2) Anlage 16
        Vizepräsidentin Ulla Schmidt
        (A) (C)
        (B) (D)
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 23019
        Anlagen zum Stenografischen Bericht
        Anlage 1
        Liste der entschuldigten Abgeordneten
        Abgeordnete(r)
        entschuldigt bis
        einschließlich
        Amtsberg, Luise BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        30.03.2017
        Barthle, Norbert CDU/CSU 30.03.2017
        Böhmer, Dr. Maria CDU/CSU 30.03.2017
        Buchholz, Christine DIE LINKE 30.03.2017
        Bülow, Marco SPD 30.03.2017
        Dröge, Katharina * BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        30.03.2017
        Flisek, Christian SPD 30.03.2017
        Fuchtel, Hans-Joachim CDU/CSU 30.03.2017
        Gehrcke, Wolfgang DIE LINKE 30.03.2017
        Gohlke, Nicole DIE LINKE 30.03.2017
        Gröhe, Hermann CDU/CSU 30.03.2017
        Gunkel, Wolfgang SPD 30.03.2017
        Hajek, Rainer CDU/CSU 30.03.2017
        Hardt, Jürgen CDU/CSU 30.03.2017
        Heller, Uda CDU/CSU 30.03.2017
        Huber, Charles M. CDU/CSU 30.03.2017
        Hüppe, Hubert CDU/CSU 30.03.2017
        Jung, Andreas CDU/CSU 30.03.2017
        Koenigs, Tom BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        30.03.2017
        Krüger, Dr. Hans-Ulrich SPD 30.03.2017
        Merkel, Dr. Angela CDU/CSU 30.03.2017
        Möhring, Cornelia DIE LINKE 30.03.2017
        Mosblech, Volker CDU/CSU 30.03.2017
        Nahles, Andrea SPD 30.03.2017
        Abgeordnete(r)
        entschuldigt bis
        einschließlich
        Nouripour, Omid BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        30.03.2017
        Petzold (Havelland),
        Harald
        DIE LINKE 30.03.2017
        Rüthrich, Susann * SPD 30.03.2017
        Schipanski, Tankred CDU/CSU 30.03.2017
        Schmidt (Fürth),
        Christian
        CDU/CSU 30.03.2017
        Schmidt (Ühlingen),
        Gabriele
        CDU/CSU 30.03.2017
        Schmidt, Dr. Frithjof BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        30.03.2017
        Stauche, Carola CDU/CSU 30.03.2017
        Strebl, Matthäus CDU/CSU 30.03.2017
        Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        30.03.2017
        Wagner, Doris BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        30.03.2017
        Wöllert, Birgit DIE LINKE 30.03.2017
        Woltmann, Barbara CDU/CSU 30.03.2017
        Zech, Tobias CDU/CSU 30.03.2017
        *aufgrund gesetzlichen Mutterschutzes
        Anlage 2
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Ursula Groden-Kranich (CDU/
        CSU) zu der Abstimmung über den von der Bun-
        desregierung eingebrachten Entwurf eines Geset-
        zes zum Verbot des Betriebs lauter Güterwagen
        (Schienenlärmschutzgesetz – SchlärmschG) (Ta-
        gesordnungspunkt 5)
        Dem Entwurf eines Gesetzes zum Verbot des Betriebs
        lauter Güterwagen werde ich zustimmen.
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 201723020
        (A) (C)
        (B) (D)
        Wir setzen damit ein – besonders für meinen Wahl-
        kreis – wichtiges Projekt des Koalitionsvertrages um.
        Die Anwohner im Mittelrheintal leiden seit vielen Jahren
        unter Schienenlärm, der insbesondere von Güterwagen
        verursacht wird. Der Deutsche Bundestag hat bereits in
        erheblichem Umfang finanzielle Mittel zur Verfügung
        gestellt, um innovative Methoden des Lärmschutzes,
        angepasst an die besondere Topographie der Region, zu
        entwickeln und in der Praxis zu erproben. Mit dem nun-
        mehr vorliegenden Gesetz fügen wir dem Lärmschutz-
        konzept für das Mittelrheintal einen weiteren, wichtigen
        Baustein hinzu.
        Ab dem Fahrplanwechsel am 13. Dezember 2020
        wird ein Schallemissionswert festgelegt, den nur leise
        Güterwagen einhalten können bzw. laute Güterwagen
        nur dann, wenn sie mit deutlich reduzierter Geschwin-
        digkeit fahren. Damit wird es wesentlich leiser auf den
        deutschen Schienenwegen. Der Betrieb lauter Güterzü-
        ge auf dem deutschen Schienennetz ist dann nur noch in
        Ausnahmefällen möglich. Diese Ausnahmefälle sind so
        konstruiert, dass sie den Betrieb lauter Güterwagen wirt-
        schaftlich unattraktiv machen und somit einen weiteren
        Anreiz zur Umrüstung oder Ausmusterung darstellen. Er-
        gänzend hierzu fördert der Bund schon heute die Umrüs-
        tung der Güterwagen auf lärmmindernde Bremstechnik.
        Natürlich dürfen wir in unseren Bemühungen um
        Lärmreduzierung jetzt nicht nachlassen. Die rechtlichen
        Rahmenbedingungen müssen mit den technischen Neu-
        erungen Schritt halten. Dies bleibt eine Daueraufgabe –
        gerade zum Wohl der Menschen im Mittelrheintal.
        Anlage 3
        Erklärungen nach § 31 GO
        zu der Abstimmung über den von der Bundesre-
        gierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
        Förderung der Transparenz von Entgeltstrukturen
        (Tagesordnungspunkt 12 a)
        Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Der Deutsche Bundes-
        tag stimmt heute über den Entwurf des Gesetzes zur För-
        derung der Transparenz von Entgeltstrukturen ab.
        Ich stimme mit meiner Fraktion für den Gesetzent-
        wurf der Bundesregierung und gegen die Anträge von
        Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Linken.
        Immer noch verdienen Frauen im Durchschnitt 21 Pro-
        zent weniger als Männer. Auch wenn man he rausrechnet,
        dass sie häufiger in Teilzeit arbeiten, seltener in Füh-
        rungspositionen aufsteigen oder eher in sozialen Berufen
        mit geringeren Verdiensten tätig sind, verbleibt eine Lü-
        cke von durchschnittlich 7 Prozent.
        Wir haben uns bereits in der letzten Legislaturperiode
        unter anderem mit einem detaillierten Gesetzentwurf für
        die Beseitigung dieser Entgeltlücke eingesetzt und die
        Verabschiedung eines Gesetzes zur Lohngerechtigkeit
        2013 zu Beginn dieser Wahlperiode im Koalitionsvertrag
        mit der Union vereinbart.
        Im Dezember 2015 hat das Bundesfamilienministe-
        rium dazu einen wirksamen Gesetzesentwurf vorgelegt,
        der von der Union fast ein Jahr lang blockiert wurde.
        Ich freue mich, dass es uns nun gelungen ist, die Uni-
        on vor dem Ende der Wahlperiode mit einem verschlank-
        ten Entwurf zum Einlenken zu bewegen und das Entgelt-
        gleichheitsgesetz doch noch zu verabschieden.
        Sicherlich hätten wir uns als Sozialdemokratinnen
        und Sozialdemokraten, genauso wie Gewerkschaften
        und Frauenverbände, mehr gewünscht. Vorgaben, wie
        zum Beispiel ein Verbandsklagerecht oder Verpflich-
        tungen zur Entgeltgleichheit für Unternehmen mit unter
        200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, halte auch ich für
        sinnvoll. Jedoch sehe ich im aktuellen Gesetzesentwurf
        einen ersten zentralen Schritt zu mehr Lohngerechtigkeit,
        der die Diskussion voranbringen wird und der auch eini-
        ge Chancen bietet.
        Denn wir sorgen dafür, dass in Deutschland durch das
        Gesetz mehr über „das Gehalt“ gesprochen wird und die
        Höhe des Verdienstes nicht mehr länger als Tabu gelten
        kann. Damit unterstützen wir das Ziel, zu Lohngleichheit
        bei gleicher und gleichwertiger Arbeit zwischen Män-
        nern und Frauen zu kommen.
        Hinzu kommt, dass Unternehmen nun die Möglichkeit
        haben, vorne mit dabei zu sein und bestehende Diskri-
        minierungen offensiv zu beheben. Damit kann Lohnge-
        rechtigkeit in Zukunft zu einem wichtigen Argument für
        Betriebe im Wettbewerb um gute Arbeitskräfte werden.
        Dr. Kristina Schröder (Wiesbaden) (CDU/CSU):
        Ich lehne das „Gesetz zur Förderung der Transparenz von
        Entgeltstrukturen“ ab.
        Der Beweis, dass die Lohndifferenz zwischen Män-
        nern und Frauen systematisch auf eine Diskriminierung
        von Frauen zurückzuführen ist, wurde nicht erbracht.
        Auch in der in diesem Zusammenhang oft zitierten Studie
        des Statistischen Bundesamtes (2006) wird darauf hin-
        gewiesen, dass auch die bereinigte Lohndifferenz nicht
        mit einer erwiesenen Diskriminierung gleichzusetzen
        ist. Unbezahlte Überstunden etwa, die in Deutschland
        nach einer Studie des Leibniz-Instituts für Wirtschafts-
        forschung Halle (2012) mehr als doppelt so oft von Män-
        nern wie von Frauen geleistet werden, werden in keiner
        der einschlägigen Studien berücksichtigt.
        Man kann die Lohnlücke darauf zurückführen, dass
        Frauen „in traditionellen Rollenbildern verharren“, „glä-
        serne Decken nicht durchstoßen können“ oder in die
        „Teilzeitfalle gedrängt“ werden. Ich hingegen gehe da-
        von aus, dass Menschen in ihrem Leben Entscheidungen
        treffen, darüber, welchen Beruf sie ergreifen, welches
        Gewicht sie der Karriere einräumen und wie viel Zeit sie
        für ihre Familie haben möchten. Diese Entscheidungen,
        mit allen ihren jeweiligen Vor- und Nachteilen, hat der
        Staat nicht zu bewerten. Erst recht ist es nicht Aufgabe
        des Staates, den Versuch zu unternehmen, Menschen um-
        zuerziehen, damit sich männliche und weibliche Biogra-
        fien möglichst angleichen. Denn nur dann, wenn Männer
        und Frauen sich in der Wahl ihrer Ausbildungen und Stu-
        dienfächer, in der Länge ihrer beruflichen Auszeiten nach
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 23021
        (A) (C)
        (B) (D)
        der Geburt eines Kindes, ihrer Bereitschaft, Teilzeit zu
        arbeiten, Unternehmen zu gründen und unbezahlte Über-
        stunden zu leisten, nicht mehr unterscheiden, wird sich
        rechnerisch keine Lohndifferenz mehr zwischen Frauen
        und Männern ergeben.
        Der vorliegende Gesetzentwurf zielt im Kern auf eine
        Angleichung männlicher und weiblicher Biografien ab.
        Er trägt dies auf dem Rücken von Unternehmen aus, die
        unter den Generalverdacht gestellt werden, ihre Mitar-
        beiterinnen grundlos schlechter zu entlohnen als ihre
        Mitarbeiter. Dass daran irgendetwas nicht stimmen kann,
        zeigt schon eine schlichte ökonomische Betrachtung:
        Wenn wirklich Frauen in Deutschland für die gleiche
        Arbeit bei gleicher Ausbildung, gleicher Erfahrung und
        gleichem Arbeitseinsatz sechs Prozent weniger Gehalt
        bekämen, warum kommen dann nicht mehr Unterneh-
        men auf die Idee, ausschließlich Frauen einzustellen, um
        so sechs Prozent Lohnkosten zu sparen?
        Anlage 4
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
        Berichts des Haushaltsausschusses zu dem Antrag
        der Abgeordneten Heidrun Bluhm, Norbert Müller
        (Potsdam), Caren Lay, weiterer Abgeordneter und
        der Fraktion DIE LINKE: Keine Beteiligung des
        Bundes am Wiederaufbau der Garnisonkirche
        Potsdam (Tagesordnungspunkt 21)
        Rüdiger Kruse (CDU/CSU): „Ja! Wir werden Tür-
        me haben, zum Beispiel einen Turm fürs Rathaus, einen
        Turm fürs Kulturhaus. Andere Türme können wir in der
        sozialistischen Stadt nicht gebrauchen“, so hat der SED-
        Chef Walter Ulbricht seine städtebaulichen Vorstellun-
        gen 1953 zum Ausdruck gebracht. Und das SED-Regime
        wurde dieser Ansage gerecht. Zwischen 1949 und 1985
        wurden auf dem Gebiet der DDR ungefähr 50 Kirchen
        abgerissen oder gesprengt. Nach Einschätzung von
        Fachleuten hätten die meisten Kirchen gerettet werden
        können. Das Schicksal traf auch die Garnisonkirche von
        Potsdam.
        Walter Ulbricht hatte sich am 22. Juli 1967 vor einer
        Wahlkundgebung in Potsdam die Stadt angeschaut und
        beschlossen, dass der Turm der Garnisonkirche entfernt
        werden soll. Im Protokoll seines Besuches kann man
        seinen Satz lesen: „Die Ruine der Garnisonkirche kann
        man auch auf der Fotografie zeigen und sie verkaufen als
        Postkarten für Ausländer.“
        Auch die Zeit der Sprengung – Sonntagvormittag um
        10 Uhr – wurde bewusst auf die Zeit gesetzt, wo jede
        Woche traditionell die Gemeinde zum Gottesdienst zu-
        sammenkam. Bei mehreren anderen Kirchensprengun-
        gen verlief das nach gleichem Muster.
        Die Garnisonkirche von Potsdam ist kein Bau mit ei-
        ner einfachen Geschichte gewesen. Sie war mit der Zeit
        des preußischen Militarismus und noch mehr mit der des
        Nationalsozialismus bedauerlich eng verbunden. Sollten
        die Gebäude aber dafür haften, was in ihnen passiert ist,
        würden wir wegen des dann notwendigen Abreißens un-
        sere Städte nicht wiedererkennen.
        Doch dem ist nicht so. Wir haben vielmehr die Mög-
        lichkeit, durch das Erhaltene oder auch das Wiederauf-
        gebaute nicht zu vergessen und daraus zu lernen. Dieje-
        nigen, die sagen, dass auch Bronzetafeln diesen Zweck
        erfüllen können, müssen sich fragen lassen: Wie wenig
        lebendig ist denn die Erinnerung durch eine Tafel im Ver-
        gleich zu einem Kirchenturmbau mit einer Kapelle, unter
        dessen Dach Aufarbeitung stattfindet und Versöhnung an
        Kraft gewinnt?
        Nur wer sich eigener Geschichte stellt, kann versöhnt
        in die Zukunft blicken. Oft wird dies auf die Aufarbei-
        tung der großen tragischen Kriegsereignisse des 20. Jahr-
        hunderts bezogen. Und es stimmt auch. Allerdings gilt es
        auch für jeden einzelnen Menschen, in dessen Inneren
        nicht immer nur das Gute waltet. Die wiederaufgebaute
        Garnisonkirche wird insofern nicht nur ein Erinnerungs-
        ort sein, sondern auch als Besinnungsort dienen können.
        Denn Versöhnung zwischen den Völkern steht und fällt
        mit der Fähigkeit zu friedvoller Verständigung ihrer ein-
        zelnen Glieder – der einzelnen Menschen. Auch für die
        Linkspartei bietet die Garnisonkirche die Chance, sich
        mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen und
        diese anzunehmen.
        Hier sehe ich die versöhnliche Rolle der wiederaufzu-
        bauenden Garnisonkirche. Der Erfolg des Projektes wird
        nicht daran gemessen, ob die letzte Barockverzierung ih-
        ren Platz an der Fassade findet, sondern daran, ob hier
        Menschen zueinanderfinden werden und sich aufrichtig
        der Geschichte stellen.
        Der Turm der Garnisonkirche wird auch in der finanzi-
        ell kleineren Variante mit allen Räumlichkeiten und Aus-
        sichtsplattform nutzbar sein. Die inhaltliche Arbeit wird
        unabhängig von der Fassadengestaltung vollständig und
        ohne Einschränkungen stattfinden können.
        Daher war es richtig, dass wir hier im Deutschen Bun-
        destag vor einigen Wochen die Unterstützung für das
        Projekt signalisiert haben. Dies war das entscheidende
        Signal, das den Start dieses wichtigen Bauvorhabens
        demnächst ermöglicht.
        Dr. Philipp Lengsfeld (CDU/CSU): Es ist eine wirk-
        lich schöne Nachricht, dass der Turm der Garnisonkirche
        in Potsdam nun wieder errichtet wird. So sehr ich es be-
        grüße, dass wir uns im Deutschen Bundestag mit dem
        Thema noch einmal befassen, so sehr bedaure ich, dass
        die Linkspartei weiterhin gegen dieses Projekt kämpft.
        Ich registriere zwar, dass sich der Tonfall in den Reihen
        der Linkspartei insgesamt gemäßigt hat, aber dies ändert
        am Grundsätzlichen leider nichts. Die Linkspartei ver-
        passt – mal wieder – die Gelegenheit, ein Zeichen der
        Versöhnung zu senden. Sie ist und bleibt die Partei der
        Spaltung, sei es in Potsdam oder anderswo.
        Hauptziel des Wiederaufbaus des Turms der Gar-
        nisonkirche ist die Wiederherstellung eines barocken,
        stadtprägenden kirchlichen Prunkstücks, dessen kultu-
        relle Bedeutung weit über Potsdam hinausreicht. Und da
        hat sich die Diskussion in Potsdam doch stark beruhigt.
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 201723022
        (A) (C)
        (B) (D)
        Der Landtag arbeitet im wiedererstandenen Schloss, das
        Interhotel kann weiterhin mit schönstem Blick, in bester
        Innenstadtlage und mit Geschichten aus der alten Zeit
        Gäste beherbergen, und sogar das Rechenzentrum mit
        seiner sozialistischen Kitschkunst hat seinen Platz neben
        dem Kirchturm.
        Darüber hinaus geht es auch um die Wiederbelebung
        einer ehemals aktiven christlichen Gemeinde, ein nicht
        zu unterschätzender Punkt. Deshalb hat das Projekt ja
        eine so breite Zustimmung innerhalb der EKD, trotz des
        lautstarken Protests einer kleinen innerkirchlichen Min-
        derheit. In den Kirchen der Reformation lebt eben eine
        tief demokratische Tradition.
        Und auch die Diskussion um den geschichtlichen
        Symbolismus hat sich doch stark versachlicht. Hier muss
        insbesondere die Wiederaufbauinitiative ausdrücklich
        gelobt werden: Die problematischen Kapitel der Kir-
        che – Stichwort „Tag von Potsdam“ oder „preußische
        Militärkirche“ – werden offensiv und damit nachhaltig
        aufgegriffen.
        Eigentlich könnten wir uns alle sehr einvernehmlich
        hinter dieses Projekt stellen. Aber das scheint ja leider
        für die Linkspartei keine Option zu sein. Stattdessen
        führt sie wie die anderen verbliebenen Gegner des Pro-
        jekts bewusst oder unbewusst das Werk der SED fort. Die
        Sprengung des nur mittelmäßig beschädigten markanten
        Kirchturms und die Beseitigung einer aktiven Gemein-
        de – es gab eine Kapelle – war und ist durch nichts zu
        rechtfertigen. Und es ging nicht nur um die Garnisonkir-
        che, sondern um die Bekämpfung des religiösen Lebens
        und religiöser Bauten in Ostdeutschland insgesamt. Das
        war damals das Ziel der Kampagne von Walter Ulbricht
        und der SED, dem neben der Garnisonkirche Potsdam
        viele weitere Kirchen in Ostdeutschland zum Opfer
        fielen. In Summe waren es bis 1968 satte 50 Gebäude,
        darunter die vollkommen intakte Universitätskirche
        Leipzig, die Ulrichskirche in Magdeburg oder die Gna-
        denkirche Berlin. Dieses Vorgehen reihte sich ein in die
        Unterdrückung der Jungen Gemeinden in den ersten
        Jahrzehnten der DDR und der schulischen, beruflichen
        und akademischen Benachteiligung von getauften Kin-
        dern, insbesondere von Kindern aus Pfarrerfamilien.
        Es ist für mich schon eine ganz bittere Ironie, dass eine
        geschichtsvergessene Enkelgeneration mit überborden-
        dem Selbstbewusstsein den ideologischen Feldzug ihrer
        Funktionärsgroßeltern weiterführt.
        Um versöhnlich zu enden: Auf der exzellenten und
        sehr sachlichen Webseite Kirchensprengung.de von
        Dr. Tobias Köppe aus Magdeburg, einem plastischen
        Chirurgen und Vorsitzenden des Kuratoriums Ulrichskir-
        che Magdeburg, werden die ganzen großen und kleinen
        Barbareien der SED-Kampagne aufgelistet. An einigen
        zentralen Punkten hat es schon versöhnende Neuanfänge
        geben; prominentestes Beispiel ist der Kompromiss bei
        der Universitätskirche in Leipzig. Der Wiederaufbau des
        Garnisonkirchenturms in Potsdam reiht sich in diese po-
        sitive Geschichte ein. Darüber freue ich mich sehr.
        Johannes Kahrs (SPD): März 2017: Ein amerika-
        nischer Präsident verweigert der deutschen Bundeskanz-
        lerin den Handschlag vor laufenden Kameras – ein sehr
        ungewöhnlicher, unhöflicher und symbolträchtiger Vor-
        gang.
        März 1933: Ein deutscher Präsident reicht dem deut-
        schen Reichskanzler Adolf Hitler auf den Stufen der Gar-
        nisonkirche die Hand – ein Bild wird zum Symbol.
        Beide Vorgänge stehen selbstredend in keinem politi-
        schen oder zeitlichen Zusammenhang, verraten uns aber
        viel über die Macht der Bilder, und sie verdeutlichen, wie
        Bilder instrumentalisiert werden können.
        Leider entstand kein Bild im März des Jahres 1809,
        als in Potsdam der erste freigewählte Magistrat zusam-
        mentrat und im selben Jahr in der Potsdamer Garnison-
        kirche feierlich vereidigt wurde – ein historischer Mo-
        ment für die Stadt Potsdam und dennoch weitestgehend
        vergessen.
        Die Linke ist offenbar der Meinung – anders erklärt
        sich ihr Antrag nicht –, dass wir der Geschichtsklitterung
        der Nationalsozialisten, die sich um den sogenannten
        „Tag von Potsdam“ rangt, nichts entgegenzusetzen ha-
        ben. Dieser Meinung bin ich explizit nicht.
        Die Potsdamer Garnisonkirche ist weit mehr als das
        Symbol, das die Nationalsozialisten daraus gern ma-
        chen wollten, und ich weigere mich, ihnen darin die
        Deutungshoheit zu überlassen. Die Kirche gilt als der
        bedeutendste Sakralbau des barocken Preußens und war
        das Wahrzeichen Potsdams. Sie prägte das Stadtbild. Sie
        ist Motor für jahrelanges bürgerschaftliches Engagement
        und nicht zuletzt für kontroverse Debatten, von denen
        unsere Demokratie ja bekanntlich lebt.
        Ich glaube, dass es deshalb wichtig und richtig ist, die
        Kirche wieder aufzubauen. Einer der prominentesten Un-
        terstützer des Wiederaufbaus, Günther Jauch, sagte, man
        brauche diese „authentischen Orte, um uns an die Viel-
        schichtigkeit unserer Geschichte zu erinnern und unsere
        Lehren daraus zu ziehen ... Dort, wo nichts mehr steht,
        wird auch nach nichts gefragt.“
        Und er hat recht. Denn es gibt ja einen guten Grund,
        warum wir selbst die ultimativsten Orte des Bösen, die
        Konzentrationslager der Nazis, als Gedenkstätten erhal-
        ten haben. Sie sind Teil unserer Geschichte, und die darf
        nicht in Vergessenheit geraten.
        Und wenn das wahr ist, dann gilt das mindestens ge-
        nauso für Orte, die die Nazis für sich vereinnahmen woll-
        ten, obwohl deren Geschichte in Wahrheit weit mehr ist.
        Deshalb ist es richtig, dass mit dem Wiederaufbau der
        Kirche ein Ort für Frieden und Versöhnung geschaffen
        werden soll, der die vielschichtige Vergangenheit des Or-
        tes nicht leugnet, sondern sie richtig einordnet.
        Der Stiftung „Garnisonkirche“ wurden 12 Millionen
        Euro des Bundes zugesagt, wenn die restlichen Mittel
        für den Wiederaufbau des Turms durch Spenden gesi-
        chert seien. Nach Informationen der Stiftung betragen
        die Spenden nach heutigem Stand 9,1 Millionen Euro.
        Weitere 5 Millionen Euro sollen durch ein zinsfreies Dar-
        lehen der evangelischen Kirche bereitgestellt werden.
        Die Stiftung bittet den Bund nun, für 26,1 Millionen
        Euro zunächst eine reduzierte Version des Turms bauen
        http://www.kirchensprengung.de
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 23023
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        zu dürfen. Damit verbindet sich die berechtigte Hoff-
        nung, dass das Spendenaufkommen weiter steigt, sobald
        für die Menschen etwas Greifbares zu sehen ist. In einer
        zweiten Stufe könnte dann der Turm inklusive Turmhau-
        be, Glocken, Glockenspiel und einem Teil der Schmuck-
        fassade wiederhergestellt werden.
        Die zuständigen Berichterstatter der Koalition haben
        dem zugestimmt. Sie haben aber auch klargestellt, dass
        der Bund sich an der zweiten Bauphase nicht noch ein-
        mal beteiligen wird. Die Bundesbeauftrage für Kultur
        und Medien hat die Aufgabe, den Bau zu begleiten, und
        ich habe Vertrauen darin, dass das Projekt in Kooperation
        mit der Stadt Potsdam und der Stiftung „Garnisonkirche“
        zu einem guten Ende geführt wird.
        Hiltrud Lotze (SPD): Die Garnisonkirche blickt auf
        eine wechselvolle Geschichte zurück. Berühmte Preu-
        ßenkönige wurden in der Gruft der Garnisonkirche bei-
        gesetzt; berühmte Musiker wie Johann Sebastian Bach
        spielten in der Kirche auf der Orgel. Auch Demokratie-
        feinden hat die Garnisonkirche immer wieder eine Büh-
        ne geboten. Bereits in der Weimarer Republik war sie
        Kundgebungsort für rechtsgerichtete Organisationen. Im
        Nationalsozialismus avancierte die Kirche zu einer der
        wichtigsten Stätten der Nazis, insbesondere am „Tag von
        Potsdam“. 1945 wurde die Kirche dann durch Bomben-
        angriffe schwer beschädigt und in der DDR endgültig
        gesprengt.
        Dass die Garnisonkirche bis 1945 vor allem für Mi-
        litarismus und Demokratiefeindlichkeit stand, ist un-
        umstritten. Die Garnisonkirche aufzubauen, ohne daran
        zu erinnern, ist ausgeschlossen. Da gebe ich der Linken
        recht.
        Die Linke schreibt jedoch in ihrem Antrag, der Wie-
        deraufbau der Garnisonkirche sei ein falsches politisches
        Signal. Das sehe ich anders. Nach dieser Logik hätte man
        auch das Brandenburger Tor nach dem Zweiten Weltkrieg
        nicht instand setzen dürfen. Es ist ja nicht das Bauwerk
        an sich, das verantwortlich ist für die nationalsozialisti-
        sche Vereinnahmung, sondern es sind die dort handeln-
        den Akteure und ihre Taten. Deswegen kommt es heute
        darauf an, welches Konzept hinter dem Wiederaufbau
        steht. Eine unkritische Rekonstruktion des Vergangenen
        darf es nicht geben.
        Darum geht es der Stiftung „Garnisonkirche Potsdam“
        aber auch nicht. Das haben mir Gespräche gezeigt. Die
        Stiftung leugnet die Vergangenheit nicht, sondern greift
        sie auf. Die wiederaufgebaute Garnisonkirche plant sie
        als Zentrum für Frieden und Versöhnung. Sie soll eine
        Bürgerkirche und ein offener Ort für alle Menschen in
        Potsdam sein. Das spiegeln auch die offene Bauweise wi-
        der und die Pläne für die Aussichtsplattform.
        Es gibt noch einen weiteren Punkt, weswegen der
        Wiederaufbau unterstützenswert ist: Die Garnisonkirche
        war einer der schönsten barocken Kirchenbauten aus der
        Zeit Preußens. Städtebaulich und architektonisch würde
        die Garnisonkirche die historische Mitte Potsdams her-
        vorragend ergänzen.
        Mittlerweile ist auch die Finanzierung geklärt. Die
        Variante mit der reduzierten Version des Turmes ist eine
        gute Lösung. Die Haushälter haben die BKM darum ge-
        beten, auch in Zukunft auf dem aktuellen Stand der Fi-
        nanzierung gehalten zu werden. Sie werden also weiter-
        hin ein Auge auf dieses Projekt haben. Das gilt auch für
        uns Kulturpolitiker.
        Die Garnisonkirche ist kein „normales“ Wiederauf-
        bauprojekt. Wir als SPD stehen zu der Förderung durch
        den Bund. Aber die ist an Bedingungen geknüpft, und
        dazu gehört für mich der kritische Umgang mit der Ge-
        schichte.
        Ich werde das Projekt dementsprechend weiter beglei-
        ten.
        Norbert Müller (Potsdam) (DIE LINKE): Wie kaum
        ein anderes Bauwerk stand die Potsdamer Garnisonkir-
        che für den preußischen und deutschen Militarismus und
        Nationalismus. Sie war die Hof- und Militärkirche Preu-
        ßens. Militärs ließen hier ihre Kriegszüge segnen und
        feierten anschließend eben hier ihre Siege. So war die
        Garnisonkirche Symbol der militärischen Stärke und des
        Herrschaftsanspruches Preußens. Auch im Ersten Welt-
        krieg wurde hier in Predigten und Gebeten zum Krieg
        aufgerufen, und die ins Feld ziehenden Soldaten wurden
        hier gesegnet.
        So ist es kaum verwunderlich, dass sich die Garnison-
        kirche in der Zwischenkriegszeit schnell zum Pilgerort
        all jener deutschnationalen, revisionistischen und reak-
        tionären Kräfte entwickelte, die vor allem eines im Sinn
        hatten: die schnellstmögliche Beseitigung der Weimarer
        Republik. Der sogenannte „Tag von Potsdam“, der mit
        dem öffentlichen Schulterschluss zwischen konservati-
        ven Eliten und Nationalsozialisten das Ende der Weima-
        rer Republik besiegelte, war da nur noch das Tüpfelchen
        auf dem i.
        Festzuhalten ist: Die Potsdamer Garnisonkirche stand
        wie kaum ein anderes Gebäude für die lange Traditions-
        linie des preußisch-deutschen Militarismus und Nationa-
        lismus, die letztendlich in den unvergleichlichen Verbre-
        chen des Zweiten Weltkrieges mündete. Und festzuhalten
        ist auch: Eine neuaufgebaute Kopie der Potsdamer Gar-
        nisonkirche würde genauso für ebenjene unsägliche Tra-
        ditionslinie stehen. Da ist es ganz egal, ob in diesem Ge-
        bäude dann auch ein sogenanntes Versöhnungszentrum
        Platz findet oder nicht.
        Der Bau der Garnisonkirchenkopie wäre aber nicht
        nur unter historischen Gesichtspunkten ein riesiger Feh-
        ler, auch aus städtebaulicher Sicht würde mit dem Baube-
        ginn ein großes Risiko eingegangen werden. Wenn vom
        „Wiederaufbau der Garnisonkirche“ gesprochen wird,
        meint dies ja schon lange nicht mehr den Nachbau der
        kompletten Kirche. Schließlich wissen auch die Befür-
        worter und Befürworterinnen, dass es völlig aussichtlos
        ist, die finanziellen Mittel für die gesamte Kirche inklu-
        sive Schiff zusammenzubekommen. Stattdessen geht es
        nur noch um den Bau des Turms. Da es aber offenbar
        schwierig ist, selbst hierfür die entsprechenden Gelder zu
        akquirieren, will die Garnisonkirchenstiftung zunächst
        mit dem Bau des Turmrumpfes ohne Zierrat und Turm-
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 201723024
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        haube beginnen, und das, obwohl der Bau auf wunder-
        same Weise in den langen Jahren der Planung nach An-
        gaben der Stiftung immer billiger geworden ist und sich
        dabei die anvisierte Bauzeit auch noch ständig verkürzt
        hat. Ich möchte, wenn ich mir andere Bauprojekte so an-
        schaue, ja schon fast von einem Hauch göttlichen Segens
        für die Garnisonkirchenkopie sprechen.
        Nun Spaß beiseite: Tatsächlich setzen die Befürwor-
        terinnen und Befürworter vor allem auf eines: auf Spe-
        kulation, die Spekulation nämlich, die restlichen Gelder
        für den Bau des gesamten Turmes würden im Laufe des
        Baugeschehens schon noch irgendwie zusammenkom-
        men. Was hierdurch droht, ist offensichtlich: eine riesige
        Bauruine mitten in Potsdams Zentrum.
        Wenn der Bund nun tatsächlich 12 Millionen Euro für
        die Garnisonkirchenkopie bereitstellen sollte, dann ist
        das erinnerungs- und geschichtspolitisch also nicht nur
        völlig daneben, sondern auch noch aus städtebaulichen
        sowie haushalterischen Erwägungen im höchsten Maße
        unvernünftig.
        Daher werbe ich für die Zustimmung für unseren An-
        trag. Lassen Sie uns das Kapitel Garnisonkirche ein für
        alle Mal beenden!
        Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): „Stadt trifft Kirche“ ist das Motto des Potsdamer
        Beitrags zum Reformationsjubiläum. Auf eine Potsda-
        mer Kirche – und um die geht es hier heute Abend – trifft
        das Motto aber leider nicht so ganz zu: die Potsdamer
        Garnisionkirche bzw. das, was davon noch übrig ist. Hier
        müsste das Motto eher heißen: Stadt streitet über Kirche.
        In der einstigen Hof- und Militärkirche Preußens fand
        am 21. März 1933 – nach dem Reichstagsbrand –, beglei-
        tet von Protesten der Kirchenleitung, der Festakt zur kon-
        stituierenden Sitzung des Reichstages statt. Den dortigen
        Handschlag Adolf Hiltlers mit dem Reichspräsidenten
        Paul von Hindenburg nutzten die Nationalsozialisten, um
        das Ereignis zum „Tag von Potsdam“ zu überhöhen, was
        wiederum in der DDR dazu genutzt wurde, die Kirche als
        angebliches Symbol des deutschen Militarismus spren-
        gen zu lassen.
        Ob die Kirchengemeinde nach 1933 besonders rechts
        und linientreu gewesen ist, darüber gibt es unterschied-
        liche Quellen. Und daher halte ich auch den Feststel-
        lungsteil des Linkenantrags, über den wir hier heute
        abstimmen, für sachlich nicht angemessen. In anderen
        Potsdamer Kirchen soll im Gegensatz zur Garnisonkir-
        che „Mein Kampf“ auf dem Altar neben der Bibel gele-
        gen haben. Mit dem NS-Regime verbundene Pfarrer sol-
        len sich eher über die mangelnde Linientreue innerhalb
        der Garnisonkirchengemeinde beschwert haben. Adolf
        Hitler war zwei Stunden in der Garnisonkirche. Aus der
        gleichen Kirchgemeinde sind aber mehr als zwanzig
        Männer und Frauen hingerichtet worden, weil sie gegen
        Hitler waren.
        Was meine Fraktion und ich aber definitiv unterstüt-
        zen, ist die Forderung des Linkenantrags, dass der Bund
        sich nicht finanziell an dem Wiederaufbau beteiligen soll.
        Wir werden daher trotz einiger für uns kritischer Formu-
        lierungen im Feststellungsteil dem Antrag der Linken
        insgesamt zustimmen.
        Einer privaten Aufbauinitiative, die sich kritisch der
        Geschichte des Bauwerks stellt, stehen wir nicht im
        Wege. Aber wir sehen keine Veranlassung zu öffentlicher
        Förderung in Millionenhöhe von einem Streitobjekt, zu-
        mal Potsdam weder einen Mangel an Kirchen noch an
        historischen Bauwerken hat und die Stiftung Garnison-
        kirche 2008 zu Beginn ihrer Arbeit für den Wiederaufbau
        versicherte, ausschließlich Spendengelder für den Wie-
        deraufbau einzuwerben.
        In diesem Sinne kann ich nur an die Worte des ehe-
        maligen obersten Brandenburgischen Denkmalschüt-
        zers Detlef Karg erinnern, der im Februar 2012 zu dem
        geplanten Bau sagte, es sei „nicht Aufgabe der Denk-
        malpflege, einen verlorenen Bau wieder aufzurichten.
        … Wenn man in Potsdam am alten Standort eine Kirche
        bauen will, kann man das auch in der heutigen Architek-
        tursprache tun.“ Er verwies in seiner Kritik, an die Ad-
        resse der Evangelischen Kirche gerichtet, insbesondere
        darauf, dass im Land Brandenburg 1 164 Dorfkirchen
        und 700 Stadtpfarrkirchen in ihrer Bausubstanz ernsthaft
        gefährdet seien. Ich habe etliche dieser Dorfkirchen be-
        sucht und bin überzeugt, dass ihr Erhalt für das Gemein-
        wohl weitaus wichtiger wäre.
        Was diesen lokalen Kirchenneubau gegenüber ande-
        ren Projekten so national bedeutsam macht, dass dafür
        Millionenbeträge aus dem Kulturhaushalt des Bundes
        bereitgestellt werden, ist meiner Fraktion jedenfalls ver-
        schlossen geblieben. Wir könnten viele andere Kultur-
        projekte nennen, die das Geld aus unserer Sicht dringen-
        der bräuchten. An anderer Stelle im Land Brandenburg
        wie zum Beispiel in Frankfurt/Oder kann die dortige
        Kommune die für die Sanierung ihrer Konzerthalle not-
        wendigen 5,2 Millionen Euro einfach nicht aufbringen.
        Dabei ist sie die Spielstätte des international anerkannten
        Brandenburgischen Staatsorchesters und die ehemalige
        Kirche des 1270 errichteten früheren Franziskanerklos-
        ters.
        Unsere Ablehnung der öffentlichen Förderung bedeu-
        tet jedoch nicht, dass wir das Anliegen der Nagelkreuz-
        gemeinschaft, wovon das Garnisonkirchen-Projekt seit
        2004 Mitglied ist, nicht auch als Grüne teilen würden.
        Die Ziele der weltweiten Nagelkreuzgemeinschaft lau-
        ten neben der Aussöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg:
        Wunden der Geschichte heilen, mit Verschiedenheiten
        leben und die Vielfalt feiern, an einer Kultur des Frie-
        dens bauen. Allein in Deutschland sind das 63 Orte in
        49 Städten.
        Aus unserer Sicht muss sich das Neubauprojekt dann
        aber auch kritisch mit der militärisch geprägten Ge-
        schichte des Bauwerks auseinandersetzen und einen kla-
        ren Schnitt vollziehen. Der Potsdamer Historiker Martin
        Sabrow, Direktor des Zentrums für Zeithistorische For-
        schung, formulierte treffend, dass „das Projekt zum
        Wiederaufbau der Kirche nur dann seine Realisierungs-
        chance wird nutzen können, wenn es die feine Trennlinie
        zwischen Mythos und Erinnerungsort nicht überschreitet
        und immer wieder deutlich macht, dass es darum geht,
        https://de.wikipedia.org/wiki/Paul_von_Hindenburg
        https://de.wikipedia.org/wiki/Tag_von_Potsdam
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 23025
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        das Zeugnis der Vergangenheit zu restaurieren, nicht aber
        die Vergangenheit selbst“.
        Ob diese Trennlinie tatsächlich gewahrt wird, da ha-
        ben wir bisher jedoch Zweifel. Warum ist in der Baupla-
        nung das Nagelkreuz von Coventry als Versöhnungszei-
        chen von der alten Wetterfahne mit preußischem Adler
        und anderen Herrscherinsignien verdrängt worden? Wa-
        rum wurde das „Internationale Versöhnungszentrum“ aus
        dem Nutzungskonzept gestrichen? Auch ein ausgearbei-
        tetes inhaltliches Konzept zur geplanten Versöhnungsar-
        beit ist nicht bekannt.
        Als Nagelkreuzgemeinde darf der Kirchenneubau aus
        unserer Sicht zudem nicht wieder zum Ort für Soldaten-
        segnungen werden; denn dann bestünde eine Kontinuität
        zum Vorgängerbau aus Kaiserzeiten, die wir alle nicht
        wollen. Viele Christen könnten die Kirche dann zu Recht
        nicht als die ihre betrachten. Soldaten als Einzelpersonen
        und in Zivil sollten willkommen sein, aber keine militä-
        rischen Formationen.
        Die Tatsache, dass auch dies alles nicht geklärt ist,
        unterstreicht für uns, wie falsch es ist, nun öffentliche
        Gelder fließen zu lassen. Doch die Stiftung steht unter
        Druck: Da die Baugenehmigung für den Turm Ende 2018
        abläuft, muss das Bauwerk nach brandenburgischem
        Baurecht spätestens ein Jahr später fertiggestellt sein. Ob
        diese Kirche so die Stadt trifft, ist mehr als fraglich.
        Anlage 5
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung:
        – des von der Bundesregierung eingebrachten
        Entwurfs eines zweiten Gesetzes zur Novellie-
        rung von Finanzmarktvorschriften auf Grund
        europäischer Rechtsakte (Zweites Finanz-
        marktnovellierungsgesetz – 2. FiMaNoG)
        – der Beschlussempfehlung und des Berichts des
        Finanzausschusses zu dem Antrag der Abgeord-
        neten Uwe Kekeritz, Dr. Gerhard Schick, Harald
        Ebner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
        BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: zu dem Vorschlag
        für eine Delegierte Verordnung der Kommission
        zur Ergänzung der Richtlinie 2014/65/EU des
        Europäischen Parlaments und des Rates durch
        technische Regulierungsstandards für die An-
        wendung von Positionslimits für Warenderivate
        K(2016)4362 endg.; Ratsdok. 15163/16
        hier: Stellungnahme des Deutschen Bundesta-
        ges gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grund-
        gesetzes i. V. m. § 8 des Gesetzes über die
        Zusammenarbeit von Bundesregierung
        und Deutschem Bundestag in Angelegen-
        heiten der Europäischen Union
        Nahrungsmittelspekulationen stoppen – Kommis-
        sionsvorschlag zurückweisen
        – der Beschlussempfehlung und des Berichts des
        Finanzausschusses zu dem Antrag der Abge-
        ordneten Susanna Karawanskij, Klaus Ernst,
        Jutta Krellmann, weiterer Abgeordneter und
        der Fraktion DIE LINKE: Finanzaufsicht nach
        Anlagepleiten zum Schutz von Verbraucher-
        interessen stärken
        (Tagesordnungspunkt 22 a bis c)
        Matthias Hauer (CDU/CSU): Mit der abschließen-
        den Beratung des Zweiten Finanzmarktnovellierungsge-
        setzes verankern wir die Finanzmarktrichtlinie MiFID II,
        die dazugehörige Verordnung MiFIR sowie weitere
        europäische Rechtsakte – die SFT-Verordnung und die
        Benchmark-Verordnung – im deutschen Recht.
        Bei den europäischen Vorgaben handelt es sich um
        umfangreiche Modernisierungen und Überarbeitungen
        bestehender Regelungen, in die viele Erfahrungen, die
        wir in der Folge der Finanzkrise ab 2007 gesammelt ha-
        ben, eingeflossen sind. Das nun zu beschließende deut-
        sche Umsetzungsgesetz wie auch die zugrunde liegenden
        europäischen Rechtsakte verfolgen das Ziel, die Märkte
        zu stabilisieren, die Anfälligkeit für neue Finanzkrisen zu
        reduzieren und den Anlegerschutz zu erhöhen.
        Wir von der Union begrüßen, dass es sich bei dem von
        der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurf wei-
        testgehend um eine Eins-zu-eins-Umsetzung der euro-
        päischen Vorgaben handelt. So wird sichergestellt, dass
        EU-weit ein einheitlicher Rechtsrahmen gilt. Gleichzei-
        tig steht dadurch aber auch fest, dass der Gestaltungs-
        spielraum für den nationalen Gesetzgeber gering ist. Die
        parlamentarischen Beratungen haben wir daher vor allem
        dazu genutzt, dort, wo es geboten und möglich war, Er-
        gänzungen und Klarstellungen vorzunehmen.
        Erfreulich ist, dass wir das Gesetzgebungsverfahren
        zudem dazu nutzen konnten, auf Initiative der Union
        Verbesserungen in der Aktienberatung vorzunehmen.
        Wir kommen damit einen guten Schritt voran – für mehr
        und verständlichere Beratung in Aktien. Die Änderungen
        betreffen Aktien, die an organisierten Märkten gehandelt
        werden. Derzeit müssen Berater Hunderte individuali-
        sierte Produktinformationsblätter vorhalten, wenn sie
        Aktienberatung anbieten wollen. Diese Produktinfor-
        mationsblätter werden wir nun standardisieren. Die der-
        zeitige Regelung ist für Anlageberater und Verbraucher
        gleichermaßen unbefriedigend, da sie auf der einen Seite
        zu höheren Kosten sowie mehr Bürokratie führt und auf
        der anderen Seite keinen Mehrwert für den Verbraucher
        bietet. Wir mussten sogar einen Rückgang in der Aktien-
        beratung feststellen, weil sich vor allem kleinere Institute
        wegen des hohen bürokratischen Aufwands aus der Akti-
        enberatung zurückgezogen haben.
        Wir brauchen in Deutschland aber mehr statt weniger
        Aktienkultur. Deshalb gehen wir das Thema mit dem
        Gesetzentwurf an. Wir beseitigen damit Bürokratie und
        sorgen für mehr Verbraucherschutz. Künftig wird es die
        Option geben, individuelle Informationsblätter durch ein
        einheitliches Informationsblatt zu ersetzen, welches die
        Gattung Aktie beschreibt. Das wird den Bankkundinnen
        und Bankkunden – gerade in der aktuellen Niedrigzins-
        phase – zugutekommen und die Aktienkultur in Deutsch-
        land stärken. Bei der Formulierung des standardisierten
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 201723026
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        Aktieninformationsblattes wird es auf Initiative der Uni-
        on neben einer Einbeziehung von Vertreterinnen und Ver-
        tretern aus Kreditwirtschaft und Verbraucherschutz auch
        eine Unterstützung durch die Gesellschaft für deutsche
        Sprache geben. Das stellt die Verständlichkeit und Trans-
        parenz sowie eine praxistaugliche Ausgestaltung sicher.
        Auch beim Beratungsprotokoll gibt es nun Änderun-
        gen. Dieses sorgte seit seiner Einführung 2010 für großen
        bürokratischen Aufwand und oft sogar für zusätzlichen
        Streit zwischen Anlegern und Anlageberatern. Das Be-
        ratungsprotokoll wird nun durch die sogenannte Geeig-
        netheitserklärung ersetzt. Darin muss der Anlageberater
        künftig schriftlich erklären, aus welchen Gründen er
        dem Kunden ein Finanzprodukt empfiehlt. Die bislang
        vorgeschriebene bürokratische Protokollierung der Bera-
        tungsgespräche entfällt. Die Erfahrungen mit dem Bera-
        tungsprotokoll haben uns zudem veranlasst, das Bundes-
        ministerium der Finanzen zu bitten, bis Ende 2020 die
        praktischen Erfahrungen mit der Geeignetheitserklärung
        im Hinblick darauf zu evaluieren, ob eine stärkere Stan-
        dardisierung angebracht ist.
        Darüber hinaus haben wir das Ministerium gebeten,
        sich auf europäischer Ebene für Lösungen für die mit
        der Gesetzesnovelle einhergehenden besonderen Proble-
        me im Telefonordergeschäft und bei den Förderbanken
        einzusetzen, da in diesen Fällen dem nationalen Gesetz-
        geber durch die europäischen Vorgaben weitgehend die
        Hände gebunden sind.
        Abschließend möchte ich noch kurz auf die ebenfalls
        zur Debatte stehenden Anträge der Opposition eingehen.
        Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen befasst sich mit
        dem Thema Nahrungsmittelspekulationen. Sie fordern
        darin die Bundesregierung auf, einen Vorschlag der Eu-
        ropäischen Kommission zurückzuweisen. Der Antrag ist
        allein schon deshalb abzulehnen, weil die Aufforderung
        an die Bundesregierung ins Leere läuft, da der Vorschlag
        der Kommission auf europäischer Ebene bereits be-
        schlossen ist.
        Wir, CDU und CSU, gehen klar gegen Nahrungsmit-
        telspekulationen vor. Die europäischen Vorgaben bilden
        dafür einen guten Rahmen. Über die auf nationaler Ebe-
        ne zuständige Bundesanstalt für Finanzdienstleistungs-
        aufsicht wollen wir als Koalition erreichen, dass bei
        der Festlegung von Positionslimits in Bezug auf Nah-
        rungsderivate strenge Maßstäbe angelegt werden – ge-
        rade um der Entstehung monopolistischer Strukturen an
        den Nahrungsmittelderivatemärkten entgegenzuwirken.
        Damit bekämpfen wir Nahrungsmittelspekulationen in
        Deutschland.
        Auch der Antrag der Linken schießt weit über das Ziel
        hinaus. Insbesondere verkennt die Linke darin die Auf-
        gaben einer Aufsichtsbehörde. Sie will die Grenze zur
        Zuständigkeit von Zivilgerichten verwischen. Das leh-
        nen wir ab.
        Zum Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens bedan-
        ke ich mich bei meinen Berichterstatterkollegen, Herrn
        Staatssekretär Dr. Meister sowie den zuständigen Fach-
        beamten des Bundesministeriums der Finanzen für die
        gute und konstruktive Zusammenarbeit.
        Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Das Zweite Finanz-
        marktnovellierungsgesetz ist ein weiterer Schritt zur
        Aufarbeitung der Finanzkrise, zur Verhinderung weiterer
        Verwerfungen und zu mehr Anlegerschutz. Mit diesem
        Gesetzentwurf werden die Rechtsakte des europäischen
        Gesetzgebers nachvollzogen und in das deutsche Recht
        umgesetzt.
        Der Deutsche Bundestag hat bereits in der laufenden
        Legislaturperiode mit dem Ersten Finanzmarktnovellie-
        rungsgesetz auf die Folgen der Finanzkrise reagiert. Es ist
        erklärtes Ziel, die Transparenz und Integrität der Finanz-
        märkte zu stärken. Die Finanzkrise ab dem Jahr 2008 hat
        uns gezeigt, dass die Märkte nicht ausreichend reguliert
        waren. Die unmittelbar spürbare Folge der Finanzkrise
        war der Vermögensverlust vieler Anleger. Das Vertrauen
        der Verbraucher in Geldanlagen und in die Finanzbran-
        che wurde nachhaltig erschüttert.
        Der Zweite Finanzmarktnovellierungsgesetz stellt den
        Anlegerschutz, regulierte Märkte, Informationspflichten
        und eine Stärkung der Aufsichtsbefugnisse in den Vor-
        dergrund. Die Finanzmarktrichtlinie MiFID II und die
        dazugehörigen Finanzmarktverordnung MiFIR stellen
        das regulatorische Rahmenwerk in der Europäischen
        Union dar. Die MiFID II ist die Grundlage für das Wert-
        papiergeschäft in Europa mit Verhaltens- und Organisa-
        tionspflichten von Wertpapierdienstleistungsunterneh-
        men. Im nationalen Recht werden sich diese Vorgaben
        im Wertpapierhandelsgesetz, im Kreditwesengesetz, im
        Börsengesetz, im Kapitalanlagegesetzbuch und im Ver-
        sicherungsaufsichtsgesetz widerspiegeln. Hervorzuhe-
        ben ist eine Eins-zu-eins-Umsetzung der europäischen
        Vorgaben, sodass ein einheitlicher Rechtsrahmen in den
        verschiedenen nationalen Rechtsordnungen geschaffen
        wird. Jetzt muss der Anlegerschutz dokumentieren, dass
        das Produkt für den Anleger geeignet ist. Das ist ein Fort-
        schritt für den Anlegerschutz.
        Dieser Gesetzentwurf ist auch eine Antwort auf Al-
        leingänge einzelner Staaten innerhalb der Europäischen
        Union. Mit der Harmonisierung der Vorschriften werden
        wirksame Instrumente für transparentere Finanzmärkte
        geschaffen. Die grenzüberschreitenden Finanzmärkte
        sind ein gutes Beispiel, weshalb mehr Zusammenarbeit
        in Europa notwendig ist. Mit diesem Gesetz wird nicht
        zuletzt bezweckt, eine gemeinsame Stabilisierung zu
        erreichen und die Anfälligkeit für neue Finanzkrisen zu
        reduzieren.
        Der Anlegerschutz ist mir ein persönliches Anliegen,
        weshalb ich einen Punkt herausgreifen möchte. Mit die-
        sem Gesetz wird das Beratungsprotokoll abgeschafft.
        Das Beratungsprotokoll wurde im Jahr 2010 mit dem
        Ziel eingeführt, Rechtssicherheit bei der Anlageberatung
        zu schaffen und mögliche Fehler nachweisen zu können.
        In der Praxis wurden die Erwartungen durch fehlerhafte
        und unpräzise Angaben nicht erfüllt. Für Anlageberater
        führt das Beratungsprotokoll zu einem übermäßigen bü-
        rokratischen Aufwand. Es ist ein unbefriedigender Zu-
        stand für alle Seiten entstanden. Mit der Ersetzung des
        Beratungsprotokolls durch eine Geeignetheitserklärung
        gehen wir einen Schritt weiter. Anleger erhalten künftig
        eine schriftliche Erklärung über die konkrete Geeignet-
        heit eines Finanzinstruments. Der Anlageberater proto-
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 23027
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        kolliert nicht mehr den Verlauf der Beratung, sondern
        wird verpflichtet, die Gründe für die Empfehlung eines
        Produktes darzulegen. Mit der Geeignetheitserklärung
        wird mehr Rechtssicherheit geschaffen. Das Anleger-
        schutzniveau wird erhöht, indem eine fehlerhafte Anla-
        geberatung künftig besser nachzuweisen sein wird.
        Zu den beiden Anträgen sind nur ein paar kurze Wor-
        te nötig. Mit dem Kleinanlegerschutzgesetz wurden die
        Befugnisse der BaFin bereits erweitert und der Schutz
        der kollektiven Verbraucherinteressen als weiteres Auf-
        sichtsziel in den Statuten der BaFin verankert. Mit dem
        vorliegenden Zweiten Finanzmarktnovellierungsgesetz
        wird der Verbraucherschutz an den sinnvollen Stellen
        verbessert. Ich bitte Sie um Zustimmung zu diesem Ge-
        setz.
