungsprodukte an die Kunden
vertrieben werden. So sieht unabhängige Beratung aber
gerade nicht aus. Auch bei der Offenlegung der Provisi-
onen und Vertriebsvergütungen bietet IDD noch zu viele
Schlupflöcher, was einen fairen Wettbewerb zwischen
den Vertriebsformen verhindert.
Daran anknüpfend gilt es zudem, endlich das Provisi-
onsabgabeverbot vom Thron zu stoßen. Sinnvoller wäre
es doch, dass Verbraucher selbst entscheiden können,
welchen Vertriebsweg sie wählen und damit auch, wel-
che Kosten sie dafür entrichten. Umfassende Beratung
ist dann vergleichsweise teurer, während diejenigen, die
keine Beratung benötigen, auch nicht dafür zahlen müs-
sen. Dazu müssen aber endlich die Vertriebskosten aus
den Versicherungsprodukten herausgenommen werden.
Die Linke fordert daher das Ende des Provisionsabgabe-
verbots sowie die Einführung eines Nettopreissystems.
Wenngleich bei der IDD-Umsetzung das sogenann-
te Provisionsdurchleitungsgebot ein Schrittchen hin zur
Stärkung der Beratung auf Honorarbasis ist, wird eines
bei dem ganzen Geplänkel um Provisionen, Verkaufsan-
reize, Courtagen, Abgabeverbote und Durchleitungen
doch klar: Provisionen sorgen für Interessenkonflikte,
die zu schlechten Anlageempfehlungen führen können.
Oft wird halt Kunden gerade das Finanzinstrument emp-
fohlen und verkauft, das den für den Berater höchsten
Vertriebsgewinn abwirft. Mittelfristig muss deshalb aus
Sicht der Linken das Provisionssystem überwunden und
durch eine unabhängige, flächendeckende, verbrauch-
erorientierte und kostengünstige Finanzberatung ersetzt
werden. Die Verbraucherzentralen sind mit ihren Bera-
tungsangeboten speziell für einkommensschwache Men-
schen neben Schuldnerberatungsstellen zu stärken. Wir
haben dazu schon mehrfach eine mehrjährige Anschub-
finanzierung durch den Bund angeregt. Daraufhin sollen
alle Unternehmen der Finanz- und Versicherungsbranche
für diese Kosten nach dem Verursacherprinzip aufkom-
men.
Meine Damen und Herren von der Regierungsbank,
nutzen Sie doch den Gestaltungsspielraum, der Ihnen bei
der IDD-Umsetzung zweifelsfrei zur Verfügung steht. In
anderen Bereichen ist Ihnen ein fairer Wettbewerb auf
dem Markt doch auch wichtig. Dann sollte er Ihnen im
Fall der unabhängigen Versicherungsberatung doch auch
wichtig sein, wenn Sie schon nicht sofort Verbraucher
besser schützen wollen, indem Sie das Provisionssystem
zu Grabe tragen.
Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Si-
cherheit ist ein Grundbedürfnis von Menschen. Da das
ganze Leben von Unsicherheiten geprägt ist, haben
Menschen schon immer nach Wegen gesucht, sich abzu-
sichern. Darauf beruht das grundsätzlich sinnvolle Ge-
schäftsmodell von Versicherungen.
Leider können Verbraucherinnen und Verbraucher
in vielen Fällen nicht darauf vertrauen, dass die Versi-
cherungen, die sie abschließen, ihnen wirklich nützen.
Undurchsichtige Produkte mit vielen unbestimmten Ver-
tragsklauseln, überhöhte Abschluss- und Vertriebskos-
ten, schlechte Beratungsqualität – das sind nur einige der
Probleme, mit denen Verbraucherinnen und Verbraucher
kämpfen. Die Versicherungsvertriebsrichtlinie soll nun
für mehr Transparenz und mehr Verbraucherschutz auf
dem Versicherungsmarkt sorgen. Kernstück ist dabei,
dass unabhängige Beratung und provisionsbasierte Ver-
mittlung klar voneinander getrennt werden. Diese Tren-
nung begrüßen wir grundsätzlich. Auch soll durch die
Umsetzung der Richtlinie angestrebt werden, die unab-
hängige Beratung zu stärken. Auch das befürworten wir
ausdrücklich. Wir fordern seit langem eine substanzielle
Stärkung der unabhängigen Honorarberatung; denn auch
wenn es sicher auch gute, provisionsbasierte Beratung
gibt – das Risiko von Fehlberatungen durch eine Aus-
richtung an den lukrativsten Provisionen ist für Verbrau-
cherinnen und Verbraucher deutlich zu groß.
Doch ob der vorliegende Gesetzentwurf tatsächlich
zu mehr Verbraucherschutz und einer Stärkung der un-
abhängigen Honorarberatung beiträgt, muss stark be-
zweifelt werden. Ich sehe hier vier zentrale Punkte, die
unbedingt Nachbesserungen benötigen:
Erstens, die Aufsicht: Bislang ist es so, dass die Ba-
Fin für die Beaufsichtigung der Versicherungsunterneh-
men zuständig ist. Die Versicherungsvermittler werden
allerdings von den Industrie- und Handelskammern be-
aufsichtigt. Diese Aufsplitterung ist für eine wirksame
Aufsicht hinderlich. Deshalb fordere ich: Bessern Sie
hier nach, und bündeln Sie die Aufsicht bei der BaFin.
