4) Anlage 25
Vizepräsidentin Claudia Roth
(A) (C)
(B) (D)
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22265
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Albsteiger, Katrin CDU/CSU 09 .03 .2017
Andreae, Kerstin BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
09 .03 .2017
Beermann, Maik CDU/CSU 09 .03 .2017
Binder, Karin DIE LINKE 09 .03 .2017
Böhmer, Dr . Maria CDU/CSU 09 .03 .2017
Deligöz, Ekin BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
09 .03 .2017
Dröge, Katharina * BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
09 .03 .2017
Ehrmann, Siegmund SPD 09 .03 .2017
Fischer (Hamburg),
Dirk
CDU/CSU 09 .03 .2017
Gabriel, Sigmar SPD 09 .03 .2017
Hasselfeldt, Gerda CDU/CSU 09 .03 .2017
Katzmarek, Gabriele SPD 09 .03 .2017
Kühn-Mengel, Helga SPD 09 .03 .2017
Kunert, Katrin DIE LINKE 09 .03 .2017
Lerchenfeld, Philipp
Graf
CDU/CSU 09 .03 .2017
Leutert, Michael DIE LINKE 09 .03 .2017
Leyen, Dr . Ursula von
der
CDU/CSU 09 .03 .2017
Marks, Caren SPD 09 .03 .2017
Mosblech, Volker CDU/CSU 09 .03 .2017
Nahles, Andrea SPD 09 .03 .2017
Röspel, René SPD 09 .03 .2017
Rüffer, Corinna BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
09 .03 .2017
Rüthrich, Susann * SPD 09 .03 .2017
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Sarrazin, Manuel BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
09 .03 .2017
Schlecht, Michael DIE LINKE 09 .03 .2017
Schmidt, Dr . Frithjof BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
09 .03 .2017
Schulte, Ursula SPD 09 .03 .2017
Strebl, Matthäus CDU/CSU 09 .03 .2017
Veit, Rüdiger SPD 09 .03 .2017
Vogt, Ute SPD 09 .03 .2017
Wagenknecht, Dr . Sahra DIE LINKE 09 .03 .2017
Wawzyniak, Halina DIE LINKE 09 .03 .2017
Weber, Gabi SPD 09 .03 .2017
Wöllert, Birgit DIE LINKE 09 .03 .2017
Zdebel, Hubertus DIE LINKE 09 .03 .2017
*aufgrund gesetzlichen Mutterschutzes
Anlage 2
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zu bereichsspe-
zifischen Regelungen der Gesichtsverhüllung (Ta-
gesordnungspunkt 17)
Dr. Tim Ostermann (CDU/CSU): Wir alle haben den
großen Zuzug von Menschen nach Deutschland in den
letzten Jahren erlebt und erleben ihn auch derzeit noch .
Unter ihnen sind viele von Krieg, Flucht und Verfolgung
betroffene Menschen, aber auch nicht wenige, die allein
aus wirtschaftlichen Gründen zu uns kommen . Nach ih-
rer Ankunft ist dann nicht immer sofort klar, wer über-
haupt hier bleiben darf und wer nicht, und es ist nicht
klar, wie lange die Menschen bleiben werden .
Eines ist für mich jedoch glasklar: Alle Menschen,
die sich in Deutschland aufhalten, müssen sich an unsere
Gesetze, an unsere Regeln halten . Dabei ist es mir be-
wusst, dass nicht alle Menschen, die herkommen, sofort
alle unsere kulturellen, größtenteils ungeschriebenen Re-
geln kennen und unmittelbar befolgen können . Es gibt
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722266
(A) (C)
(B) (D)
jedoch einige Regeln, die für unsere Gesellschaft zentral
und wichtig sind . Hier genügt es nicht, einfach darauf zu
hoffen, dass mit der Zeit ein gewisser Integrationseffekt
entsteht und die Menschen sich den Regeln anpassen .
Stattdessen müssen wir diesen zentralen Regeln auch per
Gesetz Geltungskraft verleihen
Das Gebot, Gesicht zu zeigen, gehört für mich zu die-
sen zentralen Regeln unseres Landes . Das Verhüllen oder
Verschleiern des Gesichts verstößt gegen unsere Grund-
werte einer offenen Gesellschaft. Besonders die Burka
und die Nikab sind für mich ein unmissverständliches
Zeichen dafür, dass sich jemand den Werten unserer Ge-
sellschaft entzieht .
Nun gehört es zu unserer freien, liberalen Gesell-
schaft auch, dass wir die Freiheit des Einzelnen achten .
Der Staat sollte und darf den Menschen nur bis zu einem
gewissen grundrechtlichen Schutzbereich vorschreiben,
wie sie sich zu verhalten haben . In bestimmten Situatio-
nen ist der Schutzbereich allerdings eingeschränkt . Dies
gilt dann, wenn Personen ein öffentliches Amt ausüben,
eine sonstige Tätigkeit für unseren Staat verrichten oder
wenn sie sich gegenüber staatlichen Stellen identifizieren
müssen . Gerade in diesen Bereichen verstößt es gegen
unsere gesellschaftlichen Regeln, sich zu verhüllen, und
ich meine, dass wir hier eine gesetzliche Regelung brau-
chen, die dieses verbietet . Deshalb ist es gut, dass die
Bundesregierung diesen Gesetzentwurf vorgelegt hat .
Wir werden uns den Gesetzentwurf im parlamenta-
rischen Verfahren noch im Detail anschauen, aber im
Grunde legt das Gesetz vor allem zwei Regeln fest, die
sehr zu begrüßen sind . Erstens: Bei Ausübung des Diens-
tes oder bei einer Tätigkeit mit unmittelbarem Dienstbe-
zug darf das Gesicht nicht verhüllt werden . Dies dient der
Gewährleistung einer funktionsfähigen Verwaltung und
der Erhaltung des Selbstverständnisses unseres demokra-
tischen Rechtsstaates .
Nur wenn das Gesicht unverhüllt bleibt, ist eine ver-
trauensvolle Kommunikation zwischen staatlichen Funk-
tionsträgern und Bürgerinnen und Bürgern möglich . Da-
bei ist es essenziell, den Beamten und Beamtinnen auch
ins Gesicht schauen zu können . Denn Kommunikation
kann nur stattfinden, wenn man seinem Gesprächspartner
auch ins Gesicht schauen sowie seine Gestik und Mimik
sehen kann . Die Sprache allein macht eben nur einen Teil
aus . Hinzu kommt, dass die Beamten zur Neutralität ge-
genüber den Bürgerinnen und Bürgern verpflichtet sind.
Deswegen sollen mit diesem Gesetzentwurf das Bundes-
beamtengesetz, das Beamtenstatusgesetz und das Solda-
tengesetz geändert werden .
Die zweite Regel lautet, dass eine ausweispflichtige
Person ihr Gesicht bei einem Lichtbildabgleich in vol-
lem Umfang zeigen muss . Dazu wird eine Änderung des
Personalausweisgesetzes, des Aufenthaltsgesetzes und
des EU-Freizügigkeitsgesetzes nötig . Ebenfalls wird die
Bundeswahlordnung geändert, nach der ein fehlender
Abgleich des Gesichtes mit dem Ausweispapier zu einer
Zurückweisung durch den Wahlvorstand führt .
Ich meine, dass dieser Gesetzentwurf eine wichtige
Regel unseres Zusammenlebens aufgreift und mit Geset-
zeskraft ausstattet . Ich freue mich auf die nun anstehen-
den Beratungen im parlamentarischen Verfahren .
Dr. Lars Castellucci (SPD): Der vorliegende Ge-
setzentwurf regelt vermeintlich eine ganze Reihe von
Sachverhalten . Ich darf aus dem Text zitieren:
„Durch eine Änderung des Bundesbeamtengesetzes,
des Beamtenstatusgesetzes und des Soldatengesetzes
wird es Beamtinnen und Beamten sowie Soldatinnen und
Soldaten untersagt, bei Ausübung ihres Dienstes oder bei
Tätigkeiten mit unmittelbarem Dienstbezug das Gesicht
durch Kleidung o . ä . zu verhüllen … Eine Änderung des
Bundeswahlgesetzes sieht ein entsprechendes Verbot
auch für die Mitglieder der Wahlausschüsse und Wahl-
vorstände … vor .
Zur Durchsetzung von Identifizierungspflichten wird
eine Änderung des Personalausweisgesetzes dahinge-
hend vorgenommen, dass die ausweispflichtige Person
einen Abgleich mit dem Lichtbild ermöglicht, indem sie
ihr Gesicht in dem dem Lichtbild entsprechenden Um-
fang zeigt . An die Änderung im Personalausweisgesetz
anknüpfend werden Änderungen im Aufenthaltsgesetz
und im Freizügigkeitsgesetz/EU vorgenommen, die
ebenfalls einen Abgleich mit dem Lichtbild des Identi-
fikationspapiers bzw. mit dem des Ankunftsnachweises
ermöglichen .“
Und schließlich: „Eine Änderung der Bundeswahlord-
nung sieht vor, dass eine Wählerin oder ein Wähler dann
vom Wahlvorstand zurückgewiesen werden kann, wenn
sie oder er sich nicht ausweist oder die Feststellung ihrer
oder seiner Identität durch den Wahlvorstand unmöglich
macht und die zur Feststellung ihrer oder seiner Identität
erforderliche Mitwirkungshandlung zum Abgleich mit
dem Ausweispapier verweigert .“
So weit die verschiedenen Regelungen, die wir in die-
sem Gesetz erlassen wollen .
Ich habe mich bei der Lektüre des Textes gefragt, wel-
che Probleme wir mit dem Gesetz lösen wollen . Denn
Recht ist ja ein Entscheidungssystem für soziale Sach-
verhalte und Konflikte, die nach materiellen Regeln in
einem vorgeschriebenen Verfahren gelöst werden . Die
Leistung des Rechts besteht also darin, dass es das Kon-
fliktpotenzial „entfesselter” subjektiver Freiheiten durch
Gleichheit verbürgende Normen zähmt .
Also an dieser Stelle nochmals die Frage: Welche Pro-
bleme sollen mit dem Gesetz gelöst werden?
Ich selbst kann mich an keinen Fall erinnern, in dem
eine Soldatin oder Beamtin mir verschleiert gegenüber-
getreten wäre, vielleicht mit Ausnahme des Karnevals .
Ich habe aus der Zeitung von dem Fall in Neukölln er-
fahren, bei dem eine Referendarin ein Kopftuch tragen
wollte und gegen dieses Verbot geklagt hat . Nachdem sie
recht bekommen hatte, hat sie die Stelle dann aber doch
nicht antreten wollen, soweit ich das mitbekommen habe .
Insofern kann ich die Intention des Entwurfs verste-
hen, hier Regelungen zu schaffen, die die Neutralität des
Staates und seiner Bediensteten klarstellen . Allerdings
scheint mir die Fallzahl relativ gering zu sein .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22267
(A) (C)
(B) (D)
Weiterhin ist mir kein Fall bekannt, bei dem die
Wahlvorstände bei Bundestagswahlen verschleiert ihren
Dienst verrichtet hätten . Allerdings haben wir in Deutsch-
land nach meinen Recherchen rund 60 .000 Stimmbezir-
ke, sodass mehrere Hunderttausend Bürgerinnen und
Bürger auch in diesem Jahr dankenswerterweise wieder
an der Durchführung der Bundestagswahlen mitwirken .
Insofern kann eine Klarstellung wohl auch nicht wirklich
schaden .
Ich finde, ein Problem mit dem Gesetzestext zeigt sich
in der Äußerung des Bundesrates und der Erwiderung der
Bundesregierung: Der Bundesrat hat an einigen Stellen
den Vorschlag gemacht, eine präzisere Formulierung zu
wählen . Im Kern geht es mehrfach um den Zusatz „sowie
zu ermöglichen, ihr Gesicht mit dem Lichtbild … abzu-
gleichen“ . Das sieht die Bundesregierung nicht so, da
dies schon im Passgesetz etc . enthalten sei .
Und so geht es mir an ganz vielen Stellen des Geset-
zestextes: Eigentlich sollte das doch klar sein . Es kann
doch niemand auf die Idee kommen, vollverschleiert in
die Wahlkabine laufen zu wollen, ohne dass eine kurze
Überprüfung stattfindet, ob es sich tatsächlich um den
oder die Wahlberechtigte handelt . Alles andere wäre
doch absurd .
In der Summe stelle ich fest, dass die hier angestreb-
ten Änderungen in weiten Teilen selbstverständlich sein
müssen . Wenn es dazu noch dieser Klarstellungen be-
darf, dann kann man dem auch zustimmen .
Ich möchte auf den Anfang meiner Rede zurückkom-
men und die Frage, welche Funktion Recht hat . Recht
hat nur eine begrenzte Reichweite; zum Beispiel hat das
Recht nur einen begrenzten Zugriff auf den privaten Be-
reich. Viele Dinge, die wir nicht gut finden müssen, sind
rechtlich nicht zu beanstanden .
Ich selbst habe auch Probleme mit vollverschleierten
Frauen. Ich – ganz persönlich – empfinde das als einen
Ausdruck eines Frauenbildes, das ich nicht gut finde.
Diese Konflikte werden wir aber nicht durch Gebote und
Verbote lösen . Das ist eine gesellschaftliche Aufgabe, die
uns alle einschließt und von allen auch eine gewisse Of-
fenheit für den Anderen benötigt – eine Tugend, die mir
in den letzten Monaten zum Teil etwas in Vergessenheit
geraten zu sein scheint .
Ulla Jelpke (DIE LINKE): Hinter dem sperrigen Titel
„Entwurf eines Gesetzes zu bereichsspezifischen Rege-
lungen der Gesichtsverhüllung“ verbirgt sich der Ver-
such, ein Problem zu regeln, das gar nicht besteht . Es
soll Beamtinnen und Beamten verboten werden, während
ihres Dienstes ihr Gesicht zu verhüllen . Auch wenn jeder
konkrete Bezug sorgsam vermieden wird, ist doch klar,
dass sich der Gesetzentwurf auf muslimische Frauen be-
zieht, die eine Vollverschleierung tragen, zum Beispiel
einen Nikab oder eine Burka, die oft nicht einmal mehr
die Augen freilässt . Mir persönlich ist es unverständlich,
warum sich jemand – auch im Namen einer Religion –
so eine Kleidung antut . Und wenn eine solche Vollver-
schleierung auf den Druck zumeist männlicher Fami-
lienmitglieder zurückzuführen ist, dann lehne ich das
entschieden ab .
Doch um Rechte der Frauen geht es im vorliegenden
Gesetzentwurf überhaupt nicht . Vielmehr sorgt sich die
Bundesregierung um die „Funktionsfähigkeit der Ver-
waltung“ . Sie glauben doch nicht im Ernst, dass diese
von der Frage abhängt, ob Beamtinnen oder Beamte eine
Gesichtsverhüllung tragen oder nicht? Wenn es Ihnen um
eine effektive Verwaltung ginge, dann würden Sie den
öffentlichen Dienst nicht kaputtsparen und die Beamten
mit sinnlosen bürokratischen Schikanen auf Trab halten .
Eine Gesichtsverhüllung stehe einer „vertrauens-
vollen Kommunikation der staatlichen Funktionsträger
mit den Bürgerinnen und Bürgern“ entgegen, meint die
Bundesregierung . Ein Großteil dieser Kommunikation
erfolgt heute telefonisch, per Post oder per E-Mail . Ob
die Beamtin am anderen Ende der Leitung Nikab oder
Minirock trägt, ob sie Christin, Atheistin oder Muslima
ist, kann ich da nicht erkennen, und es ist genauso wenig
von Interesse für meine Belange . Für eine „vertrauens-
volle Kommunikation“ mit einer Behörde ist das gänz-
lich egal .
Die einzigen mir bekannten Angehörigen des öffent-
lichen Dienstes, die ihr Gesicht verhüllen, sind Mitglie-
der von Polizeisonderkommandos . Deren Auftreten etwa
am Rande von Demonstrationen erscheint mir in der Tat
nicht als besonders vertrauensbildende Maßnahme .
Ansonsten ist mir kein einziger Fall bekannt, wo eine
Beamtin tatsächlich vollverschleiert zum Dienst erschie-
nen ist . Auch die Bundesregierung konnte bislang kein
praktisches Beispiel für den Nutzen eines solchen Geset-
zes beibringen . Somit handelt es sich um ein reines Vor-
ratsgesetz, wenn nicht gar um ein rechtlich unzulässiges
Einzelfallgesetz . Es bestand bislang keine Notwendig-
keit für solch ein Gesetz und ich sehe auch in der Zukunft
keine Notwendigkeit dafür .
Nur eine winzige Minderheit der in Deutschland le-
benden Muslimas trägt einen Nikab oder gar eine Burka .
Doch dieses an sich sinnlose Sondergesetz, das faktisch
nur gegen Angehörige einer Religionsgemeinschaft ge-
richtet ist, wird auch von anderen Muslimen, die für sich
persönlich eine Vollverschleierung ablehnen, als Element
einer wachsenden Islamfeindschaft verstanden .
Mit diesem Gesetzentwurf werden der rechte Rand,
die Pegida-Stammtische und das AfD-Klientel bedient .
In Sachsen-Anhalt gelang es der AfD bereits, mit ei-
nem entsprechenden Antrag die CDU-SPD-Grünen-Re-
gierung vor sich her zu treiben . Im Innenausschuss des
Landtages einigten sich Koalition und AfD auf einen
Antrag, um Gesichtsschleier im öffentlichen Raum – so
wörtlich – „zu begrenzen“. Ich bezweifle, dass in ganz
Sachsen-Anhalt mehr als eine Handvoll vollverschleier-
ter Frauen lebt, und ich bin sicher, dass keine einzige da-
von Beamtin ist . Aus so einem Antrag spricht die blanke
Hysterie; bedient wird damit zugleich dumpfe Fremden-
feindlichkeit .
Dass auch die Grünen darauf aufspringen, ist bezeich-
nend . Aber was soll man von einer Partei halten, die ihren
Restpazifismus bereitwillig opferte, um die Bundeswehr
zur Befreiung der afghanischen Frauen von der Burka an
den Hindukusch zu schicken?
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722268
(A) (C)
(B) (D)
Fassen wir also zusammen: Der vorliegende Gesetz-
entwurf hat kaum praktische Relevanz; er ist völlig über-
flüssig. Doch er ist Wasser auf die Mühlen der Rechts-
populisten, und er trägt in völlig unnötiger Weise dazu
bei, das allgemeine Klima gegenüber Muslimen weiter
zu vergiften . Daher lehnt die Linke dieses Gesetz ab .
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Das ist nicht gut gebrüllt; es ist eher Much Ado About Not-
hing, was Sie dort zur Gesichtsverhüllung von SEK-Be-
amtinnen und Feldjägerinnen veranstalten . Sie sollen
fortan Karnevalsmasken nur noch tragen dürfen, wenn
es aus gesundheitlichen Gründen erforderlich ist, wohl
weil die Karnevalszeit ja leider Gottes nicht selten mit
der einen oder anderen Grippewelle zusammenfällt . Das
ist sicherlich gesundheitspolitisch lobenswert – wenn
auch schlussendlich nicht überzeugend –, hat aber eben
wenig mit dem Kampf zur Befreiung der unterdrückten
Frau und schon gar nichts mit sinnvoller Terrorbekämp-
fung zu tun .
Aber genug der Polemik . Wenn dem so ist, dass man
auf Grundlage des geltenden Rechts Richterinnen nicht
verbieten kann, das Gesicht während der Verhandlung zu
verhüllen, nun gut, dann kann man das meinetwegen re-
geln . Klare Regeln sind im Rechtsstaat tendenziell richti-
ger als juristische Verschwommenheit . Aber müssen wir
über diese nichtexistenten Fälle tatsächlich eine mona-
telange Debatte führen und dem bayerischen Minister-
präsidenten eine bundespolitische Lichtung zum Röhren
geben? Das ist doch Irrsinn . Es ist gut, dass die Reden
zu diesem Thema heute zu Protokoll gehen; denn ehrlich
gesagt kann man sich das alles nicht weiter anhören .
Frauen in Burka sind sicherlich kein Anblick, den ich
vermissen würde, wenn es ihn nicht mehr gäbe . Dennoch
würde ich im Zweifel jeder Frau erst einmal das Recht
zubilligen, sich so zu kleiden, wie sie es will . Belege da-
für, dass sich Frauen hierzulande gegen ihren Willen in
solche Verkleidungen sperren lassen, gibt es nicht . Aber
auch wenn: Wie wollen Sie, liebe grauhaarige Verfech-
ter der Emanzipation aus der CSU, diese Frauen denn
aus ihrer wandelnden Textilhaft befreien, wenn Sie ih-
nen faktisch den Zugang zum öffentlichen Raum noch
erschweren? Es ist gut, dass die Koalition diesen Forde-
rungen nicht nachgegeben hat und Säkularität nicht eben-
so falsch versteht wie die parlamentarische Mehrheit in
Frankreich, die aus der laizistischen Trennung von Staat
und Kirche in dieser Sache ein Instrument der republi-
kanischen Unterdrückung selbstgewählter Lebensstile
gemacht hat. So schafft man nicht mehr Freiheit, sondern
weniger .
Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Recht-
sprechung zum Kopftuch die positive Religionsfreiheit
gestärkt . Der Staat hat demnach nicht zu beurteilen, wel-
che Bekleidungsvorschriften jemand aus religiösen oder
weltanschaulichen Gründen für sich als verpflichtend
ansieht oder nicht . Pauschale Verbote kann es nach die-
sem Urteil nicht mehr geben . Entsprechende Regelungen
müssen zudem diskriminierungsfrei erfolgen, also für
alle Religionen und Weltanschauungen gleichermaßen
gelten . An diesen Leitprinzipien hat sich auch die De-
batte um das Verbot von Burka und Nikab zu orientieren .
Das Grundgesetz gibt hier zu Recht hohe Hürden vor .
Partielle Verbote der Vollverschleierung müssen gut be-
gründete Ziele haben .
Wir Grünen haben – anders als manch anderer in die-
sem Hohen Hause – zur Vorstellung der Kirchen von
Geschlechterrollen und zur Sexuallehre kein Blatt vor
den Mund genommen . Genauso werden wir auch gegen
frauenfeindliche Haltungen im Islam streiten . Burka und
Nikab können Ausdruck eines patriarchalischen, frauen-
feindlichen Gesellschaftsbilds sein, das wir ablehnen und
sind es oft auch . Auch die große Mehrheit der Muslimas
und Muslime in Deutschland sieht die derartig weit ge-
hende Verhüllung nicht als religiöses Gebot . Aber diese
Entscheidung treffen die individuellen Grundrechtsträge-
rinnen, also die Frauen selbst, und niemand anders für
sie .
Wer diesen Frauen dieses Recht von vornherein ab-
spricht, befördert im Ergebnis antimuslimische Ressenti-
ments und lenkt von den tatsächlich sicherheitspolitisch
entscheidenden Maßnahmen ab: von dem Bedarf einer
besseren Ausstattung der Polizei, von deutlich verbes-
serten Präventionskonzepten . Wer wirklich etwas für
die Selbstbestimmung von Frauen tun will, sollte Bera-
tungsstellen finanziell fördern, Frauen über ihre Rechte
aufklären und ihnen Schutz gewähren, wenn sie in ihrer
Freiheit und Selbstbestimmung bedrängt oder bedroht
werden – in bundesweit besser finanzierten Frauenhäu-
sern zum Beispiel .
Summa summarum: Nicht alles, was man falsch fin-
det, kann man verbieten . Ich wünsche mir dennoch, dass
trotz aller bereichsspezifischer Verbote der Gesichtsver-
hüllung die karnevalesken Traditionen aufrechterhalten
werden und dass man den Rekruten in den Bundeswehr-
kasernen in ihrer Freizeit die kleine Freude des Alltags
nicht verwehrt, mit übergezogenen Kopfkissenbezügen
Kissenschlachten zu veranstalten .
In diesem Sinne ein nachhallendes Alaaf! Und bis
gleich!
Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
minister des Innern: Wer sein Gesicht offen zeigt, begeg-
net seinen Mitmenschen in Offenheit. Diese Offenheit ist
aus meiner Sicht eine Grundfeste unserer gemeinsamen
Werteordnung .
Ein vollverschleiertes Auftreten in der Öffentlich-
keit kommt hingegen einer Ablehnung unserer Werte
gleich . Die Vollverschleierung beeinträchtigt daher den
gesellschaftlichen Zusammenhalt und die zwischen-
menschlichen Beziehungen . Dem entgegenzuwirken
hält im Übrigen auch der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte für legitim . Denn wenn das Gesicht im
Verborgenen bleibt, sind die Möglichkeiten des Kennen-
lernens stark eingeschränkt . Das behindert Kommunika-
tion, die eben nicht allein aus Worten besteht .
Gerade für Menschen, die neu in unser Land kommen
und von denen wir zu Recht die Integration verlangen, ist
die Vollverschleierung ein Hemmnis . Im Verbergen des
Gesichts manifestiert sich geradezu die Ablehnung der
aufnehmenden Gesellschaft .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22269
(A) (C)
(B) (D)
Zu unserer Gesellschaft gehört auch die Gleichbe-
rechtigung von Mann und Frau . In meinen Augen ist die
Burka ein unerträgliches Symbol der Unterdrückung von
Frauen . Eine derart manifestierte Diskriminierung kön-
nen wir – auch zum Schutz von jungen Frauen und Mäd-
chen – nicht hinnehmen . Ich halte es daher für geboten,
dass jeder in der Öffentlichkeit sein Gesicht zeigt.
Was für die zwischenmenschlichen Beziehungen all-
gemein gilt, muss für das Verhältnis des Staates zu seinen
Bürgern erst recht gelten: Vertrauen in das Amt des Be-
amten kann nicht entstehen, wenn im Dienst das Gesicht
komplett verhüllt ist. Eine offene Kommunikation mit
den Bürgern wäre unmöglich und die Integrität des Staa-
tes beeinträchtigt . Auch für die vertrauensvolle Zusam-
menarbeit der Staatsdiener untereinander ist die offene
Kommunikation essenziell .
Der Gesetzgeber kann und muss daher zum Schutz der
staatlichen Integrität vorausschauend handeln . Wir müs-
sen nicht abwarten, bis der Streit um die Vollverschlei-
erung im Dienst vor einem Gericht ausgetragen wird .
Rechtsstreitigkeiten um religiös motivierte Bekleidung
haben in den letzten Jahren zugenommen . Ein frühzeiti-
ges Handeln des Gesetzgebers ist daher geboten .
Wir senden mit dem Gesetzentwurf daher auch ein
klares Signal: Unser Zusammenleben beruht auf Offen-
heit. Wer die offene Gesellschaft ablehnt, kann unseren
demokratischen Rechtstaat nicht repräsentieren .
Klar ist auch: Nicht alles, was wir ablehnen, können
wir verbieten . Grundsätzlich steht es jedem frei, sich so
zu kleiden, wie es ihr oder ihm gefällt . Dies gilt umso
mehr, wenn die Bekleidung unter den Schutz der Religi-
onsfreiheit fällt .
Dieses Spannungsfeld löst der vorgelegte Gesetzent-
wurf umsichtig auf. Denn die Regelungen betreffen nicht
jede Gesichtsverhüllung in der Öffentlichkeit. Der Ge-
setzentwurf ist vielmehr das Ergebnis einer sorgfältigen
Abwägung der betroffenen Rechtskreise. Er beschränkt
sich auf die Bereiche, in denen es für die Funktionsfä-
higkeit des Staates unabdingbar ist, dass ein Gesicht er-
kennbar ist .
Dies trifft für Beamte in Bund und Ländern, für Sol-
daten sowie für Richter bei Ausübung ihres Dienstes und
bei Tätigkeiten mit unmittelbarem Dienstbezug zu . Ent-
sprechendes gilt auch für Mitglieder der Wahlausschüsse
und Wahlvorstände .
Zudem soll dort, wo gesetzliche Identifizierungs-
pflichten bestehen, das Zeigen des Gesichts im Bedarfs-
fall auch durchgesetzt werden können . Immer dann, wenn
Identitätspapiere vorgelegt werden, muss der Abgleich
des Lichtbilds mit dem Gesicht der Person möglich sein .
Darüber hinaus gibt es weitere Bereiche, in denen
ein Verbot der Vollverschleierung aus meiner Sicht ge-
boten wäre . Dazu zählen zum Beispiel der Unterricht an
Schulen oder die Betreuung in Kindergärten . Hier sind
die Länder in der Pflicht, entsprechende Regelungen zu
treffen.
Der von der Bundesregierung vorgelegte Gesetzent-
wurf beinhaltet also kein pauschales Verbot dessen, was
mir und vielen von uns nicht gefällt . Aber er sendet das
starke Signal, dass das Auftreten der staatlichen Reprä-
sentanten mit unverhülltem Gesicht für den demokrati-
schen Rechtsstaat unabdingbar ist .
Anlage 3
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Finanzausschusses zu dem Antrag der
Abgeordneten Halina Wawzyniak, Sigrid Hupach,
Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE: Einrichtung einer Kom-
mission beim Bundesministerium der Finanzen zur
Evaluierung der Staatsleistungen seit 1803 (Tages-
ordnungspunkt 18)
Margaret Horb (CDU/CSU): Die Fraktion Die Linke
ist überraschend traditionsbewusst . So traditionsbewusst
sogar, dass sie das Thema Staatsleistungen regelmäßig
vor Wahlen auf ihre Agenda setzt . Im Jahr 2012 woll-
ten Sie die Staatsleistungen noch ganz abschaffen. Ihre
Intention hat sich seitdem nicht geändert und ist immer
noch genauso durchschaubar . Sie wollen die Ablösung
der Staatsleistungen quasi zum Nulltarif, auch wenn Sie
in Ihrem jetzigen Antrag die Einsetzung einer Kommis-
sion beim BMF zur Evaluierung der Staatsleistungen seit
1803 vorschieben .
Dabei bauen Sie Ihre Argumentation auf der Annahme
auf, dass sich die Staatsleistungen über die Jahre verrin-
gert hätten . Es seien ja schon sehr lange Zahlungen an
die Kirchen geleistet worden . Dabei verstehen Sie jedoch
die Situation komplett falsch . Staatsleistungen sind der
dauernde Ersatz für den Ausfall wirtschaftlicher Erträge .
Die Länder erstatten die Einnahmen, die die Kirchen aus
dem enteigneten Besitz erwirtschaftet hätten . Staatsleis-
tungen sind somit keine Subventionen und schon gar kei-
ne „Ewigkeitsrente“, wie es in Ihrem Antrag heißt . Wer
das nicht begriffen hat, der lässt wichtige historische Ge-
gebenheiten außer Acht . Man sollte annehmen, dass wir
das bereits ausgiebig und verständlich hier im Bundestag
klargestellt haben .
Klar ist auch, dass wir gemäß Artikel 140 des Grund-
gesetzes in Verbindung mit Artikel 138 Absatz 1 der Wei-
marer Reichsverfassung einen Verfassungsauftrag haben .
Der Bund soll hiernach Rahmenbedingungen schaffen.
Der Auftrag lautet aber nicht, den Ländern und Kirchen
komplizierte Detailvorgaben überzustülpen . Der Antrag
der Linken überschreitet daher die Linie der Zuständig-
keit .
Besonders kritisch sehe ich die Größe der vorgeschla-
genen Evaluierungskommission: „(Kirchen-) Historike-
rinnen und (Kirchen-) Historiker, Kirchen- und/oder Ver-
fassungsrechtlerinnen und -rechtler, Ökonominnen und
Ökonomen sowie Vertreterinnen und Vertreter der Bun-
desländer sowie der beiden großen Kirchen“ . Zusätzlich
müssten Vertreter der Städte und Kommunen, der Kir-
chengemeinden, des Heiligen Stuhls und gegebenenfalls
weitere dazukommen . Wenn man alle Beteiligten an ei-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722270
(A) (C)
(B) (D)
nen Tisch holen sollte, werden das ja mindestens hundert
Personen . Und Sie gehen davon aus, dass die zahllosen
historisch gewachsenen Besonderheiten der Staatsleis-
tungen in jedem einzelnen Bundesland, in jeder Kommu-
ne, in jeder Kirchengemeinde in diesem „kleinen“ Kreis
effizient und schnell bearbeitet werden können. Das
klingt nicht nach einer realistischen Herangehensweise .
Was von einem solchen Gremium zu erwarten ist, zeigt
ein Blick in die Geschichte . Es gab nämlich in meiner
Heimat bereits einen Arbeitskreis, der die Staatsleistun-
gen bemessen und prüfen sollte . Im Jahr 1820 wurde von
König Wilhelm I . von Württemberg eine „gemeinschaft-
liche Kommission“ einberufen, die das Ziel verfolgte,
die gerade mal 17 Jahre zuvor erfolgten Enteignungen
der evangelischen Kirche abzulösen . Sage und schreibe
98 Jahre später war sie immer noch zu keinem Ergebnis
gekommen und wurde mit dem Ende der Monarchie auf-
gelöst . Diese Kommission erinnert mich doch stark an
den jetzt vorgebrachten Antrag . Liebe Kollegen von der
Fraktion Die Linke, auch Ihre Expertenrunde würde frü-
hestens am Sankt-Nimmerleins-Tag zu einem Ergebnis
kommen – wenn überhaupt .
Wie gut die Länder und Kirchen sich einigen können,
beweisen zahlreiche Beispiele . Nicht nur Hamburg und
Bremen haben Antworten gefunden . Auch in Hessen und
Brandenburg wurden Ablösungen vorbildlich durchge-
führt . In Baden-Württemberg laufen ebenfalls Gespräche
zur Ablösung der Staatsleistungen . Eine Kommission,
die sich aus dem fernen Berlin einmischen würde, wäre
nur kontraproduktiv .
Wie stellen Sie sich das überhaupt in der Praxis vor?
Wie sollte eine so heterogene Expertenrunde in Berlin
eine Evaluierung beispielsweise für den Kölner Dom, die
Heiliggeistkirche in Heidelberg oder die evangelische
Kirche in Merchingen-Ravenstein vornehmen? Das kön-
nen die Kirchen mit den Ländern besser .
Liebe Kollegen der Fraktion Die Linke, ich wieder-
hole meinen Vorschlag an Sie vom 15 . April 2016: Ins-
tallieren Sie doch eine Kommission zur Evaluierung der
Staatsleistungen in Thüringen; denn dort sind Sie seit
Jahren in der Regierungsverantwortung . Interessanter-
weise hört man aus Erfurt nichts, aber auch gar nichts .
Auch hier im Bundestag ist es diesbezüglich still – kein
Berichterstattergespräch, keine öffentliche Anhörung, ja,
nicht einmal eine Debatte in den beratenden Ausschüssen
haben Sie angestoßen . Und das, obwohl wir vonseiten
der Regierungskoalitionen sowohl in der vergangenen als
auch in der aktuellen Wahlperiode Gesprächsbereitschaft
signalisiert und auch konkrete Angebote gemacht haben .
Ich habe den Verdacht, dass Sie das Thema regelmäßig
vor den Wahlen aus der Schublade holen, einzig und al-
lein, um mit populistischen Äußerungen unsere Kirchen
zu diskreditieren . Sie, liebe Frau Wawzyniak, sagten es ja
selbst in Ihrer Rede vom 15 . April 2016, dass Die Linke
mit der Frage, „ob überhaupt noch Staatsleistungen zu
zahlen sind“, in den Wahlkampf ziehen sollte . Aber die-
ses „linke“ Manöver ist mit uns nicht zu machen!
Die Kirchen in unserem Land leisten eine wertvolle
und unbezahlbare Arbeit für unser aller Gemeinwohl .
Dieser Einsatz für unsere Gesellschaft ist von unschätz-
barem Wert, und es ist mir eine Herzensangelegenheit,
meine Rede mit dem ausdrücklichen Dank an alle Haupt-
und Ehrenamtlichen in unseren Kirchen zu beenden . Die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion sieht keinen Handlungs-
bedarf hinsichtlich der Einsetzung einer Evaluierungs-
kommission . Wir werden daher den Antrag ablehnen .
Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Staatsleistungen ha-
ben ihre Grundlage darin, dass kirchliche Güter im Rah-
men der Säkularisierung, namentlich im Reichsdeputa-
tionshauptschluss im Jahre 1803, umfangreich enteignet
wurden. Diese Güter befinden sich zumeist noch heute
in staatlichem Eigentum . Damals übernahmen die Lan-
desherren zugleich die Verpflichtung, die Besoldung und
Versorgung der Pfarrer – sofern erforderlich – sicherzu-
stellen . Es handelt sich also um eine Art von Pachtersatz-
leistungen . Diese Staatsleistungen sind durch Artikel 140
des Grundgesetzes mit dem dadurch geltenden Arti-
kel 138 Absatz 1 der Weimarer Reichsverfassung verfas-
sungsrechtlich verbürgt . Diese Entschädigungszahlungen
werden noch heute an die beiden großen Amtskirchen in
fast allen Bundesländern – mit Ausnahme von Hamburg
und Bremen – erbracht . Sie betragen rund 480 Millionen
Euro jährlich .
Wir diskutieren heute den Antrag der Fraktion Die
Linke, welcher die Einrichtung einer Expertenkommis-
sion beim Bundesministerium der Finanzen fordert . Sinn
und Zweck dieser Kommission soll sein, den Umfang
der enteigneten Kircheneigentümer und der bisher ge-
leisteten Entschädigungszahlungen zu evaluieren und
zu prüfen . Die Fraktion Die Linke zielt darauf ab, die
Ablösesumme der Staatsleistungen zu ermitteln und die
Zahlungen der Staatsleistungen somit zu beenden . Mit
diesem Vorhaben sind sie zu Recht bereits im Jahr 2012
mit einem ähnlichen Gesetzentwurf gescheitert .
Lassen Sie mich kurz erläutern, warum seitens des
Bundes kein Anlass besteht, die Initiative zu einer Ab-
lösung der Staatsleistungen zu ergreifen . Erstens ist
festzustellen, dass der Bund selbst nicht Schuldner der
Staatsleistungen ist . Wenn wir die Länder als Träger der
Staatsleistungen betrachten, ist ferner zu unterstreichen,
dass es diesen freisteht, einvernehmlich mit den Kirchen
die Staatsleistungen zu verändern und neue Rechtsgrund-
lagen zu schaffen. Eine individuelle Lösung zwischen
den Bundesländern und Kirchen zu finden, ist im Rah-
men der Länderhoheit die einfachere und sachgerechtere
Vorgehensweise . Die Länder haben bislang jedoch nicht
erkennen lassen, mit Gesprächen über die Ablösung der
Staatskirchenleistungen beginnen zu wollen . Um die
Staatsleistungen an die Kirchen abzulösen, ist eine expli-
zite Initiative allerdings Grundvoraussetzung . Aus die-
sem Grund besteht aktuell erst recht nicht für den Bund
die Notwendigkeit, diesbezüglich tätig zu werden .
Ich darf noch darauf verweisen, dass auch der Ko-
alitionsvertrag keine Maßnahmen in diesem Bereich
vorsieht . Das System der Kirchensteuer und des Staats-
kirchenrechts hat sich bewährt . Eine Kommission, wie
die Fraktion Die Linke sie in ihrem Antrag fordert, ist
bürokratisch und verkennt die Gestaltungsautonomie auf
Länderebene . Der Antrag der Fraktion Die Linke ist so-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22271
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mit abzulehnen . Weder für die Einsetzung einer solchen
Kommission noch für den Erlass eines Grundsätzegeset-
zes zur Ablösung der Staatsleistungen des Bundes be-
steht akuter Handlungsbedarf .
Andreas Schwarz (SPD): Wir reden heute über ein
altes Thema und über einen diskussionswürdigen An-
trag . Bis ins Jahr 1803 müssen wir zurückblicken, um
verstehen zu können, worum es hier eigentlich geht . Der
Reichsdeputationshauptschluss vom 25 . Februar 1803
hat sicherlich nicht erwartet, dass sich fast auf den Tag
genau 214 Jahre später ein gesamtdeutsches Parlament
mit dessen Auswirkungen beschäftigen wird . Worum
geht es im Einzelnen? Im Jahr 1803 wurden im Rahmen
der staatlichen Säkularisierung die Kirchen teilweise ent-
eignet . Von Klöstern bis zu ganzen Ländereien . Seither
fließen Entschädigungszahlungen des Staates an die Kir-
chen, nicht ohne Grund, so zum Beispiel um die Seelsor-
ge trotzdem in der ländlichen Region aufrechtzuerhalten .
Im Jahr 1919 wurden viele Kirchenrechtsregelungen in
die Verfassung der Weimarer Republik aus dem Kaiser-
reich übernommen . Aber eben auch, dass die Regelungen
zur Kirchenfinanzierung neu verhandelt und neu geord-
net werden müssten, und zwar in Artikel 138 Absatz 1
der Weimarer Reichsverfassung . Dieser Auftrag wurde
mit Artikel 140 im Jahr 1949 auch ins Grundgesetz der
Bundesrepublik Deutschland übernommen . Seither, und
das ist doch einigermaßen erstaunlich, ist nichts gesche-
hen . Ich möchte nicht verhehlen, dass auch ich glaube,
dass wir hier tätig werden müssen . Mit „wir“ meine ich
aber nicht zwangsläufig den Bund als Initiator dieser Ini-
tiative, sondern am Ende einer notwendigen Kette .
Bei der Berechtigung, die diese Debatte sicherlich hat,
sind aber auch ein paar sensible Besonderheiten dieses
Themas zu beachten . Die Kirchen in unserem Land tra-
gen eine nicht hoch genug einzuschätzende Verantwor-
tung für das Gemeinwohl in Deutschland . Nicht zuletzt
in der Flüchtlingsfrage sind die Kirchen in unserem Land
unverzichtbarer Partner einer humanen und menschen-
würdigen Flüchtlingspolitik . Die kirchliche Seelsorge
gibt den Menschen in unserem Land in einer immer
schneller werdenden Welt Halt und Konstanz . Das gilt
insbesondere für eine alternde Gesellschaft im ländlichen
Raum . Hier ist die Kirche Hort des Zusammenkommens
und auch des Gehörtwerdens . Ohne die sozialen und ka-
ritativen Leistungen der Kirchen sähe der gesellschaft-
liche Zusammenhalt in unserem Land ganz anders aus .
Diesen Umstand sollten und dürfen wir bei jeder Debatte
über die Finanzierung von Kirchen und Religionsge-
meinschaften in unserem Land nie vergessen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, wie be-
reits in der ersten Debatte zu Ihrem Antrag möchte ich
heute auch noch mal betonen, dass wir gar nicht alles
völlig abwegig finden, was Sie an Forderungen auffüh-
ren . Sie fordern im Wesentlichen vier Punkte . Drei von
diesen Punkten können wir etwas abgewinnen . Einem
jedoch nicht . Da dieser jedoch der zentrale Punkt des An-
trages ist, werden wir den gesamten Antrag leider nicht
mittragen können . Ja, Sie fordern nicht zu Unrecht, dass
es Zeit wird, den Umfang der Säkularisierungsverluste
aus dem Jahr 1803 zu ermitteln . Dann spielt natürlich
eine Rolle, wie hoch die Entschädigungszahlen seit dem
Jahr 1919 sind. Ich glaube übrigens, dass die Differenz
aus beiden Zahlen Sie eher überraschen würde als mich .