        Christian Petry (SPD): Das Zweite Finanzmarktno-
        vellierungsgesetz verankert vier europäische Rechtsakte
        im deutschen Recht: die europäische Richtlinie „Market
        in Financial Instruments“ (MiFID II), die dazugehörige
        Durchführungsverordnung MiFIR, die Verordnung über
        die Transparenz von Wertpapierfinanzierungsgeschäften
        sowie die Benchmark-Verordnung.
        Die Regelungen des Gesetzes haben umfangreiche
        Auswirkungen auf die Struktur der Finanzmärkte in Eu-
        ropa. Die Schaffung einer weiteren Kategorie für den
        organisierten Wertpapierhandel und die Ausweitung von
        Transparenzpflichten wird die Marktransparenz für Anle-
        gerinnen und Anleger dabei spürbar erhöhen.
        Daneben werden durch europaeinheitliche Regelun-
        gen der Hochfrequenzhandel sowie der außerbörsliche
        OTC-Handel umfassender reguliert und eingeschränkt.
        Besonders die EU-weite Regulierung des Hochfrequenz-
        handels ist überfällig. Diese Art des „Handels“ erfüllt
        keinen sittlichen Mehrwert. Die ökonomische Sinnhaf-
        tigkeit dieser Zockerei darf mehr als bezweifelt werden.
        Die jetzt umzusetzenden Regeln sind ein erster wichtiger
        Schritt zur Eindämmung des Hochfrequenzhandels. Wei-
        tere Schritte müssen folgen.
        Vertriebsseitig stärkt das Zweite Finanzmarktnovel-
        lierungsgesetz den Schutz der Anlegerinnen und Anleger
        deutlich. Durch die EU-weit zu erstellende Geeignet-
        heitserklärung muss Kunden zukünftig im Rahmen der
        Anlageberatung eine Erklärung zur Geeignetheit des
        empfohlenen Finanzproduktes übermittelt werden. Für
        jedes Finanzprodukt muss deshalb ein Zielmarkt defi-
        niert werden, der sicherstellt, dass das jeweilige Produkt
        mit den Kundenbedürfnissen übereinstimmt.
        Durch die Einführung des „unabhängigen Hono-
        rar-Anlageberaters“ wird die Möglichkeit, Provisionen
        oder andere nichtmonetäre Vorteile einzubehalten, bei
        der unabhängigen Finanzanlageberatung stark einge-
        schränkt. Zudem müssen alle Passagen eines Beratungs-
        gesprächs, die zu einer Order führen, aufgenommen und
        mindestens fünf Jahre dokumentiert werden.
        Einen wichtigen Teil der parlamentarischen Beratun-
        gen zum Zweiten Finanzmarktnovellierungsgesetz nahm
        die Diskussion über die Regulierung von Warenderivaten
        ein. Auf Druck der SPD fordert der Deutsche Bundes-
        tag in seinem Abschlussbericht die Bundesanstalt für Fi-
        nanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) auf, Positionslimits
        bei Nahrungsmittelderivaten so festzulegen, dass mono-
        polistische Strukturen an diesen Märkten ausgeschlossen
        sind. Der Bundestag hat in diesem Punkt aufgrund der
        europäischen Vorgaben keinen Gestaltungsspielraum.
        Das Festlegen der Positionslimits ist Aufgabe der natio-
        nalen Aufsichtsbehörden.
        Die von der BaFin zu erstellenden Positionslimits
        werden wir sehr aufmerksam verfolgen. Die Bundes-
        anstalt untersteht der direkten Aufsicht des Bundesfi-
        nanzministeriums. Die Bundesregierung muss deshalb
        sicherstellen, dass das unanständige Spekulieren mit
        Nahrungsmittel- und Rohstoffderivaten entsprechend
        den europäischen Vorgaben eingedämmt wird. Der Ge-
        staltungsspielraum, der der BaFin hierbei zur Verfügung
        steht, muss so genutzt werden, dass Monopole beim De-
        rivatehandel ausgeschlossen sind.
        Ein weiterer wichtiger Diskussionspunkt betrifft die
        deutschen Förderbanken. Die Regelungen der europä-
        ischen Finanzmarktrichtlinie MiFID II, auf denen das
        Zweite Finanzmarktnovellierungsgesetz in weiten Teilen
        beruht, erfassen alle Wertpapiergeschäfte eines Unter-
        nehmens, das Mitglied einer Börse ist. Förderbanken in
        Deutschland führen an Börsen durch Wertpapiere besi-
        cherte Geschäfte des Liquiditätsmanagements durch. Sie
        unterfallen demnach den Regeln der MiFID II. Dieser
        Umstand ist innerhalb der beiden Regierungsfraktionen
        umstritten.
        Der Bundestag fordert die Bundesregierung deshalb
        in seinem Abschlussbericht auf, die Europäische Kom-
        mission auf die besondere Funktion der öffentlichen För-
        derbanken des Bundes und der Länder aufmerksam zu
        machen. Die risikoaversen Anlagestrategien der Förder-
        banken müssen bei der Regulierung berücksichtigt wer-
        den. Sowohl regulatorisch als auch aufsichtstechnisch
        muss man dem Förderauftrag der Banken gerecht wer-
        den. Dies hat der Bundestag in seinem Abschlussbericht
        noch einmal deutlich gemacht und festgeschrieben.
        Die parlamentarischen Beratungen zum Zweiten Fi-
        nanzmarktnovellierungsgesetz verliefen konstruktiv und
        geräuschlos. Die öffentliche Sichtbarkeit dieses Mam-
        mutgesetzes im Deutschen Bundestag entspricht aber
        leider nicht seiner großen Bedeutung.
        Sarah Ryglewski (SPD): Mit dem Zweiten Finanz-
        marktnovellierungsgesetz stärkt die Koalition den An-
        legerschutz. Wir sorgen für mehr Transparenz und Ge-
        rechtigkeit, insbesondere im Hinblick auf Vergütung,
        Charakter und Qualität von Finanzberatung.
        Provisionen können in der Beratung zu Interessen-
        konflikten führen, weil Berater dem Anreiz unterliegen,
        nicht das beste Produkt anzubieten, sondern das mit den
        höchsten Provisionen. Jedoch scheuen viele Verbrau-
        cherinnen und Verbraucher noch davor zurück, für un-
        abhängige Beratung zu bezahlen. Wir lassen mit dem
        Zweiten Finanzmarktnovellierungsgesetz, das wir heute
        im Bundestag beschließen wollen, bewusst beide Wege
        offen – die provisionsbasierte und die unabhängige Ho-
        norarberatung. Wir stellen jedoch sicher, dass die Kos-
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 201723028
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        ten der Beratung in jedem Fall offengelegt werden. Da-
        bei gilt: Provisionen sind nur dann erlaubt, wenn sie die
        Beratungsqualität verbessern. Außerdem sollen Kunden
        schon beim Betreten einer Bank wissen, ob sie unabhän-
        gig oder auf Provisionsbasis beraten werden. Erst diese
        Transparenz ermöglicht den fairen Vergleich zwischen
        den Anbietern und verringert die bestehenden Wettbe-
        werbsnachteile der unabhängigen Honorarberatung.
        Wir Sozialdemokraten hätten auch Vertriebsmargen
        aus Festpreisgeschäften wie Provisionen behandelt. Da-
        bei kauft der Kunde die Wertpapiere direkt von der Bank
        zu einem festgelegten Preis. Der Gewinn des Instituts
        resultiert daraus, dass es die Wertpapiere teurer verkauft
        als es die Wertpapiere selbst einkauft. Auch hieraus ent-
        stehen Anreize, die zu Interessenkonflikten bei Beratern
        führen können. Doch für Festpreisgeschäfte werden die
        uneingeschränkten Offenlegungspflichten nicht gelten.
        Die SPD wird auch in Zukunft daran arbeiten, diese Un-
        gleichbehandlung zu überwinden.
        Gleichermaßen setzen wir uns weiter dafür ein, auch
        die begriffliche Ungleichbehandlung zwischen unabhän-
        giger Honorarberatung und provisionsbasierter Beratung
        zu überwinden: Unabhängige Beratung sollte auch be-
        grifflich für Anlegerinnen und Anleger erkennbar sein
        und eine Betonung des „Honorars“ vermieden werden.
        Neben den Offenlegungspflichten ersetzen wir das
        Beratungsprotokoll, das in der Praxis Schwächen zeigte,
        durch die neue Geeignetheitserklärung. In Zukunft sollen
        damit inhaltsleere Sätze wie: „Das Produkt ist für den
        Kunden geeignet, weil es zu seinen Präferenzen passt“,
        der Vergangenheit angehörigen. Das heißt, Berater müs-
        sen künftig für den einzelnen Kunden nachweisen, dass
        das Produkt für den Kunden geeignet ist und darlegen,
        warum sie es empfohlen haben. Wir haben deshalb im
        Gesetz eine Evaluierung festgeschrieben und werden
        nachsteuern, falls auch die Geeignetheitserklärung nicht
        zu mehr Anlegerschutz führt.
        Susanna Karawanskij (DIE LINKE): Ich möchte
        mich hier in der Schlussdebatte auf drei Bereiche kon-
        zentrieren, in denen wir jeweils per Antrag ganz konkrete
        Forderungen gestellt haben, auf die Sie von der Großen
        Koalition leider nicht im Geringsten eingegangen sind.
        Beim ersten Punkt, dem Hochfrequenzhandel, hat-
        ten Sie in der Vergangenheit schon ganz andere Töne
        angestimmt. Die SPD hat in der letzten Wahlperiode
        eine Mindestverweildauer für Orders gefordert, um den
        Hochfrequenzhandel einzudämmen. So hat der Kollege
        Binding in einer Pressemeldung verkündet: „Außerdem
        müssen Mindesthaltefristen verbindlich vorgegeben wer-
        den, um eine tatsächliche Ausführung der Handelsorder
        zu gewährleisten und der Schaffung von Scheinliquidität
        entgegenzuwirken.“ Der Kollege Zöllmer pflichtete ihm
        2013 hier im Plenum bei: „Es gäbe einen wirklichen He-
        bel, um die Märkte zu entschleunigen, um Luft heraus-
        zulassen aus dem, was heißgelaufen ist: die Einführung
        einer Mindesthaltefrist.“ Auch die Bundesbank sieht in
        dieser Richtung Handlungsbedarf. Dann lassen Sie uns
        dies doch endlich beschließen! Wir stellen heute einen
        Änderungsantrag zur Einführung einer Mindestverweil-
        dauer zur Abstimmung in der Hoffnung, dass sich gerade
        unsere Kolleginnen und Kollegen von der SPD an ihre ei-
        genen Forderungen erinnern; denn damit und obendrein
        mit einer Finanztransaktionsteuer würden wir es schaf-
        fen, ein bisschen Luft aus dem hochgepuschten, teils nur
        noch absurden Finanzmarktkapitalismus zu lassen.
        Der zweite Bereich umfasst die Anlageberatung. Die
        Koalition scheint leider nicht zur Kenntnis zu nehmen,
        dass die Qualität der Anlageberatung in Deutschland
        ziemlich schlecht ist. Dies haben etliche Untersuchun-
        gen unter anderem von Stiftung Warentest belegt. Die
        Folgen für die Bürger sind verheerend. Wegen Fehlbe-
        ratung beim Abschluss von Geldanlagen und Versiche-
        rungen erleiden diese je nach Schätzungen zwischen 30
        und 98 Milliarden Euro Verlust, und das pro Jahr. Geld
        geht verloren, das die Menschen dringend für ihre Al-
        tersvorsorge benötigen. Zentrales Problem ist die Bera-
        tung, die auf Provisionen und anderen Verkaufsanreizen
        beruht. Allzu oft wird leider das Produkt empfohlen, das
        dem Berater/Verkäufer die höchste Provision bringt, aber
        nicht den Kundenbedürfnissen entspricht. Auch dazu
        gibt es zahlreiche Studien. Die Linke fordert daher mit-
        telfristig die Überwindung der Provisionsberatung.
        In einem ersten Schritt müsste aber die unabhängige
        Beratung, also zum Beispiel die Honorarberatung, zu-
        mindest mit der abhängigen Beratung, der Provisionsbe-
        ratung, auf Augenhöhe stehen. Doch der Gesetzentwurf
        benachteiligt weiter die unabhängige Beratung. Wir wol-
        len den Bestandsschutz der Provisionsberatung beseiti-
        gen und zunächst einen fairen Wettbewerb zwischen den
        Vertriebsformen einleiten. Dafür müssen unter anderem
        nicht nur die Provisionen, sondern insbesondere die Mar-
        gen im Rahmen der Festpreisgeschäfte offengelegt wer-
        den. Ansonsten kann die Branche immer wieder die Pro-
        visionsoffenlegung umgehen und weiter kassieren. Auch
        muss den Kunden bereits vor der Beratung klar sein, um
        welche Form der Beratung es sich handelt und wo die
        jeweiligen Vor- und Nachteile liegen. Es ist zudem un-
        gerecht, dass die unabhängigen Berater das Wort „Hono-
        rar“ in ihrer Berufsbezeichnung tragen müssen, während
        Provisionsberater freier ihren Titel wählen dürfen. Dies
        muss dringend geändert werden, wenn Sie es mit ver-
        brauchergerechter Anlageberatung ernst meinen.
        Neben einer nicht manipulierbaren Dokumentation
        des Beratungsvorgangs sowie einer einheitlichen Be-
        aufsichtigung der Finanzanlagenvermittler durch die
        Finanzaufsicht BaFin statt durch Gewerbeämter fordern
        wir speziell für einkommensschwache Menschen eine
        unabhängige Finanzberatung insbesondere durch Ver-
        braucherzentralen sowie eine Stärkung der Schuldnerbe-
        ratungsstellen.
        Wenn Sie tatsächlich etwas für besseren finanziellen
        Verbraucherschutz tun wollen, sollten Sie die Forde-
        rungen aus unserem lesenswerten Entschließungsantrag
        ebenso umsetzen wie die zentrale Forderung aus unserem
        tollen Antrag „Finanzaufsicht nach Anlagepleiten zum
        Schutz von Verbraucherinteressen stärken“. Dies alles
        sind kleine, aber sehr effektive Hebel, um die Rechte von
        Verbrauchern zu stärken.
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 23029
        (A) (C)
        (B) (D)
        Wir kommen folglich zum dritten Bereich: Uns geht
        es nicht nur darum, dass Kunden ein Produkt empfoh-
        len bekommen, das zu ihren Bedürfnissen und ihrer Ri-
        sikoneigung passt. Uns geht es ebenfalls darum, dass
        die Käufer einer solchen Geldanlage auch dann besser
        geschützt werden, wenn durch Marktmissbrauch oder
        betrügerisches Handeln der Anbieter einer Geldanlage
        „pleitegeht“ und sich der Anbieter nun zum Beispiel aus
        dem Staub machen oder in die Insolvenz gehen will, ohne
        seine Kunden zu entschädigen. An dieser Stelle muss die
        Finanzaufsicht BaFin stellvertretend für die Gesamtheit
        der geschädigten Verbraucher dafür sorgen, dass gesi-
        chert ist, dass die Anleger ihre Rechte auch durchsetzen
        können. Anbietern darf es nicht ermöglicht werden, eine
        Pleite zu vertuschen oder schlicht auszusitzen, weil für
        viele Verbraucher eine Klage zu teuer ist oder deren An-
        sprüche schon längst verjährt sind. Die Finanzaufsicht
        soll nur die Türen offen halten und damit sichern, dass
        die Gruppe der geschädigten Anleger überhaupt recht-
        zeitig die Chance bekommt, ihre Rechte durchzusetzen.
        Bisher ist mir noch kein stichhaltiges Argument gegen
        diese kleine Forderung untergekommen; denn es gibt ja
        noch keine umfassenden Möglichkeiten zur Muster- bzw.
        Gruppenklage.
        Apropos „Klage“: Wie Sie sich hinter der schnöden
        Umsetzung einer EU-Richtlinie verstecken, ist schon
        kläglich. Da ist viel mehr Luft nach oben. Wenn Sie von
        der Regierungskoalition nicht mehr Bestandsschützer
        der Provisionsberatung wären, Verbraucher nach Anla-
        gepleiten besser schützen und endlich Luft aus den Fi-
        nanzmärkten nehmen würden, gäbe es deutlich weniger
        Gründe für Klagen.
        Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Ich will zunächst auf zwei Geschäftsmodelle eingehen,
        um deren wirksame Regulierung wir Grünen seit Jahren
        in Deutschland und Europa ringen: den Hochfrequenz-
        handel und die Nahrungsmittelspekulation.
        Die durchschnittliche Haltedauer von Wertpapieren
        wurde vor wenigen Jahrzehnten noch in Jahren angege-
        ben. Daraus wurden dann Monate, Wochen, Tage, und
        in den USA, dem Epizentrum des Hochfrequenzhandels,
        soll sie mittlerweile bei knapp über 20 Sekunden liegen.
        Dabei hat sich das Anlageverhalten privater und instituti-
        oneller Anleger kaum verändert – der Hochfrequenzhan-
        del, in dem Millisekunden Millionen bedeuten können,
        ist für die Veränderung des Durchschnitts verantwortlich,
        und das zeigt das gewaltige Ausmaß, das er mittlerweile
        angenommen hat.
        Aber bei der Regulierung des Hochfrequenzhan-
        dels tut dieses Gesetz zu wenig. Sie haben Angst, eine
        wirksame Regulierung einzuführen, da Sie den Hochfre-
        quenzhandel in Deutschland halten wollen. Doch warum
        eigentlich? Der Mehrwert von Hochfrequenzhändlern ist
        höchst umstritten, wahrscheinlich schaden sie sogar. Die
        Bundesbank hat dazu im Oktober 2016 eine Studie vor-
        gelegt. Ihr Ergebnis war eindeutig: Hochfrequenzhandel
        wird dann gefährlich, wenn sich Märkte krisenhaft ent-
        wickeln. Die vermeintliche Bereitstellung von Liquidität
        verschwindet genau dann, wenn sie benötigt wird.
        Der Antrag der Linken hat hier das richtige Ziel vor
        Augen. Wir teilen dieses, sehen aber andere Instrumente
        als wirkungsvoller an, weshalb wir uns enthalten.
        Auch bei Nahrungsmittelspekulationen ist die Große
        Koalition inkonsequent. Um diese einzudämmen, sieht
        die MiFID II Positionslimits für bestimmte Warenderiva-
        te vor. Die Regeln hierzu werden auf EU-Ebene gemacht.
        Doch die dort vorgelegten Standards sind schwach und
        verhindern Spekulation nicht. Wir haben in unserem
        Antrag dazu aufgefordert, bei diesen EU-Regeln nach-
        zubessern. Sie haben den Antrag dann an den Ausschuss
        verwiesen, obwohl klar war, dass dadurch die Frist zur
        Nachbesserung verstreichen würde. Jetzt fordern Sie,
        dass die Aufsicht die schwachen Regeln besonders streng
        umsetzt. Das erschließt sich mir nur folgendermaßen:
        Entweder, Sie haben spät eingesehen, dass unser Anlie-
        gen richtig war, oder Ihr Interesse an der Eindämmung
        der Nahrungsmittelspekulation ist nur Schaufensterpoli-
        tik.
        Auf dem Gebiet des Verbraucherschutzes hat die Bun-
        desregierung es versäumt, die von vielen Seiten geäußer-
        ten Kritikpunkte aufzugreifen. Wir müssen uns fragen:
        Warum ist das Anlageverhalten von Verbraucherinnen
        und Verbrauchern in Deutschland von so geringer Kos-
        teneffizienz und entsprechend geringer Rendite geprägt?
        Warum stecken deutsche Haushalte ihr Geldvermögen zu
        vier Fünfteln in Bargeld, Einlagen oder Versicherungs-
        und Alterssicherungsansprüche, obwohl das oft nicht
        zum individuellen Bedarf passt?
        Betrachtet man die MiFID-II-Umsetzung, dann sind
        die Antworten bekannt: Es mangelt an einer verbraucher-
        gerechten Beratung und Offenlegungspflichten vor und
        während der Vertragsdauer, damit Verbraucherinnen und
        Verbrauchern überhaupt die Möglichkeit gegeben wird,
        Produkte zu vergleichen und eine mündige Anlageent-
        scheidung zu treffen. Es geht um Wettbewerbsneutralität
        bei der Benennung und Regulierung der unabhängigen
        Honorarberatung und der nichtunabhängigen Provisi-
        onsberatung. Und es geht auch darum, dass wir als Ge-
        setzgeber ehrlich sind gegenüber den Bürgerinnen und
        Bürgern: Die Bundesregierung hält daran fest, dass die
        bloße Bereitstellung eines weitverzweigten regionalen
        Filialnetzes die Qualität der individuellen Beratungs-
        dienstleistung für Kundeninnen und Kunden verbessern
        würde. Die gesetzliche Folge wäre, dass als eine weitere
        Ausnahme vom eigentlichen Provisionsverbot auch in
        diesen Fällen Provisionen ohne Weiteres erlaubt blie-
        ben. Das ist absurd. Liebe Kolleginnen und Kollegen
        der Regierungskoalition, ich gehe davon aus, dass Sie
        demnächst deutlich häufiger bei McDonald’s konspi-
        rieren als im Borchardt’s; schließlich gewährleistet das
        weitverzweigte regionale Filialnetz des großen „M“ ein
        gesteigertes Maß an Qualität. Der Antrag der Linken hat
        hier ebenfalls viele wichtige Punkte aufgegriffen, die ich
        daher nicht weiter ausführen will.
        Wenn wir über den Tellerrand dieses Gesetzes blicken,
        dann gibt es noch andere Gründe für das ineffiziente Anla-
        geverhalten in Deutschland. Wer rechtlichen Rat braucht,
        sucht sich einen Anwalt, wer seine Steuern regeln will,
        einen Steuerberater. Aber wer eine Anlageentscheidung
        treffen will, müsste sich überlegen: Gehe ich zum Versi-
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 201723030
        (A) (C)
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        cherungsberater, zum Versicherungsvermittler oder doch
        eher zum Finanzanlageberater? Dabei sage ich „müsste“;
        denn wem sind die gewerberechtlichen Unterschiede
        zwischen diesen Berufsgruppen überhaupt bekannt?
        Ähnlich wie bei der Rechts- und Steuerberatung
        brauchen wir ein einheitliches Berufsbild des Finanz-
        beraters, der Verbraucherinnen und Verbraucher umfas-
        send und unabhängig bei ihren Anlageentscheidungen
        zur Seite steht. Zusammengehörende Themenkomple-
        xe wie die Offenlegungs- und Informationspflichten in
        MiFID II und IDD müssen dafür inhaltlich kongruent
        sein. Es darf beispielsweise nicht passieren, dass für Fi-
        nanzprodukte andere Offenlegungspflichten gelten als
        für kapitalbildende Versicherungen. Mit ihrem jüngsten
        Änderungsantrag verschärft die Regierungskoalition die-
        se Problematik weiter. Ausgerechnet bei Altersvorsor-
        ge- und Basisrentenverträgen, also in zentralen Fragen
        der persönlichen Lebensplanung, sollen Kundinnen und
        Kunden die eigentlich nach der MiFID II vorgesehenen
        Informationen über Kosten und Nebenkosten erst auf
        Nachfrage zur Verfügung gestellt bekommen. Standar-
        disierung und Harmonisierung von Informationsblättern
        sind ein wichtiges Anliegen. Aber sie müssen auf dem
        höchstmöglichen Verbraucherschutzniveau stattfinden,
        wenn sie nicht als Einladung für Umgehungsgeschäfte
        genutzt werden sollen.
        Anlage 6
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von den Abgeordneten Halina
        Wawzyniak, Jan Korte, Dr. Andre Hahn, weite-
        ren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE
        eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhe-
        bung des Artikel 10-Gesetzes und weiterer Gesetze
        mit Befugnis für die Nachrichtendienste des Bun-
        des zu Beschränkungen von Artikel 10 des Grund-
        gesetzes (G 10-Aufhebungsgesetz – G 10-AufhG)
        (Tagesordnungspunkt 23)
        Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Wir beraten
        heute das G 10-Aufhebungsgesetz, einen Gesetzentwurf
        der Fraktion der Linken. Und um es gleich vorwegzuneh-
        men: Es passiert wirklich selten, dass hier ein Gesetzent-
        wurf gelesen wird, der so sehr die Zeichen der Zeit – kon-
        kret sind es hier die aktuellen Herausforderungen durch
        den internationalen Terrorismus – verkennt, wie dieser
        Entwurf.
        Worum geht es inhaltlich? Die vorgelegten Rege-
        lungsvorschläge sind schnell zusammengefasst: Den
        Nachrichtendiensten von Bund und Ländern sollen die
        Befugnisse entzogen werden, die das G 10-Gesetz ihnen
        einräumt; das Gesetz soll in Gänze aufgehoben werden.
        Nachrichtendienstliche Eingriffe in das Brief-, Post-
        oder Fernmeldegeheimnis wären nicht mehr möglich.
        Im Klartext: Abgesehen von den menschlichen Quellen
        wären Nachrichtendienste „blind“; sie müssten ihren
        Erkenntnisgewinn auf öffentlich zugängliche Quellen
        beschränken, im Klartext: Sie dürften nur noch googeln
        oder – etwas traditioneller – Zeitungsausschnitte sam-
        meln. Auf diese Idee, das G 10-Gesetz ersatzlos zu strei-
        chen und den Nachrichtendiensten das nach allgemeiner
        Ansicht aller Fachleute unverzichtbare Instrumentarium
        zu nehmen, muss man erst einmal kommen!
        Aber vielleicht nennt der Gesetzentwurf ja gute Grün-
        de für die Abschaffung von G 10-Maßnahmen. Welche
        Beweggründe werden angeführt? Zuerst heißt es, „dass
        die Nachrichtendienste mittelbar Aufgaben der Gefah-
        renabwehr- und der Strafverfolgung (mit)übernehmen“.
        Der Erklärungsansatz erscheint schlicht unverständlich;
        denn Aufgaben und Zuständigkeiten von Polizei und
        Strafverfolgungsbehörden einerseits und Nachrichten-
        diensten andererseits sind aus guten Gründen klar von-
        einander getrennt.
        Es wird ein weiterer Aufhebungsgrund genannt: Eine
        wirksame Kontrolle der G 10-Maßnahmen sei nicht
        möglich, da gemäß § 1 des Gesetzes über die Kontrol-
        le der Nachrichtendienste des Bundes allein die Bundes-
        regierung Gegenstand der Kontrolle sei. Das ist schlicht
        falsch! Ich zitiere aus einem Kommentar zu § 1 PKGrG,
        wo es klar und eindeutig heißt: „Die Kontrolle des Parla-
        mentarischen Kontrollgremiums ist auf die Bundesregie-
        rung und die ihr untergeordneten Nachrichtendienste des
        Bundes beschränkt“. Ein anderer Kommentar schreibt zu
        den Kontrollobjekten nicht minder eindeutig: „Beobach-
        tungsobjekt der parlamentarischen Kontrolle ist nur die
        Tätigkeit der in § 1 Satz 1 genannten drei Nachrichten-
        dienste des Bundes“. Es ist somit völlig klar, dass sich
        die Kontrolltätigkeit des PKGr nicht auf die Bundesre-
        gierung beschränkt. Die hier gegebene Begründung ist
        völlig falsch. Hinzu kommt, dass die G 10-Kommissi-
        on hier überhaupt nicht genannt wird. Die G 10-Kom-
        mission entscheidet von Amts wegen als unabhängiges
        und an keine Weisungen gebundenes Organ über die
        Notwendigkeit und Zulässigkeit sämtlicher durch die
        Nachrichtendienste des Bundes – Bundesnachrichten-
        dienst, Bundesamt für Verfassungsschutz, Militärischer
        Abschirmdienst – durchgeführten Beschränkungsmaß-
        nahmen im Bereich des Brief-, Post- und Fernmeldege-
        heimnisses nach Artikel 10 des Grundgesetzes. Wie man
        ihre Tätigkeit in diesem Zusammenhang hier übersehen
        kann, ist bemerkenswert. Da zudem die Reichweite der
        Aufgabe des PKGr, wie soeben gezeigt, zudem völlig
        falsch verstanden wird, kann man an dieser Stelle nur zu
        dem Schluss kommen: Dieser Gesetzentwurf ist – einmal
        abgesehen von allen politischen Bewertungen – bereits
        handwerklich missglückt und schon insoweit eine ärger-
        liche Fehlleistung.
        Wichtiger und viel problematischer als die dargeleg-
        ten formalen Unzulänglichkeiten des Gesetzentwurfs ist
        die inhaltliche Zielrichtung, die er verfolgt. Um das zu
        zeigen, müssen wir uns bloß die noch frische furchtba-
        re Blutspur anschauen, die der islamistische Terrorismus
        allein in der jüngsten Zeit durch Europa gezogen hat.
        Ich beginne quasi vor der Haustür: Amri, der Attentäter
        vom Breitscheidplatz, kommunizierte im Vorfeld – ich
        betone: im Vorfeld, denn ich komme später noch darauf
        zurück – unter Nutzung sogenannter Messengerdienste
        wie WhatsApp oder Telegram. Ein weiterer Terrorakt
        aus Deutschland: Die Planungen für einen Anschlag auf
        den Sikh-Tempel wurden gar innerhalb einer Whats-
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 23031
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        App-Gruppe geplant, zu der sich die Täter zusammen-
        schlossen. Und ganz aktuell: Nach den jüngsten An-
        schlägen in London fordert die britische Innenministerin
        Amber Rudd den Zugriff auf WhatsApp; die Sicherheits-
        behörden bräuchten den Zugang zu den verschlüsselten
        Nachrichten der einschlägigen Messengerdienste.
        Warum erwähne ich all das? Es zieht sich wie ein ro-
        ter Faden durch die Vorbereitungshandlungen aller terro-
        ristischen Anschläge – meine Aufzählung erhebt keinen
        Anspruch auf Vollständigkeit – der jüngeren Vergangen-
        heit, dass die Kommunikation im Vorfeld über Messen-
        gerdienste vorgenommen wurde, die den Sicherheitsbe-
        hörden erhebliche Probleme bereiten, weil sie hier nicht
        mitlesen können. Ihnen fehlen sowohl die technischen
        als auch die rechtlichen Voraussetzungen zum Sammeln
        der dort kommunizierten Informationen.
        Was hat das jetzt alles mit dem vorliegenden Gesetz-
        entwurf zu tun? Nach allgemeiner Ansicht aller Sicher-
        heitsexperten brauchen wir ein Mehr an Überwachung
        der Kommunikation von Terroristen im Vorfeld von
        Anschlägen. Und die Linke fordert ein Weniger an tech-
        nischen Mitteln! Die offensichtlich nicht ausreichenden
        Möglichkeiten, die unsere Nachrichtendienste – darum
        hatte ich vorhin auf die Kommunikation im Vorfeld abge-
        stellt; ihre Überwachung obliegt nämlich den Nachrich-
        tendiensten, nicht den Polizeien – haben, wollen Sie noch
        einschränken, nein, sogar abschaffen.
        Es ist erstaunlich, in welchem Maße der Gesetzent-
        wurf nicht nur die innenpolitischen Zeichen der Zeit ver-
        kennt; verwunderlich ist zudem, dass kaum jemand in
        der Bevölkerung Verständnis dafür haben dürfte, wenn
        der Staat bei der Wahrnehmung seiner Kernzuständig-
        keit, der Gewährleistung der inneren Sicherheit, auf die
        bereits jetzt kaum ausreichenden Instrumente auch noch
        ohne Not verzichtet. Ich wage die Prognose, dass auch
        die Anhänger und Wähler der Linken zu schätzen wissen,
        wenn unser Staat angemessen gerüstet ist, um den He-
        rausforderungen durch den islamistischen Terrorismus
        wehrhaft gegenübertreten zu können. Daher erscheint
        mir der Anlass für die Vorlage dieses Gesetzentwurfs
        umso rätselhafter, je länger ich über ihn spreche.
        Schließlich bleibt die Frage: Wozu soll der Gesetzent-
        wurf denn überhaupt gut sein? Ein fachlicher Grund ist
        nicht erkennbar. Was ist es dann? Ich sage es Ihnen: Es
        ist ihr fast schon pathologisches Misstrauen gegenüber
        unseren Nachrichtendiensten. Ich versage mir Spekula-
        tionen, woher es rühren mag; ich verweise lieber darauf,
        dass unsere Nachrichtendienste wie im Übrigen auch alle
        anderen Sicherheitsbehörden viele Anschläge – nicht
        nur in Deutschland, sondern auch zum Schutz unserer
        Soldaten in Afghanistan – erfolgreich verhindert haben,
        weshalb sie unsere Unterstützung verdienen und kein ge-
        nerelles Misstrauen.
        Weltweit gibt es in jedem Land Nachrichtendienste;
        aber die Vorbehalte, die ihnen in Deutschland vor allem
        von Ihnen entgegengebracht werden, dürften weltweit
        einzigartig sein. Begleiten Sie die Arbeit der Nachrich-
        tendienste ruhig mit konstruktiver Kritik, und bringen
        Sie sich sachlich und kenntnisreich in die Debatte ein –
        aber verschonen Sie uns mit Gesetzentwürfen wie dem
        vorliegenden, der neben seinen handwerklichen Feh-
        lern auch inhaltlich in die völlig falsche Richtung geht.
        Wenn Sie sich in den Debatten zur inneren Sicherheit,
        die Deutschland auf absehbare Zeit beschäftigen werden,
        Gehör verschaffen wollen: Konzentrieren Sie sich auf
        seriöse Reformvorschläge, und Sie werden auch gehört
        werden. Legen Sie weiterhin Gesetzentwürfe dieser Art
        vor, kann Sie niemand ernst nehmen. Ich glaube kaum,
        dass das Ihr politisches Ziel sein kann.
        Clemens Binninger (CDU/CSU): Eine starke und
        wehrhafte Demokratie braucht leistungsfähige und pro-
        fessionelle Nachrichtendienste, die in der Lage sind, mit
        ihrer Arbeit die Sicherheit im Land zu gewährleisten.
        Dies gilt besonders in Zeiten großer Herausforderun-
        gen, wie wir sie momentan erleben. Zu dieser Arbeit der
        Sicherheitsbehörden kann und muss auch die Überwa-
        chung der Telekommunikation von extremistischen Ge-
        fährdern gehören.
        Es geht im Artikel 10-Gesetz um eine Beschränkung
        des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses nach Arti-
        kel 10 unseres Grundgesetzes. In § 1 heißt es ganz deut-
        lich, dass die Überwachung und Aufzeichnung von Tele-
        kommunikation zur Abwehr von drohenden Gefahren für
        die freiheitlich-demokratische Grundordnung oder den
        Bestand oder die Sicherheit des Bundes erfolgen kann,
        wenn hierfür tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen. Ich
        bin der Meinung, dass eine solche Beschränkung des
        Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses zu rechtferti-
        gen ist.
        Sie ist deshalb zu rechtfertigen, weil es hierbei nicht
        um eine willkürliche Überwachung von beliebigen Bür-
        gerinnen und Bürgern geht, sondern weil es eine ganz
        gezielte Maßnahme ist, die dazu beiträgt, die Sicherheit
        der Bundesrepublik bei einer konkreten Gefahr sicher-
        zustellen. Es ist doch zwingend erforderlich, dass unsere
        Nachrichtendienste die Kommunikation von Terroristen
        aufzeichnen und überwachen, um Terroranschläge effek-
        tiv verhindern zu können. Zudem müssen wir doch nach-
        vollziehen können, mit wem diese Terroristen in Kontakt
        standen, um an Hintermänner und deren Netzwerke he-
        ranzukommen.
        Der vorgelegte Gesetzentwurf soll die Handlungsfä-
        higkeit der Nachrichtendienste in einer Zeit, in der wir
        alles Notwendige tun sollten, die innere Sicherheit weiter
        zu stärken, massiv einschränken. Das ist angesichts der
        aktuellen Bedrohungen nicht nur total falsch, sondern in
        Bezug auf unsere Sicherheitsinteressen sogar fahrlässig.
        Liebe Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Die Lin-
        ke, Sie führen in Ihrer Begründung aus, dass eine Kon-
        trolle der Maßnahme nicht gewährleistet sei. Lassen Sie
        mich kurz begründen, warum das nicht stimmt: Mit der
        G 10-Kommission haben wir ein unabhängiges Gremium,
        das über die Zulässigkeit von solchen Beschränkungs-
        maßnahmen entscheidet. Die Beschränkungsmaßnahmen
        können erst vollzogen werden, wenn die G 10-Kommis-
        sion den Antrag der Sicherheitsbehörde genehmigt hat,
        der zuvor auch vom Bundesministerium des Innern als
        berechtigt eingestuft wurde. Ansonsten kann eine solche
        Überwachung aufgrund des Artikel 10-Gesetzes nicht
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 201723032
        (A) (C)
        (B) (D)
        erfolgen. Selbst wenn die Umstände es erfordern, sofort
        Daten zu erheben, können diese nur mit Zustimmung der
        Kommission, die in diesem Fall innerhalb von 24 Stun-
        den erfolgen muss, ausgewertet werden. Andernfalls
        sind sie unverzüglich wieder zu löschen. Die zwingend
        notwendige parlamentarische Kontrolle ist daher im Ar-
        tikel 10-Gesetz gegeben. Den Nachrichtendiensten in der
        Begründung Ihres Entwurfs zu unterstellen, die Maßnah-
        me teilweise durchzuführen, ohne dies vorher zu beantra-
        gen, da sie darin keinen Eingriff in die Grundrechte se-
        hen würden, halte ich nicht nur für sehr abwegig, sondern
        schlicht auch für unprofessionell.
        Unsere Nachrichtendienste wurden in den vergange-
        nen Jahren mehrfach – und teilweise ja auch zu Recht –
        kritisiert; dennoch waren und sind sie für unsere Sicher-
        heit von höchster Bedeutung. Wir haben in den letzten
        Jahren erlebt, dass unsere Nachrichtendienste vor großen
        technischen Herausforderungen stehen; denn Terroristen
        nutzen immer mehr verschlüsselte Kommunikationswe-
        ge. Daher war es auch zwingend notwendig, mit ZITIS
        eine zentrale Stelle zur Beratung und Unterstützung der
        Terrorismusbekämpfung ins Leben zu rufen, die unsere
        Sicherheitsbehörden bei diesen neuen Herausforderun-
        gen zur Seite steht.
        Die innere Sicherheit so leichtfertig infrage zu stel-
        len, wie Sie das tun, halte ich für sehr gefährlich. Zum
        Kampf gegen den islamistischen Terrorismus sollten wir
        den Nachrichtendiensten alle notwendigen Instrumente
        zur Verfügung stellen, damit Anschläge in Zukunft noch
        effektiver verhindert werden können. Ihnen die notwen-
        digen Instrumente mit einem solchen Gesetzentwurf
        wieder wegnehmen zu wollen, entbehrt daher jeglicher
        Logik. Welchen Eindruck macht es denn auf die Bürge-
        rinnen und Bürger, wenn die Sicherheit im Falle einer
        konkreten Gefahr für unsere freiheitlich-demokratische
        Grundordnung nicht gewährleistet werden kann, weil die
        Nachrichtendienste nicht die notwendigen Maßnahmen
        anwenden können?
        Ihr Entwurf zeigt wieder einmal, dass eine vernünftige
        Sicherheitspolitik mit Ihrer Fraktion nicht zu machen ist.
        Ich möchte dazu auch ganz klar sagen: Wer die Nach-
        richtendienste langfristig abschaffen will, der trägt sicher
        nicht zur Sicherheit in unserem Land bei. Gleichzeitig
        stellt sich dann auch die Frage, ob man mit so einer Ein-
        stellung die Nachrichtendienste überhaupt objektiv kon-
        trollieren kann.
        Der Gesetzentwurf jedenfalls verhindert die wichtige
        professionelle nachrichtendienstliche Arbeit, schränkt
        unsere Sicherheitsbehörden in ihren Möglichkeiten mas-
        siv ein und ist daher abzulehnen.
        Uli Grötsch (SPD): Die Linke bringt heute einen
        zweifelhaften Gesetzentwurf zur Abschaffung des so-
        genannten G 10-Gesetzes ein. Das G 10-Gesetz ist die
        rechtliche Grundlage dafür, dass unsere Nachrichten-
        dienste des Bundes und die Verfassungsschutzbehörden
        der Länder zur Terrorabwehr Grundrechtseingriffe in das
        Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis tätigen können.
        Nach dem Willen der Linken, brauchen unsere Nach-
        richtendienste in Zukunft diese Befugnisse nicht mehr.
        Nachrichtendienstliche Aufklärungsarbeit, zum Beispiel
        das Abhören von Telefonaten, um Terroranschläge zu
        verhindern, sind dann nicht mehr möglich. Ich weiß gar
        nicht, was ich dazu sagen soll? Vielleicht handelt es sich
        ja um einen verfrühten und missglückten Aprilscherz? Ihr
        Gesetzentwurf reiht sich in andere ähnliche Forderungen
        wie die Abschaffung des Verfassungsschutzes in Gänze
        etc. ein und ist so absurd, dass ich als Sicherheitspolitiker
        nur die Hände über dem Kopf zusammenschlagen kann.
        Dieser Vorschlag sei ein erster Schritt zur Auflösung der
        Nachrichtendienste, das schreiben Sie ja auch hier.
        Ich will gerne versuchen – weil Sie es ja offenbar nicht
        verstehen –, Ihnen zu erklären, warum unsere Nachrich-
        tendienste die Befugnisse, die sie haben, auch brauchen.
        Sie schreiben: Durch die Abschaffung des G 10, das
        den Nachrichtendiensten des Bundes die Befugnis zur
        Beschränkung der Grundrechte aus Artikel 10 GG zu-
        gesteht, entstehe keine Schutzlücke. Das ist eine sehr
        waghalsige Behauptung. Sie argumentieren, dass es ja
        das BKA-Gesetz und § 100 a StPO gibt. Liebe Kollegin-
        nen und Kollegen von den Linken, Strafverfolgung ist
        doch etwas völlig anderes. Bei G 10 geht es um terroris-
        tische Bedrohungen, die möglichst im Vorfeld weiterer
        Konkretisierung entdeckt werden sollen, also setzt G 10
        vor der polizeilichen Gefahrenschwelle an. Aufklärung
        im Vorfeld, das ist es, was Nachrichtendienste tun, ob
        es Ihnen gefällt oder nicht. Ich finde, unsere Nachrich-
        tendienste machen ihren Job hervorragend; davon habe
        ich mich erst diese Woche für den Bereich Cyberabwehr
        überzeugt.
        Die angeblich ausreichenden Grundlagen, die Sie nen-
        nen, setzen doch eine konkretere Gefahr voraus im Ge-
        gensatz zu den Befugnissen nach G 10. Aber auch diese
        Grundlagen, BKAG und § 100 a StPO, sind Ihnen ja wie-
        derum nicht gut genug. Sie sollen so zurechtgestutzt wer-
        den, dass notwendige grundrechtsintensive Maßnahmen
        am besten gar nicht mehr gehen. Und dann noch behaup-
        ten, es entstünde keine Schutzlücke? Das geht gar nicht.
        Ich sage Ihnen noch etwas: Ihr Antrag ist aus 2015. In
        der Zwischenzeit sind in Deutschland furchtbare terroris-
        tische Angriffe geschehen. Und dennoch legen Sie diese
        abenteuerliche Vorlage vor? Sie bemängeln doch im Fall
        Anis Amri Behördenhandeln und wollen als Antwort da-
        rauf die nachrichtendienstlichen Aufklärungsmöglichkei-
        ten wegnehmen? Sie blamieren sich mit Ihrem Entwurf,
        der schnellstmöglich in der Mülltonne landen sollte. Er
        ist nichts weiter als verantwortungslos.
        Ich möchte auch auf den Bereich „parlamentarische
        Kontrolle der Nachrichtendienste“ eingehen, weil ich
        Mitglied in diesem Gremium bin und weil das nicht
        richtig ist, was Sie dazu schreiben. Sie schreiben, dass
        das PKGr allein die Tätigkeit der Bundesregierung in
        Bezug auf Nachrichtendienste kontrolliert und nicht
        direkt die Nachrichtendienste. Dann frage ich Sie: Wer
        trägt denn die politische Verantwortung für das Handeln
        der Nachrichtendienste? Wem gegenüber sind denn die
        Dienste weisungsgebunden und rechenschaftspflichtig?
        Außerdem möchte ich Sie daran erinnern, dass wir die
        parlamentarische Kontrolle gerade deutlich gestärkt ha-
        ben. Dass Sie das in Ihrem Antrag jetzt als „Kosmetik“
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 23033
        (A) (C)
        (B) (D)
        bezeichnen und Ihnen die Kontrollbefugnisse nicht weit
        genug gehen, kann ich aus Ihrer Warte verstehen. Wir als
        SPD sehen das jedenfalls als ersten Schritt in die richtige
        Richtung.
        Ich möchte außerdem etwas Grundsätzliches zum
        Schluss sagen: Ihr Gesetzentwurf zeugt von tiefem Miss-
        trauen gegenüber den Nachrichtendiensten und ihren Tä-
        tigkeiten. Ich glaube, dass Sie den Tausenden Mitarbeite-
        rinnen und Mitarbeitern, die jeden Tag für die Sicherheit
        in Deutschland ihren Dienst verrichten, unrecht tun.
        Auch dank unserer Nachrichtendienste haben wir bereits
        zahlreiche terroristische Anschläge in den letzten Jahren
        vereitelt. Jetzt tun Sie in Ihrem Gesetzentwurf so, als ob
        die Nachrichtendienste willkürlich zum Selbstzweck in
        die Grundrechte von unschuldigen Bürgerinnen und Bür-
        gern eingreifen und nicht ausreichend an die Kette gelegt
        werden. Das ist undankbar. Daran ändert auch nichts,
        dass Sie die Mitarbeiter, die durch Ihren Vorschlag ihren
        Job verlieren würden, durch Umschulungen in andere
        Behörden verfrachten wollen.
        Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Wir reden heu-
        te über einen von der Fraktion Die Linke vorgelegten
        Gesetzentwurf. Es geht uns mit diesem Gesetzentwurf
        darum, den Nachrichtendiensten des Bundes die Befug-
        nis zu entziehen, einen Eingriff in das Brief-, Post- und
        Fernmeldegeheimnis vorzunehmen. Das sogenannte
        G-10-Gesetz – das steht für Artikel 10 GG – und weitere
        Gesetze räumen den Nachrichtendiensten des Bundes ge-
        nau diese Befugnis ein.
        Ein Eingriff in das Brief-, Post- und Fernmeldegeheim-
        nis ist für eine Demokratie immer ein schwerwiegender
        Eingriff, weil die Möglichkeit, frei von staatlicher Kennt-
        nisnahme zu kommunizieren, wesentlicher Bestandteil
        einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung ist.
        Wir sind der Auffassung, dass dieser Eingriff so schwer
        und die Hürde für den Eingriff durch Nachrichtendienste
        des Bundes und die Verfassungsschutzbehörden der Län-
        der so gering ist, dass ein Rechtsstaat auch ohne diese
        Eingriffe auskommen kann, ohne dass Sicherheitslücken
        entstehen.
        Es ist zunächst darauf hinzuweisen, dass das G-10-Ge-
        setz die Befugnisse zur Einschränkung der Telekommu-
        nikationsfreiheit für die Landespolizeien, die Bundespo-
        lizei und das Bundeskriminalamt unberührt lässt. Deren
        Befugnisse zur Einschränkung der Telekommunikations-
        freiheit sind im BKAG und in der StPO geregelt. Wir
        nehmen also keine Einschränkung der Befugnisse für die
        Landespolizeien, die Bundespolizei und das Bundeskri-
        minalamt vor. Wir beschränken uns ausdrücklich auf die
        Nachrichtendienste des Bundes.
        Das hat auch eine innere Logik. Die einfache und
        bestechende Logik besteht darin, dass der Rechtsstaat
        wieder vom Kopf auf die Füße gestellt wird. Ein grund-
        legendes Prinzip des Rechtstaates besteht darin, von
        staatlichen Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen
        ausgenommen zu sein, soweit keine Anhaltspunkte für
        ein strafrechtlich relevantes Verhalten vorliegen.
        Für die Bekämpfung von Straftaten sowie die Abwehr
        von Gefahren entsteht keine Schutzlücke, soweit auf das
        G-10-Gesetz verzichtet wird. Die in den §§ 3, 5 und 8
        G-10-Gesetz benannten Gefahren fallen als Straftaten in
        den Bereich des § 100 a StPO und in die Zuständigkeit
        des deutschen Strafrechts. Wir haben das in der Anla-
        ge 1 unseres Gesetzesentwurfes detailliert dargestellt. Da
        nicht nur die Begehung von Straftaten nach dem Straf-
        gesetzbuch strafbar ist, sondern im konkreten Fall auch
        der Versuch, kann mit den Mitteln der StPO also bereits
        vor Schadenseintritt gearbeitet werden. Wer eine Straftat
        des Kataloges des § 100 a StPO versucht, hat wiederum
        keinen Anspruch darauf, von staatlichen Kontroll- und
        Überwachungsmaßnahmen verschont zu bleiben.
        Das tatsächliche Problem besteht ja derzeit darin, dass
        bis auf die Entführungsfälle nach § 8 G-10-Gesetz die
        anderen Voraussetzungen für eine Einschränkung des
        Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses niedriger lie-
        gen als für die Gefahrenabwehr- und Strafverfolgungsbe-
        hörden. Im G-10-Gesetz werden „tatsächliche Anhalts-
        punkte“ verlangt, im § 100 a StPO hingegen „bestimmte
        Tatsachen“. Für strategische Beschränkungsmaßnahmen
        wiederum soll weder eine konkrete Gefahr, wie sie tradi-
        tionell im Bereich der Gefahrenabwehr gefordert wird,
        noch gar ein hinreichender Tatverdacht, der Maßnahmen
        im Bereich der Strafverfolgung erlaubt, ausreichend sein,
        um in das Grundrecht nach Artikel 10 GG einzugreifen.
        Das finden wir aus dem genannten Grund problematisch.
        Hinzu kommt, dass damit die Nachrichtendienste des
        Bundes Aufgaben der Strafverfolgung und Gefahrenab-
        wehr zumindest mit übernehmen.
        Die Frage der tatsächlich nicht zu realisierenden
        Kontrolle hinsichtlich der Einhaltung der Vorgaben des
        G-10-Gesetzes durch die Nachrichtendienste würde sich
        bei einer Abschaffung des G-10-Gesetzes nicht stellen.
        Durch das Parlamentarische Kontrollgremium werden
        nicht die Nachrichtendienste des Bundes kontrolliert,
        sondern allein die Tätigkeit der Bundesregierung in Be-
        zug auf die Nachrichtendienste. Die vom Parlamentari-
        schen Kontrollgremium bestellte G-10-Kommission ent-
        scheidet nach § 15 G-10-Gesetz von Amts wegen oder
        aufgrund von Beschwerden über die Zulässigkeit und
        Notwendigkeit von Beschränkungsmaßnahmen. Sie soll
        insoweit an die Stelle eines Gerichtes treten. Dabei ist
        aber zu beachten, dass das Verfahren wie folgt abläuft –
        ich zitiere –:
        Der jeweilige Dienst stellt einen Antrag beim Bun-
        desministerium des Inneren. Das Ministerium prüft
        den Antrag … Wenn es ihn für berechtigt hält, ge-
        nehmigt es diesen Antrag und erlässt eine entspre-
        chende Anordnung, die aber in der Regel nicht voll-
        zogen darf, bevor nicht die G-10-Kommission ihre
        Zustimmung erteilt hat.
        So Huber in vorgänge Nr. 206/207, S. 43.
        Die G 10-Kommission kann also lediglich das ge-
        nehmigen, was Nachrichtendienste des Bundes bei ihr
        beantragen. Soweit die Nachrichtendienste des Bundes
        der Ansicht sind, es liege überhaupt kein Eingriff in das
        Grundrecht aus Artikel 10 GG vor, wird die G 10-Kom-
        mission davon nichts erfahren und kann demzufolge auch
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 201723034
        (A) (C)
        (B) (D)
        keine Entscheidung treffen. Leider hat der NSA-Skandal
        gezeigt, dass dies nicht nur ein theoretisches Szenario ist.
        Lassen Sie mich am Ende noch etwas klarstellen. Die
        von dem Wegfall der Aufgaben nach dem G-10-Gesetz
        betroffenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollen in
        anderen Behörden, gegebenenfalls nach einer Umschu-
        lung, eine Anstellung finden. Denn für uns als Linke ist
        klar, ein Stellenabbau im öffentlichen Dienst ist mit dem
        vorliegenden Gesetz nicht angestrebt, da dies eine rote
        Haltelinie überschreiten würde.
        Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE
        GRÜNEN): Mit diesem Gesetzentwurf, für den die
        Linke primär ein „Fleißkärtchen“ verdient, will sie das
        G-10-Gesetz aufheben und diverse Gesetze bezüglich
        Telekommunikationsüberwachung anpassen. Das „G 10“
        sei für die Bekämpfung der darin genannten Gefahren
        weder geeignet, erforderlich noch angemessen.
        In weitem Umfang Kritik an zunehmender Telekom-
        munikationsüberwachung – wir haben dies schon weit
        früher kritisiert, als es Linke bzw. PDS noch gar nicht
        gab. Die Problemanalyse und Schlussfolgerung der Lin-
        ken in ihrem Gesetzentwurf ist aber in mehrfacher Hin-
        sicht unscharf, unzutreffend und nicht weitreichend ge-
        nug.
        Unscharf ist die Analyse zum Beispiel, weil die Lin-
        ken das Problem zunehmender Kommunikationsüber-
        wachung nicht, wie nötig, schon verorten bei der 1968
        verfügten Einschränkung des Grundrechts auf Fernmel-
        defreiheit. Vielmehr setzt die Kritik der Einbringer erst
        an bei dem Ausführungsgesetz hierzu, dem G 10. Dieses
        Gesetz ist in der Tat seither vielfach erweitert worden,
        wie auch wir kritisiert haben.
        Unzutreffend scheint uns etwa die Analyse hinsicht-
        lich des Umfangs bzw. der zahlenmäßigen Bedeutung
        formeller G-10-Überwachungen; denn nach dem kürz-
        lich veröffentlichten Bericht des Bundestages hat der
        BND im Jahr 2015 aus 2 000 strategisch erfassten Kom-
        munikationen nur 52 als relevant eingestuft und weiter-
        bearbeitet. Die Presse fasste dies ironisch zusammen als
        „eine Mail pro Woche“. Ähnlich gering sind die Zahlen
        bei individueller G-10-Überwachung. Demgegenüber
        sind nach Quantität und Qualität weit bedeutsamer die
        millionenfachen Massenüberwachungen sogenannter
        Routineverkehre, die der BND im Ausland durchführt.