Zweitens: Das Provisionsabgabeverbot stammt aus
dem Jahre 1923. Damals zogen Versicherungsvermittler
noch von Haustür zu Haustür. Das Provisionsabgabever-
bot sollte verhindern, dass ein Unterbietungswettkampf
unter den Vermittlern beim Auskehren der Provisionen
an die Kundinnen und Kunden entsteht. Das Provisions-
abgabeverbot ist heute nicht mehr zeitgemäß – und das
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 201723078
(A) (C)
(B) (D)
Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
sage nicht nur ich als Verbraucherschützerin. Eine Ab-
schaffung des Provisionsabgabeverbotes ist notwendig,
damit endlich ein für Verbraucherinnen und Verbraucher
nützlicher Wettbewerb um Provisionen entsteht. Die
Bundesregierung ist doch sonst so oft dafür, dass es der
Markt regeln soll. Warum hier nicht? Außerdem ist es
doch nicht einzusehen, dass Verbraucherinnen und Ver-
braucher auf allen Vertriebswegen gleiche Provisionen
zahlen, wenn doch beispielsweise der Vermittlungsauf-
wand im Internet deutlich geringer ausfällt als im stati-
onären Vertrieb.
Drittens. Verbraucherinnen und Verbraucher, die sich
unabhängig beraten lassen und sich dann für ein Versi-
cherungsprodukt entscheiden, müssen oft doppelt zahlen;
denn Bruttopreise sind nach wie vor Standard, das heißt,
die Kunden müssen die Provisionen mitzahlen. Die Aus-
wahl an Nettopolicen ist nach wie vor gering. Das macht
die unabhängige Honorarberatung unattraktiv. Deshalb
ist es absolut richtig und wichtig, dass Provisionen vom
Versicherungsunternehmen an die Kundinnen und Kun-
den weitergeleitet werden. Die Detailregelungen hierzu
sind aber nicht fair. Warum sollen pauschal 20 Prozent
Abschlag anfallen? Warum soll die Weiterleitung auf die
ersten fünf Jahre begrenzt werden? Das ist nicht nach-
vollziehbar und sollte geändert werden.
Viertens und letztens, aber von zentraler Bedeutung:
Restschuldschuldversicherungen. Sie sind der Inbegriff
von Verbraucherabzocke. Zum Teil sind bis zu 70 Pro-
zent Provisionen fällig. Verbraucherinnen und Verbrau-
cher verschulden sich erheblich zusätzlich, um allein die
Versicherung auf den Kredit zu finanzieren. Wahrschein-
lich ist das Ihnen in der SPD und der CDU egal, sonst
hätten Sie das bereits im Rahmen der Wohnimmobilien-
kreditrichtlinie regeln können. Aber da bessern Sie ja
lieber auf Zuruf der Sparkassen und Banken nach – und
machen nichts für Verbraucherinnen und Verbraucher.
Falls es Ihnen doch nicht egal ist, dann werden Sie
endlich tätig: Verbieten Sie Querverkäufe ohne Kunden-
nutzen. Die Kopplung oder Bündelung von Finanzpro-
dukten sollte nur bei einem klar erkennbaren Nutzen für
die Verbraucherinnen und Verbraucher zugelassen wer-
den. Außerdem: Verbessern Sie die Informations- und
Beratungspflichten beim Verkauf von Restschuldversi-
cherungen.
Ich komme zum Schluss. Wir werden aufmerksam
verfolgen, welche Änderungen Sie noch vornehmen. Ich
bin gespannt, ob am Ende echter Verbraucherschutz raus-
kommt.
228. Sitzung
Inhaltsverzeichnis
TOP 3, ZP 1 Maritime Wirtschaft
TOP 4 Finanzaufsichtsrechtergänzungsgesetz
TOP 5 Schienenlärmschutzgesetz
TOP 6 Öffentlicher Personennahverkehr
TOP 40 Überweisungen im vereinfachten Verfahren
TOP 41, ZP 2 Abschließende Beratungen ohne Aussprache
TOP 7 Wahl „Kulturstiftung des Bundes“
TOP 8 Vereinbarte Debatte zumEU-Austritt Großbritanniens
TOP 9 Bundeswehreinsatz EUTM Mali
TOP 10 Änderung des Straßenverkehrsgesetzes
TOP 11 Zugang und Zulassung zu Hochschulen
TOP 12 Transparenz von Entgeltstrukturen
TOP 13 Hungersnot und Völkermord in Südsudan
TOP 14 Bundeswehreinsatz EUTM Somalia
TOP 15 Krankenkassenbeiträge für Selbstständige
TOP 16 Neuregelung des Mutterschutzrechts
TOP 17 Nutzungsrechte digitaler Güter
TOP 18 Carsharing
TOP 19 Betäubungsmittelrecht
TOP 20, ZP 3 Getrennterfassung von wertstoffhaltigen Abfällen
TOP 21 Wiederaufbau der Garnisonkirche Potsdam
TOP 22 Finanzmarktnovellierungsgesetz
TOP 23 G 10-Aufhebungsgesetz
TOP 24 Anpassungsvertrag ERP-Förderrücklage
TOP 25 Willy-Brandt-Korps
TOP 26 EU-Binnenmarkt für Elektrizität
TOP 27 Gesetz über das Fahrlehrerwesen
TOP 28 Zivile Krisenprävention
ZP 4 Entlastung derWirtschaft von Bürokratie
TOP 29 Änderung des Atomgesetzes
TOP 30 Elektronische Meldungen in der Seeschifffahrt
TOP 31 Neuordnung der Eisenbahnunfalluntersuchung
TOP 32 Abkommen zu militärischen Hauptquartieren
TOP 33 EU-Richtlinie über Versicherungsvertrieb
Anlagen
Anlage 1
Anlage 2
Anlage 3
Anlage 4
Anlage 5
Anlage 6
Anlage 7
Anlage 8
Anlage 9
Anlage 10
Anlage 11
Anlage 12
Anlage 13
Anlage 14
Anlage 15
Anlage 16