Und jetzt stoßen wir aber auf das aus meiner Sicht
entscheidende Problem . Und ich möchte das auch heu-
te nochmals ausführen . In Ihrem Antrag fordern Sie die
Einsetzung einer Kommission im Bundesfinanzminis-
terium, bestehend aus – ich zitiere – Expertinnen und
Experten wie Kirchenhistorikerinnen und Kirchenhisto-
rikern, Kirchen- und/oder Verfassungsrechtlerinnen und
-rechtlern, Ökonominnen und Ökonomen sowie Vertrete-
rinnen und Vertretern der Bundesländer sowie der beiden
großen Amtskirchen . Wenn Du nicht mehr weiter weißt,
dann gründe einen Arbeitskreis . Ich glaube eine derartig
aufgeblähte Kommission wird uns weitere 214 Jahre in
der Debatte kosten, bis diese sich auch nur ansatzweise
auf ein konkretes Ergebnis einigen könnte . Und, da wie-
derhole ich mich nur ungern, wenn sie schon in solch
großem Rahmen über Staatsleistungen und deren Zu-
kunft diskutieren wollen, dann frage ich mich: wo sind
die anderen Religionsgemeinschaften, die von Staatsver-
trägen profitieren? Ob es nun die jüdischen Gemeinden
in Sachsen-Anhalt oder die in Hamburg lebenden Musli-
me und Aleviten sind . Sollen diese nicht an der Debatte
beteiligt werden? Nein, ich glaube Sie zäumen das Pferd
von hinten auf .
Ja, wenn der Verfassungsauftrag erfüllt werden soll,
muss der Bund irgendwann gesetzgeberisch tätig wer-
den . In welcher Form auch immer . Aber zuvor muss es
Gespräche auf viel kleinerer Ebene geben . Die Staats-
verträge sind zwischen Bundesländern und Kirchen ge-
schlossen und können nur zwischen diesen einvernehm-
lich geregelt werden . Einige Bundesländer zahlen sehr
viel, andere weniger . Teilweise erfolgen bis auf kom-
munale Ebene gar keine Zahlungen mehr . Das bedeutet:
Gespräche zwischen Landeskirchen und den jeweiligen
Bundesländern und Kommunen sind nötig . Und sowohl
Kirchen als auch Länder sind doch dazu bereit . Hier gibt
es klare Signale der Gesprächsbereitschaft . Diese sollten
aufgenommen werden, und dann freue ich mich auf die
Initiative aus den Ländern, die dann etwa Bodo Ramelow
anführen kann . Ich traue ihm da vielleicht mehr zu als
seine Bundestagsfraktion . Erst danach kann und sollte
der Bund tätig werden . Wie unfassbar Komplex diese
Gespräche sind, kann ich als ehemaliger Bürgermeister
gern mal im Einzelnen berichten, etwa Fragen rund um
Unterhalts- und Kirchenbaulastfragen .
Aus den genannten Gründen und nicht zuletzt, weil
wir uns in einer Koalition befinden, können wir diesem
Antrag nicht zustimmen .
Christine Buchholz (DIE LINKE): In zwei Jahren
wird ein Verfassungsauftrag, die Staatsleistungen an
Religionsgemeinschaften betreffend, 100 Jahre alt. Der
Artikel 140 unserer Verfassung hat den Artikel 138 der
Weimarer Reichsverfassung aus dem Jahr 1919 zum Be-
standteil des Grundgesetzes gemacht . Er lautet: „Die auf
Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden
Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften werden
durch die Landesgesetzgebung abgelöst . Die Grundsät-
ze hierfür stellt das Reich auf .“ Die Staatsleistungen im
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722272
(A) (C)
(B) (D)
engen Sinne – altrechtliche Staatsleistungen genannt –
liegen gegenwärtig im gesamten Bundesgebiet bei rund
460 Millionen Euro jährlich . Gut Ding will Weile haben,
aber 98 Jahre sind eine beachtlich lange Zeit, und deshalb
ist aus unserer Sicht die Erfüllung des damals gegebenen
Auftrages mehr als überfällig .
In der vergangenen Legislaturperiode hatte meine
Fraktion einen Gesetzentwurf zur Ablösung der Staats-
leistungen vorgelegt, der abgelehnt wurde . Das passiert
uns hin und wieder mit unseren Vorschlägen, trotzdem
blieb im Ergebnis dieser Ablehnung ein weiterhin nicht
eingelöster Verfassungsauftrag . Mit unserem Antrag zur
Einrichtung einer Kommission beim Bundesministerium
der Finanzen zur Evaluierung der Staatsleistungen seit
1803 haben wir die Hürden für Ihrer aller Zustimmung
niedriger gelegt . Wir sehen uns bestätigt, da es in allen
Fraktion Stimmen gibt, nach denen die Ablösung der
Staatsleistungen endlich in Angriff genommen werden
muss . Und auch die beiden großen Kirchen sind bereit,
darüber zu verhandeln .
Wir sind davon ausgegangen, dass niemand etwas da-
gegen vorbringen kann, eine Kommission, bestehend aus
Kirchenhistorikerinnen, Kirchen- und Verfassungsrecht-
lerinnen, Ökonominnen, Vertreterinnen der Länder und
beider großer Amtskirchen einzusetzen, die sich des zu
erfüllenden Auftrags annimmt und einen Vorschlag un-
terbreitet, wie er konsensual erfüllt werden kann .
Die CDU/CSU hat die mögliche Ablösesumme als
ein Problem ausgemacht . Und ja, das ist eine Frage, die
diskutiert werden muss . Durch Aussitzen kommt man
an dem Punkt aber nicht weiter . Und weil es in der Ver-
gangenheit immer wieder zu Verwirrungen und falschen
Behauptungen geführt hat: Wir reden hier nicht von Sub-
ventionen für Religionsgesellschaften zur Unterstützung
ihrer Tätigkeit in Bereichen wie Sozialarbeit, Kinder-
gärten, Schule, Jugendhilfe, Denkmalpflege. Die Leis-
tungen der Kirchen sind hoch zu achten und tragen viel
zum Zusammenhalt und friedlichen Zusammenleben in
unserer Gesellschaft bei, vor allem auch wenn es um die
Unterstützung und Hilfe für sozial benachteiligte Men-
schen geht .
Lothar Binding von der SPD hat in der ersten Lesung
darauf verwiesen, dass dabei nicht die Handlungsfähig-
keit der Kirchen auf dem Spiel steht, sondern dass die
Summe der Staatsleistungen gerade mal 2 Prozent des
Etats für die kirchliche Arbeit ausmacht .
Das Ablösungsgebot hat einen guten Grund, ist es
doch eine rechtliche Voraussetzung für einen säkularen
und bekenntnisneutralen Staat und somit wichtig für die
Entflechtung der finanziellen Beziehungen zwischen
Staat und Kirche . Man kann mit Fug und Recht sagen,
gerade in Zeiten einer weitaus größeren religiösen Viel-
falt, als wir sie vor 100 Jahren hierzulande hatten, ver-
stößt eine Bevorzugung bestimmter Kirchen gegenüber
anderen Bekenntnisgemeinschaften und nichtreligiösen
gesellschaftlichen Gruppen gegen das Prinzip der Tren-
nung von Staat und Kirche . Und auch im Hinblick auf
das Gleichbehandlungsgebot gegenüber allen Religions-
gemeinschaften lässt sich auf Ewigkeit und Dauer die
Bevorzugung nur zweier von ihnen nicht rechtfertigen .
Aber es bleibt die Frage zu klären, inwieweit die Zah-
lungen im engeren Sinne heute noch angemessen und
zeitgemäß sind . Wir sagen, das sind sie nicht . Wir wol-
len aber, dass darüber, ob dies so stimmt oder nicht, eine
Expertinnen-kommission befindet. Die Voraussetzungen
dafür sind gut, wie gesagt, beide große Kirchen haben
mehrfach die Bereitschaft signalisiert, über die Ablösung
der Staatsleistungen zu verhandeln . Dem sollte der Deut-
sche Bundestag nicht nachstehen .
Deshalb bitte ich Sie um Zustimmung .
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ein Jubiläum steht vor der Tür . Es fällt unter die Katego-
rie unerledigte Geschäfte .
2019 feiern wir 100 Jahre Verfassungsauftrag zur Ab-
lösung der Staatsleistungen an die Kirchen . Weder der
Reichstag der Weimarer Republik noch der Bundestag
haben bislang ernsthaft Anstrengungen unternommen,
dem Auftrag der Verfassung an den Gesetzgeber nach-
zukommen . Das ist verfassungspolitisch ein unguter Zu-
stand .
Wir Grüne wollen den seit 1919 nicht umgesetzten
Verfassungsauftrag – zur Ablösung der historischen
Staatsleistungen an die großen christlichen Kirchen –
endlich entschlossen umsetzen .
Die Kirchen erhalten vom Staat bis heute Leistungen
als Entschädigung für Enteignungen in der Zeit der Sä-
kularisierung . Der grundgesetzliche Auftrag zur Ablö-
sung dieser Staatsleistungen ist bislang nicht umgesetzt .
Bündnis 90/Die Grünen fordern, dass durch die Bundes-
regierung unverzüglich eine Expertenkommission einge-
setzt wird, die eine Gesamtübersicht über die Staatsleis-
tungen im Sinne des Artikels 138 Absatz 1 der Weimarer
Reichsverfassung vom 11 . August 1919 anfertigt und
Vorschläge für eine entsprechende Ablösungsgesetzge-
bung unterbreitet .
Gegenstand der heutigen Beratung sind also die fi-
nanziellen Beziehungen zwischen Staat und Kirchen,
genauer: zwischen den Ländern und den christlichen
Bistümern und Landeskirchen, die durch staatliches
Handeln während der Reformationszeit und des Reichs-
deputationshauptschlusses enteignet worden waren . Um
den finanziellen Unterhalt der verloren gegangenen Be-
sitztümer fortzuführen, werden die sogenannten Staats-
leistungen bezahlt . Die Linksfraktion ist bisher nicht
durch gesteigertes Interesse an religionspolitischen The-
men aufgefallen . Aber da sie dieses Thema ja nicht ohne
Hintergedanken aufruft, zwei Bemerkungen zum Antrag:
Man kann skandalisieren, dass jährlich über 500 Mil-
lionen Euro den ohnehin reichen Kirchen „geschenkt“
werden . Man muss aber auch anerkennen, dass Institutio-
nen, die enteignet wurden, ein Recht auf Entschädigung
besitzen .
Man kann skandalisieren, dass seit 1949 laut Huma-
nistischer Union über 17 Milliarden Euro aus der Staats-
kasse an die Kirchen bezahlt worden sind . Man muss aber
auch anerkennen, dass es sich bei den Staatsleistungen
nach Auskunft der allermeisten Verfassungsrechtlerinnen
und Verfassungsrechtler eben nicht um eine einmalige
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22273
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Entschädigung handelt, sondern um Unterhaltsleistun-
gen, die den durch die enteigneten Güter entgangenen
Gewinn entschädigen . Es ist wie im Familienrecht: Ein
Vater kann den Unterhalt für sein Kind (oder auch für
seine armen Eltern) ja nicht einfach unter Verweis darauf
einstellen, jetzt hätte er aber genug gezahlt .
Damit ist hinsichtlich der Vorgaben, die der Antrag für
die einzusetzende Kommission macht, für uns klar: Un-
ter der Hand will uns die Linksfraktion hier eine Vorfest-
legung abringen . Das aber werden wir nicht mittragen .
Hier geht es um Verfassungsrecht, und da muss man sich
auch dann an die verfassungsrechtlichen Festlegungen
halten, wenn sie einem nicht so gefallen .
Die Staatsleistungen sind hinsichtlich ihrer histori-
schen Herleitung wie ihres Umfangs und Charakters
eine schwierige und komplizierte Materie . Deswegen ist
es sinnvoll und richtig, dass die Bundesregierung eine
Kommission einsetzen soll, die genau das evaluiert und
die dann auch am besten berufen ist, Vorschläge zu ma-
chen, wie ein Grundsätzegesetz, das allein der Bund zu
erlassen ermächtigt ist, aussehen könnte .
Es soll aber noch erwähnt werden, dass ein solches
Grundsätzegesetz es den Ländern ermöglichen würde,
eine gesetzliche Ablösung voranzutreiben . Es gibt näm-
lich noch die Alternative der vertraglichen Ablösung .
Soweit ersichtlich, haben zahlreiche Bundesländer von
der Möglichkeit Gebrauch gemacht, Kirchenbaulasten
im Vertragswege abzulösen oder die auf mannigfaltiger
Rechtsgrundlage gezahlten Staatsleistungen zu pauscha-
lieren . Darauf ist in der Debatte schon verschiedentlich
hingewiesen worden . Dieser Weg ist durch das Vorgehen
des Bundes den Ländern weder verbaut, noch können sie
dazu verpflichtet werden, nach Erlass eines Grundsätze-
gesetzes ihrerseits gesetzlich vorzugehen . Die Länderau-
tonomie ist also in jedem Fall gewahrt .
Der Ablösungsauftrag richtet sich an den Staat, nicht
an die Kirchen . Darauf hinzuweisen ist keine Petitesse,
denn die Kirchen werden immer wieder für die Staats-
leistungen kritisiert, bis hin zu der Forderung, auf sie
zu verzichten . Abgesehen davon, dass es Sache der Ver-
tragsparteien ist, ihre vertraglichen Rechte wahrzuneh-
men oder auch nicht, ist es ein Versäumnis allein des
Staates, der die Ablösungsverpflichtung des Artikel 138
Weimarer Reichsverfassung nicht umgesetzt hat . Die
Kirchen haben immer wieder deutlich gemacht, dass sie
gegen eine Ablösung keine Einwände erheben würden –
vorausgesetzt, sie stünden finanziell anschließend nicht
schlechter da als bisher . Diese Bedingung aber ist in der
verfassungsrechtlichen Literatur zu den Staatsleistungen
ohnehin breit anerkannt . Insofern ist die Einsetzung einer
Expertenkommission die konsequente Fortführung der
Diskussion um dieses randständige, aber wichtige The-
ma und liegt auch im Interesse der Kirchen – allerdings
ohne die einschränkenden Bedingungen, die die Linke
formuliert .
Die Umsetzung des Verfassungsauftrages würde mehr
Transparenz schaffen und die Chance zur Befriedung ei-
ner Debatte bringen, die teilweise erbittert geführt wird
und das gesellschaftliche Klima vergiftet .
Anlage 4
Erklärungen nach § 31 GO
zu der Abstimmung über den von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Umsetzung der Richtlinie 2014/52/EU im Städte-
baurecht und zur Stärkung des neuen Zusammen-
lebens in der Stadt (Tagesordnungspunkt 19)
Josef Göppel (CDU/CSU): Der neue § 13b im
BauGB ermöglicht die Ausweisung neuer Wohnbauge-
biete am Außenrand eines jeden Ortsteils in Deutschland .
Bei 11 162 Gemeinden mit durchschnittlich 30 Ortstei-
len ergibt das 335 000 Baumöglichkeiten . Wenn nur die
Hälfte der Gemeinden davon Gebrauch machen, wird der
tägliche Flächenverbrauch von 60 auf 120 Hektar pro
Tag verdoppelt . Das ist ein massiver Verstoß gegen den
Koalitionsvertrag, in dem Union und SPD die Reduzie-
rung auf 30 Hektar pro Tag beschlossen haben .
Die Gemeinden können solche Flächen zwei Jahre
lang ohne Umweltprüfung und Naturausgleich in be-
schleunigten Verfahren ausweisen . Damit sind auch Was-
serschutzgebiete, Frischluftschneisen und Freiräume für
Erholung gefährdet . Landwirtschaftliche Flächen neh-
men weiter ab .
Besonders empörend finde ich, dass ein Bürgermeister
den Vorrang der Innenentwicklung mit einer einfachen
Erklärung „Es geht nicht“ abfertigen kann . Der § 13b for-
dert keine vorherige Aufnahme von Leerständen im Orts-
zentrum und keinen Nachweis konkreter Verhandlungen
mit Eigentümern .
Schließlich fehlt dieser Gesetzesänderung jede Ziel-
genauigkeit . Zusätzliche Baumöglichkeiten machen Sinn
in Gemeinden mit angespanntem Mietmarkt . Generelle
Baulandausweisungen im ganzen Land führen aber nicht
zu mehr Wohnungen, sondern zu mehr Planungsruinen .
Insgesamt handelt es sich hier um verantwortungslo-
sen Umgang mit Natur und Heimat, dem ich nicht zu-
stimmen kann .
Hans-Werner Kammer (CDU/CSU): Dem heute zur
Abstimmung vorliegenden Gesetzentwurf stimme ich
lediglich mit Einschränkung zu . Meine Position in der
Sache erkläre ich wie folgt:
Die Koalition stellt sich mit dem Gesetzentwurf aktu-
ellen Herausforderungen der Stadtentwicklung und des
Wohnungsbaus . Die Baugebietskategorie „Urbane Ge-
biete“ unterstützt die Entwicklung lebendiger Stadtvier-
tel . Zu begrüßen ist auch die befristete Ausweitung der
beschleunigten Bebauungsplanverfahren auf Ortsrandla-
gen, um den Wohnungsbau zu erleichtern .
Ein weiterer wichtiger Bestandteil des Vorhabens ist
die rechtliche Klarstellung zur Zulässigkeit von Ferien-
wohnungen durch den neuen § 13a BauNVO . Das Ge-
setz verfolgt dabei den richtigen Ansatz, indem es den
Kommunen viel Entscheidungsfreiheit einräumt . Damit
trägt es dem Umstand Rechnung, dass Kommunen unter-
schiedliche Bedürfnisse hinsichtlich der Genehmigungs-
fähigkeit von Ferienwohnungen haben .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722274
(A) (C)
(B) (D)
Gleichwohl greift der Entwurf insoweit zu kurz, als
er die Möglichkeiten der Kommunen, Ferienwohnungen
in reinen Wohngebieten zuzulassen, unnötigerweise ein-
schränkt . In reinen Wohngebieten sind Ferienwohnungen
nur dann ausnahmsweise zulässig, wenn der Bebauungs-
plan kleine Beherbergungsbetriebe erlaubt und die frag-
liche Immobilie überwiegend zum Dauerwohnen genutzt
wird . Viele Vermieter unterhalten jedoch in ihrem Haus
mehrere Ferienwohnungen . Die Neuregelung kann in
vielen touristisch geprägten Kommunen zu unbeabsich-
tigten Härten führen und negative Auswirkungen auf das
touristische Angebot haben . Eine erneute Welle von Ge-
richtsverfahren, die sich speziell mit diesem Problemfeld
befassen, ist daher möglich . Sinnvoll wäre gewesen, auch
für reine Wohngebiete auf die Entscheidungskompetenz
der Kommunen zu vertrauen .
Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung
– des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und
SPD: Share Economy – Wachstumschancen der
kollaborativen Wirtschaft nutzen und Heraus-
forderungen annehmen.
– des Antrags der Abgeordneten Dieter Janecek,
Kerstin Andreae, Dr. Thomas Gambke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN: Share Economy – Ökologische
Chancen nutzen und Teilen statt Besitzen unter-
stützen
(Tagesordnungspunkt 20 und Zusatztagesord-
nungspunkt 10)
Hansjörg Durz (CDU/CSU): Der Gedanke der ge-
meinsamen Nutzung sowie des Teilens von Gütern ist
wahrscheinlich so alt wie die Menschheit selbst . Neu und
geradezu revolutionär ist aber, dass sich damit äußerst er-
folgreich Geschäftsmodelle betreiben lassen . Getrieben
durch die rasante technologische Entwicklung im Zuge
der Digitalisierung haben sich in wenigen Jahren inno-
vative Geschäftsmodelle entwickelt, die alle nach dem-
selben Prinzip funktionieren: Egal ob die Kunstplattform
Etsy, der Büroraumvermittler WeWork oder die populä-
ren Unterkunfts- bzw . Transportvermittler Airbnb und
Uber, sie alle eint, dass sie als Internetplattformen Pro-
dukte und Dienstleistungen für einen bestimmten Zeit-
raum zur Nutzung vermitteln und zeitweilige Geschäfts-
beziehungen ermöglichen . Wichtigste Branchen sind die
Personenbeförderung, das Crowdfunding, Dienstleistun-
gen für Haushalte, Unterkunftsvermittlung und die Ver-
mittlung freiberuflicher und technischer Dienstleistun-
gen .
Und sie alle eint, dass es sich bei den Unternehmen
allesamt um relativ junge Firmen handelt .
Eine dritte Gemeinsamkeit ist: Sie alle scheinen einen
Nerv bei Anlegern und Kapitalgebern zu treffen. Bereits
2015 wurde in den Wirtschaftsbereich der Share Eco-
nomy mehr investiert als in den gesamten Social-Me-
dia-Sektor, obwohl dieser Giganten wie Facebook und
Twitter hervorgebracht hat . Es existieren bereits 17 Fir-
men der Share Economy, die mit mehr als einer Milliar-
de Dollar bewertet werden . Wie sehr die Geldgeber an
das Geschäftsmodell glauben, zeigt sich auch daran, wie
schnell es die Unternehmen in den Milliardenclub schaf-
fen: Die Hälfte der Firmen erreichte bereits in weniger
als fünf Jahren nach Gründung dieses schwindelerregen-
de Niveau .
In Deutschland ist die Share Economy großen Tei-
len der Öffentlichkeit weniger aufgrund des damit ver-
bundenen ökonomischen Marktpotenzials als vielmehr
aufgrund der kontroversen Debatte um den Fahrdienst-
vermittler Uber – Stichwort mangelnder Versicherungs-
schutz – und die Unterkunftsplattform Airbnb – Stich-
wort Wohnraumnutzungskonkurrenz – bekannt .
Beide Aspekte, Potenzial wie Herausforderung, sind
wichtig und haben ihre Berechtigung . Sie zeigen die
Ambivalenz, die für die Branche Share Economy cha-
rakteristisch ist: auf der einen Seite neue Unternehmen
mit innovativen Geschäftsideen und entsprechenden Be-
schäftigungsmöglichkeiten, auf der anderen Seite neue
Herausforderungen, etwa in Bezug auf sozialpolitische
Fragestellungen oder Fragen des Verbraucherschutzes
bzw . einerseits der geringere Ressourcenverbrauch durch
die bessere Auslastung und höhere Effizienz, das größere
Angebot und das Mehr an Transparenz sowie die flexi-
blere Verfügbarkeit und andererseits sozialpolitische Fra-
gestellungen, vor allem im Verbraucher- und Arbeitneh-
merschutz .
Das Erfolgsmodell der sozialen Marktwirtschaft als
ordnungspolitischer Rahmen in Deutschland ist grund-
sätzlich dazu geeignet, auch die Share Economy zu er-
fassen. Das heißt, offener Marktzugang für neue Akteure
ja, aber nur unter der Voraussetzung, dass sich der Wett-
bewerb mit herkömmlichen Anbietern auf Augenhöhe –
sprich nach denselben Spielregeln, etwa im Arbeitneh-
mer- und Verbraucherschutz – vollzieht .
Das bedeutet jedoch gerade nicht, dass geltende Spiel-
regeln zwingend aufrechtzuerhalten sind und damit ze-
mentiert werden . Es ist gerade das Kernanliegen des An-
trags der Koalitionsfaktionen, die Bundesregierung dazu
aufzufordern, die bestehende Rechtsordnung vor dem
Hintergrund innovativer Geschäftsmodelle zu durch-
leuchten: Die Monopolkommission hat es zutreffend als
asymmetrische Regulierung benannt, wenn konventio-
nelle Dienste, die einer strikten Regulierung unterliegen,
auf neue Wettbewerber der Share Economy treffen, die
demgegenüber weniger oder gar nicht reguliert werden .
Hier kann es sich in manchen Fällen empfehlen, die be-
stehende Regulierung zu reduzieren oder abzubauen . In
anderen Fällen ist es jedoch gegebenenfalls sinnvoller,
die bestehende Regulierung auch auf neue Akteure zu
übertragen . Der Anspruch lautet daher: gleiche Spielre-
geln für alle, um ein einheitliches „level playing field“
zu erreichen . Hier liegt noch einiges an Arbeit vor uns .
Die EU-Kommission hat im letzten Sommer wichti-
ge Impulse zur Frage formuliert, welche Leitlinien für
die Share Economy von Bedeutung sind . Hierzu hat sie
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22275
(A) (C)
(B) (D)
im Rahmen einer Mitteilung an die Mitgliedstaaten ers-
te Vorschläge für Leitlinien unterbreitet, an der sich die
Share Economy orientieren kann . Konkret fordert die
EU-Kommission die Mitgliedstaaten auf, Vorgaben zu
Haftungsregelungen, Verbraucher- und Nutzerschutz,
Definition von Selbstständigen und Arbeitnehmern und
Besteuerung zu erarbeiten .
Dieser Aufforderung schließen sich die Koalitions-
fraktionen an . Wir fordern die Bundesregierung auf, bis
zum Ende der Legislaturperiode entlang dieser Punkte
Handlungsbedarf und Rechtssetzungsbedarf zu identifi-
zieren und damit einen Ordnungsrahmen für einen fai-
ren und funktionsfähigen Wettbewerb zu erarbeiten . Hier
bietet sich unserer Ansicht nach auch die große Chance,
sich von überholter Regulierung zu verabschieden und
damit die Wirtschaft von überflüssigen Auflagen zu ent-
lasten .
Wir fordern die Bundesregierung auf, Schwellenwer-
te und Abgrenzungskriterien zu ermitteln, um professi-
onelle von gelegentlichen Tätigkeiten zu unterscheiden .
Diese Unterscheidung ist wichtig, damit Privatpersonen
etwa anhand einer maximal zulässigen Zahl an Über-
nachtungen in Privatunterkünften klar erkennen kön-
nen, unter welchen Rechtsrahmen sie fallen und dadurch
Rechtssicherheit erlangen .
Wir fordern die Bundesregierung auf, insbesondere
bestehende Fragen zu Datenschutz und Haftung im Zu-
sammenhang mit Share Economy zu klären .
Wir fordern die Bundesregierung auf, in ihrem En-
gagement für den Breitbandausbau nicht nachzulassen .
Dieser wird die grundlegende Voraussetzung für die
weitere Verbreitung der Share Economy in Deutschland
bleiben . Wir sind hier auf einem guten Weg, die entspre-
chende Infrastruktur für die Digitalisierung technolo-
gieoffen zu errichten und eine konvergente gigabitfähige
Infrastruktur zu schaffen. Dabei wird insbesondere der
Ausbau des Glasfasernetzes, auch für neue Technologi-
en wie 5G, eine wichtige Rolle spielen, gerade um auch
im ländlichen Raum den Menschen die Nutzung der di-
gitalen Möglichkeiten zu ermöglichen . Als Deutscher
Bundestag werden wir die Bundesregierung hier weiter
unterstützen .
Aus rein wirtschaftlicher Perspektive betrachtet ist
der Trend der Share Economy an Europa bislang mehr
oder weniger vorbeigegangen . 12 der 17 „Milliar-
den-Start-ups“ stammen aus den Vereinigten Staaten, nur
ein einziges Unternehmen hat in Großbritannien und da-
mit auf europäischem Boden seinen Sitz . Dieser Zustand
ist bedauerlich . Aber wir dürfen bei aller Euphorie und
Begeisterung von Investoren über neue Geschäftsmodel-
le nicht vergessen, dass Wirtschaft Spielregeln zu folgen
hat . Regulierung ist kein Selbstzweck, sondern folgt in
der Regel einem berechtigten Anliegen .
Für uns als Union ist die Existenz neuer Marktakteure
und Geschäftsmodelle grundsätzlich positiv konnotiert .
Marktzugangsanforderungen sind daher nur dort akzep-
tabel und gerechtfertigt, wo sie erforderlich und verhält-
nismäßig sind . Dies gilt erst recht für komplette Verbote .
Daher würde ich mir wünschen, wenn wir die sich
uns bietende Chance nutzen, einen Ordnungsrahmen zu
schaffen, der ausgewogen und am Allgemeinwohl ori-
entiert für eine nachhaltige Entwicklung der Share Eco-
nomy sorgt . Es bietet sich uns jetzt die Gelegenheit, die
entsprechenden Strukturen im Sinne unserer Wirtschaft
und vor allem der Menschen in unserem Land zu schaf-
fen . Gehen wir es an .
Axel Knoerig (CDU/CSU): Teilen und Tauschen –
das sind die ältesten Grundlagen des Handels .
Mit dem Begriff „Share Economy“ bezeichnen wir
heute das gemeinsame Nutzen von Waren, Dienstleistun-
gen oder Informationen . Das kann sowohl kostenlos als
auch gegen Bezahlung erfolgen .
In der digitalen Wirtschaft sind viele innovative Ge-
schäftsmodelle entstanden:
Die Plattform Wimdu bietet Unterkünfte an .
Die Website MyHammer vermittelt Handwerker .
Und namhafte Autohersteller bieten Car-Sharing an,
etwa BMW mit DriveNow und Mercedes mit car2go .
Diese neuen Konzepte fordern etablierte Anbieter wie
das Taxi- oder Hotelgewerbe heraus .
Hier müssen wir gleiche Bedingungen für alle Markt-
teilnehmer schaffen. Es handelt sich um einen Milliar-
denmarkt .
Share Economy bietet aber auch viele Vorteile, wie
unser Antrag zeigt:
Erstens . Über Online-Plattformen kommen Geschäfts-
beziehungen leicht zustande . Angebot und Nachfrage
lassen sich gut aufeinander abstimmen .
Zweitens . Es entstehen neue Arbeitsbeziehungen . Für
uns als Union halte ich hier fest: Beschäftigte der Share
Economy müssen genauso abgesichert sein wie Kollegen
in anderen Branchen . Und auch für sie muss der Mindest-
lohn gelten . Zugleich ist eine gewisse Flexibilität nötig .
Drittens. Verbraucher profitieren von einer größeren
Vielfalt bei Produkten und Dienstleistungen .
Viertens . Das Prinzip des Teilens verspricht auch
Nachhaltigkeit, wie zum Beispiel einen niedrigeren Res-
sourcenverbrauch. Diese Effekte müssen wir nutzen.
Die genauen Wirkungen und Möglichkeiten der Share
Economy müssen noch geklärt werden . Das Bundesmi-
nisterium für Bildung und Forschung hat hierzu schon
mehrere Projekte initiiert . Das ist ein guter Auftakt . Wei-
tere Projekte müssen folgen .
Auch die anderen Ressorts investieren in die Share
Economy . So wird heute ebenso das Carsharing-Gesetz
des Bundesverkehrsministeriums beraten .
In unserem Antrag gehen wir auf die Regelungsdefi-
zite aller Branchen ein . Wir stellen daher in 18 Punkten
einen Prüfauftrag an die Ministerien .
Einige Forderungen habe ich bereits genannt, weitere
möchte ich hervorheben:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722276
(A) (C)
(B) (D)
Die Bundesregierung soll Schwellenwerte für die ein-
zelnen Branchen vorschlagen, zum Beispiel in Bezug auf
die Anbieter von Unterkünften: Ab welchem Grenzwert
sind sie gelegentlich tätige Privatpersonen oder gewerb-
liche Anbieter?
Zu klären ist auch, wie Start-ups und unser Mittel-
stand in der Share Economy noch gezielter unterstützt
werden können – zum Beispiel durch Beratungsangebote
und Forschungsförderung .
Daran schließt eine weitere Forderung an: Wir erwar-
ten einen Bericht zu den neuen Marktperspektiven für
unsere Unternehmen . Deutsche und europäische Portale
müssen mit den amerikanischen Plattformen mithalten
können . Es gilt, die Chancen der Share Economy zu nut-
zen . Zugleich müssen wir Rechtssicherheit für Unterneh-
men, Beschäftigte und Verbraucher schaffen.
Matthias Ilgen (SPD): Fakt ist: Share Economy ist
ein Motor für mehr Arbeitsplätze . Das liegt unter ande-
rem daran, dass die Beliebtheit von Share Economy bei
den Bürgerinnen und Bürgern in den letzten Jahren stark
gestiegen ist . Mit der Zahl der Anbieter wächst auch das
Wachstumspotenzial jährlich . Eine Bevölkerungsbefra-
gung hat ergeben, dass zukünftig noch mehr Menschen
Share-Economy-Angebote nutzen wollen . Auch bei älte-
ren Bürgern, die bisher seltener solche Angebote wahr-
genommen haben, steigt das Interesse stark an . Fest
steht für mich aber auch: Die Share-Economy-Anbieter
empfinden die unklare Gesetzeslage in Deutschland als
problematisch . Daher stehen wir Parlamentarier vor der
Herausforderung, die Rechtsunsicherheit für alle Betei-
ligten soweit wie möglich zu reduzieren . Hierbei müs-
sen wir darauf achten, dass wir keine nationalen oder am
Ende sogar lokalen Sonderregelungen schaffen.
Dadurch, dass die Anwendbarkeit von Steuerrecht und
Verbraucherschutz teilweise unklar ist, laufen wir Ge-
fahr, einen unfairen Wettbewerb zu schaffen. Die Mono-
polkommission hat es zutreffend als asymmetrische Re-
gulierung charakterisiert, wenn konventionelle Dienste,
die einer strikten Regulierung unterliegen, auf neue Wett-
bewerber der Share Economy treffen, die demgegenüber
weniger oder gar nicht reguliert werden . Hierbei kann es
sich in manchen Fällen empfehlen, bestehende Regulie-
rung zu reduzieren oder vielleicht sogar ganz abzubauen,
auch wenn das manch einer von Ihnen sicherlich nicht
hören möchte .
Ein Thema liegt mir in dieser Debatte als Koordinator
für Existenzgründung besonders am Herzen: die junge
digitale Start-up-Szene . Gemeinsam mit meiner Frakti-
on setze ich mich dafür ein, dass die Rahmenbedingun-
gen für junge innovative Unternehmen und ihr Zugang
zu Wagniskapital weiter verbessert werden . Nur so ist
es uns möglich, innovative Plattformen für Share Eco-
nomy in Deutschland und Europa zu schaffen. Ich hal-
te eine Unterstützung in Form von Beratungsangeboten
für kleine und mittlere Unternehmen sowie Start-ups im
Share-Economy-Bereich für äußerst wichtig . Sie ermög-
lichen unseren jungen digitalen Unternehmen, im glo-
balen Wettbewerb zu bestehen, und helfen, dass unsere
Start-ups und KMUs nicht allein zu Lieferanten von in-
ternationalen Plattformen werden .
Abschließend möchte ich noch auf zwei Punkte ver-
weisen, die wir bei der Debatte um Share Economy
nicht aus den Augen verlieren dürfen . Zum einen, dass
die Kriterien zur Definition von Selbstständigen und Ar-
beitnehmern in der Share Economy nicht auf der Stre-
cke bleiben dürfen . Dazu gehört, dass die bewährten ar-
beitsrechtlichen Standards – wie Abhängigkeit, Art der
Arbeit oder Vergütung – nicht umgangen werden dürfen .
Außerdem muss die soziale Absicherung der Leistungs-
erbringer – wie Clickworker und Scheinselbstständige –
gewährleistet sein . Zum anderen – und damit möchte ich
schließen – brauchen wir als eine der wichtigsten Grund-
voraussetzungen für die Verbreitung der Share Economy
den flächendeckenden Breitbandausbau in Deutschland
mit deutlich höheren Übertragungsgeschwindigkeiten im
Gigabitbereich .
Dr. Hans-Joachim Schabedoth (SPD): So lange ist
es noch nicht her, da hat man noch zum Handy in der Grö-
ße eines Briketts gegriffen, um schnurlos und fernab ei-
nes Telefonanschlusses zu telefonieren . Heute kann man
sich eine Welt ohne auf schlanke Smartphones schauende
Menschen fast nicht mehr vorstellen . Bis vor kurzem war
es größter Wunsch, ein eigenes Auto zu besitzen . Heute
wollen viele Menschen das Auto gar nicht mehr besitzen,
sie wollen sie nutzen und mit anderen teilen, die das Auto
auch nur nutzen wollen . Nutzen oder besitzen? Diese
Frage stellt sich auch für andere Güter . Weitere Beispiele
sind wie schon immer die Bücher und mehr und mehr
Werkzeuge wie Bormaschine, Trennschleifer usw . Und
es gibt auch den Wunsch nach Unterstützung bei Repara-
turen und im Haushalt, sogar ein Austausch gegen eigene
Dienstleistungen .
Wie wird geteilt? Nebst analoger Share-Läden, die
vor allem in Großstädten zu finden sind, prägen Online-
plattformen und ihre Apps die Teilwirtschaft – die Share
Economy . Besonders beliebt, gerade in Großstädten, das
Car Sharing . Die Wagen von Car2Go und DriveNow ge-
hören in Berlin fest zum Stadtbild . Und im Reisebereich
ist Airbnb aus dem Business nicht mehr wegzudenken .
Immer mehr Menschen beziehen auch haushaltsnahe
Dienstleistungen über Internetplattformen wie Book a
Tiger oder Helpling . Dass es sich bei diesen Entwicklun-
gen um einen komplexen Vorgang handelt, zeigen nicht
zuletzt die vielen verschiedenen Dinge, die man auf di-
verse Arten teilen kann .
Analog dazu gibt es zig verschiedene Handlungsan-
sätze und Papiere, die aktuell zu den Themen Plattfor-
mökonomie und Teilwirtschaft kursieren . Jeder Ansatz
ist für sich genommen gut und richtig . Doch anstatt in
der Dunkelheit und mit der Hand Schmetterlinge fangen
zu wollen, sollte man es mal bei Tageslicht mit einem
Netz versuchen . Viele grundsätzliche Fragen sind bislang
nicht abschließend beantwortet worden, zum Beispiel:
Wie kann Share Economy einheitlich definiert werden?
Wie gestalten sich die Arbeitsbedingungen? Wie viele
Menschen sind davon betroffen? Wer haftet?
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22277
(A) (C)
(B) (D)
Bevor man mit dem Regulierungshammer draufhaut und
womöglich den Nagel durch die Wand treibt, müssen die-
se erstmal beantwortet werden . Was wir jetzt brauchen,
ist erst einmal eine solide Datengrundlage . Denn wir
wollen Rahmenbedingungen auf den Weg bringen, die
weder die Plattformen zu sehr in ihrer Bewegungsfreiheit
einschränken noch die Verbraucherrechte der Nutzer aus-
hebeln . Das kann auch helfen, die laufenden, teils sehr
emotionalen Debatten über die verschiedenen regulato-
rischen Aspekte der Share Economy besser einzuordnen .
Viele Diskutanten haben dabei noch die schwarz-weiß
Brille auf . Plattformen sind die Spielwiese prekärer Be-
schäftigung; jedwede regulatorische Eingriffe schränken
die Wettbewerbsfähigkeit ein; Plattformen sind der Altar,
auf dem die Handels- und die Dienstleistungsbranche,
wie das Abendland sie bisher kannte, dem digitalen Wan-
del und dem Wunsch nach Fortschrittlichkeit geopfert
werden .
Nun mal die SIM-Karte im Handy lassen! Von Entwe-
der-oder ist hier nicht die Rede, es gilt ganz klar ein „So-
wohl als auch“-Ansatz . Wirtschaftliche Chancen nutzen,
beschäftigungsrelevante Risiken eindämmen! Bedenken
und Fragen dazu haben wir in unserem Antrag aufgegrif-
fen . Und schon jetzt können wir Veränderungen in der
Branche beobachten . Ein Vorwurf, mit dem sich viele
Plattformen konfrontiert sehen, lautet: Ihr Profit basiere
auf einer modernen Tagelöhnerei . Dieser Vorwurf lässt
sich nicht völlig entkräften, doch manche Firmen haben
bereits einen Kurswechsel eingeleitet . Weg von der Ver-
mittlung von Freiberuflern, hin zu sozialversicherungs-
pflichtiger Beschäftigung und Bezahlung nach Tarif. Sie
haben erkannt, dass sich Prozesssicherheit, Qualität und
das Vertrauen der Kunden auf diese Weise schlicht besser
gewährleisten lassen .
In Zukunft wird die kollaborative Wirtschaft weiter
wachsen . Mehr Menschen werden in diesem Bereich ihr
Geld verdienen . Wir sollten diesen Prozess aufmerksam
begleiten und dafür sorgen, dass gute Arbeit in diesem
Wirtschaftsfeld der Zukunft möglich ist, auch ohne die
Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen einzuschrän-
ken . Wie in vielen anderen Bereichen wird auch hier die
anfängliche Aufregung der Routine weichen . Vielleicht
wird ein eigenes Auto irgendwann wirklich ebenso exo-
tisch wie das Briketthandy von damals .
Klaus Ernst (DIE LINKE): Liebe Kolleginnen und
Kollegen von der CDU und SPD, Sie fordern uns in Ih-
rem Antrag unter anderem auf, Ihre Maßnahmen der Di-
gitalen Agenda und Ihr Engagement zur Gestaltung der
Arbeit im digitalen Zeitalter zu begrüßen . Wollen wir uns
einmal anschauen, was da von Ihrer Seite bisher vorge-
legt wurde .
Ein wesentlicher Bestandteil der Digitalen Agenda ist
der flächendeckende Breitbandausbau. Die Notwendig-
keit eines solchen Ausbaus ist unstrittig . Auf der Seite
des BMWi liest man: „Deutschland will eine Vorrei-
terrolle bei der Durchdringung und Nutzung digitaler
Dienste einnehmen . … Deshalb braucht Deutschland
flächendeckend Hochgeschwindigkeitsnetze.“ Auch hier
könnte die Linke vollumfänglich zustimmen . Nur ist ihre
Forderung alles andere als neu .
Schon 2009 hatte Kanzlerin Merkel Highspeedan-
schlüsse für 75 Prozent der Haushalte bis 2014 verspro-
chen, mit mindestens 50 Mbit/s . Das ist drei Jahre her .
Passiert ist seither nicht viel .
Der Blick auf den Breitbandatlas des BMVI zeigt: Be-
reits ab einer Bandbreite über 6 Mbit pro Sekunde herr-
schen gravierende Versorgungslücken im Bundesgebiet .
Um sich einmal klarzumachen, was 6 Mbit/s bedeuten,
möchte ich ein einfaches Anschauungsbeispiel nennen .
Nehmen wir an, Sie machen mit Ihrem Handy ein Bild
und wollen dieses Ihrer Bekannten schicken . Sagen wir,
das Bild hat die übliche Datengröße von 6 MB . Ihre Be-
kannte wohnt nun vielleicht im Landkreis Bayreuth . Oder
im südwestlichen Schwarzwald . Oder auf dem Land in
Sachsen . Bei einem Internetanschluss von 6 Mbit pro
Sekunde – was einem Datendurchsatz von 0,75 MB pro
Sekunde entspricht – nimmt das Bild eine Downloadzeit
von 8 Sekunden in Anspruch . Sie können jetzt gerne ein-
mal bis acht zählen, um ein Gefühl dafür zu bekommen,
wie lange das ist .
Von einer internationalen Vorreiterrolle sind wir
Lichtjahre entfernt . Fakt ist: Die Bundesrepublik hat
beim Breitbandausbau im internationalen Vergleich den
Anschluss verloren . Wir rangieren im internationalen
Ländervergleich auf den hintersten Plätzen, noch weit
abgeschlagen hinter Rumänien, Tschechien und Irland .
Während andere Staaten wie Australien und Südkorea
bereits mit einer Breitbandversorgung von 100 Mbit pla-
nen, will die Bundesregierung bis zum Jahr 2018 eine flä-
chendeckende Grundversorgung mit mindestens 50 Me-
gabit pro Sekunde fördern .
Zu begrüßen wäre gewesen, hätte die Bundesregie-
rung 2009 ihr Wort gehalten und den Breitbandausbau
bis 2014 umgesetzt gehabt . So bleibt diese Maßnahme
eine längst überfällige Maßnahme, die von der Bundes-
regierung seit Jahren verschleppt wurde .