        Dazu hat der NSA-Untersuchungsausschuss ja sehr vie-
        le Details zutage gefördert. Dieses Problem aber würde
        nicht beseitigt, ja soweit erkennbar, nicht einmal berührt
        durch den Gesetzentwurf. Insofern ist dieser Regelungs-
        entwurf nicht weitreichend genug.
        Die Schlussfolgerungen des Gesetzentwurfs sind so-
        gar teils richtiggehend kontraproduktiv. Ein Beispiel: Wir
        teilen zwar die Analyse des Gesetzentwurfs, die im G 10
        vorgesehene sogenannte G 10-Kommission zur Kontrol-
        le solcher Überwachungen sei zu schwach ausgestaltet
        und werde durch die Regierung sogar ausgetrickst. Doch
        die daraus gezogene Folgerung des Gesetzentwurfs, die-
        ses Kontrollgremium ganz abzuschaffen, verbessert die-
        se Lage überhaupt nicht.
        Ein zweites ärgeres Beispiel: Die Initiatoren des Ent-
        wurfs meinen, bei Abschaffung des G 10 könnte ja ent-
        sprechende Kommunikationsüberwachung künftig alter-
        nativ durch die Polizei durchgeführt werden aufgrund
        § 100 a StPO, ohne dass eine Schutzlücke verbleibe. Die
        Folgerung, der Polizei noch mehr bisher geheimdienst-
        liche Befugnisse zu übertragen, halten wir schon für
        rechtspolitisch zumindest bedenklich.
        Uns scheint außerdem die Annahme, die G-10-Befug-
        nisse könnten alternativ 1 : 1 wahrgenommen werden
        durch schon bestehende polizeiliche Befugnisse, auch
        rechtlich nicht sorgfältig subsumiert zu sein, sondern
        eher vom politischen Bemühen darum getragen. Au-
        ßerdem: Wenn bloß die wahrnehmenden Behörden und
        Rechtsgrundlagen ausgetauscht würden, wo läge dann
        überhaupt der Mehrwert für die Bürgerrechte, den Um-
        fang der Überwachung zu reduzieren?
        Schließlich glauben offenbar die Einbringer selbst
        nicht ihre kühne These, bei Abschaffung des G 10 dro-
        he keine Schutzlücke. Die Einbringer schreiben nämlich
        auf Seite 28 ihres Entwurfs als letzten Satz selbst ein-
        schränkend: „Es ergibt sich mithin keine Schutzlücke,
        wenn §§ 5 und 8 G 10 abgeschafft werden. Jedenfalls
        dann nicht, wenn es um die Sicherheit der Bundesrepu-
        blik Deutschland geht.“ Damit räumen die Initiatoren des
        Entwurfs selbst drohende Schutzlücken ein, wenn die
        strategische Auslandsüberwachung – § 5 – entfiele, die
        über Deutschland hinaus etwa auf internationalen Waf-
        fenhandel und Kriegsgefahren zielt. Denn wer sollte das
        mit welchen technischen Mitteln ersetzen, etwa die deut-
        sche Polizei?
        Und noch deutlicher wird die verbleibende Schutz-
        lücke im zweiten von den Linken genannten Bereich,
        in § 8, nämlich der Kommunikationsüberwachung des
        BND zugunsten im Ausland entführter Personen. Wie
        stellt sich die Linke da die Alternative vor? Sollen künf-
        tig stattdessen etwa deutsche Polizisten mit Richtmikro-
        fon und Peilgerät irgendwo durch den Urwald robben,
        um Entführte zu orten?
        Ich karikiere dies hier bewusst. Doch schon diese we-
        nigen Beispiele zeigen: Über diesen Gesetzentwurf soll-
        ten auch die einbringenden Kolleginnen und Kollegen
        der Linksfraktion nochmals vertieft nachdenken. Dazu
        haben wir miteinander im Ausschuss Gelegenheit.
        Anlage 7
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung der Beschlussempfehlung
        und des Berichts des Ausschusses für Wirt-
        schaft und Energie zu dem Antrag des Bun-
        desministeriums für Wirtschaft und Energie:
        Anpassungsvertrag ERP-Förderrücklage
        Einholung eines zustimmenden Beschlusses des
        Deutschen Bundestages gemäß § 6 Absatz 3
        des ERP-Verwaltungsgesetzes (Tagesordnungs-
        punkt 24)
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 23035
        (A) (C)
        (B) (D)
        Astrid Grotelüschen (CDU/CSU): Am 11. Januar
        2017 hatte das Bundeskabinett dem Entwurf eines Ände-
        rungsvertrages zwischen dem ERP-Sondervermögen und
        der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) zur Härtung
        der Kapitalrücklage (ERP-Förderrücklage I) zugestimmt.
        Gleichzeitig wurden die allgemeinen Eckpunkte für
        ein künftiges intensives Engagement der KfW im Be-
        reich Wagniskapital- und Beteiligungsfinanzierung be-
        schlossen.
        Heute wollen wir den Forderungen der BaFin, die
        eine Härtung der Förderrücklage I der KfW verlangt, mit
        einem sogenannten Anpassungsvertrag zustimmen, mit
        dem wir die Vereinbarkeit der ERP-Förderrücklage mit
        den Vorgaben der Kapitaladäquanzverordnung und deren
        Zurechnung als Kernkapital der KfW eindeutig regeln.
        Darüber hinaus, und das ist aus meiner Sicht nicht
        weniger wichtig, geht es weiterhin darum, die seit fast
        70 Jahren bewährte KfW-Förderung qualitativ und quan-
        titativ für ein neues Jahrzehnt aufzustellen.
        Dabei gilt es bei Zeiten langanhaltender niedriger
        Zinsen den Bedarf der mittelständischen Wirtschaft ab-
        zufragen und der Nachfrage nach den unterschiedlichen
        Kredit- bzw. Finanzierungsmodellen Rechnung zu tra-
        gen. Hier ist aus meiner Sicht der Schritt der KfW, ein
        zusätzliches Engagement im Bereich der Beteiligungsfi-
        nanzierung am Markt anzubieten, zu unterstützen.
        Aber zunächst kurz zum Verständnis der Hintergrün-
        de, die eine Neuordnung der ERP-Wirtschaftsförderung
        erforderlich machen:
        2007 wurde ein Teil des Sondervermögens in unsere
        Durchführungsorganisation KfW eingebracht, darunter
        4,65 Milliarden Euro als Kapitalrücklage. Die Bundesan-
        stalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) hatte vor
        einem Jahr festgestellt, dass diese Kapitalrücklage aber
        nicht den Vorgaben im Zusammenhang mit „Basel III“
        entspricht und deshalb nicht mehr dem harten Kernkapi-
        tal der KfW zugerechnet werden kann.
        Damit das Fördervolumen, die gesamten Überschüs-
        se des Sondervermögens, jedoch zur Finanzierung zur
        Verfügung gestellt werden kann, muss eine „Härtung“
        erfolgen.
        Leider blieb in den vergangenen Jahren die tatsäch-
        liche Förderleistung unter der angestrebten Mindest-
        zielgröße zurück. Obwohl der Bundesrechnungshof hier
        mehrfach intervenierte und wiederholt darauf hingewie-
        sen hatte, kam es nicht zu einer Veränderung im Förder-
        portfolio, das zur Verfügung stehende Kapital wurde von
        den Unternehmen nicht abgefragt.
        In diesem Punkt gilt es, für die Zukunft das Instru-
        mentarium und die Angebote so zu verändern, dass es
        zu einem verbesserten Mittelabfluss der 800 Millionen
        Euro, die alleine im Jahr 2015 zur Verfügung stehen,
        kommen kann – Förderkredite, die elementarer Bestand-
        teil der KfW-Förderung sind.
        Zusätzlich machen wir auch mit unserem Entschlie-
        ßungsantrag deutlich, dass es für mittelständische Unter-
        nehmen, Start-ups einen sehr großen Bedarf im Bereich
        der Beteiligungsfinanzierung und auch des Wagniskapi-
        tals gibt.
        Aus meiner Sicht existiert daher geradezu eine för-
        derpolitische Notwendigkeit, diese Innovationsfähigkeit
        ganz besonders zu stärken. Es müssen hier umfassende
        Angebote geschaffen werden, vor allem in der Wachs-
        tumsphase dieser Unternehmen.
        Zwar sind im letzten Jahr 12 Millionen Euro als Grün-
        derkredite über die KfW zum Beispiel in Start-ups in
        meinen Landkreis Oldenburg geflossen. Dies ist aber hier
        wie auch auf ganz Deutschland bezogen zu wenig.
        Zum Vergleich: In den USA werden circa 60 Milli-
        arden in Wagniskapital investiert, in Deutschland aber
        lediglich 800 Millionen Euro.
        Um diese strukturelle Schwäche zu beseitigen, müs-
        sen wir also neue Instrumente finden. Der zehn Jahre alte
        Vertrag zwischen dem ERP-Sondervermögen und der
        KfW ist auch aus diesem Grunde anzupassen.
        Unser übergeordnetes Ziel ist klar: die Potenziale des
        ERP-Sondervermögens auszuschöpfen, um damit die
        Förderkraft nachhaltig zu erhöhen. Wir müssen seit lan-
        gem brach liegendes Kapital endlich für die Förderung
        nutzen.
        Unsere Erwartung an die KfW ist, dass sie in Hinblick
        auf veränderte wirtschaftliche Rahmenbedingungen und
        unterschiedliche Bedürfnisse unserer Unternehmen ihre
        Förderaufgaben flexibel anpasst und kompetent gestal-
        tend tätig wird.
        Damit könnten wir, gemeinsam mit der größten natio-
        nalen Förderbank der Welt, einen wichtigen Beitrag zur
        Stabilität und zudem zum wirtschaftlichen Wachstum in
        Deutschland leisten.
        Konkretes Ziel ist es dabei, in mehreren Stufen ein
        marktrelevantes Volumen für eine Beteiligungsfinanzie-
        rung mit Unterstützung der KfW aufzubauen.
        Angestrebt wird eine Verdopplung des Wagniskapi-
        talvolumens in Deutschland zum Vergleichsjahr 2016 in
        den kommenden Jahren insbesondere durch Privatwirt-
        schaft, den Bund und unter Einbeziehung verlässlicher
        europäischer Finanzpartner.
        Deshalb fordern wir nicht zuletzt mit dem vorliegen-
        den Entschließungsantrag, jährlich ausführlich über die
        ERP-Förderung informiert zu werden.
        Denn die Informationen über die aktuelle Situation
        beim ERP-Sondervermögen im Allgemeinen und eine
        nachhaltige KfW-Beteiligungsfinanzierung im Besonde-
        ren sind für eine sinnvolle Förderpolitik unerlässlich.
        Dr. Andreas Lenz (CDU/CSU): Der Wohlstand von
        morgen, das sind die Unternehmensgründungen von heu-
        te. Deshalb müssen wir schauen, dass wir die Vorausset-
        zungen schaffen, dass Gründungen von der Idee bis zum
        Börsengang – bis zum Global Player – in Deutschland
        auf ein bestmögliches Umfeld stoßen. Dabei müssen wir
        Risiken eingehen, dabei muss der Unternehmer Vorbild
        sein dürfen, und dabei brauchen wir Geschichten, die be-
        geistern und zum Nachahmen einladen.
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 201723036
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        Zahlen und Fakten:
        Die Verfügbarkeit an Wagniskapital ist in Deutsch-
        land im Verhältnis zur Größe unserer Volkswirtschaft
        sehr gering. Der Anteil des investierten Wagniskapitals
        am Bruttoinlandsprodukt liegt bei etwa knapp 0,03 Pro-
        zent – im Vergleich liegt dieser Anteil in den USA bei
        0,33 Prozent. Anders ausgedrückt: In den USA werden
        circa 60 Milliarden Euro in Wagniskapital investiert,
        in Deutschland 800 Millionen – obwohl unser BIP ein
        Sechstel der USA beträgt.
        Venture-Capital-Fonds in Frankreich und Großbri-
        tannien können im Vergleich deutlich mehr Kapital ein-
        sammeln: 2011 bis 2015 nahmen Venture-Capital-Fonds
        in Großbritannien 1,8 Milliarden Euro, in Frankreich
        1,4 Milliarden Euro, in Deutschland hingegen ledig-
        lich 736 Millionen Euro Kapital auf. Fest steht also, für
        Gründer und junge aufstrebende Unternehmen steht in
        Deutschland zu wenig Wagniskapital zur Verfügung.
        Schaut man sich den Markt für Beteiligungsfinanzie-
        rungen genauer an, dann finden sich die Finanzierungs-
        schwierigkeiten für junge, schnell wachsende Unter-
        nehmen vor allem bei der Anschlussfinanzierung in der
        Start-up- und frühen Wachstumsphase. Diese Angebots-
        lücke liegt in einer Größenordnung von jährlich mindes-
        tens 500 Millionen Euro. Ich glaube jedoch, dass das Po-
        tenzial noch wesentlich höher ist.
        Oft spielt Deutschland in den Anfangsphasen der
        Entwicklung neuer Technologien, auch aufgrund der
        hervorragenden Förderlandschaft, ganz vorne mit, aber
        die Wachstumsphase scheitert nicht selten an fehlenden
        Finanzierungsmöglichkeiten. Innovative Unternehmen
        werden in der Gründungsphase häufig mit öffentlichen
        Mitteln finanziert, die Marktreifephase wird aber häufig
        ausländischen Venture-Capital-Gebern überlassen. Dies
        gefährdet mittel- und langfristig die Entwicklung des
        Wirtschaftsstandorts Deutschland.
        Kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) muss
        ein ausreichendes Kapitalangebot speziell in der Phase,
        in der die Unternehmen neue Märkte erschließen und
        schnell wachsen, zur Verfügung gestellt werden, damit
        sie „durchhalten“ können und nicht scheitern.
        Um diese strukturelle Schwäche im Bereich der
        Wachstumsfinanzierung zu beseitigen, muss man auch in
        Deutschland kreative Wege gehen.
        Ziel für Deutschland muss sein, den Bereich der Wag-
        nisfinanzierungen zu stärken. Wir benötigen langjährig
        erfahrene Management-Teams, denen es über mehrere
        Fonds-Generationen hinweg gelingt, Gelder in substan-
        zieller Größenordnung von erfahrenen Investoren einzu-
        sammeln. Ein neu zu entwickelndes Instrument der KfW
        kann hier beispielsweise als Ankerinvestor behilflich
        sein.
        Stand bisher:
        Die von der KfW geplanten Förderhöhen für den
        Mittelstand durch die Programme des ERP-Sonderver-
        mögens können momentan nicht vollständig erfüllt wer-
        den. Dies liegt vor allem am Niedrigzinsumfeld, in dem
        Zinsverbilligungen nicht mehr die gewünschte Wirkung
        entfalten können.
        2015 fand bereits eine Neuausrichtung der Beteili-
        gungsfinanzierung innerhalb der KfW in Abstimmung
        mit dem Bundeswirtschaftsministerium statt, fokussiert
        auf die Finanzierung von Fonds. Die bereits bestehen-
        den Instrumente High-Tech Gründerfonds, coparion und
        ERP-VC-Fondsinvestprogramm wurden erfolgreich wei-
        terentwickelt.
        Seit 2015 hat die KfW mithilfe der genannten drei
        Instrumente 181 Millionen Euro – davon 112 Millionen
        Euro gemeinsam mit dem ERP-Sondervermögen – in den
        deutschen Venture-Capital Markt-investiert. Gerade die
        Gründungen in der Startphase finden also ein intaktes
        Förderinstrumentarium vor.
        Neue Schritte:
        Ein Ausbau der Beteiligungsfinanzierung innerhalb
        der KfW soll daher ein zweites Förderstandbein schaffen,
        mit dem ein verbessertes Kapitalangebot in der besonders
        kapitalintensiven Wachstumsphase von Unternehmen
        erreicht werden soll. Ziel ist es, in mehreren Stufen ein
        marktrelevantes Volumen für Beteiligungsfinanzierung
        in Deutschland mithilfe der KfW aufzubauen. Konkret
        sollen Beteiligungs- und Mezzaninfinanzierungen beihil-
        fefrei und in allen Marktsegmenten und Strukturierungs-
        formen ermöglicht werden.
        Aber: Öffentliche Mittel können die Angebotslücke
        nur teilweise schließen. Bedeutsamer ist die Hebelwir-
        kung zur Mobilisierung privater Investoren.
        Beteiligungsgesellschaft:
        Eine Beteiligungsgesellschaft, die private Kapitalge-
        ber hinzuzieht, kann hier ansetzen.
        Zudem muss gewährleistet werden, dass durch eine
        solche Gesellschaft marktgerechte Investitionsentschei-
        dungen getroffen werden. Es wird sicher zusätzlichen
        Know-hows bedürfen, um diese neuen Aufgaben zu
        stemmen. Aber dieses Engagement wird sich lohnen.
        Ein gutes Beispiel dafür ist der Europäische Inves-
        titionsfonds (EIF), auch wenn natürlich keine Eins-zu-
        eins-Umsetzung auf die Bundesebene erfolgen soll und
        kann. Es braucht vor allem eine eigene Struktur, die auf
        die spezifischen Bedürfnisse der deutschen Wagniskapi-
        talindustrie eingehen kann.
        Die klassische Einteilung junger Firmen in Seed-,
        Start-up- oder Growth-Phase korreliert nicht direkt mit
        den Mittelbedarfen. Ein Internet-Start-up kann mit 1 Mil-
        lion ein fertiges Produkt entwickeln, für ein Unterneh-
        men der Medizintechnik- oder Pharmabranche oder der
        erneuerbaren Energien ist es ein Tropfen auf den heißen
        Stein. Für reife Unternehmen können Venture-Debt- oder
        Mezzanin-Finanzierungen der richtige Baustein sein.
        Jedwede Wagniskapitalförderung muss sicherstellen,
        dass langfristig Marktteilnehmern die für sie relevanten
        Angebote zur Verfügung stehen.
        Wir brauchen in Deutschland sicher auch eine höhere
        Bereitschaft, Risiken einzugehen. „Wer wagt, gewinnt“ –
        das gilt vor allem bei disruptiven Veränderungsprozes-
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 23037
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        sen. Abwarten macht die Wahrscheinlichkeit, nicht zu
        gewinnen, hingegen umso höher. Ich wünsche mir auch
        innerhalb der Konzerne Deutschlands mehr Abteilungen,
        die gezielt in deutsche Start-ups investieren, anstatt dies
        gar nicht oder nur in Übersee zu tun.
        Aber auch institutionellen Anlegern sollte der Rahmen
        gegeben werden, verstärkt in Wagniskapital zu investie-
        ren. Dies fördert letztlich die Diversifizierung, auch weil
        die Zyklen oft gegenläufig zu denen der Kapitalmärkte
        verlaufen. Hier besteht gerade in Deutschland noch ein
        hohes Potenzial.
        Mit der Schaffung eines neuen Instruments zur Förde-
        rung von Wagnisfinanzierungen gehen wir einen ersten
        Schritt nach vorne, und zwar einen richtigen.
        Andrea Wicklein (SPD): Wenn auch zu später Stun-
        de, so ist das Thema der heutigen Debatte dennoch enorm
        wichtig für die Innovationskraft und die Wettbewerbsfä-
        higkeit der deutschen Wirtschaft.
        Zum einen entscheiden wir heute über den Anpas-
        sungsvertrag zur ERP-Förderrücklage. Die Vertragsan-
        passung ist notwendig, weil nicht sichergestellt ist, dass
        die ERP-Förderrücklage I als hartes Kernkapital der
        KfW anrechenbar ist. Das hatte eine Prüfung durch die
        Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht erge-
        ben. Eine Nichtanrechnung der Förderrücklage als hartes
        Kernkapital würde dazu führen, dass die KfW die Eigen-
        kapitalvorschriften gemäß Basel III in den kommenden
        Jahren nicht einhalten kann. Mit dem Anpassungsvertrag
        erreichen wir, dass die ERP-Förderrücklage gleichran-
        gig – wie auch die übrigen Eigenkapitalbestandteile
        der KfW – zum Ausgleich etwaiger Verluste zur Verfü-
        gung steht. Diesen Vertragsänderungen haben sowohl
        der Unterausschuss Regionale Wirtschaftspolitik und
        ERP-Wirtschaftspläne am vergangenen Freitag als auch
        der Wirtschaftsausschuss am Mittwoch einstimmig zuge-
        stimmt, und ich gehe fest davon aus, dass heute auch der
        Deutsche Bundestag die vertraglichen Änderungen zur
        ERP-Förderrücklage I befürwortet. So weit die techni-
        schen Details.
        Zum anderen beraten wir heute über die Neuausrich-
        tung der KfW im Bereich des Wagniskapitalmarktes.
        Schon seit langem wissen wir, dass es in Deutschland
        im Vergleich zu anderen Staaten wie den USA, Israel
        oder Großbritannien noch erhebliche Reserven bei der
        Aktivierung von privatem Beteiligungskapital gibt. Laut
        OECD wird in den USA in Relation zum Bruttoinlands-
        produkt rund 12-mal so viel Wagniskapital investiert wie
        in Deutschland. Um aufzuschließen, müsste unser Wag-
        niskapitalmarkt von derzeit rund 800 Millionen Euro auf
        etwa 10 Milliarden Euro steigen.
        Es ist und bleibt richtig: Im Bereich der Zinsvergüns-
        tigungen ist die KfW unschlagbar. Die Mittelstandspro-
        gramme aus dem ERP-Sondervermögen gehören mit
        ihren zinsgünstigen Krediten zu den wichtigsten Instru-
        menten der deutschen Wirtschaftsförderung. Seit Jahren
        erreicht die KfW durch ihre sehr günstigen Refinan-
        zierungen Zusagen im Bereich der inländischen Wirt-
        schaftsförderung von jährlich über 50 Milliarden Euro.
        Allein im Jahr 2016 konnte die KfW insgesamt rund
        16 000 ERP-Kredite mit einem Gesamtvolumen von an-
        nähernd 5 Milliarden Euro bereitstellen. Allerdings – und
        darauf habe ich bereits im Bundestag bei den Beratungen
        zum ERP-Wirtschaftsplangesetz im Herbst 2016 hinge-
        wiesen – müssen sich die ERP-Programme immer wieder
        aufs Neue der Realität stellen; denn wir wollen, dass die
        Gelder den Mittelstand auch tatsächlich erreichen.
        Der Bundesrechnungshof hatte schon mehrfach da-
        rauf hingewiesen, dass das geplante Fördervolumen seit
        längerem nicht vollständig ausgeschöpft werde. Ich bin
        deshalb sehr froh, dass die KfW und die Bundesregie-
        rung diese Hinweise aufgegriffen haben und die Säule
        der Wagniskapital- und Beteiligungsfinanzierung der
        KfW deutlich und nachhaltig stärken wollen.
        Die deutsche Wirtschaft benötigt dringend bessere
        Fördermöglichkeiten im Bereich der Wagnis- und Risi-
        kokapital- sowie Mezzaninfinanzierung. Während für
        innovative Unternehmen in der Gründungsphase ausrei-
        chend öffentliches Kapital vorhanden ist, mangelt es in
        Deutschland gerade in der besonders kapitalintensiven
        Wachstumsphase an Geld, in einer Phase, wo die Unter-
        nehmen von den Banken oftmals noch kein Geld erhal-
        ten. Dieses Problem betrifft insbesondere Unternehmen
        in den besonders kapitalintensiven Technologiefeldern
        wie zum Beispiel Cleantech, Life Science oder Medizin-
        technik.
        Wir wissen nur zu gut, was daraus folgt, wenn in
        Deutschland nicht ausreichend Wagniskapital über alle
        Phasen von unternehmerischen Innovationen zur Verfü-
        gung steht: Sie suchen sich ausländische Kapitalgeber,
        die es in den USA und teilweise auch anderswo gibt. Sie
        wandern aus und bauen im Erfolgsfall ihr Unternehmen
        im Ausland auf. – Wir sollten kein Interesse daran haben,
        dass Ideen in Deutschland entstehen, in der Frühphase
        gut gefördert werden und nur, weil die problematische
        Wachstumsphase nicht finanzierbar ist, Know-how, Be-
        schäftigung und unternehmerischer Erfolg abwandern
        müssen. Als eine der führenden Volkswirtschaften, die
        sich auf dem Weg zur digitalen Industrie- und Arbeits-
        welt befindet, können wir uns diese Abwanderung nicht
        länger leisten.
        Es ist an der Zeit, zu handeln. Deshalb finde ich es
        richtig, dass der Anpassungsvertrag auch die entschei-
        denden Eckpunkte für eine substanzielle Intensivierung
        des KfW-Engagements im Bereich Wagniskapital- und
        Beteiligungsfinanzierung enthält.
        Im Unterausschuss haben wir die ersten Details der
        Planungen mit Vertretern der KfW und des BMWi in-
        tensiv diskutiert. Bei einer Expertenanhörung in der ver-
        gangenen Woche haben wir von Sachverständigen von
        Banken, Kapitalbeteiligungsgesellschaften und Fonds
        erfahren, wo genau der Bedarf gesehen wird. Die Ein-
        schätzungen der Experten stimmen mit unseren überein:
        Wagniskapital wird insbesondere in der Wachstumsphase
        gebraucht. Benötigt werden vor allem größere Finanzie-
        rungssummen. Eine Lücke besteht gerade im Bereich der
        Hightechbranchen wie Medizintechnik. Synergien mit
        den Landesbanken wie etwa der NRW-Bank oder der
        Bürgschaftsbank Brandenburg, die kleinere Finanzierun-
        gen anbieten, wären sinnvoll. Eine neue Sparte im Be-
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 201723038
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        reich Wagniskapital- und Beteiligungsfinanzierung bei
        der KfW würde vor allem mehr privates Fondskapital
        anregen. – Gerade den letzten Punkt möchte ich betonen:
        Die KfW wäre aus meiner Sicht der ideale Ankerinvestor
        für bedeutend mehr privates Kapital. Allein aus öffent-
        lichen Mitteln können die Kapitalbedürfnisse nicht ge-
        schultert werden.
        Alles in allem haben die Experten der Anhörung die
        Gründung einer inländischen Beteiligungsgesellschaft
        der KfW befürwortet. Auch der Unterausschuss steht die-
        sem Ziel positiv gegenüber und hat deshalb den Antrag
        der Bundesregierung einstimmig angenommen.
        Die SPD-Bundestagsfraktion wird den Aufbau einer
        Beteiligungsgesellschaft intensiv begleiten. Wir haben
        mit unserem Koalitionspartner und den Grünen einen
        Entschließungsantrag eingebracht, der Maßgaben an die
        Bundesregierung enthält. Es ist uns sehr wichtig, dass
        die Finanzierungssäule des Beteiligungskapitals deutlich
        und nachhaltig gestärkt wird. Klar ist, dass dies Schritt
        für Schritt geschehen muss.
        Wir erwarten, dass die Bundesregierung in Zusam-
        menarbeit mit der KfW bis Juni 2017 ein Gesamtkonzept
        erstellt und dem Deutschen Bundestag übermittelt. Die
        Struktur-, Rechts- und Finanzierungselemente der subs-
        tanziellen Intensivierung des KfW-Engagements müssen
        klar definiert und geregelt sein.
        Unser Ziel in den kommenden Jahren ist eine Ver-
        dopplung des Wagniskapitalvolumens in Deutschland
        zum Vergleichsjahr 2016 durch Privatwirtschaft, Bund,
        KfW und unter Einbeziehung europäischer Finanzpart-
        ner. Dabei wird die KfW als Ankerinvestor eine entschei-
        dende Rolle spielen.
        Entscheidend ist für uns, dass das Substanzerhal-
        tungsgebot des ERP-Sondervermögens gewahrt und die
        Risikotragfähigkeit und angemessene Kapitalausstattung
        der KfW gesichert bleiben. Wir erwarten darüber hinaus,
        dass dem Bundestag jährlich ein aussagekräftiger Bericht
        vorgelegt wird, der die aktuelle Situation beim ERP-Son-
        dervermögen bei der KfW-Beteiligungsfinanzierung aus-
        führlich darstellt.
        Der eingeschlagene Weg zum Ausbau der Beteili-
        gungsfinanzierung ist notwendig und richtig. Ich bitte Sie
        um Zustimmung zum Anpassungsvertrag zur ERP-För-
        derrücklage und zum Entschließungsantrag der Koaliti-
        onsfraktionen und der Fraktion der Grünen.
        Thomas Nord (DIE LINKE): Wir diskutieren heute
        einen Entschließungsantrag über den Anpassungsvertrag
        für die ERP-Förderrücklage zwischen dem Ministerium
        für Wirtschaft und der KfW. Im Kern geht es um zwei
        Dinge: erstens um die Härtung der ERP-Förderrücklage I
        als Kernkapital für die KfW und zweitens um die Ver-
        wendung der daraus zu erwartenden Erträge als Wagnis-
        kapital und Beteiligungsfinanzierung.
        Zu Ersterem ist zu sagen, dass mit dem Erlass des
        ERP-Wirtschaftsförderungsneuordnungsgesetzes von
        2007 die aus dem ERP-Sondervermögen finanzierte
        Wirtschaftsförderung neu geordnet wurde. Heute gelten
        neue aufsichtsrechtliche Anforderungen für die KfW;
        diese resultieren aus europäischem Recht und sind ent-
        sprechend anzuwenden. Unter anderem aus diesen Grün-
        den verlangt die BaFin eine zügige Anpassung der betref-
        fenden Regelungen des Durchführungsvertrages, damit
        die ERP-Förderrücklage als hartes Kapital zur Verfügung
        steht. Dem sollten wir nachkommen.
        Zweitens geht es um die Verwendung der dabei wahr-
        scheinlichen Steigerungen der Erträge aus dem ERP-SV.
        Die vom Bundesrechnungshof 2016 festgestellte Un-
        terauslastung des ERP-Förderpotenzials muss reduziert
        werden.
        Mit den bisherigen ERP-Förderprogrammen konnte
        die vorgesehene Förderleistung, beispielsweise zinsver-
        billigte Kleinkredite, nicht erreicht werden. Zugleich
        gibt es im Bereich „Wagniskapital und Beteiligungsfi-
        nanzierung“ eine Finanzlücke. Um den technologischen
        Wandel besser zu unterstützen, soll die Finanzierung von
        Start-ups unter anderem im Bereich digitaler Technologi-
        en weiterentwickelt und ausgeweitet werden.
        Im Ergebnis soll dies zu einer substanziellen Intensi-
        vierung des KfW-Engagements im Venture Capital füh-
        ren. In mehreren Stufen soll ein marktrelevantes Volumen
        für Beteiligungsfinanzierung in Deutschland mithilfe der
        KfW aufgebaut werden. Im Vergleich zum Jahr 2016 soll
        das Wagniskapitalvolumen in Deutschland durch Privat-
        wirtschaft, Bund, KfW und unter Einbeziehung europäi-
        scher Finanzpartner verdoppelt werden.
        Die Linke stimmt der Einschätzung zu, dass gerade
        Start-ups im Hightechbereich und im Bereich der digi-
        talen Technologien deutlich zur Verbesserung der wirt-
        schaftlichen Entwicklung beitragen können, was aber
        ohne einen erhöhten Ansatz an Risikokapital nicht funk-
        tionieren wird. Insbesondere auch für die wirtschaftliche
        Entwicklung in Berlin, Brandenburg und weiteren Wirt-
        schaftskernen im Osten sind die Förderung von Start-ups
        und die Sicherung ihrer langfristigen Entwicklung in der
        Region von besonderer Bedeutung.
        Dieses Engagement der KfW im VC-Bereich verlangt
        den Aufbau eines eigenständigen Geschäftsbereichs für
        Beteiligungsmanagement in der KfW. Dies fordert je-
        doch eine große Transparenz und starke Kontrolle.
        Bis Juni 2017 soll die KfW dem Deutschen Bun-
        destag ein kohärentes Gesamtkonzept übermitteln. Die
        Linke erwartet, dass die Struktur-, Rechts- und Finan-
        zierungselemente der substanziellen Intensivierung des
        KfW-Engagements darin klar definiert und geregelt sind.
        Wir werden diese Elemente bei aller konstruktiven Be-
        gleitung einer sehr kritischen Überprüfung unterziehen.
        Es kommt darauf an, eine für die Erfordernisse des
        Mittelstands geeignete institutionelle, personelle, beihil-
        ferechtliche und aufsichtsrechtlich transparente Struktur
        zu erarbeiten, in der die substanzielle Erweiterung des
        KfW-Engagements im Bereich Wagniskapital-, Beteili-
        gungs- und Mezzaninfinanzierungen dauerhaft umge-
        setzt werden kann.
        Wichtig ist für die Linke, dass das Substanzerhal-
        tungsgebot des ERP-Sondervermögens gewahrt bleibt.
        Wichtig ist es, auch zukünftig angemessene Rückstellun-
        gen zu bilden, um Sonderbelastungen für das ERP-SV zu
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 23039
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        vermeiden. Wichtig ist, ein ausreichendes Kapitalpolster
        oberhalb des realen Vermögenssubstanzerhalts zu ge-
        währleisten.
        Die Linke dringt darauf, dass der Deutsche Bundes-
        tag im Rahmen der jährlichen Berichterstattung über die
        ERP-Förderung jeweils bis Mitte des Jahres über die ak-
        tuelle Situation des ERP-Sondervermögens im Allgemei-
        nen und die KfW-Beteiligungsfinanzierung im Besonde-
        ren detailliert informiert wird.
        Bei der Erarbeitung des Entwurfs des ERP-Wirt-
        schaftsplangesetzes soll auch zukünftig die substanziel-
        le Intensivierung des Engagements der KfW im Bereich
        Beteiligungsfinanzierung berücksichtigt werden. Die
        Planungsansätze für Beteiligungs- und Kreditfinanzie-
        rung sollen getrennt ausgewiesen und nachvollziehbar
        erläutert werden.
        Für die Linke erfordert die Zustimmung zum Engage-
        ment im Risikokapital einen hohen Vertrauensvorschuss
        für die KfW. Jüngste Überweisungspannen vor allem bei
        Überweisungen werfen da Fragen auf, ob das gerecht-
        fertigt ist. Trotz dieser Bedenken stimmt die Linke dem
        Antrag zu.
        Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Mit der heutigen Vertragsanpassung wollen wir
        das Engagement im Bereich der Wagniskapital- und
        Beteiligungsfinanzierung verstärken. Das ist ein rich-
        tiger Schritt und ein wichtiges Signal, das wir Grüne
        ausdrücklich befürworten; denn für Gründer und junge
        aufstrebende Unternehmen ist die Finanzierung – vor
        allem in der Wachstumsphase – eine, wenn nicht die
        entscheidende Hürde bei der Entwicklung ihres unter-
        nehmerischen Vorhabens. Im Vergleich insbesondere mit
        den USA ist der Anteil der Wagniskapitalinvestitionen
        am BIP in Deutschland fast verschwindend: Während in
        den USA die Investitionen mit Wagniskapital, kurz VC
        für Venture Capital, mit 60 Milliarden US-Dollar jähr-
        lich beziffert werden, beträgt das VC in Deutschland nur
        800 Millionen Euro, also etwas mehr als ein Hundertstel
        des in den USA investierten VC. Dabei beträgt der Grö-
        ßenunterschied der Volkswirtschaften nur das Zehnfache.
        Und der Trend ist eher negativ in Deutschland: Von 2015
        zu 2016 verzeichnet Deutschland laut Bericht des Wirt-
        schaftsministeriums einen Investitionsrückgang um be-
        achtliche 30 Prozent im VC-Bereich. Diesem Trend gilt
        es zu begegnen.
        Der Wettbewerb um gute Ideen und Unternehmen
        wird am Unternehmen Mobileye beispielhaft deutlich.
        1999 in Israel gegründet, hat das Unternehmen sich eine
        Führungsposition bei der Digitalisierung im Fahrzeug-
        bereich erarbeitet. So stellt das Unternehmen heute die
        Prozessoren für autonom fahrende Fahrzeuge her. Einer
        der Hauptabnehmer ist BMW. Künftig wird Mobileye
        wohl die komplette künstliche Intelligenz zur Fahrzeug-
        steuerung insbesondere für BMW entwickeln. Die Zu-
        kunftstechnologie auch im Bereich des Fahrzeugwesens
        wird sich verlagern vom konstruktiven Kraftfahrzeug-
        bau, in dem man Deutschland eine technologische Spit-
        zenposition zuschreibt, zu den digitalen Technologien.
        Der Wert des Autos wird nicht mehr die Fahrzeugtechnik,
        sondern die Intelligenz der Fahrersysteme sein, daneben
        ganz besonders auch die Qualität der internetbasierten
        Servicebereitstellung. Warum erwähne ich das? Mobil-
        eye wurde am 13. März 2017 von einem amerikanischen
        Chipgiganten aufgekauft, Kaufpreis 15,3 Milliarden
        US-Dollar. Eine solche Summe müsste ein VC-Fonds
        stemmen können – um die Unabhängigkeit eines solchen
        Unternehmens zu bewirken – oder müsste, will man die
        Technologie in Deutschland halten, hier in Deutschland
        aufgebracht werden.
        Von solchen Dimensionen sind wir in Deutschland
        noch weit entfernt. Bei uns in Deutschland stehen Finan-
        zierungsrunden im zweistelligen Millionenbereich im
        Fokus, also junge Unternehmen „in der Pubertät“, wie in
        der Anhörung bezeichnet. Aber wir müssen uns in einem
        immer dynamischeren Umfeld auch an Investitionen mit
        weit höheren Volumina herantrauen; Zielmarke ist aber
        erst einmal der dreistellige Millionenbetrag. Und dafür
        gilt es, die geeigneten Strukturen innerhalb der KfW zu
        schaffen.
        Die Grünenfraktion unterstützt das verstärkte
        KfW-Engagement. Aus diesem Grund haben wir uns
        im Wirtschaftsausschuss dem gemeinsamen Entschlie-
        ßungsantrag der Koalitionsfraktionen angeschlossen.
        Doch wir sollten uns, bei aller Euphorie, nicht besof-
        fen reden. Dass das Wagniskapitalengagement gerade
        jetzt – mit Blick auf den Wahlkampf möchte man sagen
        „noch“ – ausgeweitet wird, ist den aufsichtsrechtlichen
        Bestimmungen geschuldet, genauer: den Eigenkapitalan-
        forderungen der BaFin. Es wäre falsch, zu behaupten,
        dass ein ausdrücklicher politischer Wille hinter diesem
        Projekt stand. Vielmehr müssen wir der Großen Koaliti-
        on an dieser Stelle eine Nichterfüllung der selbst verein-
        barten Ziele attestieren. So heißt es im Koalitionsvertrag
        von 2013: „Wir werden Deutschland als Investitions-
        standort für Wagniskapital international attraktiv machen
        und dafür ein eigenständiges Regelwerk (Venture-Capi-
        tal-Gesetz) … erlassen, das unter anderem die Tätigkeit
        von Wagniskapitalgebern verbessert.“ Auf ein solches
        Gesetz warten wir bis heute.
        Inhaltlich gibt es noch einige wichtige Ergänzungen
        und Anmerkungen zu den vorgelegten Eckpunkten. Zen-
        tral ist uns die realistische Risikobewertung bei der Be-
        reitstellung von Eigenkapital. Die Investments können
        im schlechtesten Fall vollständig aufgezehrt werden.
        Über dieses Risiko sollten sich alle Beteiligten klar sein
        und es einkalkulieren. Insbesondere wird die ins Auge
        gefasste Beteiligungsgesellschaft – unabhängig von der
        gesellschaftsrechtlichen Form – durch eine Lernkurve
        gehen und Anfangsverluste in Kauf nehmen müssen.
        Und in der Sache selbst steckt natürlich ein anderes Ri-
        siko als das klassische Kreditrisiko: Wir können nicht
        so agieren, als könnte man die Eigenkapitalrisiken wie
        bei einem Kredit kontrollieren. Dies ist illusorisch. Die
        Besonderheiten des Geschäftsfeldes müssen auch bei
        der Risikosteuerung und den angewandten Steuerungs-
        modellen berücksichtig werden. Dies gilt unabhängig
        davon, ob die ins Auge gefasste Beteiligungsgesellschaft
        innerhalb oder außerhalb der KfW gegründet wird.
        Auch sollten wir die bisherigen KfW-Erfahrungen
        im Bereich Equity berücksichtigen. 2004 hat man sich
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 201723040
        (A) (C)
        (B) (D)
        sprunghaft aus dem Beteiligungsgeschäft verabschiedet.
        Damit hat man einen schlagartigen Verlust von Know-
        how in der Equity-Finanzierung hingenommen. Die
        entsprechenden Lehren zu ziehen, sich des langfristigen
        Zeithorizonts des Engagements bewusst zu machen, ist
        unabdingbar. Bei volatilen Entwicklungen mit kurzfris-
        tigen Werteinbußen darf nicht panisch das Geschäftsfeld
        abgebaut werden. Wir brauchen Nachhaltigkeit. Es muss
        die Entwicklung einer Lernkurve, der Aufbau von Know-
        how ermöglicht werden.
        Neben den Strukturen innerhalb einer künftigen Ge-
        sellschaft ist der Blick auf das Umfeld mindestens ge-
        nauso wichtig. Wie wir in der Anhörung unisono gehört
        haben, ist die Aktivierung privaten Kapitals „der Fla-
        schenhals, durch den wir müssen“. Aufgrund der beihil-
        ferechtlichen Vorgaben ist es wesentlich, dass zugleich
        zusätzliches privates Kapital aktiviert wird. Hierzu gibt
        es beispielsweise in Dänemark oder Österreich bereits
        Erfahrungen, von denen wir in Deutschland profitieren
        können und müssen.
        Am Ende des Tages ist das heute angestoßene Projekt
        auch eine „Kulturfrage“; denn Innovationen und Grün-
        dergeist erfordern eine gewisse Risikobereitschaft, die in
        Deutschland oft noch vermisst wird. Hier muss es gerade
        die Aufgabe für uns Politiker sein, das gesellschaftliche
        Umfeld zu entwickeln. Ein von mir persönlich bereits
        mehrfach vorgetragener Vorschlag ist ein mindestens
        vierwöchiges Praktikum in einem Unternehmen für je-
        den Schüler, unabhängig vom Schultyp, und nach Mög-
        lichkeit einzelne Besuche in Unternehmen schon im Vor-
        schul- und im Grundschulalter. Aber in diesem Bereich
        gibt es sicher noch viele weitere kreative Ideen; sie müs-
        sen nur umgesetzt werden.
        Wenn wir das Umfeld der Unternehmen in den Blick
        nehmen, benötigen wir – neben der Finanzierung – eine
        schnellere Entwicklung der Rahmenbedingungen, also
        zum Beispiel Datensicherheit, aber auch solche Din-
        ge wie Änderungen im Personenbeförderungsgesetz in
        Hinblick auf internetgestützte Mobilität oder rechtliche
        Rahmenbedingungen für das autonome Fahren. Sie sind
        entscheidend für den Erfolg neuer, innovativer Unterneh-
        men. Dabei haben wir eine Schere zwischen Anforderun-
        gen der Gesellschaft an spezifischere, den individuellen
        Gegebenheiten der einzelnen Person oder Personengrup-
        pe genügenden Regelungen einerseits und den immer
        schnelleren technischen und damit auch gesellschaftli-
        chen Änderungen auf der anderen Seite.
        Wir Grüne werden den Prozess weiterhin sehr kon-
        struktiv begleiten. Über die Parteigrenzen hinweg gilt es
        hier, Deutschland in Richtung Innovationsfreundlichkeit
        und Gründungskultur zu entwickeln. Ich kann nur hoffen,
        dass sich die konservativen Kräfte in der Union und der
        SPD hier nicht als zu stark erweisen, ganz zu schweigen
        von den rückwärtsgewandten Aussagen mancher Popu-
        listen, wobei Risiken nicht an die Seite geschoben wer-
        den dürfen; sie müssen adressiert und lösungsorientiert
        eingedämmt werden. Natürlich brauchen wir bei den auf
        uns zukommenden Herausforderungen und Veränderun-
        gen Augenmaß, aber auch Mut für die Zukunft. Wir Grü-
        ne haben diesen.
        Dirk Wiese (SPD): Wir beraten heute den Entschlie-
        ßungsantrag des Deutschen Bundestages zum Anpas-
        sungsvertrag ERP-Förderrücklage. Ich sehe das heute als
        Meilenstein. Wir haben in dieser Legislaturperiode eine
        wichtige Wegstrecke bei der Stärkung der Start-up-För-
        derung und der Beteiligungsfinanzierung hinter uns ge-
        legt. Wir haben Förderinstrumente wie das Programm
        INVEST ausgebaut und gesetzgeberische Maßnahmen
        ergriffen, etwa den neuen § 8d Körperschaftsteuergesetz
        zum Erhalt des Verlustvortrags.
        Auch dieser heute vorliegende Antrag zeigt, dass die
        Bundesregierung auf diesem Weg intensiv vom Parla-
        ment begleitet wurde und parlamentarische Interessen
        stark in den Prozess und in die Sache eingebracht wer-
        den. Denn wir stimmen heute nicht nur der Härtung eines
        Kapitalbestandteils des ERP-Sondervermögens in der
        KfW in Höhe von 4,65 Milliarden Euro zu. Wir legen
        hier und heute auch die Richtschnur zur Stärkung der Be-
        teiligungsfinanzierung in Deutschland.
        Hier hat Deutschland Nachholbedarf. Insbesondere
        junge innovative Unternehmen können nur mithilfe von
        Risikokapital gründen und wachsen. Und dieses Angebot
        gilt es zu stärken! Wir streben im Vergleich zu 2016 eine
        Verdopplung des Wagniskapitalvolumens durch Privat-
        wirtschaft, Bund, KfW und EU an. Dies wollen wir auf
        zweierlei Weise schaffen. In einem ersten Schritt wollen
        wir gemeinsam mit der KfW die bestehenden Wagnis-
        kapitalangebote wie Hightech Gründerfonds, Coparion
        und ERP-VC-Fondsinvestments ausbauen. Des Weiteren
        wollen wir bis Juni dieses Jahres in Zusammenarbeit mit
        der KfW ein kohärentes Konzept zum Aufbau beteili-
        gungsspezifischer Strukturen und Prozesse erstellen.
        Die Expertenanhörung im Wirtschaftsausschuss am
        22. März 2017 hat gezeigt, dass Ziel sein muss, private
        Mittel für Beteiligungsfinanzierung anzuziehen. Die Ex-
        perten haben sich deutlich für die Schaffung eigenständi-
        ger Strukturen im Rahmen einer KfW-Tochter – Beteili-
        gungsgesellschaft – ausgesprochen. Damit wird man auf
        dem Markt sichtbar und gibt ein dauerhaftes verlässliches
        Signal. Deutlich wurde auch, dass ein schnell agierender
        Marktpartner gefordert ist, der in seinen Entscheidungs-
        prozessen mit privaten Kapitalgebern mithalten und bei-
        hilfefrei agieren kann.
        Wir werden gemeinsam mit der KfW jetzt Strukturen
        erarbeiten, die dieses ermöglichen sollen. Wir werden
        den Deutschen Bundestag auch weiterhin in diesem Pro-
        zess beteiligen und bis Juni 2017 ein Konzept übermit-
        teln.
        Mit dieser Initiative schaffen wir wesentliche Voraus-
        setzungen für die Innovationskraft unserer Volkswirt-
        schaft und stärken den Standort Deutschland. Ich bitte
        um Ihre Zustimmung zum Entschließungsantrag.
        Anlage 8
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
        Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
        humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Abgeordne-
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 23041
        (A) (C)
        (B) (D)
        ten Annette Groth, Inge Höger, Wolfgang Gehrcke,
        weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
        LINKE: Willy-Brandt-Korps für eine solidarische
        humanitäre Hilfe (Tagesordnungspunkt 25)
        Frank Heinrich (Chemnitz) (CDU/CSU): Im Mai
        vergangenen Jahres haben wir über diesen Antrag ge-
        sprochen, und ich hatte damals schon die Gelegenheit,
        hierzu Stellung zu beziehen. Wir standen kurz vor dem
        ersten Humanitären Weltgipfel in Istanbul. UN-General-
        sekretär Ban Ki-Moon lud selbst dazu ein.
        Ich freue mich, zu sehen, dass sich das öffentliche
        Verständnis und die staatliche Bereitschaft in den vergan-
        genen Monaten weiter zum Positiven gewandelt haben.
        Bürgerinnen und Bürger verstehen immer besser, warum
        es so wichtig ist, dass wir humanitäre Hilfe wie auch Ent-
        wicklungszusammenarbeit leisten. Und die Bundesregie-
        rung hat für dieses Jahr 1,2 Milliarden Euro des Bundes-
        haushaltes für die Humanitäre Hilfe vorgesehen. Das ist
        gut, doch es ist auch notwendig!
        In dem Antrag werden als Begründung für die For-
        derung nach einem Willy-Brandt-Korps die großen He-
        rausforderungen an die internationale Hilfe genannt.
        Der Finanzierungsbedarf allein von Organisationen der
        Vereinten Nationen war 2015 nicht einmal zur Hälfte ge-
        deckt. Deshalb stimme ich Ihnen zu: Ja, wir müssen die
        humanitäre Hilfe mehr in den Fokus rücken. Und dabei
        müssen wir uns auch die Freiheit lassen, diese neu zu
        denken.
        Dass Planungssicherheit für Hilfsorganisationen be-
        steht und eine enge Zusammenarbeit mit lokalen NGOs
        gegeben sein muss, ist ein wichtiges Anliegen dieses An-
        trags. Und ich denke, da kann die Internationale Gemein-
        schaft noch besser werden, auch wenn wir hier schon in
        die richtige Richtung gehen. Doch eine Konkurrenz zu
        diesen NGOs und UN-Agenturen zu schaffen, sehe ich
        als den falschen Weg an. Sie zu stärken und ihnen zu hel-
        fen, dass sie ihre Arbeit sicher tun können, sollte unser
        Anliegen sein.
        Vor einigen Tagen waren spätabends noch Offiziere
        bei mir im Büro. Während unseres Gesprächs bemerkte
        eine von ihnen: Der Bundeshaushalt sieht doch vor, einen
        gewissen Anteil des BIP an die Armee zu geben. Könnten
        nicht 0,1 Prozent an die Arbeit der Heilsarmee gehen? –
        Die Offizierin war eben von der Heilsarmee, und natür-
        lich war die Frage von einem Augenzwinkern begleitet.
        Auch wenn das natürlich schwierig ist, hat der Gedan-
        ke einen wahren Kern. Wir müssen die unterstützen, die
        vor Ort Hilfe leisten. Es muss sichergestellt sein, dass sie
        die finanziellen Mittel, die Nahrung, das Personal haben,
        um den Menschen in Not zu helfen. Wir können, nein,
        wir dürfen es nicht akzeptieren, dass Kinder im Südsu-
        dan teilweise mit zehn Liter Wasser pro Tag auskommen
        müssen. Ich weigere mich, die Krise im Jemen oder in
        Nigeria einfach zu vergessen und die Menschen dort ver-
        recken zu lassen. Da müssen wir hinschauen. Und des-
        halb bin ich dankbar, wenn wir die Gelegenheit haben,
        diese Länder und das Schicksal einzelner Personen vor
        Ort hier auf die Tagesordnung zu bringen.
        Liebe Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Die Lin-
        ke, Sie fordern in Ihrem Antrag, dass Deutschland seine
        internationale Verantwortung ausschließlich mit zivilen
        Mitteln wahrnehmen soll. Genau hier liegt die Schiefla-
        ge Ihrer Sichtweise. Sie lassen uns keine andere Wahl,
        als den Antrag abzulehnen. Es wird nicht gefordert, zu-
        nächst alle diplomatischen und zivilgesellschaftlichen
        Instrumente zu nutzen. Die internationale Verantwortung
        der Bundesrepublik Deutschland soll zukünftig ohne die
        Bundeswehr wahrgenommen werden. Jedes militärische
        Eingreifen wird ausgeschlossen.
        Gerade das Beispiel Südsudan – erst vor ein paar
        Stunden durfte ich zu der Lage vor Ort sprechen – zeigt,
        dass die humanitäre Hilfe allein nicht die Probleme löst.
        Diese Krise ist nicht Resultat einer Naturkatastrophe,
        auch wenn El Niño natürlich die Situation noch verstärkt.
        Doch der Bürgerkrieg, der seit über drei Jahren wütet,
        kann nicht durch humanitäre Hilfe beendet werden. Die
        Regierung vor Ort tut momentan fast nichts, um der ei-
        genen Bevölkerung zu helfen. Warum soll Deutschland
        hier politisch keine Verantwortung übernehmen? Unser
        Botschafter in Juba ist es, der immer wieder mit dem Prä-
        sidenten spricht und ihn darin bestärkt, mit den verschie-
        denen ethnischen Gruppen in den Dialog zu treten. Ihr
        Antrag lässt vermuten, dass Sie die naive These vertre-
        ten, dass es nur schwarz oder weiß gibt, humanitäre Hil-
        fe oder Kriegseinsatz. Aber dass dazwischen noch eine
        Menge Spielraum ist, den wir nutzen können, ja nutzen
        sollen, lässt ihr Antrag und ein Willy-Brandt-Korps, wie
        Sie es fordern, gar nicht zu.
        Nein, es ist ein Antrag, der die Bundeswehr abschaffen
        und in eine Art zweites Technisches Hilfswerk umbau-
        en will. Die Bundesregierung verfügt jedoch durch das
        THW schon über einen sehr leistungsfähigen Akteur in
        der Katastrophenhilfe. Es leistet technische Hilfe im Zi-
        vilschutz und in der Katastrophenbekämpfung.
        Das Engagement der über 80 000 ehrenamtlichen Hel-
        ferinnen und Helfer des THW verdient unser aller Aner-
        kennung. Deshalb haben wir im November letzten Jahres
        beschlossen, die Mittel für das THW auf 260 Millionen
        Euro aufzustocken und ein Förderprogramm zur Fahr-
        zeugbeschaffung in Höhe von 100 Millionen Euro zur
        Verfügung zu stellen. Damit erhält das THW insgesamt
        170 zusätzliche Stellen. Und damit können insgesamt bis
        2023 mehr als 621 Lkw und Bergungsräumgeräte ange-
        schafft und ausgetauscht werden.
        Hier wird schon viel erfüllt, was die Linken mit ihrem
        Willy-Brandt-Korps fordern.
        Unsere Bundeswehr als Parlamentsarmee hat einen
        zentralen sicherheits- und friedenspolitischen Ansatz.