Nun zum Bereich der zukünftigen Gestaltung von
Arbeit und zu dem Dialogprozess „Arbeiten 4 .0“ . Als
Ergebnis des Arbeitszeitdialoges mit Arbeitgebern und
Gewerkschaften hat Ministerin Nahles angekündigt, den
Achtstundentag in einem Feldversuch aufweichen zu
wollen . Künftig sollen Gewerkschaften und ausgewählte
Arbeitgeber die Möglichkeit bekommen, bei der Arbeits-
zeit über die gesetzlichen Regeln hinauszugehen, sofern
sie dies in einem Tarifvertrag vereinbart haben . Nahles
will dabei herausfinden, ob Flexibilität und Schutz vor
Überlastung zusammengehen . Die Idee, Menschen durch
flexible und längere Arbeitszeiten vor Überlastung schüt-
zen zu wollen, ist absurd . Denn in der Realität richten
sich flexible Arbeitszeiten vor allem nach den Interes-
sen der Arbeitgeber . Um Beschäftigte vor Überlastung
zu schützen, müsste man vielmehr eine Verkürzung der
realen Wochenhöchstarbeitszeit anstreben .
Wie schon bei der Leiharbeit sollen jetzt gesetzliche
Regelungen durch Tarifverträge verschlechtert werden
können . Die Bundesregierung kehrt den Sinn von Tarif-
verträgen um und bedient damit Interessen der Arbeitge-
ber . Das ist ein Missbrauch der Tarifbindung .
Um Beschäftigte effektiv zu schützen, brauchen wir
eine Ausweitung der Mitbestimmungsrechte der Be-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722278
(A) (C)
(B) (D)
triebsräte auf das Arbeitsvolumen und mehr individu-
elle Rechte für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer .
Um Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen zu schützen,
braucht es auch ein Recht auf Nichterreichbarkeit wäh-
rend der Freizeit: eine Anti-Stress-Verordnung . Es ist
oberstes Gebot einer sozialen Politik, sich schützend vor
die Beschäftigten zu stellen und dem Trend, dass Arbeit
zunehmend krank macht, entgegenzuwirken .
Nun geht es in dem Antrag in erster Linie um die soge-
nannte Share Economy . Sie stellen völlig zu Recht fest:
„Der ursprüngliche Gedanke der Share Economy bezog
sich zunächst meist auf das unentgeltliche Teilen und
Tauschen von Gütern unter sozialen und ökologischen
Gesichtspunkten .“ Dieser ursprüngliche Gedanke lebt
in bestimmten Nischen fort und hat seine Existenzbe-
rechtigung und gehört auch aus unserer Sicht gefördert .
Dazu haben die Grünen in ihrem Antrag durchaus ein
paar richtige Positionen, weshalb wir dem Antrag auch
zustimmen werden .
Doch um was es bei Ihnen im Kern im Antrag geht,
hat mit der ursprünglichen Share Economy fast nichts
mehr zu tun . Insofern tue ich mich auch schwer, dies
überhaupt mit dem Begriff „Share Economy“ oder „kol-
laborative Wirtschaft“ fassen zu wollen . Oftmals geht es
bei diesen vermeintlich innovativen Geschäftsmodellen
in erster Linie um die Unterlaufung bestehender Stan-
dards und Regelungen, insbesondere auch von Verbrau-
cher und Arbeitnehmerschutzrechten . Insofern ist in den
meisten Fällen für mich nicht erkennbar, warum darüber
nachgedacht wird, hier Regelungen unter dem tatsächli-
chen oder vermeintlichen Druck neuer Geschäftsmodelle
aufweichen zu wollen . Da schütten Sie das Kind mit dem
Bade aus . Davor kann ich nur warnen .
Es muss vielmehr gesichert sein, dass die bestehen-
den Regeln und Schutzstandards umfassend, effektiv
und überprüfbar angewendet werden können . Doch so
weit sind wir ja noch nicht; erst einmal wollen Sie viel
prüfen, berichten und vorschlagen lassen . Insofern sage
ich in Richtung der Regierung: Prüfen Sie ehrlich! Diffe-
renzieren Sie, wo es um primär ökologische und soziale
Gesichtspunkte geht und wo um knallharte Geschäftsin-
teressen bzw . wo Geschäftsmodelle primär durch die Un-
terlaufung von Standards funktionieren! Und schlagen
Sie hier differenzierte, aber wirksame Lösungen vor!
Wir sind gespannt, aber skeptisch, ob die Prüf- und
Berichtsaufträge hier mit der richtigen Intention abge-
schickt werden . Insofern können wir diesem Antrag nicht
zustimmen .
Dieter Janecek (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Eine
Sache gleich vorweg, weil das in der öffentlichen Debat-
te oftmals nicht und im Antrag der Koalitionsfraktionen
leider gar nicht deutlich wird: Share Economy ist mehr
als Uber und Airbnb . Es ist richtig und wichtig, dass die
Themen solidarische Wirtschaft und gemeinschaftliche
Konsumformen heute Eingang in die Tagesordnung des
Deutschen Bundestags gefunden haben . Wir brauchen
dringend neue Ideen, wie wir gleichzeitig unseren Wohl-
stand erhalten und Ressourcen einsparen können, und
innovative Geschäftsmodelle, die Teilen statt Besitzen
ermöglichen . Immer mehr Menschen nutzen die bereits
existierenden Angebote, registrieren sich für Carsharing,
anstatt sich ein Privatfahrzeug zuzulegen, und erkennen,
dass für ihre persönliche Lebensqualität die Verfügbar-
keit von Dingen entscheidend und Eigentum kein Selbst-
zweck ist . Die Akteure der Share Economy sind vielfältig,
aktiv und kreativ . Mit dieser Debatte hier im Deutschen
Bundestag haben wir die Chance, dies entsprechend zu
würdigen und Modellen des gemeinwohlorientierten Tei-
lens auch politisch Angebote zu machen . Innovation in
diesem so zentralen Bereich für die ökologisch-soziale
Modernisierung unserer Wirtschaft ist unbedingt unter-
stützenswert .
Leider hat die Große Koalition diese Chance heute ver-
passt . Aus Ihrem Antrag geht doch ziemlich deutlich her-
vor, dass der Begriff Share Economy in Ihrer Vorstellung
eher so etwas wie ein Platzhalter für Uber und Airbnb ist .
Die Vielfalt der Szene und die zahlreichen, innovativen
Social Entrepreneurs und grünen Gründungen klammern
Sie in Ihrem Antrag vollständig aus . Stattdessen konzen-
trieren Sie sich auf die etablierten, großen Plattformen,
vor allem im Bereich der Vermittlung von Dienstleistun-
gen . Und es genügt Ihnen, in diesem Zusammenhang die
altbekannten Problemstellungen zu beschreiben, ohne –
und das ist zugegebenermaßen auch nicht ganz einfach;
da werden wir auch noch viele Gespräche und die eine
oder andere ausführliche Diskussion führen müssen – ab-
schließende Antworten zu finden. Aber selbst dort, sehr
geehrte Damen und Herren der Großen Koalition, wo Sie
von Chancen sprechen, verkennen Sie das Offensichtli-
che und ignorieren das Selbstverständnis der Mehrheit
der Szene . Sie tun gerade so, als wäre Share Economy
nicht mehr als ein trendiges Label für einen Marktsektor
unter vielen, den Sie dann in guter schwarz-roter Traditi-
on nach Ihren klassischen Kriterien für wirtschaftlichen
Erfolg bemessen und dem Sie vor allem vor dem Hin-
tergrund möglicher Wachstumschancen zunehmende Be-
deutung zumessen .
Dabei geht gerade der Ansatz, die Chancen der Sha-
re Economy unter dem Titel Wachstumschancen zu dis-
kutieren, völlig am Kern der Szene und ihrer Leitidee
vorbei und zeigt leider wieder einmal, wie wenig sich
Ihre Fraktionen unter dem Thema nachhaltiges Wirt-
schaften vorstellen können und wie schwer sie sich da-
mit tun, moderne Antworten auf die Digitalisierung zu
finden. Wir haben in diesem Plenum bereits mehrmals
darüber gesprochen, zuletzt auch in der Debatte zum Jah-
reswirtschaftsbericht in Gegenüberstellung zum grünen
Jahreswohlstandsbericht: Es ist allein schon nicht mehr
zeitgemäß, im Bereich der klassischen Ökonomie wirt-
schaftlichen Erfolg ausschließlich mit Blick auf quan-
titatives Wachstum und Innovation in erster Linie über
die Zahl von Neugründungen zu messen . Dass Sie das
aber gerade bei der Share Economy tun, die ja nicht zu-
fällig in einem engen Zusammenhang mit konsum- und
wachstumskritischen sozialen Bewegungen steht, muss
als komplette Themaverfehlung gewertet werden .
Dabei ist das eigentliche Potenzial der Share Economy
und der daraus resultierende politische Handlungsbedarf
doch schon durch den Begriff ersichtlich: Es muss da-
rum gehen, Teilen statt Besitzen zu unterstützen und die
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22279
(A) (C)
(B) (D)
damit einhergehenden ökologischen Chancen zu nutzen .
Die Chancen der Share Economy liegen in ressourcen-
schonenden Lebensentwürfen, nachhaltiger Mobilität,
neuen Einstellungen zu Konsumgütern, einer gestärkten
Rolle der Zivilgesellschaft in der Ökonomie, und – und
das kann man gar nicht deutlich genug betonen – sie kann
einen wichtigen Beitrag zur ökologisch-sozialen Moder-
nisierung unseres Wirtschaftssystems leisten . Sie ist kein
Wirtschaftszweig wie jeder andere, der momentan auf-
grund guter Entwicklungschancen Ihre Aufmerksamkeit
verdient, sondern sie ist und kann unter den entsprechen-
den politischen Rahmenbedingungen eine bedeutende
soziale Innovation sein, die sich quer durch die verschie-
denen Branchen zieht und dort zu Ressourceneinsparun-
gen und Effizienzgewinnen führt.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Die Vorschläge, die
Sie mit Ihrem Antrag vorlegen, sind ja alle so nicht ver-
kehrt . Niemand hat etwas dagegen, unseren Informati-
onsstand zur Share Economy zu verbessern, Rechtsunsi-
cherheiten zu benennen, die Bedingungen für KMU und
Start-ups zu verbessern oder den Breitbandausbau vor-
anzutreiben . Nur haben die meisten Ihrer Forderungen
mit Share Economy erst einmal nur bedingt etwas zu tun .
Und wenn Sie den Begriff dann doch aufgreifen, dann
machen Sie keinerlei Vorschläge, wie Sie konkret und
explizit Modelle des allgemeinwohlorientierten Teilens
unterstützen wollen . Die Tatsache, dass Sie Ihren eige-
nen Antrag offensichtlich weder im Plenum noch in den
Ausschüssen debattieren möchten, spricht da auch für
sich. Wir werden uns deshalb, was Ihren Antrag betrifft,
sehr geehrte Damen und Herren der Großen Koalition,
enthalten .
Wenn es Ihnen tatsächlich darum geht, die Potenziale
der Share Economy zum Tragen zu bringen, dann sor-
gen Sie für Folgendes: Die Ideen und Konzepte gemein-
schaftlicher Konsumformen müssen endlich Einzug in
die klassische Wirtschaftspolitik finden, fest verankert in
einer politischen Strategie „Solidarische Wirtschaft“ mit
Zuständigkeit einer Staatssekretärin oder eines Staats-
sekretärs im Bundeswirtschaftsministerium . Modelle
des gemeinwohlorientierten Teilens müssen politisch
gestärkt werden, wobei gerade nicht profitorientierte
Gründungen eine besondere Berücksichtigung erfahren
müssen und durch gezielte Maßnahmen wie Bürokra-
tieabbau, eine Ausweitung der elektronischen Verwal-
tungsdienstleistungen und die Überarbeitung veralteter
Regularien mehr Freiräume erhalten . Meine Fraktion hat
Ihnen dazu ja bereits Vorschläge vorgelegt .
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Güterkraftverkehrsgesetzes, des Fahr-
personalgesetzes, des Gesetzes zur Regelung der
Arbeitszeit von selbständigen Kraftfahrern, des
Straßenverkehrsgesetzes und des Gesetzes über
die Einrichtung eines Kraftfahrt-Bundesamtes
(Tagesordnungspunkt 21)
Karl Holmeier (CDU/CSU): Mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf passen wir das Güterkraftverkehrsgesetz
an mehreren Stellen redaktionell an und nehmen ver-
schiedene Klarstellungen vor . Gleiches gilt für das Fahr-
personalgesetz, das Gesetz zur Regelung der Arbeitszeit
von selbständigen Kraftfahrern, das Straßenverkehrs-
gesetz und das Gesetz über die Errichtung eines Kraft-
fahrt-Bundesamtes .
Im GüKG besteht darüber hinaus bei der nationa-
len Erlaubnis die Besonderheit, dass diese im Falle der
Wiedererteilung unbefristet erteilt wird . Dies stellt eine
Diskrepanz zum europäischen Recht dar und bereitet
Schwierigkeiten im Verwaltungsvollzug . Darüber hinaus
ist es erforderlich, eine Ermächtigungsgrundlage für die
Speicherung bestimmter Verstöße des Unternehmers und
des Verkehrsleiters zu schaffen. Hiermit wird eine aus
dem europäischen Recht stammende Vorgabe umgesetzt .
Transport und Logistik bilden das Rückgrat unse-
rer Industrie, unserer Wirtschaft und unseres täglichen
Lebens . Der jährliche Umsatz der Logistikbranche hat
sich in den letzten 20 Jahren fast verdoppelt, auf etwa
250 Milliarden Euro . Transport und Logistik haben
damit als Wirtschaftsfaktor und Arbeitsplatz enorme
Relevanz für die deutsche Volkswirtschaft . Nahezu
3 Millionen Beschäftigte in Deutschland zeigen täglich
ihre Flexibilität, Kreativität und Schaffenskraft in der
Logistikbranche . Rund 10 Prozent der sozialversiche-
rungspflichtig Beschäftigten in Deutschland arbeiten in
der Logistikbranche . Jeder Sechste von ihnen fährt auf
unseren Straßen und ist wesentlicher Stützpfeiler unse-
res wirtschaftlichen Erfolges . Die Branche ist dabei auf
faire Arbeits- und Wettbewerbsbedingungen angewiesen .
Gerade durch den zunehmenden Wettbewerb osteuropä-
ischer Fuhrunternehmen geraten die Sozialstandards im
Straßengüterverkehr hierzulande verstärkt unter Druck
und bringen sozial verantwortlich handelnde Unterneh-
men in Bedrängnis . Dem gilt es politisch entgegenzuwir-
ken, um fairen Wettbewerb und gute Arbeitsbedingungen
zu ermöglichen .
Mehr als 40 Prozent aller mautpflichtigen Verkehre
in Deutschland werden inzwischen durch gebietsfremde
Transportunternehmen, insbesondere aus den östlichen
EU-Mitgliedstaaten, geleistet . Seit der fünften Erweite-
rung der Europäischen Union 2004 hat sich das Lohn- und
Sozialkostengefälle im Straßengüterverkehr verstärkt .
Es bestehen starke Anreize, große Fuhrparkflotten aus
Deutschland in die neuen EU-Länder zu verlegen . Die
Dienstleistungsfreiheit im Verkehr wird dabei oft ausge-
nutzt, um Betriebsstandorte lediglich formell zu verle-
gen. Ausgeflaggte Fuhrparkkapazitäten bleiben faktisch
in Deutschland und auf den Hauptmärkten . Fahrzeuge
und Fahrerinnen und Fahrer sind zu Arbeitsbedingungen
ihres Entsendelands tätig . Mittelständische Transportun-
ternehmen, die bei Lohn-, Sozialkosten und Arbeitsbe-
dingungen den westeuropäischen Standards entsprechen,
werden aus dem Markt gedrängt . Viele Fahrerinnen und
Fahrer kehren erst nach Wochen oder Monaten an ihren
Betriebsstandort zurück . Ruhezeiten und private Freizeit
werden im Führerhaus, an Raststätten, Umschlags- oder
Hafenanlagen verbracht . Selbst minimale Sozialstan-
dards werden ihnen dabei vorenthalten .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722280
(A) (C)
(B) (D)
Hier muss dringend gehandelt werden . Das tun wir . Es
gilt, einen fairen Wettbewerb im grenzüberschreitenden
Straßengüterverkehr zu ermöglichen sowie Lohn- und
Sozialdumping zu unterbinden. Dem Umflaggen von
Fuhrparkflotten und der Gründung von Briefkastenfir-
men muss zum Wohle des deutschen Arbeitsmarktes ent-
gegengewirkt werden .
Die Bundesregierung muss die wettbewerbsverzerren-
den und unfairen Arbeitsbedingungen bekämpfen . Dies
alles haben wir zum Wohle des deutschen Transportlo-
gistikgewerbes ausführlich in unserem Entschließungs-
antrag aufgeführt und gefordert .
Im Fall des Verbringens der wöchentlichen Ruhezeit
im oder um das Führerhaus haben wir mit unserem Än-
derungsantrag eine wichtige Klarstellung gemacht: Die
regelmäßige wöchentliche Ruhezeit darf nicht im Fah-
rerhaus verbracht werden . Eine Zuwiderhandlung führt
zu einer Sanktion .
In einem gemeinsamen europäischen Binnenmarkt
muss mittelfristig eine europäische Regelung geschaf-
fen werden . Solange diese nicht vorliegt, müssen wir
als nationaler Gesetzgeber handeln . Mit unserer Rege-
lung wollen wir vor allem die ohnehin sehr belasteten
Fahrer – wie uns im Rahmen der Expertenanhörung ein-
drucksvoll verdeutlicht worden ist – vor menschenun-
würdigen Verhältnissen schützen und somit gleichzeitig
die Attraktivität des Kraftfahrerberufs verbessern . Das ist
gleichzeitig auch ein wesentlicher Beitrag zur Erhöhung
der Verkehrssicherheit auf unseren Straßen und stellt fai-
re Wettbewerbsbedingungen sicher .
Wir wollen schließlich auch der zum Teil prekären Si-
tuation auf deutschen Rastplätzen an den Grenzen zu den
Nachbarländern Rechnung tragen . Im Grenzbereich zu
den Mitgliedstaaten der EU, die bereits durch nationale
Regelungen Sanktionen in Bezug auf Verstöße gegen die
Regelungen zur regelmäßigen wöchentlichen Ruhezeit
eingeführt haben, kommt es auf den Rastplätzen zuneh-
mend zu Ausweichentwicklungen, die zu unmenschli-
chen Zuständen auf den Rastanlagen führen .
Unser Gesetzentwurf ist ein erster Schritt . Eine euro-
päische Regelung ist dringend notwendig, und so werden
wir die Thematik in der kommenden Wahlperiode erneut
auf die Tagesordnung bringen, in enger Zusammenarbeit
mit dem deutschen Transportlogistikgewerbe und zu sei-
nem Wohle .
Oliver Wittke (CDU/CSU): Mit unserem heutigen
Beschluss nehmen wir Änderungen am Güterkraftver-
kehrsgesetz, am Fahrpersonalgesetz, am Gesetz zur Re-
gelung der Arbeitszeit von selbständigen Kraftfahrern,
am Straßenverkehrsgesetz und am Gesetz über die Er-
richtung eines Kraftfahrt-Bundesamtes vor . Eine ganz
wesentliche Änderung ist dabei die Aufnahme eines
Bußgeldtatbestands in das Fahrpersonalgesetz, der eine
Bußgeldbewehrung vorsieht, wenn die regelmäßige wö-
chentliche Ruhezeit in der Fahrerkabine verbracht wird .
Wir sorgen damit für eine dringend benötigte Klarstel-
lung des heute schon im EU-Recht geltenden Verbots,
geben der Bundesregierung das notwendige Werkzeug
zur Ahndung an die Hand und schieben dem Nomaden-
tum von Lkw-Fahrern an deutschen Autobahnraststätten
einen Riegel vor . Damit schützen wir die Kraftfahrer vor
den teils menschenunwürdigen Verhältnissen, die wir
heute noch an Autobahnraststätten und Parkplätzen vor-
finden.
Wir verbinden diesen Schritt auch mit der Hoffnung,
der Diskussion auf europäischer Ebene durch unseren
Schritt neue Dynamik zu verleihen . Nachdem Belgien,
Frankreich und jetzt auch Deutschland eigene natio-
nale Regelungen getroffen haben, steigt der Druck auf
die Länder, die sich derzeit noch einer klar formulierten
europaweiten Regelung verweigern . In diesem Zusam-
menhang begrüße ich auch den von Minister Dobrindt
im Januar in Paris unterzeichneten Aktionsplan Deutsch-
lands und acht weiterer westeuropäischer Länder . Wir
werden in unserem Kampf gegen das Sozialdumping im
Straßengüterverkehr nicht nachlassen und weiterhin für
die Rechte der Lkw-Fahrer und faire Wettbewerbsbedin-
gungen für unsere Unternehmen kämpfen .
Vor diesem Hintergrund haben CDU/CSU und SPD
auch einen Entschließungsantrag eingebracht, der sich
mit diesen und weiteren Herausforderungen beschäftigt .
In den kommenden Jahren müssen wir Antworten auf die
drängenden Fragen finden, wie wir fairen Wettbewerb
und die Beachtung europäischer und nationaler Sozial-
vorschriften sicherstellen . Dafür bedarf es der Weiterent-
wicklung des Rechtsrahmens in Europa und Deutschland .
Wichtig ist uns auch die Stärkung der Attraktivität des
Berufs des Kraftfahrers . Die heute zu beschließende neue
Regelung zu den Lenk- und Ruhezeiten leistet zwar ei-
nen Beitrag hierzu, aber weitere Schritte müssen folgen .
Dazu gehören familienfreundliche Arbeitszeiten oder
auch bessere Bedingungen an den Laderampen .
Wir müssen die Meldepflichten und -systeme und die
Zusammenarbeit und den Informationsaustausch zwi-
schen Behörden verbessern, die Kontrollen intensivieren
und Verstöße konsequenter sanktionieren . Wir dürfen
nicht weiter zulassen, dass sich insbesondere osteuropä-
ische Wettbewerber mit niedrigeren Sozial-, Lohn- und
Sicherheitsstandards einen Vorteil vor unseren inländi-
schen Unternehmen verschaffen.
Viele der relevanten Regelungsbereiche liegen in der
Zuständigkeit der Europäischen Union . Daher fordern
wir die Bundesregierung auf, sich auf Europäischer Ebe-
ne für eine entsprechende Weiterentwicklung des Rechts-
rahmens einzusetzen . Dazu gehört nicht nur die bereits
erwähnte Regelung zur Verbringung der Lenk- und Ru-
hezeiten, sondern auch der Einsatz für eine stärkere Beto-
nung der sozialen Aspekte in der erwarteten Straßenver-
kehrsinitiative der Europäischen Kommission .
Wichtig ist uns zudem, dass die Bundesregierung zü-
gig zu einem Abschluss des Vertragsverletzungsverfah-
rens zur Anwendung des Mindestlohns im Transportge-
werbe kommt . Hier brauchen wir endlich eine Lösung,
die fairen Wettbewerb zwischen in- und ausländischen
Unternehmen sicherstellt .
Spätestens im Frühjahr 2018, wenn die Bundesregie-
rung an den Verkehrsausschuss berichtet, werden wir das
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22281
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Thema erneut auf der Tagesordnung haben . Die Trans-
port- und Logistikbranche mit ihren fast 3 Millionen
Beschäftigten kann sich darauf verlassen, dass wir die
Entwicklungen weiterhin aktiv begleiten und notwen-
dige Anpassungen energisch einfordern und umsetzen
werden .
Udo Schiefner (SPD): Katastrophal und men-
schenunwürdig geht es auf deutschen Autobahnrastplät-
zen gerade an den Wochenenden und vor allem in Grenz-
nähe zu Frankreich, Belgien und den Niederlanden zu .
Bei unseren westlichen Nachbarn wird das Verbringen
der regelmäßigen wöchentlichen Ruhezeit mit Bußgeld
bestraft . Die Lkw stehen deshalb alle auf unserer Rhein-
seite. Auf Rastplätzen für normalerweise 90 befinden
sich regelmäßig über 200 Fahrzeuge . Deren Fahrer haben
nicht das Geld, um kostenpflichtige Toiletten oder Du-
schen zu benutzen . Sie sind monatelang unterwegs, nicht
nur wochenlang . Sechs oder neun Monate sind keine Sel-
tenheit . Die Fahrer kommen nicht mehr nach Hause; sie
haben keine sozialen Kontakte mehr, keine Bindung zu
ihrer Familie . Das sind unwürdige Zustände .
Mit diesen deutlichen Worten wurden uns die Zustän-
de auf unseren Autobahnraststätten am Montag dieser
Woche geschildert. In der öffentlichen Anhörung zu dem
Gesetzespaket, das heute zur Abstimmung steht, wurde
ausgiebig und eindrücklich aus der Praxis auf der Straße
geschildert . Wir alle kennen die Bilder und Geschich-
ten über die Bedingungen im Straßengüterverkehr in-
zwischen aus zahlreichen Fernsehberichten . Einige von
uns konnten das Elend auch persönlich in Augenschein
nehmen . Ich war zuletzt Weihnachten bei Fahrern auf
Autobahnrastplätzen, die das Fest der Familie fern ih-
rer Heimat verbringen mussten . In dem Zusammenhang
will ich all den deutschen Fahrern danken, die sich in
Kraftfahrerkreisen organisieren und zum Beispiel Weih-
nachtsaktionen für ihre Kollegen, vor allem aus Osteuro-
pa, durchführen .
Die eindrücklichen Schilderungen in der Anhörung
haben alle Anwesenden im Verkehrsausschuss spürbar
berührt . Sollten noch Zweifel daran bestanden haben,
dass wir gegen das moderne Nomadentum dringend han-
deln müssen: Seit Montag hat diese Zweifel sicher keiner
mehr .
Uns wurde vor Augen geführt, dass wir über Güter-
kraftverkehr und Fahrpersonal nicht sprechen können,
ohne über faire Arbeits- und Wettbewerbsbedingungen
zu sprechen . Auf deutschen Autobahnen sollte beides
selbstverständlich sein . Doch wir sehen, wie erschre-
ckend anders die Realität aussieht .
Das Leid der Fahrer ist dabei die eine Seite der Me-
daille . Leiden tut auch das Gewerbe . Große Teile des
deutschen Transportlogistikgewerbes sind akuten Wett-
bewerbsverzerrungen ausgesetzt . Ehrliche Logistik- und
Transportunternehmen, die ihre Mitarbeiter fair bezah-
len, soziale Standards einhalten und Umläufe so planen,
dass die Fahrer regelmäßig am Wochenende zu Hause
sein können, verlieren zunehmend Aufträge . Ihre Exis-
tenz ist bedroht . Die Spediteure und ihre Fahrerinnen und
Fahrer, die Menschen am Steuer der Lkw, fahren am Li-
mit . Sie leiden darunter, dass auf deutschen Autobahnen
zu viele schwarze Schafe zu unscharfe Regeln ausnutzen
und geltendes Recht missachten . Diese schwarzen Scha-
fe stammen keineswegs nur aus Osteuropa . Auch für ei-
nige in Westeuropa ansässige große Unternehmen gehört
das zu ihrem Geschäftsmodell .
Wir müssen politisch handeln . Das wissen wir seit
Jahren . Endlich tun wir es . Am Montag wurde auch deut-
lich benannt, wie wir handeln können: Ein Instrument,
etwas zu ändern, wäre es, die regelmäßige wöchentliche
Ruhezeit vernünftig und menschenwürdig zu regulieren .
Genau das Instrument, über das wir heute hier diskutie-
ren, ist meiner Meinung nach eines der Schlüsselelemen-
te, schrieb uns Udo Skoppeck, aktiver Fernfahrer und
Aktivist für Fernfahrerrechte, ins Lastenheft . Wir haben
die Forderung aufgenommen und im Verkehrsausschuss
eine kleine, aber entscheidende Änderung zum Fahrper-
sonalgesetz beschlossen .
Um Missverständnissen vorzubeugen, will ich noch
einmal benennen, was wir verbieten . Es geht um die re-
gelmäßige wöchentliche Ruhezeit im Lkw . Mit Artikel 8
Nummer 8 der EU-Verordnung 561/2006 ist die Voraus-
setzung gegeben, um zu unterbinden, dass die regelmä-
ßige wöchentliche Ruhezeit im Fahrzeug verbracht wird .
Die EU-Verordnung sagt: In zwei jeweils aufeinander-
folgenden Wochen hat der Fahrer mindestens zwei regel-
mäßige wöchentliche Ruhezeiten oder eine regelmäßige
wöchentliche Ruhezeit und eine reduzierte Wochenru-
hezeit von mindestens 24 Stunden einzuhalten . Wichtig
sind hier die zu unterscheidenden Begriffe „regelmä-
ßige“ und „reduzierte“ wöchentliche Ruhezeit . Weiter
heißt es nämlich, dass nicht am Standort eingelegte täg-
liche Ruhezeiten und reduzierte wöchentliche Ruhezei-
ten im Fahrzeug verbracht werden können . Regelmäßige
wöchentliche Ruhezeiten im Fahrzeug werden in dieser
Ausnahme explizit nicht benannt . Dem EU-Recht fol-
gend können und müssen wir das Verbringen der regel-
mäßigen wöchentlichen Ruhezeit im Fahrzeug verbieten
und ahnden .
Keine Frage: Die Klarstellung zum Verbot des Ver-
bringens der wöchentlichen Ruhezeit im Lkw, die wir
nun beschließen, ist nur ein Mosaikstein . Eigentlich wäre
eine europäische Regelung notwendig, die keinerlei In-
terpretationsspielraum bietet . Eigentlich müssen wir
noch viele weitere Aspekte angehen, wollen wir fairen
Wettbewerb und faire Arbeitsbedingungen im Transport-
und Logistikgewerbe garantieren .
In unserem Entschließungsantrag haben wir dazu
Punkte benannt . Der Bundesregierung haben wir damit
wichtige Aufgaben gestellt . Ich erwarte, dass wir im
Frühjahr 2018 erste Ergebnisse präsentiert bekommen .
Schon jetzt aber kommt, wenn uns der Bundesrat zu-
stimmt, der kleine Mosaikstein, der, wie ich sicher bin,
große Wirkung haben wird . In der Diskussion um das
Fahrpersonalgesetz wurde im Vorfeld häufig angezwei-
felt, dass das Verbot des Verbringens der regelmäßigen
wöchentlichen Ruhezeit durchsetzbar sei . Dazu haben
wir Montag wichtige Hinweise erhalten: Niederlande,
Belgien und Frankreich zeigen bereits, dass das Verbot
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722282
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kontrollierbar ist . Die Problematik der Kontrollen liegt
bislang einzig darin, dass das „Schwert nicht schneidet“ .
Mit dem heutigen Beschluss schärfen wir in jedem
Fall das Schwert . Damit es schneidet, sind die Kontroll-
behörden in der Pflicht und haben alle Möglichkeiten –
wie ihre Kolleginnen und Kollegen in unseren westlichen
Nachbarstaaten –, das Verbot durchzusetzen . Ich erwarte
effektive Schwerpunktkontrollen, die deutlich abschre-
ckenden Charakter haben müssen . Dazu sind integrative
Kontrollen unter Einbindung von Polizeien, BAG, Zoll
und auch Ämtern für Arbeitsschutz notwendig . Zudem
müssen wir die Möglichkeiten der Digitalisierung noch
besser nutzen . Mit dem digitalen Tachografen wird
schon bald vieles einfacher . Ein obligatorischer digitaler
Frachtbrief ist darüber hinaus dringend geboten . Das for-
dern wir in unserem Entschließungsantrag .
Ich will enden mit einem Zitat aus der Anhörung, das
sich mir eingebrannt hat: „Ich weiß nicht, warum die
Bevölkerung und die gesamte Politik – ich spreche jetzt
die ganze Runde an – glauben, dass wir Kraftfahrer das
stoisch mitmachen, nur weil es sich so eingebürgert hat .“
Vollkommen richtig; Nicht das Gewohnheitsrecht, son-
dern das gesetzte Recht muss gelten . Zur Frage der Ru-
hezeit im Lkw gibt es eine EU-Verordnung und nun auch
eine entsprechende Klarstellung im Fahrpersonalgesetz,
und diesen Regelungen verschaffen wir Geltung.
Thomas Lutze (DIE LINKE): Die Erteilung natio-
naler güterkraftverkehrsrechtlicher Zulassungen erfolgt
bislang für bis zu zehn Jahre . Bei einer Verlängerung ist
diese bisher aber unbefristet zu erteilen . Dass dies nun,
in Übereinstimmung mit dem EU-Recht, dahin gehend
geändert werden soll, auch diese nur für zehn Jahre zu
erteilen, ist sinnvoll .
Verstöße von Güterkraftverkehrsunternehmen werden
bislang nicht in der Verkehrsunternehmensdatei beim
BAG geführt, sondern an zwei anderen Stellen gespei-
chert, um Dopplungen zu vermeiden . Die EU hat nun
vorgeschrieben, dass klar definierte, schwerste Verstöße
in diese Datei aufzunehmen sind . Dies anzupassen war
notwendig .
Im Entschließungsantrag der Koalition werden eine
Reihe sinnvoller Dinge gefordert, die über den Ände-
rungsantrag hinausgehen . Dem können wir bis auf eine
Ausnahme zustimmen . Dass es sich hierbei jedoch aus-
gerechnet um die wöchentlichen Ruhezeiten handelt, ist
äußerst bedauerlich . Im Antrag wird sich dafür ausge-
sprochen, entgegen dem mit dem Änderungsantrag ein-
geführten klaren Verbot, die Regelungen auf EU-Ebene
dahin gehend zu regeln, dass wöchentliche Ruhezeiten
im Fahrerhaus verbracht werden können . Die Ruhezei-
ten im Fahrerhaus sollen zwar verkürzt werden, dennoch
reicht diese Regelung nicht aus .
Verdi hat in der Anhörung des Verkehrsausschusses
zu Recht darauf hingewiesen, dass der Änderungsantrag
der Koalition nicht ausreichend ist . Die Formulierung,
dass „nicht geeignete Schlafmöglichkeiten“ sanktioniert
werden sollen, ist alles andere als rechtssicher . Der Bun-
desrat hat einen Vorschlag gemacht, der dies eindeutig in
einem neuen Paragrafen definiert hätte. Dem hätte man
folgen sollen .
Zur Verbringung der wöchentlichen Ruhezeiten hatten
wir ein Berichterstattergespräch, bei dem Frau Staatsse-
kretärin Bär auf Zeit spielen wollte, während sich alle
vier Fraktionen dafür aussprachen, den untragbaren
Zuständen insbesondere in Grenznähe zu Belgien und
Frankreich einen Riegel vorzuschieben . Wir begrüßen
daher, dass diesbezüglich nun zumindest überhaupt et-
was geschieht . Da sowohl die Unternehmen als auch die
Fahrer bestraft werden können, bleibt unklar, inwieweit
die Haftungsfrage geregelt ist: Wer muss bei Vergehen
etwas zahlen? Es wäre durchaus möglich gewesen, le-
diglich die Unternehmen haften zu lassen . Bei Verstößen
könnte das Fahrzeug dann so lange festgehalten werden,
bis das Unternehmen die Buße hinterlegt hat . So sind
jetzt jedoch Streitigkeiten über das Verursachen der Ver-
fehlungen vorprogrammiert . Besser wäre es gewesen,
den Weg des Bundesrates zu gehen, der dies explizit als
Verbot regeln will und Sanktionen zudem nur für Unter-
nehmen, nicht auch für Fahrer, einführen möchte .
In etwa zwei Monaten ist ein Urteil des EuGH zur
Frage der Reichweite des EU-Rechts zu erwarten . Auch
nach der Anhörung ist mir nicht klar, warum man das Ur-
teil nicht einfach abwartet und dann schaut, was national
zu regeln ist .
Der Entschließungsantrag beschreibt in seinem Fest-
stellungsteil zutreffend die schwierige Situation des na-
tionalen Güterkraftverkehrs . Es sei an dieser Stelle der
Hinweis erlaubt, dass man bei Kroatien keinen Gebrauch
von der Möglichkeit gemacht hat, die dortigen Unterneh-
men weiter von der Kabotage auszuschließen . Dies wird
mit dem Gesetzentwurf nachvollzogen, ist aber bereits
seit Sommer 2015 wirksam . Hier hat man sich also wei-
tere Konkurrenz sozusagen ins Haus geholt .
Den Prüfauftrag hinsichtlich der verkürzten wöchent-
lichen Ruhezeiten, die eben doch in der Fahrerkabine
verbracht werden dürfen, also die Umläufe von zwei
auf drei Wochen im EU-Recht zu verankern, sehen wir
kritisch . Deswegen enthalten wir uns bei diesem Antrag,
auch wenn wir allen weiteren Forderungen zustimmen
können .
Die Durchsetzung des Mindestlohns ist uns natürlich
ebenfalls ein großes Anliegen . Deswegen begrüßen wir
die Anpassung der Meldepflichten. Der Prüfauftrag an
dieser Stelle ist allerdings zu schwach .
Stephan Kühn (Dresden) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Auf der Seite des Bundesverkehrsministeriums
habe ich folgende Definition zum Begriff „Logistik“ ent-
deckt: „Unter dem Begriff ‚Güterverkehr und Logistik‘
werden alle Maßnahmen verstanden, die notwendig sind,
um Güter in der richtigen Menge, im richtigen Zustand,
zum richtigen Zeitpunkt, mit den richtigen Informationen
und zu minimalen Kosten am richtigen Ort bedarfsge-
recht zur Verfügung zu stellen“ . Ende des Zitats .
Von vernünftigen Arbeitsverhältnissen und fairer Ent-
lohnung der Beschäftigten ist nicht die Rede; stattdessen
werden die minimalen Kosten besonders hervorgehoben .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22283
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Die „Billigstrategie“ im Bereich des Straßengüterver-
kehrs hat dabei in eine fatale Abwärtsspirale geführt und
Sozialdumping erst ermöglicht .
Die Folge sind katastrophale soziale Verhältnisse:
Fernfahrer, die teilweise länger als ein halbes Jahr ihre
Familien in den Heimatländern nicht gesehen haben und
praktisch ein Leben im Lkw verbringen, bzw . Beschäf-
tigte, die kaum mehr als 500 Euro im Monat erhalten und
von ihren Unternehmen disponiert werden, wie die Ware,
die sie quer durch Europa transportieren .
Und um das hier auch noch einmal klarzustellen: Dies
ist keine Problemlage, die allein durch osteuropäische
Transportunternehmen zu verantworten ist . Vielmehr ist
es oft so, dass deutsche bzw . westeuropäische Unterneh-
men praktisch ihre Logistikabteilung über Briefkasten-
firmen in Osteuropa im Sinne der erwähnten „Billigstra-
tegie“ ausgelagert haben. Im Straßengüterverkehr finden
wir daher Arbeitsverhältnisse vor, von denen wir früher
geglaubt haben, dass diese Zeit der Ausnutzung und des
sozialen Elends längst überwunden sei .
Ihre Gesetzesinitiative zur Änderung des Fahrperso-
nalgesetzes verbessert die Lage der Fernfahrer nur unzu-
reichend . Sie hätten der Position des Bundesrats folgen
sollen . Das wäre eine echte Verbesserung gewesen . Der
Bundesrat hat richtigerweise gefordert, dass der Unter-
nehmer dafür zu sorgen hat, dass das Fahrpersonal die
regelmäßige wöchentliche Ruhezeit nicht mehr im Fahr-
zeug verbringt . Die Ruhezeit sollte in festen Unterkünf-
ten mit Sanitäreinrichtungen und ausreichenden Versor-
gungsmöglichkeiten verbracht werden . Die Ruhezeit
sollte nach dem Willen der Mehrheit der Länder wei-
terhin am Wohnort des Fahrers bzw . Unternehmenssitz
verbracht werden und nur in Ausnahmefällen unterwegs .
Ihr Vorschlag bringt leider keine Rechtssicherheit .
Was ist bitte unter der weit gefassten Formulierung ei-
ner „geeigneten Schlafmöglichkeit“ zu verstehen? Da-
bei hätte auch ein Blick in Richtung unserer westeuro-
päischen Nachbarn Frankreich und Belgien genügt, um
Anregungen zu bekommen . Klare Verbote in Verbindung
mit wirksamen Kontrollen und spürbaren Bußgeldern für
die Transportunternehmen zeigen dort seit Jahren Wir-
kung . Dagegen sieht Ihr Vorschlag sogar vor, die Fahrer
mit zur Kasse zu bitten – ein völlig falscher Ansatz, da
der Fahrer am wenigsten Einfluss auf die Disposition der
Fahrten hat .
Die Anhörung im Verkehrsausschuss zu Beginn die-
ser Woche hat es noch einmal ganz deutlich gezeigt: Die
besten Gesetze und Verordnungen laufen ins Leere, wenn
wir uns nicht um ihren wirksamen Vollzug kümmern .
Regelmäßig berichten Fernfahrer, dass sie relativ selten
von der Polizei oder dem Bundesamt für Güterverkehr
kontrolliert werden . Wenn ein Fahrer in vier Jahren nur
einmal in eine umfassende Kontrolle geraten ist, dann
zeigt das schlaglichtartig, welche Defizite wir im Vollzug
derzeit haben .
Seltene Kontrollen in Verbindung mit milden Strafen
und Bußgeldern sind für Transportunternehmer geradezu
eine Einladung, gelegentliche Gesetzes- und Regelver-
stöße in ihre Kostenkalkulation einzubeziehen: Es dürfte
oft billiger sein, als sich an die Regeln zu halten . Wir
brauchen also mehr Kontrollen . Der Bund ist hier mit
dem Bundesamt für Güterverkehr direkt zuständig und
könnte den Ländern ein gutes Vorbild sein, indem er das
Kontrollpersonal massiv aufstockt .
Staatssekretär Barthle wies in der Anhörung lapidar
darauf hin, dass sich durch die Änderung des Fahrper-
sonalgesetzes für den Bund kein erhöhter Erfüllungsauf-
wand ergeben würde . Das klingt nach Aussitzen, nicht
nach Anpacken .
Wenn wir dem Sozialdumping auf unseren Straßen
den Kampf ansagen, dann brauchen wir dringend klare
Zuständigkeiten und schlagkräftige Strukturen. Ineffizi-
ente Kontrollen müssen der Vergangenheit angehören .
Sicherlich lässt sich einiges durch die zügige Einführung
des digitalen Tachografen sowie des digitalen Fracht-
briefs vereinfachen . Wir müssen aber gleichzeitig darü-
ber diskutieren, ob wir beim BAG künftig einen Großteil
der Kompetenzen zur Kontrolle des Straßengüterver-
kehrs bündeln .
Ich hatte es in meiner letzten Rede zu diesem Gesetz-
entwurf schon gesagt: Wir stehen bei der Bekämpfung
des Sozialdumpings im Straßengüterverkehr erst ganz
am Anfang . So gesehen ist Ihr Gesetzentwurf ein erster
kleiner Schritt – aber auch nicht mehr .
Das ist kein großer Wurf, sondern nur der kleinste
gemeinsame Nenner der sogenannten Großen Koalition .
Auf mehr können Sie sich kurz vor Ende der Legislatur-
periode offenbar nicht mehr einigen. Schade!
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Strafgesetzbuchs, des Jugendgerichtsgesetzes,
der Strafprozessordnung und weiterer Gesetze
(Tagesordnungspunkt 24)
Dr. Silke Launert (CDU/CSU): Strafe muss spür-
bar sein . Anders ist manchen Menschen leider oft nicht
beizubringen, dass sie sich an gewisse Regeln zu halten
haben: dass sie fremde Sachen nicht wegnehmen dürfen,
dass es falsch ist, ohne Ticket mit dem Bus zu fahren oder
dass sie ihren Unterhaltspflichten nachzukommen haben.