        Sie schreiben in Ihrem Antrag, dass die Vermischung
        von politischen, militärischen und humanitären Zielen
        gefährlich ist. Da stimme ich Ihnen zu. Doch das Ziel,
        Frieden, Sicherheit und Entwicklung in einem Land zu
        schaffen, kann nicht nur auf einem Weg erreicht werden
        und braucht ein Zusammenspiel vieler unterschiedlicher
        Akteure.
        Das Weißbuch 2016, das im vergangenen Jahr von
        unserer Verteidigungsministerin vorgestellt wurde, zeigt
        deutlich, wie wichtig dieses Zusammenspiel ist und dass
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 201723042
        (A) (C)
        (B) (D)
        dieses von der Bundesregierung ausdrücklich gefördert
        wird. Dazu gehört die humanitäre Versorgung durch zi-
        vile und öffentliche Organisationen, doch eben auch ein
        Instrument, das es den Organisationen gewährleistet, zu
        den Menschen in Not sicher zu gelangen und dabei nicht
        selbst Zielscheibe von Gewalt und Krieg zu werden. Ge-
        nau für diese Sicherheit sorgt unsere Bundeswehr. Das
        Grundverständnis eines jeden Soldaten in der deutschen
        Bundeswehr ist es, der Allgemeinheit zu dienen und für
        das Wohl derer einzutreten, die sich selber nicht verteidi-
        gen können oder wollen.
        Es heißt nun, in dem Zusammenspiel Missbrauchs-
        möglichkeiten zu minimieren, aber das Prinzip der ge-
        meinsamen Zielerreichung voranzubringen und in guter
        Zusammenarbeit Konflikt- und Krisensituationen immer
        weiter zurückzudrängen. Doch Ideologien sind kein Er-
        satz für eine verantwortungsbewusste wertegeleitete Au-
        ßen- und Sicherheitspolitik.
        Ich möchte meine Ausführungen schließen mit einer
        persönlichen Erfahrung, die ich mit der Bundeswehr und
        ihrem Einsatz gemacht habe, und das in dem nicht gerade
        unumstrittenen Einsatz in Afghanistan. Die International
        Security Assistance Force ist schon über 13 Jahre dort
        vor Ort. Viel wurde seither erreicht. Deutschland betei-
        ligt sich seit dem 1. Januar 2015 an Resolute Support
        mit mittlerweile 980 deutschen Soldaten. In der Regi-
        on Masar-i-Scharif konnte ich zusammen mit Kollegen
        vor einiger Zeit mit verschiedenen Vorsitzenden lokaler
        NGOs sprechen. Ich werde nie vergessen, wie sie uns für
        den Einsatz unserer Bundeswehr dankten. Seit die deut-
        schen Schutztruppen für Sicherheit sorgen, können ihre
        Kinder wieder ungehindert Bildungsangebote und Ge-
        sundheitsvorsorge wahrnehmen. Sie müssen keine Angst
        mehr haben, dass die Taliban ungehindert um sich schie-
        ßen kann. Natürlich gibt es auch kritische Stimmen, und
        es wird nicht alles perfekt laufen; aber diese Begegnung
        zeigt mir, wie wichtig der Einsatz unserer Bundeswehr
        ist.
        In der Erklärung „Gerechter Friede“ der deutschen Bi-
        schöfe von 2000 heißt es: „Eine Welt, in der den meisten
        Menschen vorenthalten wird, was ein menschenwürdi-
        ges Leben ausmacht, ist nicht zukunftsfähig. Sie steckt
        auch dann voller Gewalt, wenn es keinen Krieg gibt.“
        Ich möchte werben und selbst dafür eintreten, dass im-
        mer mehr Menschen das nicht nur wissen, sondern auch
        erleben. Ich will, dass Menschen weltweit eine Zukunft
        haben. Ich will, dass sie wissen, wer sie sind und was sie
        ausmacht. Ich will, dass sie in Sicherheit leben können.
        Dafür müssen wir humanitäre und politische Verantwor-
        tung übernehmen. Doch manchmal ist eine militärische
        Option eine letzte politische Notwendigkeit, um dieses
        Ziel zu erreichen. Diese von vornherein komplett auszu-
        schließen, halte ich für feige und verantwortungslos.
        Dr. Ute Finckh-Krämer (SPD): Mit dem Antrag der
        Linken wird ein wichtiges Thema angesprochen. Aller-
        dings greift der Antrag zu kurz, denn wir haben bereits
        Strukturen für internationale humanitäre und die Kata-
        strophenhilfe. Es macht daher aus meiner Sicht keinen
        Sinn, dafür ein neues Instrument zu entwickeln. Das wür-
        de zu Doppelstrukturen führen, und genau die sollten wir
        vermeiden, wenn wir effektive Hilfe leisten wollen.
        Auf die Vielfalt der humanitären Hilfsorganisationen
        in Deutschland bin ich bereits in der ersten Lesung des
        Antrags am 12. Mai 2016 eingegangen.
        In dem Antrag wird der Humanitäre Weltgipfel ange-
        sprochen, der am 23. und 24. Mai 2016 abgehalten wur-
        de. Ich habe in meiner Rede zur ersten Lesung zusätzlich
        den Flüchtlingsgipfel in New York angesprochen, und
        wir haben in diesem Haus nach dem Gipfel bereits über
        die Ergebnisse diskutiert. Nun bietet sich die Gelegen-
        heit, kurz Bilanz zu ziehen: Was haben wir auf dem Hu-
        manitären Weltgipfel erreicht, was haben wir getan, was
        ist noch zu erledigen?
        Bei dem Gipfel ging es nicht um Finanzzusagen, son-
        dern um strukturelle Reformen der globalen humanitä-
        ren Hilfe. Deutschland hat auf dem Gipfel insbesondere
        zugesagt, die finanziellen Strukturen zu stärken und ei-
        nen Paradigmenwechsel hin zu vorausschauender Hilfe
        zu unterstützen. Konkret wollen wir insbesondere den
        Schutz für Klimaflüchtlinge stärken.
        Bereits im Jahr 2012 hat Deutschland damit begon-
        nen, Mechanismen für vorausschauende Hilfe zu etablie-
        ren. Am 1. Juli 2016 hat es zusammen mit Bangladesch
        den Vorsitz der „Platform on Disaster Displacement“
        übernommen. Wir befinden uns gerade in der Testpha-
        se des Aufbaus eines Systems, das Vorwarnungen und
        damit schnelle Handlungsfähigkeit im Katastrophenfall
        ermöglicht. Diese Aktivitäten werden vom Deutschen
        Roten Kreuz unterstützt.
        Auf dem Gipfel haben wir 174 Zusagen über die ge-
        meinsamen Vereinbarungen hinaus gegeben. Auf der
        „Platform for Action, Commitments and Transforma-
        tion“, PACT, sind die Zusagen aller Teilnehmerstaaten
        des Gipfels veröffentlicht. Sie lassen sich dort nachlesen.
        Fortschritte bei der Umsetzung können die Akteure dort
        selbst eintragen.
        Organisatorisch will ich besonders die Rolle des Bü-
        ros der Vereinten Nationen zur Koordinierung der Huma-
        nitären Hilfe – Office for Coordination of Humanitarian
        Aid, OCHA – betonen. Es soll die Umsetzung der Vor-
        haben des Gipfels beobachten und darüber regelmäßig
        Bericht erstatten.
        Ich komme zur deutschen humanitären Hilfe. Mit Ih-
        rem Antrag ignorieren Sie die humanitäre Hilfe, die wir
        in Zusammenarbeit mit Hilfsorganisationen und Nichtre-
        gierungsorganisationen bereits leisten. Die Koalition hat
        auf Betreiben der SPD die Mittel für humanitäre Hilfe
        dauerhaft deutlich erhöht und dem realen Bedarf ange-
        nähert.
        Darüber hinaus haben wir bereits eine funktionierende
        technische Institution, das Technische Hilfswerk, THW,
        das nationale und internationale Katastrophen- und hu-
        manitäre Hilfe leistet. Das THW führt Projekte mit den
        Vereinten Nationen durch und ist in den Zivil- und Ka-
        tastrophenschutz der Europäischen Union bestens inte-
        griert. Es war schon in mehr als 130 Ländern im Einsatz.
        Als Beispiele will ich die Unterstützung bei der Flut in
        Polen 2010 und die Hilfe für die Menschen in Indonesi-
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 23043
        (A) (C)
        (B) (D)
        en nach dem Tsunami 2004 nennen. Sie sehen: Mit dem
        Vorschlag der Linken würden wir nicht etwas qualitativ
        Neues, sondern lediglich Doppelstrukturen schaffen.
        Das andere große Thema, gerade angesichts der ka-
        tastrophalen humanitären Lage im Nahen und Mittleren
        Osten, ist die Flüchtlingsfrage. Deutschland leistet in
        großem Umfang humanitäre Hilfe in der Region. Auch
        das THW war dort am Aufbau von Flüchtlingsunter-
        künften und der Versorgung von Flüchtlingslagern mit
        funktionierenden Wasser- und Abwassersystemen be-
        teiligt. Deutschland hat in den letzten Jahren zusätzlich
        eine große Zahl von Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlin-
        gen aufgenommen. Hier möchte ich besonders auf die
        vielen Menschen in Deutschland hinweisen, die täglich
        dabei helfen, Flüchtlinge zu integrieren. Leider war es
        in der Europäischen Union nicht möglich, zu einer ein-
        heitlichen Flüchtlingspolitik zu kommen. Die bisherigen
        Ergebnisse, wie das Abkommen mit der Türkei und die
        Abgrenzungspolitik im Mittelmeer, sind auf Dauer keine
        Lösung. Wer glaubt, dadurch das Flüchtlingsproblem lö-
        sen zu können, denkt völlig unrealistisch.
        Im letzten Jahr gab es im September zwei Gipfel in
        New York zu diesem gegenwärtig dringlichsten humani-
        tären Problem der globalen Flucht und Zwangsmigrati-
        on: den Flüchtlingsgipfel der Vereinten Nationen in New
        York und, auf Einladung des damaligen US-Präsidenten
        Barack Obama, einen Gipfel, der konkrete Hilfszusagen
        bringen sollte. Auf dem Weltflüchtlingsgipfel der Verein-
        ten Nationen wurde beschlossen, bis 2018 einen globalen
        Flüchtlingspakt zu erarbeiten. Zum US-Flüchtlingsgip-
        fel, bei dem unter anderem auch Deutschland Mitgast-
        geber war, haben die 52 teilnehmenden Länder die Zu-
        sage gemacht, 360 000 Flüchtlinge aufzunehmen. Am
        Ergebnis beider Gipfel kann man sehen, dass trotz Fort-
        schritten die Arbeit mühsam bleibt. Außerdem wurden
        Maßnahmen vereinbart, die Bildungs- und Ausbildungs-
        möglichkeiten für Flüchtlingskinder und Jugendliche zu
        verbessern. Solange man nicht auf der internationalen
        Ebene zu substanziellen Verbesserungen kommt, können
        wir nur mit den Mitteln, die wir haben, arbeiten und diese
        Schritt für Schritt verbessern.
        Wie ich am Humanitären Weltgipfel und dessen Fol-
        low-up-Prozess gezeigt habe, engagiert sich Deutschland
        intensiv. Wir sollten weiterhin die bestehenden Struktu-
        ren, national und international, unterstützen und in ihrer
        Handlungsfähigkeit stärken. Die Vielfalt der bestehenden
        Organisationen mit unterschiedlichen Kompetenzen und
        Fähigkeiten bieten eine gute Grundlage dafür.
        Zusammenfassend kann ich sagen: Obwohl der Antrag
        wichtige Themen anspricht und es gut und notwendig ist,
        darüber zu diskutieren, fehlen die Voraussetzungen für
        eine Zustimmung. Ich denke, wir befinden uns mit unse-
        rer Politik auf einem guten Weg.
        Inge Höger (DIE LINKE): Nach Angaben des Aus-
        wärtigen Amtes vom letzten Jahr hat sich die Zahl der
        Menschen, die dringend auf humanitäre Hilfe angewie-
        sen sind, in den letzten zehn Jahren vervierfacht: Welt-
        weit sind es heute mindestens 125 Millionen. Die welt-
        weite humanitäre Lage bleibt unübersehbar. In Ostafrika
        bedroht derzeit eine Hungersnot das Leben Tausender
        Menschen; aktuell gibt es Hungertote im Nordosten Ni-
        gerias, in einigen Dörfern dort leben keine Kinder unter
        fünf Jahren mehr. Weltweit zählen wir über 40 Millionen
        Binnenflüchtlinge und mehr als 20 Millionen Menschen,
        die außerhalb ihres Heimatstaates Zuflucht suchen. Ex-
        treme Armut, Hunger, Wassermangel, fehlende Gesund-
        heitsversorgung und Epidemien verlangen dringend tat-
        kräftige humanitäre Hilfe.
        Das millionenfache Leid ist keine zufällige Entwick-
        lung. Eine Ursache sind ungleiche Handelsbeziehungen.
        Insbesondere durch westliche Freihandels- und Inves-
        titionsschutzabkommen werden Entwicklungsländer
        wirtschaftlich geschröpft und ihre sozio-ökonomischen
        Grundlagen zerstört. Zunehmend entzieht ebenso der
        Klimawandel vielen Menschen ihre Lebensgrundlage,
        insbesondere durch Dürren und Flutkatastrophen. Der
        Klimawandel, der sowohl zu Überschwemmungen als
        auch zu verheerenden Dürreperioden führt, ist das Pro-
        dukt der profitorientierten Wirtschaftsaktivität der west-
        lichen Industriestaaten.
        Eine wichtige Ursache der sozialen Zerstörung sind
        zudem Kriege, welche durch zahlreiche westliche Mili-
        tärinterventionen und Rüstungsexporte geschürt werden.
        Unter den größten Herkunftsländern bei Geflüchteten
        befinden sich beispielsweise Afghanistan und Somalia.
        Das sind Staaten, in denen die Bundeswehr seit Jahren in
        militärischen Auslandseinsätzen aktiv ist, vorgeblich zur
        Herstellung von nationaler Sicherheit und zum Schutz
        der Bevölkerung. Real geht es um die Umsetzung geopo-
        litischer und geoökonomischer Interessen.
        Statt dieser Militärinterventionen muss die Bundesre-
        gierung ihre internationale Verantwortung deutlich mehr
        und ausschließlich zivil wahrnehmen. Im Haushaltse-
        tat für 2017 ist eine derartige Strategie nicht erkennbar.
        Während lediglich rund 1,2 Milliarden Euro für huma-
        nitäre Hilfsmaßnahmen bereitstehen, steigt der Wehretat
        um 2,7 Milliarden Euro auf insgesamt über 37 Milliarden
        Euro. Obwohl die Bundeswehr explizit keinen humani-
        tären Auftrag hat, greift die Bundesregierung bei großen
        Krisen immer wieder auf die personelle und logistische
        Infrastruktur der Bundeswehr zurück. Eine auf Kriegs-
        führung spezialisierte Armee im Einsatz für humanitäre
        Hilfsmaßnahmen bedeutet eine Vermischung militäri-
        scher Interessen mit ureigenen zivilen Aufgaben!
        Für den Schutz der Bevölkerung in akuten Krisensi-
        tuationen sind zivile Maßnahmen zur humanitären Ver-
        sorgung der richtige Schritt. Entscheidend ist dabei, dass
        ausreichend finanzielle Mittel vorhanden sind, die nöti-
        ge Schnelligkeit gegeben ist und die beteiligten Akteure
        aufeinander abgestimmt arbeiten. Nötig sind zivile Ka-
        pazitäten; dazu gehören Transportflugzeuge, Hubschrau-
        ber, Schiffe, Lastwagen, mobile Krankenhäuser sowie
        Logistikzentren und weitere technische Hilfsmittel. Das
        sind notwendige Voraussetzungen, um in Katastrophen-
        gebieten flexibel Hilfe leisten zu können. Für eine zivile
        humanitäre Hilfe müssen diese durch Konversionsmaß-
        nahmen aus dem Bestand der Bundeswehr umgerüstet
        oder notfalls neu angeschafft werden.
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 201723044
        (A) (C)
        (B) (D)
        Deshalb beantragt die Linke, logistische Hilfe ab so-
        fort durch eine unabhängige Instanz und nicht über die
        Bundeswehr zu organisieren. Die Aufstellung eines zivi-
        len Willy-Brandt-Korps für internationale Katastrophen-
        hilfe, ein Gemeinschaftswerk aus zivilgesellschaftlichen
        und öffentlichen Organisationen, ist unseres Erachtens
        die richtige Antwort auf den genannten massiven Bedarf
        an humanitärer Hilfe und die dafür benötigte Infrastruk-
        tur. Auf diese Weise kann die Neutralität von humanitärer
        Hilfe gewährleistet werden. Eine feste und ausreichende
        Finanzierung muss sichergestellt werden, eine zuver-
        lässige Koordinierung gewährleistet und die öffentliche
        Kontrolle über die internationale humanitäre Hilfe der
        Bundesregierung verbessert werden.
        Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Der Antrag der Linken fordert, jegliches militäri-
        sches Engagement im Ausland abzuschaffen. Das betrifft
        also auch die friedenserhaltenden Missionen der Verein-
        ten Nationen, die ja weitgehend gewaltfrei – wenn auch
        mit militärischer Unterstützung – zivile Ziele verfolgen.
        Damit fordert die Linke, eines der wichtigsten frieden-
        spolitischen Instrumente, das die Weltgemeinschaft be-
        sitzt, abzuschaffen.
        Dass die Aufgabe der friedenserhaltenden Missionen
        unendlich schwierig ist, ist keine Frage. Das ist aber kein
        Grund, sie nicht anzugehen; denn dass die UN-Friedens-
        missionen in zahlreichen Konfliktregionen dieser Welt
        Entscheidendes geleistet haben, kann niemand ernst-
        haft bezweifeln. Dabei haben sie keinen militärischen
        Kampfauftrag, vielmehr werden militärische Kapazitä-
        ten eingesetzt, um Zivilisten vor Angriffen bewaffneter
        Gruppen zu schützen, um Kombattanten zu entwaffnen,
        um einen Friedensschluss zu begleiten, Wahlen zu si-
        chern oder zwei Kriegsparteien zu trennen, bis eine Ei-
        nigung erzielt ist. Über 70 Missionen sind in den letzten
        70 Jahren entsandt worden. Über 22 000 Zivilisten arbei-
        ten heute in den Friedensmissionen der Vereinten Natio-
        nen, ebenso wie über 100 000 Soldatinnen und Soldaten
        und 12 000 Polizeikräfte.
        Die Aufgaben der Blauhelme sind über die Jahre im-
        mer komplexer, immer vielfältiger geworden. Der Bedarf
        an Friedenssicherung war nie größer als heute, und die
        finanziellen, personellen und materiellen Kapazitäten,
        die die Mitgliedstaaten bereitstellen, reichen nicht aus,
        um diesen Bedarf zu decken. Immer noch wird ungleich
        mehr Geld aufgewendet, um Kriege vorzubereiten, als
        um Frieden zu schaffen. Dennoch – und unter teilweise
        widrigsten Umständen – haben die Vereinten Nationen
        in den letzten Jahren die Friedensprozesse in Liberia, in
        Sierra Leone, in Nepal, in Timor-Leste, in der Elfenbein-
        küste, in Guinea-Bissau, in Haiti vorangebracht. Derzeit
        stehen der Kongo, Mali, Kolumbien, die Zentralafrika-
        nische Republik oder der Süd-Sudan auf der Tagesord-
        nung, aber auch rein politische Vermittlungsbemühungen
        in Libyen oder Syrien.
        Diese Missionen, so verschieden ihre Aufgaben auch
        sein mögen, sind vor allem dann erfolgreich, wenn sich
        die Kriegsparteien dem Friedensprozess verpflichtet füh-
        len und wenn die internationale Gemeinschaft sie dabei
        tatkräftig unterstützt. Es geht also nicht darum, einen
        Krieg mit militärischen Mitteln zu beenden, sondern da-
        rum, den gesellschaftlichen Frieden und die Menschen-
        rechte so zu etablieren helfen, dass der Rückfall in Krieg
        und Konflikt unwahrscheinlich wird. Das hat die Linke
        offenbar missverstanden.
        Nun möchte die Linke statt alledem ein national orga-
        nisiertes „Korps“ entsenden, also Deutsche, die in aller
        Welt „helfen“. Die Probleme, die die humanitäre Hilfe
        heute hat – vom Fehlen der Mittel, über die schwierige
        Koordination der zahlreichen Hilfsorganisationen bis hin
        zum Problem, die Betroffenen im Bombenhagel über-
        haupt zu erreichen –, werden aber sicherlich nicht durch
        eine weitere Truppe nichtlokaler, westlicher „Experten“
        gelöst, die dann vor Ort im Weg herumstehen.
        Wir haben zwar eine hoch angesehene Organisation
        für Katastrophenhilfe, das Technische Hilfswerk. Dieses
        kommt in dem uns vorliegenden Antrag aber gar nicht
        vor, ebenso wenig wie die zahlreichen humanitären
        Hilfsorganisationen, die hervorragende Arbeit leisten.
        Eine – wie die Linke will – deutsche „zivil humanitäre
        Dachstruktur“ brauchen sie nicht.
        Welchen Vorteil ein neu zu gründendes, deutsches
        Willy-Brandt-Korps haben soll, ist also nicht ersichtlich.
        Im Gegenteil, viele der Schwierigkeiten, die die humani-
        täre Hilfe heute plagen, würden mit einem solchen Korps
        ja noch verstärkt. Dringend benötigte Mittel würden von
        etablierten und gut funktionierten Organisationen ab-
        gezogen, und die humanitäre Hilfe würde nationalisiert
        anstatt internationalisiert werden, obwohl sie ein von
        Grund auf multilaterales Unterfangen ist und sein muss.
        So scheint das Willy-Brandt-Korps nur ein ideologi-
        scher Schlenker zu sein auf dem Weg zum eigentlichen
        Ziel: Deutschland nimmt seine internationalen Ver-
        pflichtungen ausschließlich mit zivilen Mitteln wahr. –
        Wir sollen uns also in unverantwortlicher Weise vom
        UNO-System verabschieden und überlassen die Verant-
        wortung für die internationale Ordnung den anderen. Wir
        suchen einen deutschen Sonderweg in die internationale
        Isolation. Da treffen sich dann die Nationalisten von links
        und rechts.
        Anlage 9
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
        Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Ener-
        gie:
        – zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Eu-
        ropäischen Parlaments und des Rates über den
        Elektrizitätsbinnenmarkt (Neufassung)
        KOM(2016) 861 endg.; Ratsdok. 15135/16
        – zu dem Vorschlag für eine Verordnung des
        Europäischen Parlaments und des Rates zur
        Gründung einer Agentur der Europäischen
        Union für die Zusammenarbeit der Ener-
        gieregulierungsbehörden (Neufassung)
        KOM(2016) 863 endg.; Ratsdok. 15149/16
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 23045
        (A) (C)
        (B) (D)
        hier: Stellungnahme gemäß Protokoll Nr. 2 zum
        Vertrag von Lissabon (Grundsätze der
        Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeits-
        prüfung)
        (Tagesordnungspunkt 26)
        Thomas Bareiß (CDU/CSU): Die Europäische Uni-
        on hat sich ehrgeizige Ziele gesetzt: Bis 2030 sollen
        die Treibhausgasemissionen in Europa um mindestens
        40 Prozent reduziert werden, die Energieeffizienz soll
        um bis zu 30 Prozent gesteigert werden, und die erneu-
        erbaren Energien auf einen Mindestanteil von 27 Prozent
        am europäischen Stromverbrauch ausgebaut werden.
        Diese Ziele machen deutlich: Unsere Energieversor-
        gung wird sich auch auf europäischer Ebene radikal wan-
        deln. Volatile erneuerbare Erzeugung wird zunehmen,
        konventionelle Kraftwerke kommen weniger zum Ein-
        satz, Energieeffizienz muss angereizt und Instrumente
        zur Senkung der Treibhausgasemissionen im Verkehrs-
        und Wärmesektor müssen entwickelt werden. Uns sind
        diese Herausforderungen aus der Umsetzung der deut-
        schen Energiewende teils gut bekannt.
        Mit dem Winterpaket „Saubere Energie für alle Eu-
        ropäer“ hat die Europäische Kommission ein umfassen-
        des und teils komplexes Rechts- und Regelungspaket
        vorgelegt, das diese Herausforderungen adressiert. Die
        ambitionierten Ziele werden mit einem konkreten regu-
        latorischen Rahmen für die ganze EU hinterlegt, um so
        gemeinsam den Wandel unserer Energieversorgung zu
        meistern. Das ist zu begrüßen; denn die Energie- und
        Stromversorgung macht an den Staatsgrenzen nicht halt.
        Der europäische Energiebinnenmarkt ist eine große
        Errungenschaft der Europäischen Union. Eine rein na-
        tionale Energieversorgung ist kaum noch denkbar. Der
        gemeinsame Binnenmarkt sichert unsere Energieversor-
        gung und sorgt für ausreichend Wettbewerb. Das kommt
        den Verbrauchern in Form von wirtschaftlichen Ener-
        giepreisen zugute. Diesen Binnenmarkt weiterzuentwi-
        ckeln, ist richtig, und sieben Jahre nach Verabschiedung
        des dritten Energiebinnenmarktpakets auch notwendig.
        Die Grundausrichtung des europäischen Marktde-
        signs, die von der Kommission vorgeschlagen wird,
        findet sich bereits in unserer energiepolitischen Gesetz-
        gebung wieder, wie zum Beispiel die freie Preisbildung,
        der Wettbewerb der Flexibilitätsoptionen und die schritt-
        weise Heranführung der erneuerbaren Energien an den
        Markt.
        Auch die ACER, die Agentur für die Zusammenarbeit
        der Energieregulierungsbehörden, hat seit ihrer Grün-
        dung im Jahre 2009 durchaus gute und wertvolle Arbeit
        bei der Koordinierung der nationalen Energieregulie-
        rungsbehörden geleistet.
        Problematisch ist jedoch, dass in zwei zentralen
        Rechtsakten des Winterpakets – die Elektrizitätsbin-
        nenmarktverordnung und die ACER-Verordnung – eine
        Fülle von Kompetenzerweiterungen vorgesehen sind, die
        nicht mit den Grundsätzen der Subsidiarität und der Ver-
        hältnismäßigkeit vereinbar sind. Es werden Sachverhalte
        auf die europäische Ebene gezogen, die auf nationaler
        Ebene bisher erfolgreich, auch mit unseren europäischen
        Partnern, geregelt werden konnten.
        Besonders hervorheben möchte ich die neuen Verfah-
        ren zur Festlegung von Gebotszonen. Deutschland hat
        bisher eine Preiszone. Bislang kann diese nur mit un-
        serer Zustimmung aufgeteilt werden. Zukünftig soll die
        EU-Kommission die Entscheidungskompetenz erhalten.
        Das geht aus unserer Sicht zu weit. Gerade als Bundespo-
        litiker ist es unsere Pflicht, zu gewährleisten, dass inner-
        halb Deutschlands ähnliche Lebens- und Wettbewerbs-
        bedingungen herrschen. Eine Aufteilung Deutschlands in
        zwei oder mehrere Strompreiszonen würde dies massiv
        konterkarieren. In Süddeutschland würden die Strom-
        preise erheblich steigen. Im Norden würden erhebliche
        Überkapazitäten am Strommarkt entstehen. Die Kompe-
        tenz zum Erhalt der Strompreiszonen muss daher in der
        Hand der Nationalstaaten bleiben. Nur so gibt es auch
        ausreichend Anreize für einen schnellen Netzausbau in-
        nerhalb unseres Landes.
        Die primäre Aufgabe der ACER ist es, die Arbeit der
        nationalen Energieregulierungsbehörden zu ergänzen
        und zu koordinieren. Sie soll bewusst nicht die Arbeit der
        nationalen Regulierer übernehmen. Aus unserer Sicht
        hat sich die Arbeitsteilung bisher bewährt, und wir hal-
        ten es für unangebracht, die Zuständigkeiten von ACER,
        teils ohne Zustimmung des Parlaments und des Rats, zu
        erweitern. Daher verstoßen bestimmte Regelungen der
        ACER-Verordnung klar gegen das Subsidiaritätsprinzip.
        Hinzu kommt, dass der Einfluss großer Mitgliedstaa-
        ten innerhalb von ACER geschwächt werden soll. Her-
        vorzuheben ist das Abstimmungsverfahren. Zwar gilt
        bisher auch, dass jedes Mitgliedsland eine Stimme hat.
        Aber zukünftig sollen Entscheidungen mit einfacher
        Mehrheit getroffen werden. Bisher brauchte man dazu
        eine Zweidrittelmehrheit. Notwendig ist daher aus unse-
        rer Sicht eine Stimmgewichtung der Mitgliedstaaten wie
        im Rat; große Mitgliedstaaten brauchen ein entsprechen-
        des Stimmgewicht.
        Mit der Subsidiaritätsrüge wollen wir klarmachen,
        dass Kompetenzerweiterungen und Verhältnismäßig-
        keit bei energiepolitischen Vorhaben der EU gewahrt
        bleiben müssen. Das bedeutet nicht, dass wir eine ener-
        giepolitische Weiterentwicklung auf europäischer Ebe-
        ne verhindern wollen. Im Gegenteil: Die EU muss den
        Binnenmarkt weiter vertiefen. Es bedarf jedoch einer
        gemeinsamen europäischen Energiepolitik mit den Na-
        tionalstaaten.
        Barbara Lanzinger (CDU/CSU): Im vergangenen
        November hat die Europäische Kommission umfassende
        Legislativvorschläge veröffentlicht, die als „Winterpa-
        ket“ unter dem Namen „Saubere Energie für alle Euro-
        päer“ bekannt geworden sind. Dieses Paket ist sehr um-
        fassend. Dabei ist nicht alles in dem Paket falsch; das
        auszudrücken, ist nicht die Intention des vorliegenden
        Antrags. Aber bei manchen Punkten geht die Europäi-
        sche Kommission schlicht zu weit. Sie sind mit essen-
        ziellen EU-Grundprinzipen nicht mehr vereinbar. Be-
        stimmte Teile des Pakets verstoßen gegen das Prinzip der
        Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit. Daher haben
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 201723046
        (A) (C)
        (B) (D)
        wir uns in der Koalition für eine Subsidiaritätsrüge ent-
        schieden.
        Das Paket umfasst Regelungen beispielsweise zur
        Erneuerbaren-Energien-Richtlinie, der Energieeffizi-
        enz-Richtlinie, der ACER-Verordnung und der Elek-
        trizitätsbinnenmarktverordnung. Dadurch soll der
        EU-Energierahmen neu gestaltet werden und an neue
        Gegebenheiten, beispielsweise an einen zunehmenden
        Anteil erneuerbarer Energien, angepasst werden. Die
        Energiewende in Europa und in Deutschland wird da-
        durch entscheidend mitbestimmt.
        Ich will betonen. Die grundlegende Intention dahin-
        ter ist gut und richtig. Wir wollen und wir müssen die
        Energiewende weiter gestalten, auch grenzübergreifend
        und in Zusammenarbeit mit unseren europäischen Part-
        nern. Es macht durchaus Sinn, manches auf EU-Ebene
        zu regeln, länderübergreifende Kooperationen zu ver-
        bessern, Koordinierungen effizienter zu gestalten, grenz-
        überschreitend stärker zusammenzuarbeiten. Da liegt
        noch viel Arbeit vor uns. Aber insbesondere die Rege-
        lungen der ACER-Verordnung und der Elektrizitätsbin-
        nenmarktverordnung des Winterpakets schießen über das
        Ziel hinaus.
        Subsidiarität kommt aus dem Lateinischen und be-
        deutet sinngemäß „zurücktreten“ oder „nachrangig sein“.
        Politisch bedeutet das in der EU, Regelungen auf der
        Ebene vorzunehmen, auf der es sinnvoll ist – in Brüssel,
        in Berlin oder oft doch vor Ort in einer Kommune. Im
        Lissabon-Vertrag sind in Artikel 5 EUV die Prinzipien
        der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit als unver-
        rückbare Grundsätze festgelegt. Unter Absatz 3 heißt es:
        „Nach dem Subsidiaritätsprinzip wird die Union in den
        Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständig-
        keit fallen, nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in
        Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaa-
        ten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler
        Ebene ausreichend verwirklicht werden können, sondern
        vielmehr wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf
        Unionsebene besser zu verwirklichen sind.“ In Absatz 4
        heißt es: „Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
        gehen die Maßnahmen der Union inhaltlich wie formal
        nicht über das zur Erreichung der Ziele der Verträge er-
        forderliche Maß hinaus.“ Sowohl in der ACER- als auch
        der Elektrizitätsbinnenmarktverordnung haben wir er-
        hebliche Bedenken bezüglich dieser Grundprinzipien.
        Exemplarisch greife ich einzelne Punkte heraus.
        Vor dem Hintergrund des Artikels 5 EUV ist es nicht
        zu erklären, dass die Europäische Kommission durch die
        Elektrizitätsbinnenmarktverordnung die alleinige Ent-
        scheidungskompetenz für die Frage des Gebotszonen-
        zuschnitts innerhalb eines Mitgliedstaates erhalten solle.
        Das bedeutet vereinfacht ausgedrückt, dass die Kommis-
        sion darüber entscheiden kann, dass die Strompreise im
        Süden Deutschlands stark steigen würden.
        Vor dem Hintergrund des Artikels 5 EUV ist es nicht
        zu erklären, dass durch die Elektrizitätsbinnenmarktver-
        ordnung ganze Themenfelder in sogenannte delegierte
        Rechtsakte übertragen werden können sollen. In einem
        damit verbundenen Verfahren ist keine Zustimmung der
        Mitgliedstaaten mehr vorgesehen. Das ist politisch sehr
        fragwürdig, da dadurch ganze Themenbereiche mit gro-
        ßer politischer Relevanz betroffen wären, aber auf Be-
        amtenebene entschieden würden. Das ist unangemessen.
        Es ist weiterhin nicht zu erklären, dass die EU-Kom-
        mission durch die ACER-Verordnung unter bestimmten
        Bedingungen zusätzliche Entscheidungskompetenzen
        an die ACER-Behörde übertragen können soll. Bisher
        konnten nur Aufgaben übertragen werden, die keine
        Entscheidungskompetenz umfassen. Es ist die alleinige
        Aufgabe des Unionsgesetzgebers, zu entscheiden, wer
        welche Entscheidungsbefugnisse wahrnimmt! Auch die
        geplante Abschwächung der Mehrheitsverhältnisse im
        Regulierungs- wie im Verwaltungsrat der ACER ist nicht
        gerechtfertigt.
        Damit sind nur einige Punkte genannt.
        Vor allem bei den im Antrag angesprochenen Punkten
        sind wir davon überzeugt, dass die Ziele der Maßnah-
        men gut auf nationalstaatlicher Ebene und nicht besser
        auf EU-Ebene geregelt werden können. Daher lehnen wir
        die Vorschläge ab.
        Sehr geehrte Damen und Herren der Europäischen
        Kommission, wir wollen mit Ihnen zusammen die Eu-
        ropäische Union verbessern und weiterentwickeln, auch
        im Bereich der Energiepolitik. Aber an dieser Stelle
        schießen Sie über das Ziel weit hinaus. Die Prinzipien
        der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit sind kei-
        ne leeren Worthülsen und dürfen es nie werden. Nur mit
        diesen Grundprinzipien kann dieses so vielfältige Europa
        politisch funktionieren.
        Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, die richtige
        Balance zu finden. Bei den in unserem Antrag genannten
        Punkten ist sie nicht gewahrt. Wir werden auch bei den
        anderen Vorhaben des Winterpakets genau hinschauen,
        wie es darum steht.
        Johann Saathoff (SPD): Wie wir alle in den letz-
        ten Jahren mehr und mehr erfahren haben, wird über die
        deutsche Energiepolitik zunehmend auf europäischer
        Ebene entschieden. Bei den EEGs, dem KWKG, dem
        Strommarktgesetz und bei vielen anderen Vorhaben geht
        nichts mehr ohne den Stempel aus Brüssel.
        Außer für die Energiepolitik bin ich in meiner Frak-
        tion auch für Fischereipolitik zuständig. Die europäi-
        sche Fischerei ist seit über 30 Jahren vollständig verge-
        meinschaftet. Als die Gemeinsame Fischereipolitik vor
        wenigen Jahren reformiert wurde, kam es zu enormen
        Kompetenzstreitigkeiten zwischen dem Europäischen
        Parlament, dem Rat und der Kommission. Die Situation
        stellte sich damals genauso wie heute dar: Die Kommis-
        sion versucht, mittels delegierter Rechtsakte, also ohne
        Beteiligung von Rat und Parlament, Kompetenzen an
        sich zu ziehen. Sie darf das nach dem Lissabon-Vertrag
        bei nicht-wesentlichen Teilen eines Gesetzgebungsaktes
        tun.
        Wir hatten nun einige Wochen Zeit, die ACER-Ver-
        ordnung und die Strommarkt-Verordnung zu lesen; denn
        nur um diese beiden Verordnungsentwürfe geht es heute.
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 23047
        (A) (C)
        (B) (D)
        Nach dem Studium dieser Verordnungsentwürfe kann
        man sagen: Auch hier versucht die Kommission wie-
        der, Kompetenzen an sich zu ziehen und Rat und Par-
        lament gegeneinander auszuspielen. Und dabei geht es
        eben nicht um nicht-wesentliche Bestandteile des Pakets,
        sondern um entscheidende Fragen, wie zum Beispiel die
        regionalen Betriebszentren, die Ausgestaltung von Netz-
        kodizes oder eine mögliche Aufteilung in Gebotszonen.
        Das sind für jeden Mitgliedstaat zentrale Fragen der
        Energiepolitik, und die wollen wir auch zukünftig selbst
        entscheiden. Das hat gar nichts zu tun mit Europafeind-
        lichkeit, denn die Zuständigkeiten sind in den EU-Verträ-
        gen klar geregelt. In unseren Augen geht es nur darum,
        dass die Kommission hier versucht, sich unzulässiger-
        weise Kompetenzen anzueignen.
        In diesem Zusammenhang möchte ich noch meine
        Sorge zum Ausdruck bringen, was künftige Entschei-
        dungskompetenzen bei den angesprochenen Verord-
        nungsentwürfen betrifft. Mag man es vielleicht noch
        hinnehmen, dass die EU einzelne zentrale Fragen der
        Energiepolitik im Sinne der Koordinierung und Verein-
        heitlichung regeln möchte, so halte ich es aber nicht für
        akzeptabel, dass sich die Entscheidungskompetenzen
        auch mit diesen Entwürfen immer weiter vom Parlament
        auch in der EU hin zur Exekutive verlagern sollen.
        „So sitt Hark in’t Steel“, sagt man in Ostfriesland,
        wenn man die Deutungshoheit über eine Sache behalten
        möchte. Und genau um diese Deutungshoheit muss es
        uns als Parlamentarier gehen.
        Aus diesen Gründen freue ich mich, dass wir hier heu-
        te als Parlament diese Subsidiaritätsrüge verabschieden
        und uns damit in guter Gesellschaft mit einigen ande-
        ren Mitgliedstaaten befinden. Damit stärken wir unse-
        rer Bundesregierung bei den weiteren Verhandlungen in
        Brüssel den Rücken, und selbstverständlich werden wir
        auch die weiteren Verordnungen mit Blick auf das Subsi-
        diaritätsgebot prüfen.
        Auf jeden Fall bildet die heutige Debatte nur den Auf-
        takt zu einem längeren Diskussionsprozess; denn bis zur
        endgültigen Verabschiedung des Clean-Energy-Pakets
        wird es noch eine ganze Zeit dauern.
        Ich freue mich auf diese Debatte.
        Dr. Nina Scheer (SPD): In Form des vorliegenden
        Antrags befasst sich das Parlament mit der Frage, inwie-
        fern Maßnahmen aus dem sogenannten EU-Winterpaket
        bzw. „Saubere Energien für alle Europäer“ die Grundsät-
        ze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit tangie-
        ren bzw. gegen diese verstoßen.
        Auch wenn der Antrag nur zwei Bereiche benennt –
        die Elektrizitätsbinnenmarktverordnung sowie die
        ACER-Verordnung –, möchte ich unterstreichen, dass
        sich der Bundestag hiermit ausdrücklich vorbehält, auch
        zu weiteren Aspekten des Vorschlagspakets Stellung zu
        beziehen; denn das betreffende und noch im Einzelnen
        zu beratende Paket erzielt solch grundlegende Neu-
        strukturierungen zum Umgang mit Energie, dass hierbei
        zwangsläufig auch Bereiche angesprochen sind, die aus-
        weislich des Vertrages von Lissabon Angelegenheit der
        Mitgliedstaaten sind.
        Die mit dem EU-Energiepakt zu klärenden Fragen
        werfen somit zugleich eine ganz grundsätzliche Frage
        auf: Wie gehen wir mit Kompetenzüberschneidungen zur
        Ausgestaltung des Binnenmarktes in EU-Zuständigkeit
        auf der einen Seite und Artikel 192 sowie 194 des Vertra-
        ges von Lissabon auf der anderen Seite um, wonach der
        Energiemix Angelegenheit der Mitgliedstaaten ist? Dies
        betrifft auch Maßnahmen, die die allgemeine Struktur
        der Energieversorgung eines Mitgliedstaates erheblich
        berühren.
        Am Beispiel Deutschlands lässt sich gut erkennen,
        wie sich dieses Spannungsverhältnis darstellt: Mit einem
        wachsenden Anteil erneuerbarer Energien, insbesondere
        Wind und Solar und damit sogenannten fluktuierenden
        Energien, steigt der Bedarf an Flexibilitäten, um eine
        Versorgung kontinuierlich aufrechtzuerhalten. Sinn-
        vollerweise sind hierbei Synergien zu heben, sowohl in
        Form einer Verknüpfung der Sektoren Strom, Wärme
        und Mobilität als auch unter Einbindung von bereits vor-
        handener oder auszubauender Infrastruktur. Wenn etwa
        die Einbeziehung von Speichern sowohl mit Blick auf
        kontinuierliche Verfügbarkeit von Energie als auch für
        die Mobilität gelingt, ist dies ökonomisch sinnvoll und
        lässt uns schneller sektorübergreifend den klimapolitisch
        und ressourcenverknappungsbedingt notwendigen Um-
        stieg auf erneuerbare Energien gelingen. Dies ist auch
        aus Gründen der Gerechtigkeit wichtig: Nicht erst, wenn
        der Klimawandel um sich greift und verknappte Ener-
        gieressourcen zum Spekulationsobjekt werden, sollten
        wir die Energiewende vollzogen haben. Die skizzierte
        Entwicklung bedeutet aber auch, dass sich Fragen des
        Energiemixes, des Einsatzes von Energie und Fragen der
        Energievermarktung sowie Energieverbringung immer
        enger miteinander verflechten. Damit wird ein Ausein-
        anderhalten der unterschiedlichen Kompetenzen immer
        schwerer.
        Im Lichte der Subsidiarität und der geschilderten
        Zusammenhänge erwarte ich, dass die Kommission ein
        stärkeres Augenmerk darauf richtet, welcher Bereich der
        Energiewirtschaft sinnvollerweise als Angelegenheit der
        Mitgliedstaaten in deren Regelungshoheit verbleibt. Der
        europäische Energiemarkt darf sich nicht überfordern. Er
        sollte nicht stärker zusammenwachsen, als dies der Um-
        gang mit dem jeweiligen Energiemix der Mitgliedstaaten
        mit Blick auf alle Sektoren sinnvollerweise erlaubt.
        Im Sinne der Subsidiarität sollten Staaten Netzma-
        nagementaufgaben insoweit regelungstechnisch vorbe-
        halten bleiben, wie dies mit Blick auf ihren jeweiligen
        Energiemix sinnvollerweise ihrerseits zu regulieren ist.
        So ist etwa die Änderung des ACER-Abstimmungs-
        verfahrens kritisch zu sehen. Die Gestaltung des Ener-
        giemarktes sollte wegen dessen Verquickung mit dem
        nationalen Energiemix nicht den nationalen Gestal-
        tungsmöglichkeiten entzogen werden. Andernfalls droht
        insbesondere in solchen Staaten die Energiewende ins
        Stocken zu geraten, in denen ein vergleichsweise hoher
        Flexibilitätsbedarf besteht, somit in Staaten mit einem
        wachsenden bzw. hohen Anteil erneuerbarer Energien.
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 201723048
        (A) (C)
        (B) (D)
        Damit würden wir weder unseren internationalen Klima-
        schutzverpflichtungen gerecht noch den mit der Energie-
        wende gegebenen Chancen.
        Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Da es unmög-
        lich ist, die acht Dossiers zum Winterpaket der EU-Kom-
        mission zusammen zu beraten, ist es gut, dass wir von
        dem 4 300-seitigen Werk heute zunächst nur zwei Doku-
        mente anberaten.
        Zunächst ein paar Schlaglichter zum Winterpaket
        insgesamt aus unserer Sicht. Das größte Manko: Das
        Winterpaket basiert auf den veralteten EU-Klimaschutz-
        zielen. Die Kommission hat bei ihren Vorschlägen offen-
        sichtlich verdrängt, dass uns der Klimavertrag von Paris
        Aufgaben gestellt hat, um die 1,5- bis 2-Grad-Grenze
        nicht zu überschreiten. So orientiert es sich an dem, was
        der Europäische Rat im Oktober 2014 beschlossen hat,
        also lediglich 40 Prozent Treibhausgasminderung bis
        2030, 27 Prozent-Erneuerbaren-Anteil und plus 27 Pro-
        zent Energieeffizienz. Damit liegt Europa aber bei wei-
        tem nicht auf einem Zielpfad, der zu rund 95 Prozent we-
        niger Treibhausgasen bis 2050 führt.
        In den einzelnen Vorschlägen ist nicht zu erkennen,
        dass die Dekarbonisierung des Energiesektors oder der
        rasante Ausbau der Erneuerbaren wirkliches Ziel der
        Kommission ist. Schwerpunkte sind vielmehr Marktre-
        geln für einen stärkeren Energieverbund und zudem selt-
        same Governance-Regeln, die eigentlich nur kaschieren
        sollen, dass es in der Energieunion an Verbindlichkeit der
        Ziele für die einzelnen Mitgliedsländer mangelt.
        Es gibt, isoliert betrachtet, ein paar positive Aspekte,
        aber die sind schnell aufgezählt. So soll das Effizienzziel
        für die EU insgesamt nun verbindlich sein, ähnlich wie
        das EE-Ausbauziel. Allerdings mangelt es beiden daran,
        dass die Verbindlichkeit nicht verteilt wird auf die Mit-
        gliedstaaten. Es gibt also nur eine kollektive Pflicht der
        EU-Länder zur Zielerreichung. Die Regeln zur Gover-
        nance, die allerdings erst ab 2024 wirken sollen, sollen
        dann einzelne Mitgliedstaaten irgendwie finanziell zur
        Verantwortung ziehen. Bis dahin kann eigentlich jeder
        machen, was er will. Das wird Europa in ärgste Schwie-
        rigkeiten bei der Erfüllung der Klimaschutzziele bringen.
        Nun zur Neufassung der Elektrizitätsbinnenmarkt-
        verordnung. Das Paket erteilt beim Marktdesign zwar
        Kapazitätsmärkten weitgehend eine Absage, der Ener-
        gy-only-Markt soll hier Vorrang haben. Kapazitätsme-
        chanismen, in denen alte Technologien überwintern kön-
        nen, sind unter bestimmten Bedingungen dann aber doch
        wieder zugelassen. Und in diesen Mechanismen dürfen
        zwar infolge des eingezogenen Emissionsstandards –
        550 g CO2 pro Kilowattstunde – Kohlekraftwerke nicht
        mehr vergütet werden, der Einsatz von Atomkraftwerken
        für diese Zwecke wäre jedoch nicht ausgeschlossen.
        Eine der umstrittensten Fragen dieses Entwurfs ist,
        inwieweit künftig der Einspeisevorrang für EE-Anlagen
        gelten und wirken wird. Auch uns ist dies etwas unklar.
        Zunächst schafft die Kommission den EE-Einspeisevor-
        rang als „expliziten Grundsatz“ ab. Er soll aber zumin-
        dest weitgehend ersetzt werden durch einen „relativen/
        impliziten“ Einspeisevorrang im Rahmen des Einspei-
        semanagements sowie durch Bestandsschutzklauseln.
        Möglicherweise gibt es darüber hinaus einen Transpa-
        renzgewinn durch erweiterte Berichts- und Rechtferti-
        gungspflichten der ÜNB/VNB im Falle von Abregelun-
        gen.
        Was den Einspeisevorrang beim Dispatch betrifft, so
        sind die Schwellenwerte für einen garantierten Marktzu-
        gang bei Neuanlagen für Wind, PV und Biomasse wohl
        kein Problem; denn in Deutschland liegen sie schließlich
        mit der EEG-Festvergütung, also der garantierten Abnah-
        me durch den Übertragungsnetzbetreiber, bis zur Leis-
        tung von maximal 100 Kilowatt bereits heute unter je-
        nen 250 Kilowatt, die die Kommission nun vorschreiben
        will. Über diesen Wert hinaus muss jeweils verpflichtend
        direkt an der Börse vermarktet werden. Weil die Markt-
        prämie die EE-Differenzkosten deckt, der Betreiber also
        seinen EE-Strom sicher los wird, kann man hier von
        einem impliziten Einspeisevorrang sprechen, der auch
        in Zukunft gewährt wird. Das gilt zwar in Deutschland
        nicht für Situationen mit negativen Preisen länger als
        sechs Stunden, aber das ist ein anderes Thema.
        Die vorgeschlagene Grenze der EU-Kommission
        wäre übrigens einmal Anlass, den Schwellenwert für die
        Direktvermarktung in Deutschland von 100 auf 250 Ki-
        lowatt zu erhöhen. Dann hätten Bürgerenergien wieder
        mehr Chancen, an der garantierten Einspeisevergütung
        zu partizipieren.
        Der Einspeisevorrang ist nicht nur für den Dispatch
        wichtig, sondern auch im Falle des Managements von
        Netzengpässen. Im Rahmen dessen dürfen in Deutsch-
        land erst dann, wenn Kohle und Atom auf die technische
        Mindesterzeugung abgeregelt worden sind, wenn nötig,
        auch Erneuerbare zwangsweise vom Netz, gegen 95-pro-
        zentige Entschädigung. Wir wissen zwar, dass gegen die
        Abregelungshierarchie in der Praxis häufig verstoßen
        wird, weil sie kaum kontrolliert wird. Aber es gibt sie.
        Nunmehr soll es hierbei nach dem Willen der Kommis-
        sion künftig ein Primat eines „marktlichen Redispatchs“
        geben, in den dann auch Erneuerbare einbezogen sein
        würden. In Deutschland unterliegen dagegen momen-
        tan sowohl das Einspeisemanagement der EE-Anlagen
        als auch das Redispatch der konventionellen Erzeugung
        überwiegend den Netzbetreibern.
        Wir fragen uns, was von einem Vorrang für einen
        „marktlichen Redispatch“ zu erwarten wäre. Nach mei-
        nem Verständnis haben die Erneuerbaren eine hohe
        Flexibilität und werden in einigen Fällen billiger abzu-
        schalten sein als Kohlekraftwerke. Entsprechende Aus-
        schreibungen, die etwa adäquat zum Regelenergiemarkt
        stattfinden könnten, könnten sie gewinnen. Dabei verlö-
        ren die EE-Betreiber zwar kein Geld, es ginge aber auf
        Kosten des Klimaschutzes.
        Sollte es stimmen, dass mit dem Entwurf der Bundes-
        regierung weitgehende Entscheidungskompetenzen zur
        Gestaltung der Netzentgeltsystematik entzogen werden,
        so wäre dies zunächst kritisch zu sehen. Allerdings hat
        die Bundesregierung diese Kompetenz bislang kaum im
        Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher eingesetzt;
        denn es werden weder bundesweit einheitliche Netzent-
        gelte eingeführt noch unberechtigte Industrieprivilegien
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 23049
        (A) (C)
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        abgebaut, die andere über die hohen Netzentgelte bezah-
        len.
        Zum Schluss ein Wort zur Regulierungsbehörde
        ACER. Koalition und Bundesregierung haben Beden-
        ken, dass sich die EU-Behörde zu viel Kompetenzen auf
        den Tisch zieht und vielleicht sogar Deutschland in zwei
        Gebotszonen spalten könnte. Mein Vorschlag: Leiten Sie
        zügig den Einstieg in den Kohleausstieg ein. Dann ent-
        spannt sich auch die Netzsituation, und die Aufteilung in
        zwei Strompreiszonen wäre gebannt.
        Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Gestern, während in den verschiedenen Bundes-
        tagsausschüssen Ihre Subsidiaritätsrüge beraten wurde,
        war Theresa May unterwegs, um mit Artikel 50 den Bre-
        xit zu notifizieren. Dies kam nicht überraschend; denn
        der Austrittsantrag wurde seit dem Referendum vor neun
        Monaten erwartet. Trotzdem ist es traurig, dass die Koa-
        litionsfraktionen in den dunkelsten Stunden unserer Eu-
        ropäischen Union erneut die Keule der Subsidiaritätsrüge
        schwingen und sich zum Steigbügelhalter mancher An-
        ti-Europäer machen. Erst in der letzten Sitzungswoche
        erklärte Frau Strothmann von der CDU bei Ihrer letzten
        KoA-Subsidiaritätsrüge, es wäre jetzt auch mal Zeit, dass
        der Bundestag sich diesbezüglich nicht so zurückhalte.
        Ähnliche Töne zu meinem Erschrecken nun auch von der
        SPD im Wirtschaftsausschuss, wonach man Brüssel ja
        schon lange einmal zeigen müsse, wer energiepolitisch
        das Sagen hätte, und Brüssel ohnehin zu viel Energiepo-
        litik betreibe.
        Mit dem vorgelegten Winterpaket macht die Kommis-
        sion einen Umsetzungsvorschlag für die Ratsschlussfol-
        gerungen aus dem Oktober 2014. Dort war Ihre Bundes-
        regierung durch die Bundeskanzlerin vertreten und hat
        die Richtung vorgegeben.
        Wenn wir uns hier und heute über die Ausreizung euro-
        parechtlicher Vorgaben für die Energiepolitik verständi-
        gen, dann gehört auch zur Wahrheit, dass die Staats- und
        Regierungschefs damals weit über politische Leitlinien
        hinausgingen und bis auf die letzte Kommastelle detail-
        lierte Vorgaben für Energie- und Klimapolitik machten.
        Damit schränkten sie den Spielraum der Kommission
        extrem ein und verdealten nationale Egoismen. In den
        Zielen wiederum waren diese Vorgaben energie- und
        klimapolitisch viel zu schwach und reichen bei weitem
        nicht aus, um unsere klimapolitischen Verpflichtungen
        und Notwendigkeiten zu erfüllen.
        Wenn wir heute hier Ihre zweite Subsidiaritätsrüge
        innerhalb von drei Wochen behandeln, dann riecht das –
        mit Verlaub – auch ein wenig nach plumpem Wahlkampf
        auf Kosten der Europäischen Kommission. Damit, liebe
        Kolleginnen und Kollegen von SPD und CDU, stellen
        Sie sich wahlkampftaktisch in die Reihe von Verkehrs-
        minister Dobrindt und seiner europafeindlichen Wahl-
        kampfmaut. Zumindest haben Sie sich anders noch als
        letzte Sitzungswoche diesmal zumindest die Mühe ge-
        macht, nicht mehr nur die schlechte Vorlage Ihrer baye-
        rischen Kollegen aus dem Bundesrat abzuschreiben, son-
        dern sind auch wirklich bei den entscheidenden Punkten
        in die Tiefe gegangen.
        Bevor ich darauf im Detail eingehe, möchte ich aber
        noch einmal betonen: Die Energiewende ist kein deut-
        sches Projekt. Die Energiewende ist ein europäisches
        Projekt und braucht gemeinsame europäische Politiken.
        Hier kann die Kommission groß in großen Dingen sein,
        wie es Präsident Juncker zu Beginn seiner Amtszeit ver-
        kündete; denn der Umbau und die Modernisierung un-
        serer Wirtschaft und Energiegewinnung zum Wohle un-
        serer künftigen Generationen gehören zweifelsohne zu
        den größten Dingen unserer Zeit. Und auch unser Ziel
        „von den fossilen Energien auf 100 Prozent erneuerbare
        Energien“ werden wir nur erreichen können, wenn wir es
        europäisch angehen.
        Die Kommission macht in ihrem Winterpaket dafür
        auch einige gute Vorschläge. Manche Vorschläge sehen
        auch wir kritisch; die müssen und werden wir im norma-
        len Gesetzgebungsverfahren verändern und verbessern.
        Grundlage der Vorschläge ist Artikel 194 AEUV. Da-
        rin heißt es in Absatz 1: „Die Energiepolitik der Union
        verfolgt im Geiste der Solidarität zwischen den Mitglied-
        staaten im Rahmen der Verwirklichung oder des Funkti-
        onierens des Binnenmarkts und unter Berücksichtigung
        der Notwendigkeit der Erhaltung und Verbesserung der
        Umwelt folgende Ziele:
        a) Sicherstellung des Funktionierens des Energie-
        markts;
        b) Gewährleistung der Energieversorgungssicher-
        heit in der Union;
        c) Förderung der Energieeffizienz und von Energie-
        einsparungen sowie Entwicklung neuer und er-
        neuerbarer Energiequellen und
        d) Förderung der Interkonnektion der Energie-
        netze.“
        Sie sehen: Selbst im Vertrag von Lissabon sind die
        Ziele des Netzausbaus und der europäischen Netzverbin-
        dung, der Ausbau der erneuerbaren Energien und die Ver-
        besserung der Energieeinsparung festgeschrieben.
        Zugespitzt könnte man vielleicht sogar sagen, dass Ihr
        schwarz-rotes Festhalten an der schmutzigen und gefähr-
        lichen Braunkohle, der schleppende Netzausbau und die
        Belastung der Stromnetze unserer Nachbarn mit drecki-
        gem deutschem Kohlestrom aus massiven Kohleüber-
        kapazitäten dem Europarecht widerspricht, zumindest
        unseren Zielen. Klar ist aber zumindest, dass Ihr diesbe-
        zügliches Handeln in diesen Bereichen auch dazu geführt
        hat, dass die Kommission hier aktiv werden muss.
        Aber kommen wir zu den Details Ihrer Rüge. Subsi-
        diarität bedeutet im engeren Sinne, dass die Europäische
        Union in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche
        Zuständigkeit fallen, nur tätig wird, sofern und soweit
        die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den
        Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler
        oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden kön-
        nen, sondern wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen
        auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind.
        Die Ministerien der Bundesregierung und auch die
        Juristen des Bundestags haben nun festgestellt, dass
        die beiden heute hier beratenen Verordnungsvorschläge
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 201723050
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        grundsätzlich mit dem Prinzip der Subsidiarität vereinbar
        sind. Sie melden aber in Detailfragen Subsidiaritätsbe-
        denken an. Diese Bedenken sind aus unserer Sicht auch
        berechtigt. Die europäische Organisation von Gebotszo-
        nen kann zwar grundsätzlich helfen, die Versorgungssi-
        cherheit auch bei zunehmendem Anteil fluktuierender
        Solar- und Windstromanteile im Netz stabil zu halten
        und zu hohe Kosten sowie die Überkapazitäten zu ver-
        hindern. Dies sollte aber im Einklang durch enge Koope-
        ration der Mitgliedstaaten geschehen und nicht im allei-
        nigen Zuständigkeitsbereich der Kommission liegen. Bei
        der Frage unterstützen wir das Ansinnen der Koalition,
        sagen aber auch, dass dies besser durch eine glaubhaf-
        te und klare Arbeit der Bundesregierung statt durch eine
        Subsidiaritätsrüge erreicht werden sollte.
        Die Vorschläge zur Einrichtung regionaler Betriebs-
        zentren sollten so ausgestaltet werden, dass die nationalen
        und die für die Versorgungssicherheit verantwortlichen
        Übertragungsnetzbetreiber sowie die Bundesnetzagentur
        als zuständige Aufsichtsbehörde zwar in einem engen
        Austausch mit den europäischen Nachbarstaaten zur Be-
        wältigung der Herausforderungen eines zunehmend eu-
        ropäisierten Netzverbunds und Energiemarkts stehen, in
        letzter Instanz jedoch alleine entscheidungsbefugt blei-
        ben. Hier kann man beim bewährten Prinzip bleiben und
        die Verantwortung und Entscheidungsbefugnis für die
        Netzführung in nationalstaatlicher Hand behalten, aber
        gleichzeitig die grenzüberschreitende Kooperation for-
        cieren. Und hier passiert auch Ihrerseits zu wenig.
        Bei der Frage der Netzkodizes gemäß Artikel 55 des
        Verordnungsvorschlags zum Elektrizitätsbinnenmarkt
        erklären uns unsere Juristinnen: Die Kommission ist
        nach geltendem Recht grundsätzlich befugt, Rechtset-
        zungsakte ohne Gesetzgebungscharakter zu erlassen.
        Diese als „exekutive Rechtsetzung“ bezeichnete und im
        Vertrag von Lissabon – Artikel 290 AEUV – geregelte
        Befugnis ermöglicht es ihr, innerhalb gewisser Grenzen
        Elemente eines Sekundärrechtsakts durch einen biswei-
        len sogenannten „tertiären“ Rechtsakt zu ändern.
        Zu Recht wird kritisiert, dass die KOM hierzu nicht
        ausreichend dargelegt hat, warum derartig weit gefasste
        delegierte Rechtsakte notwendig sind.
        Als Europäerinnen sollten wir alle sagen, dass die ge-
        planten Maßnahmen sich der Regelungskompetenz für
        die Themenbereiche einem ordentlichen parlamentari-
        schen Verfahren entziehen und wir das ändern wollen.
        Hierfür können wir die Bundesregierung auffordern und
        sagen: Lasst uns die Netzkodizes nicht durch legitime,
        aber zu weitreichende delegierte Rechtsakte klären, son-
        dern vom tertiären Recht zurück ins sekundäre Recht
        holen, zum Beispiel bei Regeln für den Netzanschluss
        oder Netzzugang Dritter, Regeln für den Datenaustausch
        und die Abrechnung, die Interoperabilität oder operative
        Verfahren bei Notfällen. Dies können und wollen wir zu-
        rück in eine Verordnung holen. Doch von dieser mögli-
        chen Option hört man bei Ihnen nichts, und damit ist Ihre
        Rüge ein reines Wahlkampfgetöse.
        Die Subsidiaritätsrüge ist ein wichtiges Instrument. Sie
        beweisen mit Ihrer Rüge auch, dass Brüssel nicht irgend-
        wo weit weg ist, sondern wir Parlamentarier im Bundes-
        tag ganz selbstverständlich Einfluss auf die Vorschläge
        der EU-Kommission nehmen können. Wir wissen aber
        auch, dass die Subsidiaritätsrüge eines der schärfsten
        Schwerter ist, die uns in unserer demokratischen par-
        lamentarischen Arbeit in Europa zur Verfügung stehen.
        Dieses Schwert taugt nicht zum Säbelrasseln. Übermä-
        ßiger Gebrauch macht es stumpf. Daher hoffen wir sehr,
        dass Sie es nun nicht alle paar Wochen einsetzen.
        Da wir Ihre materielle Kritik bei der Frage der Netz-
        kodizes jedoch teilen und Nachbesserungen bei den regi-
        onalen Betriebszentren und Gebotszonen sehen, enthal-
        ten wir uns bei der Abstimmung über Ihren Antrag.
        Anlage 10
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
        gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über das
        Fahrlehrerwesen und zur Änderung anderer stra-
        ßenverkehrsrechtlicher Vorschriften (Tagesord-
        nungspunkt 27)
        Karl Holmeier (CDU/CSU): Mit dem vorliegenden
        Gesetzentwurf realisieren wir ein Projekt, das wir im Ko-
        alitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD vereinbart
        haben: Wir verbessern die Ausbildung der Fahranfänger
        und erhöhen die Qualität der pädagogischen Ausbildung
        der Fahrlehrer. Wir kommen mit dem Gesetzentwurf
        auch einer Bitte der Verkehrsministerkonferenz aus dem
        April 2012 nach, auf der Grundlage eines Eckpunktepa-
        piers einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe eine umfassen-
        de Reform des Fahrlehrerrechts in Angriff zu nehmen.
        Wir wollen mit unserem Gesetz auch den Problemen
        des Fahrschulsektors Rechnung tragen und das in seinen
        Grundzügen seit 1969 unveränderte Fahrlehrerrecht re-
        formieren.
        Ferner hat die Bundesregierung den Abbau von An-
        zeige- und Nachweispflichten für Fahrschulen, die Er-
        leichterung der Zusammenarbeit von Fahrschulen sowie
        die Überarbeitung der Zugangsvoraussetzungen für den
        Fahrlehrerberuf mit dem Ziel der Verbesserung der wirt-
        schaftlichen Situation von Fahrschulen und der Bekämp-
        fung des Nachwuchsmangels in ihr Arbeitsprogramm
        „Bessere Rechtsetzung 2016“ aufgenommen.
        Ziel der von uns angestrengten Reform ist die Verbes-
        serung der Fahrlehreraus- und -weiterbildung, die für die
        Erhöhung der Verkehrssicherheit gerade der besonders
        gefährdeten jungen Fahranfängerinnen und Fahranfänger
        von besonderer Bedeutung ist. Durch eine zielorientierte
        Entbürokratisierung und Erleichterung von Kooperatio-
        nen wollen wir schließlich die wirtschaftliche Situation
        der überwiegend durch kleinstbetriebliche Strukturen ge-
        prägten Fahrschulen verbessern. Mit der Überarbeitung
        der Zugangsvoraussetzungen für den Fahrlehrerberuf
        soll auch dem drohenden Nachwuchsmangel begegnet
        werden.
        Gerade der Begegnung des Nachwuchsmangels ist in
        Zeiten des demografischen Wandels hin zur alternden Be-
        völkerung besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Da
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 23051
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        unterscheidet sich der Fahrlehrerberuf kaum von vielen
        anderen Berufsständen, die über fehlenden Nachwuchs
        klagen. Die Zahl der Fahrlehrer ist das siebte Jahr in Fol-
        ge gesunken. Bundesweit haben nur noch etwas mehr
        als 45 000 Personen eine Fahrlehrererlaubnis, und das
        Durchschnittsalter liegt bei 53 Jahren. Mit großer Masse
        ist der überwiegende Teil der Fahrlehrerlaubnisinhaber –
        75 Prozent plus x – 45 Jahre oder älter und wird sich in
        den nächsten zehn bis zwanzig Jahren aus dem Beruf ver-
        abschieden. Frauen stellen derzeit weniger als 9 Prozent
        aller Fahrlehrer in Deutschland. Der Nachwuchsmangel
        hängt auch mit der geringen finanziellen Perspektive des
        Berufes zusammen, und das Fahrlehrergehalt ist starken
        regionalen Schwankungen ausgesetzt. In strukturschwa-
        chen Gebieten mit wenigen Fahrschülern und niedrigen
        Fahrstundenpreisen verdienen Fahrlehrer tatsächlich oft
        nicht mehr als 1 400 Euro brutto im Monat.
        Im Rahmen der Expertenanhörung am 8. März 2017
        haben wir unser Reformprojekt dem Praxistest unterzo-
        gen. Ich möchte an dieser Stelle den Sachverständigen
        danken, dass sie uns umfangreich Rede und Antwort ge-
        standen haben.
        Die Anregungen zu den Themenkomplexen Wegfall
        der Zweigstellenbegrenzung, Rolle des verantwortlichen
        Leiters, Nutzen der 495-Minuten-Regelung, Wegfall der
        Verpflichtung des Tagesnachweises, Nachwuchsmangel
        bei Fahrschulen, wirtschaftliche Situation der Fahrschu-
        len, Zugangsvoraussetzungen für Fahrlehrer insbeson-
        dere im Hinblick auf Schulabschluss und Mindestalter,
        Standards für die Überwachung von Fahrschulen, Teil-
        zeitausbildung, Verkehrssicherheit als Ausbildungsziel
        und Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes haben wir
        nach der Anhörung ausgiebig in der Koalition diskutiert.
        Mit unserem Änderungsantrag haben wir die Arbeits-
        zeit auf 495 Minuten und die Anzahl der Zweigstellen
        auf zehn begrenzt. Das ist ein angemessener Mittelweg.
        Auch die Einbeziehung freiberuflicher Fahrlehrer ist
        sachgerecht, da diese zwar die Ausnahme bilden, aber
        dennoch in der Praxis zu berücksichtigen sind.
        Mit der heutigen Verabschiedung des Gesetzes und
        den Änderungen, die die Koalition im parlamentari-
        schen Verfahren vorgenommen hat, bringen wir einen
        bereits länger dauernden Prozess zu einem guten Ende
        und entsprechen der Forderung der Fahrlehrerschaft nach
        einer Vereinfachung und Verbesserung der gesetzlichen
        Grundlagen. Wir stärken die Wettbewerbsfähigkeit und
        erhöhen die Qualität der Ausbildung.
        Gero Storjohann (CDU/CSU): Seit 2012 versuchen
        wir, eine Reform des Fahrlehrerwesens anzustreben, um
        eine Verbesserung des Fahrschullehrerwesens zu erzie-
        len. Heute debattieren wir einen Entwurf, der nur eine
        Schlussfolgerung zulässt: Dieses Anliegen ist uns nun
        endlich, nach einem langen Weg, gelungen. Lassen Sie
        mich diesen Weg kurz skizzieren:
        Beginnen möchte ich im Jahre 2012. Damals bat die
        Verkehrsministerkonferenz das Bundesministerium für
        Verkehr und digitale Infrastruktur, auf Grundlage eines
        Eckpunktepapiers eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe für
        eine umfassende Reform der Fahrlehrerrechts zu grün-
        den. Seitdem ist viel passiert.
        Den Grundstein für die Reform legte der 2013 ge-
        schlossene Koalitionsvertrag. Die Ausbildung der Fahr-
        anfänger zu verbessern und die Qualität der pädagogi-
        schen Ausbildung der Fahrlehrer zu erhöhen, lautet der
        Leitsatz. Dieser Grundstein wurde erweitert durch die
        Aufnahme des Themas in das Arbeitsprogramm ,,Besse-
        re Rechtsetzung 2016“ der Bundesregierung. Hierdurch
        kamen die folgenden Grundpfeiler, wie die Erleichterung
        der Zusammenarbeit von Fahrschulen sowie die Über-
        arbeitung der Zugangsvoraussetzungen für den Fahrleh-
        rerberuf mit dem Ziel der Verbesserung der wirtschaftli-
        chen Situation von Fahrschulen und der Bekämpfung des
        Nachwuchsmangels, zu unserem Arbeitsauftrag hinzu.
        Seit 2016 befassen wir uns nun intensiv im Ausschuss
        für Verkehr und digitale Infrastruktur mit diesem Arbeits-
        auftrag, der keinen anderen Schluss zuließ, um den An-
        liegen der Länder und der Bundesregierung zu entspre-
        chen und gleichzeitig den gegenwärtigen Problemen des
        Fahrschulsektors Rechnung zu tragen: Eine umfassende
        Reform musste her.
        Das Ziel stand somit fest: Das in seinen Grundzügen
        seit 1969 unveränderte Fahrlehrerrecht sollte grundle-
        gend reformiert werden. Ein Hauptziel dieser Reform ist
        die Verbesserung der Fahrlehrerausbildung und Fahrleh-
        rerweiterbildung, die für die Erhöhung der Verkehrssi-
        cherheit gerade der besonders gefährdeten jungen Fahr-
        anfänger und Fahranfängerinnen von großer Bedeutung
        ist.
        Zudem soll mit Maßnahmen zur Entbürokratisierung –
        Erleichterung von Kooperationen sowie Vergrößerung
        der Zweigstellenanzahl – die wirtschaftliche Situation
        der überwiegend durch kleinstbetriebliche Strukturen ge-
        prägten Fahrschulen grundlegend verbessert werden.
        Außerdem soll durch die Überarbeitung der Zugangs-
        voraussetzung für den Beruf des Fahrlehrers dem dro-
        henden Nachwuchsmangel begegnet werden. Um diesem
        Nachwuchsmangel konkret entgegenzuwirken, wurden
        insbesondere die Berufszugangsregelungen, die struktu-
        relle und inhaltliche Gestaltung der Fahrlehrerausausbil-
        dung und auch der Fahrlehrerweiterbildung und die Fahr-
        schulüberwachung an aktuelle Erfordernisse angepasst.
        Die angesprochene wirtschaftliche Situation soll mit
        diesem Gesetz nach Berechnungen des Ministeriums für
        Verkehr und digitale Infrastruktur durch mehr als 84 Mil-
        lionen Euro für die Fahrschulen entlastend wirken. Die
        Fahrschulen sollen weniger Zeit mit Formalien verbrin-
        gen müssen und mehr Zeit für die Fahrschulausbildung
        ihrer Schüler haben. Die neuen Regelungen der Fahr-
        schulüberwachung sollen eine verbesserte Fahrschulaus-
        bildung bewirken.
        Um die Einhaltung dieser neuen Vorschriften zu ga-
        rantieren, schaffen wir den Rahmen für eine bundesein-
        heitliche Überwachung der Fahrschulen, bei der es sich
        jetzt nicht nur um eine reine Formalüberwachung han-
        delt. Vielmehr legen wir Wert darauf, dass diese Überwa-
        chung auch auf pädagogischer Ebene erfolgt.
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 201723052
        (A) (C)
        (B) (D)
        Besonders hervorheben möchte ich noch drei weitere
        Erneuerungen, welche aus der Arbeit im Ausschuss für
        Verkehr und digitale Infrastruktur resultieren:
        Erstens. Die nicht erforderliche Übergangsfrist im
        § 69 Fahrschullehrgesetz für Kooperationen und Zweig-
        stellen aus dem ersten Entwurf des Fahrlehrergesetzes
        konnte gestrichen werde; denn die Fahrschulunterneh-
        men sind schon jetzt bereit, die Erneuerungen umzu-
        setzen. Es bedurfte folglich keinerlei Übergangsfrist für
        diese Regelung.
        Zweitens. Die seit Jahren bestehende Beschränkung
        auf drei Zweigstellen, welche mit dazu beigetragen hat,
        dass das Fahrschulgewerbe kleinstbetrieblich strukturiert
        ist, ist nicht mehr länger als zeitgemäß anzusehen. Die
        Anzahl künftig möglicher Zweigstellen wird auf zehn
        Zweigstellen angehoben. Einerseits wird damit dem
        auch wirtschaftlichen Wunsch nach größeren Unterneh-
        menseinheiten Rechnung getragen. Anderseits zeigt die
        Beibehaltung der gesetzlichen Beschränkung und keine
        grenzenlose Lockerung der Zweistellenanzahl, dass die
        Inhaber einer Fahrschulerlaubnis bzw. die verantwortli-
        che Leitung von Ausbildungsfahrschulen die im Fahrleh-
        rergesetz festgelegten Pflichten in Bezug zur Ausbildung
        der Fahrschüler nach den Qualitätskriterien für die Fahr-
        schulausbildung und zur Überwachung der Ausbildung
        ausreichend nachkommen können. Dies ist gerade wegen
        der hohen Bedeutung einer ordnungsgemäßen Ausbil-
        dung der Fahrschüler für die Verkehrssicherheit und für
        die Unfallbekämpfung als sachgerecht zu sehen.
        Die Anhebung der Zahl möglicher Zweigstellen ist
        allein mit Blick auf die heute bestehenden Möglichkei-
        ten der modernen Kommunikation und Unternehmens-
        führung geboten. Sie ist im ersten Schritt mit einer Be-
        schränkung auf zehn Zweigstellen, was einer spürbaren,
        aber gleichwohl noch maßvollen Steigerung entspricht,
        auch ausreichend. Damit wird allen Fahrschulen, die sich
        an die gesetzlich vorgegebene Zweigstellenbeschrän-
        kung gehalten haben, unter Beibehaltung des Lehrauf-
        trags ein fließender Übergang von der kleinstgewerbli-
        chen Struktur zu anderen Unternehmensstrukturen und
        anderen Formen der Zusammenarbeit, wie den neu ge-
        schaffenen Kooperationen, erleichtert. Umgekehrt wer-
        den Unternehmen, die wachsen wollen und können, nicht
        darin behindert.
        Drittens. Die Arbeitszeitbegrenzung des praktischen
        Unterrichts wurde auf 495 Minuten begrenzt. Diese Re-
        gelung gilt für den angestellten Fahrlehrer wie auch für
        den selbstständigen Fahrlehrer. Dies ist sehr im Sinne der
        Verkehrssicherheit.
        Damit kommen wir zu einem Punkt, der mir sehr am
        Herzen liegt: Die Verkehrssicherheit. Der aktuelle Un-
        fallverhütungsbericht macht wieder einmal deutlich, dass
        wir immer mehr Mittel einsetzen müssen, um die Zahl
        der Verletzten und Getöteten im Straßenverkehr weiter
        zu reduzieren. Das größte Unfallrisiko bleibt laut diesem
        Bericht in unserem Straßenverkehr der Faktor Mensch.
        Diesem Faktor können wir mit einem verbesserten Fahr-
        schullehrerwesen entgegenwirken. Gut qualifizierte
        Fahrlehrer produzieren auch gut qualifizierte Fahranfän-
        ger. Bedauerlicherweise sind es gerade die Fahranfän-
        ger, welche weiterhin die am stärksten unfallgefährdete
        Gruppe aller Verkehrsteilnehmer darstellen. Dagegen
        wollen wir mit diesem Gesetz etwas tun.
        Bitte stimmen Sie mit Freude für diesen Gesetzesent-
        wurf und unseren Änderungsantrag; denn dies dient der
        Verkehrssicherheit und der Verbesserung der Fahrschul-
        branchen in Deutschland.
        Stefan Zierke (SPD): Zuerst möchte ich drei Stich-
        worte nennen, von denen man sagen kann, dass sie im
        Jahre 1969 – im Jahr der Verabschiedung des Fahrleh-
        rergesetzes in seiner ursprünglichen Version – wohl wie
        eine Zukunftsvision geklungen haben müssen: automa-
        tisiertes Fahren, selbstfahrende Autos und Elektromobi-
        lität.
        Nun reformieren wir mit dem heute zu verabschieden-
        den Fahrlehrergesetz und der entsprechenden Verordnung
        weder das automatisierte Fahren noch die E-Mobilität.
        Dafür haben wir parallel laufende Gesetzesvorhaben
        bzw. Förderprogramme. Aber ich möchte mit diesen
        Stichworten verdeutlichen, dass die Mobilitätsbranche
        durch viele technische Neuerungen und eine hohe Inno-
        vationsrate gekennzeichnet ist. Von vielem, was uns heu-
        te alltäglich erscheint, konnte vor etwa 50 Jahren noch
        keine Rede sein. Autos von früher sind nicht mit denen
        von heute zu vergleichen.
        Ebenso hat sich die pädagogische Wissensvermittlung
        sowohl in der Ausbildung als auch in der praktischen An-
        wendung weiterentwickelt. So ging es früher, ob in Schu-
        le, Ausbildung, Universität oder Fahrschule, verstärkt
        um Wissensvermittlung, oft auch als Frontalunterricht
        für Schüler oder Auszubildende. Heute rückt das Thema
        Kompetenzen in den Vordergrund. Das „Lernen lernen“
        ist hier zum geflügelten Wort geworden.
        Auch vor der Ausbildung der Fahrlehrer und Fahrleh-
        rerinnen haben technische Innovationen und veränderte
        Ansprüche an pädagogische Konzepte nicht haltgemacht.
        Und da im Fahrlehrergesetz über die Jahre Reformbedarf
        in den gerade kurz skizzierten Bereichen entstanden ist,
        haben sich die Koalitionsfraktionen diesem Thema auch
        im Koalitionsvertrag von 2013 gewidmet, zwar nur in
        einem kleinen Satz, aber dieser Satz führt nun zu der not-
        wendigen Reform, über die wir heute abstimmen werden.
        In Zusammenarbeit mit dem Ministerium, mit den
        Fahrschulverbänden und nicht zuletzt mit dem Koaliti-
        onspartner haben wir über einen langen Zeitraum in sehr
        guter und sachlicher Art und Weise einen Gesetzestext
        zusammengebracht. Wir als SPD-Fraktion haben schon
        allein zwei Runde Tische mit Fahrlehrerverbänden und
        einzelnen Fahrschulen organisiert, ganz abgesehen von
        den vielen Hintergrund- und Expertengesprächen. Das
        Gesetz, das nun als Entwurf vorliegt, und der von un-
        serer Fraktion und der CDU/CSU eingebrachte Ände-
        rungsantrag enthalten natürlich Kompromisse. In seiner
        Gänze wird aber das eingelöst, was SPD und CDU/CSU
        in ihren Koalitionsvertrag geschrieben haben, und auch
        vieles von dem, was aus der Fahrschulbranche im Ge-
        setzgebungsverfahren an uns herangetragen wurde.
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 23053
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        Doch lassen Sie mich nun konkreter auf einige einzel-
        ne Punkte des Gesetzes und unseren gemeinsamen Ände-
        rungsantrag eingehen:
        Neben formalen Änderungen nehmen wir in unserem
        Änderungsantrag einige Empfehlungen des Bundesra-
        tes auf. So wird nun geregelt, dass bei Kooperations-
        fahrschulen die nach Landesrecht zuständige Behörde
        zuständig ist, in deren Gebiet der Sitz der Auftrag ge-
        benden Fahrschule zuständig wird. Bisher war das nicht
        in dieser Form geregelt. Ebenso dürfen auf Empfehlung
        des Bundesrates Auszüge aus dem Bundeszentralregister
        nun zum Beispiel nicht älter als drei Monate sein. Alles
        vernünftige Dinge, die wir in den Änderungsantrag auf-
        genommen haben.
        Als SPD-Fraktion haben wir uns darüber hinaus er-
        folgreich für die Beibehaltung der 495-Minuten-Rege-
        lung starkgemacht. Dies ist meiner Fraktion, aber auch
        mir persönlich, eine unheimlich wichtige Sache, und
        zwar aus Sicherheitsaspekten und aus Kontrollgründen.
        Wir wollen damit verhindern, dass Fahrlehrer oder Fahr-
        lehrerinnen, die freiberuflich praktischen Fahrunterricht
        geben, dies ohne Kontrolle und ohne zeitliche Begren-
        zung machen. Daher die Reglementierung auf 495 Mi-
        nuten pro Tag.
        Lassen Sie mich an dieser Stelle auch gleich zu den
        Freiberuflern kommen. Wir, die SPD-Fraktion, sehen
        dies eigentlich so wie die Mehrzahl der Verbände. Der
        Freiberufler ist schwer zu kontrollieren und – das sagt ja
        schon sein Name – „frei“ beruflich unterwegs. Wenn also
        ein Fahrschulinhaber einen Freiberufler einsetzt, kann er
        diesen, anders als einen eigenen angestellten Fahrlehrer,
        nur bedingt kontrollieren. Ob er zum Beispiel vorher
        schon in einer anderen Fahrschule ein paar Stunden ge-
        geben hat oder nach den beiden Stunden, die er gerade
        gibt, noch eine Nachtfahrt hinten dranhängt, ist schwer
        zu kontrollieren. Hier sieht meine Fraktion ein Problem
        unter dem Gesichtspunkt der Verkehrssicherheit. Fahr-
        lehrer müssen fit sein, das Fahrgeschehen ihrer Schü-
        ler dauerhaft beobachten, und ja, gegebenenfalls auch
        schnell und beherzt ins Fahrgeschehen eingreifen. Dazu
        müssen sie aber wach und konzentriert sein. Das kann
        man aber nicht mehr nach elf Fahrstunden!
        Nun kann man sagen – und glauben Sie mir, das habe
        ich schon oft als Argument gehört; aber es wird dadurch
        aber nicht stichhaltiger –, wir hätten doch auch freibe-
        rufliche Ärzte, Rechtsanwälte oder freiberufliche Pro-
        grammierer. Die reglementiere man doch auch nicht. Ja,
        sage ich Ihnen, das stimmt, und unsere Kritik am frei-
        beruflichen Fahrlehrer richtet sich ja auch nicht als An-
        griff auf das Freiberuflertum an sich. Sie müssen meines
        Erachtens hier aber unterscheiden, was zum Beispiel die
        Honorare von Ärzten und Fahrlehrern betrifft. Ein Arzt
        oder Rechtsanwalt hat in der Regel bessere Stundensätze
        als ein Fahrlehrer. Und wenn ein freiberuflicher Kreati-
        ver einschläft und seinen Kopf auf die Tastatur sinken
        lässt, geht davon keine Gefahr aus. Vielleicht ist das vor-
        her Programmierte gelöscht. Aber davon ist keiner gegen
        einen Baum gefahren. Ein Fahrlehrer darf aber nicht ein-
        mal kurz einen Sekundenschlaf haben oder unkonzent-
        riert sein. Das ist zu gefährlich. Und hier sehen wir die
        Sorge, dass sich Freiberufler gewissermaßen selbst aus-
        beuten, mehr Stunden machen, als sie sich zutrauen soll-
        ten, gegebenenfalls für einige Jahre die Beiträge für die
        Sozialversicherung „sparen“, um besser über die Runden
        zu kommen – mit den entsprechenden Konsequenzen,
        was zum Beispiel das Thema Altersarmut angeht. Dies
        wollte meine Fraktion so nicht. Aber wir haben uns mit
        unserem Koalitionspartner nun darauf geeinigt und wol-
        len die notwendige Verkehrssicherheit als SPD über die
        495-Minuten-Regelung erreichen. Besser wäre es für uns
        ohne Freiberufler. Aber so steht nun der Kompromiss.
        Im alten Fahrlehrergesetz war die Zweigstellenanzahl
        auf drei festgelegt. Das Ziel des Gesetzes ist es unter
        anderem, eine stärkere Konzentration und damit nicht
        zuletzt Skaleneffekte mit größeren Fahrschuleinheiten
        herstellen zu können. Daher hat sich die Koalition, nach-
        dem im Entwurf keine Zahl genannt ist, nun auf zehn
        Zweigstellen geeinigt. So kann eine Konzentrationswir-
        kung stattfinden; aber auch aus Kontrollgesichtspunkten
        werden keine riesigen Fahrschulkonglomerate möglich
        sein – wobei es so sein wird, dass bei Gemeinschafts-
        fahrschulen diese Regelung für jeden Gesellschafter gilt,
        also auch hier weiterhin in der Praxis Spielraum besteht.
        Für viel Aufregung sorgte die Übergangsfrist aus dem
        § 69 Absatz 1, die bisher im Gesetzentwurf stand. Die-
        se hätte bedeutet, dass Zweigstellen und Kooperations-
        fahrschulen erst ab dem 1. Juli 2019 möglich geworden
        wären, auch wenn wir das Gesetz jetzt schon auf den
        Weg bringen. Wenn das Gesetz aber genau diese Punkte
        einräumen will, brauchen wir hier nicht zu warten. Die
        ganze Branche sagte uns, sie seien bereit und warteten
        auf diese Regelung. Deshalb besteht hier kein Bedarf
        für diese Übergangsfrist; wir können sie ohne Weiteres
        und ohne schlechtes Gewissen herausnehmen. Auch dies
        werden Sie daher in unserem Änderungsantrag finden.
        Es ist ein hohes Gut, ortsnahe und kompetente Fahr-
        schulen in ganz Deutschland zu haben. Von der Ucker-
        mark bis in den hintersten Bayerischen Wald wollen wir
        die Fahrschullandschaft stabilisieren und modernisieren,
        damit junge Menschen sicher und verantwortungsvoll
        auf unseren Straßen Auto und Motorrad fahren können.
        Ich denke, wir haben hier auf der Grundlage unseres gu-
        ten Koalitionsvertrages ein gutes Gesetz entworfen. Ich
        bitte daher um Ihre Zustimmung.
        Thomas Lutze (DIE LINKE): Zunächst einmal ist
        es erfreulich, dass bei der Debatte zum Gesetzentwurf
        fachliche Fragen im Vordergrund standen und wir uns die
        ideologischen Schaukämpfe, wie sie die Diskussion um
        die Pkw-Maut prägten, sparen können. Die Linksfrakti-
        on unterstützt, dass die Bundesregierung die Ausbildung
        der Fahranfänger verbessern und auch die pädagogische
        Ausbildung der Fahrlehrer erhöhen möchte. Bereits im
        April 2012 hatte die Verkehrsministerkonferenz dazu auf-
        gefordert, eine umfassende Reform des Fahrlehrerrechts in
        Angriff zu nehmen. Das wird allerhöchste Zeit; schließlich
        hatte es seit 1969 kaum Anpassungen gegeben.
        Wir alle wissen, dass Fahranfänger im Straßenverkehr
        zum einen besonders gefährdet sind, zum anderen von
        ihnen aber auch die meiste Gefahr für andere Verkehrs-
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 201723054
        (A) (C)
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        teilnehmer ausgeht. Eine gute Ausbildung der Fahrlehrer
        erhöht die Verkehrssicherheit insgesamt.
        Es ist begrüßenswert, dass der Besitz der Führerschei-
        ne A und C als zwingende Voraussetzung für den Erwerb
        der Fahrlehrerlaubnisklasse BE wegfallen soll. Ein Ge-
        setz zu erlassen, ist die eine Sache. Zu schauen, ob die
        Folgeentwicklungen auch tatsächlich so eintreten, wie
        man sich es erhofft hat, ist die andere Sache. Wir sollten
        daher in der Zukunft ganz genau darauf schauen, ob ge-
        gebenenfalls noch Anpassungen vorgenommen werden
        müssen: Der Bedarf an Kompetenz für diese Fahrzeug-
        klassen wird weiterhin vorhanden sein. Die Lockerung
        von Zugangsmöglichkeiten ist oft eine Gratwanderung.
        Es darf keine Situation eintreten, bei der am Ende zu we-
        nig Fahrlehrer dieser Klassen vorhanden sind. Außerdem
        schadet es nicht, wenn ein Fahrlehrer auch die Perspekti-
        ve eines Motorrad- oder Lkw-Fahrers kennt. Auch wenn
        die Führerscheinklassen A und C nicht mehr zwingende
        Voraussetzung sein sollten, sollte also dennoch darauf
        hingewirkt werden, dass die Auszubildenden auch dahin
        gehende Kompetenzen vermittelt bekommen.
        Die Linksfraktion unterstützt, dass mit der Reform der
        Fahrlehrerausbildung pädagogischen Aspekten mehr Be-
        deutung zukommen soll. Fahrlehrer sind heute oftmals
        mit einer veränderten Altersstruktur konfrontiert: Neben
        18- oder 17-Jährigen sitzen immer öfter Menschen mitt-
        leren Alters in der Fahrschule. Ferner ist es richtig, die
        Ausbildungsinhalte zu straffen und von überflüssigem
        Ballast zu befreien. Hierbei muss jedoch darauf geachtet
        werden, dass „überflüssig“ auch genau das heißt: Straf-
        fung darf nicht auf Kosten der Qualität gehen. Kompe-
        tenzvermittlung muss den Raum bekommen, den eine
        gute Ausbildung verlangt. Um genau das zu erkennen,
        wird es nötig sein, die Fahrlehrerausbildung künftig bes-
        ser zu evaluieren. Bedauerlich ist, dass es für die päda-
        gogische Fahrschulüberwachung keine einheitlichen in-
        haltlichen Kriterien geben soll. Dass diese Überwachung
        im Laufe der Gesetzgebung von einer Muss- zu einer
        Kannbestimmung geworden ist, macht das Ganze noch
        ärgerlicher.
        Was in anderen Branchen bereits lange möglich ist,
        gilt bisher nicht so für die Fahrschulen. Die Linksfrakti-
        on unterstützt, dass künftig Kooperationen möglich sein
        sollen, wie dies für andere Branchen längst üblich ist.
        Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund begrüßens-
        wert, dass die Ausstattung von Unterrichtsräumen mit
        moderner Technik einiges kostet, und in Netzwerkstruk-
        turen ist dies eindeutig besser zu stemmen.
        Die Probleme, die heute im Fahrlehrerwesen existie-
        ren, sind zu einem großen Teil darauf zurückzuführen,
        dass die Politik viel zu lange weggeschaut hat. Das betrifft
        insbesondere die Arbeitsbedingungen. Wir brauchen eine
        bessere Angestelltenkultur, und auch die Verdienstmög-
        lichkeiten müssen sich verbessern. Im Fahrlehrerwesen
        sind Arbeitsverträge ohne Arbeitszeitkonto, ohne Festge-
        halt und ohne bezahlte Fortbildung nicht selten. Oft wer-
        den arbeitsrechtliche Bestimmungen nicht eingehalten,
        sodass in der Folge Feiertage und Urlaub nicht bezahlt
        werden oder es im Krankheitsfall keinen Lohn gibt. Auch
        über die im Gesetzentwurf geplanten Änderungen hinaus
        muss die Politik bei der Bezahlung nach Branchenmin-
        destlöhnen für Fahrschulen genauer hinschauen.
        Stephan Kühn (Dresden) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): „Was lange währt, wird endlich gut“, so heißt es
        in einem bekannten Sprichwort. Das Gesetz zum Fahr-
        lehrerwesen war auf jeden Fall ein langwieriges Vorha-
        ben, das ohne die intensiven Vorarbeiten der Länder –
        und in diesem Zusammenhang möchte ich insbesondere
        das Engagement des Landes Baden-Württemberg her-
        vorheben – heute nicht beschlossen werden könnte. Von
        dieser Seite also auch noch einmal einen Dank für die
        konstruktive Zusammenarbeit zwischen Landes- und
        Bundesebene.
        Insgesamt bringt das Gesetz zum Fahrlehrerwesen
        in wichtigen Punkten Fortschritte. Zu nennen sind die
        Neuregelung der Zugangsvoraussetzungen zum Fahr-
        lehrerberuf, die Modernisierung der Fahrlehreraus- und
        -weiterbildung, die Verbesserung der Kooperationsmög-
        lichkeiten von Fahrschulen und der Fahrschulüberwa-
        chung, die Einführung der Fortbildungspflicht bis hin zur
        Entbürokratisierung.
        Ein zentraler Baustein der modernisierten Fahrlehrer-
        ausbildung ist die deutliche Erhöhung des Anteils päd-
        agogischer Inhalte. Die Orientierung des Curriculums
        der Fahrlehrerausbildung an Kompetenzstandards und
        die Berücksichtigung neuer Inhalte wie E-Mobilität und
        Fahrerassistenzsysteme sind weitere Puzzleteile, die die
        Qualität der Fahrlehrer- und damit auch der Fahrschul-
        ausbildung anheben.
        Durch die jüngsten Änderungen konnten weitere Ver-
        besserungen erreicht werden, die meine Fraktion schon
        frühzeitig angemerkt hat. Dazu zählt die Arbeitszeitbe-
        schränkung, die jetzt wieder nach der 495-Minuten-Re-
        gel erfolgen soll. Damit soll vor allem dem Missbrauch
        durch die unter besonderem wirtschaftlichen Druck ste-
        henden selbstständigen Fahrerlehrer vorgebeugt werden.
        Auch die Streichung der Übergangsfrist, wonach Ko-
        operationen unter Fahrschulen und die Errichtung von
        Zweigstellen erst ab dem 1. Juli 2019 möglich sein soll-
        ten, findet unsere Zustimmung. Damit kann der anhalten-
        de Strukturwandel in der Fahrschulbranche hin zu wirt-
        schaftlich tragfähigen Unternehmensgrößen nun endlich
        unter verlässlichen Rahmenbedingungen stattfinden und
        von den Fahrschulen vorbereitet und gestaltet werden.
        Allerdings wird mit dem Änderungsantrag der Gro-
        ßen Koalition nun wieder der Einsatz von freiberuflichen
        Fahrlehrern ermöglicht. Das lehnen wir ab. Denn hier
        geht es in Wirklichkeit nicht um den „freien Beruf“ des
        Fahrlehrers, sondern letztendlich um die Verschleierung
        prekärer Arbeitsverhältnisse.
        Schließlich lehnt meine Fraktion auch die jetzige Re-
        gelung bei den Überwachungsvorschriften und Kontrol-
        len für die Fahrschulen und Fahrlehrerausbildungsstätten
        ab. Wichtig wäre in diesem Zusammenhang gewesen,
        dass die dazu notwendigen Regelungen bundesweit
        einheitlich umgesetzt werden. Die vorgesehene Sollbe-
        stimmung hätte unbedingt durch eine Mussbestimmung
        ersetzt werden müssen. In der jetzigen Fassung bleibt es
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 23055
        (A) (C)
        (B) (D)
        daher sehr zweifelhaft, ob die angestrebte Verbesserung
        der pädagogischen Qualität in der Praxis auch gelingt, da
        es keine einheitlichen und klaren Kriterien für ihre Über-
        wachung gibt.
        Meine Fraktion wird sich daher enthalten.
        Anlage 11
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung:
        – des von der Bundesregierung eingebrachten
        Entwurfs eines Gesetzes zur Neufassung des
        Gesetzes zur Regelung von Sekundierungen im
        Rahmen von Einsätzen der zivilen Krisenprä-
        vention
        – der Beschlussempfehlung und des Berichts
        des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag
        der Abgeordneten Kathrin Vogler, Wolfgang
        Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter
        und der Fraktion DIE LINKE: Für eine aktive
        zivile Friedenspolitik
        – der Beschlussempfehlung und des Berichts
        des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag
        der Abgeordneten Dr. Franziska Brantner,
        Annalena Baerbock, Marieluise Beck (Bre-
        men), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
        BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Zivile Krisenprä-
        vention und Friedensförderung stärken – Neue
        Lösungsansätze erarbeiten und umsetzen
        – der Beschlussempfehlung und des Berichts des
        Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der
        Abgeordneten Dr. Franziska Brantner, Tom
        Koenigs, Annalena Baerbock, weiterer Abge-
        ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
        GRÜNEN: ,,Group of Friends“ für Konfliktprä-
        vention im Rahmen der Vereinten Nationen
        (Tagesordnungspunkt 28 a bis d)
        Thorsten Frei (CDU/CSU): Deutschland muss allein
        schon aus Eigeninteresse mehr internationale Verantwor-
        tung übernehmen – unabhängig von den Forderungen un-
        serer Partner. Dabei geht es nicht nur darum, dass wir uns
        an die Vereinbarungen halten, zu denen wir uns selbst
        verpflichtet haben. Es geht auch darum, dass wir selbst
        Verantwortung für unsere Sicherheit und den Schutz
        unserer Bürger übernehmen. Dazu gehören sowohl die
        Stärkung der militärischen Fähigkeiten als auch unsere
        Möglichkeiten etwa in der zivilen Krisenprävention.
        Das betrifft neben unserer Bereitschaft, vor Ort mehr
        zu leisten und insgesamt mehr Geld in die Hand zu neh-
        men, zuallererst die Erledigung unserer Hausaufgaben in
        Deutschland, um die entsprechenden Rahmenbedingun-
        gen für mehr Engagement zu legen. Mit der Novellierung
        des Sekundierungsgesetzes legt die Bundesregierung den
        Grundstein für gesteigerte Entsendezahlen von zivilen
        Experten in die Krisenregionen rund um Europa und vor
        allem in Afrika. Schließlich sind die Menschen und ihr
        Know-how das Fundament für ein erfolgreiches Kri-
        senmanagement. Mit dem neuen Sekundierungsgesetz
        werden wir unserer Verantwortung nach innen und nach
        außen besser als bisher gerecht.
        Zum einen galt und gilt es, die Rahmenbedingungen
        von Friedenseinsätzen so zu verbessern, dass das not-
        wendige zivile Personal quantitativ mehr, deutlich ziel-
        genauer und insgesamt spürbar schneller rekrutiert und
        entsendet werden kann. Dadurch können wir in der je-
        weiligen Krisensituation besser als bisher einen Beitrag
        für Stabilität und Sicherheit leisten. Die Übertragung der
        Sekundierungsaufgaben an das Zentrum für Internationa-
        le Friedenseinsätze, ZIF, wird dies ermöglichen, genauso
        wie die Dualität von Sekundierungs- und Arbeitsver-
        trägen für mehr Flexibilität beim ZIF und die höheren
        Absicherungsstandards für mehr Attraktivität bei den
        zu entsendenden Experten sorgen werden. Durch mehr
        entsendete Experten würde auch die Befähigung zum ei-
        genverantwortlichen Handeln krisengebeutelter Staaten
        schneller sichtbar und die Durchdringungstiefe unserer
        Bemühungen nähme zu.
        Wenn man an die Vielzahl der unterschiedlichen
        Aufgaben der Sekundierten wie beispielsweise den
        Aufbau unabhängiger Medien, Vermittlung demokrati-
        scher Strukturen und Prozesse, Flüchtlingsarbeit, Über-
        wachung der Menschenrechte, politische Beratung und
        Analyse, Wahlbeobachtung und Begleitung von Versöh-
        nungsprozessen denkt, wird offenkundig, dass es für die
        erfolgreiche Konfliktbeilegung einen sehr hohen Bedarf
        an außenstehender Hilfe gibt. Hier können und müssen
        wir weiter deutlich zulegen. Ich hoffe, dass wir dieses
        Ziel offensiv angehen.
        Ich bin überzeugt, dass durch die nunmehr besseren
        Rahmenbedingungen tatsächlich auch mehr Menschen
        bereit sein werden, die Strapazen der Missionen auf sich
        zu nehmen. Im gleichen Atemzug wird auch das quali-
        tative Angebot von Interessenten weiter zunehmen. Das
        wird auch unseren Friedensbemühungen zugutekommen.
        Und es ist auch klar, dass schnellere Reaktionen der in-
        ternationalen Gemeinschaft in Bezug auf das frühzeitige
        und kurzfristige Entsenden von Expertenteams deeska-
        lierend auf schwelende und anwachsende Konflikte wir-
        ken können. Die Friedensaussichten und die Hoffnungen
        auf Vermeidung unnötiger und dauerhafter Schäden stei-
        gen. Das neue Sekundierungsgesetz verspricht uns damit
        eine echte Friedensdividende.
        Ganz besonders wichtig ist mir jedoch, dass das über-
        arbeitete Sekundierungsgesetz vor allem auch Ausdruck
        für unsere Verantwortung nach innen und die Wertschät-
        zung der Arbeit und Aufopferung der vielen zivilen Ex-
        pertinnen und Experten ist. Endlich erhalten die, die sich
        zum Teil von ihren Aufgaben im Inland entbinden lassen
        und oft von altruistischen Motiven geleitet werden, die
        notwendige Rechtssicherheit und die notwendige per-
        sönliche Sicherheit. Sie werden künftig in arbeits- und
        versorgungsrechtlichen Fragen sowie in Haftungsangele-
        genheiten besser geschützt.
        Die Änderungen werden der deutschen Krisenprä-
        vention hoffentlich einen spürbaren Schub verleihen. Im
        Moment werden wir unserer Verantwortung mit jährlich
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 201723056
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        gerade einmal 160 sekundierten Personen nur sehr ein-
        geschränkt gerecht. Auch hier gilt: Geld allein ist nicht
        alles. Auch wenn wir eines der größten Geberländer sind,
        kann Geld allein nicht die notwendigen Veränderungen
        im Feld herbeiführen.
        Seit dem Jahr 2002 hat das Berliner Zentrum für In-
        ternationale Friedenseinsätze einen Expertenpool aufge-
        baut, der mittlerweile über 1 400 Fach- und Führungs-
        kräfte aus unterschiedlichen Branchen beinhaltet. Aber
        wir brauchen heute angesichts der Herausforderungen
        deutlich mehr Potenzial und Kapazität.
        Bisher konnten andere Entsendeorganisationen oft at-
        traktivere Konditionen anbieten. Auch deswegen ist die
        Novellierung ein wichtiger Schritt in die richtige Rich-
        tung. Die gesetzlich verankerte Verbesserung von so-
        zialer Absicherung und finanzieller Vergütung wird für
        mehr Attraktivität und Konkurrenzfähigkeit des ZIF in
        Entsendungsfragen sorgen. Die Bindung an den Tarif-
        vertrag im öffentlichen Dienst sowie die Möglichkeiten
        zur Eingruppierung oberhalb dieses Rahmens sind rich-
        tig, um Spitzenpersonal zu gewinnen. Durch den Wegfall
        der Aufwandsentschädigungen fallen endlich die mit den
        vom Bundesrechnungshof zur Geltung gebrachten Steu-
        erunsicherheiten weg. Wichtige Anpassungen erfolgen
        außerdem im Bereich der Arbeitslosen- und Rentenver-
        sicherungen, insbesondere für den Fall, dass während
        einer Mission ein dauerhafter Schaden an Leib und Le-
        ben eintritt, sowie beim Abschluss einer Haftpflichtver-
        sicherung. Dadurch, dass die Entsendeorganisation die
        Kosten übernimmt und Gleichstellungen mit den Vor-
        schriften normaler Arbeitsverhältnisse geregelt werden,
        werden die notwendigen Vorkehrungen nicht mehr auf
        den Dienstleistenden abgewälzt, was in der Vergangen-
        heit immer wieder zu schlechten Schutzniveaus aus Kos-
        tengründen führte. Die vorliegenden Änderungen sind
        wir unseren Experten längst schuldig.
        Zusätzlich werden die Familienverhältnisse der Se-
        kundierten stärker berücksichtigt. Die „Duty of care“,
        also die Fürsorge für die entsandten Personen und deren
        Familienmitglieder, erfährt im neuen Gesetz einen ganz
        anderen Stellenwert. Dieser findet sich in einer Familien-
        versicherung, einem Mietzuschuss und einem möglichen
        Familiennachzug wieder.
        Da das ZIF zu einer vollwertigen Entsendeorganisati-
        on ausgebaut werden soll, kann sich diese Organisation
        gleichzeitig zu einem attraktiven Arbeitgeber entwickeln
        und eine aktive Personalentwicklung betreiben. Beides
        bringt viele Vorteile mit sich. Die bestehenden Reibungs-
        verluste im Dreiecksverhältnis Entsendeperson – ZIF –
        Ministerium werden der Vergangenheit angehören. Die
        gesamte organisatorische Abwicklung wird in Zukunft
        vom ZIF übernommen. Dies kann bei dringendem Be-
        darf und im konkreten Fall viel Zeit sparen. Es gibt eine
        zentrale Anlaufstelle für alle Bewerber und Mitglieder
        des Expertenpools. Kurz: Das Berliner Forum wird pro-
        fessionalisiert.
        All diese – aus meiner Sicht längst fälligen – Anpas-
        sungen unterstreichen die von der Bundesregierung emp-
        fundene Anerkennung für die Arbeit der zivilen Experten
        in Friedensmissionen. Viele unter uns wissen, was es
        bedeutet, oft von zu Hause weg und von der Familie ge-
        trennt zu sein. Sekundierte, gerade in akuten Krisenregi-
        onen, bekommen ihre Familie und Freunde mehrere Mo-
        nate nicht zu Gesicht. Die Zurückgebliebenen fürchten
        oft um das Wohlergehen der in der Ferne Arbeitenden.
        Das neue Gesetz ist auch ein Ausdruck der Wertschät-
        zung für eine derartig getroffene Lebensentscheidung.
        Dennoch ist uns allen bereits heute klar, dass wir kei-
        ne Zeit haben, um uns auf dem Status quo auszuruhen.
        Die in den vergangenen Jahren gestiegene Anzahl von
        Menschen auf der Flucht und der immer weiter steigen-
        de, wirtschaftlich intendierte Migrationsdruck aus Afrika
        werden dafür sorgen, dass der Bedarf an qualifizierten
        Helfern und die Erwartungen an Deutschland weiter stei-
        gen werden. Wir werden auf absehbare Zeit mehr Helfer
        ins Feld bringen müssen, um die Lebensbedingungen
        zu verbessern. Deshalb werden wir die Rahmenbedin-
        gungen für die begrenzte Anzahl infrage kommender
        Helfer weiter anpassen und verbessern müssen, und die
        Strukturen des ZIF – auch das wird sich im Haushalt wi-
        derspiegeln müssen – müssen einer vollständigen und
        leistungsfähigen Entsendeorganisation entsprechen. Es
        reicht nicht einfach, die 4,5 im Auswärtigen Amt veran-
        schlagten Stellen ins ZIF zu verlegen. Wenn man höhere
        Zahlen als 160 erreichen will, braucht es mehr Geld im
        Einzelplan 5. Aus meiner Sicht wäre mehr Geld für das
        ZIF eine gute Investition in die Zukunft Deutschlands,
        vor allem wenn man bedenkt, dass Deutschland in 2016
        23 Milliarden Euro für die Versorgung und Unterbrin-
        gung von Asylbewerbern in Deutschland ausgegeben hat,
        während für den Transfer von Expertise zur Bekämpfung
        von Fluchtursachen lediglich 13,3 Millionen Euro im
        Einzelplan 5 vorgesehen sind. Auch darüber werden wir
        in Zukunft weiter sprechen müssen.