Die Aufgabe des Richters im Strafverfahren ist es da-
her, die richtige Strafe zu finden, die, aus der der Täter
auch wirklich lernt und später nicht zum Wiederholungs-
täter wird . Dafür stehen dem Richter im deutschen Straf-
recht aktuell zwei Mittel zur Verfügung: die Geldstrafe
und die Freiheitsstrafe .
Als ehemalige Staatsanwältin kann ich bestätigen,
dass wir mit diesen beiden Mitteln bedauerlicherweise
oft nur bedingt etwas bewirken können . So werden gera-
de bei kleinerer bis mittlerer Kriminalität Freiheitsstrafen
oft zur Bewährung ausgesetzt und von den Tätern dann
wie ein Freispruch empfunden . Geldstrafen werden nicht
selten von nahen Angehörigen beglichen, die es gut mei-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722284
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nen . Oder die bisweilen auch hohen Tagessätze schmer-
zen deshalb nicht, weil der Täter schlicht vermögend ist .
Der Anspruch des Strafrechts und unseres Rechts-
staates ist es aber, auch diesen Tätern beizukommen . Vor
dem Gesetz sind schließlich alle Menschen gleich, und so
sollte ein Strafurteil auch für jeden Straftäter eine spürba-
re Konsequenz haben . Um das zu erreichen, wollen wir
mit dem vorliegenden Gesetzentwurf den Katalog der
Strafen um das Fahrverbot erweitern . Wir wollen, dass
das Fahrverbot nicht nur dann verhängt werden kann,
wenn die Straftat einen Straßenverkehrsbezug aufweist,
sondern grundsätzlich bei allen Straftaten . Dabei soll der
Charakter des Fahrverbots als Nebenstrafe beibehalten
werden . Wir versprechen uns davon, den einen oder an-
deren Täter damit stärker beeindrucken zu können als mit
einer anderen Strafe . Warum? Weil Autos und Autofah-
ren in unserer Gesellschaft einen Stellenwert haben wie
sonst kaum anderswo auf der Welt . Ein Auto bedeutet
Freiheit und Mobilität und für manch einen ist es hierzu-
lande auch ein geliebtes Statussymbol .
Sicher treffen wir hier einen empfindlichen Nerv. Das
zeigt uns jedenfalls die aktuelle Erregung der Öffentlich-
keit, und das zeigen uns auch die zahlreichen Gerichts-
verfahren, in denen regelrecht leidenschaftlich darum ge-
rungen wird, den Führerschein nicht abgeben zu müssen .
Und genau das ist von uns gewollt; denn nur so kön-
nen wir abschrecken und nur so können wir Wiederho-
lungstaten vermeiden .
Aus denselben Gründen wollen wir auch im Jugend-
strafrecht die Sanktionsmöglichkeiten öffnen und um das
Fahrverbot bei allen Straftaten erweitern . Dies halten wir
erzieherisch für richtig, wenn mit einer anderen Strafe
einem jungen Straftäter das Unrecht seines Verhaltens
nicht deutlich genug vor Augen zu führen ist .
Um den vielen Kritikern aus Jugendverbänden den
Wind aus den Segeln zu nehmen, will ich an dieser Stelle
an den sogenannten Warnschussarrest erinnern, der zum
Ende der letzten Wahlperiode ins Jugendgerichtsgesetz
eingeführt wurde . Da war der Aufschrei zunächst auch
groß, und keiner wollte ihn haben . Inzwischen hat er den
Praxistest jedoch mit Bravour bestanden und es wird von
den Jugendgerichten vielfach auf ihn zurückgegriffen.
Für nicht weniger sinnvoll als das Fahrverbot als Stra-
fe erachte ich die in diesem Gesetzentwurf geplanten
Neuregelungen zur Blutentnahme, die uns im Wesentli-
chen dorthin zurückführen, wo wir schon einmal waren .
Es geht insbesondere um die Fälle, in denen Polizei-
beamte vermeintlich alkoholisierte Autofahrer aus dem
Verkehr ziehen . Um in diesen Fällen später das Fahren
unter Alkoholeinfluss nachweisen zu können, braucht
es eine Blutentnahme . Diese muss wiederum von einem
Richter angeordnet werden, denn sie steht unter dem so-
genannten Richtervorbehalt .
Vor 2007 haben Polizisten diese Eingriffe trotz des
Richtervorbehalts regelmäßig selbst angeordnet . Be-
gründet wurde das mit der besonderen Eilbedürftigkeit,
da der Alkohol vom Körper recht schnell abgebaut wird
und sich in einem späteren Gerichtsverfahren dann Nach-
weisprobleme ergeben können .
Vor zehn Jahren hat das Bundesverfassungsgericht
schließlich klargestellt, dass der Richtervorbehalt leer-
liefe, wenn man diese Praxis weiterverfolge . Damit hat
er den Richtervorbehalt gestärkt . Weitere Urteile haben
jedoch Folgefragen aufgeworfen und dadurch zu allerlei
uneinheitlicher Rechtsprechung von Oberlandesgerich-
ten geführt .
Mit den geplanten Neuregelungen, werden wir nun
wieder Klarheit schaffen:
Wir wollen gesetzlich festschreiben, dass es in solchen
Fällen wie denen von Trunkenheit am Steuer keine rich-
terliche Anordnung braucht . Stattdessen soll es reichen,
wenn die Staatsanwaltschaft oder die Polizei die Blutent-
nahme anordnet . Dies ist nur recht und billig; schließlich
wird der Täter dadurch weder schutzlos gestellt, noch ist
der Richtervorbehalt aus verfassungsrechtlichen Grün-
den zwingend geboten . Diese Änderung steht letztlich im
Zeichen der Sicherstellung einer effektiven Strafverfol-
gung und wird die ohnehin schon stark belastete Justiz
entlasten – gerade bei einem Massendelikt wie dem der
Trunkenheitsfahrt . Es ist eine mehr als gute Regelung
also .
Neben der Einführung des Fahrverbots als Strafe und
der Änderung der Anordnungskompetenz bei der Blut-
entnahme enthält der vorliegende Entwurf außerdem
noch weitere Neuregelungen, die wichtige Anliegen
sind und die ich nicht unterschlagen will . Dazu gehören
insbesondere die verschärfte Strafbarkeit organisierter
Formen von Schwarzarbeit oder auch die Erleichterung
der Strafzurückstellung bei betäubungsmittelabhängigen
Mehrfachtätern .
Alles in allem also ein runder Gesetzentwurf .
Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): Mit dem Gesetz-
entwurf zur Änderung des Strafgesetzbuchs, des Jugend-
gerichtsgesetzes und der Strafprozessordnung wurde ein
Bündel einzelner Reformvorhaben vorgelegt, welches
Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz der Strafver-
folgung enthalten soll .
Dabei möchte ich mich auf zwei Punkte beschränken .
Zum einen auf das Fahrverbot als Nebenstrafe und zum
anderen auf die Abschaffung des Richtervorbehalts in
§ 81a Absatz 2 StPO .
Nach derzeitiger Rechtslage wird ein Fahrverbot als
Nebenstrafe ausschließlich für Straftaten vorgesehen,
die bei oder im Zusammenhang mit dem Führen eines
Kraftfahrzeugs oder unter Verletzung der Pflichten eines
Kraftfahrzeugführers begangen wurden . Sie ist damit
eine Reaktion auf schuldhaft begangene Verkehrsverstö-
ße, die als „Denkzettelmaßnahme“ den Täter vor einem
Rückfall warnen und ihm das Gefühl geben soll, was es
bedeutet, vorübergehend ohne Führerschein zu sein .
Es wird vorgesehen, den Katalog der strafrechtlichen
Sanktionen um die Möglichkeit der Verhängung eines
Fahrverbots durch Einführung eines deliktsunabhängi-
gen Fahrverbots als Nebenstrafe zu ergänzen . Damit soll
eine zusätzliche Möglichkeit geschaffen werden, um in
geeigneter Weise auf Straftäter einzuwirken . Es sollen
Straftäter erreicht werden, bei denen die herkömmlichen
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22285
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Sanktionen der Geld- und der Freiheitsstrafe wirkungs-
los sind . Weiterhin wird die Höchstdauer des Fahrverbots
von drei Monaten auf sechs Monate erhöht . Im Jugend-
strafrecht soll es aufgrund des im Vordergrund stehenden
Erziehungsgedankens und jugendkriminologischer Er-
wägungen bei einer Höchstdauer von maximal drei Mo-
naten verbleiben . Um taktische Anfechtungen allein we-
gen des aus Sicht des Verurteilten zu frühen Beginns des
Fahrverbots zu vermeiden, wird das Fahrverbot erst ei-
nen Monat nach Rechtskraft des Urteils wirksam . Zudem
ist mit § 44 Absatz 4 StGB-E eine Regelung zur Nachei-
nandervollstreckung mehrerer Fahrverbote vorgesehen .
Die Union verschließt sich diesem Vorhaben grund-
sätzlich nicht . Jedoch ist zu bedenken, dass die Bedeu-
tung des Führens eines Kraftfahrzeugs für den Einzelnen
heute sehr unterschiedlich sein kann .
Ein Berufskraftfahrer oder ein Pendler, der zum Errei-
chen seines Arbeitsplatzes auf sein Kraftfahrzeug ange-
wiesen ist, wird durch ein Fahrverbot wesentlich stärker
belastet als jemand, der auf den öffentlichen Nahverkehr
ausweichen kann und damit leichter auf das Autofahren
verzichten kann . Dies gilt zum Beispiel für Menschen,
die ihren Wohnsitz in ländlicheren Gebieten haben und
denen anders als in Großstädten kein vergleichbarer öf-
fentlicher Personennahverkehr zur Verfügung steht .
Klar ist, dass auch Freiheitsstrafen und Geldstrafen
unterschiedlich wirken . Isoliert verhängte Geldstrafen
und zu vollstreckende Freiheitsstrafen können insbe-
sondere in spezialpräventiver Hinsicht unter Umständen
ihren Zweck nicht erreichen oder unerwünschte Neben-
folgen haben . So beeindrucken Geldstrafen wirtschaft-
lich gutsituierte Täter nicht immer in hinreichender Wei-
se, und dort, wo die Zahlung von Dritten übernommen
wird, stößt diese Sanktion ins Leere . Verurteilungen zu
vollstreckbaren Freiheitsstrafen haben neben den hohen
Vollstreckungskosten nicht selten auch zur Folge, dass
Straftäter ihren Arbeitsplatz und ihre Wohnung verlieren
und dass ihre sozialen Beziehungen erheblich gestört
oder aufgelöst werden . Dies erschwert die Wiederein-
gliederung der Täter nach der Entlassung und erhöht die
Gefahr neuer Straffälligkeit. Die Freiheitsstrafe ist ge-
nerell sehr belastend, und die unterschiedliche Wirkung
der Geldstrafe wird durch die Bemessung der Tagessätze
jedenfalls teilweise ausgeglichen . Bei dem Fahrverbot
scheint es angesichts der verschiedenen Lebensumstände
und Vorlieben der Betroffenen kaum möglich, für eine
annähernde Wirkungsgleichheit der Strafe zu sorgen .
Noch verstärkt werden dürfte dieser Umstand dadurch,
dass die Befolgung des Fahrverbots nur schwer kontrol-
lierbar ist .
Sinnvolle Anwendungsfälle lassen sich aber zum
Beispiel bei Gewalttaten junger Menschen denken . Es
spricht einiges dafür, dass sich ein solcher Täter einen
neuen Rechtsbruch sehr genau überlegen wird, wenn er
sein Auto oder Motorrad bereits für maximal drei Monate
nicht benutzen darf .
Der zweite Punkt ist das Thema „Abschaffung des
Richtervorbehalts bei der Blutprobenentnahme“ . Von
Fahrzeugführern, die unter Alkohol- oder Drogeneinfluss
stehen, gehen erhebliche Gefahren für die Sicherheit des
Straßenverkehrs und andere Verkehrsteilnehmer aus .
Sie sind eine der Hauptursachen für Verkehrsunfälle mit
schweren, oft tödlichen Folgen. Eine jederzeit effektive
Verfolgung der Täter ist daher von besonderer Bedeu-
tung . Das bisher geltende Recht enthält in § 81a Absatz 2
StPO einen Richtervorbehalt für alle körperlichen Unter-
suchungen . Ausnahmen sind nur für den Fall vorgesehen,
dass der Untersuchungserfolg bei einer Verzögerung ge-
fährdet würde . Dann steht die Anordnungsbefugnis der
Staatsanwaltschaft und ihren Ermittlungspersonen zu .
Zur Beschleunigung der Beweissicherung im Straf- und
Bußgeldverfahren insbesondere bei dem Verdacht auf
ein Trunkenheitsdelikt und damit zur Verbesserung des
Schutzes der Sicherheit des öffentlichen Straßenverkehrs
vor ungeeigneten Fahrzeugführern soll der Richtervorbe-
halt zukünftig für die Fälle der Entnahme einer Blutprobe
gestrichen werden .
Der Richtervorbehalt ist nicht erforderlich, da es
sich bei einem vergleichsweise milden Eingriff um ein
Massenphänomen in der Strafjustiz handelt . Außerdem
gehört der Richtervorbehalt – anders als bei der Woh-
nungsdurchsuchung – nicht zum rechtsstaatlichen Min-
deststandard, und er kann aufgrund der Gegebenheiten in
der Anwendungspraxis seiner Funktion als vorbeugende
Kontrolle kaum gerecht werden . Denn der Richter hat
keine echte Überprüfungsmöglichkeit . Er muss fast im-
mer telefonisch und unter Zeitdruck eine Entscheidung
treffen, auf Grundlage dessen, was ihm der Polizeibeam-
te zum Sachverhalt berichtet . Ein rechtstaatlicher „Mehr-
wert“ für den Beschuldigten ist selten ersichtlich . Zudem
bleibt auf Antrag des Betroffenen nachträglich die Mög-
lichkeit, die Rechtmäßigkeit der Anordnung entspre-
chend § 98 Absatz 2 Satz 2 StPO überprüfen zu lassen .
Wir sollten über diese Punkte noch intensiv debat-
tieren, um Antworten zu finden und die Defizite im gel-
tenden Straf- und Strafprozessrecht auszugleichen . Dies
könnte ein Schritt sein, das Strafverfahren unter Wahrung
rechtsstaatlicher Grundsätze noch effektiver und praxis-
tauglicher zu gestalten .
Dr. Johannes Fechner (SPD): Mit dem vorliegen-
den Gesetz schaffen wir zahlreiche Verbesserungen und
Verfahrensvereinfachungen im Strafprozessrecht und wir
schließen Strafbarkeitslücken im Strafgesetzbuch .
Wichtigste Regelung ist die Abschaffung des Richter-
vorbehaltes bei der Blutentnahme zur Feststellung des
Blutalkohols bei Verkehrskontrollen . Nach geltendem
Recht muss ein Richter diese anordnen . In der Praxis
hat sich aber nun gezeigt, dass wir einerseits sehr gut ge-
schultes Personal bei der Polizei haben, das verantwor-
tungsvoll mit dieser durchzuführenden Messmethode
umgeht . Zudem hat sich gezeigt, dass die Rückfrage bei
einem Richter oft nur pro forma erfolgte und erfolgen
kann . Der Richter kann sich den Sachverhalt am Telefon
schildern lassen, muss praktisch aber immer den Anga-
ben des Polizisten vor Ort vertrauen . Die Erfahrung und
alle Berichte zeigen, dass die Polizei verantwortungsvoll
vorgeht . Den Richtervorbehalt braucht es deshalb nicht
mehr . Vor allem war der Richtervorbehalt mit einem er-
heblichen Arbeitsaufwand für die Polizei verbunden, da
jede Blutalkoholentnahme in Absprache oder auf Anord-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722286
(A) (C)
(B) (D)
nung eines Gerichtes erfolgen muss . Mit der Abschaf-
fung des Richtervorbehaltes erleichtern wir deshalb der
Polizei ganz erheblich ihrer Arbeit, und wir verhindern,
dass sich der Alkohol im Blut schon rapide abgebaut hat,
bis die Entnahme endlich möglich ist .
Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung nehmen lei-
der auch bei uns zu . Dabei lassen sich die gut organisier-
ten Tätergruppen einiges einfallen, um die tatsächlichen
Beschäftigungsverhältnisse zu verschleiern . Diese neuen
Methoden sind vom heutigen Straftatbestand des Vorent-
haltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt nicht erfasst,
sodass wir diese Lücke schließen müssen . Es ist deshalb
gut, dass zukünftig mit der Einführung eines neuen be-
sonders schweren Falls derjenige Arbeitgeber härter be-
straft werden kann, der Beiträge zur Sozialversicherung
vorenthält und sich zur Verschleierung der tatsächlichen
Beschäftigungsverhältnisse unrichtige, nachgemachte
oder verfälschte Belege von einem Dritten verschafft.
Schließlich fügen wir als neue Nebenstrafe die Ver-
hängung eines Fahrverbotes ein . Gerichte haben damit
die Möglichkeit, in bestimmten Konstellationen, in de-
nen eine Geldstrafe möglicherweise nicht die spürbarste
Sanktion ist, durch die Verhängung eines Fahrverbotes
auf den Täter einzuwirken . Dies kann insbesondere dann
sinnvoll sein, wenn kurze Freiheitsstrafen oder Geldstra-
fen bei vermögenden Tätern keine entsprechende zielge-
naue Wirkung erwarten lassen . Leider nimmt der illegale
Wildtierhandel zu, was eine massive Bedrohung für den
Artenschutz ist . Es ist deshalb richtig und gut, dass wir
im Bundesnaturschutzgesetz regeln, dass das leichtferti-
ge Töten und Zerstören von streng geschützten wildle-
benden Tieren oder geschützten seltenen Pflanzenarten
zukünftig strafbar ist .
Durch dieses Gesetz schaffen wir eine ganze Reihe
von strafprozessualen Verbesserungen, und wir schließen
mehrere strafrechtliche Lücken . Es ist deshalb ein gutes
Gesetz, weshalb wir diesem zustimmen sollten .
Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Da ist sie wieder: die
Ausweitung des Fahrverbots auf alle Strafen unabhängig
der Verkehrsbezogenheit der Delikte . Der Gedanke ist ja
nicht neu, wurde immer wieder einmal hochgeholt und
dann wieder versenkt, – zu Recht, wie ich meine .
Gerade diese Ausweitung halte ich im Hinblick auf
den Sinn und Zweck des Strafrechts und der erwünsch-
ten Wirkung auf den Täter für problematisch, weil eine
neue Ausbildungsstelle, ein neuer Arbeitsplatz, die Ein-
bindung in soziale Netzwerke integrativ und reduzierend
auf die Wahrscheinlichkeit der Begehung einer erneuten
Straftat wirken können . All dies kann aber mit einer der-
artigen Sanktion gefährdet werden .
Auch wird diese neue Strafe nicht auf alle Angeklagten
anwendbar sein, sondern nur auf diejenigen mit Führer-
schein . Das Ziel, eine umfängliche dritte Sanktionsform
zu schaffen, kann also nicht erreicht werden. Vielmehr
sind hier schwer zu begründende Ungleichbehandlungen
denkbar, so zum Beispiel, wenn bei Mittätern der eine ein
Fahrverbot erhalten soll und der andere mangels Führer-
schein eine kurze Freiheitsstrafe verbüßen soll .
Es sollten Sanktionsformen gewählt werden, die mit
der Tat im Zusammenhang stehen, da diese für den Täter
auch nachvollziehbar sind . Dies wäre hier gerade nicht
der Fall .
Ferner fehlt es an einem objektiven Verrechnungs-
maßstab des Fahrverbots gegenüber der Geldstrafe beim
führerscheinlosen Täter . Anders als beim Freiheitsentzug
und der Geldstrafe fehlt es beim Fahrverbot an einer Ein-
heit mit allgemeiner Gültigkeit, da die Folgen des Fahr-
verbots je nach Täter unterschiedliche wirtschaftliche
und soziale Auswirkungen haben können .
Da sich im Gesetzentwurf keine detaillierten Angaben
finden lassen, in welchen Fällen das Fahrverbot verhängt
werden soll, ist neben den beschriebenen Problemen
überdies die Gewährleistung des Bestimmtheitsgebots
problematisch .
Daneben wird statistisch nur der allergeringste Teil
der Fahrer ohne Fahrerlaubnis überhaupt entdeckt . Das
Risiko besteht, dass die Verurteilten dennoch weiterfah-
ren und als Konsequenz lernen, dass die Verurteilung
wirkungslos bleibt und ein Verstoß nicht weiter schadet .
Das würde die Zielsetzung des Strafrechts ad absurdum
führen .
Als Gegenargument in den Medien wird vorgebracht,
dass das Fahrverbot insbesondere gegen Väter, die den
vorgeschriebenen Unterhalt an die alleinerziehende Mut-
ter nicht zahlen, eingesetzt werden soll. Häufig wäre eine
Geldstrafe hier nicht erfolgreich . Nach einer Bertelsmann
Studie würden 2,3 Millionen Kinder in einem Ein-El-
tern-Haushalt aufwachsen . Die Hälfte würde dabei gar
keinen Unterhalt und 25 Prozent nur unregelmäßig wel-
chen erhalten . Dies sei für die Mütter eine schwere Be-
lastung .
Zwar stimmt es, dass hier ein großes Problem für die
Mütter besteht, jedoch bleibt die Forderung nach einem
Fahrverbot für solche Fälle rein populistisch . Denn in
den allermeisten Fällen scheitert es nicht an dem Unwil-
len der Väter, sondern vielmehr an ihrer aktuellen Zah-
lungsunfähigkeit . Hier springen dann vorerst die Ämter
ein, die später versuchen, das Geld zurückzubekommen .
Sofern es sich tatsächlich um Zahlungsunwillige handelt,
wäre wiederum eine konsequentere Zwangsvollstre-
ckung das deutlich bessere Mittel . Denn damit kommt
auch das Geld auf das Konto, im Gegensatz zu einem
Fahrverbot . Daneben ist der Vorschlag auch absurd,
weil er zivilrechtliche und strafrechtliche Probleme ver-
mischt; reiner Populismus also .
Sinnvoller für eine wirksame Strafe wäre unter Um-
ständen eine Änderung des § 40 Absatz 2 StGB, welcher
regelt, was bei der Berechnung der Tagessätze berück-
sichtigt wird . Hier müssten tatsächlich ermittelte Vermö-
genswerte und weitere Verbindlichkeiten ausreichende
Berücksichtigung finden.
Die Ergänzungen der Regelbeispiele zur Schwarzar-
beit und illegalen Beschäftigung sind problematisch . Ins-
besondere die geplante Nummer 3 will eine Strafbarkeit
für den Fall regeln, dass jemand „fortgesetzt Beiträge
vorenthält und sich zur Verschleierung der tatsächlichen
Beschäftigungsverhältnisse unrichtige, nachgemachte
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22287
(A) (C)
(B) (D)
oder verfälschte Belege von einem Dritten verschafft,
der diese gewerbsmäßig anbietet“ . Dabei ist allerdings
in der Nummer 2 bereits das Verwenden solcher Belege
geregelt . Hier soll dagegen noch einmal speziell das Ver-
schaffen solcher unter Strafe gestellt werden. Damit han-
delt es sich also um eine Vorverlagerung der Strafbarkeit,
die ich generell kritisch sehe .
Auch die Abschaffung des Richtervorbehalts bei Blut-
probeentnahmen bei Straßenverkehrsdelikten ist nicht
ohne, da diese einen Eingriff in die körperliche Unver-
sehrtheit darstellen . Nur durch einen Richtervorbehalt
kann die strukturelle Ungleichheit im Verfahren ausge-
glichen werden. Untersuchungen, die bedeutsame Defi-
zite in der Erreichbarkeit von Richtern in der Nachtzeit
feststellen konnten und folglich die Beweissicherung
gefährdet hätten, sind zudem nicht bekannt . Sollten hier
dennoch Lücken auftreten, müssten diese beseitigt wer-
den, um, wie ich es heute Mittag bereits sagte, der Ge-
rechtigkeit endlich zum Durchbruch zu verhelfen .
Das grundlegende Ziel, Drogenabhängige schneller
einer Therapie zuzuführen, ist zu begrüßen . Dies ent-
spricht auch den Wünschen aus der Praxis . Vielleicht
sollte man sogar so weit gehen, nur zwei Drittel zu voll-
strecken und den Rest bei Vorliegen der Voraussetzungen
einer Zurückstellung nach 35 Betäubungsmittelgesetz
mit entsprechender Auflage zur Bewährung auszusetzen.
So könnten auch die hier Betroffenen schneller einer
Therapie zugeführt werden . Denn in der Haft können nur
schwer die erforderlichen Therapien angeboten werden .
Schon wenn es sich um Freiheitsstrafen von mehreren
Monaten handelt, kann dies den Therapieerfolg ernsthaft
gefährden .
Zur Stärkung der Bewährungshilfe und Straffälligen-
arbeit lässt sich konstatieren, dass die Vereinfachungen
und Klarstellungen mit Rücksicht auf das informationel-
le Selbstbestimmungsrecht im Interesse einer effizienten
Gefahrenabwehr liegen . Daneben können Daten zu den
persönlichen Verhältnissen des Verurteilten die Qualität
der Behandlungsuntersuchung zu Beginn der Inhaftie-
rung und die Entlassungsvorbereitung an deren Ende
verbessern .
Die neuen Tatbestände auch zur leichtfertigen Tötung
und Zerstörung von streng geschützten wildlebenden
Tier- und Pflanzenarten sind grundsätzlich sinnvoll und
unterstützenswert .
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Zu Beginn dieser Legislatur gab es gro-
ße Ankündigungen aus dem Bundesjustizministerium,
die Strafprozessordnung grundlegend zu überarbeiten .
Dazu wurde eine Kommission einberufen mit vielen
Vertretern aus Wissenschaft und Praxis, die umfassende
Empfehlungen für eine Reform vorgelegt haben . Fast
200 Seiten umfasst der Abschlussbericht der Experten .
Auf Grundlage dieses Berichts erarbeitete das Justizmi-
nisterium zwei Gesetzentwürfe, die wir in dieser Woche
debattieren . Beide Vorlagen verdienen die Bezeichnung
„Reform“ nicht . Von den umfassenden Vorschlägen der
Kommission wurde zu wenig aufgegriffen. Der Gesetz-
entwurf zu diesem Tagesordnungspunkt 24 beschert uns
eher kleinere Änderungen im Strafprozessrecht .
Aber auch kleinere Änderungsvorschläge sind nicht
davor gefeit, unsinnig und falsch zu sein . Und so verhält
es sich mit dem Vorschlag, das Fahrverbot als Nebenstra-
fe für alle Straftaten zu ermöglichen . Bisher konnte dies
nur verhängt werden, wenn zwischen der Tat und dem
Führen eines Kfz ein Zusammenhang besteht oder die
Tat unter Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeug-
führers begangen wurde . Die Erweiterung ist nicht nur
Unsinn, sondern führt gleich in mehrfacher Hinsicht zu
Ungleichbehandlungen, was in meinen Augen sogar ver-
fassungsrechtlich bedenklich ist .
Anders als die Geldstrafe, deren Höhe sich an dem
Einkommen des Verurteilten orientiert, kann das Fahr-
verbot nicht individuell schuldangemessen ausgestaltet
werden . Das heißt, einen Verurteilten, der in einer grö-
ßeren Stadt lebt, in der viele Möglichkeiten bestehen, öf-
fentliche Verkehrsmittel zu nutzen, trifft ein Fahrverbot
weniger hart als zum Beispiel einen Lehrling oder ein
Elternteil auf dem Lande, der auf das Auto angewiesen
ist, um damit zur Arbeitsstelle, zum Einkauf zu gelangen
oder die Kinder zur Schule zu bringen . Auch den, der den
Führerschein zwingend zur Ausführung seiner Arbeit be-
nötigt, zum Beispiel einen Kurierfahrer, trifft die Strafe
ungleich hart . Hier kann das Fahrverbot existenzbedro-
hend sein . Hingegen sind für Wohlhabende Fahrverbote
leichter zu verschmerzen, können Sie sich doch problem-
los per Taxi chauffieren lassen.
Die Bundesregierung behauptet, dass das Fahrverbot
als Ergänzung zu anderen Sanktionen sinnvoll sei, ins-
besondere wo Geldstrafen keinen nachhaltigen Eindruck
hinterlassen, eine Freiheitsstrafe zu einschneidend sei
oder eine eigentlich angezeigte Freiheitsstrafe dadurch
abgewendet werden könne . Was aber ist mit demjenigen,
der gar keinen Führerschein hat? Er wird keine Freiheits-
strafe abwenden können und ist somit benachteiligt . Die-
selbe Strafe kann also faktisch zu Ungleichbehandlungen
führen .
Es ist auch schwer vermittelbar, warum bei einer Tat,
die nicht im Zusammenhang mit dem Führen eines Kfz
steht, das Führen eines Fahrzeugs verboten wird . Das
macht bei Rasern oder anderen Straßenverkehrsdelikten
Sinn – aber eben nicht bei sämtlichen Straftaten .
Die im vorliegenden Gesetzentwurf vorgeschlagene
Ausweitung eines Fahrverbots als Nebenstrafe auf alle
Straftaten im Jugendstrafrecht lehnen wir ebenfalls ab .
Nach § 2 Absatz 1 Satz 2 Jugendgerichtsgesetz orientiert
sich das Jugendstrafrecht vorrangig am Erziehungsge-
danken . Die Bundesrechtsanwaltskammer weist in ih-
rer Stellungnahme zu diesem Gesetzentwurf zu Recht
darauf hin, dass bei der Verhängung eines Fahrverbots
als Nebenstrafe in Fällen, in denen die Tat in keinem
Zusammenhang mit der Teilnahme am Straßenverkehr
und Nutzung eines Kraftfahrzeugs steht, keinerlei Erzie-
hungsfunktion der Sanktion erkennbar sei . Diese Kritik,
die ebenfalls aus der Wissenschaft und von Fachverbän-
den geäußert wurde, teilen wir .
Ein weiterer Teil dieses Gesetzentwurfs betrifft die
Aufhebung des Richtervorbehalts bei der Anordnung
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722288
(A) (C)
(B) (D)
einer Blutentnahme im Bereich der Straßenverkehrsde-
likte .
Als einfachgesetzlicher Richtervorbehalt unterliegt
§ 81a Absatz 2 Strafprozessordnung grundsätzlich der
Disposition des Gesetzgebers, da im Normbereich von
Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 GG zum Schutz der körper-
lichen Unversehrtheit im Rahmen von Verhältnismäßig-
keit und Wesensgehaltgarantie Eingriffe aufgrund eines
Gesetzes zulässig sind und kein grundgesetzlicher Rich-
tervorbehalt besteht .
Die Einschaltung eines Richters als „neutraler Wäch-
ter“ soll die Kontrolle über die Anordnungsvorausset-
zungen und die Wahrung des Verhältnismäßigkeits-
grundsatzes garantieren . Die StPO-Kommission des
Bundesjustizministeriums hielt die Einschaltung eines
Richters in diesem Bereich für verzichtbar – angesichts
der geringen Eingriffstiefe und der weitgehenden Unge-
fährlichkeit der Blutentnahme, die ja in jedem Fall von
einem Arzt vorzunehmen ist . Zudem muss der Richter
schon heute meist am Telefon aus der Ferne entscheiden
und sich dabei auf die von der Polizei vorgetragene Sach-
lage verlassen, ohne die Ermittlungsakten selbst einse-
hen zu können . Insofern spricht auch aus unserer Sicht
vieles für die Aufhebung des Richtervorbehaltes, zumal
Verkehrsdelikte unter Alkoholeinfluss ein Massenphäno-
men mit erheblichem Gefährdungspotenzial sind . Hinzu
kommt, dass momentan keine einheitliche Praxis besteht,
in welchen Fallkonstellationen die Polizei Blutproben
schon wegen Gefahr im Verzug anordnen darf und wann
dies dem Richter vorbehalten bleibt bzw . wann zumin-
dest die Staatsanwaltschaft zu befassen ist .
Der Gesetzentwurf sieht nun vor, dass die Anord-
nungsbefugnis durch die Staatsanwaltschaft oder ihre
Ermittlungspersonen erfolgen kann . Das bedeutet wohl
auch, dass trotz Sachleitungsbefugnis der Staatsanwalt-
schaft die Polizei als verlängerter Arm der Staatsanwalt-
schaft ohne vorherige Weisung durch sie tätig werden
kann, davon geht jedenfalls die Stellungnahme des Bun-
desrates aus .
Was aber fehlt, ist eine ausdrückliche Dokumenta-
tionspflicht der Polizei, sofern sie die Anordnung vor-
nimmt . Nur durch eine detaillierte Dokumentation der je-
weiligen Gründe für die Anordnung einer Blutentnahme
ist im Zweifel eine umfassende nachträgliche Überprü-
fung der Rechtmäßigkeit der Maßnahme möglich .
Allerding darf die Aufhebung des Richtervorbehalts
im Bereich der Straßenverkehrsdelikte nicht Einfallstor
sein für weitere Verzichte auf dieses wichtige rechts-
staatliche Kontrollinstrument . Praktische Erwägungen
wie etwa, dass die Entscheidungen ja ohnehin meist nur
aus der Ferne getroffen werden, dürfen nicht allein als
Argument für die Aufhebung einer richterlichen Kontrol-
le ausreichen .
Christian Lange, Parl. Staatssekretär beim Bun-
desminister der Justiz und für Verbraucherschutz: Wir
befassen uns heute in erster Lesung mit dem Entwurf
eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuchs, des
Jugendgerichtsgesetzes, der Strafprozessordnung und
weiterer Gesetze .
Mit der Ausweitung des Fahrverbots setzen wir eine
Vorgabe des Koalitionsvertrags um . Ein Fahrverbot
stellt ein spürbares und empfindliches Übel dar. Um den
Gerichten diese Strafmöglichkeit auch jenseits von ver-
kehrsbezogenen Delikten zur Verfügung zu stellen, soll
das Fahrverbot – unter Beibehaltung seines Rechtscha-
rakters als Nebenstrafe – für alle Straftaten zugelassen
werden . Seine Verhängung ist insbesondere dann sinn-
voll, wenn eine Geldstrafe allein beim Verurteilten kei-
nen hinreichenden Eindruck hinterlässt oder dadurch
Verurteilungen zu spezialpräventiv eher kontraprodukti-
ven kurzen Freiheitsstrafen vermieden werden können .
Zudem soll die Höchstdauer des Fahrverbots im Strafge-
setzbuch von derzeit drei auf sechs Monate angehoben
und das Fahrverbot erst einen Monat nach Rechtskraft
wirksam werden . Damit wollen wir den Gerichten einen
erweiterten Bemessungsspielraum eröffnen und der Ein-
legung taktischer Rechtsmittel entgegenwirken .
Zwar wurden gegen die Ausweitung des Fahrverbots
von Teilen der Wissenschaft und der Verbände Einwände
erhoben . Diese könnten aber fast durchgehend auch ge-
gen das Fahrverbot in seiner jetzigen Form erhoben wer-
den . Wie schon beim bisherigen Fahrverbot werden zum
Beispiel die Gerichte auch beim ausgeweiteten Fahrver-
bot zu berücksichtigen haben, welche Auswirkungen das
Fahrverbot für den konkret betroffenen Täter hätte, wie
stark ihn das Verbot also treffen würde. Die Beibehaltung
des Fahrverbots als Strafe, die nur neben einer Geld- oder
Freiheitsstrafe verhängt werden kann, wird es den Ge-
richten erleichtern, sachwidrige Ungleichbehandlungen
zu vermeiden und zielgenauer als bisher zu einer ange-
messenen Sanktionierung des Täters zu gelangen .
Die besonders kritischen Argumente vieler Fachleu-
te im Jugendstrafrecht haben wir ebenfalls nicht einfach
übergangen; siehe etwa die Begrenzung der Höchstdau-
er des Fahrverbots im Jugendstrafrecht auf drei Monate .
Letztlich muss immer der Jugendrichter im Einzelfall
entscheiden, ob ein Fahrverbot konkret wirklich das Ziel
fördert, eine erneute Straffälligkeit zu vermeiden, oder
ob es womöglich sogar eher zusätzliche Probleme erwar-
ten lässt .
Auch die übrigen Inhalte dieses Gesetzentwurfs tra-
gen nach meiner Überzeugung zu einer effizienteren
Strafverfolgung bei .
Im Bereich der Schwarzarbeit und illegalen Beschäf-
tigung werden mit der Schaffung von zwei neuen Regel-
beispielen für besonders schwere Fälle solche Verhal-
tensweisen mit einer höheren Strafandrohung bedroht,
die sich durch den hohen Organisationsgrad der Täter
deutlich vom Grundtatbestand des Vorenthaltens und
Veruntreuens von Arbeitsentgelt abheben .
Im Strafverfahrensrecht wollen wir für bestimmte
Straßenverkehrsdelikte eine Ausnahme von der vorrangi-
gen richterlichen Anordnungskompetenz für die Entnah-
me von Blutproben schaffen, um der Polizei ein schnel-
leres Handeln zu ermöglichen und die Aufklärung von
Verkehrsstraftaten insgesamt zu fördern .
Außerdem enthält der Entwurf im Bereich des Straf-
vollstreckungsrechts Regelungsvorschläge, die eine
Strafzurückstellung bei betäubungsmittelabhängigen
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22289
(A) (C)
(B) (D)
Mehrfachtätern erleichtern . Im Bereich der Bewährungs-
hilfe wird die Zulässigkeit der Übermittlung von Daten
durch den Bewährungshelfer gesetzlich klargestellt .
Der Gesetzentwurf sieht schließlich Änderungen im
Bundesnaturschutzgesetz vor . Diese gehen einerseits auf
die sogenannte EU-Richtlinie Umweltstrafrecht zurück .
Andererseits ist im Bereich der Wilderei und der illega-
len Entnahme von gefährdeten Tieren sowie des illegalen
Wildtierhandels eine nachhaltigere strafrechtliche Ab-
schreckung erforderlich, die durch eine Anhebung der
Strafandrohung erreicht werden soll .
Ich bitte Sie um Ihre Zustimmung zu diesem Vorha-
ben .
Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Än-
derung des Sicherheitsüberprüfungsgesetzes (Ta-
gesordnungspunkt 25)
Clemens Binninger (CDU/CSU): Dass wir das Si-
cherheitsüberprüfungsgesetz dringend gründlich überar-
beiten müssen, dürfte spätestens seit November vergan-
genen Jahres klar sein . Damals wurde bekannt, dass sich
ein Mitarbeiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz
im Internet unter falschem Namen islamistisch geäußert
und auch Dienstgeheimnisse verraten hatte . Es ist der
Behörde damals gelungen, den Islamist in den eigenen
Reihen zu identifizieren. Was zeigt uns dieser Vorfall?
Das Gesetz in seiner jetzigen Form ist nicht mehr
zeitgemäß; es wird der herrschenden Bedrohung durch
den internationalen Terrorismus, aber auch durch andere
extremistische Bestrebungen nicht gerecht . Die Regelun-
gen greifen zu kurz und werden den Anforderungen im
Sicherheitsbereich nicht mehr gerecht . Wir müssen die
Effektivität und die Qualität des personellen und des ma-
teriellen Geheimschutzes verbessern .
Angesichts des Vorfalls im Bundesamt für Verfas-
sungsschutz ist es richtig, den Blick auf das Verhalten
der Bewerber und Mitarbeiter der Nachrichtendienste im
Internet zu richten . Soziale Netzwerke und Internetauf-
tritte werden bei der Selbstdarstellung gegenüber und in
der Kommunikation mit anderen immer wichtiger . Künf-
tig müssen die Bewerber und Mitarbeiter der Nachrich-
tendienste daher angeben, ob und welche eigenen Inter-
netseiten sie betreiben und darlegen, in welchen sozialen
Netzwerken sie Mitglied sind .
Aus den Reihen der Opposition erreichen mich in
diesem Zusammenhang immer wieder datenschutzrecht-
liche Bedenken . Man muss aber in der Debatte ehrlich
sein: Die öffentlich zugängliche Internetpräsenz einer
Person – es geht also ausschließlich um öffentlich ver-
fügbare Daten – in die Überprüfung miteinzubeziehen,
ist angesichts der jüngsten Erfahrungen nur konsequent
und absolut richtig . Anderes zu behaupten, wäre weder
seriös noch zeitgemäß .
Zu einem modernen Sicherheitsüberprüfungsgesetz,
das den Herausforderungen der heutigen Zeit gerecht
wird, gehört auch, dass die Lebensumstände der poten-
ziellen Geheimnisträger mit beachtet werden . Es ist nicht
mehr unüblich, für eine bestimmte Zeit im Ausland zu
leben . Das bedeutet aber, dass es für die Nachrichten-
dienste wichtig ist, bei der Sicherheitsüberprüfung auch
mit den jeweiligen ausländischen Stellen zusammenar-
beiten zu dürfen . Das werden wir mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf – unter strengen Voraussetzungen und mit
der ausdrücklichen Zustimmung des Betroffenen – er-
möglichen .
Wenn wir den empfindlichen Sicherheitsbereich vor
extremistischen Bestrebungen schützen wollen, ist es
außerdem notwendig, den materiellen Geheimschutz
aufzuwerten . Bisher sind die Bestimmungen zum Schutz
von Verschlusssachen nur untergesetzlich geregelt . Das
reicht meiner Meinung nach nicht . Eine gesetzliche Ver-
ankerung im Sicherheitsüberprüfungsgesetz macht die
gemeinsame Verantwortung für das Wohl und den Schutz
unseres Landes deutlich .
Das Sicherheitsüberprüfungsgesetz jetzt zu überarbei-
ten, ist richtig und zeitlich notwendig . Man muss aber
weiterdenken . Es ist doch so: Der Sicherheitsbereich
endet nicht am Zugang zu Verschlusssachen oder dem
Sabotageschutz . Deshalb haben wir auch erst im letzten
Jahr beschlossen, dass sich alle Soldaten künftig schon
zum Zeitpunkt ihrer Einstellung bei der Bundeswehr ei-
ner einfachen Sicherheitsüberprüfung unterziehen müs-
sen und nicht erst, wenn sie Berührung mit Verschlusssa-
chen haben oder aus Gründen des Sabotageschutzes . An
diesem Beispiel wird deutlich: Wir verhindern so, dass
amtsbekannte, gewaltbereite Extremisten die Möglich-
keit einer militärischen Ausbildung bei der Bundeswehr
für ihre eigenen Zwecke nutzen . Wir werden daher in der
Koalition darüber sprechen, ob und wie der zu überprü-
fende Personenkreis gegebenenfalls erweitert werden
muss . Nur so können wir den sich ständig wandelnden
Anforderungen im Sicherheitsbereich entgegentreten .
Susanne Mittag (SPD): Das Sicherheitsüberprü-
fungsgesetz ist mittlerweile 22 Jahre alt und steht nun
zur Überarbeitung an . Das ist auch nötig . Ein wenig an-
gestaubt wirkt das derzeitige Gesetz schon, nicht nur,
weil wir heute – einen Tag nach dem Internationalen
Frauentag – in diesem Gesetz eine geschlechtsneutrale
Personenbezeichnung durchführen, nein es werden vor
allem wichtige technische Neuerungen nachvollzogen,
die bisher unbeachtet geblieben sind .
Aber um mal zum Ausgangspunkt des Gesetzes zu
gehen: Warum brauchen wir eigentlich ein Sicherheits-
überprüfungsgesetz? Ganz einfach: Es gibt Aufgaben
und Tätigkeiten in unserem Staat, aber auch in privat-
wirtschaftlichen Unternehmen, bei denen wir schon ge-
nau wissen sollten, ob der oder diejenige, der sie erledigt,
auch zuverlässig und auf dem Boden der freiheitlich-de-
mokratischen Grundordnung steht . Das gilt für Extre-
misten aller Ausprägung – also seien es Reichsbürger,
Rechts- oder Linksextreme oder Islamisten oder ganz
einfach Straftäter .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722290
(A) (C)
(B) (D)
Ich möchte keinen Polizisten, keinen Mitarbeiter von
Nachrichtendiensten, keine sonstigen Mitarbeiter mit
sensiblen Aufgaben betraut sehen, an dem Zweifel bei
der Zuverlässigkeit bestehen . Aber nicht nur extremis-
tische Einstellungen werden bei der Sicherheitsüberprü-
fung betrachtet, sondern eben auch die Lebenssituation
des Einzelnen . Jemand der stark überschuldet ist, könnte
anfälliger sein für Anwerbeversuche anderer Nachrich-
tendienste! Gerade bei hochsensiblen Informationen, die
den Bestand oder die Sicherheit unseres Staates gefähr-
den, muss der Staat wissen, wem er solche Informatio-
nen und Aufgaben anvertrauen kann . Es werden daher
aber eben nicht nur die Antragsteller, sondern auch die
Lebenspartner in den Blick genommen . Das ist sicher-
lich ein Eingriff, der je nach Schutzbedürfigkeit der Ver-
schlusssachen abgestuft erfolgt . Die Überprüfung unter-
liegt aber der Freiwilligkeit des Bewerbers . Jemand, der
mit streng geheimen Verschlusssachen umgeht, muss an-
ders durchleuchtet werden als jemand der nur mit „VS –
Nur für den Dienstgebrauch“ in Kontakt kommt . Dazu
dient das Sicherheitsüberprüfungsgesetz .
Was soll geändert werden?
Als Erstes machen wir natürlich einen Schritt in Rich-
tung der Digitalisierung . Vor 20 Jahren war das noch kein
Thema, heute schon . Endlich kann man im Jahre 2017
seine Zustimmung zur Sicherheitsüberprüfung auch
elektronisch erklären, und es bedarf nicht mehr einer
eigenhändigen Unterschrift . Es werden also in Zukunft
Schriftformäquivalente, wie sie im E-Government-Ge-
setz geregelt sind, genutzt werden .
Darüber hinaus regeln wir materiellen Geheimschutz
auch gesetzlich . Bisher hatten diesen nur die Allgemei-
ne Verwaltungsvorschrift des Bundesministeriums des
Innern zum materiellen Geheimschutz von Verschlusssa-
chen, die sogenannten VSA, also eine untergesetzliche
Regelung . Das hat zwar auch funktioniert, aber gesetz-
lich geregelt ist es sicherer .
Darüber hinaus stärken wir erneut das Bundesamt für
die Sicherheit in der Informationstechnik – kurz BSI – als
zuständige Behörde für den materiellen Geheimschutz
in der Bundesverwaltung . Das BSI hat nun die Aufga-
be und die Befugnisse für ein durchgängig hohes Niveau
des materiellen Geheimschutzes im Geltungsbereich der
VSA zu sichern . Dazu gehören Beratung, Zulassung und
Überprüfung von organisatorischen und technischen Si-
cherheitsmaßnahmen .
Der Umgang mit sicherheitssensiblen Informationen
bedarf klarer technisch aktueller Regeln . Mit dem neu-
en Sicherheitsüberprüfungsgesetz schreiben wir den
Grundsatz der „Kenntnis, nur wenn nötig“ gesetzlich
fest . Dieser Grundsatz beschränkt die Weitergabe von
eingestuften Informationen auf den zur Aufgabenerfül-
lung notwendigen Teil . Das ist die eine Seite der Medail-
le . Die andere Seite der gleichen Medaille ist aber auch,
dass eine Verschlusssache zur Kenntnis bekommt, wenn
sie für seine oder ihre Aufgabe benötigt wird . Das ist das
sogenannte Need-to-share-Prinzip, das hier zum Tragen
kommt .
Gerade bei unserer Arbeit im NSA-Untersuchungs-
ausschuss mussten wir immer wieder feststellen, dass
dieses Prinzip eben nicht in allen Bereichen durchgän-
gig geklappt hat . Man hat eher das Gefühl gehabt, dass
„Kenntnis, nur wenn nötig“ den Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern so in Fleisch und Blut übergegangen ist,
dass eben auch wichtige Informationen nicht weitergege-
ben wurden . Aber es kam eben auch vor, dass, wenn je-
mandem etwas aufgefallen ist, nicht nachgefragt wurde .
Die Begründung war dann immer: Das musste ich nicht
für meine Aufgabe wissen. Ich hoffe, nein, ich erwarte,
dass sich das verbessert .
Insgesamt soll die gesamte Sicherheitsüberprüfung
transparenter gestaltet werden . In Zukunft sollen alle be-
troffenen Personen über das Ergebnis ihrer Sicherheits-
überprüfung informiert werden . Das gilt für abgelehnte
wie für zugelassene Personen . Ein jede und ein jeder
muss wissen, welche Hinderungsgründe für eine Ableh-
nung in einem sicherheitssensiblen Bereich bestehen .
Das muss heute Standard sein .
Allerdings gibt es auch dort eine Ausnahme . Bewer-
berinnen und Bewerber von Nachrichtendiensten des
Bundes wird das Ergebnis nicht mitgeteilt . Denn auslän-
dische Nachrichtendienste versuchen immer wieder mit
fingierten Bewerbungen, den Kenntnisstand der Nach-
richtendienste bzw . die Einstellungspraktiken auszu-
kundschaften. Bei aller Offenheit, so leicht sollten wir es
den ausländischen Diensten nicht machen . Deshalb kann
ich diese Ausnahme auch gut mittragen . Aber das wissen
die Bewerber auch .
Bei solch einer Sicherheitsüberprüfung fallen natur-
gemäß auch persönliche Daten an . Wir regeln nun in
diesem Gesetz, dass, spätestens ein Jahr nachdem eine
sicherheitsempfindliche Tätigkeit nicht oder nicht mehr
ausgeübt wird, die personenbezogenen Daten gelöscht
werden müssen . Davon kann allerdings abgewichen wer-
den, wenn die betroffene Person einer längeren Speiche-
rung zustimmt, da sie anstrebt, in Zukunft erneut eine
sicherheitsempfindliche Tätigkeit auszuüben. Ich denke,
wir haben hier einen sehr ausgewogenen Gesetzentwurf,
den wir nun ins parlamentarische Verfahren geben .
Für interessant halte ich die Anmerkungen der Bun-
desrates zu diesem Entwurf: Es versteht sich von selbst,
dass Bewerberinnen und Bewerber für so sensible Tä-
tigkeiten ihre öffentlich zugänglichen Accounts sozialer
Netzwerke und ihre eigenen Internetseiten angeben . Wir
sollten uns dabei aber wirklich nicht nur auf die eigenen
Seiten beschränken, sondern sollten auch die Möglich-
keit nutzen, öffentlich zugängliche Seite einzusehen, die
eben nicht von den Betroffenen verwaltet werden. In Zei-
ten von mit Hassnachrichten explodierenden Komment-
arzeilen von Onlinezeitungen und anderen Internetseiten
erscheint es nur sinnvoll, eben auch diese für die Bewer-
tung heranzuziehen . Es kann ja sein, dass jemand auf
seinem Facebook-Profil nur Katzenbilder teilt. Das heißt
aber nicht, dass dieser sich auf anderen Seiten nicht ras-
sistisch oder extremistisch äußert . Das muss bei der Si-
cherheitsüberprüfung berücksichtigt werden . Ich denke,
das werden wir hier im Saal alle nachvollziehen können .
Dr. André Hahn (DIE LINKE): Die letzte grundle-
gende Reform des Sicherheitsüberprüfungsgesetzes liegt
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22291
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inzwischen fast ein Vierteljahrhundert zurück . Ange-
sichts der seitdem eingetretenen Veränderungen durch
wachsende Terrorgefahren und erhebliche technische
Fortentwicklungen erscheint es nachvollziehbar, das
entsprechende Gesetz einer intensiven Überprüfung zu
unterziehen . Die Bundesregierung hat dazu nun einen
Entwurf vorgelegt, den wir heute in erster Lesung behan-
deln .
Ich will eingangs für meine Fraktion Die Linke eines
ganz klar festhalten: Auch aus unserer Sicht gibt es gute
Gründe, in bestimmten hochsensiblen Bereichen genau
hinzuschauen, wen man mit extrem sicherheitsrelevanten
Aufgaben betraut . Exemplarisch nenne ich hier nur Flug-
häfen, Atomkraftwerke und andere besonders kritische
Infrastruktureinrichtungen . Und natürlich bestreitet auch
niemand die Notwendigkeit von Vorsorgemaßnahmen
gegen potenzielle Terroranschläge . Für manche dieser
Bereiche, wie beispielsweise die AKWs, existieren eige-
ne gesetzliche Grundlagen, für alle anderen greifen die
Bestimmungen des Sicherheitsüberprüfungsgesetzes .
Mit dem nun vorliegenden Gesetzentwurf sollen die
Regelungen zum materiellen Geheimschutz aus einer all-
gemeinen Verwaltungsvorschrift in das Sicherheitsüber-
prüfungsgesetz überführt werden . Das erscheint durch-
aus sinnvoll; denn aus unserer Sicht ist eine gesetzliche
Regelung einfachen und jederzeit änderbaren Verwal-
tungsvorschriften in aller Regel vorzuziehen .
Der uns vorgelegte Gesetzentwurf bringt jedoch in der
Praxis kaum wirkliche Verbesserungen . Die Kriterien für
die Einstufung als „Sicherheitsrisiko“ bleiben nach wie
vor unscharf, wenig nachvollziehbar, und sie sollen vor
allem auch künftig nicht anfechtbar sein . Einer solchen
Fassung können und werden wir als Linke nicht zustim-
men .
Aus Platzgründen kann ich hier nur einige wenige
Problemfelder ansprechen .
Nach wie vor gibt es keine klare Definition, wer nach
welchen Kriterien entscheidet, ob sich jemand einer Si-
cherheitsüberprüfung unterziehen muss, und, falls ja, für
welche Stufe dies erfolgt . Das Vorliegen eines Sicher-
heitsrisikos wird durch die Novelle wesentlich weiter
gefasst als bislang . Demnach sollen nun schon „mögli-
che Anbahnungs- und Werbungsversuche“ ausländischer
Nachrichtendienste als kriminell verdächtigter Vereini-
gungen oder extremistischer Organisationen ausreichen,
um als ein solches Sicherheitsrisiko angesehen zu wer-
den . Vor derartigen Anbahnungsversuchen ist aber letzt-
lich niemand wirklich gefeit, der zum Umgang mit Ver-
schlusssachen ermächtigt ist .
Zudem fehlen eindeutige Kriterien, wem die Ertei-
lung der Sicherheitsüberprüfung aus welchen Gründen
verweigert werden kann . Gleichzeitig nimmt der Gesetz-
entwurf Erweiterungen bei der Überprüfung selbst vor .
Dies führt zu einer immer stärkeren Durchleuchtung und
Abfrage der Lebensumstände sowie des Umfeldes der zu
überprüfenden Personen .
Für die Betroffenen sind die Entscheidungen oft we-
der nachvollziehbar noch anfechtbar . Es ist dringend ge-
boten, ablehnende Bescheide über die Erteilung einer Si-
cherheitsüberprüfung in Zukunft gerichtlich überprüfen
lassen zu können . An der Frage, ob eine Sicherheitsüber-
prüfung erteilt wird oder nicht, können im Zweifel ganze
berufliche und auch familiäre Existenzen hängen, wenn
jemand deshalb seinen Job verliert oder gar nicht erst be-
kommt . Ohne einen klaren Kriterienkatalog und die ver-
waltungsgerichtliche Überprüfbarkeit sind der Willkür
Tür und Tor geöffnet. Auch deshalb plädieren wir dafür,
dass die Betroffenen zu ihrer Anhörung von einem An-
walt oder einer Person ihres Vertrauens begleitet werden
können . Davon ist im vorliegenden Gesetzentwurf aller-
dings leider keine Rede .
Auch zukünftig sollen nicht näher definierte soge-
nannte „amtliche Stellen des Bundes“ über die Einstu-
fung von Verschlusssachen befinden. Jedes Ministerium,
jedes Amt soll weiterhin völlig frei entscheiden können,
was geheim ist und was nicht . Eine bundesweit einheit-
liche Einstufungspraxis ist daher auch in Zukunft nicht
zu erwarten .
Wohin das führt, haben wir nicht zuletzt in parlamen-
tarischen Untersuchungsausschüssen leidvoll erfahren
müssen . In den letzten drei Jahren der großen Koaliti-
on ist ein Trend zur immer restriktiveren Einstufung
von Dokumenten festzustellen . Das behindert wirksame
Kontrolle der Opposition . Teilweise werden sogar Fak-
ten als geheim eingestuft, die bereits presseöffentlich
waren . Zum anderen wird ein und dieselbe abgefragte
Information in Bezug auf den BND als verschlusswür-
dig angesehen, wohingegen die Antwort auf den gleichen
Sachverhalt beim Verfassungsschutz offen erfolgt oder
umgekehrt .
Und schließlich: Aus unserer Sicht gibt es keinen
Grund, warum unbedingt Geheimdienste, insbesondere
das Bundesamt für Verfassungsschutz, die Sicherheits-
überprüfungen durchführen müssen . Wir meinen, dass es
in aller Regel ausreichen sollte, Abfragen bei der Poli-
zei und den zuständigen Staatsanwaltschaften durchzu-
führen . Durch eine solche Bindung an klassische Exe-
kutivbehörden wäre zudem die verwaltungsgerichtliche
Überprüfbarkeit der Ergebnisse auch deutlich einfacher
umzusetzen .
In der vorliegenden Form kann die Linke den Gesetz-
entwurf nur ablehnen, sofern es im Ergebnis der Aus-
schussberatungen nicht noch zu deutlichen Korrekturen
kommt .
Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der
vorliegende Gesetzentwurf regelt Fragen des personellen
und des materiellen Geheimschutzes . Wichtige Fragen
bleiben dabei aber unbeantwortet, und manche Antwort,
die gegeben wird, ist – bei näherer Betrachtung – gar kei-
ne .
Dafür findet der Antrag vermeintliche Lösungen für
Probleme, die zwar in der Praxis bestehen mögen, ihre
Ursache aber gerade nicht in der bestehenden gesetzli-
chen Regelung haben . Das gilt in besonderem Maße für
den Fall „Roque M .“, den die Presse den Maulwurf beim
Verfassungsschutz nannte . Es geht um einen Mitarbeiter
beim Verfassungsschutz, der für die Überwachung von
mutmaßlichen islamistischen Attentätern zuständig war,
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722292
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aber im Netz offen seine Sympathie für den IS erklärt
haben soll .
Darauf reagiert nun der vorliegende Gesetzentwurf
und ordnet an, dass zukünftig „Einsicht in den öffentlich
sichtbaren Teil der Profilseiten in sozialen Netzwerken
und in öffentlich sichtbare eigene Internetseiten“ genom-
men werden kann . Dabei können bereits nach geltender
Rechtslage Daten aus allgemein zugänglichen Quellen
einschließlich des Internets im Rahmen einer Bewerbung
beim Bundesamt für Verfassungsschutz erhoben wer-
den, wenn die Daten Feststellungen über die Eignung,
Befähigung und Leistung des Bewerbers ermöglichen .
Insbesondere hinsichtlich der Sicherheitsüberprüfungen
beim BfV ist der Gesetzentwurf daher in erster Linie ein
Placebo .
Der Gesetzentwurf zielt aber auch darauf ab, die
Wahrung der schutzwürdigen Interessen der Bewerber
einzuschränken, wenn zukünftig höchstpersönliche Äu-
ßerungen pauschal und ohne jeden Bezug zur Tätigkeit
abgefragt werden sollen . Sinnvoll wäre vielleicht gewe-
sen, sich einmal bereichsspezifisch zu fragen, welche
Sachverhalte für die Überprüfung zum Zweck der jewei-
ligen Tätigkeit überhaupt relevant sind . Denn nur ein im
Einzelfall begründeter Überprüfungsbedarf verhindert
Wertungswidersprüche, wenn das private Profil oder die
eigene Homepage ohne nennenswerte Reichweite im
Einzelfall beispielsweise viel weniger relevant sind als
die Beiträge, die jemand für eine einschlägige Zeitschrift
oder einen einschlägigen Blog schreibt .
Im Sinne der Rechtssicherheit ist aber auch für die
nötige Rechtsklarheit zu sorgen. Was ist der „öffentlich
sichtbare Teil“ einer Profilseite in einem sozialen Netz-
werk? Ist es der für wirklich jeden, also auch Nichtnutzer
des Netzwerks, einsehbare Teil, oder ist es der für alle
Nutzer des Netzwerkes unabhängig vom Zugriffsrecht
bzw . Friend-Status einsehbare Teil?
Diese Fragen sind wichtig, auch um einen gerechten
Ausgleich zwischen dem öffentlichen Sicherheitsinteres-
se und der Wahrung der Rechte und Interessen der Be-
troffenen zu schaffen. Diese Ausgewogenheit kommt im
vorliegenden Entwurf aber zu kurz .
Das gilt auch für den materiellen Geheimschutz . Auch
hier fehlt dem Gesetzentwurf die nötige Ausgewogenheit .
Es genügt eben nicht, zu definieren, was als Verschluss-
sache besonders geheim zu halten ist . In der Demokratie
hat auch das Interesse, Sachverhalte öffentlich zu disku-
tieren, besonderes Gewicht . Notwendig wäre mindes-
tens ein einheitliches Verfahren, in dem die Einstufung
als geheimhaltungsbedürftig verwaltungsseitig schnell
und einfach überprüft werden kann . Die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen hat dazu bereits in der letzten Wahl-
periode einen eigenen Antrag mit dem Titel eingebracht:
„Demokratie durch Transparenz stärken – Deklassifizie-
rung von Verschlusssachen gesetzlich regeln“, Bundes-
tagsdrucksache 17/6128 . Die gleichen Fragen haben uns
aber auch beim Archivgesetz beschäftigt . Diese Fragen
haben für die parlamentarische Kontrolle der Regierung
und die Demokratie große Bedeutung, und gerade in si-
cherheitspolitisch schwierigen Zeiten ist es wichtig, die
demokratischen Institutionen zu stärken. Ich hoffe daher
sehr, dass das parlamentarische Verfahren jetzt genutzt
wird, die offenen Fragen zu klären und diesen Gesetzent-
wurf so weiterzuentwickeln, dass er tatsächlich die De-
mokratie und die Sicherheit gleichermaßen stärkt .
Dr. Günter Krings, Parl. Staatssekretär beim Bun-
desminister des Innern: Personen, die eine sicherheits-
empfindliche Tätigkeit ausüben, werden sicherheitsüber-
prüft. Dies betrifft sowohl den öffentlichen Bereich, also
die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundesbehör-
den, als auch den Bereich der Wirtschaft . Seit nunmehr
knapp 23 Jahren regelt das Sicherheitsüberprüfungsge-
setz die Voraussetzungen und das Verfahren hierzu .
Das Gesetz hat sich in dieser Zeit bewährt, aber es ist
in die Jahre gekommen . In den vergangenen 23 Jahren
hat sich unsere Gesellschaft stark verändert: Das Internet
ist mittlerweile allgegenwärtig, immer mehr Menschen
verbringen einen Teil ihres Lebens im Ausland und auch
die Sicherheitsbedrohungen sind andere geworden . Mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf trägt die Bundesregie-
rung diesen veränderten Rahmenbedingungen Rechnung .
Er ergänzt zunächst die Maßnahmen, die bei einer
Sicherheitsüberprüfung durchzuführen sind, um aktuel-
le Bedürfnisse: Soziale Netzwerke und Internetauftritte
nehmen einen immer größeren Stellenwert ein und wer-
den zunehmend als Selbstdarstellungs- und Kommunika-
tionsplattformen genutzt .
Vor diesem Hintergrund können wir gerade bei Sicher-
heitsüberprüfungen vor Informationen im Internet nicht
die Augen verschließen, sondern müssen diese als Er-
kenntnisquelle nutzen . Sind die Informationen für jeden
sichtbar ins Internet eingestellt – und damit öffentlich –,
können sie daher nach dem Gesetzentwurf in einem ge-
wissen Umfang insbesondere bei den für die Mitarbeiter
und Bewerber der Nachrichtendienste durchzuführenden
Sicherheitsüberprüfungen berücksichtigt werden . Der
Bundesrat hat hierzu in seiner Stellungnahme zum Ge-
setzentwurf eine Ausdehnung des Umfangs der Recher-
chen, vor allem aber auch des davon betroffenen Perso-
nenkreises gefordert .
Darüber wird im weiteren parlamentarischen Ver-
fahren zu reden sein . Die Bundesregierung verschließt
sich dieser Diskussion nicht, und ich hoffe, dass wir hier
gemeinsam eine Lösung finden, die der Bedeutung von
sicherheitsrelevanten Informationen im Internet gerecht
wird .
Doch nicht nur das Internet verbindet uns mit der
Welt . Es ist mittlerweile weit verbreitet, dass Menschen
Teile ihres Lebens im Ausland verbringen .
Das Studiensemester in den USA, der nächste Karrie-
reschritt durch ein berufliches Angebot in Polen oder die
Entsendung an die deutsche Botschaft in Brasilien, sol-
che Stationen sind in Lebensläufen längst keine Selten-
heit mehr . Diese Auslandsaufenthalte machen bei Sicher-
heitsüberprüfungen grundsätzlich eine Zusammenarbeit
mit ausländischen Stellen notwendig, die in dem vorlie-
genden Gesetzentwurf erstmals explizit geregelt wird .
Bildet der Aufenthalt im Ausland den Lebensmittel-
punkt, muss auch die dort verbrachte Zeit sicherheits-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22293
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mäßig bewertet werden . Sonst entstehen Lücken in der
Überprüfung, die nicht kalkulierbare Sicherheitsrisiken
mit sich bringen können .
Bei der Kooperation mit ausländischen Stellen werden
auch immer die schutzwürdigen Interessen der betroffe-
nen Personen berücksichtigt. Der Gesetzentwurf defi-
niert klar diejenigen Daten, die zum Zwecke einer An-
frage an ausländische Stellen übermittelt werden dürfen,
und begrenzt sie somit zugleich . Zudem ist eine Anfrage
im Ausland immer von der Zustimmung der betroffenen
Person abhängig . Sie hat damit die Letztentscheidung
über die Datenübermittlung . Durch Berücksichtigung
dieses Zweiklangs von öffentlichem Interesse an der An-
frage und den schutzwürdigen Interessen der betroffenen
Person erzielt der Entwurf eine praxistaugliche Lösung
für die Herausforderung der Globalisierung .
Doch es gehen nicht nur Deutsche ins Ausland, son-
dern es kommen auch Ausländer nach Deutschland .
Der Gesetzentwurf schafft daher die Möglichkeit, im
Rahmen von Sicherheitsüberprüfungen in bestimmten
Fällen künftig auch auf Daten aus dem Ausländerzen-
tralregister zuzugreifen . Mit dieser Anpassung wird eine
wichtige Erkenntnisquelle erschlossen, die bereits in fünf
Sicherheitsüberprüfungsgesetzen der Länder, im Luftsi-
cherheitsgesetz und im Atomgesetz zur Verfügung steht .
Die Maßnahme trägt damit auch dazu bei, ein vergleich-
bares Niveau der verschiedenen Überprüfungsarten zu
gewährleisten .
Der veränderten Sicherheitslage trägt der Gesetzent-
wurf mit der Erweiterung der möglichen Ablehnungs-
gründe bei Sicherheitsüberprüfungen Rechnung . Die bis-
herige Fokussierung auf ausländische Nachrichtendienste
bei Anbahnungs- und Werbungsversuchen in Bezug auf
Personen, die eine sicherheitsempfindliche Tätigkeit aus-
üben, ist überholt . Es ist vielmehr davon auszugehen,
dass auch kriminelle, extremistische oder gar terroristi-
sche Vereinigungen an Informationen über den Wissens-
stand der Sicherheitsbehörden interessiert sind und ver-
suchen werden, sich Zugang zu diesen Informationen zu
verschaffen. Entsprechend müssen diese Gruppierungen
im Sicherheitsüberprüfungsgesetz berücksichtigt wer-
den. Besteht für eine Person in sicherheitsempfindlicher
Tätigkeit eine besondere Gefährdung, beispielsweise
weil sie für solche Gruppierungen erpressbar ist, darf sie
nicht länger in diesem Aufgabenbereich eingesetzt wer-
den. Besonders sensible Informationen, die im öffentli-
chen Interesse geheim gehalten werden, sind aber nicht
nur dadurch bedroht, dass Innentäter diese weitergeben
könnten; auch Versuche von Unbefugten, ohne Hilfe von
innen an diese Informationen zu gelangen, sind keine
Seltenheit .
Hier hilft das Instrument der Sicherheitsüberprüfung
wenig . Wichtig sind an dieser Stelle vielmehr die orga-
nisatorischen und technischen Vorkehrungen zum Schutz
von Verschlusssachen, also ein funktionierender mate-
rieller Geheimschutz . Dessen Grundsätze werden mit
dem vorliegenden Entwurf erstmals auf Gesetzesebene
verankert, und die bislang nur untergesetzlichen Bestim-
mungen werden damit aufgewertet . Da es nicht ausreicht,
nur zum Zeitpunkt der Durchführung der Sicherheits-
überprüfung ein hohes Sicherheitsniveau zu erreichen,
sondern dieses hohe Niveau über den gesamten Zeitraum
der sicherheitsempfindlichen Tätigkeit konstant aufrecht-
zuerhalten ist, werden nunmehr regelmäßige Wiederho-
lungsüberprüfungen für alle Arten der Sicherheitsüber-
prüfung eingeführt . Der Entwurf sieht vor, bereits fünf
Jahre nach erfolgreichem Abschluss der Erstüberprüfung
die Maßnahmen der einfachen Sicherheitsüberprüfungen
erneut durchzuführen; nach zehn Jahren steht dann die
große Wiederholungsüberprüfung mit erneuter Durch-
führung aller Maßnahmen an .
Lassen Sie mich zusammenfassend sagen: Der vor-
liegende Entwurf schafft ein modernes Sicherheitsüber-
prüfungsgesetz, das den Herausforderungen unserer Zeit
gerecht wird, das Gesamtgefüge der Sicherheitsgesetze
sinnvoll ergänzt und die Sicherheit in unserem Land da-
mit nachhaltig stärkt .
Anlage 9
Zu Protokoll gegebene Reden
Zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung
der Richtlinie (EU) 2016/1148 des Europäischen
Parlaments und des Rates vom 6. Juli 2016 über
Maßnahmen zur Gewährleistung eines hohen ge-
meinsamen Sicherheitsniveaus von Netz- und In-
formationssystemen in der Union (Tagesordnungs-
punkt 27)
Clemens Binninger (CDU/CSU): Die IT-Sicher-
heitslage in der Bundesrepublik ist in den vergangenen
Wochen, Monaten und Jahren zu Recht häufig themati-
siert worden. Wir alle erinnern uns an den Cyberangriff
auf die Telekom im vergangenen Jahr. Der Angriff, der
bei knapp 1 Million Routern zu Störungen geführt hat,
hat deutlich gezeigt, dass viele Systeme angreifbar sind
und dass diese Systeme auch angegriffen werden. Wir
erleben auch, dass die Zahl der Cyberangriffe insgesamt
stark zunimmt . Die Sicherheit der digitalen Infrastruk-
tur ist in der heutigen Gesellschaft daher von höchster
Relevanz. Viele Bereiche des privaten und beruflichen
Lebens der Bürgerinnen und Bürger und auch der Wirt-
schaft wären ohne eine funktionierende und sichere IT so
nicht mehr denkbar . Daher ist es dringend notwendig, eu-
ropaweit ein hohes Sicherheitsniveau zum Schutze aller
EU-Bürger zu gewährleisten . Auch bei uns in Deutsch-
land wurde die Bedeutung der Bedrohung im Cyberraum
in der Vergangenheit lange unterschätzt .
In den letzten Jahren haben wir auf nationaler Ebene
bereits einiges erreicht: der Umbau des Bundesamts für
Sicherheit in der Informationstechnik, BSI, die Einrich-
tung des Nationalen Cyber-Abwehrzentrums, der Natio-
nale Cyber-Sicherheitsrat und zuletzt die Umsetzung des
IT-Sicherheitsgesetzes . Neben diesen wichtigen nationa-
len Maßnahmen benötigen wir jetzt vor allem auf europä-
ischer Ebene eine verbesserte Zusammenarbeit . Deshalb
war es auch wichtig, dass das Europäische Parlament mit
der NIS-Richtlinie gemeinsame Regeln zum Schutz vor
diesen neuen Gefahren beschlossen hat . Bereits mit dem
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722294
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IT-Sicherheitsgesetz haben wir in Deutschland die meis-
ten Vorgaben dieser Richtlinie erfüllt und sind mit gutem
Beispiel vorangegangen .
Mit dem IT-Sicherheitsgesetz haben wir bereits eine
gesetzliche Meldepflicht für Betreiber kritischer Infra-
strukturen geschaffen. Diese Meldepflicht wird jetzt
mit dem vorliegenden Gesetzentwurf auch auf digitale
Dienste wie Onlinemarktplätze und Suchmaschinen aus-
geweitet und erfüllt damit die Vorgaben der EU-Richtli-
nie. Gerade diese Meldepflicht ist zur Erstellung eines
Lagebilds unabdingbar . Nur dadurch können wir nach-
vollziehen, wie umfangreich die Angriffe sind und wel-
che neue Schadsoftware im Umlauf ist .
Durch den vorliegenden Gesetzentwurf werden die
Befugnisse des BSI zur Überprüfung der technischen
und organisatorischen Sicherheitsanforderungen erwei-
tert und die rechtlichen Grundlagen für den Einsatz von
Mobilen Incident Response Teams, MIRTs, geschaffen,
die andere Stellen bei Bedarf, bei der Abwehr von Cy-
berangriffen mit besonders hoher technischer Qualität,
vor Ort unterstützen können . Zusätzlich wird es dem BSI
ermöglicht, die Einhaltung der Vorgaben bei Betreibern
von kritischer Infrastruktur vor Ort zu kontrollieren . Da-
mit stärken wir das BSI weiter bei der Bündelung der
Kompetenzen im Cybersicherheitsbereich und verbes-
sern den Schutz von Staat, Wirtschaft und der Bevölke-
rung vor Angriffen.
Diese Erweiterung der Befugnisse des BSI ist nach
den Angriffen der letzten Jahre auch dringend notwen-
dig . Dabei ist aber auch zu betonen: Die Befugniserwei-
terung des BSI darf den Datenschutz nicht untergraben .
Um dies zu gewährleisten, werden daher auch weiterhin
keine sensiblen Daten erfasst . Alle personenbezogenen
Daten, die für die Wiederherstellung der Sicherheit bei
Betreibern kritischer Infrastruktur wichtig sind, werden
deshalb sofort gelöscht, wenn sie nicht mehr benötigt
werden. Zudem verpflichten wir das BSI mit dem vor-
liegenden Entwurf, bei grenzüberschreitenden Vorfällen
die Behörden des jeweiligen EU-Staates zu informie-
ren . Diese internationale Kooperation ist für ein hohes
Schutzniveau in der gesamten Union mitentscheidend
und wird deshalb auch zu Recht in der EU-Richtlinie ge-
fordert .
Neben den bereits erwähnten Maßnahmen zeigt auch
die Einrichtung der Zentralen Stelle für Informations-
technik im Sicherheitsbereich, ZITiS, im Bundesinnen-
ministerium, welche Bedeutung der Cybersicherheit von
den Koalitionsfraktionen und der Bundesregierung zuge-
messen wird .
Bei der Diskussion über Cyberangriffe muss man aber
auch immer erwähnen – und das ist durch die Angriffe
in der Vergangenheit auch mehr als deutlich geworden –:
Eine absolute Sicherheit vor solchen Angriffen gibt es
nicht . Mit dem IT-Sicherheitsgesetz haben wir es aber
geschafft, einheitliche Mindeststandards in der Bundes-
republik zu schaffen.
Die Umsetzung der Richtlinie ist für die europäische
Zusammenarbeit im Bereich Cybersicherheit ein wich-
tiges Signal und zeigt, dass wir unserer Vorreiterrolle in
Europa nun auch endlich im Bereich der Cybersicherheit
gerecht werden .
Gerold Reichenbach (SPD): Die Digitalisierung
durchdringt unser Leben immer weiter in nahezu allen
Bereichen, ein Ende ist nicht absehbar . Das bereits heute
bestehende Ausmaß an Vernetzung unserer Alltags- und
Arbeitswelt, der Industrie und der Wirtschaft, dem Ge-
sundheitswesen und vielem mehr macht uns in hohem
Maße anfällig für Angriffe im und aus dem Cyberraum.
Sicherheitslücken und Cyberangriffe können dramati-
sche Folgen haben. Der Angriff auf Internetrouter Ende
vergangenen Jahres, bei dem auch großflächig Router
der Telekom ausfielen und circa 1 Million Kunden be-
troffen waren, oder auch der Hackerangriff, der das
Krankenhaus Neuss Anfang 2016 lahmgelegt hat, lassen
erahnen, was für ein Gefahrenpotenzial im Bereich unsi-
cherer IT-Produkte schlummert und wie sehr ihr Ausfall
das öffentliche Gemeinwesen schädigen kann. Um sol-
che Situationen geht es bei der Umsetzung der Richtlinie
zur Gewährleistung eines hohen gemeinsamen Sicher-
heitsniveaus von Netz- und Informationssystemen in der
Europäischen Union, über die wir hier in erster Lesung
beraten .
Wir begrüßen daher diese vom Europäischen Parla-
ment vorgelegte Richtlinie . Sie bildet die Grundlage für
einen einheitlichen europäischen Rechtsrahmen, einen
EU-weiten Ausbau nationaler Kapazitäten für die Cy-
bersicherheit und eine stärkere Zusammenarbeit der Mit-
gliedstaaten in diesem Bereich . Dies ist wichtig, denn
IT-Sicherheit ist längst keine nationale Frage mehr . Es
werden außerdem Mindestanforderungen und Melde-
pflichten nicht nur für die Betreiber wesentlicher Diens-
te, also für Betreiber kritischer Infrastrukturen, sondern
auch für die Betreiber bestimmter digitaler Dienste ge-
schaffen. Deutschland ist mit dem IT-Sicherheitsgesetz
von 2015 bereits gut aufgestellt . Vorausschauend haben
wir hier bereits mit Blick auf die NIS-Richtlinie viele
Regelungen, die die Richtlinie nun vorgibt, umgesetzt,
sodass die jetzt nötigen Änderungen gering gehalten wer-
den können .
Die Anforderungen der Richtlinie, die über das beste-
hende IT-Sicherheitsgesetz hinausgehen, sind sinnvoll .
Die Meldepflichten und stärkeren materiellen Vorgaben
für Unternehmen, die nun beispielsweise Konzepte zur
Bewältigung von Sicherheitsvorfällen vorlegen müssen,
erachten wir als dringend erforderlich . Aktuelle Cyber-
angriffe im Telekommunikationsbereich haben gezeigt,
dass die Meldewege von der Bundesnetzagentur zum
BSI bei Vorfällen in Telekommunikationsnetzen nicht
mehr gerecht werden . Insbesondere der Telekom-Vorfall
hat gezeigt, dass Meldewege optimiert werden müssen .
Wir begrüßen daher auch die mit dem Umsetzungsgesetz
eingeführte Doppelmeldepflicht von Sicherheitsvorfällen
beim Bundesamt für Sicherheit in der Informationstech-
nik und bei der Bundesnetzagentur . Durch die parallele
Meldung wird es dem BSI ermöglicht, seine Ressourcen
und Kompetenzen zeitnah und besser einzusetzen . Zur
Erhöhung des Niveaus der Cybersicherheit wird das BSI
insbesondere durch die Nachweis- und Meldepflichten
der Betreiber kritischer Infrastrukturen weiter gestärkt .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22295
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Fortan müssen zudem nicht nur Ausfälle, sondern auch
erhebliche Störungen gemeldet werden .
Wir wollen uns den vorliegenden Gesetzentwurf noch
näher anschauen mit Blick auf die Frage, wo sich aus den
jüngsten Sicherheitsvorfällen noch weiterer Bedarf zur
gesetzlichen Reaktion ergibt . Besonderes Augenmerk
liegt dabei darauf, wie Sicherheitslücken in IT-Endgerä-
ten, wie beispielsweise jene im genannten Router-Vor-
fall, vermieden werden können, aber auch, welche Mög-
lichkeiten Netzbetreiber benötigen, um künftig Angriffe
schneller abwehren oder sogar verhindern zu können .
Denn je mehr beispielsweise die klassische Telefonie auf
Voice-over-IP übergeht – und in wenigen Jahren wird
Telefonie flächendeckend über Voice-over-IP laufen –,
desto mehr ist auch die Möglichkeit der Absetzung ei-
nes Notrufs von einer funktionierenden Internetverbin-
dung abhängig . So werden zum Beispiel Router Teil
einer sicherheitsrelevanten Infrastruktur . Aus Sicht der
SPD-Bundestagsfraktion besteht darum auch im Bereich
der Produkthaftung und der Einführung eines verlässli-
chen Gütesiegels Handlungsbedarf . Da zunehmend alles
mit allem vernetzt ist – Stichwort Internet der Dinge/
Internet of Things, IoT –, stellt sich immer drängender
die Frage, wie die IT-Sicherheit der vernetzten Dinge
sichergestellt werden kann und wer in der Haftung ist .
Denn nicht nur offensichtlich internetfähige Geräte wie
Computer, Smartphones und Tablets sind heutzutage
vernetzt und eine potenzielle Gefahrenquelle, auch All-
tagsgegenstände wie Wecker, Zahnbürsten, Babyphones,
Kaffeemaschinen und Kühlschränke sind heute mit einer
IP-Adres se ausgestattet und damit internetfähig . Das In-
ternet der Dinge hat in einem sehr kurzen Zeitraum eine
enorme Größe erreicht. Selten finden bei diesen Geräten
Softwareupdates statt – oft weil die Hersteller keine si-
cheren Produkte auf den Markt bringen, oft weil die Nut-
zerinnen und Nutzer keine Softwareupdates durchführen
oder diese auch nicht mehr zur Verfügung stehen . So ent-
stehen weltweit bei Millionen Geräten Sicherheitslücken .
Diese Geräte können leichter gehackt und für den Aufbau
von Bot-Netzen und DDoS-Angriffe genutzt werden, die
zu weiteren Ausfällen von Diensten und von ganzen Inf-
rastrukturteilen führen können . So werden Massenwaren,
die von jeder Privatperson gekauft werden können, zum
Bestandteil einer kritischen Infrastruktur . Sicherheits-
mängel bei privat erworbenen und genutzten Geräten
werden so zu einem Sicherheitsrisiko für ganze Teile
der Bevölkerung, wenn diese Geräte gehackt als Teil ei-
nes Bot-Netzes beispielsweise für den Angriff auf einen
Wasserversorger genutzt werden können . Ein Gütesiegel,
basierend auf BSI-Mindeststandards halten wir daher für
einen wichtigen ersten Schritt, um die Angreifbarkeit von
IT-Produkten einzudämmen .
Selbstverständlich macht das Internet nicht an natio-
nalen Grenzen Halt . Insofern gilt es, europäische und in-
ternationale Lösungen und Standards für diesen Bereich
zu finden und durchzusetzen. Deutschland sollte hier mit
gutem Beispiel vorangehen und eine Vorreiterrolle ein-
nehmen . Denn ein hohes Maß an IT-Sicherheit bedeutet
nicht nur eine Erhöhung der öffentlichen Sicherheit, son-
dern auch einen Standortvorteil für Wirtschaft und Un-
ternehmen . Wir sollten Regelungen für die Erhöhung der
Sicherheit von IT-Produkten durch die Einführung eines
Gütesiegels im weiteren gesetzgeberischen Verfahren da-
her prüfen .
Martina Renner (DIE LINKE): Die Bundesregierung
hat sich vorgenommen, die Richtlinie zur Verbesserung
der Netz- und Informationssicherheit, NIS-Richtlinie, in
nationales Recht zu überführen . Wesentliche Regelun-
gen der sogenannten NIS-Richtlinie allerdings wurden
bereits mit dem im Sommer 2016 in Kraft getretenen
deutschen IT-Sicherheitsgesetz umgesetzt . Dies betraf
beispielsweise die sogenannten wesentlichen Dienste,
sprich: Betreiber kritischer Infrastrukturen aus den Be-
reichen Energie, Informationstechnik und Telekommu-
nikation, Transport und Verkehr, Gesundheit, Wasser,
Ernährung sowie Finanz- und Versicherungswesen . Sei-
nerzeit nicht adressiert wurden die von der europäischen
Richtlinie bereits erfassten „digitalen Dienste“ . Das sind
Onlinemarktplätze, Suchmaschinen und Cloud-Compu-
ting-Dienste . Diese Regelungslücke soll nun geschlossen
werden . So weit, so scheinbar unspektakulär . Doch wer-
den bei näherem Hinsehen drei grundlegende Mängel im
Regierungsentwurf deutlich .
Erstens . Rechtssicherheit für die Anbieter von „digi-
talen Diensten“ wird nicht erreicht . Der Regierungsent-
wurf zum Umsetzungsgesetz bleibt sowohl in der Defi-
nition als auch in der Konkretion der Anforderungen für
digitale Diensteanbieter völlig unbestimmt . Insbesondere
bleibt unbeantwortet, wie diese von den bereits im Rah-
men des IT-Sicherheitsgesetzes regulierten Anbietern
von Telemediendiensten abzugrenzen sind . Im Zweifel
müssten sich die Anbieter an beide Regelungen halten .
Geschaffen wird so eine Doppelregulierung und ein un-
durchsichtiges Dickicht an Sicherheitspflichten. Beides
läuft der Gewährleistung der Netz- und Informationssi-
cherheit und damit dem Zweck der Richtlinie zuwider .
Weder Verbrauchern noch Anbietern ist damit gedient .
Dringend notwendig ist es daher, eine inhaltliche Syste-
matisierung der IT-Sicherheitspflichten für alle Anbieter
und Dienste vorzunehmen .
Zweitens . Das Bundesamt für Sicherheit in der Infor-
mationstechnik, BSI, wird mit dem Umsetzungsgesetz
weiter zu einer operativen Behörde ausgebaut . Erstmals
erhält es operative Befugnisse zur Cyberabwehr, um mit
eigenen Kräften – wie es im Entwurf des Gesetzestextes
heißt – bei der „Wiederherstellung der Sicherheit oder
Funktionsfähigkeit informationstechnischer Systeme“
mitwirken zu können . Zum Ausdruck kommt die Aus-
weitung des Aufgabenbereichs auch in einem erneuten
Stellenaufwuchs . Wurden dem BSI mit Verabschiedung
des IT-Sicherheitsgesetzes bereits 220 Stellen zusätzlich
zugewiesen, so kommen nun noch einmal 181,5 Stellen
hinzu .
Zugleich wird die Behörde allerdings nicht institutio-
nell gestärkt, sondern bleibt dem Bundesinnenministeri-
um unterstellt . Die Unabhängigkeit des BSI ist nicht ge-
währleistet . Der Präsident des BSI hat gerade erst erklärt,
bei Ermittlungen zu Cyberattacken müssten am Ende
Indizien interpretiert werden . Dies bedarf natürlich einer
Unabhängigkeit der Untersuchungsbehörde . Zudem wird
das schwammige Verhältnis des BSI zu den polizeilichen
Sicherheitsbehörden und den Geheimdiensten von der
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722296
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Bundesregierung ausdrücklich gewollt . Dessen intensive
Zusammenarbeit mit BND, BfV und MAD national via
Cyber-Abwehrzentrum oder international in der Koope-
ration mit der NSA soll nicht durchbrochen werden . Das
Vertrauensproblem der für die Cyberabwehr zuständigen
Bundesbehörde wird auf diese Weise nicht gelöst . Ge-
rade die Sensibilität der beim BSI gesammelten Infor-
mationen über Sicherheitslücken und -strukturen sowie
der Umgang mit persönlichen Daten aus Unternehmen
und von Privatpersonen erfordert zwingend, sie als un-
abhängige Bundesbehörde mit unzweideutigem Sicher-
heitsauftrag aufzustellen .