        Bei aller zum Ausdruck kommenden Wertschätzung
        für unsere zivilen Experten müssen wir aber auch immer
        an die Entsendung von Soldaten und den großen Be-
        darf – den wir ebenfalls viel stärker bedienen sollten –
        an deutschen Polizisten in VN-Missionen denken. Wir
        wissen nicht zuletzt durch die angeregten gesellschaft-
        lichen Diskussionen über unsere NATO- und ODA-Zu-
        sagen oder über die Idee eines 2+1-Prozent-Ziels, dass
        die Erwartungen an uns in diesem Bereich ebenso hoch
        sind. Und wenn man bedenkt, dass nicht wenige Marine-
        soldaten angesichts der Missionen UNIFIL, Atalanta und
        Sophia teilweise mehr als 280 Seetage pro Jahr auf dem
        Buckel haben, erkennt man auch in diesem Bereich aku-
        ten Handlungsbedarf. Auch diesem Bedarf müssen wir in
        der ganzheitlichen Betrachtung unseres Engagements der
        Krisenprävention und Konfliktbeilegung gerecht werden.
        Leider ist es eben viel zu oft so, dass die Präsenz von
        Militär und Polizei überhaupt erst den Einsatz ziviler
        Mittel und Akteure erlaubt. Jüngstes Beispiel ist die Hun-
        gerkatastrophe in Ostafrika. Knapp 20 Millionen Men-
        schen droht der Hungertod. Dabei ist es nicht so, dass
        die Dürre von El Niño nicht vorhersehbar war. Vielmehr
        leiden die Menschen in Südsudan, Somalia, Nordnigeria,
        der Zentralafrikanischen Republik oder dem Jemen, weil
        dort Konflikte im vollen Gange sind. Die lokalen Regie-
        rungen investieren lieber in Waffen als in Nahrungsmit-
        tel. Wegen der Gefahren können die Bauern weder säen
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 23057
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        noch ernten. Hilfsorganisationen werden zum Teil offen-
        siv von ihrer Hilfeleistung abgehalten und kommen gar
        nicht in die notwendigen Regionen, obwohl sie sogar vor
        Ort vertreten sind. Hier braucht es eben auch den ande-
        ren Teil des Instrumentenkastens. Das sollten wir heute
        in der Diskussion nicht vergessen.
        Unsere Erfahrungen machen schließlich deutlich, dass
        der vernetzte Ansatz, also der Rückgriff auf diplomati-
        sche, zivilgesellgesellschaftliche, entwicklungspoliti-
        sche, polizeiliche und militärische Mittel, die beste Basis
        bietet, um den heutigen Konfliktherausforderungen zu
        begegnen und einen nachhaltigen Frieden zu schaffen.
        Deshalb haben wir in einem gesamthaften Ansatz unsere
        Leitlinien für die Krisenprävention, Stabilisierung und
        Friedensförderung konzeptionell erneuert, um die Leh-
        ren aus den bisherigen Einsätzen einzuarbeiten, unsere
        Fähigkeiten zu verbessern und gerade auch die Perspek-
        tiven der zivilgesellschaftlichen Akteure deutlicher her-
        auszuarbeiten.
        Die neuen Leitlinien, die Ertüchtigungsinitiative und
        das Sekundierungsgesetz gehen Hand in Hand, um die
        passenden Antworten auf die heutigen und zukünftigen
        Herausforderungen in unserer Nachbarschaft zu geben.
        Die Bundesregierung unterstreicht mit ihren vielfältigen
        Initiativen und ihrem ambitionierten Handeln, dass sie
        Deutschlands Rolle als Friedensbeschleuniger sehr ernst
        nimmt und aktiv führen wird.
        Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (SPD): Ich freue mich
        außerordentlich, dass wir heute den Gesetzentwurf zur
        Neuregelung von Sekundierungen im Rahmen von Ein-
        sätzen der zivilen Krisenprävention diskutieren.
        Seit vielen Jahren leisten zivile Expertinnen und Ex-
        perten aus Deutschland weltweit einen wichtigen Beitrag
        zur internationalen Krisenprävention. Dafür gebühren
        ihnen unser Respekt und unsere Anerkennung. Zugleich
        haben sie einen Anspruch darauf, dass sie durch ih-
        ren Einsatz keine persönlichen Nachteile erleiden. Die
        SPD-Bundestagsfraktion hat sich daher seit langem für
        eine bessere rechtliche Absicherung dieser Friedenskräf-
        te eingesetzt.
        Mit diesem Gesetz schaffen wir erheblich bessere
        Rahmenbedingungen für die Einsätze ziviler Fachkräf-
        te in Krisengebieten. Dieses Gesetz ist gleichzeitig ein
        Ausdruck des hohen Stellenwerts und der Wertschät-
        zung, den das Parlament der Arbeit und Leistung dieser
        Fachkräfte zumisst.
        Die Notwendigkeit für eine Neuregelung des Gesetzes
        wurde besonders klar, als im Mai 2014 mehrere Helfer,
        darunter auch drei deutsche sekundierte Mitarbeiter einer
        EU-Mission in Dschibuti, Opfer eines Anschlags wur-
        den. Schwerverletzt mussten sie nach Deutschland aus-
        geflogen werden. Sie waren durch das Sekundierungsge-
        setz von 2009 nur unzureichend abgesichert. Von einer
        vergleichbaren Absicherung, zum Beispiel im Vergleich
        zur Bundeswehr, konnte keine Rede sein.
        Aber nicht nur für Ausnahmesituationen wollten wir
        unsere zivilen sekundierten Fachkräfte besser absichern;
        auch bei der Ausgestaltung der Verträge für sekundierte
        zivile Expertinnen und Experten zeigte sich in der Praxis
        Nachbesserungsbedarf. Mit dem vorliegenden Gesetz-
        entwurf wird die Sekundierung für zivile Fachkräfte zu-
        künftig deutlich verbessert; denn durch die Änderungen
        im Gesetz wird die Sekundierung flexibler, effizienter,
        und vor allem bieten die Sekundierungsverhältnisse zu-
        künftig eine bessere soziale Absicherung.
        Das zivile Fachpersonal, das häufig unter schwierigs-
        ten Bedingungen in Krisengebieten seine Arbeit durch-
        führt, hat diese spürbar bessere Absicherung mehr als
        verdient. Es leistet für uns alle eine unermesslich wich-
        tige Arbeit. Es leistet für die Menschen in den Krisen-
        regionen einen wichtigen Beitrag zur friedlichen Kon-
        fliktbewältigung, zur Versöhnungsarbeit, zum Aufbau
        von Rechtsstaatlichkeit, zu einer besseren Bildung und
        besseren wirtschaftlichen Perspektiven.
        Weder innerstaatliche Konflikte noch Konflikte zwi-
        schen Staaten können durch militärische Interventionen
        gelöst werden. Letztere können einen Waffenstillstand
        erzwingen, der Konflikt selbst aber muss durch Verhand-
        lungen und Vereinbarungen gelöst werden. Deshalb hat
        die zivile Krisenprävention und Konfliktbearbeitung für
        die Förderung von Frieden und Sicherheit weltweit eine
        besonders hohe Bedeutung. Mit der Neuregelung des Se-
        kundierungsgesetzes leisten wir einen wichtigen Beitrag
        dazu, Deutschlands zivile Fähigkeiten zur Krisenpräven-
        tion und Konfliktbeilegung zu verbessern.
        Momentan befinden sich ungefähr 160 Personen als
        sekundierte zivile Expertinnen und Experten in Friedens-
        missionen. Zukünftig werden wir eher mehr als weniger
        sekundierte Fachkräfte benötigen. Und wir brauchen die
        besten Expertinnen und Experten, die wir bekommen
        können.
        Viele Länder vertrauen auf deutsche, europäische
        und internationale Unterstützung beim Wiederaufbau
        staatlicher Strukturen, bei der Korruptionsbekämpfung
        oder beim Voranbringen von Verfassungsreformen. Auch
        wenn Krisen und Konflikte hoffnungslos erscheinen,
        gibt es immer wieder positive Beispiele, aus denen wir
        neue Energie schöpfen. Die Friedensprozesse in Ruan-
        da, Sierra Leone oder in Kolumbien zeigen: Auch schier
        unlösbare Konflikte, auch von Kriegen zutiefst verletzte
        Länder können wieder Frieden finden.
        Für diese oft langwierigen Aufgaben benötigen wir
        motivierte und tatkräftige zivile Fachkräfte. Ob Rich-
        ter, Journalisten, Finanzexperten oder Supply Chain
        Manager, sie alle sind gefragt in der Krisenprävention
        und Friedensförderung. Das neue Sekundierungsgesetz
        schafft die Grundlage, damit diese zivilen Expertinnen
        und Experten ihre Arbeit unter sicheren und besseren
        Rahmenbedingungen leisten können.
        Sekundierungsverträge werden zukünftig zum Aus-
        nahmefall; sie sollen hauptsächlich bei kurzen Wahlbe-
        obachtungen verwendet werden. Für längerfristige Se-
        kundierungen werden Arbeitsverträge zum Regelfall, die
        an die TVÖD-Entgelttabelle angelehnt sind. Die soziale
        Absicherung, also Altersvorsorge, Kranken-, Pflege- und
        Rentenversicherung, sowie die Einbeziehung in den
        Schutzbereich der Arbeitsförderung werden im neuen
        Sekundierungsgesetz explizit geregelt.
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 201723058
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        (B) (D)
        Seit unter Rot-Grün im Jahr 2002 das Zentrum für In-
        ternationale Friedenseinsätze, kurz: ZIF, gegründet wur-
        de, arbeitet es im Auftrag der Bundesregierung und des
        Bundestages eng mit dem Auswärtigen Amt zusammen.
        Das ZIF übernimmt die Personalvorauswahl, trainiert
        und vermittelt die ausgewählten Fachkräfte in interna-
        tionale Friedenseinsätze. Der Abschluss des Sekundie-
        rungsvertrages lag bisher in der Hand des Auswärtigen
        Amtes. Um Effizienzverluste zu vermeiden, soll diese
        Aufgabe nun auch dem ZIF übertragen werden. So wird
        das ZIF zu einer vollwertigen Entsendeorganisation
        ausgebaut. Das ist eine sehr positive Entwicklung. Das
        ZIF leistet eine hervorragende und unersetzliche Arbeit.
        Vielen Dank an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des
        ZIF.
        Die Neuregelung des Sekundierungsgesetzes ist ein
        wichtiger Schritt, um die deutsche zivile Krisenpräven-
        tion und damit die deutsche Außenpolitik weiter zu stär-
        ken. Ungewollte Versorgungslücken werden geschlos-
        sen, die Sekundierung wird attraktiver. Zivile Fachkräfte
        müssen sich zukünftig keine Sorgen mehr um ihre Absi-
        cherung machen.
        Wenn es um die Wertschätzung von zivilen Exper-
        tinnen und Experten und ihre Reintegration in den deut-
        schen Arbeitsmarkt nach einem Auslandseinsatz geht, ist
        hiermit ein wichtiger Schritt gemacht. Zivile Fachkräfte
        in Friedensmissionen leisten Außerordentliches unter
        enormen Druck, jeden Tag. Wir ehren diese besonderen
        Persönlichkeiten seit 2013 mit dem Tag des Peacekeepers
        und sagen Danke für die wichtige Arbeit, die deutsche
        Friedensmacher in Mali, Afghanistan oder im Kosovo
        leisten. Das Thema gehört in die Mitte der Gesellschaft.
        Ohne tatkräftige zivile Expertinnen und Experten wäre
        deutsches Engagement in Friedenseinsätzen und unsere
        Außenpolitik deutlich weniger wirksam!
        Kathrin Vogler (DIE LINKE): Ich freue mich, dass
        wir heute ein gemeinsames Anliegen aller Bundestags-
        fraktionen hier auf den Weg bringen können: die bessere
        soziale Absicherung von Fachkräften, die in der zivilen
        Krisenprävention und Konfliktbearbeitung im Ausland
        eingesetzt werden. Tatsächlich macht sich vermutlich
        niemand, der es nicht selbst erlebt hat, Gedanken darü-
        ber, welche rechtlichen Spitzfindigkeiten zu beachten
        sind, wenn Deutschland zivile Fachkräfte in Friedens-
        missionen etwa der Vereinten Nationen oder der OSZE
        entsendet. Da geht es um recht komplizierte Fragen des
        Arbeitsverhältnisses und der sozialen Absicherung, über
        Krankenversicherung, Rente, Arbeitslosenversicherung
        oder steuerrechtliche Fragen, die den Betroffenen noch
        zusätzlich zu ihrem oft komplizierten Einsatz in Krisen-
        gebieten erheblich zu schaffen machten.
        Das Sekundierungsgesetz löst viele dieser Probleme,
        und in der Anhörung haben uns sowohl das Auswärtige
        Amt als auch das Zentrum für Internationale Friedensein-
        sätze, das nun zur Entsendeorganisation für die Fachkräf-
        te wird, glaubhaft versichert, dass sie in der Praxis auch
        solche Fragen, die hier nicht geregelt sind, wohlwollend
        im Sinne der Betroffenen zu lösen gewillt sind, wie etwa
        die Heimflüge zur Familie, die Kosten für notwendige
        Gepäcktransporte oder die betriebliche Mitbestimmung
        der Entsandten. Deswegen stimmt meine Fraktion die-
        sem Gesetzentwurf nun auch zu.
        Gleichzeitig stimmen wir hier heute auch über einen
        Antrag meiner Fraktion ab, der die Bundesregierung dazu
        auffordert, ein ziviles Leitbild für eine friedensfördernde
        Außenpolitik zu entwickeln und umzusetzen. Noch Au-
        ßenminister Steinmeier hat im vergangenen Jahr einen
        Prozess in Gang gesetzt, der zu einem Leitbild der Bun-
        desregierung für das außenpolitische Handeln in Krisen
        und Konflikten führen sollte. Das Ergebnis wollte er ei-
        gentlich im Februar präsentieren. Doch nach allem, was
        man hört, stockt der Beratungsprozess im Kabinett, weil
        sich vor allem das Verteidigungsministerium gegen jede
        politische Festlegung auf einen Vorrang von ziviler Kri-
        senprävention und Konfliktbearbeitung stemmt. Nichts
        soll nach Auffassung der Ministerin von der Leyen den
        Machtanspruch der Bundeswehr einschränken, nicht ein-
        mal symbolisch. Und an keiner Stelle soll eine Präferenz
        für ziviles und gewaltfreies Handeln in internationalen
        Krisen auch nur angedeutet werden. Das politische An-
        liegen, das sich 2004 im Aktionsplan „Zivile Krisen-
        prävention“ noch widergespiegelt hat, dass nämlich die
        Bundesrepublik Deutschland ihre Friedensverantwor-
        tung in der Welt vorwiegend zivil und nicht militärisch
        wahrnimmt, soll nun vollständig entkernt und seiner Be-
        deutung entkleidet werden.
        Da rächt sich nun, dass die Bundeswehr seit 1992
        systematisch zur Einsatzarmee und zum Instrument für
        sogenannte deutsche Interessen in aller Welt umgebaut
        wurde. Ein wenig erinnert das an Goethes Zauberlehr-
        ling, der die militaristischen Geister, die er zum schein-
        bar wohltätigen Werk rief, nun nicht mehr loswird. Und
        manchmal hat man ja sogar den Eindruck, dass jemand
        wie Wladimir Putin oder Donald Trump den politischen
        Eliten dieses Landes gerade recht ist – als billige Begrün-
        dung dafür, das eigene Militär noch mehr aufzuwerten,
        weiter aufzurüsten und auch die EU in ein Militärbündnis
        umzubauen.
        Überaus billig und durchschaubar ist auch der Ver-
        such, das 2-Prozent-Ziel der NATO hinter einem 3-Pro-
        zent-Ziel zu verstecken, in dem dann Ausgaben für Di-
        plomatie, Krisenprävention, Entwicklungspolitik und
        sogar Humanitäre Hilfe aufgehen. Sie wissen nämlich
        genau, dass die Bevölkerung die massive Aufstockung
        der Militärausgaben ablehnt, und so wollen Sie den Men-
        schen Sand in die Augen streuen. Seien Sie gewiss: Die
        Linke wird diese falsche und fatale Politik nicht akzep-
        tieren, nicht heute, nicht nach der Wahl und auch nicht
        in 10 oder 20 Jahren. Wir werden weiter dafür kämpfen,
        dass deutsche Außenpolitik endlich zivile Friedenspolitik
        wird, ohne Wenn und Aber.
        Dr. Franziska Brantner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Mitte Februar, bei der ersten Lesung, waren es
        mickrige 25 Minuten Debattenzeit; jetzt wird der Tages-
        ordnungspunkt „zivile Krisenprävention“ zu nachtschla-
        fender Zeit abgehandelt. So feiert diese Bundesregierung
        die bislang umfangreichste Verbesserung für ihre zivilen
        Expertinnen und Experten, die sie in internationale Ein-
        sätze schickt. Wie Sie sich ihr immer wieder betontes
        Plädoyer für „mehr Verantwortung“ vorstellen, meine
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 23059
        (A) (C)
        (B) (D)
        Damen und Herren von der Großen Koalition, soll offen-
        bar niemand mitbekommen.
        Aber zum Glück wirkt das Gesetz in der Praxis, und
        damit wird es demnächst konkret spürbar für alle Betrof-
        fenen. Alle zivilen Expertinnen und Experten erhalten
        demnächst einen regulären Arbeitsvertrag. Damit sind
        sie erstmals versicherungsrechtlich abgesichert. Dadurch
        verschwindet das Risiko von internationalen Einsätzen
        zwar nicht; aber es lässt sich besser abschätzen und ob-
        liegt nicht mehr gänzlich den jeweiligen Betroffenen. Die
        Bundesregierung übernimmt also die Verantwortung, die
        ihr zukommt, wenn sie Menschen in ihrem Auftrag zur
        Friedensarbeit in der Welt entsendet. Endlich!
        Auch das Zentrum für Internationale Friedenseinsätze
        wird das neue Gesetz spüren, wenn es demnächst eine
        vollständige Entsendeorganisation ist und ihre Aufgabe
        als Arbeitgeberin noch besser wahrnehmen kann. Es sind
        und werden spannende Zeiten für das ZIF, die hoffentlich
        zum Ergebnis haben werden, dass wir in Zukunft mehr
        deutsche Expertise in weltweiten Einsätzen erleben wer-
        den.
        Trotz der Verbesserungen, die erreicht wurden: Das,
        was wir heute hier abschließend beraten, könnte für die
        Sekundierten noch besser sein. Ich denke da an simple,
        aber wichtige Dinge wie Beschränkungen des Reisege-
        päcks, keine regelmäßigen Heimatflüge, keine Regelung
        für den Familiennachzug. Kurzum: Da ist noch Luft nach
        oben!
        So wenig die Öffentlichkeit offenbar von den Verbes-
        serungen erfahren soll, so unklar bleibt die Bundesregie-
        rung auch bei ihren Zielen in den zukünftigen Leitlinien
        zur zivilen Krisenprävention. Unsere Anträge wurden
        routinemäßig abgelehnt. Dabei vergibt die Bundesregie-
        rung eine Chance, die zivile Konfliktbearbeitung kontro-
        vers zu diskutieren und nach bestmöglichen Lösungen zu
        suchen. Wo ist denn das neue Grundsatzdokument zur zi-
        vilen Krisenprävention, das ursprünglich für Anfang des
        Jahres angekündigt war? Gibt es etwa – auch bei diesem
        Thema – koalitionsinternen Zoff? Oder wissen Sie nicht,
        worum es gehen soll? Wir geben Ihnen gern Nachhilfe.
        Warum brauchen Sie so lange? Greifen Sie einfach unse-
        re Ideen auf! Gerade wir Grünen haben uns intensiv mit
        den Möglichkeiten und Grenzen der zivilen Krisenprä-
        vention auseinandergesetzt. Dieses Thema gehörte und
        gehört immer zum Kern unserer Außenpolitik.
        Wer im Bereich „zivile Krisenprävention, Menschen-
        rechts- und Entwicklungszusammenarbeit“ eine so
        schlechte Bilanz hat, der muss sich nicht feiern lassen –
        oder er weiß genau, warum er zu nachtschlafender Zeit
        darüber debattieren lässt.
        Anlage 12
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung
        eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Ge-
        setzes zur Entlastung insbesondere der mit-
        telständischen Wirtschaft von Bürokratie
        (Zweites Bürokratieentlastungsgesetz) (Zusatzta-
        gesordnungspunkt 4)
        Helmut Nowak (CDU/CSU): Ein hochentwickel-
        tes staatliches Gemeinwesen wie die Bundesrepublik
        Deutschland benötigt eine leistungsfähige Bürokratie.
        Dennoch müssen wir uns fragen, ob es bei uns seit länge-
        rem nicht ein Zuviel des Guten gibt.
        Allein zwischen Juli 2015 und Juli 2016 sind die jähr-
        lichen Folgekosten von Gesetzen für Bürger, Wirtschaft
        und Verwaltung insgesamt um 453 Millionen Euro an-
        gestiegen. Der hohe Anstieg in diesem Zeitraum ist vor
        allem auf ein Regelungsvorhaben zurückzuführen: Allein
        das Gesetz zur Digitalisierung der Energiewende verur-
        sacht 139 Millionen Euro Folgekosten, jährlich! Von dem
        Anstieg besonders betroffen ist, wie auch in den vergan-
        genen Jahren, die Wirtschaft. Hier erhöhten sich die Fol-
        gekosten im Vergleich zur Vorperiode um 299 Millionen
        Euro, vor allem durch die Umsetzung von EU-Recht.
        Wir müssen zusehen, dass wir die derzeitigen Erfol-
        ge der deutschen Wirtschaft auch noch in Zukunft feiern
        können. Nur eine erfolgreiche Wirtschaft sichert unseren
        sozialen Wohlstand. Unternehmer und Freiberufler sollen
        sich doch in erster Linie um ihre Unternehmung küm-
        mern und nicht primär um die Befriedigung der Statistik.
        Schaut man sich einmal die Unzahl an Berichtspflichten
        und Meldungen an staatliche Stellen an, die bereits klei-
        ne Firmen heute zu bewerkstelligen haben, so lässt sich
        durchaus nachvollziehen, dass viele Menschen in unse-
        rem Land schlicht keine Lust haben, sich selbstständig
        zu machen. Wir sollten daher als Politik dringend han-
        deln und sehen, wo wir denjenigen, die in Deutschland
        im besten Sinne des Wortes etwas „unternehmen“, Steine
        aus dem Weg räumen können.
        Die Rahmenbedingungen, die die Politik setzen will
        und muss, dürfen nicht mehr Bürokratie aufbauen, als er-
        forderlich ist. Dieser Leitspruch hat uns auch in dieser Le-
        gislaturperiode begleitet. Das führte zu zwei erfolgreich
        verabschiedeten Bürokratieentlastungsgesetzen. Das ers-
        te wies einen reduzierten jährlichen wirtschaftsseitigen
        Erfüllungsaufwand von rund 744 Millionen Euro auf.
        Mit dem vorliegenden erreichen wir erneut eine große
        Entlastung für die Wirtschaft, circa 365 Millionen Euro
        pro Jahr. Zusammen mit der Modernisierung im Vergabe-
        recht kommen wir damit auf eine Entlastung von bis zu
        2 Milliarden. Ein wirklich erfreuliches Ergebnis!
        Der aktuelle Gesetzentwurf ist also wieder ein Schritt
        in die richtige Richtung. Er enthält viele gute Ansätze,
        insbesondere in der Schwerpunktsetzung für die mittel-
        ständische Wirtschaft. So müssen künftig Unternehmen
        Lieferscheine, die keine Buchungsbelege sind, nicht
        mehr zwingend aufbewahren. In einem zukünftigen
        Schritt wäre es wünschenswert, die Aufbewahrungsfris-
        ten insgesamt zu überprüfen und gegebenenfalls neu zu
        definieren bzw. deutlich zu verkürzen. Die unterschiedli-
        chen Aufbewahrungsfristen führen bei manchen Firmen
        dazu, vorsichtshalber nahezu alles aufzubewahren, so-
        dass auch die von uns gutgemeinten Verkürzungen teil-
        weise ins Leere laufen.
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 201723060
        (A) (C)
        (B) (D)
        Die Anhebung der Grenze für die Fälligkeit von
        Lohnsteuer von 4 000 auf 5 000 Euro wird insbesondere
        kleinere Unternehmen spürbar von Meldepflichten be-
        freien. Es wäre noch besser, die Grenze auf zumindest
        5 500 Euro anzuheben. Lassen Sie mich das kurz ver-
        deutlichen: Mit zwei Mitarbeitern, vollzeitbeschäftigt,
        mit dem Mindestlohn von 8,84 Euro, 40 Arbeitsstunden
        an 52 Wochen – das ergibt 36 780 Euro. Die Grenze für
        5 000 Euro liegt bei 34 850 Euro.
        Die Erhöhung der Kleinbetragsgrenzen von 150 auf
        250 Euro ist eine gute und bürokratieentlastende Vor-
        schrift. EU-rechtlich wären sogar 400 Euro möglich.
        Zu begrüßen ist auch die Vereinheitlichung der Fäl-
        ligkeit von Sozialversicherungsbeiträgen, bei der, wie
        vom Nationalen Normenkontrollrat vorgeschlagen, eine
        bisherige Ausnahmeregelung nunmehr als vereinfachtes
        Verfahren zur dauerhaften Regelung wird. Diese Rege-
        lung stellt ebenfalls eine Verbesserung dar. Hier habe
        ich mir gewünscht, dass wir den Mut gehabt hätten, die
        Rückkehr zur alten Regelung von vor 2006 zu beschlie-
        ßen. Die Änderung wurde damals mit der angespannten
        Haushaltssituation der sozialen Sicherungssysteme be-
        gründet, was heute wahrlich nicht mehr zutrifft.
        Einmal als sinnvoll erachtete und daher zugestande-
        ne Freibeträge und Schwellenwerte sollten daher einer
        regelmäßigen Anpassung unterzogen werden, um ihren
        ursprünglichen Sinn zu erhalten. Das trifft insbesonde-
        re auch auf die Anhebung der Schwellenwerte für die
        Sofortabschreibung geringwertiger Wirtschaftsgüter,
        GWG, zu. Das ist übrigens ein gutes Beispiel dafür, wie
        langwierig es sein kann, ein kleines Stück Bürokratie
        abzubauen: Die GWG-Grenze ist seit 53 Jahren nicht
        mehr angehoben worden und liegt unverändert bei um-
        gerechnet 410 Euro, was heute inflationsbereinigt etwa
        1 570 Euro entspricht. Die letzte Anpassung war im
        Jahr 1964! Ich habe mich seit drei Jahren für eine Erhö-
        hung des Schwellenwertes eingesetzt und nach langem,
        stetigem Einsatz nun endlich eine Einigung mit dem Ko-
        alitionspartner gefunden: die Anhebung von 410 Euro
        auf 800 Euro.
        In diesem Zusammenhang möchte ich mich auch für
        die erfolgreiche Zusammenarbeit mit Frau Wicklein von
        der SPD bedanken, mit der ich stets einen vertrauens-
        vollen Austausch hatte. Noch besser wäre die von mir
        favorisierte Anhebung auf 1 000 Euro gewesen. Damit
        wäre die Poolabschreibung entfallen und zusätzliche Bü-
        rokratie abgebaut worden. Ich freue mich trotzdem, dass
        wir durch diese Anhebung auf 800 Euro auch insbeson-
        dere kleinere und mittlere Unternehmen erreichen, die
        davon profitieren und einen Investitionsimpuls von circa
        400 Millionen Euro auslösen werden.
        Eine weitere positive Entwicklung ist bei der One-in-
        one-out-Regel zu beobachten. In den anderthalb Jahren
        seit Einführung der Regel zum 1. Januar 2015 ist das
        „out“, die Entlastung der Wirtschaft, um knapp 1 Milliar-
        de Euro höher ausgefallen als das „in“, also die Belastung
        der Wirtschaft. Ausschlaggebend für diese Entlastungen
        sind vor allem die beiden Bürokratieentlastungsgesetze.
        Dadurch wurden insbesondere kleine und mittlere Un-
        ternehmen sowie Unternehmensgründer von unnötigem
        bürokratischem Aufwand befreit.
        Kern der One-in-one-out-Regel ist, in gleichem Maße
        Belastungen abzubauen, wie durch neue Regelungsvor-
        haben zusätzliche Belastungen entstehen. Die Bundes-
        regierung ist damit auf einem guten Weg, ihr Ziel, den
        Anstieg von Belastungen dauerhaft zu begrenzen, ohne
        politisch gewollte Maßnahmen zu behindern, zu errei-
        chen.
        Eine weitere positive Entwicklung sehe ich bei dem
        von der Bundesregierung 2015 initiierten Lebenslagen-
        modell. Das Statistische Bundesamt befragt seit 2014
        ergänzend zu den bisher eingeführten quantitativen
        Verfahren des Regierungsprogramms „Bürokratieabbau
        und bessere Rechtsetzung“ regelmäßig Bürgerinnen und
        Bürger und Unternehmen: Wie werden innerhalb be-
        stimmter Lebenslagen der Kontakt und die Zusammen-
        arbeit mit der Verwaltung wahrgenommen? Gerade die
        Behördenkontakte sind es doch, bei denen der Einzelne
        mit überbordender Bürokratie konfrontiert wird. Aus den
        Ergebnissen der Befragung können Hinweise zu mögli-
        chen Optimierungen von Verwaltungskontakten abgelei-
        tet werden. Die Ergebnisse der ersten Befragung waren
        sehr aufschlussreich. Vor allem eine transparentere und
        schnellere Verwaltung wäre sowohl für Bürger als auch
        für Unternehmen erstrebenswert. Die Lebenslage „Bau
        einer Betriebsstätte“ schien Betrieben besondere Sorgen
        zu bereiten.
        Zu Beginn dieses Jahres startete eine weitere Befra-
        gungsrunde. Wünschenswert wäre es, wenn die Zufrie-
        denheit bei Transparenz und Schnelligkeit zugenommen
        hätte, also eine spürbare Verbesserung wahrgenommen
        worden wäre.
        Bürokratie ist ein wichtiges Thema und wird dies auch
        zukünftig bleiben. Das zeigt auch die heutige Debatte
        zum Bürokratieentlastungsgesetz II.
        In dieser Legislaturperiode sind wir bereits ein gutes
        Stück vorangekommen. Darauf sollten wir uns nicht aus-
        ruhen. Wir müssen in Zukunft noch besser darauf achten,
        dass Gesetze für Bürger, Wirtschaft und Verwaltungen
        verständlicher sind und auf unnötige Bürokratie verzich-
        tet wird. Wie die öffentliche Anhörung zum Bürokratie-
        entlastungsgesetz deutlich gezeigt hat, besteht noch viel
        Handlungsbedarf.
        Die Wichtigkeit des Bürokratieabbaus wurde auch be-
        reits am Anfang der Legislaturperiode von der Bundes-
        kanzlerin herausgestellt und als zentrales Querschnitts-
        thema identifiziert. Es war daher nur folgerichtig, das
        Bürokratieentlastungsgesetz II anzugehen, wobei ich mir
        sicher bin, dass uns dieses Thema auch künftig begleiten
        wird.
        Andrea Wicklein (SPD): Heute ist ein guter Tag für
        den Bürokratieabbau in Deutschland. Heute beschließen
        wir das Zweite Bürokratieentlastungsgesetz in dieser Le-
        gislaturperiode. Wir werden damit den Verwaltungsauf-
        wand in den Unternehmen um insgesamt jährlich rund
        360 Millionen Euro verringern. Das sind etwa 10 Millio-
        nen Arbeitsstunden.
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 23061
        (A) (C)
        (B) (D)
        Unsere Bilanz beim Bürokratieabbau und bei besserer
        Rechtsetzung in dieser Legislaturperiode kann sich sehen
        lassen: Bereits mit dem Ersten Bürokratieentlastungsge-
        setz 2015 haben wir die Wirtschaft um rund 700 Milli-
        onen Euro pro Jahr entlastet. Damals haben wir über-
        flüssige Buchführungs- und Aufzeichnungspflichten oder
        Meldepflichten für Existenzgründerinnen und Existenz-
        gründer sowie junge Unternehmen reduziert und rund
        150 000 Unternehmen spürbar entlastet.
        Beim Zweiten Bürokratieentlastungsgesetz haben wir
        jetzt Kleinstunternehmen mit nur zwei bis drei Mitar-
        beiterinnen und Mitarbeitern in den Blick genommen.
        Gerade diese Kleinstunternehmen spüren unnötige bü-
        rokratische Belastungen besonders stark. Wir müssen
        uns immer wieder bewusst machen: Große Unternehmen
        können sich eigene Steuer- oder Personalabteilungen
        leisten. Bei Kleinstunternehmen muss der Handwerker
        oder Freiberufler die Bürokratie neben der eigentlichen
        Arbeit selbst erledigen. Davon wollen wir sie jetzt mit
        dem Zweiten Bürokratieentlastungsgesetz noch mehr
        entlasten, damit mehr Zeit für das Wesentliche bleibt.
        Laut Statistischem Bundesamt ist mehr als jedes vierte
        Unternehmen in Deutschland ein Kleinstunternehmen mit
        maximal drei Mitarbeitern. Was viele nicht wissen: Diese
        Kleinsten haben eine enorme wirtschaftliche Bedeutung
        für unser Land, für Beschäftigung und Wohlstand. Sie
        zählen etwa 1,6 Millionen sozialversicherungspflichtig
        Beschäftigte und erwirtschaften einen Umsatz von mehr
        als 240 Milliarden Euro. Dazu gehören das Handwerk
        und die Freien Berufe und zählen vor allem Branchen
        wie das Baugewerbe, der Handel, das Gastgewerbe oder
        der Dienstleistungsbereich.
        Worum geht es im Zweiten Bürokratieentlastungsge-
        setz? Wir modernisieren die Handwerksordnung. Künf-
        tig sollen Handwerkskammern mit ihren Mitgliedern
        stärker digital kommunizieren können. Hierfür können
        sie elektronische Kontaktdaten erfragen und in die Hand-
        werksrolle aufnehmen. Das Entlastungvolumen wird da-
        bei 14,2 Millionen Euro betragen.
        Wir vereinfachen die Berechnung der Sozialversiche-
        rungsbeiträge. Anstatt jeden Monat die Beitragshöhe zu
        schätzen und im darauffolgenden Monat eine Korrektur
        vorzunehmen, können die Unternehmen künftig den
        Vormonatswert verwenden. Dieses erleichterte Beitrags-
        berechnungsverfahren werden geschätzt zusätzlich rund
        300 000 Unternehmen nutzen. Die Entlastung beträgt
        hier alleine 64 Millionen Euro.
        Wir erleichtern die vereinfachte Rechnungsstellung.
        Wir heben deshalb den Schwellenwert für Kleinbetrags-
        rechnungen von 150 Euro auf 250 Euro Rechnungsbetrag
        an – Entlastung: mindestens 43 Millionen Euro.
        Wir verbessern das Verfahren bei den Lohnsteueran-
        meldungen. Die Grenze, bis zu der eine vierteljährliche
        anstelle der üblichen monatlichen Abgabe von Lohnsteu-
        eranmeldungen möglich ist, wird von 4 000 Euro auf
        5 000 Euro angehoben – Entlastung: 2 Millionen Euro.
        Wir stärken den Einheitlichen Ansprechpartner und das
        E-Government. Der Bund wird künftig Auslegungshilfen
        zu Gesetzen und Verordnungen auf den Internetportalen
        von Bund, Ländern und Kommunen bereitstellen. Hier-
        durch wird gewährleistet, dass auf den verschiedenen
        Verwaltungsebenen einheitliche, auf gemeinsamen Stan-
        dards beruhende Informationen verfügbar sind.
        Und schließlich entlasten wir die Pflege. Künftig wird
        eine sichere Übermittlung aller für die Abrechnung von
        pflegerischen Leistungen erforderlichen Unterlagen in
        Form elektronischer Dokumente möglich sein – Entlas-
        tung: 12,4 Millionen Euro.
        Die Expertenanhörung zum Zweiten Bürokratieent-
        lastungsgesetz hat deutlich gemacht, dass diese Entlas-
        tungen richtig sind. Sie hat aber auch gezeigt, dass wir
        den Abbau unnötiger bürokratischer Regelungen konse-
        quent fortsetzen müssen. Ich bin deshalb sehr froh, dass
        wir uns mit der CDU/CSU-Fraktion doch noch auf eine
        deutliche Anhebung des Schwellenwertes für die So-
        fortabschreibung geringwertiger Wirtschaftsgüter eini-
        gen konnten. Zwar wird diese Entlastung nicht Teil des
        Zweiten Bürokratieentlastungsgesetzes sein, sondern auf
        Wunsch der Unionsfraktion in einem Steuergesetz unter-
        gebracht. Aber das Gesetz ist mir eigentlich egal. Ent-
        scheidend ist vielmehr, dass die Sofortabschreibung ab
        2018 dann nicht mehr nur für geringwertige Wirtschafts-
        güter bis 410 Euro, sondern bis 800 Euro möglich wird.
        Darauf haben gerade die kleinen Unternehmen schon viel
        zu lange gewartet. Es stimmt: In der Politik braucht man
        oft einen langen Atem. Aber diese Anpassung hat schon
        eine kleine Ewigkeit gedauert.
        Seit 1965 sind die Schwellenwerte für die Sofortab-
        schreibung geringwertiger Wirtschaftsgüter von 800 DM
        und jetzt umgerechnet 410 Euro netto unverändert ge-
        blieben. 410 Euro sind es seit 52 Jahren! In keiner der
        vorherigen Legislaturperioden gab es im Deutschen Bun-
        destag eine Mehrheit für eine Anpassung des Schwellen-
        wertes. Selbst die Erfindung des Handys oder des Tablets
        hat nicht zu einer Anpassung des Schwellenwertes für die
        Sofortabschreibung geführt. Dabei muss doch allen klar
        sein, dass sich die Preise für geringwertige Wirtschafts-
        güter in den vergangenen Jahrzehnten mehr als verdop-
        pelt haben. Ich war deshalb sehr froh, als der damalige
        Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel diesen Punkt
        bereits Anfang 2014 auf seine Agenda bei den Bürokra-
        tieentlastungsmaßnahmen gesetzt hat.
        Und ich bin sehr froh, mit meinem Kollegen von der
        CDU, Helmut Nowak, einen hartnäckigen Partner im po-
        litischen Streit um die Anhebung der Geringwertigen an
        meiner Seite zu wissen. Dafür möchte ich mich an dieser
        Stelle ausdrücklich und ganz herzlich bei Helmut Nowak
        bedanken. Gemeinsam auch mit vielen weiteren Mitstrei-
        tern ist es uns am Ende gelungen, wie gesagt, nach mehr
        als 50 Jahren!
        Der höhere Schwellenwert wird bei Freiberuflern,
        Handwerk und Mittelstand zu Entlastungen führen und
        darüber hinaus Investitionen auslösen. Alle Sachverstän-
        digen haben bei der Anhörung unterstrichen: Die Anhe-
        bung verringert Aufzeichnungspflichten und entlastet
        Unternehmen, Kommunen sowie Finanzverwaltungen.
        Der größte Vereinfachungseffekt entsteht für nicht buch-
        führungspflichtige Unternehmen, also Gewerbetreibende
        mit einem Gewinn bis maximal 50 000 Euro jährlich bzw.
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 201723062
        (A) (C)
        (B) (D)
        Umsatz bis maximal 500 000 Euro jährlich und Freibe-
        rufler. Damit ist diese Anhebung eine Vereinfachung für
        die mehrheitlich kleinen Unternehmen. Der DIHK geht
        von wenigstens 3 Millionen betroffenen Unternehmen
        und zusätzlich 15 Millionen Wirtschaftsgütern aus und
        beziffert die Entlastung auf sogar rund 385 Millionen
        Euro.
        Mit den beiden Bürokratieentlastungsgesetzen und
        dem neuen Vergaberecht haben wir in dieser Legisla-
        turperiode den Erfüllungsaufwand für Unternehmen
        um 2 Milliarden Euro gesenkt. Das ist erheblich. Hin-
        zu kommt die One-in-one-out-Regelung, die bereits seit
        1. Juli 2015 in Kraft ist und die Bundesregierung dazu
        verpflichtet, wenn durch neue Regelungen Belastungen
        für die Wirtschaft entstehen, sie an anderer Stelle abzu-
        bauen. Das hat zusätzlichen Druck in die Ministerien
        gebracht, die eigenen Regelungen auf das Notwendige
        zu beschränken und immer wieder kritisch zu verfolgen.
        Ich finde, wir haben mit unseren Maßnahmen zum Ab-
        bau von unnötiger Bürokratie und besserer Rechtsetzung
        in dieser Legislaturperiode einen guten Weg eingeschla-
        gen, der vom kommenden Bundestag fortgesetzt werden
        muss; denn Abbau von unnötiger Bürokratie und bessere
        Rechtsetzung sind und bleiben eine Daueraufgabe von
        Regierung und Parlament.
        Michael Schlecht (DIE LINKE): Es ist bemerkens-
        wert, dass die Koalition beim Ersten Bürokratieentlas-
        tungsgesetz noch die ganz große Bühne in der Kernde-
        battenzeit des Parlaments gesucht hat und nun mehr das
        Thema gleich sehr weit nach hinten gerutscht ist. Offen-
        sichtlich haben Sie auch erkannt, dass das Thema nur be-
        grenzt begeistern kann.
        Ich will es kurz halten: Ich hatte Ihnen, den Damen
        und Herren der Regierungsparteien, beim ersten Büro-
        kratieentlastungsgesetz einen Tipp gegeben, wie sie mit
        dem Thema Bürokratieabbau massenhaft Jubelstürme
        auslösen könnten. Schaffen Sie das Bürokratiemonster
        Hartz IV ab. Die durchschnittliche Akte eines Hartz-IV-
        Haushalts bei der Agentur für Arbeit ist etwa 650 Seiten
        dick. Das ist und bleibt Bürokratieunfug.
        Jetzt liegt uns also das Zweite Bürokratieentlastungs-
        gesetz vor. Und wieder geht es um bürokratische Entlas-
        tungen ausschließlich für Unternehmen. Unternehmerin-
        nen und Unternehmer dürfen sich freuen, für alle anderen
        bringt dieses Bürokratieentlastungsgesetz wieder nichts.
        In den Gesetzesbegründungen nehmen Sie wieder
        Bezug auf die sogenannte One-in-one-out-Regelung,
        nach der bei einer zusätzlichen bürokratischen Belastung
        durch ein neues Gesetz eine zwingende Entlastung für
        Unternehmen vorzusehen ist. Mit der One-in-one-out-
        Regelung entscheidet nicht mehr Sach- und Fachpolitik
        über Sinnhaftigkeit von gesetzlichen Regelungen, son-
        dern das Gebot, dass die Kostenbelastung der Unterneh-
        men nicht durch Regelungstatbestände – auch wenn sie
        sinnvoll sind – erhöht werden darf. Das lehnen wir wei-
        terhin ab. Notwendige soziale oder ökologische Regulie-
        rungen werden so nur künstlich erschwert.
        Den meisten einzelnen konkreten Maßnahmen im
        vorliegenden Gesetz könnten wir durchaus zustimmen,
        allerdings halten wir den Grundansatz des Gesetzes für
        falsch. Daher können wir uns hier nur enthalten.
        Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Bürokratieentlastung – wer von uns fordert dies
        nicht, wenn Steuererklärungen ausgefüllt, eine Bestel-
        lung aufgegeben oder ein Anmeldeformular ausgefüllt
        werden muss. Auch wenn wir die Sinnhaftigkeit mancher
        Information in Zweifel ziehen, so müssen wir aber immer
        wieder zugeben: Viele der Informationen sind unabding-
        bar für ein geordnetes gesellschaftliches Zusammenle-
        ben. Aber spätestens bei zum Beispiel dem Schriftver-
        kehr zu einer Ordnungswidrigkeit im Verkehr oder der
        Einladung zu einem Gerichtstermin, der Beantragung ei-
        ner Zahnbehandlung oder eines neuen Personalausweises
        ist man erschrocken, in welch geringem Umfang die mo-
        dernen Methoden der digitalen Wirtschaft Einzug in Ver-
        waltungshandeln gefunden haben. Was im persönlichen
        Bereich lästig ist, kostet im Bereich der Unternehmen
        aber schlicht Geld und mindert die Wettbewerbsfähigkeit
        von Unternehmen.
        Damit komme ich zu einem zentralen Vorwurf an die
        Regierungsfraktionen gleich vorab: Viel zu gering sind
        Ihre Bemühungen, die Chancen für einen substanziellen
        Bürokratieabbau durch Digitalisierung zu nutzen. Mir ist
        schon klar, dass dies nicht im Vorbeigehen zu erledigen
        ist, umso mehr kritisiere ich, dass die Bundesregierung
        weder in der Zusammensetzung entsprechender Gremi-
        en noch im Projektmanagement die Herausforderungen
        der Digitalisierung angenommen hat. Das hat mindestens
        die Dimension des Versagens der Aufsicht beim Berliner
        Flughafen BER – mit dem Unterschied, dass das Versa-
        gen der Regierung hier nicht offenkundig, aber Abhilfe
        noch weniger in Sicht ist als beim Berliner Flughafen.
        So sind wir im Bereich der Digitalisierung bald deutlich
        mehr als fünf Jahre hintendran – und das wird zuneh-
        mend ein Wettbewerbsnachteil für Deutschland.
        Aber schauen wir uns den vorliegenden Gesetzentwurf
        genauer an. Ja, es ist ja richtig: Bei Bürokratieentlastung
        geht es nicht um den ganz großen Wurf. Vielmehr sind
        viele kleine Schritte nötig, um bürokratische Belastungen
        abzubauen. Mit dieser Perspektive ist zunächst auch das
        heute vorliegende Gesetz zu bewerten. So die positive
        Feststellung: Die vorgeschlagenen Maßnahmen gehen in
        die richtige Richtung und sorgen für punktuelle Erleich-
        terungen. Deshalb werden wir dem Gesetzentwurf auch
        zustimmen.
        Gleichzeitig müssen wir aber auch massive Kritik an-
        melden. Einige Maßnahmen sind definitiv nicht weitfüh-
        rend genug. Und viele Maßnahmen fehlen gänzlich.
        Ich will das gerne näher ausführen:
        Wenn wir die Änderungen schon anpacken, dann bitte
        schön auch so, dass wir den Rahmen der möglichen Ent-
        lastung auch voll ausschöpfen. Das betrifft vor allem die
        Fälligkeitsregelung der Sozialversicherungsbeiträge. Ich
        komme darauf gleich noch mal darauf zurück.
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 23063
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        Aber dann fehlen auch ganz wichtige Projekte und
        Themen: Digitalisierung – das Thema habe ich schon an-
        gesprochen – und das Thema Poolabschreibung bei ge-
        ringwertigen Wirtschaftsgütern. Das hätte so dringend in
        dieses Gesetz gehört, so wie mehrfach angekündigt. Da-
        bei geht es nicht nur um die Erhöhung des Betrages, son-
        dern ganz besonders um den Bürokratieabbau. Was für
        ein gravierender Fehler, dieses Thema in die Hände der
        Haushälter und Steuerberater im Wirtschaftsausschuss zu
        legen. Beide sind erkennbar sehr weit von der Realität
        in den Betrieben entfernt – übrigens sind das oft auch
        die Steuerabteilungen in den Betrieben selbst. Wer wie
        ich 25 Jahre in der Industrie zugebracht hat, weiß, dass
        auch in den Betrieben das Verständnis zwischen operativ
        Verantwortlichen und Steuerabteilung nicht immer vom
        Respekt gegenüber der jeweils anderen Fachabteilung
        geprägt ist. Also hier ist – wenn ich die Signale aus Mi-
        nisterium und Koalitionsfraktion richtig empfange – ein
        Desaster zu erwarten: Man habe sich auf „eine Verdopp-
        lung des Wertes“, also 800 Euro, geeinigt, ohne damit
        die wichtige Grenze von 1 000 Euro als Bedingung für
        die Abschaffung der Poolabschreibung zu erreichen. Ich
        sage das jetzt bewusst einmal so, dass es jeder verstehen
        kann: Eine bescheuertere Entscheidung ist schlicht nicht
        vorstellbar. Eine Schande für Herrn Gabriel, der sich
        schnell auf den Außenministerposten abgemacht hat und
        seine Zusagen als Wirtschaftsminister in dieser Sache im
        Mittelstandsausschuss des Wirtschaftsministeriums hier
        nicht mehr einlösen kann.
        Hier kann ich nur erneut an die Kolleginnen und Kol-
        legen der Koalitionsfraktionen appellieren: Der Wert
        für die geringwertigen Wirtschaftsgüter und damit die
        Sofortabschreibung wurde zuletzt 1964 unter einem
        Bundeskanzler Ludwig Erhardt erhöht. Wenn wir diese
        Regelung nun anpassen, dann so, dass sie eine echte Ver-
        waltungsvereinfachung bringt und auch beständig ist. Es
        könnte ja erneut 53 Jahre bis zu einer Anpassung dauern.
        Darum: Schaffen Sie die Poolabschreibung ab. Wir Grü-
        ne werden uns im weiteren Prozess hierfür einsetzen.
        Und dann noch mal zurück zum Thema Abführung der
        Sozialversicherungsbeiträge: Auch hier eine allenfalls
        Second-best-Lösung. Dies hat der Normenkontrollrat in
        seinem Gutachten geprüft und festgestellt. Ja, ich gestehe
        ein: Hier kann mit der getroffenen Regelung die Bürokra-
        tie deutlich eingeschränkt werden. Aber wir belasten Un-
        ternehmen mit stark schwankenden Beiträgen mit hohen
        Liquiditätseinbußen, indem die Lohnsumme des Vor-
        monats angesetzt wird. In Zeiten guter Liquidität auch
        und gerade der Sozialkassen hätte doch hier der Schritt
        zur Wiedereinführung der Regelung vor 2006 erfolgen
        können. Erinnern wir uns: Damals wurde das Vorziehen
        der Abführung der Sozialversicherungsbeiträge aufgrund
        einer akuten Notlage der Sozialversicherungskassen
        vorgenommen – aber diese Notlage ist doch bei weitem
        nicht mehr gegeben. Da muss man doch sehen, dass wir
        uns in den guten Zeiten wieder einen Puffer zulegen.
        Und natürlich gilt auch hier: Bürokratieabbau: Es
        muss das Ziel sein, dass kleine und mittlere Unternehmen
        nur einmal zahlen, nur einmal im Monat sich mit dem
        Thema befassen müssen und damit tatsächlich entlastet
        werden. Das geht nur mit Rückkehr zur Regelung, die
        vor 2006 galt. Dabei kommt dann regelmäßig die Bemer-
        kung: Das kostet 30 Milliarden Euro. Aber es ist eben nur
        eine Verschiebung von 30 Milliarden Euro in das nächste
        Haushaltsjahr. Das ist also nur ein Liquiditätseffekt, den
        wir uns übrigens gerade jetzt in Zeiten niedriger Zinsen
        gut leisten könnten. Wann werden sich endlich unterneh-
        merisches Denken und Aspekte der Bilanzierung auch in
        den Ministerien und bei den Haushältern durchsetzen?
        Kommen wir aber zu weiteren Punkten: Zur Aufbe-
        wahrungspflicht von Lieferscheinen sieht das Gesetz
        eine neue Reglung vor. Die Pflicht zur Aufbewahrung
        von Lieferscheinen entfällt dann, wenn Lieferscheine
        keine Buchungsbelege sind. Diese Regelung soll rund
        zwei Drittel der kalkulierten Bürokratieentlastung im ge-
        samten Gesetz bringen. Aber hören wir genau hin: Diese
        Höhe ist bei der Vielzahl der vorgebrachten Bedenken
        von Bundesrat und Verbänden zweifelhaft. In der Anhö-
        rung haben Handwerk und Industrie deutlich gemacht,
        dass sie Probleme bei der praktischen Anwendung sehen.
        Auch die Steuerberater kritisieren die neugeschaffene
        Rechtsunsicherheit. Konkret besteht die Gefahr, dass
        Lieferscheine zu früh vernichtet werden, was bei den
        Unternehmen zu Problemen beim Vorsteuerabzug führen
        kann. Auch die Länder im Bundesrat lehnen diese Rege-
        lung ab. Weil Lieferscheine oft Bestandteil der Rechnun-
        gen und bei Bargeschäften oft der einzige Anhaltspunkt
        bei der Ermittlung von Steuerhinterziehung sind, kann
        die neue Regelung Lücken bei der Verfolgung erzeugen.
        Und auch hier noch mal der Hinweis: In der Digitalen
        Welt wäre das Thema erledigt. Heute schon werden Lie-
        ferungen und Leistungen zu weit über 90 Prozent digital
        abgebildet – aber wir sind weit entfernt, diese Möglich-
        keiten für die entsprechenden Verwaltungsvorgänge an
        der Schnittstelle von Privatwirtschaft und Staat zu nut-
        zen. Eine Schande!
        Kurz vor Abschluss der Beratungen hat die Koalition
        dann doch noch Verbesserungsbedarf gesehen und Än-
        derungen eingebracht. Anpassung an erhöhten Mindest-
        lohn bei pauschalierter Lohnsteueranmeldung sowie die
        Anhebung der Kleinbetragsrechnung von 150 Euro auf
        250 Euro. Hierfür werden rund 10 Millionen Euro Steu-
        ermindereinnahmen gegenüber 28,6 Millionen Euro Ent-
        lastung seitens der Wirtschaft veranschlagt. Immerhin.
        Aber was für ein Armutszeugnis gegenüber dem Einspa-
        rungspotenzial beim E-Government in der Größenord-
        nung von einigen Milliarden Euro.
        Ich möchte nicht schließen, ohne nicht noch einen
        weiteren Schritt auf dem mühsamen Weg des Bürokratie-
        abbaus vorzuschlagen. Eine handfeste Erleichterung und
        echte Anpassung an die Lebenswirklichkeit, die wir auch
        in die Ausschussberatungen eingebracht haben – leider
        erfolglos. Er betrifft die Umsatzsteuervoranmeldung und
        die wirklichkeitsfremde Berufseinschränkung von Bi-
        lanzbuchhalterinnen und Bilanzbuchhaltern. Sie dürfen
        die Umsatzsteuervoranmeldung offiziell nicht ans Fi-
        nanzamt senden, obwohl ihr tägliches Brot die Erstellung
        exakt dieser Unterlage ist. Eine entsprechende Änderung
        würde Rechtssicherheit für die Betroffenen schaffen und
        überflüssige Verwaltungsschritte in Unternehmen abbau-
        en. Aber der Änderungsantrag scheiterte an den Koaliti-
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 201723064
        (A) (C)
        (B) (D)
        onsfraktionen – oder sollte ich sagen: an der fehlenden
        Lobby?
        Bürokratieabbau ist ein mühseliges Geschäft. Die Ko-
        alitionsfraktionen haben in ihrer Mehrheit offensichtlich
        nicht begriffen, dass es hier ganz wesentlich um die in-
        ternationale Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft geht,
        sonst hätten sie das Thema viel ambitionierter angepackt.
        Ich kann nur hoffen und mich dafür einsetzen, dass In-
        stitutionen wie der Normenkontrollrat gestärkt werden,
        um das Thema Bürokratieabbau weiter voranzutreiben.
        An uns Grünen soll es nicht liegen!
        Dirk Wiese, Parl . Staatssekretär bei der Bundesmi-
        nisterin für Wirtschaft und Energie: Bürokratieabbau ist
        eine Daueraufgabe und ein Anliegen jeder Regierung.
        Das Wirtschaftsministerium hat in dieser Legislatur-
        periode mit dem Bürokratieentlastungsgesetz I und der
        Vergaberechtsmodernisierung bereits maßgeblich Büro-
        kratie abgebaut.
        Dabei wollen wir nicht stehen bleiben. Heute beraten
        Sie abschließend über das zweite Bürokratieentlastungs-
        gesetz. Das BEG II wird insbesondere kleinen Betrieben
        mit zwei bis drei Mitarbeitern zugutekommen und ihnen
        den Alltag erleichtern. Wir können mit diesem Gesetz ei-
        nige wichtige Forderungen der Wirtschaft umsetzen. Ich
        denke etwa an die dort vorgesehenen Erleichterungen bei
        der Berechnung der Sozialversicherungsbeiträge: Die
        bisherige aufwendige Schätzung der Beiträge entfällt.
        Stattdessen dürfen die Unternehmen künftig auf den Vor-
        monatswert abstellen.
        Große Potenziale für Entbürokratisierung bestehen im
        Bereich des E-Governments und der Digitalisierung. Das
        hat der NKR zu Recht wiederholt angemahnt. Mit dem
        BEG II tun wir einen Schritt in diese Richtung:
        Erstens. Über die zentrale Bundesredaktion werden
        Leistungsinformationen bereitgestellt. Das sind Ausle-
        gungshilfen zu Gesetzen und Verordnungen des Bundes.
        So werden auf den verschiedenen Verwaltungsebenen
        einheitliche und leicht verständliche Informationen ver-
        fügbar sein.
        Zweitens. Wir öffnen die Handwerksordnung für die
        elektronische Kommunikation. Dadurch entlasten wir die
        Handwerkskammern und ihre Mitgliedsunternehmen.
        Drittens. Schließlich wird die Abrechnung von Pfle-
        gedienstleistungen erleichtert. Elektronische Dokumente
        ersetzen Belege in Papierform. Dadurch bleibt mehr Zeit
        für Pflege.
        Und schließlich: Das BEG II entlastet die Wirtschaft
        im Bereich des Steuerrechts, und zwar in ganz erhebli-
        chem Umfang.
        Wichtige Schwellenwerte im Steuerrecht werden an-
        gehoben, und zwar bei den Kleinbetragsrechnungen und
        beim Verzeichnis für geringwertige Wirtschaftsgüter. Es
        freut mich, dass Sie hierbei über die Vorschläge des Re-
        gierungsentwurfs hinausgehen wollen.
        Bei Lieferscheinen, deren Inhalt durch die Rechnung
        dokumentiert ist, entfällt die Pflicht zur Aufbewahrung.
        Und schließlich wird die Grenze für die vierteljährli-
        che Abgabe der Lohnsteueranmeldung angehoben.
        Und lassen Sie mich kurz über den Tellerrand des
        BEG II schauen: Ich begrüße es besonders, dass die Ab-
        schreibungsgrenze für geringwertige Wirtschaftsgüter
        signifikant auf 800 Euro angehoben werden soll. Auch
        dies ist eine ganz wichtige Maßnahme zur Bürokratieent-
        lastung, die das BEG I und BEG II ergänzt.
        Kurz: Am Ende der Legislaturperiode gelingen wich-
        tige Schritte, die – besser als manches Konjunkturpro-
        gramm – unsere Ziele fördern: mehr Wachstum, mehr
        und bessere Beschäftigung und mehr Innovationen.
        Anlage 13
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
        gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über das
        Verfahren für die elektronische Abgabe von Mel-
        dungen für Schiffe im Seeverkehr über das Zent-
        rale Meldeportal des Bundes und zur Änderung
        des IGV-Durchführungsgesetzes (Tagesordnungs-
        punkt 30)
        Hans-Werner Kammer (CDU/CSU): Heute Morgen
        haben wir leidenschaftlich über die Zukunft der mariti-
        men Branche diskutiert. Die maritime Politik der Bun-
        desregierung und der Begleitantrag der Koalition zur Na-
        tionalen Maritimen Konferenz machen zwei Dinge ganz
        deutlich. Erstens. Bei uns sind Schifffahrt und maritime
        Wirtschaft in guten Händen. Zweitens. Um die Branche
        zukunftsfest zu machen, sind viele kleine Einzelmaßnah-
        men notwendig.
        Eine dieser kleinen, aber wichtigen Maßnahmen ist
        die Modernisierung und Digitalisierung der Meldeforma-
        litäten für die Seeschifffahrt. Es gibt fast ein Dutzend un-
        terschiedlicher Meldepflichten: Gefahrgutmeldung, Ab-
        fallmeldung, Gesundheitsmeldung, Sicherheitsmeldung,
        Verkehrsmeldung usw. Zuständig sind die verschiedens-
        ten Behörden von Bund und Ländern.
        Ein zentrales Meldeportal für anlaufende Schiffe er-
        leichtert den Schiffseignern, Reedereien und Kapitänen,
        aber auch den deutschen Verwaltungsorganen die Arbeit
        enorm. Seit 2015 ist daher das sogenannte National Sing-
        le Window aktiv. Hier werden alle für das Anlaufen eines
        deutschen Hafens erforderlichen Informationen eingege-
        ben und allen betroffenen Behörden zur Verfügung ge-
        stellt. Das mehrfache Melden gleicher Informationen an
        verschiedene Behörden entfällt. Der Zeitaufwand und die
        Kosten für die Abgabe der Meldungen sinken, die Effizi-
        enz der Schifffahrt und der beteiligten Behörden steigt.
        Dazu wurden die Inhalte der Meldungen harmonisiert.
        Auch dieses System macht weiter einen Informations-
        austausch zwischen verschiedenen Behörden mit unter-
        schiedlichen Zuständigkeiten notwendig. Das Gesetz,
        das als Entwurf vorliegt, schafft die rechtliche Grundlage
        für diesen Datenaustausch.
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 23065
        (A) (C)
        (B) (D)
        Mit dem Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen
        greifen wir einen sinnvollen Vorschlag des Bundesrates
        auf. Alle Bekanntmachungen und Veröffentlichungen,
        die das Seeschifffahrt-Meldeportal-Gesetz betreffen,
        werden nicht nur im Bundesanzeiger, sondern auch im
        Verkehrsblatt veröffentlicht. Die betroffenen Schiffseig-
        ner, Reedereien, Makler und Kapitäne haben das Ver-
        kehrsblatt ohnehin auf dem Schirm. Es handelt sich da-
        mit um eine praxisnahe Ergänzung des Gesetzentwurfes.
        Außerdem weisen wir der Berufsgenossenschaft
        Verkehr zusätzliche Aufgaben beim Abwracken von
        Seeschiffen zu. Die BG Verkehr soll zukünftig Besichti-
        gungen durchführen und Zeugnisse ausstellen bzw. ver-
        längern. Das ist eine wichtige Vorbereitung für die noch
        ausstehende Ratifizierung des Übereinkommens von
        Hongkong über das umweltfreundliche Recycling von
        Schiffen. Gleichzeitig setzen wir eine europarechtliche
        Vorgabe um.
        Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein Mosaikstein-
        chen eines größeren Bildes: Die Koalition steht zur mari-
        timen Branche. Wir stellen uns den vielen Aufgaben und
        Herausforderungen, um die maritime Wirtschaft durch
        unruhige See zu begleiten; denn wir wissen um ihre Be-
        deutung für unser Land. Und eines möchte ich noch ein-
        mal betonen: Auch in Zukunft findet die maritime Bran-
        che bei der Union immer ein offenes Ohr!
        Im Ausschuss haben wir uns einstimmig für dieses
        Gesetz ausgesprochen. Ich bitte Sie auch heute um breite
        Unterstützung für dieses Vorhaben.
        Dr. Birgit Malecha-Nissen (SPD): Wir beraten heu-
        te den Regierungsentwurf eines Gesetzes über das Ver-
        fahren für die elektronische Abgabe von Meldungen für
        Schiffe im Seeverkehr. In Zukunft erfolgt diese Abgabe
        von Meldungen über das Zentrale Meldeportal des Bun-
        des. Gleichzeitig wird das Gesetz zur Durchführung der
        Internationalen Gesundheitsvorschriften, IGV-Durchfüh-
        rungsgesetz, neu gefasst. Dieses regelt Verpflichtungen
        zur elektronischen Abgabe der Seegesundheitserklärung.
        Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf setzen wir die
        europäische Richtlinie 2010/65/EU vom 20. Oktober
        2010 über Meldeformalitäten für Schiffe beim Einlau-
        fen in und/oder Auslaufen aus Häfen der Mitgliedstaa-
        ten um. Es war dringend notwendig, dass wir auch in
        Deutschland die gesetzliche Grundlage für die elektroni-
        sche Abgabe von Meldungen für Schiffe im Seeverkehr
        schaffen. Nach der EU-Richtlinie sollten zum 1. Juni
        2015 Meldungen in der Schifffahrt nur noch auf elektro-
        nischem Weg akzeptiert werden. Bisher wurden Meldun-
        gen in der Seeschifffahrt an mehrere Behörden einzeln
        gemeldet. Das war umständlich und ineffizient. Mit dem
        Zentralen Meldeportal erreichen wir eine erhebliche Ver-
        einfachung des innereuropäischen Warenverkehrs und
        verbessern das Meldewesen für die Seeschifffahrt. Dies
        erhöht zusätzlich die Konkurrenzfähigkeit in Hinblick
        auf die europäischen Nachbarstaaten. Es ermöglicht der
        Wirtschaft, Meldungen in der Seeschifffahrt über ein mo-
        dernes einzelnes zentrales Meldeportal abzugeben. Dies
        führt zu einer Vereinfachung und Beschleunigung der
        Arbeitsvorgänge. Besonders in Zeiten der Digitalisierung
        ist das unabdingbar!
        Das Zentrale Meldeportal nimmt alle Meldungen ent-
        gegen und leitet sie an die zuständigen datenverarbeiten-
        den Stellen weiter. Damit dient es als Eingangsschnitt-
        stelle, das Meldungen automatisiert an verschiedene
        Empfängerbehörden wie Bundes- und Landesbehörden
        weiterleitet.
        In Deutschland hat das neue System bereits am 27. Mai
        2015 seine Arbeit aufgenommen. Mit dem vorliegenden
        Gesetz schaffen wir nun endlich auch die gesetzlichen
        Grundlagen. Die Zielsetzung ist klar: Die zusätzlichen
        Regelungen sind notwendig, um Daten rechtssicher und
        geschützt weiterleiten zu können. Das Gesetz regelt das
        Verfahren der elektronischen Abgabe von Meldungen für
        Schiffe beim Einlaufen in Häfen. Darüber hinaus wird
        über das Zentrale Meldeportal der Aufenthalt in und/oder
        das Auslaufen aus deutschen Gewässern oder Seehäfen
        sowie das Befahren des Nord-Ostsee-Kanals geregelt.
        Gleichzeitig mit diesem Gesetz wird das IGV-Durch-
        führungsgesetz geändert, welches die Angabe von
        Gesundheitserklärungen regelt. Die Neufassung des
        Gesetzes zur Durchführung der Internationalen Gesund-
        heitsvorschriften regelt nun die Verpflichtungen zur elek-
        tronischen Abgabe der Seegesundheitserklärung. Insbe-
        sondere aus datenschutzrechtlichen Gründen ist dieses
        Gesetz notwendig. Das ist deshalb sinnvoll und zielfüh-
        rend, da wir bei Fragen zur Gesundheit eine hohe Sensi-
        bilität und Vertraulichkeit benötigen.
        Abschließend kann man sagen, dass wir mit dem vor-
        liegenden Gesetz unserer Verpflichtung als Mitgliedstaat
        nachkommen, die EU-Richtlinie aus dem Jahr 2010 um-
        zusetzen. Nachdem die technische Umsetzung bereits
        2015 vollzogen wurde, wird hiermit die ergänzende Er-
        mächtigung zur Datendurchleitung aus datenschutzrecht-
        lichen Gründen in Form eines Gesetzes erteilt.
        Wir begrüßen, dass der Bund eine Koordinierungs-
        stelle im Bundesverkehrsministerium schafft, die daten-
        schutzrechtlich das Zentrale Meldeportal betreibt.
        Die Einrichtung des Zentralen Meldeportals verursacht
        jährliche Kosten in Höhe von insgesamt 241 027 Euro.
        Der Mehrbedarf an Sach- und Personalmitteln wird fi-
        nanziell im Haushalt des Verkehrsetats ausgeglichen.
        Das Zentrale Meldeportal ist ein weiterer zentraler
        Schritt im Zeitalter der Digitalisierung, der dringend not-
        wendig war. Besonders im Hinblick auf die Gefahr von
        Cyberkriminalität ist die gesetzliche Grundlage für Da-
        tenschutz und den Schutz der Persönlichkeitsrechte im
        Seeverkehr von entscheidender Bedeutung.
        Herbert Behrens (DIE LINKE): An dem vorliegen-
        den Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen hat auch die
        Fraktion Die Linke wenig auszusetzen; denn damit wird
        nur die Richtlinie 2010/65/EU des Europaparlaments
        und des Europäischen Rates vom 20. Oktober 2010 über
        Meldeformalitäten für Schiffe beim Einlaufen in und
        Auslaufen aus EU-Häfen in nationales Recht umgesetzt.
        Das Ziel dabei ist die Sicherstellung des ordnungsgemä-
        ßen Schiffsverkehrs.
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 201723066
        (A) (C)
        (B) (D)
        Zur Erfüllung dieser Richtlinie ist in Deutschland ein
        System zur Verfügung gestellt worden, das alle Meldun-
        gen entgegennimmt und an die zuständigen maritimen
        Behörden weiterleitet. Es ist höchste Zeit, dass dafür die
        entsprechende gesetzliche Regelung eingerichtet wird;
        denn das neue System ist schon vor fast zwei Jahren,
        nämlich am 27. Mai 2015, in Betrieb genommen worden.
        Bisher wurden gesetzlich vorgeschriebene Meldun-
        gen einzeln an oft mehrere zuständige Behörden von den
        Meldenden geschickt. Künftig soll eine Meldung, die
        über das Zentrale Meldeportal abgegeben wird, erst ein-
        mal über die zuständige Bundesbehörde auf Anforderung
        der empfangenden Stelle bei der bereitgestellten Ein-
        gangsschnittstelle eingehen. Im Zentralen Meldeportal
        sind lediglich der Meldungstyp und eine Anlaufreferenz-
        nummer ersichtlich. Letztere ist eine standardisierte Re-
        ferenznummer, die bei jeder Meldung anzugeben ist. Das
        dient der Zuordnung des Vorgangs zu einem bestimmten
        Hafenbesuch. Anschließend werden die Meldungen dann
        mit einer technischen Rückmeldung an den Melder nach
        einer Prüfung angenommen oder abgelehnt.
        Aus datenschutztechnischer Sicht ist der Gesetzent-
        wurf unbedenklich; denn die Verarbeitung der Schiffs-
        meldungen beschränkt sich hier auf den Empfang, die
        Weiterleitung und die Löschung von Daten durch die zu-
        ständige Behörde. Eine inhaltliche Zugriffsmöglichkeit
        ist für das Meldeportal nicht vorgesehen.
        Die ergänzende Anregung des Bundesrates, dass die
        Meldungen nicht nur im Bundesanzeiger, sondern auch
        im Verkehrsblatt zu veröffentlichen sind, ist angesichts
        der weitverbreiteten Nutzung des Verkehrsblatts im See-
        verkehr zu begrüßen.
        So weit, so gut. Aber mit diesem Gesetzentwurf sind
        allerdings noch keine Weichen für die maritime Arbeit der
        Zukunft gestellt. Davon ist die Bundesrepublik noch weit
        entfernt, wie auch die DGB-Vorsitzende Katja Karger be-
        stätigte. Ich zitiere aus der Verdi-Zeitung „Schifffahrt“:
        „Im Hafenbereich wurde der Anschluss an Arbeit 4.0 und
        die Digitalisierung bisher weitgehend verpasst, es liegt
        strukturell ziemlich viel im Argen. Es müssen dringend
        Ideen und Lösungen für die Zukunft her.“
        Heute Morgen, bei der Debatte über die Zukunft der
        maritimen Industrie, hatten die Kolleginnen und Kolle-
        gen der Koalitionsfraktionen die Gelegenheit, ihre Ide-
        en einzubringen. Aber stattdessen war in ihrem Antrag
        nur zu lesen, dass der Bundestag beschließen möge,
        „im Zuge der Digitalisierungs- und Automatisierungs-
        prozesse und der zu erwartenden Entwicklungen in den
        deutschen Häfen geeignete Lösungsansätze in Hinblick
        auf die Ausbildungs- und Beschäftigungsstrategien zu
        finden“. Am Ende einer Regierungsperiode ist die bloße
        Erklärung einer Absicht, in Zukunft Lösungen zu finden,
        mehr als dürftig. An dieser Stelle haben Sie Ihre Amtszeit
        verschlafen, meine Damen und Herren der CDU/CSU
        und der SPD!
        Ich kann Ihnen nur raten, endlich die dringlichen
        Aufgaben, vor denen angesichts Automatisierung und
        Digitalisierung die Kolleginnen und Kollegen in den Hä-
        fen, Werften und auf hoher See stehen, ernst zu nehmen.
        Gehen Sie auf die berechtigte Kritik ihrer Gewerkschaft
        Verdi, die letztes Jahr gezwungen wurde, aus dem Mari-
        timen Bündnis auszusteigen, ein. Verhandeln Sie auf Au-
        genhöhe über Maßnahmen, die die Digitalisierung und
        Automatisierung im maritimen Sektor für die nächsten
        Jahrzehnte sozialverträglich regeln können. Bieten Sie
        den Kolleginnen und Kolleginnen wieder eine Zukunfts-
        perspektive!
        Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Wir debattieren heute ein Gesetz zur elektronischen Mel-
        dung von Schiffsdaten. Das steht eigentlich auch im di-
        rekten Zusammenhang mit dem Digitalisierungsprozess,
        der zurzeit als Schlagwort kursiert. Dadurch ließe sich
        das auch sehr gut mit Meldeformalitäten von Schiffs-,
        Crew-, Fracht- und Zolldaten verknüpfen. Seitens der
        Bundesregierung wird jetzt damit der Anfang gemacht.
        Aber um das vollständig umzusetzen, fehlt noch eine
        ganze Menge. Wenn der Anfang einmal gemacht ist,
        wäre es jetzt nur konsequent, beim Thema Digitalisie-
        rung in der Seeschifffahrt am Ball zu bleiben.
        Daher haben wir heute auch in der Debatte zur mariti-
        men Wirtschaft einen Antrag eingebracht, der auf genau
        diese Punkte eingeht: Ein Schwerpunkt der Maritimen
        Konferenz in wenigen Tagen soll ja die Digitalisierung
        der maritimen Branche sein. Genau diesen Prozess könn-
        ten Sie mit dem vorliegenden Gesetzentwurf eigentlich
        weiterführen. Der Wunsch der maritimen Wirtschaft ist
        es, dass der Staat mithilfe der Digitalisierung auch die
        geforderten Meldeprozesse vereinfacht und standardi-
        siert. Aber die wirklichen Probleme werden hier leider –
        wen wundert es eigentlich? – nicht angegangen.
        Es kann nicht sein, dass wir in Europa ein sogenanntes
        Single Maritime Window für Melde- und Dokumenten-
        prozesse beschließen. Doch die Mitgliedstaaten beharren
        alle weiterhin auf ihren nationalen oder regionalen Lö-
        sungen. Jeder schaut weiter durch sein eigenes kleines
        Fenster. Sofern sich die Nationalstaaten hier nicht eini-
        gen und Zollverwaltungen sich nicht einmal national,
        geschweige denn europaweit abstimmen können, wird
        es dauerhaft bei Insellösungen bleiben. Die eigentlich
        geplanten Vorteile wie Zeit- und Geldersparnis rücken
        dadurch für alle Beteiligten in weite Ferne. Das wäre nur
        zu schade. Insofern hoffe ich hier auf eine deutlichere
        Beweglichkeit.
        Aber auch das Personal an Bord der Schiffe ist die
        überbordende Bürokratie leid. Über 50 Prozent der Ar-
        beitszeit werden nicht mit dem Steuern des Schiffes
        verbracht, sondern mit dem Ausführen von Verwaltungs-
        akten. Die Kapitäninnen und Kapitäne werden somit zu
        Sekretären der Reedereien sowie der öffentlichen Ver-
        waltung. Sie sind Leidtragende der fehlenden Bereit-
        schaft zu Standardisierung und Kooperation der europä-
        ischen Staaten. Das hat erst kürzlich sehr eindrucksvoll
        ein Kapitän in einem Fachgespräch unserer Fraktion zu
        diesem Thema geschildert. Deutschland darf sich daher
        nicht zurücklehnen, sondern muss zusammen mit den an-
        deren Mitgliedstaaten brauchbare Lösungen im Rahmen
        der Digitalisierung finden. Als Antwort auf den vermeint-
        lichen Trend von Protektionismus und falscher Abschot-
        tung brauchen wir mehr Europa und dadurch auch ein
        Zusammenwachsen der Staaten.
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 23067
        (A) (C)
        (B) (D)
        Lassen Sie mich schließlich noch einen Hinweis
        geben, da die maritime Wirtschaft aktuell unter solch
        großen Überkapazitäten leidet: Auch im Vorfeld von
        geplanten Verschrottungen von Seeschiffen müssen
        Meldungen an die nationalen Stellen durchgeführt wer-
        den. Sicher haben Sie hier schon eine spätere Ratifizie-
        rung des Hongkong-Abkommens für das Recycling von
        Seeschiffen im Auge. Sofern in den zukünftigen dafür
        relevanten Gesetzentwürfen eine Vorbereitung für das
        Hongkong-Abkommen vorgesehen ist, begrüße ich das
        auch. Allerdings: Machen Sie Nägel mit Köpfen, und ra-
        tifizieren Sie das Abkommen sofort. Es geht nicht nur um
        bessere Arbeitsbedingungen und umweltgerechtes Ent-
        sorgen, auch in europäischen Werften. Es geht bei dem
        Abkommen auch direkt um die Zukunft der maritimen
        Wirtschaft in Deutschland in Europa.
        Enak Ferlemann, Parl . Staatssekretär beim Bundes-
        minister für Verkehr und digitale Infrastruktur: Heute
        beraten wir das sogenannte Meldeportalgesetz. Ein-
        fach gesagt, bildet Artikel 1 des Gesetzes die rechtliche
        Grundlage für ein zentrales elektronisches Meldeportal
        für den Schiffsverkehr in Deutschland. Das klingt erst
        einmal sehr abstrakt.
        Die tatsächliche Bedeutung des Gesetzes wird erst
        klar, wenn man die Situation vor wenigen Jahren be-
        trachtet: Jeder Hafen, jedes Bundesland und einzelne
        Behörden hatten für den Schiffsanlauf ein eigenes Mel-
        dewesen. Viele Meldungen wurden per Telefon, Telefax
        oder über Listen und Formulare abgegeben. Wir spre-
        chen hier über Meldungen in 72 deutschen Anlaufhäfen,
        an insgesamt 240 betroffene Behörden bei aktuell circa
        1,3 Millionen Anläufen jährlich. Gerade in der global
        agierenden Seeschifffahrt ist das eine weder von den be-
        troffenen Reedereien noch von den betroffenen Behörden
        zu bewältigende Herausforderung und in Zeiten der Digi-
        talisierung nicht hinnehmbar.
        Der notwendige Prozess der Vereinheitlichung der
        Meldungen in der Schifffahrt hat in Deutschland mit
        der im Jahr 2012 erfolgten Umsetzung der europäischen
        Richtlinie 2010/65/EU über Meldeformalitäten für Schif-
        fe begonnen. Ziel ist es, alle von der Seeschifffahrt an
        Behörden an Land abzugebenden Meldungen zentrali-
        siert elektronisch über ein einziges elektronisches Portal
        abgeben zu können. Die Durchleitung an die zuständigen
        Bundes- und Landesbehörden erfolgt automatisch.
        Weitere Vereinheitlichungen sind jedoch notwendig.
        Zudem halten die Zunahme der Datenströme und die
        Weiterentwicklung der Systeme weitere Herausforde-
        rungen bereit. Auf europäischer wie auf nationaler Ebene
        arbeiten wir deshalb an der Weiterentwicklung der Kon-
        zepte für eine effektive Digitalisierung der Schifffahrt,
        die alle Belange berücksichtigen.
        Für diesen Prozess schafft der vorliegende Gesetzent-
        wurf den notwendigen rechtlichen Rahmen. Er ermög-
        licht eine klarere Zuordnung behördlicher Zuständig-
        keiten, technische Prozesse werden beschrieben und die
        datenschutzrechtliche Ermächtigung für die Erhebung
        sowie Verteilung aller relevanten Daten geschaffen. Ziel
        des Gesetzes ist es dabei insbesondere auch, die Grund-
        lage für eine effektivere Zusammenarbeit zwischen Bund
        und Ländern zu bieten. Die Digitalisierung in der See-
        schifffahrt und gerade auch dieses Gesetz sind ein Bei-
        spiel für die gelebte gute Zusammenarbeit zwischen Län-
        dern und Bund.
        Mit dem Gesetz, das als Entwurf vorliegt, wird gleich-
        zeitig auch das Gesetz zur Durchführung der Internati-
        onalen Gesundheitsvorschriften an die Anforderungen
        des Zentralen Meldeportals angepasst. Durch die Abgabe
        von Informationen zum Gesundheitszustand der an Bord
        befindlichen Personen über das Zentrale Meldeportal soll
        den nationalen Gesundheitsbehörden ermöglicht werden,
        frühzeitig auf Gesundheitsgefahren reagieren zu können.
        Ich bin meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
        dankbar, die durch langwierige und komplexe Abstim-
        mungsprozesse mit den Küstenländern und den betroffe-
        nen Behörden einen, so glaube ich, guten Gesetzentwurf
        formuliert haben. Ich danke insbesondere auch dem Bun-
        desrat und den beiden Koalitionsfraktionen. Die einge-
        brachten Änderungen am Meldeportalgesetz werden den
        Zugang zu den für die Nutzung des Meldeportals not-
        wendigen Informationen deutlich erleichtern.
        Ich möchte den Koalitionsfraktionen außerdem für
        den Vorschlag für einen neuen Artikel 3 danken. Die vor-
        geschlagene Änderung des Seeaufgabengesetzes schafft
        die Grundlage dafür, dass Deutschland zu den internati-
        onalen und europäischen Bemühungen zur Verbesserung
        der Situation beim Recycling von Schiffen beitragen und
        die entsprechenden Regelungen zügig umsetzen kann.
        Im Interesse der Umwelt und der Arbeitssicherheit sollte
        Deutschland seine Verantwortung auch hier wahrneh-
        men.
        Insgesamt haben wir – da bin ich mir sicher – einen
        guten Gesetzentwurf. Die Digitalisierung der Schifffahrt
        und Schiffsrecycling sind wichtige Herausforderungen.
        Hier werden die notwendigen Schritte für die dazugehö-
        rige Rechtssicherheit gemacht.
        Anlage 14
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
        brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung
        der Eisenbahnunfalluntersuchung (Tagesord-
        nungspunkt 31)
        Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU): Mit dem
        Gesetz zur Neuordnung der Eisenbahnunfalluntersu-
        chung werden zwei Ziele verfolgt: Zum einen werden
        die gesetzlichen Grundlagen geschaffen, die bisherigen
        Kompetenzen des Bundes im Bereich der Untersuchung
        gefährlicher Ereignisse im Eisenbahnbetrieb auf bun-
        deseigenen Schienenwegen auf eine neue selbstständige
        Bundesoberbehörde zu übertragen, der Bundesstelle für
        Eisenbahn-Unfalluntersuchung. Diese wird dem Bundes-
        ministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur unter-
        stehen.
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 201723068
        (A) (C)
        (B) (D)
        Bislang war die Eisenbahnunfalluntersuchung mit
        der Umsetzung der EU-Richtlinie über die Eisenbahn-
        sicherheit aus dem Jahr 2007 organisatorisch zweige-
        teilt. Die Leitung der Eisenbahnunfalluntersuchung des
        Bundes oblag dem seinerzeitigen Bundesministerium
        für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Die Untersu-
        chungszentrale für die operativen Aufgaben hatte das
        Eisenbahn-Bundesamt inne. Die Bundesregierung hat
        gegenüber dem Bundestag ausgeführt, dass eine Orga-
        nisationsuntersuchung im Jahr 2015 gezeigt habe, dass
        es sinnvoller sei, die Eisenbahnunfalluntersuchung des
        Bundes einer selbstständigen Behörde zu übertragen.
        Zum anderen werden mit dem Gesetz Vorgaben der
        EU-Richtlinie über Eisenbahnsicherheit vom 11. Mai
        2016 umgesetzt. Ich begrüße es, dass die Unabhängigkeit
        der Eisenbahnunfalluntersuchung von der Eisenbahnauf-
        sicht, die vom Eisenbahn-Bundesamt wahrgenommen
        wird, gestärkt wird. Die Mitwirkungspflichten der Eisen-
        bahnen bei der Eisenbahnunfalluntersuchung und Daten-
        schutzregelungen werden ebenfalls festgelegt.
        Von den Rechtsänderungen betroffen sind das Allge-
        meine Eisenbahngesetz und das Bundeseisenbahnver-
        kehrsverwaltungsgesetz. Bisher sind im Allgemeinen
        Eisenbahngesetz nur die Aufgaben und Befugnisse der
        Eisenbahnaufsichtsbehörden geregelt. Diese sollen mit
        den Aufgaben und Befugnissen der Stellen für Eisen-
        bahn-Unfalluntersuchung ergänzt werden. So wird die
        neue Bundesstelle für Eisenbahn-Unfalluntersuchung
        unter anderem Meldungen zu gefährlichen Ereignissen
        im Eisenbahnbetrieb entgegennehmen und kategorisie-
        ren, gefährliche Ereignisse untersuchen und Untersu-
        chungsberichte erstellen und veröffentlichen.
        Die Bundesländer haben am 10. Februar 2017 zum
        Entwurf des Gesetzes Stellung genommen und gering-
        fügige Änderungsanträge eingebracht, die in einem Än-
        derungsantrag der Fraktionen von CDU/CSU und SPD
        berücksichtigt wurden. Die Änderungsvorschläge des
        Bundesrates haben das Ziel, die Zuständigkeit der Eisen-
        bahnaufsichtsbehörden der Länder für die Untersuchung
        von Unfällen auf Eisenbahnnetzen, die nur für die Per-
        sonenbeförderung im örtlichen Verkehr, Stadt- oder Vor-
        ortverkehr genutzt werden, deutlicher hervorzuheben.
        Ein weiterer Änderungsvorschlag betont die Gleichran-
        gigkeit der Befugnisse der für die Strafverfolgung und
        die Ahndung von Ordnungswidrigkeiten zuständigen
        Behörden.
        Dem Gesetzentwurf einschließlich des Änderungs-
        antrags der Koalitionsfraktion wurde in der Sitzung des
        Ausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur am
        22. März 2017 einstimmig zugestimmt. Daher wird dem
        Bundestag der Beschluss des geänderten Gesetzentwurfs
        der Bundesregierung empfohlen.
        Martin Burkert (SPD): Es ist stets dieselbe Frage,
        und sie ist berechtigt. Sie wird nach jedem schweren
        Zug unglück gestellt. Die Frage lautet: Wie sicher ist es,
        in Deutschland mit dem Zug zu fahren? Die Antwort ist
        eindeutig: Sehr sicher – auch wenn es immer wieder zu
        Unfällen kommt. Doch deren Zahl ist niedrig, und es ster-
        ben dabei viel weniger Menschen als im Straßenverkehr.
        In der Vergangenheit hat es aber leider auch tragische
        Zugunfälle gegeben, bei denen Menschen ihr Leben ver-
        loren haben und Sachschäden in Millionenhöhe entstan-
        den sind. Auch ich, mit meiner Ausbildung bei der Bahn
        und heute als Verkehrsausschussvorsitzender im Bundes-
        tag, kann nach so einer Katastrophe nicht einfach zum
        normalen Arbeitsalltag übergehen. Eine lückenlose und
        vor allem schnelle Aufklärung der Ursachen für diese
        Unfälle ist wichtig, um den Eisenbahnverkehrsunterneh-
        men und den Infrastrukturbetreibern mögliche Verbesse-
        rungen an die Hand zu geben und die Zahl der Unfälle zu
        reduzieren. Aber auch für die Opfer und Hinterbliebenen
        ist es wichtig, für Klarheit zu sorgen.
        Untersuchungen haben gezeigt, dass es dabei sinnvol-
        ler ist, die Untersuchung von Eisenbahnunfällen in einer
        Hand zu belassen. Dies regelt nun der Entwurf eines
        Gesetzes zur Neuordnung der Eisenbahnunfalluntersu-
        chung. Er schafft die auf Gesetzesebene erforderlichen
        rechtlichen Grundlagen für die Einrichtung einer Bun-
        desstelle für Eisenbahn-Unfalluntersuchung. So wird
        auch die Unabhängigkeit der untersuchenden Behörde
        gestärkt.
        Diese eigene Behörde soll in Zukunft für Aufgaben
        der Untersuchung gefährlicher Ereignisse im Eisenbahn-
        betrieb zuständig sein. Hiermit soll die bestehende Auf-
        teilung der Eisenbahn-Unfalluntersuchung des Bundes
        beseitigt werden. Denn bisher ist die Leitung der Eisen-
        bahn-Unfalluntersuchungsstelle des Bundes (EUB) im
        Verkehrsministerium angesiedelt. Als operative Stelle
        agiert die EUB ebenfalls seit 2008 beim Eisenbahn-Bun-
        desamt (EBA).
        Beamte und Arbeitnehmer des EBA, die zum Zeit-
        punkt der Errichtung der Bundesstelle für Eisenbahn-Un-
        falluntersuchung Aufgaben wahrnehmen, die dieser
        Stelle obliegen, sind von diesem Zeitpunkt an Beamte
        und Arbeitnehmer bei der Bundesstelle für Eisenbahn-
        Unfall untersuchung. An dieser Stelle möchte ich zu-
        nächst einmal diesen Beschäftigten danken, die in den
        vergangenen Jahren durch ihren Einsatz zur Aufklärung
        von Eisenbahnunfällen beigetragen haben.
        Bei den Aufgaben der Eisenbahnaufsicht sollen nach
        der vorliegenden Gesetzesbegründung auch keine Ände-
        rungen bewirkt werden. Daher möchte ich noch einmal
        dafür plädieren, dass das EBA mit mehr Personal ausge-
        stattet wird und der bestehende Beförderungsstau aufge-
        löst wird. Um die Schiene zu stärken, brauchen wir auch
        starke Behörden, mit qualifiziertem Fachpersonal und
        guten Aufstiegsmöglichkeiten.
        Ich möchte gerne die enorme Bedeutung der Eisen-
        bahn-Unfalluntersuchungsstelle (EUB) und zukünftigen
        Bundesstelle (BEU) hervorheben und dazu ihre Aufga-
        ben skizzieren:
        Die EUB hat zum Ziel, die Ursachen von gefährlichen
        Ereignissen im Eisenbahnbetrieb aufzuklären. Die da-
        raus gewonnenen Erkenntnisse sollen dazu dienen, die
        Sicherheit im Eisenbahnverkehr zu optimieren und so-
        mit Unfällen vorzubeugen. In der Praxis heißt das: Die
        EUB sammelt Fakten und Informationen, um das Unfall-
        geschehen zu rekonstruieren. Dabei werden neben der
        Infrastruktur selbstverständlich auch die betrieblichen
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 23069
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        Abläufe und die am Unglück beteiligten Fahrzeuge mit
        einbezogen. Tätig wird die EUB nur nach schweren Un-
        fällen. Dies regelt eine europäische Richtlinie: Ein Un-
        fall gilt dann als schwer, wenn bei einem Zusammenstoß
        oder bei einer Entgleisung von Zügen ein Mensch getötet
        oder mindestens fünf Menschen schwer verletzt wurden.
        Trifft dies bei einem Eisenbahnunglück nicht zu, kann
        die Untersuchungsstelle im Einzelfall immer noch ent-
        scheiden, ob sie eine Untersuchung einleitet.
        Noch einmal zusammengefasst: Die Arbeit der Eisen-
        bahn-Unfalluntersuchungsstelle dient dazu, die Ursache
        von Unfällen zu ermitteln, damit sich solche Ereignisse
        in der Zukunft nicht wiederholen und besser verhindern
        lassen und damit ganz allgemein die Sicherheit im Eisen-
        bahnverkehr weiterentwickelt werden kann.
        Die Arbeit der Eisenbahnunfall-Untersuchungsstelle
        ist nicht abhängig von gerichtlichen Ermittlungen. Sie
        dient nicht dazu, Schuldzuweisungen vorzunehmen oder
        Haftungsfragen zu klären.
        Um die bisherige Arbeit von EUB und EBA weiter
        stärken zu können, ist die Schaffung einer eigenen Bun-
        desbehörde – wie im vorliegenden Entwurf eines Geset-
        zes zur Neuordnung der Eisenbahnunfalluntersuchung
        vorgesehen – der Schritt in die richtige Richtung. Denn
        wir müssen die Schiene weiter stärken. Und dazu gehört
        ganz sicher auch eine lückenlose und zügige Aufklärung
        von Eisenbahnunfällen, um diese in Zukunft zu vermei-
        den. Dies steht und fällt aber mit sachkundigem und in
        ausreichender Anzahl vorhandenem Personal. Hier müs-
        sen wir nachhaltig investieren, und ich wünsche mir, dass
        das mit diesem Gesetz – ohne Wenn und Aber – umge-
        setzt wird.
        Sabine Leidig (DIE LINKE): Bislang gibt es für die
        Untersuchung von Bahnunfällen die Eisenbahn-Unfall-
        untersuchungsstelle des Bundes, EUB, die als operati-
        ve Stelle beim Eisenbahn-Bundesamt, EBA, und damit
        letztlich beim BMVBS/BMVI angesiedelt ist. Nun soll
        die Untersuchungsstelle in eine selbstständige Behörde
        umgewandelt werden.
        Offenbar gibt es dafür zwei Gründe: Zum einen hat
        die Organisationsuntersuchung im Jahr 2015 gezeigt,
        dass es sinnvoller sei, die Eisenbahnunfalluntersuchung
        des Bundes einer selbstständigen Behörde zu übertragen.
        Außerdem sollen mit der geänderten Organisation die
        Vorschriften der Richtlinie 2016/798 des Europäischen
        Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2016 über Eisen-
        bahnsicherheit umgesetzt werden.
        Aus der Sicht der Linksfraktion ist es durchaus sinn-
        voll, die Untersuchung von Eisenbahnunfällen zu ver-
        bessern. Zwar hat die bisherige Struktur prinzipiell funk-
        tioniert, allerdings extrem langsam. Die Berichte der
        EBA-Untersuchungsstelle waren meist erst Monate nach
        dem eigentlichen Unfall verfügbar; manchmal dauerte es
        sogar Jahre.
        In einigen Fällen sind die Unfallberichte auch sehr
        verklausuliert und – möglicherweise aus politischen
        Gründen – unzureichend auf die eigentlichen Ursachen
        eingegangen. Ein Beispiel dafür waren die Untersuchun-
        gen der mehrfachen Entgleisungsvorgänge im umgebau-
        ten Stuttgarter Hauptbahnhof. Dort wurde letztlich auf
        angeblich defekte Puffer verwiesen, während der um-
        fangreiche Umbau des Bahnhofs als Vorbereitung von
        Stuttgart 21 außer Acht blieb.
        Unsere Fraktion stimmt der geplanten Einrichtung
        einer selbstständigen Behörde zu, weil zumindest eine
        größere Unabhängigkeit vom Ministerium zu erwarten
        ist. Damit besteht die Chance, dass die Untersuchungs-
        berichte weniger auf „Diplomatie“ und mehr auf Trans-
        parenz ausgerichtet sind. Ob sich diese Hoffnung erfüllt,
        wird allerdings erst die zukünftige Praxis zeigen.
        Matthias Gastel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Am Abend werden die Faulen munter. Auch hier legt
        die schwarz-rote Koalition kurz vor Ende der Legislatur
        einen Gesetzentwurf vor, der schon hätte viel eher kom-
        men können. Schon mehrfach habe ich in diesem Hohen
        Haus die Trägheit bei der Bearbeitung der Fälle in der
        Eisenbahnunfalluntersuchung angemahnt. Viel zu oft ist
        nichts passiert.
        Nehmen wir den Fall eines ICE-Achsbruchs in Köln
        aus dem Juli 2008. Dieser Fall sorgte in der ganzen Repu-
        blik über Wochen für Schlagzeilen. Ein ICE springt nach
        einem Achsbruch auf der Hohenzollernbrücke direkt vor
        dem Kölner Hauptbahnhof aus dem Gleis. Ein Glück für
        die Fahrgäste dieses Zuges, dass der Hauptbahnhof in
        Köln so überlastet ist, dass alle Züge auf der Brücke nur
        langsam fahren dürfen. So wurde niemand verletzt. Es
        wäre besser nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn
        der ICE bei voller Fahrt einen Achsbruch erlitten hätte;
        denn diese ICE-Züge fahren zwischen Köln und Frank-
        furt mit bis zu 300 Stundenkilometern.
        Die Deutsche Bahn hat danach zwar alle Züge des-
        selben Typs einer umfassenden Untersuchung unterzo-
        gen, mit erheblichen Folgen für Tausende Reisende in
        Deutschland, die dann von Zugausfällen betroffen wa-
        ren. Es geht aber um eine unabhängige Unfallaufklärung,
        wie sie schon damals die EU eingefordert hat. Es ist gut,
        wenn das Bahnunternehmen eigene Untersuchungen an-
        stellt; aber als Unfallbeteiligte ist sie gleichzeitig auch
        befangen. Daher soll eine Behörde derartige Unfälle un-
        tersuchen: die Eisenbahn-Unfalluntersuchungsstelle des
        Bundes. Erst auf Drängen der EU wurde sie eingerichtet
        und ans Bundesverkehrsministerium angegliedert. Und
        doch wartet trotz allem der Achsbruch auf der Kölner
        Hohenzollernbrücke auf einen ordentlichen Abschluss-
        bericht von der Eisenbahnunfalluntersuchung, seit in-
        zwischen fast neun Jahren! Neun Jahre Untersuchungen
        ohne Ergebnis, das sieht sehr danach aus, als ob hier
        jemand etwas zu verschleiern oder zu verstecken hätte.
        Neun Jahre sind aber vor allem viel zu viel Zeit für eine
        Unfalluntersuchung. Die Fahrgäste haben ein Anrecht
        darauf, zu erfahren, was die damaligen Unfallursachen in
        Köln waren und welche Schlussfolgerungen die Bahnin-
        dustrie ziehen muss. Stattdessen bis heute keine Spur von
        klaren Erkenntnissen! Das darf nicht sein.
        Meine deutliche Kritik zur Trägheit bei der Unfall-
        untersuchung vor etwa einem Jahr hier im Hohen Haus
        hat dann wohl auch einige zum Umdenken gebracht. An-
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 201723070
        (A) (C)
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        fang letzten Jahres habe ich mir einmal die Arbeit der
        Eisenbahnunfalluntersuchung hieb- und stichfest vom
        Verkehrsministerium zusammenstellen lassen. Ernüch-
        terndes Ergebnis: Eine schnelle Unfallaufklärung ist
        nur graue Theorie. Zwischen April 2008 und Novem-
        ber 2015 wurden 69 zu untersuchende Unfälle mit einem
        Abschlussbericht versehen, aber 76 Unfälle aus diesen
        sieben Jahren sind 2016 immer noch in Bearbeitung ge-
        wesen. Also mehr als die Hälfte aller Fälle sind nicht ab-
        gearbeitet gewesen. Mehr als die Hälfte! Das muss man
        sich einmal auf der Zunge zergehen lassen.
        Meine Feststellung von damals bleibt dieselbe: Die
        aktuelle Arbeit in der Eisenbahnunfalluntersuchung ist
        hochgradig ineffizient. Die Abschlussberichte lassen zu
        lange auf sich warten, und die Ergebnisse sind häufig
        nicht so, dass man wirklich Konsequenzen daraus zie-
        hen kann, weil die wirklichen Unfallursachen viel zu spät
        aufgeklärt werden.
        Wir wollten schon damals die Eisenbahnunfallun-
        tersuchung vom Verkehrsministerium lösen, damit die
        Stelle wirklich unabhängig arbeiten kann. Wir wollen
        auch, dass das Personal deutlich aufgestockt wird. Bei
        der Ausgliederung der Eisenbahnunfalluntersuchung im
        Jahr 2008 hatte die Behörde noch 50 Mitarbeiterinnen
        und Mitarbeiter, jetzt nur noch 21 Personen. Wenn wir
        hier nicht deutlich nachsteuern, schleppen wir das Perso-
        nalproblem in die neue Struktur mit hinein und dann wird
        das nichts mehr mit einer schnellen Unfallaufklärung bei
        den Bahnen.
        Der jetzt vorliegende Gesetzentwurf hat sich nun ei-
        nigen unserer Kritikpunkte tatsächlich angenommen und
        damit im Kern unsere grüne Kritik an der bisherigen Form
        der Eisenbahnunfalluntersuchung bestätigt. Eine Organi-
        sationsuntersuchung zur Eisenbahnunfalluntersuchung
        hat nun schwarz auf weiß benannt, was wir schon lange
        sagen: Die bisherige Zuordnung der Eisenbahn-Unfall-
        untersuchungsstelle beim Bundesverkehrsministerium
        hat Effizienzverluste zur Folge, fördert im Zweifel sogar
        Mauscheleien und damit unnötig Misstrauen bei den an-
        sonsten guten Abschlussberichten, wenn sie denn auch
        tatsächlich vorliegen. Wir Grüne wollen uns daher nicht
        dem Anliegen des Gesetzentwurfes verweigern, die Ei-
        senbahnunfalluntersuchung tatsächlich unabhängig zu
        organisieren und so einer selbstständigen Behörde zu
        übertragen. Wir stimmen daher dem Anliegen zu.
        Mit dem Gesetzentwurf kommen wir zwar einen
        Schritt weiter; aber unsere Grundkritik bleibt. Die Eisen-
        bahnunfalluntersuchung braucht mehr Personal, sodass
        wieder ein schlagkräftiges Team zu schnelleren Ergeb-
        nissen und Abschlussberichten kommen kann. Nur so
        kann die Bahnindustrie schnell Fehlentwicklungen auf-
        nehmen, schnell Schlussfolgerungen bei der Fahrzeug-
        herstellung ziehen, und nur so ist die Sicherheit der Fahr-
        gäste im Bahnverkehr bestmöglich gewährleistet. Das
        wird eine Aufgabe für die Zukunft bleiben, die die Große
        Koalition aus CDU/CSU und SPD wohl nicht mehr in
        dieser Legislaturperiode erledigen wird. Wir Grüne ha-
        ben weiter ein Auge darauf; spätestens in der nächsten
        Legislaturperiode wollen wir auch das Personalproblem
        endlich beheben.
        Enak Ferlemann, Parl . Staatssekretär beim Bundes-
        minister für Verkehr und digitale Infrastruktur: Die Ei-
        senbahn ist – bezogen auf die Transportleistung – eines
        der sichersten Verkehrsmittel. Absolute Sicherheit gibt
        es auch dort nicht, sodass seit jeher Unfälle und Ereig-
        nisse, die zu einem Unfall hätten führen können, unter-
        sucht und ausgewertet wurden, um die Betriebsprozesse
        einschließlich des Baus und der Instandhaltung von An-
        lagen und Fahrzeugen sowie die Betriebsvorschriften zu
        verbessern.
        Dies ist zunächst Aufgabe der Eisenbahnunternehmen
        im Rahmen ihrer Betreiberverantwortung und ihres Si-
        cherheitsmanagementsystems gemäß § 4 Allgemeines
        Eisenbahngesetz. Seit 1994 wurde die Eisenbahnun-
        falluntersuchung von den Eisenbahnaufsichtsbehörden
        vorgenommen. Mit der Richtlinie 2004/49/EG des Euro-
        päischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004
        über Eisenbahnsicherheit in der Gemeinschaft und zur
        Änderung der Richtlinie 95/18/EG über die Erteilung
        von Genehmigungen an Eisenbahnunternehmen und der
        Richtlinie 2001/14/EG über die Zuweisung von Fahr-
        wegkapazität der Eisenbahn, die Erhebung von Entgelten
        für die Nutzung von Eisenbahninfrastruktur und die Si-
        cherheitsbescheinigung – Richtlinie über die Eisenbahn-
        sicherheit – wurde erstmals die Forderung gestellt, be-
        stimmte Unfälle unabhängig von der Eisenbahnaufsicht
        durch eine funktional unabhängige Stelle zu untersuchen.
        Diese Vorgabe wurde mit dem Fünften Gesetz zur Än-
        derung eisenbahnrechtlicher Vorschriften vom 16. April
        2007 im Allgemeinen Eisenbahngesetz umgesetzt. Da-
        bei wurde in einem Organisationserlass die Leitung der
        Eisenbahn-Unfalluntersuchungsstelle des Bundes, EUB,
        im seinerzeitigen BMVBS verankert und als operative
        Stelle die funktional unabhängige Untersuchungszentra-
        le beim Eisenbahn-Bundesamt, EBA, geschaffen. Außer-
        dem wurden vier Untersuchungsbezirke in Berlin, Essen,
        Karlsruhe und München eingerichtet, um eventuelle Un-
        fallstellen schneller als von einem Standort aus erreichen
        zu können.
        Eine Organisationsuntersuchung im Jahr 2015 hat
        erwiesen, dass es sinnvoller ist, die Eisenbahnunfallun-
        tersuchung des Bundes einer selbstständigen Behörde
        zu übertragen. In diesem Zusammenhang wurde auch
        die Zusammenfassung der Unfalluntersuchung für Ei-
        senbahn, Luftfahrt und Schifffahrt in einer gemeinsamen
        Bundesstelle geprüft. Es hat sich jedoch gezeigt, dass
        hierdurch keine Synergieeffekte erzielt werden, sodass
        diese Alternative nicht weiter verfolgt wurde.
        Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden durch
        Änderung des Allgemeinen Eisenbahngesetzes und des
        Bundeseisenbahnverkehrsverwaltungsgesetzes die Bun-
        desstelle für Eisenbahn-Unfalluntersuchung als selbst-
        ständige Bundesoberbehörde eingerichtet, ihre Aufgaben
        und Befugnisse beschrieben sowie Mitwirkungspflichten
        der Eisenbahnen bei der Eisenbahnunfalluntersuchung
        und Datenschutzregelungen festgelegt. Die Aufgaben
        und Befugnisse der für die Strafverfolgung und Ahndung
        von Ordnungswidrigkeiten zuständigen Behörden sowie
        der für Gefahrenabwehr zuständigen Eisenbahnaufsichts-
        behörden bleiben unberührt. Im Rahmen des Gesetzent-
        wurfs werden Vorschriften des Kapitels V der Richtlinie
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 23071
        (A) (C)
        (B) (D)
        (EU) 2016/798 des Europäischen Parlaments und des
        Rates vom 11. Mai 2016 über Eisenbahnsicherheit um-
        gesetzt, die die bereits genannte Richtlinie 2004/49/EG
        ablöst.
        Diese Richtlinie lässt wie auch ihre Vorgängerin für
        bestimmte Infrastrukturen Ausnahmen von den Bestim-
        mungen der Richtlinie zu. Dies betrifft zum Beispiel vom
        übrigen Eisenbahnsystem der Union funktional getrennte
        Netze, Gleisanschlüsse, Infrastrukturen und Fahrzeuge
        für den lokal begrenzten Einsatz oder historische oder
        touristische Zwecke. Diese Möglichkeit wurde genutzt,
        soweit die gefährlichen Ereignisse sich nicht auf Eisen-
        bahninfrastrukturen des Bundes ereignen. Damit wird
        die Bundesstelle für Eisenbahn-Unfalluntersuchung für
        gefährliche Ereignisse zuständig, die sich auf Infrastruk-
        turen der Eisenbahnen des Bundes ereignen. Für die
        Nichtbundeseigenen Eisenbahnen bleibt es bei der Zu-
        ständigkeit der von den Ländern bestimmten Behörden
        für Eisenbahnaufsicht.
        Mit der Annahme des Gesetzentwurfs werden die
        Unabhängigkeit der Eisenbahnunfalluntersuchung des
        Bundes gestärkt und Möglichkeiten zur Steigerung der
        Effizienz eröffnet. Auch wird der Kritik der EU an der
        Umsetzung der Richtlinie 2004/49/EU entgegengewirkt.
        Gleichwohl möchte ich die Hoffnung äußern, dass sich
        nicht viele Anlässe ergeben, bei denen die Behörde tätig
        werden muss.
        Anlage 15
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung und Schlussabstimmung des von der
        Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
        Gesetzes zu dem Abkommen vom 19. Mai 2016 zwi-
        schen der Bundesrepublik Deutschland und dem
        Obersten Hauptquartier der Alliierten Mächte Eu-
        ropa zur Änderung des Abkommens vom 13. März
        1967 zwischen der Bundesrepublik Deutschland
        und dem Obersten Hauptquartier der Alliierten
        Mächte Europa über die besonderen Bedingungen
        für die Einrichtung und den Betrieb internationa-
        ler militärischer Hauptquartiere in der Bundesre-
        publik Deutschland (Tagesordnungspunkt 32)
        Dr. Mathias Edwin Höschel (CDU/CSU): Die
        Grundziele der NATO, die Verteidigung der eigenen Si-
        cherheit und die der Partnerstaaten sowie die Gewähr-
        leistung globaler Stabilität, sind im Laufe des 68-jäh-
        rigen Bestehens im Prinzip gleich geblieben. Doch die
        Organisation musste im Laufe dieser Jahrzehnte immer
        wieder ihre Struktur anpassen. Die Gründe hierfür lie-
        gen in den großen sicherheitspolitischen Umbrüchen wie
        der Weiterentwicklung der Waffensysteme, dem Ende
        des Kalten Krieges, dem Aufkommen neuer Akteure, der
        asymmetrischen Kriegsführung und zuletzt der Möglich-
        keiten und Etablierung des Cyberwars.