Drittens . Die Bundesregierung verzichtet erneut da-
rauf, Regelungen zur Produktsicherheit und Produkthaf-
tung für IT-Produkte und IT-Dienste einzuführen . Das
war bereits bei Verabschiedung des IT-Sicherheitsgeset-
zes der Fall und ist es jetzt erneut . Ausgangspunkt von
Sicherheitsproblemen aber sind in den allermeisten Fäl-
len Sicherheitslücken in der eingesetzten Software . Zum
Kern des Problems in der IT-Sicherheit vorzudringen,
heißt daher, Haftungsverschärfungen für IT-Sicherheits-
mängel im IT-Sicherheitsrecht aufzunehmen .
Aus diesen Gründen werden wir dem Umsetzungsge-
setz nicht zustimmen und uns enthalten .
Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Das Smartphone wird zum verwanzten, ja fast
allgegenwärtigen Begleiter, das Smart TV zum Schlüs-
selloch Per-Remote-Control ins Büro oder Wohnzimmer .
Der aktuelle CIA-Leak fügt sich ein in die Reihe digitaler
Sicherheitsvorfälle auf ganz unterschiedlichen Feldern:
von den Snowden-Enthüllungen über die Stuxnet-At-
tacke bis zu ausgefallenen Telekom-Routern, gehack-
ten Mittelständlern und Krankenhäusern oder auch den
jüngst stundenlang blockierten Servern im Deutschen
Bundestag . All dies sollte auch den letzten tatsächlich
oder auch nur vorgeblich Ahnungslos-Gutgläubigen in
verantwortlicher Position zeigen: Was fehleranfällig ist,
wird auch zu Fehlern führen, was potenziell hackfähig
ist, das wird auch mit hoher Wahrscheinlichkeit gehackt
werden, und zwar rund um die Uhr, weltweit .
In einer immer digitalisierteren Welt birgt die Frage
nach der Sicherheit unserer digitalen Infrastruktur und
Kommunikation multiple systemische Risiken in so gut
wie jedem Gesellschaftsbereich . Eigentlich sollte dies
im Jahr 2017 eine Binsenerkenntnis sein, ist es jedoch
angesichts einer Bundesregierung nicht, die immer nur
in Sonntagsreden die Wichtigkeit und Dringlichkeit des
Themas betont, wenn es aber im eigenen Verantwor-
tungsbereich konkret wird, wieder einmal nur unbeteiligt
mit den Schultern zuckt, sie es wieder und wieder sagt –
selbst um Mitternacht in einer übervollen Tagesordnung
nur zu Protokoll . Allein dieser Debattenplatz widerspricht
den großen Worten, die an anderer Stelle auf Podien und
in Interviews so gern in den Mund genommen werden .
Denn auch wenn es sich bei den CIA-Operationen offen-
bar um gezielte Maßnahmen handelt, beruhen sie doch
auf Sicherheitslücken in verbreiteten Betriebssystemen,
die auf einem grauen Markt gehandelt und zum Schaden
der Allgemeinheit offengehalten und ausgenutzt werden,
statt umgehend gemeldet und geschlossen zu werden .
Hier mischen neben Kriminellen offensichtlich auch
Geheimdienste mit, die sie wiederum mit Steuergeldern
bei ihren Exploit-Ankäufen auch noch subventionieren .
Zudem zeigt der CIA-Leak nach den Snwoden-Enthül-
lungen abermals auf, dass selbst diese hochgerüsteten
Akteure ihre eigenen Daten und Informationen nicht zu
sichern in der Lage sind .
Bezeichnend ist, dass die Bundesregierung es noch
in ihrer letzten Cybersicherheitsstrategie fertig brachte,
die Erkenntnisse der Aufklärungsarbeit seit Snowden
nicht auch nur mit einem Wort zu erwähnen . Es ist und
bleibt der Kardinalfehler dieser Großen Koalition, die-
ses Thema weitgehend dem Bundesinnenminister und
den Sicherheitsbehörden zu überlassen . Solange dies so
ist, werden noch so richtige Ansätze auf dem Papier und
noch so löbliche Anstrengungen der zuständigen Stellen
an dieser immanenten sicherheitspolitischen Ambivalenz
scheitern .
Wie will denn der Staat für Vertrauen in Sachen digi-
taler Sicherheit sorgen, wenn sich beispielsweise ein be-
troffener Betreiber einer kritischen Infrastruktur gar nicht
sicher sein kann, dass ebendiese staatlichen Stellen nach
seiner Meldung einzig und allein an der umgehenden
Lösung seines Sicherheitsproblems interessiert sind und
nicht an dessen Offenhaltung zu ganz anderen Zwecken?
So verwundert es kaum, dass die Zahlen der gemelde-
ten Anlagen und Betreiber in den vom IT-Sicherheits-
gesetz bereits berücksichtigten Branchen ebenso hinter
den großspurigen Ankündigungen zurückbleiben wie
die wenigen erfassten Störfälle im Vergleich zum realis-
tisch zu erwartenden Umfang der Problematik . Es fehlt
der Bundesregierung in diesem so sensiblen und immer
komplexeren Feld bereits am notwendigen Überblick des
Marktes – von umfassenden Lösungsansätzen und dem
politischen Willen zu ihrer Umsetzung ganz zu schwei-
gen .
Hier scheinen sich die Befürchtungen zu bestätigen,
wonach Unternehmen aufgrund des Kosten- und Kont-
rolldrucks umfassende Meldungen scheuen und damit
die Erfassung des eigentlichen Umfeldes völlig unzu-
reichend erfolgt . Umso unverständlicher ist es, dass bei
den bisher nach dem deutschen IT-Sicherheitsgesetz ge-
meldeten Störfällen dem Parlament trotz wiederholter
Nachfragen pauschal nähere Informationen verweigert
werden .
Und just hier setzt nun auch die Europäische Union
mit der NIS-Richtlinie in vielen Punkten strengere Nach-
weis- und Meldepflichten vor. Doch solange bei der Er-
hebung, Verarbeitung und Weitergabe von Daten zu die-
sen hochsensiblen Vorgängen weiterhin die Abgrenzung
gegenüber Sicherheitsbehörden und Geheimdiensten
so unklar geregelt bleibt wie in diesem Gesetzentwurf,
wird sich an der Zögerlichkeit der Betreiber wenig än-
dern . Umso atemloser werden nun kurzlebige Strategien,
Abwehrzentren und zuletzt gar Cyberwehrpläne präsen-
tiert . Diesem Aktionismus ist auch geschuldet, dass das
erst 2015 verabschiedete IT-Sicherheitsgesetz bereits
nach einem Jahr in vielen Punkten von der NIS-Richtli-
nie überholt wurde . Anstatt die Vorlage aus Brüssel ab-
zuwarten, wollte das Innenministerium partout vor der
Europäischen Kommission punkten und darf nun das
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22297
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eigene Gesetz überarbeiten, das aufgrund der fehlenden
Verordnungsbasis in den unterschiedlichen Bereichen
der kritischen Infrastrukturen noch nicht einmal umge-
setzt war . Aber auch im zweiten Versuch versäumt nun
die Bundesregierung überfällige Korrekturen, sei es bei
der Rechtsunsicherheit im Bereich der digitalen Dienste,
sei es beim so wichtigen Haftungsansatz, sei es bei der
pauschalen Ausnahme in eigener Sache, nämlich diese
Sicherheitsvorgaben auch auf die öffentliche Verwaltung
anzuwenden .
Demgegenüber gälte es, dieser Problematik umfas-
send, entschlossen und gut koordiniert zu begegnen .
Die Zuständigkeiten der Cybersicherheitsfragen müssen
dringend zusammengeführt werden . Neben der notwen-
digen Ausstattung bedarf es vor allem der entsprechen-
den Unabhängigkeit, um als vertrauenswürdiger Akteur
auch ernst und angenommen zu werden . Umso mehr
stellt sich diese Frage, als das Bundesamt für Sicherheit
in der Informationstechnik nun abermals ausgebaut wird
und immer noch im Schatten des Bundesinnenministeri-
ums agieren muss .
Darüber hinaus gilt es auf allen Ebenen die IT-Resi-
lienz strukturell zu stärken, angefangen bei der Sicher-
heit einzelner IT-Produkte sowie tragender Softwarele-
mente des Internets bis hin zum präventiven Umgang
mit der inhärenten Verletzlichkeit dieser Systeme . Hier
stellen sich wegweisende Fragen, die in viel größerem
Kontext – international wie zivilgesellschaftlich – unter
Einbeziehung zahlreicher Akteure auf eine ganze andere
Basis gestellt gehören .
Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
minister des Innern: Cybervandalismus ist eine ernste
Bedrohung für unsere Gesellschaft . Lassen Sie mich nur
eine Zahl herausgreifen: 70 Prozent der größeren Unter-
nehmen in Deutschland waren bereits von einem Cyber-
angriff betroffen. Die Zeit der digitalen Sorglosigkeit ist
vorbei . Unsere Anstrengung richtet sich darauf, Deutsch-
land zu einem der sichersten digitalen Standorte weltweit
zu machen . Wir haben für Deutschland im letzten Jahr
daher das IT-Sicherheitsgesetz auf den Weg gebracht .
Dies war ein bedeutender Meilenstein der nationalen
Digitalisierungspolitik . Wir haben damit bereits einen
Rechtsrahmen, bei dem Staat und Wirtschaft für mehr
Cybersicherheit zusammenarbeiten . Auf europäischer
Ebene soll durch die sogenannte NIS-Richtlinie mehr
Cybersicherheit in der gesamten EU erreicht werden .
Das deutsche IT-Sicherheitsgesetz war die Blaupause für
die Verhandlungen in der EU, die die Bundesregierung so
in wesentlichen Punkten mitgestalten konnte .
Der vorgelegte Gesetzentwurf setzt die Vorgaben die-
ser EU-Richtlinie nun um . Ziel der Richtlinie ist es, in al-
len Mitgliedstaaten Kapazitäten der Cybersicherheit auf-
zubauen und wie in Deutschland Betreiber von kritischen
Bereichen stärker in die Pflicht zu nehmen. Aufgrund des
IT-Sicherheitsgesetzes und der ständig fortgeschriebenen
Maßnahmen besteht bei uns nur sehr geringer Umset-
zungsbedarf. Dies betrifft erstens den Schutz kritischer
Infrastrukturen nach dem Gesetz über das Bundesamt für
Sicherheit in der Informationstechnik, BSIG, sowie Spe-
zialgesetze für bestimmte Branchen . Soweit noch nicht
erfolgt, müssen diese spezialgesetzlichen Regelungen
auf das nach dem Gesetz über das Bundesamt für Sicher-
heit in der Informationstechnik, BSIG, geltende Niveau
angehoben werden .
Die NIS-Richtlinie verpflichtet uns zu einer umfassen-
deren Vorabkontrolle der Betreiber kritischer Infrastruk-
turen . Die Aufsicht durch das BSI muss so angepasst
werden, dass dies möglich ist . Der kooperative Ansatz
des IT-Sicherheitsgesetzes, der auf eine vertrauensvolle
Zusammenarbeit mit den Betreibern setzt, soll aber Prä-
misse für das Handeln des BSI bleiben .
Zweitens muss das BSIG um Regelungen zu Sicher-
heitsanforderungen und Meldepflichten für Anbieter
der sogenannten digitalen Dienste ergänzt werden: On-
linemarktplätze, Suchmaschinen und Cloud-Compu-
ting-Dienste . Die NIS-Richtlinie führt für diese Dienste
wegen ihrer übergeordneten Bedeutung für das Internet
europaweit einheitliche Vorgaben ein . Der Gesetzent-
wurf orientiert sich daher weitestgehend am Wortlaut der
Richtlinie .
Schließlich verpflichtet die NIS-Richtlinie die Mit-
gliedstaaten auch, wirksame Maßnahmen für ein Incident
Response, das heißt zur Bewältigung konkreter Vorfälle,
zu treffen. Es soll deshalb auch eine Rechtsgrundlage
für den Aufbau mobiler Einsatzkräfte, Mobile Incident
Response Teams, beim BSI geschaffen werden. Wie in
der vom Kabinett im November verabschiedeten „Cy-
ber-Sicherheitsstrategie für Deutschland 2016“ vorgese-
hen, sollen diese Teams künftig die Verwaltung, kritische
Infrastrukturen und vergleichbare Einrichtungen unter-
stützen können, wenn daran ein öffentliches Interesse
besteht .
Deutschland hat bei der Cybersicherheit in Europa
eine Vorreiterrolle inne . Trotzdem – und auch gerade
deshalb – können wir Cybersicherheit nur gewährleis-
ten, wenn wir weiterhin erfolgreich mit unseren Partnern
zusammenarbeiten und uns aktiv in die Gestaltung der
Rahmenbedingungen in Europa einbringen . Hierzu gilt
es jetzt, die Vorgaben der NIS-Richtlinie rechtzeitig und
zeitnah umzusetzen. Hiermit schaffen wir die Vorausset-
zungen dafür, dass das IT-Sicherheitsgesetz EU-weit als
Vorbild dienen kann, und werden wir unserer Vorreiter-
rolle in Europa gerecht .
Anlage 10
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung
des elektronischen Identitätsnachweises (Tages-
ordnungspunkt 28)
Heinrich Zertik (CDU/CSU): In erster Lesung spre-
chen wir heute über das Gesetz zur Förderung des elekt-
ronischen Identitätsnachweises . Der elektronische Iden-
titätsnachweis im handlichen Format ersetzte den alten
Personalausweis, weil er den Zugang in die digitale Welt
sicher und verlässlich für alle Nutzerinnen und Nutzer
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722298
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öffnet. Seit 2010 wird der elektronische Identitätsnach-
weis ausgegeben .
Im Regierungsprogramm „Digitale Verwaltung 2020“
hatten wir festgelegt, dass die Nutzung des elektroni-
schen Ausweises vereinfacht und die Anwendung erwei-
tert wird . Leider bleibt die Nutzung der Onlineausweis-
funktion, die die Inhaber wahlweise einschalten konnten,
hinter den Erwartungen zurück . Obwohl sich die Nutze-
rinnen und Nutzer mit dieser Funktion gegenüber ihren
Kommunikationspartnern sicher identifizieren könnten,
scheint die Hemmschwelle, diese Funktion zu aktivieren,
groß zu sein . 61 Millionen Dokumente wurden bisher
ausgegeben . Davon nutzt nur circa ein Drittel der Aus-
weisinhaber die elektronischen Funktionen umfänglich .
Das Gesetz soll dazu beitragen, dass sich das ändert .
Ich kann verstehen, dass es eine grundsätzliche Skep-
sis gegenüber der Einführung dieser Identitätskarte gibt .
Erstaunlicherweise besteht diese Skepsis gegenüber
vielen anderen Onlinedienstleistungen nicht . Viele In-
ternetnutzerinnen und -nutzer geben bereitwillig ihre
E-Mail-Adresse preis und scheuen sich nicht, persön-
liche Angaben wie Geburtsdatum, Adresse, Kreditkar-
tennummer usw . anzugeben . Datenklau, das sogenannte
Phishing, ist die Folge . Geschädigte Nutzerinnen und
Nutzer können davon berichten . Ich erinnere nur an den
gigantischen Datenklau in 2014, als 18 Millionen Daten
samt Zugangswörtern innerhalb weniger Tage abgefischt
wurden . Dann ist es natürlich ein Leichtes für Kriminelle
im Netz, Schadsoftware zu installieren und sich in Bank-
konten oder E-Mail-Verkehr einzuhacken . Tausende von
Schadprogrammen, so das Bundesamt für Sicherheit in
der Informationstechnik, werden täglich neu im Internet
in Umlauf gebracht . Sie sind nicht zu kontrollieren .
Was bietet der elektronische Identitätsnachweis nun
für Vorteile, und was will der Gesetzgeber bezwecken?
Erstens ist mit der Onlineausweisfunktion, kurz eID,
eine verlässliche und sichere Identifizierung möglich.
Deshalb wird diese Funktion zukünftig standardmä-
ßig eingeschaltet sein . Damit soll das physische Pos-
tIdent-Verfahren, bei dem der Ausweisinhaber eine
zertifizierte Stelle wie zum Beispiel die Deutsche Post
aufsuchen muss, durch ein digitales Verfahren ersetzt
werden . So kann mit dem Smartphone und der entspre-
chenden Ausweisapp der Identitätsnachweis erbracht
werden . Vom heimischen PC aus können sich die Nut-
zerinnen und Nutzer über ein Kartenlesegerät mit dem
elektronischen Identitätsnachweis identifizieren, ohne
vorher mit ihren alten Ausweisen Behörden oder Insti-
tutionen aufsuchen und vor Ort ihre Identität nachweisen
zu müssen . Das spart viel Zeit, und umständliche büro-
kratische Abläufe können vereinfacht werden . Ob der
elektronische Nachweis dann genutzt wird, bleibt nach
wie vor eine freiwillige Entscheidung des Inhabers .
Zweitens . Auch in der Wirtschaft wurde der elek-
tronische Nachweis nur sehr zögerlich eingesetzt . Un-
ternehmen haben bisher oftmals auf das elektronische
Verfahren verzichtet, weil sie es als zu aufwendig und
umständlich angesehen haben, die notwendige Berech-
tigung für den Umgang mit dem elektronischen Identi-
tätsnachweis zu erlangen . Da viele Nutzerinnen und Nut-
zer die elektronische Funktion gar nicht aktiviert haben,
hatten auch Unternehmen und Firmen die Anwendungs-
möglichkeiten gar nicht erst angeboten .
Für Firmen und Unternehmen schafft der Gesetz-
geber deshalb jetzt die hohen Hürden ab und bietet ein
vereinfachtes Verfahren an, um sich zertifizieren zu
lassen . Damit steigt die Attraktivität für Behörden und
Unternehmen, ihre Angebote und Dienstleistungen für
Kundinnen und Kunden elektronisch anzubieten . Die Be-
rechtigungszertifikate werden zukünftig nicht mehr nur
für einen Geschäftsvorgang ausgestellt, sondern auf den
Namen der Behörde oder des Unternehmens . Das bedeu-
tet deutlich weniger Bürokratie und spart ebenfalls Zeit
ein . Dadurch können sich auch Kundinnen und Kunden
darauf verlassen, dass das Unternehmen, mit dem sie Ge-
schäfte machen, auf Herz und Nieren geprüft ist . Daten-
schutzbehörden werden regelmäßig überprüfen, dass mit
den Benutzerdaten kein Missbrauch getrieben wird .
Auch Behörden sollen aufgefordert werden, ihre
Dienstleistungen auch elektronisch anzubieten . Vorreiter
ist hier als einziges Bundesland Sachsen . Hier können
Bürgerinnen und Bürger bereits auf elektronischem Weg
BAföG-Anträge stellen und ihr Auto abmelden .
Drittens . Es geht auch um Sicherheit für digitale
Dienstleistungen . Leider beschäftigen Passfälschungen
in erheblichem Maße Polizei und Sicherheitsbehörden,
weil es geschickten Fälschern immer wieder gelingt, mit
gefälschten Dokumenten neue Identitäten zu produzie-
ren . Sozialbetrug ist eine Folge, die die Steuerzahler zu
tragen haben . Das ist ärgerlich und ungerecht . Mit dem
elektronischen Identitätsnachweis und dem elektroni-
schen Aufenthaltstitel für Drittstaatsangehörige geben
wir den Behörden ein fälschungssicheres Dokument an
die Hand, welches betrügerische Machenschaften weit-
gehend unterbindet und die Vernetzung der Behörden in
allen EU-Ländern möglich macht . Auch das ist ein Bau-
stein in unserer Sicherheitsarchitektur, die wir in der die-
ser Legislaturperiode konsequent ausgebaut haben .
Der Staat kommt damit auch seiner Fürsorgepflicht
nach, die Daten seiner Bürgerinnen und Bürger zu schüt-
zen . Die elektronische Identitätskarte gilt aufgrund ihres
Aufbaus derzeit als ein äußerst sicheres Ausweisdoku-
ment weltweit . Mehrere Staaten nutzen bereits diesen
elektronischen Identitätsnachweis .
Viertens knüpfen wir damit an das moderne digitale
Zeitalter an und ermöglichen den elektronischen Handel
zwischen Produzent und Konsument europaweit, ohne
dass auch im internationalen Handel aufwendige Identi-
tätsnachweise erbracht werden müssen .
„Die eIDAS-Verordnung ist der erste konkrete Schritt
in Richtung digitaler Binnenmarkt“, erläuterte Antonello
Giacomelli, italienischer Staatssekretär für Kommunika-
tion . Er signierte das Gesetz im Rahmen der italienischen
Ratspräsidentschaft digital . Damit ist der Weg frei für
den digitalen Binnenmarkt Europa – mit über 400 Mil-
lionen Nutzern .
Im Bereich der elektronischen Identifizierung setzt
die EU-Verordnung auf eine gegenseitige Anerkennung
der verschiedenen nationalen eID-Systeme, damit nicht
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22299
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jedes der 27 Mitgliedsländer das gleiche System neu ein-
führen muss .
Seit 1 . Juli 2016 können auch Behörden aus den ande-
ren EU Mitgliedstaaten auf Daten elektronisch zugreifen .
Sogenannte Vertrauensdienste werden als „Zwischen-
instanz“ beauftragt, damit es nicht zu Datenmissbrauch
kommt . Bei den Vertrauensdiensten wurden neue, ver-
einfachte Werkzeuge definiert und die Voraussetzungen
für ein europaweit vereinheitlichtes Sicherheitsniveau
geschaffen. Zukünftig können elektronische Transakti-
onen EU-weit effizient und rechtsverbindlich durchge-
führt werden .
Öffentlich einsehbare Vertrauenslisten und das
EU-Vertrauenssiegel stellen sicher, dass der Dienstleister
rechtskonforme Vertrauensdienste anbietet . Das ist ein
Meilenstein auf dem Weg zu Wirtschaftswachstum und
globalem Handel, von dem Wirtschaft und Bürger profi-
tieren werden .
Schon der 1993 in Kraft getretene „analoge“ Euro-
päische Binnenmarkt hatte große Wachstumsimpulse
ausgelöst und für mehr Beschäftigung gesorgt . Allein
in Deutschland stieg durch das wirtschaftliche Zusam-
menwachsen Europas das Bruttoinlandsprodukt im Zeit-
raum 1992 bis 2012 um durchschnittlich 37 Milliarden
Euro pro Jahr . Mit Einführung des digitalen Systems
werden Handel und Austausch im Netz im wahrsten Sin-
ne grenzenlos . Knapp 60 Prozent der deutschen Ausfuh-
ren gehen in EU-Länder . Deshalb hat Deutschland ein
ureigenes Interesse an einer Weiterentwicklung des Bin-
nenmarkts und baut mit am digitalen Weg .
Ich werbe ausdrücklich für dieses Gesetz; denn es
bringt wesentliche Verbesserungen für die Bürgerinnen
und Bürger im europäischen Raum. Es schafft ein hohes
Maß an Sicherheit für Nutzerinnen und Nutzer im digi-
talen Handel, und es ist hoffentlich auch ein Instrument,
mit dem der Datenmissbrauch eingedämmt werden kann .
Mahmut Özdemir (Duisburg) (SPD): Im Jahre 2010
wurden ein Personalausweis und ein elektronischer Auf-
enthaltstitel eingeführt, die über eine Funktion zum elek-
tronischen Identitätsnachweis, genannt eID-Funktion,
verfügen . Mithilfe dieser Funktion besteht nunmehr die
Möglichkeit, sich gegenüber Behörden und Unterneh-
men im Internet zuverlässig und vertrauenswürdig aus-
zuweisen . Erreicht wird dies über eine 2-Faktor-Authen-
tisierung . Beide Seiten, also die Ausweisinhaberinnen
und Ausweisinhaber einerseits und die Behörden und
Unternehmen andererseits, identifizieren einander: Der
Staat stellt hier also eine sichere und verlässliche Infra-
struktur zur gegenseitigen Identifizierung im Internet zur
Verfügung . So ist beispielsweise die Beantragung eines
Führungszeugnisses mit der eID-Funktion erheblich ein-
facher geworden .
Das hört sich zunächst alles sehr vorteilig an, bedenkt
man insbesondere, dass mit der Nutzung dieser Funkti-
on der eine oder andere Behördengang und damit auch
in der Regel ein nicht unerheblicher Zeitaufwand ein-
gespart wird . Dennoch müssen wir feststellen, dass die
Bürgerinnen und Bürger bis jetzt die eID-Funktion ihres
Personalausweises wenig bis gar nicht nutzen . Genau ge-
nommen ist sie ein Ladenhüter . Die Gründe dafür mögen
vielfältig sein . Sicherlich bestehen bei den Bürgerinnen
und Bürgern mitunter Bedenken ob des faktischen und
des rechtlichen Datenschutzes . Diese Bedenken sind
ernst zu nehmen und zu respektieren .
Schon der Koalitionsvertrag stellt zutreffend fest,
dass die Voraussetzung für die Akzeptanz elektronischer
Behördendienste Datenschutz und Sicherheit der Kom-
munikation sind, wenn es um entspreche Angebote zwi-
schen Bürger und Staat geht . Gerade deshalb wird im
Koalitionsvertrag die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung als
unerlässlich gesehen .
Wir bekennen uns nach wie vor zu diesem Ansatz und
wollen fortwährend dafür sorgen, dass ein Mehr an di-
gitalen Verwaltungsdienstleistungen und Nutzung dieser
Möglichkeiten nicht zu einem Weniger an Datenschutz
und letztlich persönlicher Sicherheit für die Bürgerinnen
und Bürger führt .
Andererseits stehen wir als Gesetzgeber vor der Auf-
gabe, der Digitalisierung speziell in der Verwaltung
Rechnung zu tragen und sie fit für die Zukunft zu ma-
chen, aber auch im Sinne einer verantwortlichen Wirt-
schaftspolitik Unternehmen die Möglichkeit zu geben,
die Vorteile der eID-Funktion in ihre Geschäftsabläufe
zu implementieren und diese somit zu optimieren – nicht
zuletzt auch im Interesse der Verbraucherinnen und Ver-
braucher .
Im Strudel dieses vermeintlichen Dualismus aus För-
derung der eID-Funktion und Sicherstellung des Daten-
schutzes und der Datensicherheit bewegt sich dieser Ge-
setzentwurf .
Die eingangs angesprochene sehr geringe Nutzung
der eID-Funktion durch die Bürgerinnen und Bürger geht
letztlich auch auf den Umstand zurück, dass sie in vie-
len Personalausweisen und Aufenthaltstiteln gar nicht
erst bei Aushändigung eingeschaltet ist . Die bisherige
Rechtslage sieht vor, dass eine Bürgerin oder ein Bür-
ger bei der Beantragung eines solchen Dokuments aktiv
gefragt wird, ob sie oder er diese Funktion einschalten
lassen und damit grundsätzlich nutzbar machen möchte .
Viele entscheiden sich dagegen . Somit ist ihnen die Mög-
lichkeit, diese Funktion zu nutzen, direkt zu Beginn ge-
nommen . Hier möchten wir ansetzen und diesen Verfah-
rensablauf durch rechtliche Änderungen modifizieren.
Fortan soll die eID-Funktion zunächst standardmäßig
eingeschaltet sein . Die Bürgerinnen und Bürger sollen
bei Beantragung ihres Ausweisdokumentes ausführlich
und präzise über die Rahmenbedingungen und die Vor-
teile der eID-Funktion aufgeklärt werden. Wir erhoffen
uns davon, dass dadurch Vorurteile und die mitunter ab-
lehnende Haltung gegenüber der eID-Funktion abgebaut
werden und ihre Nutzung insgesamt gefördert wird .
Allerdings ist der freie Wille der Bürgerinnen und
Bürger auch hier maßgeblich . So können sie letztlich
selbst entscheiden, ob sie ausführlich informiert werden
möchten, beispielsweise per Informationsbroschüre oder
per E-Mail, oder eben auch nicht . Wenn sie eine einge-
schaltete eID-Funktion nicht wünschen, haben sie auch
fortan die Möglichkeit, diese deaktivieren zu lassen . Die-
se sogenannte Opt-out Lösung haben wir als Sozialde-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722300
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mokraten durchgesetzt . Über die genaue Ausgestaltung
dieser Möglichkeit wird in den Ausschussberatungen
noch zu befinden sein. Dass diese Möglichkeit bestehen
wird, ist allerdings ein unumstößlicher Bestandteil die-
ses Gesetzentwurfs . Den Bürgerinnen und Bürgern soll
nichts gegen ihren Willen aufgezwängt werden .
Ein anderer Aspekt dieses Gesetzentwurfs betrifft die
Frage, wie man die Implementierung der eID-Funktion
für Unternehmen attraktiver gestalten kann . Denn auch
hier schlummern Potenziale: So könnten in Zukunft On-
linedienstleistungen von Unternehmen, wie beispiels-
weise die Anbahnung eines Versicherungsvertrages, auf
ein datenschutzsichereres Fundament gestellt werden,
wenn beide Seiten zur Identifizierung die eID-Funktion
nutzen. Eine weitere Verbreitung dieser Identifizierungs-
möglichkeiten bei den Unternehmen ist somit auch aus
Sicht der Verbraucherinnen und Verbraucher begrüßens-
wert, die diese Dienstleistungen zwar jetzt schon in An-
spruch nehmen, bei allerdings deutlich geringerem Da-
tenschutzniveau .
Wiederum ist es derzeit für die Unternehmen nicht
hinreichend attraktiv, die eID-Funktion zu implemen-
tieren, da sie insgesamt so wenig genutzt wird . Dieses
Missstands will sich der Gesetzentwurf annehmen .
Aber auch an dieser Stelle sei deutlich betont: Dieser
richtige und wichtige Grundgedanke wird nicht zulasten
der Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger gehen . Un-
ternehmen, die diese eID-Funktion in ihre Geschäfts-
abläufe integrieren möchten, müssen auch in Zukunft
hohe Standards für ihre Dienste einhalten, damit sie die
entsprechende Berechtigung dafür bekommen . Denn die
eID-Funktion ist und bleibt eine staatliche, hoheitliche
Einrichtung und ist kein Wirtschaftsgut .
Unterm Strich: Wir gehen mit diesem Gesetzentwurf
einen Schritt in die richtige Richtung . Die eID-Funktion
muss stärker gefördert werden, damit ihre Vorteile zu-
künftig von deutlich mehr Bürgerinnen und Bürgern ge-
nutzt werden, ganz gleich, ob bei der Inanspruchnahme
von Verwaltungs- oder Unternehmensdienstleistungen .
Allerdings werden wir es nicht zulassen, dass diese För-
derung der eID-Funktion zulasten des Datenschutzes und
der Datensicherheit der Bürgerinnen und Bürger geht
und ihnen durch den Gesetzentwurf Nichtgewolltes auf-
genötigt wird .
Daher glaube ich, dass wir in den Ausschussberatun-
gen noch an der einen oder anderen Schraube werden
drehen müssen . Kritisch sehen wir nämlich nach wie vor
die Ausgestaltung der Erteilung von Berechtigungszer-
tifikaten für Dienstanbieter, und auch der automatisier-
te Lichtbildabruf unter anderem für Nachrichtendienste
braucht einen klar gezeichneten und umgrenzten gesetz-
lichen Tatbestand .
Gleichzeitig bin ich aber auch sehr zuversichtlich,
dass wir am Ende zu einem sinnvollen und ausgewoge-
nen Ergebnis kommen werden, und ich ergänze: ein Er-
gebnis, das unsere Verwaltungseinheiten in den Kommu-
nen nicht belastet, sondern entlastet und damit Prozesse
beschleunigt .
Ulla Jelpke (DIE LINKE): Die Bundesregierung
überschreibt ihren Gesetzentwurf mit „Förderung des
elektronischen Identitätsnachweises“ . Das ist ein reiner
Euphemismus . Tatsächlich birgt der Gesetzentwurf eine
Verschlechterung der Datensicherheit für die Bürgerin-
nen und Bürger .
Es geht um den sogenannten ePass bzw . den elektroni-
schen Identitätsnachweis im neuen Personalausweis . Der
enthält seit 2010 einen Chip, mit dem sich die Inhaber,
zum Teil unterstützt durch eine PIN, gegenüber Behör-
den, aber auch der Privatwirtschaft ausweisen können .
Das funktioniert dann ähnlich, als wenn man am Laden-
tisch seinen Ausweis zeigt . Über die Vor- und Nachteile
dieses Chips wurde schon viel geschrieben; das Fazit,
das die Linke schon vor Jahren gezogen hat, bleibt be-
stehen: Sicher ist er nicht und notwendig schon gar nicht .
Unsere Skepsis wird von der großen Mehrheit der
Bürgerinnen und Bürger geteilt . Von den 51 Millionen
Deutschen, die in den letzten Jahren diesen neuen Per-
sonalausweis bekommen haben, entschieden sich zwei
Drittel dafür, die Onlinefunktion von vornherein zu de-
aktivieren . Für diese Option kann man sich nämlich der-
zeit noch bei Aushändigung des Ausweises entscheiden .
Und von dem anderen Drittel haben auch nur 5 Prozent
das notwendige Kartenlesegerät für den Heimcomputer .
Der Bundesregierung ist diese Boykotthaltung ein
Dorn im Auge . Aber was macht sie jetzt? Anstatt sich
Mühe zu geben, die Bürgerinnen und Bürger zu überzeu-
gen, greift sie einfach zum Zwangsmittel . Der Ausweis
soll ab sofort immer mit bereits eingeschalteter Online-
funktion ausgehändigt werden; die Bürger haben nicht
mehr die Wahl, ganz nach dem Motto: Wenn die Bürger
die falschen Antworten geben, hören wir einfach auf, sie
zu fragen . Willkommen zurück im Obrigkeitsstaat!
Das eigentliche Motiv hinter diesem Manöver kann
man leicht aus der Gesetzesbegründung herauslesen: Es
geht um die Durchsetzung einer neuen Technologie im
Interesse der Wirtschaft . Der Handel, heißt es da, war-
te darauf, dass eine größere Anzahl potenzieller Nutzer
die Investition in die neue Technologie rechtfertigt . Und
diese größere Anzahl wird dem Handel jetzt per Gesetz
zugeführt . Deswegen ist der Preis für einen Personal-
ausweis von 8 Euro auf über 28 Euro angestiegen . Die
Bürgerinnen und Bürger müssen für eine Technologie
bezahlen, die sie nicht wollen und die sie auch gar nicht
brauchen .
Und noch schlimmer: Es ist eine Technologie, der sie
zu Recht nicht trauen . Der Chaos Computer Club weist
darauf hin, es sei „nur eine Frage der Zeit“, bis der Chip
geknackt, das Lesegerät ferngesteuert oder die PIN ge-
stohlen wird . Kriminelle können sich dann über das In-
ternet mit falschen Identitäten ausweisen . Die Bundes-
regierung behauptet natürlich, jeglichem Missbrauch
werde „sicher“ vorgebeugt . Aber wenn eines im IT-Be-
reich sicher ist, dann dieses: Es gibt keine Sicherheit,
schon gar nicht langfristig. Im Auffinden und Schließen
von Sicherheitslücken befinden sich Cyberkriminelle
und IT-Industrie seit Jahren in einem unendlichen Wett-
lauf . Da nutzt es nichts, wenn die Bundesregierung den
Nutzern empfiehlt, ihr Betriebssystem regelmäßig zu
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22301
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aktualisieren: Bis die Sicherheitslücke entdeckt ist, kann
es schon zu spät sein . Und wenn man bedenkt, dass der
Ausweis zehn Jahre lang gültig sein soll, kann man nur
sagen: Das ist eine Einladung zum Knacken . Von der
Praxis der Geheimdienste, sich in Privatcomputer einzu-
schleichen, ganz zu schweigen .
Völlig zu Recht hat die Konferenz der unabhängigen
Datenschutzbehörden des Bundes und der Länder am
24 . Januar dieses Jahres gewarnt, dass „das Recht auf
informationelle Selbstbestimmung der Bürgerinnen und
Bürger übergangen und Datenschutz sichernde Standards
unterlaufen“ werden .
Ich will noch einen Punkt des Gesetzentwurfs anspre-
chen, der ebenso eine Verschlechterung des Datenschut-
zes vorsieht: den erweiterten und rascheren Zugriff der
Sicherheitsbehörden auf die bei den Personalausweis-
behörden gespeicherten Passbilder . Bislang ist dies der
Polizei vorbehalten, die den automatisierten Abruf nur
durchführen darf, wenn Gefahr im Verzug ist . In Zukunft
wird dies praktisch völlig voraussetzungslos erlaubt, und
zwar auch den Geheimdiensten . Die haben also dann
freien Zugriff auf sämtliche Passbilder. Die Begründung
dafür ist abenteuerlich: Das Anwerben von V-Leuten
durch die Geheimdienste könne gefährdet sein, heißt es
da, wenn die V-Mann-Führer persönlich bei den Ange-
stellten der Behörden ein Passbild abholen müssten, weil
es ja sein könnte, dass die Angestellten den V-Mann ken-
nen und damit die Geheimhaltung platzt .
Hier wird eine datenschutzfeindliche Maßnahme mit
einem demokratiefeindlichen Zweck begründet . Die Lin-
ke lehnt es ab, dass den Geheimdiensten ständig mehr
Befugnisse eingeräumt werden, und die V-Mann-Praxis
hat sich sowieso schon längst als absolut schädlich he-
rausgestellt . Ich erinnere nur daran, dass die V-Männer
des Verfassungsschutzes jahrelang die Naziterroristen
vom NSU unterstützt haben .
Die Datenschutzbeauftragten lehnen daher auch die-
se Änderung ab, und da schließt sich die Linke voll und
ganz an . Wir wollen nicht, dass der Datenschutz auf den
Altären von Geheimdiensten und Privatwirtschaft geop-
fert wird .
Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Stellen Sie sich vor, sie sind eine mit dem Politbe-
trieb nicht näher vertraute Bürgerin und werden gefragt,
was Sie von den Maßnahmen der Merkel-Regierungen
zum E-Government halten . Wie muss die Antwort lau-
ten? Richtig: nichts! Denn Sie können beim besten Wil-
len überhaupt keine einzige bekannte Maßnahme nennen .
Auf Nachfrage Ihrerseits wird man Ihnen womöglich die
E-Government-Ruinen der letzten Jahre wieder in Erin-
nerung rufen, darunter De-Mail, ELENA, elektronische
Gesundheitskarte oder der neue elektronische Personal-
ausweis . Richtig, der Personalausweis, werden viele sa-
gen, da war doch was; der war irgendwie ziemlich teuer,
aber warum denn noch genau?
Wir erläutern es gerne: Es wurde nie wirklich kom-
muniziert, worin der Mehrwert dieses elektronischen
Ausweises liegt, was er kann . Das hatte eine gewisse
Schlüssigkeit, weil der Ausweis auch nie wirklich son-
derlich viel Vorweisbares konnte und kann . Die Vorstel-
lung jedenfalls, dass der nPA zum zentralen Onlineiden-
titätstool der Bürger im geschäftlichen Leben als auch im
Umgang mit Behörden wird, ist deshalb absurd, weil es
schlicht bis heute an den dazugehörigen Angeboten fehlt .
Man hat eben auch die Wirtschaft nicht ins Boot holen
können, ganz zu schweigen von den Verwaltungen, die
bei der Digitalisierung nach wie vor überwiegend eisern
mauern und sich der Entwicklung insgesamt zu verwei-
gern versuchen .
Es kann also keine Akzeptanz der eID-Funktion auf
dem neuen Personalausweis geben, denn in wohl kaum
einem anderen Bereich hat diese sogenannte Große Ko-
alition ihre nachhaltige Untätigkeit durch markige Re-
den und Symbolpolitik so umfänglich kaschiert wie im
E-Government . Die Digitale Agenda ist ein Stückwerk
geblieben; von Open Data über Cybersicherheit bis hin
zu Behördenangeboten online sind wir praktisch nicht
vorangekommen . Natürlich handelt es sich um ein kom-
plexes Feld . Aber die Probleme Ihrer Koalition sind
eben auch hausgemacht: mangelnde Koordination der
Digitalisierung ihrer eigenen Regierung, mangelhafte
Beachtung von Akzeptanz- und Vertrauensfaktoren wie
Rechtsstaatlichkeit, IT-Sicherheit und Datenschutz, aber
auch die Kniepigkeit des Bundesfinanzministers.
Vor diesem Hintergrund mutet es umso wunderlicher
an, was Sie mit dem vorliegenden Gesetzentwurf versu-
chen: ein disparates Artikelgesetz rund um Pass, Perso-
nalausweis und elektronische Aufenthaltstitel . Getrieben
vom Scheitern des nPA versuchen Sie es nun mit der
Brechstange, einfach indem Sie den rechtsstaatlich-da-
tenschutzrechtlichen Rahmen aufweichen .
Die Onlineausweisfunktion des elektronischen Per-
sonalausweises soll „leichter anwendbar“ werden . Dazu
sieht ihr Gesetzentwurf (Drucksache 18/11279) vor, dass
die sogenannte eID-Funktion zum elektronischen Identi-
tätsnachweis künftig bei jedem Ausweis automatisch und
dauerhaft eingeschaltet wird . Dies soll die eID-Funktion
schneller verbreiten und dadurch einen Anreiz für Be-
hörden und Unternehmen schaffen, mehr Anwendungen
bereitzustellen .
Dieses Vorgehen ist von beispielloser Frechheit und
grenzt an magisches Denken . Das BMI merkt, dass die
Bürgerinnen und Bürger in freier Entscheidung zu zwei
Dritteln der rund 51 Millionen ausgegebenen Ausweise/
eAT die eID-Funktion deaktivieren lassen haben, und
schafft diese freie Entscheidung ab. Zur Strafe für die
Ausübung ihrer Freiheiten wird den Pass- und Personal-
ausweishaltern schlicht das Recht entzogen, überhaupt
noch frei entscheiden zu können, ob die eID-Funktion
eingeschaltet wird . Und diese Zwangsbeglückung soll
dann den Erfolg eines Modells sicherstellen, bei dem von
vornherein doch klar ist, dass nur bei hinreichenden An-
geboten zur Nutzung der eID seitens der Wirtschaft und
der Verwaltung überhaupt Transaktionen zustande kom-
men, ganz zu schweigen vom notwendigen Vertrauen al-
ler Seiten in den Einsatz der Technik .
Auch Unternehmen und Behörden implementierten
die eID bislang nur zögerlich in ihre Geschäftsabläufe .
Das hat sicherlich viele Gründe, ganz sicherlich aber
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wird sich daran nicht einfach dadurch etwas ändern, dass
Sie die Funktion per Default freischalten . Denn sie muss
von den Nutzern auch angewendet, also akzeptiert wer-
den .
Daher soll dem Gesetzentwurf zufolge nun aber auch
noch das Verfahren vereinfacht werden, mit dem Unter-
nehmen und Behörden berechtigt werden, die eID-Daten
auszulesen . Kurz gesagt, Sie senken die datenschutz-
rechtlichen Anforderungen an den Nachweis der Erfor-
derlichkeit bei den Unternehmen, die mit der eID arbei-
ten wollen . Die Mehrarbeit der Überprüfung sollen die
Datenschutzbehörden tragen . Selbstverständlich führen
Sie nicht aus, mit welchen Mitteln . Abgesehen davon,
dass wir zum Gegenstand der Sachverständigenanhörung
die Auffassung der Datenschutzbehörden zu dieser Form
der Zwangsbeglückung machen werden, wird auch diese
Aufweichung der rechtsstaatlichen Standards Ihnen nicht
die Akzeptanz bringen . Denn sie hintertreiben damit zu-
gleich die Vertrauenswürdigkeit der gesamten Idee der
eID, die wesentlich auf dem dahinterliegenden Daten-
schutzkonzept basiert .