        Zuletzt wurde im Jahr 2011 eine solche Reform der
        Kommandostrukturen der NATO beschlossen. Im Zuge
        dessen wurden auch haushalterische Änderungen vorge-
        nommen. Die Änderung betrifft die Kostenverteilung für
        Betrieb und Einrichtung von NATO-Hauptquartieren in
        Deutschland bzw. in anderen Gastgeberländern. Um die-
        se Reformen umzusetzen, beschloss die Bundesrepublik
        zusammen mit dem Hauptquartier der Alliierten Mächte
        in Europa, die Änderung eines Abkommens aus dem Jah-
        re 1967. Diese Änderung bedarf eines Gesetzes, welches
        wir nun heute beschließen wollen.
        Grundsätzlich ist erst einmal zu erwähnen, dass wir
        mit dieser Regelung nun eine sehr faire Kostenvertei-
        lung vorliegen haben. Gastgeberland und NATO teilen
        sich hälftig die anfallenden Kosten für die militärischen
        Einrichtungen. Die finanziellen Aufwendungen, die der
        Bundesrepublik durch diese Regelung anfallen, werden
        in der Gesetzesbegründung mit 200 000 Euro angege-
        ben. Vonseiten des Ministeriums heißt es, dass weitere
        600 000 Euro pro Jahr für personalbezogene liegen-
        schaftsbezogene Leistungen eingeplant seien. Interes-
        santerweise stehen diesen neuen Ausgaben jedoch Ent-
        lastungen in Höhe von 1,72 Millionen Euro entgegen,
        die sich aus dieser Kostenteilung zwischen NATO und
        Bundesrepublik ergeben; denn da sich die Gesamtauf-
        wendungen für den Betrieb von NATO-Hauptquartieren
        durch die Kostenverteilung von 23,6 Millionen Euro auf
        11,8 Millionen Euro verringern, senkt sich auch der Be-
        trag, mit dem sich Deutschland an diesen Kosten betei-
        ligt. Somit spart die Bundesrepublik durch die Änderung
        des Abkommens Kosten ein.
        Dass wir überhaupt von dieser Regelung betroffen
        sind, verdanken wir dem Umstand, dass SHAPE, wie
        die englische Abkürzung des europäischen NATO-Kom-
        mandos lautet, in der Bundesrepublik drei Kommando-
        behördeneinrichtungen betreibt: das Fernmeldebataillon
        der NATO CIS Group in Wesel, das Combined Air Ope-
        rations Centre in Uedem und natürlich das Hauptquartier
        des Allied Air Command in Ramstein. Darauf können
        wir stolz sein; denn als Gastgebernation für unser Ver-
        teidigungsbündnis zu dienen, hat wichtige politische und
        militärische Synergieeffekte.
        Es liegen daher gute Gründe für die Beschließung
        dieses Gesetzes vor: die Beteiligung an der finanziel-
        len Verantwortlichkeit der NATO Einrichtungen als
        Gastgebernation, die Würdigung der Standortwahl der
        Einrichtungen in Deutschland und natürlich die daraus
        resultierende faktische finanzielle Entlastung der Bun-
        desrepublik.
        Karin Strenz (CDU/CSU): Stettin in Polen, Lille in
        Frankreich, Neapel in Italien und auch Wesel am Rhein –
        was haben diese Städte gemeinsam? An jedem dieser
        Orte befinden sich internationale Liegenschaften der
        NATO. Die NATO hat, wie wir wissen, derzeit 28 Mit-
        gliedsländer auf drei verschiedenen Kontinenten. Dem-
        entsprechend viele Hauptquartiere und Liegenschaften
        müssen jedes Jahr umgebaut bzw. renoviert werden;
        dementsprechend viele neue Gebäude müssen errichtet
        werden. Das Abkommen vom 13. März 1967 zwischen
        Deutschland und dem Obersten Hauptquartier der Alli-
        ierten Mächte in Europa hat bisher bestimmt: Die NATO
        trägt alleine die regelmäßig anfallenden Kosten für NA-
        TO-Hauptquartiere auf deutschem Gebiet.
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 201723072
        (A) (C)
        (B) (D)
        Im Jahr 2010 wurde auf dem Gipfel der NATO in
        Lissabon die Reform der Kommandostruktur der NATO
        beschlossen. Das bedeutete konkret: Die Zahl der mili-
        tärischen Hauptquartiere wurde reduziert. Für Deutsch-
        land bedeutete das konkret die Schließung des takti-
        schen Kommandos der Landstreitkräfte in Heidelberg
        im Jahr 2013. Durch diese Reform sind aber nicht nur
        die Kommandostrukturen effizienter gestaltet worden.
        Sinn der Sache war auch eine deutliche Entlastung des
        gemeinsamen NATO-Militärhaushaltes.
        In diesem Zusammenhang können Sie auch das Ab-
        kommen vom 19. Mai 2016 verstehen. Die Außenmi-
        nister der NATO-Mitgliedsländer trafen sich an diesem
        Tag im letzten Frühjahr in Brüssel. Grundlegendes in der
        Finanzierung der NATO-Liegenschaften weltweit hat
        sich an diesem Tag geändert. Der deutsche Botschafter
        bei der NATO, Hans-Dieter Lucas, und der NATO-Ober-
        befehlshaber für Europa, General Curtis Scaparrotti,
        haben in Brüssel gemeinsam ein Abkommen unterzeich-
        net. Zukünftig sollen die Kosten für die Instandsetzung
        und Instandhaltung der NATO-Liegenschaften aufgeteilt
        werden. Die eine Hälfte wird durch den NATO-Haushalt
        bestritten, die andere Hälfte wird durch den Aufnahme-
        staat, sozusagen den Gastgeber, getragen, in unserem Fall
        also die Bundesrepublik Deutschland. Damit diese sinn-
        volle Vereinbarung in Kraft treten kann, muss auch der
        Deutsche Bundestag zustimmen. Das ist gut und wichtig.
        Konkret geht es bei uns um drei Stützpunkte: das
        Hauptquartier mit dem Luftwaffenoberkommando der
        NATO in Ramstein, den Gefechtsstand der NATO zur
        Führung von Luftstreitkräften in Uedem/Kalkar nahe der
        holländischen Grenze und das 1. NATO-Fernmeldeba-
        taillon in Wesel. Zur Hälfte würden wir in Zukunft die
        Infrastrukturkosten dieser Standorte übernehmen.
        Lassen Sie mich Ihnen kurz darstellen, warum wir die-
        sem Gesetzentwurf zustimmen sollten.
        Mit diesem neuen Gesetz sind keine zukünftigen Aus-
        gabenexplosionen verbunden. Ganz im Gegenteil, wir
        erwarten dadurch sogar Einsparungen im siebenstelligen
        Bereich. Kurz ein paar Zahlen zur Veranschaulichung:
        Durch die Aufteilung dieser sogenannten Infrastruk-
        turkosten wird die NATO jährlich rund 11,8 Millionen
        Euro einsparen, und damit auch wir. Deutschland trägt
        einen Anteil von fast 15 Prozent am gemeinsamen NA-
        TO-Haushalt. Mit dem neuen Gesetz würden wir deshalb
        rund 1,72 Millionen Euro an NATO-Ausgaben pro Jahr
        einsparen. Demgegenüber stehen nur geringe Mehraus-
        gaben für die NATO-Liegenschaften in unserem Land.
        Das sind jährlich rund 200 000 Euro. Sie können nun
        selbst die Rechnung aufstellen. Wir würden deutlich
        mehr als 1 Million Euro pro Jahr einsparen. Das macht
        für jeden Sinn. Wir stehen als Union für solide und ver-
        antwortliche Haushaltspolitik. Auch deshalb unterstütze
        ich diesen Entwurf ohne Vorbehalt. Ich ermutige uns,
        die deutschen Militärausgaben als Ganzes zu betrachten.
        Diese Rechnung macht Sinn für unseren Bund – egal wie
        man es dreht und wendet.
        Sie könnten jetzt vielleicht sagen: Was haben wir da-
        von, wenn wir uns Mehrausgaben für Instandsetzung und
        Instandhaltung von NATO-Gebäuden in Deutschland
        aufhalsen? Ich sage Ihnen, das wäre zu kurz gedacht.
        Wir sind eben nicht nur Gastgeber der NATO in unse-
        rem Land, sondern tragen auch nicht unerhebliche Betei-
        ligung an NATO-Einrichtungen in 27 anderen Ländern,
        zum Beispiel beim Multinationalen Korps Nordost in
        Stettin in Polen. Die Einsparungen, verbunden mit unse-
        rer starken Beteiligung am NATO-Haushalt, übersteigen
        die Ausgaben bei weitem.
        Ich bitte Sie deshalb, diesem Gesetz ihre Zustim-
        mung zu geben. Es macht Sinn für die Bundesrepublik
        Deutschland, sowohl wirtschaftlich als auch finanziell.
        Die Einsparungen, die wir hier erzielen, können in an-
        deren Bereichen des Verteidigungshaushalts sehr gut
        genutzt werden. In einer Zeit von steigenden Verteidi-
        gungsausgaben für unser Land, auch weil wir uns stärker
        in der NATO engagieren und das wahrscheinlich noch
        zunehmen wird, müssen wir einem Gesetz zustimmen,
        das an den richtigen Stellen Kosten einspart. Unsere Kol-
        legen aus dem Bundesrat haben diesem Entwurf bereits
        am 10. Februar ohne Einwende zugestimmt. Das ist ein
        sehr gutes Zeichen.
        Matthias Ilgen (SPD): Wie ich bereits anlässlich der
        ersten Lesung des vorliegenden Gesetzentwurfes sagte,
        spiegelt dieser die Umsetzung von Teilen einer bereits
        im Jahre 2010 beschlossenen NATO-Reform wider.
        Diese Reform wiederum mündete im letzten Jahr in ei-
        nem Änderungsabkommen zwischen der Bundesrepu-
        blik Deutschland und dem Obersten Hauptquartier der
        Alliierten Mächte in Europa. Der daraus resultierende
        Gesetzentwurf sieht, kurz gesprochen, eine Umschich-
        tung der durch NATO-Hauptquartiere in Deutschland
        bzw. in allen NATO-Staaten entstehenden Kosten vor.
        Dies betrifft hierzulande beispielsweise das sogenannte
        Headquarters Allied Air Command oder kurz: HQ AIR-
        COM in Ramstein und auch das Headquarters Rapid
        Deployable German-Netherlands Corps in Münster. Ziel
        des Gesetzentwurfs respektive der NATO-Reform, die
        wir hier auf nationalstaatlicher Ebene umsetzen, ist eine
        gerechtere Verteilung der Kosten innerhalb des Nordat-
        lantischen Bündnisses.
        Die bisherige Regelung, was die Unterhaltung der NA-
        TO-Hauptquartiere betrifft, entstammt dem Abkommen
        von 1967 und sieht dabei eine Übernahme der Kosten
        seitens der NATO zu 100 Prozent vor. Im Zuge der Re-
        form der NATO-Kommandostruktur aus dem Jahre 2010
        wurde beschlossen, diesen Schlüssel dahin gehend anzu-
        passen, dass sich künftig NATO und Gastgeberland diese
        Kosten hälftig teilen, also im Verhältnis 50 : 50, statt wie
        bisher 100 : 0.
        Um es noch einmal kurz zu erklären: Durch die hälf-
        tige Übernahme der Kosten für Liegenschaftsinstand-
        setzung und Liegenschaftsinstandhaltung entstehen im
        Kapitel 1408 des Bundeshaushaltes – das Kapitel im
        Haushalt des Bundesministeriums der Verteidigung, wel-
        ches sich unter dem Schlagwort „Unterbringung“ auch
        mit den Liegenschaften beschäftigt – Mehrausgaben in
        Höhe von 200 000 Euro. Auf der anderen Seite reduzie-
        ren sich die Ausgaben in Kapitel 1401 – dieses Kapitel
        beinhaltet unter anderem die sogenannten „Verpflichtun-
        http://www.1gnc.org/
        http://www.1gnc.org/
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 23073
        (A) (C)
        (B) (D)
        gen im Rahmen der Mitgliedschaft zur NATO“ – um gut
        1,7 Millionen Euro.
        Derzeit gibt die NATO 23,6 Millionen Euro für die
        Unterhaltung der Hauptquartiere aus. An der in Zukunft
        eingesparten Hälfte dieser Summe, nämlich 11,8 Mil-
        lionen Euro, ist Deutschland, durch seinen Anteil am
        NATO-Haushalt von 14,65 Prozent mit eben diesen be-
        sagten 1,7 Millionen Euro beteiligt. Der hier vorliegende
        Gesetzentwurf führt in seiner Konsequenz also zu Min-
        derausgaben von 1,5 Millionen Euro.
        Anderen NATO-Mitgliedstaaten, deren Anteil am
        NATO-Budget prozentual kleiner ist, die aber über ent-
        sprechende NATO-Hauptquartiere innerhalb ihrer Lan-
        desgrenzen verfügen, entstehen dadurch entsprechend
        Mehrkosten. Der Punkt dabei ist, dass die Verteilung der
        Gesamtkosten auf die Mitgliedsländer der NATO sich in
        Zukunft etwas gerechter darstellt. Der US-amerikanische
        Präsident, der dahin gehend ja offenbar gerne die eine
        oder andere Rechnung ausstellen würde, geriete ob die-
        ser Tatsache sicherlich in leichte Verzückung.
        Ich möchte es hier an dieser Stelle noch einmal in al-
        ler Deutlichkeit sagen: Die Tatsache, dass die NATO im
        Zuge des Machtwechsels in den USA Objekt einer De-
        batte geworden ist, ist per se gar nicht verkehrt meiner
        Ansicht nach. Es ist sogar begrüßenswert, wenn Europa
        und die USA sich wieder mehr Gedanken machen über
        die Zukunft unserer gemeinsamen Sicherheitsarchitek-
        tur. Daraus aber die Ableitung zu machen, die gesamte
        Zukunft des transatlantischen Bündnisses sei infrage
        gestellt, halte ich für eine unsägliche Debatte und einen
        vollkommen unzulässigen Schritt.
        Fest steht vielmehr: Die NATO ist für Deutschland
        seit über 60 Jahren ein Garant für unsere Sicherheit und
        für die westliche Sicherheitsarchitektur als Ganzes. Auch
        wenn das manche Kolleginnen und Kollegen in der Op-
        position nicht gerne hören: Daran wird sich zukünftig
        auch nichts ändern.
        Gerade die veränderte sicherheitspolitische Lage in-
        nerhalb Europas und an den südlichen und südöstlichen
        Grenzen des Bündnisses macht die NATO auf absehba-
        re Zeit unersetzlich. Umso wichtiger ist es dabei, diese
        Institution auch weiterhin modern, dynamisch und fit zu
        halten, um auch in Zukunft ein Instrument an der Hand
        zu haben, mithilfe dessen Deutschland auf sicherheitspo-
        litische Herausforderungen angemessen reagieren kann.
        Deshalb ist es wichtig, die auf NATO-Ebene angescho-
        benen Reformen auch hierzulande umzusetzen.
        Wir als SPD-Bundestagsfraktion stimmen diesem Ge-
        setz abschließend zu.
        Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE): Die Sunday
        Times berichtete vergangenes Wochenende, US-Präsi-
        dent Trump habe im Kontext des Besuchs von Bundes-
        kanzlerin Merkel in Washington in der vorvergangenen
        Woche nicht nur per Twitter behauptet, Deutschland
        schulde der Nato und den USA „riesige“ Summen für die
        Verteidigung des Landes. Er habe ihr auch gleich eine
        Rechnung über umgerechnet rund 350 Milliarden Euro
        übergeben. Beginnend im Jahr 2002 seien darin – ein-
        schließlich Zinsen – die Beträge aufaddiert worden, die
        Deutschland zurückgeblieben sei hinter dem NATO-Ziel,
        2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Militärausga-
        ben aufzubringen. Die Bundesregierung dementiert, dass
        eine Rechnung übergeben wurde. Ein deutscher Militär-
        blogger las in dieser Meldung: Die Milliardenrechnung
        sei Deutschland für die Stationierung von US-Truppen in
        Deutschland präsentiert worden.
        Im hier debattierten Gesetzentwurf der Bundesregie-
        rung geht es um die Kosten der NATO-Hauptquartiere in
        Deutschland. Im Vergleich zu der bei der Sunday Times
        thematisierten 350-Milliarden-Euro-Rechnung – und
        auch mit Blick auf den deutschen Militäretat von in die-
        sem Jahr fast 40 Milliarden Euro – geht es in dem Ge-
        setzentwurf um geringere Beträge. Er soll eine veränder-
        te Kostenteilung zwischen der NATO und Deutschland
        als Stationierungsstaat möglich machen.
        Die anderen Fraktionen weisen darauf hin, dass die
        auf Grundlage des Gesetzentwurfs zu erwartenden
        Mehrkosten für Instandsetzung und Instandhaltung der
        NATO-Liegenschaften in Deutschland sich auf „nur“
        0,2 Millionen Euro beliefen, während Einsparungen in
        Höhe von 1,5 Millionen Euro zu erwarten seien, weil der
        deutsche Anteil am gemeinsamen NATO-Haushalt sich
        auf Basis des zugrunde liegenden Abkommens von 2016
        reduziere. Was alle anderen Fraktionen zu erwähnen ver-
        gessen, sind die Kosten, die damit verbunden sind, dass
        die Nutzung der Hauptquartiere durch die NATO-Trup-
        pen für diese unentgeltlich ist, was bedeutet: Diese Kos-
        ten, die die ersparten Kostenansätze natürlich deutlich
        übersteigen, tragen weiterhin die deutschen Steuerzahle-
        rinnen und Steuerzahler.
        Worüber die anderen Fraktionen außerdem beiläufig
        hinweggehen, sind die Einrichtungen, um die es hier
        konkret geht, zum Beispiel das Hauptquartier Uedem,
        zum Beispiel das Hauptquartier Ramstein – das Ram-
        stein, das schon seit langem als militärisches Luft- und
        Drehkreuz der konventionellen Kriegführung von USA
        und NATO dient und sowohl die Einsatzzentrale der in
        Deutschland stationierten Atomwaffen ist als auch Füh-
        rungs-, Kommando- und Kontrollstützpunkt für das NA-
        TO-Raketenabwehrsystem, und das Ramstein, auf dem
        die US-Armee eine Satelliten-Relaisstation errichtet hat,
        über die die für den völkerrechtswidrigen Drohnenkrieg
        der USA notwendigen Signale übermittelt werden – mit-
        hilfe dieser Station werden die Kampfdrohnen in den
        Einsatzregionen gesteuert; sie ist erforderlich, um An-
        griffsbefehle an diese Killerdrohnen weiterzuleiten –, die
        Airbase Ramstein also, die die Bundesregierung schon
        längst hätte schließen sollen, weil die Völkerrechts-
        widrigkeit von sogenannten „gezielten Tötungen“, also
        Hinrichtungen mutmaßlicher Terroristen mit Drohnen
        im US-Antiterrorkrieg, zugleich eine rechtswidrige Nut-
        zung des Hauptquartiers in Ramstein bedeutet. Die Bun-
        desregierung muss verhindern, dass vom Territorium der
        Bundesrepublik Deutschland aus rechtswidrige Militär-
        einsätze unterstützt werden. Da sie das ganz offenbar von
        selbst nicht tut, werden wir jede Gelegenheit nutzen, sie
        daran zu erinnern.
        Verteidigungsministerin von der Leyen fühlt sich dem
        2-Prozent-Ziel der NATO verpflichtet. Auf dem Stand des
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 201723074
        (A) (C)
        (B) (D)
        heutigen Bruttoinlandsprodukts wären das rund 76 Mil-
        liarden Euro, die sie ausgeben will – fast eine Verdopp-
        lung des derzeitigen ohnehin viel zu hohen Militäretats.
        Deutschland hätte damit einen der höchsten Militäretats
        der Welt, höher als die russischen Militärausgaben. Das
        wäre außerdem eine Summe, mit der die Kapazitäten der
        NATO erhöht werden könnten.
        Eine Stärkung der kriegerischen Struktur der NATO
        lehnen wir ab. Wir fordern die Auflösung der NATO und
        einen sofortigen Ausstieg aus den militärischen Struk-
        turen der NATO. Stattdessen setzen wir uns ein für ein
        System kollektiver Sicherheit unter Einschluss aller eu-
        ropäischer Staaten, also beispielsweise auch Russlands,
        Weißrusslands und der Ukraine; denn die NATO, über
        die wir hier reden, ist gerade kein Garant für Sicherheit
        irgendwo auf der Welt, wie es die anderen Fraktionen
        darstellen wollen, sondern Akteurin der globalen Desta-
        bilisierung.
        Wir Linke lehnen den Gesetzentwurf der Bundesre-
        gierung daher ab und bleiben bei unseren Forderungen:
        Auflösung und sofortiger Ausstieg aus den militärischen
        Strukturen der NATO, keine Übernahme des 2-Pro-
        zent-Ziels der NATO, Ramstein schließen, und den völ-
        kerrechtswidrigen Drohnenkrieg beenden!
        Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir
        sprechen heute über die 0,2 Millionen Euro, die Deutsch-
        land zur Finanzierung der NATO-Hauptquartiere aus-
        geben soll. Diese Hauptquartiere dienen der besseren
        Vernetzung der Strukturen innerhalb der NATO. Diese
        relativ geringe Summe ist daher gut eingesetztes Geld –
        auch wenn ich es als Grüner als vertane Chance anse-
        he, dass wir die kühne Dachkonstruktion im neuen NA-
        TO-Hauptquartier in Brüssel nicht für mehr Solarpanels
        nutzen. Heute geht es auch nicht um die Frage, ob die
        Kantine in Brüssel hinreichend Diversity berücksichtigt
        und sowohl Halal wie Vegan anbietet. Und selbst die ka-
        tastrophal niedrige Quote an Frauen in Führungsfunkti-
        onen im Brüsseler Hauptquartier soll nicht unser Thema
        sein.
        Mir machen nicht die 0,2 Millionen für die NA-
        TO-Hauptquartiere Sorgen, sondern die 2 Prozent des
        BIP, die Angela Merkel und Ursula von der Leyen dem
        Donald Trump in vorauseilenden Gehorsam versprochen
        haben. Dabei wäre es ein angemessener Beitrag, wenn
        Europas NATO-Staaten allein doppelt so viel für Rüs-
        tung ausgeben wie Russland. Das hieße, die Europäer
        könnten ihre Rüstungsausgaben um ein Drittel senken;
        denn die europäischen NATO-Staaten geben heute schon
        dreimal mehr für Rüstung aus als Russland. Und den-
        noch möchte Frau Merkel jedes Jahr 24 Milliarden mehr
        für Panzer und Fregatten ausgeben, fast die Hälfte von
        dem, was Donald Trump in seinem neuen Haushalt für
        die US-Army verlangt. Dann würde Deutschland allein
        fast so viel ins eigene Militär stecken wie die Atommacht
        Russland. Das ist sicherheits- und finanzpolitischer Irr-
        sinn.
        Und wofür soll dieses Geld ausgegeben werden? Von
        einer Nachrüstungslücke kann man bei der Bundeswehr
        nicht sprechen, vielmehr von einer Beschaffungspolitik,
        die aus Unfähigkeit unter Lobbyeinfluss Milliarden für
        unnötige Rüstungsprojekte aus dem Fenster schmeißt.
        Da gibt es Fregatten, die vor allem auf Druck der Ko-
        alitionsfraktionen angeschafft wurden, und die Panzer
        für den Wahlkreis des Kollegen Otte. Diese milliarden-
        schweren Anschaffungen gehen vollkommen an den si-
        cherheitspolitischen Realitäten vorbei.
        Die größten Gefahren für Frieden und Sicherheit
        sind zerfallende Staaten und Terrornetzwerke, wachsen-
        de Ungleichheit und die immer weiter fortschreitende
        Klima krise. Es sind asymmetrische Konflikte, die nicht
        dadurch symmetrischer werden, dass wir ein paar Hun-
        dert Panzer mehr anschaffen. Wir brauchen keine milli-
        ardenschwere Aufrüstung, sondern gezielte Investitionen
        in Fähigkeiten, mit denen wir einen substanziellen Bei-
        trag zu Friedensmissionen der Vereinten Nationen und
        der Europäischen Union leisten können. Und wir müssen
        endlich die Zusage einhalten, 0,7 Prozent des Bruttona-
        tionaleinkommens für Entwicklung auszugeben, und die
        zivile Krisenprävention stärken.
        0,2 Millionen für die NATO-Hauptquartiere – damit
        habe ich kein Problem. 2 Prozent für milliardenschwere
        Aufrüstung – das wird es mit uns Grünen nicht geben!
        Anlage 16
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
        brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung
        der Richtlinie (EU) 2016/97 des Europäischen Par-
        laments und des Rates vom 20. Januar 2016 über
        Versicherungsvertrieb und zur Änderung des Au-
        ßenwirtschaftsgesetzes (Tagesordnungspunkt 33)
        Astrid Grotelüschen (CDU/CSU): Wir beraten in
        erster Lesung die Umsetzung der europäischen Versiche-
        rungsvertriebsrichtlinie, IDD genannt, welche die Anfor-
        derungen an Versicherungsvermittler, wie zum Beispiel
        die Erlaubnispflicht und Registrierung sowie erweiterte
        Informations- und Dokumentationspflichten gegenüber
        dem Verbraucher, regeln soll.
        Vor dem Hintergrund des Koalitionsvertrags besteht
        das Ziel, zusätzlich ein Provisionsgebot für Versiche-
        rungsvertreter bzw. Versicherungsmakler sowie ein Pro-
        visionsverbot für Versicherungsberater einzuführen.
        Nachdem das Kabinett am 18. Januar 2017 den Ge-
        setzentwurf beschlossen hat, ist die IDD, die übrigens
        recht bald – bis zum 23. Februar 2018 – in nationales
        Recht umzusetzen ist, auch intensiv in den beteiligten
        Ressorts diskutiert worden. Zur Umsetzung sind vor al-
        lem die Gewerbeordnung – BMWi –, das Versicherungs-
        aufsichtsgesetz – BMF –, aber auch das Versicherungs-
        vertragsgesetz – BMJV – zu ändern.
        Ebenso wie ihre Vorgängerrichtlinie aus dem
        Jahr 2002 regelt die IDD die erwähnten Anforderungen
        an Versicherungsvermittler, enthält allerdings einige zu
        diskutierende zusätzliche Regelungen: die Einbeziehung
        des Direktvertriebs, erweiterte Informations- und Doku-
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 23075
        (A) (C)
        (B) (D)
        mentationspflichten und Vorgaben für die Vermittlung
        von Versicherungsanlageprodukten.
        Zusätzlich zu einer Eins-zu-eins-Umsetzung, die für
        mich ein Muss ist und über die es nicht hinausgehen
        sollte, enthält der vorliegende Entwurf Regelungen, die
        die Honorarberatung im Versicherungsbereich stärken
        sollen – ein besonderes Anliegen des BMJV. Außerdem
        soll das Provisionsabgabeverbot, also konkret das Verbot
        der Weiterleitung von Provisionen durch den Vermittler
        an den Verbraucher, ebenfalls gesetzlich festgeschrieben
        werden.
        Aktuell sind 228 289 Versicherungsvermittler und
        -berater registriert – Tendenz fallend. Etwa 65 Prozent
        sind sogenannte gebundene Versicherungsvermittler, und
        21 Prozent zählen zu den Versicherungsmaklern. Abge-
        sehen von fast 30 000 Versicherungsvertretern mit Er-
        laubnis, haben wir noch 2 Prozent sogenannte produktak-
        zessorische Vermittler und 311 Versicherungsberater auf
        dem Markt. Anhand dieser Zahlen erkennen Sie, dass wir
        in Deutschland ein sehr unterschiedliches „Berufsbild“
        haben. Für den Verbraucher oder Käufer einer Versiche-
        rung stellt dies eine große Herausforderung dar. Im Zuge
        der Diskussion um mehr Transparenz sollte unser Augen-
        merk auf eine möglicherweise vereinfachte Struktur der
        Vertriebswege und zusätzliche Informationsgewinnung
        gerichtet sein.
        Eine zentrale Frage ist außerdem: Wie erreichen wir
        eine gute Abwägung einerseits zwischen Verbraucher-
        schutzinteressen und andererseits der Möglichkeit für
        unsere mittelständischen sich am Markt zu behauptenden
        Unternehmen, sich gleichzeitig zukunftsfest aufzustel-
        len? Denn ich möchte nicht, dass die familiengeführten
        Unternehmen, die regional langjährig erstklassige Bera-
        tung leisten, oder auch jene, die sich in unterschiedlichen
        Branchen erfolgreich spezialisiert haben, ihre Perspek-
        tiven verlieren und mit noch mehr Bürokratie durch ein
        unnötig kompliziertes Gesetzesvorhaben belastet wer-
        den. Unsere mittelständischen Anbieter sollen schließ-
        lich ihre wesentlichen Strukturen erhalten können; und
        daher ist zunächst ganz grundsätzlich zu prüfen, was wir
        unbedingt als EU-Recht umsetzen müssen.
        Abschließend möchte ich aber auch für einen Bereich
        der IDD sensibilisieren, der manchmal in Vergessenheit
        gerät, jedoch besonders die kleinen Unternehmen und
        Unternehmer treffen kann: den Vertrieb ohne persönliche
        Beratung oder neudeutsch auch „Robo-Advice“ genannt.
        Die Richtlinie erlaubt grundsätzlich auch den beratungs-
        freien Vertrieb, anders als bisher in Deutschland, wo der-
        zeit eine Beratungspflicht besteht. Wir sollten besonders
        genau hinschauen, was hier aus Verbraucherschutzgrün-
        den verbessert werden muss, damit ein internetbasierter
        Vertrieb nach möglichst einheitlichen Strukturen einen
        praktikablen Weg darstellt. Generell wird nämlich unter-
        schieden zwischen der Beratung mit einer persönlichen
        Empfehlung an den Kunden, also warum ein bestimm-
        tes Produkt den Bedürfnissen optimal entspricht, und
        dem Abschluss eines rechtsverbindlichen Vertrages, der
        die Wünsche des Verbrauchers widerspiegelt aufgrund
        seiner Angaben, die online ermittelt werden. Jetzt stellt
        sich für mich die Frage, wie bei entsprechenden Inter-
        net-Suchmasken und Vergleichsportalen optimal ermit-
        telt werden kann, was der Kunde wünscht. Wie objektiv
        sind die Informationen, die der Verbraucher erhält, um
        seine Entscheidung – wohlgemerkt: ohne Beratung – zu
        treffen? Am 17. Mai 2017 planen wir eine öffentliche Ex-
        pertenanhörung im federführenden Ausschuss Wirtschaft
        und Energie durchzuführen. Dann werden wir auch auf
        diesen Punkt ein besonderes Augenmerk richten.
        Mir ist wichtig, dass wir am Ende ein ausgewogenes
        Regelwerk für den Versicherungsvertrieb entwickeln,
        damit der Mittelstand sich in einem derzeit herausfor-
        dernden Umfeld auch gut bewähren kann. Der hierzu nö-
        tige Gesetzentwurf muss ein tragfähiges Fundament für
        einen Versicherungsmarkt mit transparenten und für alle
        Marktteilnehmer fairen Regeln bieten.
        Barbara Lanzinger (CDU/CSU): Heute beraten wir
        im Bundestag in erster Lesung den Gesetzentwurf der
        Bundesregierung zur nationalen Umsetzung der Versi-
        cherungsvertriebsrichtlinie. Damit beginnen wir das par-
        lamentarische Verfahren. Der Gesetzentwurf ist gründ-
        lich zu diskutieren.
        Uns liegt ein Entwurf vor, der die EU-Richtlinie – kurz
        IDD genannt – in deutsches Recht umsetzen soll. Da die
        bisherige Richtlinie aus dem Jahr 2002 stammt, wurde
        sie überarbeitet und an neue Gegebenheiten angepasst,
        beispielsweise an neue Vertriebswege und technische
        Möglichkeiten. Das Ziel ist eine Mindestharmonisierung
        nationaler Vorschriften für den Versicherungs- und Rück-
        versicherungsvertrieb zur Stärkung des Binnenmarktes
        in diesem Bereich. Weiterhin soll der Verbraucherschutz
        gestärkt werden.
        Meinen Dank möchte ich an dieser Stelle den Kolle-
        ginnen und Kollegen in Brüssel vor allem im Europä-
        ischen Parlament aussprechen, die eine gute rechtliche
        Grundlage ausgearbeitet haben. In dem darauf aufbau-
        enden Gesetzentwurf der Bundesregierung werden ins-
        besondere die Gewerbeordnung, das Versicherungs-
        aufsichtsgesetz sowie das Versicherungsvertragsgesetz
        geändert. Wir begrüßen in dem Gesetzentwurf die Eins-
        zu-eins-Umsetzung der IDD. An mancher Stelle geht er
        darüber hinaus. Darauf liegt unser Augenmerk.
        Wir in der CDU/CSU-Fraktion wollen einerseits einen
        starken Verbraucherschutz mit einer qualitativ möglichst
        hochwertigen Beratung. Andererseits wollen wir aber
        auch einen mündigen Verbraucher, der auf Grundlage
        transparenter Informationen selber entscheiden kann,
        ohne ihm alles vorzuschreiben. Manchmal ist weniger
        mehr. Wir wollen einen gesunden Wettbewerb zwischen
        Versicherungsanbietern und zwischen denjenigen, die
        beispielsweise Versicherungsprodukte auf welchem Weg
        auch immer vertreiben und vermitteln.
        Was wir nicht wollen, ist Überregulierung. Der Ge-
        setzentwurf soll den Verbrauchern dienen, aber genauso
        praktikabel sein für unsere Wirtschaft, unseren Mittel-
        stand und unsere Selbstständigen. Auf eine gesunde Ba-
        lance werden wir achten.
        Manches werden wir uns dabei ganz besonders genau
        anschauen. Dazu zählt die neue Regelung zur Vergütung
        von Versicherungsvermittlern, sprich beispielsweise Ver-
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 201723076
        (A) (C)
        (B) (D)
        sicherungsmaklern, und den Versicherungsberatern. Als
        sehr positiv bewerte ich es, dass Gewerbekunden auch
        in Zukunft gegen Honorar von Maklern beraten werden
        dürfen.
        Mit dem nun beginnenden Verfahren beginnen erst
        die parlamentarischen Verhandlungen zum vorliegenden
        Gesetzentwurf. Ich freue mich auf die kommenden Ver-
        handlungen und darauf, mit allen Betroffenen und Be-
        teiligten in einen guten Austausch zu gelangen. Ich gehe
        davon aus, dass auch die SPD nach wie vor Interesse an
        konstruktiver Zusammenarbeit hat.
        Marcus Held (SPD): Heute behandeln wir in erster
        Lesung den Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Um-
        setzung der Richtlinie (EU) 2016/97 des Europäischen
        Parlaments und des Rates vom 20. Januar 2016 über
        Versicherungsvertrieb und zur Änderung des Außenwirt-
        schaftsgesetzes. Lassen Sie mich dazu kurz ein paar Din-
        ge vorwegnehmen.
        Viele meiner Kolleginnen und Kollegen in der Frakti-
        on wurden auf dieses Thema in ihren Wahlkreisen zuletzt
        angesprochen, weil viele, die diese Umsetzung betrifft,
        auch so schnell wie möglich Antworten wollen. Auch die
        Kolleginnen von der Union und auch mich haben eine
        Vielzahl von Stellungnahmen und Zuschriften seitens
        zahlreicher Verbände, aber auch vieler Versicherungsma-
        klerinnen und -makler erreicht. Viele erwecken in ihren
        Schreiben den Eindruck, dass es fünf vor zwölf sei. Dazu
        möchte ich gerne sagen, dass mit der ersten Lesung heute
        nun auch das parlamentarische Verfahren beginnt. Das
        heißt, nach der Lesung heute werden wir uns im feder-
        führenden Ausschuss für Wirtschaft und Energie, aber
        auch in den mitberatenden Ausschüssen für Verbrau-
        cherschutz und für Finanzen intensiv mit der Umsetzung
        der Richtlinie zu IDD beschäftigen. Dazu haben wir
        uns vorgenommen, dass wir diese Umsetzung noch vor
        der Sommerpause abschließen wollen und werden. Uns
        bleibt also in noch fünf verbleibenden Sitzungswochen
        die Zeit, uns vollumfänglich diesem Thema zu widmen.
        Die IDD ist bis zum 23. Februar 2018 in nationales
        Recht umzusetzen. Erforderlich sind dazu Änderungen
        im Gewerberecht, im Versicherungsvertragsrecht und im
        Versicherungsaufsichtsrecht, die in einem Artikelgesetz
        zusammengeführt werden sollen.
        Um was geht es bei dieser Richtlinie? Es geht
        schlichtweg erst einmal um mehr Verbraucherschutz und
        um mehr Qualität. Dazu enthält diese Richtlinie Weiter-
        bildungsverpflichtungen und Transparenzpflichten. Zu-
        gleich haben wir im Koalitionsvertrag aufgenommen,
        dass „wir die Einführung der Honorarberatung als Alter-
        native zu einer Beratung auf Provisionsbasis für alle Fi-
        nanzprodukte vorantreiben und hohe Anforderungen an
        die Qualität der Beratung festlegen“ werden.
        Für mich besonders wichtig sind die Qualitätsmerk-
        male, die diese Richtlinie vorgibt. Dazu gehören, wie
        soeben angesprochen, die Weiterbildungsverpflichtun-
        gen. Hier wurde im Gesetzentwurf in § 34d Absatz 9 neu
        aufgenommen, dass „die unmittelbar bei der Vermittlung
        oder Beratung mitwirkenden Beschäftigten sich in einem
        Umfang von 15 Stunden je Kalenderjahr weiterbilden“
        müssen. In einer Versicherungsvermittlerverordnung
        werden dann mögliche Inhalte der Weiterbildung, Arten
        der Weiterbildung, Nachweise etc. näher und praxisnah
        geregelt.
        Auch der Punkt der Beratung ist in Bezug auf die Qua-
        litätssteigerung im Versicherungsbetrieb ein unverzicht-
        barer Bestandteil dieses Gesetzentwurfs. So wird in § 6
        des Versicherungsvertragsgesetzes neu geregelt, dass es
        keine Ausnahmen von der Beratungspflicht geben soll,
        auch nicht, wenn ein Versicherungsabschluss über das
        Internet oder fernmündlich erfolgt, es sei denn, der Versi-
        cherungsnehmer verzichtet darauf.
        Ein weiterer Punkt im Gesetzentwurf, der viele Ver-
        sicherungsmaklerinnen und Versicherungsmakler be-
        schäftigt hat und weswegen meine Kolleginnen und
        ich auch angeschrieben wurden: Der Entwurf sieht vor,
        wie es auch im Koalitionsvertrag vereinbart wurde, dem
        Kunden Honorarberatung einerseits und Versicherungs-
        vermittlung auf Provisionsbasis andererseits als gleich-
        wertige Alternativen anzubieten. Ein Mischmodell soll
        zukünftig ausgeschlossen werden.
        Die uns erreichten Zuschriften werden wir innerhalb
        der Koalition prüfen und in unsere Beratungen einfließen
        lassen. Ich freue mich auf die vor uns liegende Zusam-
        menarbeit in der Koalition zu diesem Gesetzentwurf im
        parlamentarischen Verfahren, insbesondere mit meinen
        beiden Unionskolleginnen Frau Grotelüschen und Frau
        Lanzinger, und bin guter Dinge, dass wir ein für alle Sei-
        ten anständiges und annehmbares Gesetz hinbekommen
        werden.
        Susanna Karawanskij (DIE LINKE): Wie schon bei
        der abschließenden Beratung des Zweiten Finanzmarkt-
        novellierungsgesetzes – der MiFiD-II-Umsetzung – bin
        ich ebenso bei der nun anstehenden ersten Beratung der
        Umsetzung der Versicherungsvermittlerrichtlinie etwas
        enttäuscht, dass hier im Hohen Hause keine breitere De-
        batte zu solch wichtigen Inhalten geführt wird. Mir ist
        bewusst, dass zum Ende einer Wahlperiode viele Vorha-
        ben noch durchgedrückt werden müssen. Aber ganz ehr-
        lich: Ein klein wenig zeigt sich dabei schon auch, wie
        wichtig der Großen Koalition bestimmte Themen sind
        und wie sehr Sie bereit sind, sich hier einer kritischen
        Auseinandersetzung um die Stärkung des finanziellen
        Verbraucherschutzes zu stellen.
        Denn bei der IDD-Umsetzung besteht doch deutlicher
        Nachholbedarf, um Verbraucher besser zu schützen. Wir
        dürfen nicht vergessen, dass wir es hier mit einer Mini-
        malharmonisierung zu tun haben und es somit zweifels-
        frei möglich wäre, bestimmte Felder strenger zu regeln.
        Doch Sie setzen die Richtlinie teilweise nicht einmal
        vollständig um oder – noch schlimmer – wollen Sonder-
        vorschriften erlassen wie zu den Restschuldversicherun-
        gen, die schwächer als in der Richtlinie und nachteilig
        für die Verbraucher sind. Restschuldversicherungen sind
        oftmals stark überteuert und nicht auf den Bedarf der
        Verbraucher zugeschnitten. Diesen wird suggeriert, sie
        erhielten einen bestimmten Kredit nur, wenn sie dazu
        eine Restschuldversicherung mit abschließen. Dazu be-
        steht aber kein Zwang. Der Linken ist es hier wichtig,
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 2017 23077
        (A) (C)
        (B) (D)
        dass Kreditinstitute, Banken und Versicherungen ver-
        pflichtet werden, zwei unterschiedliche, voneinander
        getrennte Verträge zum Kredit und zur Restschuldversi-
        cherung anzubieten. Dazu gehört, dass Verbraucher auf
        alle Fälle ausnahmslos über die Restschuldversicherung
        aufgeklärt, informiert und beraten werden.
        Was die Aufsicht betrifft, sträubt sich die Bundesre-
        gierung erbittert dagegen, das bestehende Aufsichtsge-
        fälle einzuebnen. Wie bei den Finanzanlagenvermittlern
        werden auch die Versicherungsvermittler nur durch die
        Industrie- und Handelskammern bzw. durch die Gewer-
        beämter beaufsichtigt. Versicherungsunternehmen wer-
        den dagegen durch die Finanzaufsicht BaFin kontrolliert.
        Die Linke fordert eine Abkehr von diesem zweistufigen
        Aufsichtssystem und somit eine einheitliche, flächende-
        ckende Aufsicht durch die BaFin.
        Beim Thema Provisionen wird zum wiederholten
        Male deutlich, dass Union und SPD zum Besitzstands-
        wahrer des Provisionssystems verkommen sind. Das An-
        sinnen, die unabhängige Beratung, die Honorarberatung
        zumindest auf Augenhöhe mit der Provisionsberatung zu
        stellen, erweist sich immer mehr als Lippenbekenntnis.
        Unter MiFiD II sind Provisionen nur zulässig, wenn aus
        der Provision ein Vorteil für den Verbraucher entsteht.
        Bei IDD hingegen sind Provisionen bereits zulässig,
        wenn für die Verbraucher kein Nachteil besteht. Weil es
        einfacher ist, Provisionen zu beziehen, prophezeie ich,
        dass künftig lieber Versicherungsprodukte an die Kunden
        vertrieben werden. So sieht unabhängige Beratung aber
        gerade nicht aus. Auch bei der Offenlegung der Provisi-
        onen und Vertriebsvergütungen bietet IDD noch zu viele
        Schlupflöcher, was einen fairen Wettbewerb zwischen
        den Vertriebsformen verhindert.
        Daran anknüpfend gilt es zudem, endlich das Provisi-
        onsabgabeverbot vom Thron zu stoßen. Sinnvoller wäre
        es doch, dass Verbraucher selbst entscheiden können,
        welchen Vertriebsweg sie wählen und damit auch, wel-
        che Kosten sie dafür entrichten. Umfassende Beratung
        ist dann vergleichsweise teurer, während diejenigen, die
        keine Beratung benötigen, auch nicht dafür zahlen müs-
        sen. Dazu müssen aber endlich die Vertriebskosten aus
        den Versicherungsprodukten herausgenommen werden.
        Die Linke fordert daher das Ende des Provisionsabgabe-
        verbots sowie die Einführung eines Nettopreissystems.
        Wenngleich bei der IDD-Umsetzung das sogenann-
        te Provisionsdurchleitungsgebot ein Schrittchen hin zur
        Stärkung der Beratung auf Honorarbasis ist, wird eines
        bei dem ganzen Geplänkel um Provisionen, Verkaufsan-
        reize, Courtagen, Abgabeverbote und Durchleitungen
        doch klar: Provisionen sorgen für Interessenkonflikte,
        die zu schlechten Anlageempfehlungen führen können.
        Oft wird halt Kunden gerade das Finanzinstrument emp-
        fohlen und verkauft, das den für den Berater höchsten
        Vertriebsgewinn abwirft. Mittelfristig muss deshalb aus
        Sicht der Linken das Provisionssystem überwunden und
        durch eine unabhängige, flächendeckende, verbrauch-
        erorientierte und kostengünstige Finanzberatung ersetzt
        werden. Die Verbraucherzentralen sind mit ihren Bera-
        tungsangeboten speziell für einkommensschwache Men-
        schen neben Schuldnerberatungsstellen zu stärken. Wir
        haben dazu schon mehrfach eine mehrjährige Anschub-
        finanzierung durch den Bund angeregt. Daraufhin sollen
        alle Unternehmen der Finanz- und Versicherungsbranche
        für diese Kosten nach dem Verursacherprinzip aufkom-
        men.
        Meine Damen und Herren von der Regierungsbank,
        nutzen Sie doch den Gestaltungsspielraum, der Ihnen bei
        der IDD-Umsetzung zweifelsfrei zur Verfügung steht. In
        anderen Bereichen ist Ihnen ein fairer Wettbewerb auf
        dem Markt doch auch wichtig. Dann sollte er Ihnen im
        Fall der unabhängigen Versicherungsberatung doch auch
        wichtig sein, wenn Sie schon nicht sofort Verbraucher
        besser schützen wollen, indem Sie das Provisionssystem
        zu Grabe tragen.
        Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Si-
        cherheit ist ein Grundbedürfnis von Menschen. Da das
        ganze Leben von Unsicherheiten geprägt ist, haben
        Menschen schon immer nach Wegen gesucht, sich abzu-
        sichern. Darauf beruht das grundsätzlich sinnvolle Ge-
        schäftsmodell von Versicherungen.
        Leider können Verbraucherinnen und Verbraucher
        in vielen Fällen nicht darauf vertrauen, dass die Versi-
        cherungen, die sie abschließen, ihnen wirklich nützen.
        Undurchsichtige Produkte mit vielen unbestimmten Ver-
        tragsklauseln, überhöhte Abschluss- und Vertriebskos-
        ten, schlechte Beratungsqualität – das sind nur einige der
        Probleme, mit denen Verbraucherinnen und Verbraucher
        kämpfen. Die Versicherungsvertriebsrichtlinie soll nun
        für mehr Transparenz und mehr Verbraucherschutz auf
        dem Versicherungsmarkt sorgen. Kernstück ist dabei,
        dass unabhängige Beratung und provisionsbasierte Ver-
        mittlung klar voneinander getrennt werden. Diese Tren-
        nung begrüßen wir grundsätzlich. Auch soll durch die
        Umsetzung der Richtlinie angestrebt werden, die unab-
        hängige Beratung zu stärken. Auch das befürworten wir
        ausdrücklich. Wir fordern seit langem eine substanzielle
        Stärkung der unabhängigen Honorarberatung; denn auch
        wenn es sicher auch gute, provisionsbasierte Beratung
        gibt – das Risiko von Fehlberatungen durch eine Aus-
        richtung an den lukrativsten Provisionen ist für Verbrau-
        cherinnen und Verbraucher deutlich zu groß.
        Doch ob der vorliegende Gesetzentwurf tatsächlich
        zu mehr Verbraucherschutz und einer Stärkung der un-
        abhängigen Honorarberatung beiträgt, muss stark be-
        zweifelt werden. Ich sehe hier vier zentrale Punkte, die
        unbedingt Nachbesserungen benötigen:
        Erstens, die Aufsicht: Bislang ist es so, dass die Ba-
        Fin für die Beaufsichtigung der Versicherungsunterneh-
        men zuständig ist. Die Versicherungsvermittler werden
        allerdings von den Industrie- und Handelskammern be-
        aufsichtigt. Diese Aufsplitterung ist für eine wirksame
        Aufsicht hinderlich. Deshalb fordere ich: Bessern Sie
        hier nach, und bündeln Sie die Aufsicht bei der BaFin.
        Zweitens: Das Provisionsabgabeverbot stammt aus
        dem Jahre 1923. Damals zogen Versicherungsvermittler
        noch von Haustür zu Haustür. Das Provisionsabgabever-
        bot sollte verhindern, dass ein Unterbietungswettkampf
        unter den Vermittlern beim Auskehren der Provisionen
        an die Kundinnen und Kunden entsteht. Das Provisions-
        abgabeverbot ist heute nicht mehr zeitgemäß – und das
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. März 201723078
        (A) (C)
        (B) (D)
        Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
        Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de
        Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
        sage nicht nur ich als Verbraucherschützerin. Eine Ab-
        schaffung des Provisionsabgabeverbotes ist notwendig,
        damit endlich ein für Verbraucherinnen und Verbraucher
        nützlicher Wettbewerb um Provisionen entsteht. Die
        Bundesregierung ist doch sonst so oft dafür, dass es der
        Markt regeln soll. Warum hier nicht? Außerdem ist es
        doch nicht einzusehen, dass Verbraucherinnen und Ver-
        braucher auf allen Vertriebswegen gleiche Provisionen
        zahlen, wenn doch beispielsweise der Vermittlungsauf-
        wand im Internet deutlich geringer ausfällt als im stati-
        onären Vertrieb.
        Drittens. Verbraucherinnen und Verbraucher, die sich
        unabhängig beraten lassen und sich dann für ein Versi-
        cherungsprodukt entscheiden, müssen oft doppelt zahlen;
        denn Bruttopreise sind nach wie vor Standard, das heißt,
        die Kunden müssen die Provisionen mitzahlen. Die Aus-
        wahl an Nettopolicen ist nach wie vor gering. Das macht
        die unabhängige Honorarberatung unattraktiv. Deshalb
        ist es absolut richtig und wichtig, dass Provisionen vom
        Versicherungsunternehmen an die Kundinnen und Kun-
        den weitergeleitet werden. Die Detailregelungen hierzu
        sind aber nicht fair. Warum sollen pauschal 20 Prozent
        Abschlag anfallen? Warum soll die Weiterleitung auf die
        ersten fünf Jahre begrenzt werden? Das ist nicht nach-
        vollziehbar und sollte geändert werden.
        Viertens und letztens, aber von zentraler Bedeutung:
        Restschuldschuldversicherungen. Sie sind der Inbegriff
        von Verbraucherabzocke. Zum Teil sind bis zu 70 Pro-
        zent Provisionen fällig. Verbraucherinnen und Verbrau-
        cher verschulden sich erheblich zusätzlich, um allein die
        Versicherung auf den Kredit zu finanzieren. Wahrschein-
        lich ist das Ihnen in der SPD und der CDU egal, sonst
        hätten Sie das bereits im Rahmen der Wohnimmobilien-
        kreditrichtlinie regeln können. Aber da bessern Sie ja
        lieber auf Zuruf der Sparkassen und Banken nach – und
        machen nichts für Verbraucherinnen und Verbraucher.
        Falls es Ihnen doch nicht egal ist, dann werden Sie
        endlich tätig: Verbieten Sie Querverkäufe ohne Kunden-
        nutzen. Die Kopplung oder Bündelung von Finanzpro-
        dukten sollte nur bei einem klar erkennbaren Nutzen für
        die Verbraucherinnen und Verbraucher zugelassen wer-
        den. Außerdem: Verbessern Sie die Informations- und
        Beratungspflichten beim Verkauf von Restschuldversi-
        cherungen.
        Ich komme zum Schluss. Wir werden aufmerksam
        verfolgen, welche Änderungen Sie noch vornehmen. Ich
        bin gespannt, ob am Ende echter Verbraucherschutz raus-
        kommt.
        228. Sitzung
        Inhaltsverzeichnis
        TOP 3, ZP 1 Maritime Wirtschaft
        TOP 4 Finanzaufsichtsrechtergänzungsgesetz
        TOP 5 Schienenlärmschutzgesetz
        TOP 6 Öffentlicher Personennahverkehr
        TOP 40 Überweisungen im vereinfachten Verfahren
        TOP 41, ZP 2 Abschließende Beratungen ohne Aussprache
        TOP 7 Wahl „Kulturstiftung des Bundes“
        TOP 8 Vereinbarte Debatte zumEU-Austritt Großbritanniens
        TOP 9 Bundeswehreinsatz EUTM Mali
        TOP 10 Änderung des Straßenverkehrsgesetzes
        TOP 11 Zugang und Zulassung zu Hochschulen
        TOP 12 Transparenz von Entgeltstrukturen
        TOP 13 Hungersnot und Völkermord in Südsudan
        TOP 14 Bundeswehreinsatz EUTM Somalia
        TOP 15 Krankenkassenbeiträge für Selbstständige
        TOP 16 Neuregelung des Mutterschutzrechts
        TOP 17 Nutzungsrechte digitaler Güter
        TOP 18 Carsharing
        TOP 19 Betäubungsmittelrecht
        TOP 20, ZP 3 Getrennterfassung von wertstoffhaltigen Abfällen
        TOP 21 Wiederaufbau der Garnisonkirche Potsdam
        TOP 22 Finanzmarktnovellierungsgesetz
        TOP 23 G 10-Aufhebungsgesetz
        TOP 24 Anpassungsvertrag ERP-Förderrücklage
        TOP 25 Willy-Brandt-Korps
        TOP 26 EU-Binnenmarkt für Elektrizität
        TOP 27 Gesetz über das Fahrlehrerwesen
        TOP 28 Zivile Krisenprävention
        ZP 4 Entlastung derWirtschaft von Bürokratie
        TOP 29 Änderung des Atomgesetzes
        TOP 30 Elektronische Meldungen in der Seeschifffahrt
        TOP 31 Neuordnung der Eisenbahnunfalluntersuchung
        TOP 32 Abkommen zu militärischen Hauptquartieren
        TOP 33 EU-Richtlinie über Versicherungsvertrieb
        Anlagen
        Anlage 1
        Anlage 2
        Anlage 3
        Anlage 4
        Anlage 5
        Anlage 6
        Anlage 7
        Anlage 8
        Anlage 9
        Anlage 10
        Anlage 11
        Anlage 12
        Anlage 13
        Anlage 14
        Anlage 15
        Anlage 16