Dass Sie aber keine Akzeptanz für die eID finden,
hat zahlreiche andere Gründe, die Sie in Ihrem Entwurf
überhaupt nicht erwähnen oder angehen, darunter die
fehlenden Angebote der Behörden selbst, die fehlenden
Apps für mobile Anwendungen bzw . das durchaus in der
Praxis funktionierende, wenn auch unsichere Identifizie-
ren per SMS, das von Anbeginn ungelöste Problem der
Kartenlesegeräte, die von der Bundesregierung nicht ge-
fordert wurden, und, und, und .
Es gehört deshalb zu der großen Ironie dieses Gesetz-
entwurfs, dass Sie das Kopieren des Passes bzw . des Per-
sonalausweises erstmalig per Gesetz zulassen, nachdem
über Jahrzehnte und völlig zu Recht – zusätzliche Sicher-
heitsrisiken für Betroffene – aus Datenschutzgründen
Unternehmen belehrt wurden, genau dieses nicht zu tun .
Der Hammer aber, ein klassischer BMI-Move, wie
er im Lehrbuche steht, ist die im Gesetz sorgfältig auf
den hinteren Seiten versteckte Einführung des voraus-
setzungslosen automatisierten Pass- bzw . Personalaus-
weisfotoabgleichs durch alle bundesdeutschen Geheim-
dienste. Dieses ist nichts anderes als der offene Einstieg
in eine bundesweite biometrische Bilddatenbank aller
Bundesbürger .
Die Aufrüstung der Geheimdienste unter der Großen
Koalition spottet jeder Beschreibung . Und das, obwohl
Skandale uns immer wieder zeigen, dass uns der notwen-
dige rechtsstaatliche Zugriff auf die Dienste bis heute
fehlt . Deutlicher kann man Demokratie- und Rechts-
staatgleichgültigkeit nicht zum Ausdruck bringen . Mit
Sicherheit hat dieses Vorhaben übrigens sicherlich nichts
zu tun . Es dürfte vielmehr große Teile der Bevölkerung
massiv beunruhigen .
Wir fordern den Bundestag und insbesondere die SPD
auf, dieses Gesetzesvorhaben noch zu stoppen . Der Sach-
verständigenanhörung am 24 . April sehen wir mit Inte-
resse entgegen .
Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär beim Bun-
desminister des Innern: Wir alle erledigen heute einen
Großteil unserer Geschäfte über das Internet . Wir be-
stellen Bücher oder Kleidung bei Onlinehändlern . Wir
schließen online eine Versicherung ab oder eröffnen ein
neues Bankkonto .
Bei allen diesen Vorgängen müssen wir uns identifi-
zieren . Dies geschieht meist über eine Kombination von
Benutzernamen und Passwort . Viele Menschen besitzen
so eine Menge Benutzernamen und Passwörter . Den
Überblick zu behalten, ist fast unmöglich . Und: Das Sys-
tem „Benutzername/ Passwort“ macht es Identitätsdie-
ben und Betrügern leicht . Benutzername und Passwort
können gestohlen und anschließend betrügerisch einge-
setzt werden .
Diese Nachteile vermeidet die Onlineausweisfunktion
des Personalausweises . So wie man den Personalausweis
bis heute beim Bankschalter oder in der Behörde vorlegt,
um sich zu identifizieren, kann man ihn seit 2010 auch
bei Geschäften im Internet einsetzen .
Ziel des Gesetzentwurfes ist es, die Nutzung des
elektronischen Personalausweises weiterzuentwickeln .
Personalausweise und elektronische Aufenthaltstitel mit
geprüften Identitätsdaten sollen künftig durchgängig mit
einer einsatzbereiten Onlineausweisfunktion ausgegeben
werden .
Der zweite wichtige Punkt betrifft das Verfahren zur
Erteilung von Berechtigungen und Berechtigungszertifi-
katen: Anbieter von Onlinedienstleistungen – also etwa
Banken, Versicherungen, aber auch Behörden im E-Gov-
ernment – benötigen nach geltendem Recht eine spezielle
Berechtigung für jeden Service, um die Onlineausweis-
funktion anbieten zu dürfen .
Hierfür müssen sie gegenwärtig für jeden neuen Ser-
vice immer wieder erneut ein aufwendiges Genehmi-
gungsverfahren durchlaufen . Der Regierungsentwurf
sieht hier wesentliche Erleichterungen vor .
Drittens erweitert der Regierungsentwurf die Anwen-
dungsmöglichkeiten des elektronischen Personalauswei-
ses .
Dies betrifft zunächst das sogenannte „Vor-Ort-Aus-
lesen“ . Bürgerinnen und Bürger können ihren Ausweis
in Zukunft am Bank-, Post- oder Behördenschalter dazu
nutzen, ihre üblichen Personendaten – also etwa Namen
und Adresse – auf elektronischem Wege, aber eben „vor
Ort“ in ein elektronisches Formular zu übertragen . Das
geht schnell und verhindert Schreibfehler .
Außerdem können in Zukunft sogenannte Identifi-
zierungsdiensteanbieter die Identifizierung mittels On-
lineausweisfunktion übernehmen .
Unternehmen und Behörden benötigen so künftig kei-
ne eigene Informationstechnologie mehr, um diese Funk-
tion anzubieten . Sie können für diesen sicheren Service
einen spezialisierten Dienstleister beauftragen .
Schließlich enthält der Regierungsentwurf noch zwei
weitere Regelungen . Zum einen erhalten Sicherheitsbe-
hörden künftig die Möglichkeit, die Pass- und Ausweis-
register zum automatisierten Abruf von Passbildern zu
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nutzen . So können Personen, von denen Sicherheitsrisi-
ken ausgehen, schneller überprüft werden . Der automa-
tisierte Abruf von Passbildern erleichtert die Arbeit der
Sicherheitsbehörden und erhöht die Sicherheit der Bür-
gerinnen und Bürger .
Zum anderen enthält der Entwurf einen neuen Pass-
versagungsgrund . Er soll Auslandsreisen verhindern, die
mit dem Ziel vorgenommen werden, eine sogenannte
Ferienbeschneidung von Mädchen vornehmen zu lassen .
Solche „Ferienbeschneidungen“ sind als Verstümmelung
weiblicher Genitalien nach § 226a StGB strafbar und
müssen auch präventiv bekämpft werden . Hierzu dient
der neue Passversagungsgrund .
Ich bitte Sie, den Gesetzentwurf zu unterstützen .
Anlage 11
Zu Protokoll gegebene Reden
– des von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung
des BDBOSGesetzes
– des Antrags der Abgeordneten Irene Mihalic,
Matthias Gastel, Anja Hajduk, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN: Lückenlose BOS-Digitalfunkabde-
ckung in Bahnhöfen der Deutschen Bahn AG
sicherstellen
(Tagesordnungspunkt 31 und Zusatztagesord-
nungspunkt 11)
Marian Wendt (CDU/CSU): Kommunikationstech-
nologie unterliegt einem ständigen Wandel . Staatliche
Kommunikationsinfrastrukturen sind unmittelbar betrof-
fen . Sind sie veraltet, unzuverlässig oder nicht leistungs-
fähig genug; so kann der Staat seinen Aufgaben nicht
nachkommen . Sind sie obendrein unsicher; so geht von
ihr eine Gefahr für die Menschen aus, einerseits weil die
Gefahrenabwehr, eine der zentralen Aufgaben des Staa-
tes, nicht zuverlässig gewährleistet werden kann, ande-
rerseits weil sie Angriffen auf sie selbst nicht standhalten
können .
Die Bundesrepublik Deutschland hat also die Aufgabe,
dafür zu sorgen, dass ihre Kommunikationsinfrastruktur,
namentlich vor allem die Netze des Bundes, aber auch
alle anderen Kommunikationsinfrastrukturteile der Be-
hörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben, si-
cher sind, funktionieren und einem modernen Stand der
Technik entsprechen .
Ein entscheidender Faktor bei der Sicherstellung mo-
derner und sicherer Kommunikationsinfrastrukturen ist
es, die öffentliche Verwaltung in die Lage zu versetzen,
möglichst flexibel auf die zukünftigen Herausforderun-
gen zu reagieren und die Anforderungen stets anpassen
zu können . Die bisherige Schwerfälligkeit, gegeben
durch die verstreute Zuständigkeit und behäbige Appa-
rate, muss überwunden werden . Eine Bündelung der Zu-
ständigkeit in möglichst wenigen verantwortlichen Posi-
tionen ist der richtige Weg .
In Bezug auf die Bundesanstalt für den Digitalfunk
der Behörden und Organisationen mit Sicherheitsauf-
gaben bedeutet dies, dass die Aufgaben dieser Behörde
schneller und flexibler an den Bedarf angepasst werden
müssen, wenn es nötig wird .
Die öffentliche Sicherheit wird durch den Digitalfunk
für Behörden und Organisationen mit Sicherheitsauf-
gaben wesentlich gestärkt . Ein modernes Kommunika-
tionssystem für Sicherheitskräfte ist unerlässlich . Der
Wechsel von den analogen Vorläufersystemen hat lange
genug gedauert . Daher ist es richtig und wichtig, jetzt den
nächsten Schritt zu gehen und das neue, moderne System
noch fitter für die Zukunft zu machen. Doch es geht auch
um mehr . Die Erfahrung rund um den Aufbau und den
Betrieb von Digitalfunknetzen und anderen Kommuni-
kationsnetzen soll nun auch, wenn es nötig ist, in ande-
ren staatlichen Bereichen genutzt werden . Die stellt eine
effiziente Nutzung der erworbenen Kenntnisse und des
Materials in diesem Bereich dar . Es vermeidet eine Dop-
pelbeschaffung.
Um einen Ausblick auf die kommenden Herausforde-
rungen zu geben, möchte ich auf einen besonders wich-
tigen Punkt hinweisen . Die Einführung eines überall und
stets verfügbaren Breitbandnetzes für die Behörden und
Organisationen mit Sicherheitsaufgaben ist der nächste
und höchst wichtige Schritt . Genau wie in der Industrie,
in der Fertigung und in vielen anderen, auch privaten Be-
reichen ermöglicht der technologische Fortschritt immer
bessere und effizientere Wege. Die Nutzung dieser Tech-
nologien ist auch im Bereich der öffentlichen Sicherheit
nicht nur denkbar, sondern geboten .
Dass der Staat eine zumindest in Teilen autarke und
im Katastrophenfall von Dritten unabhängige Infrastruk-
tur betreibt und nutzen kann, die verlässlich und sicher
ist, muss das Ziel der Bemühungen um eine neue Sicher-
heitspolitik sein, für die ich mich in Zukunft persönlich
einsetzen will .
Der geplante Schritt, den Betrieb der Netze des Bun-
des in die Hand der Bundesanstalt für die Behörden und
Organisationen mit Sicherheitsaufgaben zu legen, ist der
richtige Weg zu diesem Ziel . Auch wirtschaftlich gesehen
ist es eine vernünftige Maßnahme . Bei einer Fremdver-
gabe des Betriebes der Netze des Bundes, im Gegensatz
zu einem Betrieb durch die BDBOS, entstünden unge-
fähr 70 Millionen Euro mehr Kosten als in der gewählten
Variante . Dem Gebot der Wirtschaftlichkeit entspricht
unser Vorgehen also auch .
Es ist geboten, weil es nicht zu rechtfertigen ist, wenn
ein Staat einen möglichen Gewinn an Sicherheit bei be-
wältigbaren Kosten nicht ergreift . Die Tatsache, dass es
hier im Hause bisher keinen Streit über eine Notwendig-
keit der Novellierung des BDBOS-Gesetzes gegeben hat,
zeigt mir überdies, dass es einen breiten Konsens über
die Modernisierung und Straffung staatlicher sicherheits-
relevanter Kommunikation gibt . Auch der Bundesrat hat
am 10 . Februar 2017 beschlossen, keine Einwände zu er-
heben . Dies stimmt mich überaus positiv .
Gerold Reichenbach (SPD): Vor knapp zehn Jahren
wurde in Deutschland das weltweit größte Digitalfunk-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722304
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netz für Behörden und Organisationen mit Sicherheits-
aufgaben, die sogenannten BOS, aufgebaut . Dies war
keineswegs banal . Schließlich verfügte Deutschland im
Gegensatz zu den meisten anderen europäischen Staaten
bereits im Analogfunk über ein Integriertes Funknetz
für die BOS . Nach einem längeren Bund-Länder-Ab-
stimmungsprozess fiel dann der Startschuss mit dem
am 1 . September 2006 in Kraft tretenden „Gesetz über
die Errichtung einer Bundesanstalt für den Digitalfunk
der Behörden und Organisationen mit Sicherheitsauf-
gaben“, dem sogenannten BDBOS-Gesetz . Am 2 . April
2007 wurde die BDBOS gegründet . Es war damals ein
wichtiger Schritt, um ein Herzstück unseres polizeilichen
und nicht polizeilichen Sicherheitssystems, nämlich die
Kommunikation und den Datenaustausch, zu moderni-
sieren . Der Digitalfunk ersetzte den bis dahin technisch
veralteten, von der Polizei in Bund und Ländern, den
Feuerwehren, den Rettungskräften sowie von den Kata-
strophenschutz- und Zivilschutzbehörden in Bund und
Ländern genutzten Analogfunk .
Mitte 2009 haben wir mit dem ersten „Gesetz zur
Änderung des BDBOS-Gesetzes“ die Voraussetzun-
gen geschaffen, das in Deutschland bereits bestehende
integrierte BOS-Funknetz von der analogen in die mo-
derne digitale Funktechnik zu überführen . Damit wurde
gewährleistet, dass die von Bund und Ländern für ihre
jeweiligen Bedarfsträger dezentral beschafften digitalen
Funkgeräte bestimmte Mindestanforderungen erfüllen
und so störungsfrei mit den sonstigen Komponenten des
BOS-Digitalfunknetzes sowie mit allen anderen Funkge-
räten in diesem Netz zusammenarbeiten .
Das BOS-Digitalfunknetz in Deutschland ist weltweit
das Größte seiner Art und verfügt im Vergleich zum Ana-
logfunk über einige Vorteile: Er ist abhörsicher, hoch-
verfügbar, und hat eine verbesserte Sprachqualität . Der
BOS-Digitalfunk wird heute bereits von über 700 000 re-
gistrierten Teilnehmern genutzt und hat sich nicht nur im
Alltag, sondern auch bei Großeinsatzlagen bewährt . Die-
ses Ergebnis konnte durch die gute und enge Zusammen-
arbeit zwischen dem Bund, den Ländern und der BDBOS
erreicht werden .
Mit dem nun heute vorliegenden zweiten und auch
zu begrüßenden „Gesetz zur Änderung des BDBOS-Ge-
setzes“ wollen wir sicherstellen, dass der öffentlichen
Verwaltung die notwendige Flexibilität für die Zukunfts-
herausforderungen und Zukunftsanforderungen gegeben
werden, die durch den Wandel in staatlichen Kommuni-
kationsstrukturen verursacht werden .
Wir nehmen in das bestehende BDBOS-Gesetz eine
Öffnungsklausel auf, mit der das Aufgabenspektrum der
BDBOS jederzeit erweitert werden kann, um auf Ent-
wicklungen im Bereich staatlicher Kommunikations-
strukturen flexibel zu reagieren. Der Zweck der BDBOS
liegt aber auch nach einer möglichen Übertragung wei-
terer Aufgaben nach wie vor im Aufbau und Betrieb des
Digitalfunks . Zunächst ist vorgesehen, den Eigenbetrieb
der Netze des Bundes, NdB, als eine gesonderte Aufgabe
an die BDBOS zu übergeben . Gerade mit der steigenden
Gefahr durch Cyberattacken und dem schnellen techno-
logischen Fortschritt sollen die Netze des Bundes mithal-
ten können .
Bund und Länder sitzen beim BDBOS nach wie vor in
einem Boot . So wollen wir mit dem Änderungsgesetz die
Möglichkeit des weiteren Zusammenwirkens von Bund
und Ländern bei Planung, Errichtung und Betrieb der für
ihre Aufgabenerfüllung benötigten informationstechni-
schen Systeme einführen .
Ebenso stellen wir klar, dass der beim BDBOS be-
stehende Verwaltungsrat allein für die in § 2 Absatz 1
Satz 1 BDBOSG geregelten Belange des Aufbaus, Be-
treibens und der Weiterentwicklung des Digitalfunks der
Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben
sowie der Sicherstellung ihrer Funktionsfähigkeit zu-
ständig ist . Dabei soll dem Verwaltungsrat insoweit die
Entscheidung über die grundsätzlichen Angelegenheiten,
soweit die zuvor genannten Belange nach § 2 Absatz
1 Satz 1 BDBOSG betroffen sind oder die Übertragung
von Aufgaben nach § 2 Absatz 1 Satz 2 BDBOSG-E im
Raum steht, obliegen . Außerdem soll der vom Verwal-
tungsrat aufzustellende Jahresabschluss auf die in § 2
Absatz 1 Satz 1 BDBOSG geregelten Aufgaben fixiert
werden .
Wir legen fest, dass der jährlich zum 31 . Oktober für
das folgende Geschäftsjahr zu erstellende Wirtschafts-
plan Investitionen und Aufwendungen für die in § 2
Absatz 1 Satz 1 und 2 BDBOSG fixierten Aufgaben ge-
sondert auszuweisen hat und die Aufhebung der in § 18
BDBOSG geregelten Übergangsvorschriften und der in
§ 19 BDBOSG vorgesehenen Änderungen des Bundes-
besoldungsgesetzes .
Natürlich sehen wir an einigen Stellen noch Umset-
zungs- und Nachverdichtungsprobleme, insbesondere
auch in der sogenannten In-House-Versorgung . Hier sind
die Länder oder auch die Betreiber der jeweiligen Ein-
richtungen weiter in der Pflicht.
Der Antrag der Fraktion Bündnis90/Die Grünen greift
damit auch nur einen Aspekt der notwendigen weiteren
In-House-Verdichtung heraus, der der Sicherstellung ei-
ner lückenlosen BOS-Digitalfunkabdeckung in Bahnhö-
fen der Deutschen Bahn AG .
Auch ohne den Antrag der Grünen ist auch heute
schon die Deutsche Bahn AG genauso wie zum Beispiel
Flughafenbetreiber in der Pflicht, technisch alles in die
Wege zu leiten, damit Polizei und Rettungskräfte im
Falle einer Krisensituation über den Digitalfunk vor Ort
kommunizieren können . Übrigens nicht nur für den von
den Grünen angeführten Fall eines Terroranschlages . Im
Gegenteil, sie ist auch und gerade für die alltäglichen
Einsätze der Polizei, der Feuerwehren und Rettungs-
dienste notwendig .
Wir wissen, dass es keine bundesweit einheitliche
Rechtsverpflichtung der Betreiber zur Objektfunkver-
sorgung gibt . Die Verantwortung für Anlagen der Eisen-
bahninfrastruktur tragen die Eisenbahninfrastrukturun-
ternehmen . Sie sind für die Gewährleistung des sicheren
Betriebs ihrer Anlagen uneingeschränkt verantwortlich,
wozu unter anderem auch Rettungskonzepte mit deren
notwendigen Kommunikationsmöglichkeiten für die
BOS gehören .
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Es ist doch schon seit Jahren mit Bundesmitteln aus
der Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung mög-
lich – auch für die Deutsche Bahn AG und ihre Eisen-
bahninfrastrukturunternehmen –, die Ausrüstung mit
BOS-Funk zu finanzieren, dabei ist es sogar egal, ob
analog oder digital . Dafür muss im jeweiligen Einzelfall
ein funktionierendes Rettungskonzept vorliegen und eine
Aus- bzw . Umrüstung mit BOS-Digitalfunk erforderlich
sein . Der Deutschen Bahn AG obliegt es jetzt schon in
ihrer eigenen unternehmerischen Verantwortung, dies an
ihren Bahnhöfen zu ändern; daraus wollen wir sie auch
nicht entlassen .
Für den Gesetzentwurf bitte ich um Ihre Zustimmung .
Den Antrag von Bündnis90/Die Grünen halten wir durch
die bestehende Rechtslage für erledigt .
Frank Tempel (DIE LINKE): Im vorliegenden Ge-
setzentwurf will die Bundesregierung die Möglichkeit
schaffen, der Bundesanstalt für den Digitalfunk der Be-
hörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben,
BDBOS, neue Aufgaben jenseits des bisherigen Betrie-
bes des TETRA-basierten Digitalfunk BOS zukommen
zu lassen . Angedacht ist die Übertragung des Eigenbe-
triebes der Netze des Bundes, NdB .
Das Netz des Bundes als zukünftige Netzinfrastruktur
der Bundesverwaltung ist unzweifelhaft Teil der kriti-
schen Infrastruktur und auf das Engste mit den Kernauf-
gaben des Staates verbunden . Solch kritische Infrastruk-
turen in Betrieb privater Firmen bilden ein potenzielles
Sicherheitsrisiko . Die bisherigen zwei Netze, das BVN/
IVBV – Bundesverwaltungsnetz/Informationsverbund
der Bundesverwaltung – und das IVBB – Informations-
verbund Berlin-Bonn – wurden von zwei Privatfirmen,
Verizon und T-Systems, betrieben . Darüber erfolgten
die Regierungskommunikation sowie die Kommuni-
kation der Bundesverwaltung . Via BVN/IVBV wird
ebenfalls ein Teil der Datenverkehre des Deutschen Bun-
destages abgewickelt . Mit den Snowden-Leaks wurde
bekannt, dass Verizon zu jenen Firmen zählt, mit denen
der US-amerikanische Geheimdienst NSA strategische
Partnerschaften zur Datenüberwachung unterhält . Der
Vertrag mit Verizon über den Betrieb des Bundesverwal-
tungsnetzes wurde daraufhin später zu Recht gekündigt .
Die Änderung des BDBOS-Gesetzes schafft die Mög-
lichkeit, dass die Netze des Bundes, NdB, in Eigenbetrieb
durch die Bundesbehörde geführt werden können . Das ist
grundsätzlich zu begrüßen . Zudem sollen bis 2019 die
einzelnen Fernkommunikationsnetze des Bundes zu-
sammengefasst und migriert werden . Gegenüber einem
Fremdbetrieb soll der Kostenvorteil des NdB in Eigenbe-
trieb zudem laut dem Gesetzentwurf rund 160 Millionen
pro Jahr betragen .
Andererseits bleibt die Fraktion Die Linke skeptisch .
Die Geschichte der Einführung des digitalen BOS-Netzes
als auch des Netzes des Bundes war und ist ein Trauer-
spiel . Schon zur Fußballweltmeisterschaft 2006 sollte in
den Austragungsorten der digitale BOS-Funk verfügbar
sein . Im Jahr 2007 gab es einen Neustart des gesamten
Projektes . Seitdem ist die Bundesanstalt für den Digital-
funk der Behörden und Organisationen mit Sicherheits-
aufgaben für den Aufbau des Digitalnetzes zuständig .
Immer größere Kosten, ein Ausbaurückstand von zwei
Jahren und Berichte über ein Organisationschaos bei der
BDBOS begleiteten deren Arbeit . Beim Aufbau des digi-
talen Polizeifunks waren erhebliche Unregelmäßigkeiten
zu beobachten . Der Bundesrechnungshof listete im Jah-
re 2010 unglaubliche Zustände beim BDBOS auf . Mit-
arbeiter wurden ohne Arbeitsvertrag angestellt, externe
Dienstleister schrieben sich selbst die Arbeitsaufgaben
zu, und die Rechnungslegung war über weite Strecken
nicht nachvollziehbar . Die ursprünglich geplanten Kos-
ten von 5,1 Milliarden Euro, die inzwischen auf 7,2 Mil-
liarden Euro angestiegen sind, werden wohl noch um ei-
nige Milliarden anschwellen . Grund dafür ist die immer
noch nicht erreichte vollständige Abdeckung des Netzes .
Insbesondere in Tälern, dichten Wäldern und innerhalb
von Gebäuden ist der Empfang schwierig bis unmöglich .
Deshalb muss die Stationsdichte nachträglich erhöht
werden . Der heute vorliegende Antrag von Bündnis 90/
Die Grünen geht in diese Richtung und wird natürlich
von den Linken unterstützt .
Weiterhin ist die Übertragung digitaler Daten beim
Polizeifunk so unterdimensioniert, dass jedes normale
Handy einen weit höheren Funktionsumfang aufweist .
Die Übertragung von Fahndungsfotos oder Fingerabdrü-
cken ist faktisch unmöglich . Es steht also ein milliarden-
schwerer Ausbau bei den Bandbreiten an .
Nach Jahren der Kritik von Katastrophenschützern
und auch unserer Fraktion haben die Bundesregierung
und die Länder endlich die Notwendigkeit erkannt, das
digitale BOS-Netz gegen längere Stromausfälle zu här-
ten . Bereits nach zwei Stunden ist heute das Netz tot
und sind Polizei, Feuerwehr, Rettungsdienste und THW
der Kommunikation beraubt. Der Puffer soll nun auf
72 Stunden ausgebaut werden . Wann dies abschließend
der Fall ist, steht aber in den Sternen . Auch das Projekt
„Netze des Bundes“ ist dem Zeitplan um Jahre hinterher .
Neben Diskussionen um die Sicherheit des Netzes wegen
bekannter Trassenverläufe im ehemaligen Leerrohrnetz
der amerikanischen Armee gibt es auch erhebliche Kritik
des Bundesrechnungshofes an Fehlausgaben in Milliar-
denhöhe .
Sie verstehen sicherlich, dass wir trotz des nachvoll-
ziehbaren Ansatzes in ihrem Gesetz große Befürchtun-
gen gegenüber Ihren Plänen hegen . Es ist schon viel zu
viel Geld der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler einge-
setzt worden, und die Nutzbarkeit von digitalem BOS
und des Netzes des Bundes ist trotzdem nicht auf dem
versprochenen Stand .
Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vie-
le haben sicher nie davon gehört, aber: Die Umstellung
des Analogfunks von Behörden und Organisationen
mit Sicherheitsaufgaben auf BOS-Digitalfunk ist eines
der größten technischen Modernisierungsprojekte in
Deutschland . Die ursprünglichen Planungen sahen die
Inbetriebnahme eines Rumpfnetzes in Berlin zur Fuß-
ball-WM 2006 vor . Die Gesamtumstellung sollte dann
bereits im Jahr 2012 abgeschlossen sein . Nach der Um-
stellung soll der neue BOS-Digitalfunk den Behörden
mit Sicherheitsaufgaben in Bund und Ländern, wie der
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722306
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Polizei, den Feuerwehren, dem THW oder den Sanitäts-
und Rettungsdiensten, ein zuverlässiges und modernes
Funknetz bieten . Der Ausschreibungs- und Planungspro-
zess war allerdings so miserabel, dass dieses Ziel weit
verfehlt wurde und die Umstellung bis heute nicht voll-
ständig abgeschlossen ist .
Die eigens 2007 gegründete Bundesanstalt für den
Digitalfunk der Behörden und Organisationen mit Si-
cherheitsaufgaben, also der BDBOS hat die bestehenden
Probleme offensichtlich nicht im Griff, und der BOS-Di-
gitalfunk entwickelt sich mehr und mehr zu dem Berliner
Flughafen des Bundesinnenministeriums . Der vorlie-
gende Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht nun die
Übertragungen von weiteren Aufgaben an die BDBOS
vor, die bisher nur den Ausbau und den Betrieb des BOS-
Funks zu verantworten hat .
Mir erscheint das Vorhaben so, als würde man jetzt
dem neuen Berliner Flughafen auch noch den Betrieb
von Tegel anvertrauen . Dabei haben die Verantwortli-
chen aus der Misere offensichtlich nicht viel gelernt,
wenn man den vorliegenden Gesetzentwurf betrachtet .
Dieser soll es ermöglichen, dass weitere Aufgaben an
die BDBOS übertragen werden, ohne dass diese genau
spezifiziert sind. Dabei ist der Gedanke, weitere Auf-
gaben im Bereich der staatlichen Kommunikation an
einer Stelle zu bündeln und dadurch beispielweise die
Resilienz gegen Hackerangriffe zu stärken, sicherlich
sinnvoll . Aber setzt dies nicht eine genaue Planung vo-
raus? Ich frage mich: Wo möchte die Bundesregierung
mit diesem Gesetzentwurf hin? Offensichtlich weiß man
das selbst nicht so genau . Die Übertragung des Betriebs
der sogenannten Netze des Bundes als mögliche Option
bleibt mir an dieser Stelle zu unkonkret, insbesondere im
Hinblick darauf, dass es sich allein hier um ein Projekt
mit einem Erfüllungsaufwand von 100 Millionen Euro
handelt und dass ein jährlicher Erfüllungsaufwand von
rund 92 Millionen Euro veranschlagt ist, nach bisheri-
gen Zahlen der Bundesregierung . Weitere Kosten, für die
möglichen neuen Aufgaben, kann die Bundesregierung
nicht einmal benennen .
Vielleicht wäre es auch im Hinblick auf die gegenwer-
tige sicherheitspolitische Lage angebracht, sich erstmal
auf die bestehenden Probleme im BOS-Digitalfunk zu
konzentrieren und der Behörde nicht pauschal so weit-
reichende Aufgaben zu übertragen . Die terroristische
Anschlagsgefahr prägt die politische Debatte derzeit wie
kaum ein anderes Thema . Es werden im Eiltempo neue
Gesetze verabschiedet und Markplatzreden über die Aus-
stattung der Sicherheitsbehörden und insbesondere der
Polizei gehalten .
Den Polizistinnen und Polizisten, die täglich ihren
Dienst ausüben, helfen diese Gesetze und warmen Worte
wenig, wenn wir immer wieder erleben, dass diese unter
grundlegenden Ausstattungsdefiziten leiden. Hier ist die
Bundesregierung in der Pflicht, nachzubessern und eben
auch für einen funktionierenden und zuverlässigen Be-
hördenfunk zu sorgen .
Ohne einen störungsfreien Funkverkehr ist keine zu-
verlässige Kommunikation sichergestellt, und diese ist
Grundlage eines erfolgreichen Einsatzes . Die Bewälti-
gung einer komplexen Lage, wie zum Beispiel bei einem
Amoklauf oder einem Terroranschlag, ist nur durch eine
absolut zuverlässige Kommunikation zwischen den ver-
schiedenen Polizeieinheiten, aber auch anderen Behör-
den mit Sicherheitsaufgaben, wie der Feuerwehr oder den
Rettungsdiensten, möglich . Aber auch im alltäglichen
Dienst stellen die bestehenden Probleme im Digitalfunk
ein erhebliches Risiko für die Beamtinnen und Beamten
dar . Wie soll beispielsweise Verstärkung gerufen werden,
wenn man sich gerade in einem „Funkloch“ befindet?
Mit einem zuverlässigen BOS-Digitalfunk würde die
Bundesregierung einen wertvollen Beitrag für die Sicher-
heit und körperliche Unversehrtheit der Polizistinnen und
Polizisten leisten und nicht mit einer Strafverschärfung,
wie kürzlich beschlossen . Die Probleme im Aufbau des
BOS-Digitalfunks sind Jahre nach der Einführung immer
noch vielseitig . In der Fläche besteht teilweise immer
noch ein Mangel an Basisstationen, die eine zuverlässige
Netzabdeckung garantieren . Aus diesem Grund greifen
Einsatzkräfte immer wieder auf private Mobiltelefo-
ne zurück, um Meldungen abzugeben oder zusätzliche
Kräfte anzufordern . Der Mangel in der Fläche sorgt auch
immer wieder für eine schlechte Funkverbindung inner-
halb von Gebäuden . Des Weiteren ist die Umstellung in
den Behörden mit Sicherheitsaufgaben selbst noch nicht
vollständig abgeschlossen, wie eine Kleine Anfrage von
uns ergeben hat . Hier gilt es dringend nachzubessern .
Die größte Herausforderung liegt aber in der Objekt-
funkversorgung von großen Gebäuden, wie verschiedene
Zwischenfälle und Berichte in den letzten Jahren gezeigt
haben . Dieses Problem greift unser Antrag „Lückenlose
BOS-Digitalfunkabdeckung in Bahnhöfen der Deutschen
Bahn AG sicherstellen“ auf . Bahnhöfe sind besonders
sensible Orte, die täglich von vielen Menschen frequen-
tiert werden . Daraus ergeben sich bereits im alltäglichen
Geschehen besondere Herausforderungen, insbesondere
im Hinblick auf terroristische Ereignisse .
Wir fordern die Bundesregierung auf, diese Missstän-
de endlich zu beheben und gemeinsam mit der Deutschen
Bahn AG für eine flächendeckende und zuverlässige Ob-
jektfunkversorgung in den Bahnhöfen und den Tunnelan-
lagen zu sorgen . Ich möchte eindringlich um eine Unter-
stützung unseres Antrages werben, der einen erheblichen
Sicherheitsgewinn für die Bevölkerung und die Beamtin-
nen und Beamten im Dienst bedeutet .
Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär beim Bun-
desminister des Innern: Die Digitalisierung führt zu
grundlegenden Veränderungen in unserem Land . Neben
der Wirtschaft und Gesellschaft ist gerade auch der Staat
von diesen Veränderungen betroffen. Die Bundesverwal-
tung ist heute in ihrer Handlungsfähigkeit entscheidend
auf eine moderne, sichere und zuverlässige IT-gestützte
Kommunikation angewiesen . Dabei spielen Netzinfra-
strukturen eine besondere Rolle . Sie stellen die übergrei-
fende Sprach- und Datenkommunikation sicher, vernet-
zen bundesweit Rechnernetze und bilden somit eine Art
„zentrales Nervensystem“ für die moderne Verwaltung .
Die kurzen Entwicklungszyklen auf dem IT-Markt
führen allerdings dazu, dass alte Technologien den ste-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22307
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tig wachsenden Anforderungen kaum noch Rechnung
tragen . Daneben ist die Bedrohungslage der Netze durch
hochentwickelte Schadprogramme wie zum Beispiel
Trojaner gestiegen . Die Regierungsnetze werden täglich
gezielt angegriffen. Auch hat die Vielfalt der Netze inner-
halb der Bundesverwaltung zu einer hohen Komplexität
geführt, welche die Beherrschbarkeit und damit die Si-
cherheit der Regierungskommunikation gefährden kann .
Die aktuellen Netzinfrastrukturen der Bundesverwal-
tung sind historisch gewachsen und weisen eine Vielzahl
von parallelen Flächennetzen und Spezialnetzen auf .
Dazu kommt, dass unsere heutigen Netze kein einheit-
liches Sicherheitsniveau und keine redundanten Netz-
werkstrukturen für eine größtmögliche Verfügbarkeit
besitzen:
Punktuelle Modernisierungen und Erweiterungen der
bestehenden Regierungsnetze können den Anforderun-
gen einer vernetzten, modernen Verwaltung nicht dauer-
haft gerecht werden .
Deshalb wird derzeit mit dem Projekt „Netze des
Bundes“ eine einheitliche Netzinfrastruktur mit erhöh-
tem Sicherheitsniveau auf den Weg gebracht . Hierdurch
werden die notwendige Größenvorteile, Krisensicherheit
sowie Leistungssteigerung gewährleistet . Durch redun-
dante Anbindungen wird die Verfügbarkeit der Netze er-
heblich gesteigert .
Es ist vorgesehen, der Bundesanstalt für den Digital-
funk der Behörden und Organisationen mit Sicherheits-
aufgaben, kurz: BDBOS, den Betrieb der Netze des Bun-
des als gesonderte Aufgabe zu übertragen .
Hierzu bedarf es der vorliegenden Gesetzesänderung,
die eine solche Aufgabenübertragung an die BDBOS er-
möglicht .
Gegenwärtig bestehen die zentralen Aufgaben der
BDBOS im Aufbau, Betrieb und der Weiterentwicklung
des bundesweit einheitlichen digitalen Sprech- und Da-
tenfunksystems für die Einsatzkräfte der Polizei, der
Feuerwehr, der Rettungskräfte sowie der Katastrophen-
und Zivilschutzbehörden in Bund und Ländern .
Die Bundesanstalt ist besonders geeignet den Betrieb
der Netze des Bundes zu übernehmen, da sie bereits für
den Betrieb des designierten Backbones für die Netze des
Bundes, dem „Kerntransportnetz Bund“, verantwortlich
ist und aufgrund ihrer gefestigten Strukturen in der Lage
ist, frühzeitig am Projekt Netze des Bundes mitzuwirken .
Der Bund sichert sich mit der Übertragung der Aufgabe
an eine Bundesanstalt im Vergleich zum Betrieb durch
einen externen Dienstleister uneingeschränkte Einfluss-
möglichkeiten . Dies ist gerade auch bei besonderen si-
cherheitsrelevanten Lagen von Bedeutung . Auch die
Einfluss- und Kontrollrechte des Parlaments bleiben so
gewahrt .
Wir haben ein gemeinsames Interesse daran, die Leis-
tungsfähigkeit und Sicherheit der für das Funktionieren
der Bundesverwaltung wichtigen behördlichen Netzinf-
rastrukturen weiterhin zu gewährleisten und auf zukünf-
tige Herausforderungen vorzubereiten . Deshalb bitte ich
Sie um die Zustimmung zu unserem Gesetzentwurf .
Anlage 12
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Um-
setzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der
Europäischen Union zur Arbeitsmigration (Tages-
ordnungspunkt 32)
Andrea Lindholz (CDU/CSU): Häufig ist der Vor-
wurf zu hören, Deutschland und Europa schotteten sich
ab . Migranten seien in Europa nicht mehr willkommen .
Der vorliegende Gesetzentwurf zeigt, dass die europä-
ische Migrationspolitik in eine ganz andere Richtung
geht . Mit den drei EU-Richtlinien, die wir heute in deut-
sches Aufenthaltsrecht umsetzen, erleichtern wir Nicht-
europäern, die auf legalem Weg nach Europa gekommen
sind, die Arbeitsmigration innerhalb der EU .
Natürlich brauchen wir in Europa qualifizierte und
motivierte Zuwanderer . Allerdings muss diese Zuwan-
derung in jedem Fall klaren Regeln folgen, die jederzeit
in allen EU-Mitgliedstaaten eingehalten und konsequent
umgesetzt werden müssen .
An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass
die ganz große Mehrheit der Migranten in Europa unsere
geltenden Zuwanderungsgesetze einhält . Die Phasen der
hohen unkontrollierten und illegalen Migration, wie wir
sie zuletzt erlebt haben, sind die Ausnahme und müssen
die Ausnahme bleiben. Andernfalls erodiert die öffentli-
che Akzeptanz für die Freizügigkeit in Europa noch wei-
ter . Der Fortbestand des grenzfreien Schengen-Raums ist
heute durch das dysfunktionale Asylsystem der EU akut
bedroht .
Die EU-Staaten müssen deutlich machen, dass es kla-
re Regeln gibt, wer unter welchen Bedingungen und auf
welchem Wege zu uns kommen darf . Dafür braucht die
EU ein klares, verbindliches und glaubwürdiges Zuwan-
derungsregime . Diejenigen Migranten, die unser gelten-
des Recht einhalten, sollen auch von den Vorzügen des
vereinten Europas profitieren können, aber eben unter
bestimmten und kontrollierten Voraussetzungen .
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf kommt die Bun-
desregierung ihrer Pflicht nach, drei EU-Richtlinien in
das deutsche Aufenthaltsrecht umzusetzen . Nichteuropä-
er erhalten durch die Umsetzung der Rest-Richtlinie, der
ICT-Richtlinie und der Saisonarbeitnehmer-Richtlinie
mehr Möglichkeiten und Freiheiten in der EU . Diese Re-
form wird vielen Migranten, die nicht aus der EU stam-
men, das Leben und Arbeiten in Europa und Deutschland
erleichtern .
Zum Beispiel sollen Studenten und Forscher leichter
zu Studien- oder Forschungszwecken in andere EU-Staat
wechseln dürfen . Ebenso sollen mit dem Gesetzentwurf
die Regeln für unternehmensintern transferierte Arbeit-
nehmer vereinfacht werden . Auch für Praktikanten und
Teilnehmer von europäischen Freiwilligendiensten, die
aus Drittstaaten stammen, wird das Aufenthaltsrecht
verbessert . Zudem werden die Vorschriften zu Ein- und
Ausreise von Saisonarbeitnehmern vereinheitlicht und
vereinfacht .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722308
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In der Landwirtschaft, der Gastronomie und der
Bauindustrie werden seit Jahren zusätzliche saisonale Ar-
beitskräfte gebraucht . Es ist daher richtig, Drittstaatlern
die Einreise für Kurzaufenthalte bis zu 90 Tagen oder
längere Aufenthalte bis zu sechs Monaten zu ermögli-
chen, um in Deutschland vorübergehend zu arbeiten . Sai-
sonarbeiter müssen dafür einen gültigen Arbeitsvertrag
und eine bezahlbare Unterkunft nachweisen . Zu begrü-
ßen ist auch, dass in § 41 Aufenthaltsrecht eine Möglich-
keit zum Widerruf der Arbeitserlaubnis verankert wurde,
um unsere heimischen Arbeitnehmer vor Lohndumping
zu schützen . Eine noch weiter gehende Verbesserung der
Schutzstandards für Saisonarbeitnehmer vor Missbrauch
und Ausbeutung wäre sicherlich zu begrüßen . Allerdings
ist das vorliegende Gesetz dafür nicht der richtige An-
satzpunkt .
Wichtig ist auch, die Anreize für illegale Migration
und das Überziehen der Aufenthaltsgestattung zu mini-
mieren . In diesem Zusammenhang wird erneut deutlich,
wie wichtig die zügige Einführung des geplanten zentra-
len Einreise-Ausreise-Registers der EU ist . Dieses Re-
gister ist für die europaweite Identifikation sogenannter
Visa-Overstayer von großer Bedeutung .
Natürlich ist Migration für unsere Volkwirtschaft, für
die internationale Forschung und Lehre und die Unter-
nehmen in Europa von großer Bedeutung . Zudem ha-
ben die letzten Jahre in vielfacher Hinsicht gezeigt, wie
wichtig eine verbindliche Ordnung und eine verlässliche
staatliche Kontrolle bei der Einwanderung sind .
Migration und Einwanderungskontrolle schließen sich
nicht gegenseitig aus, sondern müssen als zwei Seiten
der gleichen Medaille begriffen werden. Wer Migration
nicht kontrolliert, riskiert, dass irgendwann Mauern ge-
baut werden . Um das zu vermeiden, braucht es voraus-
schauende, verbindliche und allgemein nachvollziehbare
Regeln .
Auch ich würde es begrüßen, wenn Deutschland ein
einfaches Einwanderungsgesetz erhalten würde, wie es
manche fordern . Diese Forderungen ignorieren jedoch
die Tatsache, dass wir als EU-Mitglied unser Aufenthalts-
recht immer im europäischen Kontext denken und regeln
müssen . Dadurch wird das Ausländerrecht in Deutsch-
land automatisch komplizierter als zum Beispiel in Ka-
nada . Allerdings verkomplizieren wir mit der heutigen
Novellierung das deutsche Aufenthaltsrecht und unsere
Einwanderungsregeln zusätzlich . Es muss eine Aufgabe
aller EU-Staaten sein, für Einwanderungsregeln zu sor-
gen, die weltweit nachvollzogen und respektiert werden .
Unter dem Strich verfügt Deutschland bereits über
ein sehr liberales Einwanderungsrecht . Mit der heutigen
Umsetzung der drei Richtlinien zur Arbeitsmigration
stellen wir das erneut unter Beweis . Dazu bitte ich Sie
um Ihre Zustimmung .
Nina Warken (CDU/CSU): Laut dem kürzlich ver-
öffentlichten Migrationsbericht der Bundesregierung ist
der deutsche Arbeitsmarkt so beliebt wie nie . Fast 1 Mil-
lion Unionsbürger sind allein 2015 nach Deutschland ge-
kommen, um bei uns zu arbeiten oder um ein Studium
oder eine Ausbildung aufzunehmen . Auch die Zahlen der
Hochqualifizierten aus Drittstaaten sind erneut gestiegen.
2015 kamen rund 29 000 Fachkräfte aus Drittstaaten, fast
doppelt so viele wie noch vor sechs Jahren . Mit 7 Prozent
Zuwachs wird Deutschland auch für Studierende und
Wissenschaftler immer attraktiver . Nicht ohne Grund hat
die OECD unser Zuwanderungsrecht für Fachkräfte als
eines der liberalsten weltweit ausgezeichnet .
Dennoch liegt Deutschland im internationalen Wett-
bewerb um hochqualifizierte Fachkräfte, die unsere Wirt-
schaft dringend braucht, noch nicht so weit vorne, wie es
eigentlich sein könnte .
Der Gesetzentwurf zur Umsetzung der drei EU-Richt-
linien zur Arbeitsmigration von Drittstaaten, den wir
heute beschließen wollen, schafft hierbei Abhilfe:
Erstens sorgen wir mit der Umsetzung der sogenann-
ten REST-Richtlinie dafür, dass Wissenschaftler und
Studenten aus Drittstaaten deutlich einfacher bei uns for-
schen und studieren können . Für sie reicht künftig ein
gültiger Aufenthaltstitel in einem EU-Mitgliedsland aus,
und es muss in Deutschland für einen vorübergehenden
Aufenthalt nicht auch noch ein solcher beantragt werden .
Wenn also zum Beispiel der argentinische Krebsforscher,
der bereits ein Visum für Spanien hat, auch unkompliziert
in Deutschland forschen kann oder der Informatikstudent
aus Kamerun, der in Warschau studiert, für ein Semester
auch zu uns kommen kann, sorgen wir nicht nur für mehr
Mobilität und wissenschaftlichen Austausch, sondern
wir stärken und fördern damit den Wirtschaftsstandort
Deutschland .
Zweitens wird es mit der Umsetzung der ICT-Richtli-
nie für Arbeitnehmer aus Drittstaaten deutlich einfacher,
an mehreren Standorten ihres Unternehmens in Europa
zu arbeiten . Führungskräfte, Spezialisten und Trainees,
also genau die Arbeitnehmer, die wir hierzulande drin-
gend brauchen, benötigen für Aufenthalte bis zu drei
Monaten keinen zusätzlichen deutschen Aufenthaltstitel
mehr . Auch für längere Entsendungen wurde das Verfah-
ren deutlich vereinfacht, sodass die klügsten Köpfe leich-
ter zu uns kommen können .
Drittens wird mit dem Gesetzentwurf die Saisonar-
beitnehmerrichtlinie umgesetzt und werden damit die
Voraussetzungen festgelegt, unter denen Drittstaatsange-
hörige als Saisonarbeiter beschäftigt werden können . Ich
möchte aufgrund der Kritik der Opposition nochmal ganz
deutlich betonen, dass es sich hierbei um absolut faire
und transparente Regeln handelt: Sowohl Kurzaufenthal-
te bis zu 90 Tagen als auch längere Aufenthalte bis zu
sechs Monaten sind möglich . Dafür müssen ein gültiger
Arbeitsvertrag und eine bezahlbare Unterkunft nachge-
wiesen werden . Gleichzeitig wurden die Rechte der Sai-
sonarbeiter gestärkt, um eine Ausbeutung zu verhindern .
Die Kritik der Opposition an diesen Regelungen für
Saisonarbeiter verkennt völlig, dass die Mobilität, die
dadurch entsteht, nicht nur unseren Unternehmen in der
Landwirtschaft, der Gastronomie oder der Baubranche
hilft . Sie ist auch im Sinne der Arbeitnehmer . Mobilität
bedeutet, für kurze Zeit und auch in wiederkehrenden
Abständen in verschiedenen Ländern arbeiten zu können,
ohne dass man seinen dauerhaften Wohnsitz dorthin ver-
legen muss . Das gehört zu einer modernen Gesellschaft
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22309
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dazu, und glauben Sie mir – auch wenn sich das die Op-
position vielleicht nur schwer vorstellen kann –, es gibt
Menschen, die auch dann weiterhin in ihrem Heimatland
leben wollen, wenn die wirtschaftliche Lage dort nicht so
gut ist wie bei uns .
Lassen wir uns nicht von haltloser Kritik in die Irre
führen . Betrachten wir lieber die Fakten . Fakt ist: Mit
diesem Gesetzentwurf wird nun ein EU-weit einheitli-
cher Rechtsrahmen im Bereich der Arbeitsmigration in
Deutschland umgesetzt . Auch der Bundesrat begrüßt das
ausdrücklich in seiner Stellungnahme und sieht so gut wie
keinen Änderungsbedarf . Die wenigen Änderungswün-
sche wurden von der Bundesregierung sorgfältig geprüft,
mit dem Ergebnis, dass diese bei genauerer Betrachtung
entweder bereits in den Regelungen des Gesetzentwurfs
enthalten sind oder aber nicht zielführend wären .
So stellt die Bundesregierung beispielsweise völlig zu
Recht klar, dass die Unterscheidung zwischen anerkann-
ten Flüchtlingen und anderen Drittstaatsangehörigen bei
der Umsetzung der REST-Richtlinie sehr wohl gerecht-
fertigt ist . Die Verantwortung des aufnehmenden Mit-
gliedslandes endet nicht mit dem Asylverfahren, sondern
gilt auch im Hinblick auf die Integration . Diesen Grund-
satz einer konsequenten Trennung zwischen Flucht und
Migration müssen wir auch bei diesem Gesetzentwurf
beibehalten, um keine falschen Anreize zu erzeugen .
Der vorliegende Gesetzentwurf setzt nicht nur eu-
ropäisches in nationales Recht um, sondern er stärkt
den Forschungs- und Wissensstandort Deutschland, er
schafft neue und erleichterte Einsatzmöglichkeiten für
hochqualifizierte Arbeitskräfte und sorgt für einen fairen
Rechtsrahmen für Saisonarbeiter . All das ist sowohl im
Interesse unseres Landes als auch im Interesse der Men-
schen, die bei uns leben und arbeiten wollen . Lassen Sie
uns deshalb den Gesetzentwurf mit breiter Mehrheit be-
schließen .
Sebastian Hartmann (SPD): Deutschland ist schon
seit langem ein Einwanderungsland, und Migration ist
gelebte deutsche Realität . Sowohl nach Deutschland als
auch in umgekehrte Richtung migrieren pro Jahr Milli-
onen von Menschen . Migration prägt also die deutsche
Gesellschaft nachhaltig, auch wenn sich die Erkenntnis
von Deutschland als Migrations- und Einwanderungs-
gesellschaft nur langsam durchgesetzt hat . Lassen Sie
uns klarstellen: Während es beim vorliegenden Gesetz-
entwurf heute um eine Eins-zu-eins-Umsetzung einer
europäischen Richtlinie in deutsches Recht geht, steht
dahinter doch immer der nachhaltige Anspruch einer
Steuerung und Regulierung der Einwanderung insge-
samt, den die SPD-Bundestagsfraktion mit unserer For-
derung nach einem Einwanderungsgesetz auch hier noch
einmal bekräftigt .
Deutschland verzeichnet dabei sowohl aus Mitglied-
staaten der EU als auch aus Drittstaaten seit Jahren ei-
nen steigenden Zuzug . Mit seiner starken Wirtschaft,
einer guten Kinderbetreuung, einer exzellenten Gesund-
heitsversorgung und vor allem freien, individuellen Ent-
faltungsmöglichkeiten ist Deutschland ein attraktives
Zielland für hochqualifizierte Einwanderer. Und auch
Deutschland profitiert dabei in hohem Maße von der Zu-
wanderung .
Schon heute kann der Bedarf an beruflich qualifizier-
ten Fachkräften in bestimmten Wirtschaftszweigen ohne
Zuwanderung aus Drittstaaten nicht mehr abgedeckt
werden . Viele Stellen bleiben unbesetzt . Es fehlen gut
1 Million Pflegekräfte, Ärzte oder Ingenieure. Das be-
hindert unternehmerisches Wachstum . Zudem bedroht
der demografische Wandel unsere Sozialsicherungssys-
teme . In den nächsten zehn Jahren würde Deutschland
ohne Migration über 6 Millionen Erwerbstätige verlie-
ren . Diese enorme Zahl kann auch nicht alleine durch Zu-
wanderung aus der EU aufgefangen werden; denn andere
EU-Länder stehen vor ähnlichen Herausforderungen .
Dabei wanderten in den letzten zehn Jahren bereits
knapp 3,8 Millionen Menschen von außerhalb Euro-
pas nach Deutschland ein . Allerdings nehmen im Zuge
der Globalisierung auch Emigrationsbewegungen aus
Deutschland heraus zu; das positive Migrationssaldo ist
also deutlich geringer und liegt bei etwa 200 000 Zu-
zügen jährlich . Um gegen die bestehenden und künfti-
gen Arbeitskräfte- und Qualifikationsdefizite in der EU
vorzugehen, müssen wir also weitere Anreize schaffen.
Dazu trägt der vorliegende Gesetzentwurf bei .
Er greift eine ganze Reihe von Maßnahmen auf, die
bestehende Regeln vereinfachen und Bürokratie abbau-
en . Konkret werden die ICT-Richtlinie, die Saisonarbeit-
nehmerrichtlinie und die REST-Richtlinie im deutschen
Aufenthaltsrecht umgesetzt . Damit stellen wir Regeln
für ausländische Arbeitnehmer auf, die innerhalb ihres
internationalen Unternehmens zeitweise in Deutschland
arbeiten möchten . Zweitens regeln wir den Aufenthalt
von Nicht-EU-Ausländern in Deutschland als Saison-
arbeitnehmer, und drittens werden die Bedingungen
für ausländische Studenten und Wissenschaftler, die in
Deutschland forschen oder Studien absolvieren möchten,
sowie für Praktikanten und Au-pair-Kräfte definiert.
Durch diesen Gesetzentwurf wird der Zugang zum und
die Bedingungen auf dem deutschen Arbeitsmarkt und
an deutschen Hochschulen transparent und fair gestaltet .
Zudem schaffen wir unnötige bürokratische Hindernis-
se ab und entlasten damit die deutsche Verwaltung . So
müssen Wissenschaftler aus Drittstaaten nicht mehr ei-
nen eigenen Aufenthaltstitel beantragen, wenn sie bereits
an einer anderen europäischen Hochschule forschen und
dort einen Aufenthaltstitel haben . Der wissenschaftliche
Austausch über Länder- und Hochschulgrenzen hinweg
ist wichtig für Innovation in der Forschung . Er wird in
der Zukunft deutlich einfacher . Auch wird es nun mög-
lich, vom Aufenthaltszweck des Studiums zu einer Aus-
bildung zu wechseln . Diese Flexibilität kann helfen, die
unzähligen unbesetzten Ausbildungsplätze in Deutsch-
land zu füllen, wenn ausländische Personen das deutsche
Ausbildungssystem kennen- und schätzen gelernt haben .
Die Migration aus EU-Staaten nach Deutschland ist
nur schwer zu prognostizieren . Aber davon ist abhängig,
wie hoch der Bedarf an Arbeitsmigration aus Drittstaa-
ten ist. Um diese bedarfsorientiert und flexibel steuern
zu können, setzt sich die SPD aus Überzeugung für ein
Einwanderungsgesetz ein . Wir haben dazu einen Entwurf
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722310
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vorgelegt, der nach einem transparenten Punktesystem
verständliche Regeln aufstellt und damit Einwanderung
in geordnete Bahnen lenkt . Wir werden bei diesem The-
ma auch nicht locker lassen . Aber heute stimmen wir
dem vorliegenden Gesetzentwurf zu, der eins zu eins die
EU-Richtlinien in deutsches Recht umsetzt .
Ähnlich verhält es sich mit Saisonarbeitnehmern und
ihren Rechten im deutschen Arbeits- und Sozialsystem .
Sie werden künftig mit einer erhaltenen Arbeitserlaubnis
kein zusätzliches Visum beantragen müssen . Auch hier
entbürokratisieren wir die Abläufe . Das hat jedoch nichts
mit dem von der Opposition erhobenen Vorwurf zu tun,
dass die sozialen Rechte von Saisonarbeitnehmern in
dem Gesetzentwurf fehlen. Um das an dieser Stelle klar
zu sagen: Als SPD-Bundestagsfraktion achten wir natür-
lich besonders auf die sozialen Rechte von Saisonarbeit-
nehmern und stehen für diese ein . Dafür ist jedoch das
Sozialgesetzbuch der richtige Regelungsort und nicht das
Aufenthaltsrecht . Heute geht es darum, aufenthaltsrecht-
liche Vorgaben der EU in Bundesgesetzen umzusetzen .
Gleiches gilt für die Absicherung sozialer Rechte auch
auf europäischer Ebene .
Abschließend sei noch einmal betont, dass Arbeits-
migration ein Gewinn für den deutschen Arbeitsmarkt
ist; denn wir profitieren vom sozialen Kapital ebenso wie
von Erfahrungen und Qualifikationen von Drittstaats-
angehörigen . Darüber hinaus entstehen neue Ideen im
Austausch mit Ausländern . Verschiedene kulturelle Hin-
tergründe in Arbeitsteams, internationale Universitäten
und heterogen besetzte Forschungseinrichtungen regen
zur Zusammenarbeit und gemeinsamer Veränderung an .
In einer zunehmend globalisierten Welt wird es immer
Ein- und Auswanderung geben . Für uns in der Politik gibt
es den Auftrag, diese zu gestalten . Eine Einwanderungs-
gesellschaft wandelt sich permanent . Das bedeutet, dass
die Regelstrukturen für die Entwicklung dieser Gesell-
schaft auch entsprechend angepasst werden müssen . Die
vorliegenden Regeln tragen zu einem solchen System mit
klaren und einfacheren Einwanderungsregeln bei .
Ulla Jelpke (DIE LINKE): Der Gesetzentwurf der
Bundesregierung sieht die Umsetzung von aufent-
haltsrechtlichen EU-Richtlinien im Zusammenhang
mit Arbeitsmigration vor . Konkret geht es dabei um
Saison arbeiterinnen und -arbeiter, Studierende sowie
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Forschende
sowie unternehmensinterne Transfers sogenannter Dritt-
staatenangehöriger, also von Nicht-EU-Bürgern . Laut
der EU-Richtlinie zur Saisonarbeit sollen Saisonarbeiter
aus Drittstaaten anderen EU-Bürgern hinsichtlich Ar-
beitsschutz, Bezahlung, Arbeitszeiten und Arbeitsschutz
gleichgestellt werden . Teil der Richtlinie ist allerdings
ein aus unserer Sicht hochproblematisches Mitteilungs-
verfahren zur Kontrolle und Steuerung der Arbeitsmigra-
tion . Konkret bedeutet dieses Mitteilungsverfahren, dass
die Mitgliedsländer der Bundesagentur für Arbeit und
dem BAMF im Gesetzentwurf nicht weiter spezifizierte
Daten des Drittstaatenangehörigen mitzuteilen und diese
darauf zu prüfen haben, ob es Einwände gegen eine Ein-
reise gibt . Begründet wird dieses Verfahren in zweierlei
Weise .
Zum einen wird behauptet, man benötige dieses Ver-
fahren, um Arbeitnehmer aus Drittstaaten vor Ausbeu-
tung, zum Beispiel in Hinblick auf das Arbeitsentgelt,
schützen . Das klingt erst einmal schön . Doch in der Praxis
bedeutet diese scheinbare Fürsorge, dass Arbeitnehmern
die Einreise kurzerhand ganz verweigert werden kann,
wenn die Befürchtung besteht, dass sie nicht den entspre-
chenden Lohn erhalten . „Schutz des Ausländers und Ver-
hinderung von Ausbeutung“, wie es in der Richtlinie be-
hauptet wird, sehe ich durch ein solches Verfahren kaum
gegeben . Ganz im Gegenteil, es kann nicht angehen, dass
sich diese Regelungen gegen die Arbeitnehmer richten .
Stattdessen braucht es effektivere Kontrollen und Sank-
tionen für Unternehmer, sobald die Befürchtung besteht,
dass Arbeiter ausgebeutet werden könnten . Hier müssen
klare Regelungen erfolgen .
Der zweite Aspekt, mit dem das Mitteilungsverfahren
begründet wird, ist nicht weniger kritikwürdig . So sollen
sicherheitsrelevante Mitteilungen an das BAMF erfol-
gen, um den potenziellen Arbeitnehmer durchleuchten
zu lassen und etwa die Einreise verweigern zu können .
Die Bundesregierung räumt ein, dass die Betroffenen
zwar schon einen Aufenthalt in einem anderen Mit-
gliedsland hätten, aber nur so könne man nachträgliche
Veränderungen berücksichtigen . Wohlgemerkt, es geht
nicht um Mitarbeiter in Atomkraftwerken oder anderen
sicherheitsrelevanten Bereichen, sondern um Erntehelfer
und ähnliche Berufsgruppen . Das ist reine Vorverurtei-
lung, die übrigens auch zulasten einer ohnehin schon
vollkommen überforderten Bundesbehörde, der BAMF,
geht . Dem BAMF noch mehr Aufgaben aufzubürden, be-
deutet, noch größere Einbußen bei Qualität und Dauer
der Asylverfahren auf Kosten von Flüchtlingen hinzu-
nehmen .
Immer wieder redet die Bundesregierung von Integra-
tion und Qualifikation von Geflüchteten. Der Bundesrat
hat zu Recht vorgeschlagen, dass auch Geflüchteten, die
studieren und über einen internationalen Schutzstatus
verfügen, die Möglichkeit von Studienaufenthalten in
Deutschland gewährt werden muss . Dieser Vorschlag,
der die vielen Beschwernisse, denen studierende Flücht-
linge ausgesetzt sind, wenigstens etwas erleichtern sollte,
wurde von der Bundesregierung schlichtweg ignoriert .
Auch das ist nichts anderes als Ungleichbehandlung und
Diskriminierung .
Ich fasse zusammen: Durch den Gesetzentwurf wer-
den Arbeitsmigrantinnen und -migranten unter General-
verdacht gestellt; es findet kein Schutz vor Ausbeutung
statt, und Geflüchtete werden diskriminiert. Insofern
können wir diesen Antrag nur ablehnen .
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Jede Rede zu fortgeschrittener nächtlicher Stunde weckt
Erinnerungen an die Zeiten, in denen dieses Haus noch
in meinem heiß geliebten Rheinland tagte . Hier in Berlin
habe ich oft mit Sehnsucht und Verlangen an Vater Rhein
gedacht . Doch genug des Schwelgens in Erinnerungen –
es geht um ein wichtiges Thema . Ich kann nur wiederho-
len, was ich vor drei Wochen hier gesagt habe: Es wäre
schön, wenn die Bundesregierung bei der Umsetzung
der Aufnahmerichtlinie, der Qualifikationsrichtlinie und
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der Verfahrensrichtlinie ebenso emsig wäre wie bei der
Umsetzung der Richtlinien zur Arbeitsmigration . Auf die
Umsetzung des Beratungsanspruchs für Asylsuchende
im Verfahren, auf die Einhaltung der Vorgaben zur Be-
stimmung sicherer Herkunftsstaaten und auf so manch
andere Verbesserung der Situation für Schutzsuchende in
Deutschland warten wir jedoch seit geraumer Zeit ver-
gebens .
Dennoch begrüße ich nach wie vor, dass die Bundes-
regierung bemüht ist, im Bereich der Arbeitsmigration
die Vorgaben des europäischen Rechts umzusetzen . Ich
bedauere allerdings, dass die Gelegenheit nicht genutzt
wurde, um das Recht der Arbeitsmigration endlich deut-
lich zu liberalisieren, zu systematisieren und zu entbü-
rokratisieren. Das wäre angesichts des demografischen
Wandels und des zunehmenden Fachkräftemangels in
vielen Sektoren und Regionen notwendig . Zugegeben:
Die SPD hat das erkannt, zumindest ihr Fraktionsvorsit-
zender, der kürzlich ein Einwanderungsgesetz präsentiert
hat, das er in Auftrag gegeben hatte . Ob dieser Vorschlag
rechtssystematisch kohärent ist – damit würde ich mich
gerne hier befassen . Liebe Genossen, wann bringt ihr
diesen Entwurf denn endlich ein, damit wir ihn sinnvoll
beraten können? Oder zieht ihr hier den Schwanz ein wie
bei der Ehe für alle, die Sie immer wieder versprechen,
aber es kommt nichts?! Und wo bleibt Ihr Vorschlag zur
Umsetzung des Shanghaier Kugelfischabkommens, den
wir schon seit Jahrzehnten sehnsuchtsvoll erwarten? Sie
trauen sich wohl einfach nicht .
Im Detail habe ich ja schon in meiner letzten Rede
begrüßt, dass der Gesetzentwurf Verbesserungen beim
Zugang zum Studium vorsieht und das Aufenthaltsrecht
von Forscherinnen und Forschern neu regelt . Nach wie
vor halte ich es aber – wie auch der Bundesrat – für
bedauerlich, dass Personen, die in einem anderen Mit-
gliedstaat internationalen Schutz genießen, von diesen
Verbesserungen ausgeschlossen werden . Dafür gibt es
einfach keinen nachvollziehbaren Grund . Integrations-,
arbeitsmarkt- und forschungspolitisch ist das ein ver-
heerendes Signal . Hier müssen wir mehr wagen . Erwä-
gungsgrund 29 der sogenannten REST-Richtlinie sieht
die Möglichkeit der Erteilung nationaler Aufenthaltstitel
zu Studien- und Forschungszwecken ausdrücklich vor .
Von dieser Möglichkeit macht der Gesetzentwurf nur
unzureichend Gebrauch . Dem Bundesrat ist insofern
zuzustimmen: Es ist einfach nicht nachvollziehbar, wa-
rum Studieninteressierte oder Forschende, die gerade
erst internationalen Schutz erhalten haben, gegenüber
Menschen derselben Staatsangehörigkeit, die sich noch
im Herkunftsstaat befinden, schlechter gestellt werden
sollen . Angesichts der hohen Anforderungen an die Titel-
erteilung – Sicherung des Lebensunterhalts bei Studie-
renden, Kostenübernahme der Forschungseinrichtung bis
zu sechs Monaten nach der Aufnahmevereinbarung bei
Forschenden – ist Missbrauch nicht zu befürchten .
Zudem war die Koalition offenbar taub für die For-
derung der Arbeitsgeber, bei der Richtlinienumsetzung
für mehr Praxistauglichkeit und weniger Bürokratie zu
sorgen . Die Gestaltungsspielräume der ICT-Richtlinie
hätten etwa weitaus großzügiger genutzt werden können .
Auf das Mitteilungsverfahren bei innereuropäischer Mo-
bilität hätte man beispielsweise auch verzichten können .
Wir brauchen endlich – ich wiederhole es – den Mut
zu einem Einwanderungsgesetz, das die Regelungen der
Arbeitsmigration liberalisiert, systematisiert, entbüro-
kratisiert und durch die Möglichkeit der angebotsorien-
tierten, also vom Nachweis eines Arbeitsangebots unab-
hängigen Einwanderung ergänzt . Nur so können wir den
Herausforderungen des demografischen Wandels, des
Fachkräftemangels und der zunehmenden internationa-
len Mobilität von Fachkräften, Studierenden, Forsche-
rinnen und Forschern und ihren Familienangehörigen
gerecht werden .
Anlage 13
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes gegen schädliche
Steuerpraktiken im Zusammenhang mit Rechte-
überlassungen (Tagespunkt 33)
Dr. Mathias Middelberg (CDU/CSU): Bei der Be-
kämpfung legaler Steuervermeidung gehen wir heute ei-
nen weiteren – grundlegenden – Schritt voran . Mit der
sogenannten Lizenzschranke wollen wir künftig verhin-
dern, dass internationale Konzerne konzerninterne Li-
zenzeinnahmen für Forschungsleistungen bzw . Patente
in Niedrigsteuerländer verschieben, ohne dass dort tat-
sächlich Forschungsleistungen erbracht werden . Einem
der bekanntesten legalen Steuertricks wollen wir damit
einen Riegel vorschieben . Viele internationale Konzer-
ne nutzen solche Steuergestaltungen . Von den Filialen,
in denen sie ihre Produkte verkaufen, nehmen sie hohe
Patent- bzw . Lizenzgebühren . Damit schrumpft zum
Beispiel der zu versteuernde Gewinn in Deutschland .
Die Einnahmen fließen in ein Land, wo sie unter einem
Deckmantel der „steuerlichen Förderung von Forschung
und Entwicklung“ gar nicht oder nur gering besteuert
werden. Tatsächlich findet in diesem Staat aber keine
Forschungs- oder Entwicklungstätigkeit statt . Einige un-
serer europäischen Nachbarn helfen bei diesen Gewinn-
verschiebungen leider mit und besteuern Lizenzeinkünf-
te nur marginal .
Steuervermeidung ist ein großes Problem . Der Verlust
an Steuersubstrat wird immer größer, weil gerade die in-
ternationalen Unternehmen schnell wachsen . Gleichzei-
tig – und das ist gravierend – werden unsere deutschen
Unternehmen im Wettbewerb benachteiligt . Denn unser
Steuerrecht funktioniert . Die deutschen Unternehmen
zahlen hier ihre Steuern . Die Steuerquoten liegen zwi-
schen 20 und über 30 Prozent . Bei Google oder Apple
aber fällt auf, dass die Konzernsteuerquoten zwar bei
20 bzw . 24 Prozent liegen, die Gewinne in Europa aber
nur mit 3 bzw . 1 Prozent belastet sind . Das heißt, die-
se Unternehmen zahlen hier bei uns – obwohl sie hier
vielfältig Geschäfte abwickeln – kaum Steuern . Staaten,
die derartig unfairen Steuerwettbewerb fördern, können
nicht erwarten, dass wir dieser für uns schädlichen Praxis
weiter zusehen .
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Rabatte auf Lizenzeinkünfte, Lizenzboxen, dürfen
von Staaten daher zukünftig nur noch gewährt werden,
wenn das Unternehmen dort auch wirklich forscht und
entwickelt, also Wertschöpfung betreibt . Erfüllt ein Staat
diese Anforderung für Zwecke des schädlichen Steuer-
wettbewerbs nicht, greifen die Regelungen des Gesetz-
entwurfs: Das Unternehmen darf sich die Lizenzaufwen-
dungen nicht vom zu versteuernden Gewinn abziehen,
wenn damit im Empfängerland Lizenzeinnahmen entste-
hen, die aufgrund eines als schädlich eingestuften Prä-
ferenzregimes nicht oder nur niedrig besteuert werden .
Diese nationale Regelung kann allerdings das Problem
leider nicht an der Wurzel packen . Denn schädlicher
Steuerwettbewerb ist ein internationales Problem . Daher
ergänzt die Regelung das internationale Programm ge-
gen „die Aushöhlung von Steuerbemessungsgrundlagen
und Gewinnverlagerung“ – Base Erosion and Profit Shif-
ting, kurz BEPS –, das Bundesfinanzminister Wolfgang
Schäuble bereits im Jahr 2012 auf Ebene der G 20 und
der OECD mitinitiiert hat .
Nach Aktionspunkt 5 des BEPS-Projekts darf ein
Staat Unternehmen nur dann eine spezielle Lizenzbox-
regelung gewähren, wenn das Unternehmen in dem Staat
Forschungs- und Entwicklungstätigkeiten durchgeführt
und dafür effektiv Ausgaben getätigt hat, sogenannter
Nexus-Ansatz . Bereits im Jahr 2016 bestehende Lizenz-
boxen, die diesem Nexus-Ansatz nicht entsprechen, müs-
sen spätestens bis zum 30. Juni 2021 abgeschafft werden.
Diesen Programmpunkt müssen wir nicht umsetzen, da
wir keine Lizenzbox in Deutschland anbieten . Allerdings
schützen wir uns mit dem vorliegenden Gesetz schon
vor dem Jahr 2021 vor Verlust von Steuersubstrat durch
ausländische, nicht dem Nexus-Ansatz entsprechende
Lizenzboxen .
Auch wenn die Lizenzbox in den Staaten der OECD
und G 20 ein Auslaufmodell sein sollte, bleibt die Li-
zenzschranke auch nach 2021 von Bedeutung . Denn
Staaten, die sich dem BEPS-Projekt nicht angeschlossen
haben, könnten das Steuermodell auch nach 2021 noch
anbieten . Umso wichtiger ist es, dass wir uns internatio-
nal abstimmen und das Steuerrecht weiter harmonisieren .
Wir wollen den internationalen Steuerwettbewerb dabei
nicht abschaffen, sondern fairer gestalten. Gewinne sol-
len dort besteuert werden, wo sie erwirtschaftet werden .
Alles andere führt zu Wettbewerbsverzerrungen, die vor
allem unseren Mittelstand treffen, der hier in Deutsch-
land fair seine Steuern zahlt . Deutsches Steuersubstrat
darf außerdem nicht geschmälert werden .
Die Umsetzung des BEPS-Projekts darf aber auch
nicht zu Wettbewerbsnachteilen für unsere Exportindus-
trie führen . Vor allem Doppelbesteuerung, hier und zu-
gleich am Exportstandort, muss vermieden werden . Das
werden wir auch im kommenden Gesetzgebungsverfah-
ren wieder berücksichtigen .
Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Die Beobach-
tungen der letzten Jahre haben gezeigt, wie multinatio-
nale Unternehmen die unzureichende Abstimmung der
nationalen Steuersysteme und den schädlichen Steuer-
wettbewerb zwischen den Staaten in ihrem Sinne nutzen
und so ihre Steuerlast auf ein Minimum senken können .
Üblicherweise setzt hier das bekannte Unternehmensba-
shing ein, die Beschimpfung der Unternehmen wegen ih-
rer Steuerhinterziehung . Aber jeder der sich in die Rolle
des Finanzvorstandes versetzt, würde ähnlich handeln –
dorthin gehen, wo die Steuern unanständig niedrig sind,
wenn die anderen Verhältnisse in diesem Niedrigsteuer-
staat, etwa gut ausgebildete Arbeitnehmer, innere Sicher-
heit, kulturelles Angebot, Gesundheitsvorsorge etc ., ver-
gleichbar sind . Wir sprechen also heute davon, wie sich
Staaten durch Steuerkonkurrenz gegenseitig das Leben
schwer machen, um Unternehmen anzulocken . Ich bin
froh, dass wir uns an diesem ruinösen Wettbewerb nicht
beteiligen, indem wir das Gleiche tun wie eine ganze
Reihe ansonsten seriöser Staaten . Vor einiger Zeit wäre
unser Finanzminister ja auch dieser Versuchung unterle-
gen – er hatte öffentlich eine Patentbox für Deutschland
überlegt . Dieser Gedanke ist glücklicherweise mit dem
heutigen Gesetzentwurf überwunden . „Steuerlast auf ein
Minimum zu senken“, funktioniert über folgenden Me-
chanismus: Gewinne verschieben und damit die Bemes-
sungsgrundlage kleinrechnen, wir sagen auch: erodieren .
Die Bemessungsgrundlage ist ja das, wonach sich die
Steuer bemisst, also Steuersatz, Tarif, mal Bemessungs-
grundlage . Insofern versuchen die Unternehmen, im ei-
genen Land einerseits die Bemessungsgrundlage zu ver-
kürzen – ist sie null, ist der Steuersatz gleichgültig . Klar:
30 Prozent auf nix ist ziemlich wenig . Andererseits wird
versucht, den Gewinn in Länder zu verschieben, in denen
der Steuersatz niedrig ist . Auch klar: Ist der Steuersatz
niedrig oder null, ist die Bemessungsgrundlage gleich-
gültig . Null mal Egal-wie-viel ist auch ziemlich wenig
Der im Auftrag der G-20-Staaten entwickelte An-
ti-BEPS-Aktionsplan der OECD zeigt verschiedene
fiskalische Maßnahmen dagegen auf. Sie verfolgen das
Ziel, die Transparenz und den Informationsaustausch un-
ter den Staaten zu verbessern, die Steuersysteme aufei-
nander abzustimmen und gegen schädlichen Steuerwett-
bewerb vorzugehen . Im Dezember haben wir Teile davon
auf Grundlage der EU-Amtshilferichtlinie umgesetzt .
Den automatischen Informationsaustausch zwischen den
Staaten zu verbessern, war ein überaus wichtiger erster
Schritt . Damit sorgen wir für mehr Transparenz bei der
Verrechnungspreisdokumentation und einen automati-
schen Austausch von Tax-Rulings und länderbezogenen
Berichten, Country-by-Country Reporting . Was gefehlt
hat, waren Maßnahmen gegen schädlichen Steuerwett-
bewerb . Es liegt im Wesen eines ersten Schrittes, dass
weitere folgen sollen . Der Bundesrat hat unter Führung
der SPD-regierten Länder zur Umsetzung der EU-Amts-
hilferichtlinie durch einen Entschließungsantrag deutlich
gemacht, dass auch Handlungsbedarf gegen schädliche
Steuerpraktiken im Zusammenhang mit Lizenz- und Pa-
tentboxen besteht . Mit Lizenz- und Patentboxen, also
zum Beispiel Tochterunternehmen, in denen die eigenen
Patente liegen und die extrem niedrig besteuert werden,
bieten sich Staaten als Präferenzregime an . Damit treten
Staaten dann untereinander in Steuerwettbewerb . Auf der
Grundlage dieses Entschließungsantrages gehen wir nun
mit einem passenden Gesetzentwurf dagegen vor und
unternehmen einen weiteren Schritt auf dem Weg zur
Umsetzung des Anti-BEPS-Aktionsplanes – am Beispiel
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der Gewinnverlagerung durch Lizenzzahlungen an eine
ausländische Patentbox .
Als Beispiel für „musterhaftes BEPS-Verhalten“ wird
häufig die Steuergestaltungsstrategie von Google ge-
nannt: Das Mutterunternehmen in den USA überträgt
Lizenzen für die Nutzung der Suchmaschine an eine ei-
gene Tochtergesellschaft auf den Bermudas . Für den eu-
ropäischen Markt werden die Lizenzen an eine weitere
Tochter in den Niederlanden weitergegeben und von der
irischen Tochter gegen Gebühr genutzt . In den Nieder-
landen erfahren Einnahmen für Lizenznutzung eine steu-
erliche Begünstigung . Man spricht hier von einer soge-
nannten Lizenzbox, also etwa eine GmbH bzw . Limited,
die das Patent hält . Die Lizenzzahlungen mindern in den
Quellenstaaten den steuerpflichtigen Gewinn und wer-
den im Empfängerstaat im Rahmen der Lizenzbox nicht
oder nur niedrig besteuert . Die Besteuerung erfolgt im
Ergebnis nicht in dem Staat, in dem die wirtschaftliche
Aktivität stattfand, sondern in dem Staat, der den höchs-
ten Steuerrabatt gewährt . Dies ist ein Paradebeispiel für
schädlichen Steuerwettbewerb, den sich die Staatenge-
meinschaft nicht mehr bieten lassen darf, weil am Ende
alle Staaten arm und einige Konzerne reich sind . Wir
nennen das „Race to the Bottom“ .
Unter anderem mit dieser Vorgehensweise befasst
sich der fünfte Punkt des Anti-BEPS-Aktionsplans . Die
teilnehmenden Staaten haben sich darauf geeinigt, dass
solche Präferenzregime schädlich sind, und sich gegen
sie ausgesprochen, es sei denn, die Präferenzregime fol-
gen dem sogenannten Nexus-Ansatz . Nexus bedeutet
Zusammenknüpfen, abgeleitet von nectere oder binden,
verknüpfen . Dieser Ansatz knüpft die steuerliche Be-
günstigung an eine eigene aktive Forschungstätigkeit im
jeweiligen Staat . Es ist aber nicht sicher, dass auch alle
Staaten ihre Lizenz- oder Patentboxen auf den Nexus-An-
satz eingrenzen, und Staaten außerhalb der OECD haben
sich erst gar nicht dazu bekannt . Es besteht auch deshalb
weiterhin Steuerwettbewerb .
In vielen Doppelbesteuerungsabkommen ist ein Null-
steuersatz auf Lizenzzahlungen zwischen Deutschland
und dem jeweils anderen Staat vereinbart . Auf diese Wei-
se könnten Unternehmen auch weiterhin durch Gewinn-
verlagerung Steuervermeidung betreiben . Deshalb hat
der vorliegende Gesetzentwurf das Ziel, im Falle eines
schädlichen Steuerwettbewerbs die steuerliche Abzugs-
fähigkeit für Lizenzzahlungen einzuschränken . Es wird
eine sogenannte Lizenzschranke heruntergefahren . Die
Voraussetzung dafür ist, dass die entsprechenden Einnah-
men beim Empfänger aufgrund eines als schädlich einge-
stuften Präferenzregimes, zum Beispiel einer Lizenzbox,
nicht oder nur niedrig besteuert werden .
Wie gehen wir dabei vor? Wir schaffen eine Gren-
ze für schädliche Niedrigbesteuerung . Diese liegt bei
25 Prozent Ertragssteuerbelastung . Das Abzugsverbot ist
dann abhängig von der Differenz zwischen der tatsächli-
chen Besteuerung und der Sollbesteuerung von 25 Pro-
zent . Das Ergebnis setzen wir dann wiederum ins Ver-
hältnis zur Sollbesteuerung . Wer im anderen Staat zum
Beispiel nur mit 5 Prozent Ertragsteuern belastet wird,
erhält ein Abzugsverbot für 80 Prozent seiner Aufwen-
dungen . Wir rechnen: 25 Prozent Sollbesteuerung minus
5 Prozent tatsächliche Steuer ergibt eine Differenz von
20 Prozent . Diese 20 Prozent setzen wir ins Verhältnis zu
25 Prozent Sollbesteuerung . Wir dividieren also 20 Pro-
zent durch 25 Prozent . 25 Prozent sind ein Viertel, und
die Division durch ein Viertel entspricht einer Multipli-
kation mit vier, dem Kehrwert . 20 Prozent mal vier ergibt
80 Prozent . Wer den Zusammenhang lieber in einer For-
mel nachvollziehen möchte: Abzugsverbot der Aufwen-
dungen=(25 Prozent – tatsächliche Ertragsteuer Prozent)/
(25 Prozent) .
Der Anwendungsbereich des Gesetzes erstreckt sich
auf Tochterunternehmen und auf Betriebsstätten des je-
weiligen Unternehmens . Erfasst werden also nur kon-
zerninterne Lizenzzahlungen . Dabei achten wir ferner
darauf, dass sich ein Unternehmen nicht mithilfe von
zwischengeschalteten Gläubigern – gemeint sind kon-
zernfremde Unternehmen, quasi Strohmänner – dem Ab-
zugsverbot entziehen kann . All dies wird in einem neuen
§ 4j im EStG geregelt . Um Doppelbesteuerung zu ver-
meiden, wird dieser Paragraf in den Ausnahmenkatalog
für die Hinzurechnungsbesteuerung des AStG aufgenom-
men .
Wir sind dafür, dass Präferenzregime, die eine Vor-
zugsbesteuerung erlauben, auf internationaler Ebene
abgeschafft werden. Dabei sollten keine Ausnahmen
gemacht werden . Die am Anti-BEPS-Projekt der OECD
beteiligten Staaten haben sich aber leider auf eine solche
Ausnahme verständigt . Eine steuerliche Begünstigung
bei eigener Forschungstätigkeit im betreffenden Staat ist
möglich . Dabei ist eine Niedrigbesteuerung von Lizenz-
einnahmen ungeeignet, um Forschung und Entwicklung
zu fördern . Die Begünstigung kommt viel zu spät – ex
post –, und sie wirkt sich nur im Erfolgsfall aus . Eine
direkte Forschungsförderung wäre viel effektiver. Diese
Einigung bildet nun aber die Grundlage für die im Ge-
setzentwurf enthaltene Rückausnahme von der Abzugs-
beschränkung, wenn die Patentbox dem sogenannten Ne-
xus-Ansatz – im Englischen Nexus Approach – entspricht,
das heißt, wenn die Niedrigbesteuerung vom Umfang der
eigenen Forschung und Entwicklung im Empfängerland
abhängig gemacht wird . Die beschlossene Ausnahme für
den Nexus-Ansatz sollte hier nur eine Übergangslösung
auf dem Weg zu einer konsequenten Abschaffung von
Präferenzregimen sein . In den anstehenden Gesetzesbe-
ratungen werden wir außerdem die Begrenzung der Ab-
zugsbeschränkung auf konzerninterne Lizenzzahlungen
hinterfragen, denn eine schädliche Niedrigbesteuerung
kann auch bei Lizenzzahlungen an Dritte vorliegen . Die-
ser Gesetzentwurf ist ein Instrument, mit dessen Hilfe
wir gegen eine Form des schädlichen Steuerwettbewerbs
vorgehen können . Wir prüfen nun Möglichkeiten, wie
dieses Instrument noch weitreichender und schärfer wir-
ken kann . Immer wenn ein Steuerbürger zu wenig Steu-
ern zahlt, bedeutet das: Andere Steuerbürger müssen zu
viel bezahlen. Denn die öffentliche Infrastruktur wollen
alle benutzen . Ich bin gespannt, wer in diesem Hase-Igel-
Spiel den nächsten Zug macht .
Richard Pitterle (DIE LINKE): Nehmen wir ein-
mal an, es gäbe ein Möbelunternehmen mit schickem
blau-gelben Logo und der tollen Idee, riesige Möbel-
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häuser an die Autobahnen in den Vorstädten zu bauen .
Das Geschäft brummt, und das Unternehmen macht satte
Gewinne . Darauf fallen hierzulande natürlich Steuern an .
Und obwohl das Unternehmen von der gegebenen In-
frastruktur hierzulande, der Autobahn etc . mächtig pro-
fitiert, will es diese Steuern nicht zahlen, sondern den
Gewinn am liebsten komplett für sich behalten . Um das
zu erreichen, wird folgende Konstruktion gebastelt, die
auch Lizenz- oder Patentbox genannt wird: Das Unter-
nehmen gründet ein Tochterunternehmen in einer euro-
päischen Steueroase wie Irland, Luxemburg oder den
Niederlanden, wo auf den Gewinn, den wiederum das
Tochterunternehmen macht, nur minimal Steuern anfal-
len . Dann überträgt das große Möbelunternehmen die
Rechte an seiner Möbelmarke auf das Tochterunterneh-
men, und damit es die Marke weiter nutzen darf, wer-
den Lizenzgebühren an das Tochterunternehmen gezahlt .
Diese vom Möbelunternehmen zu zahlenden Lizenzge-
bühren werden mit dem hierzulande erwirtschafteten
Gewinn verrechnet, und siehe da: Das arme Möbelunter-
nehmen macht kaum noch Plus und muss in Deutschland
dementsprechend bedeutend weniger Steuern zahlen,
während das Tochterunternehmen ordentlich Kasse zu
Ministeuersätzen in der Steueroase macht . Diese dreiste
Trickserei ist leider völlig normal bei international täti-
gen Unternehmen . IKEA, Google oder Amazon machen
von diesen Lizenzboxen seit Jahren Gebrauch und hei-
zen den schädlichen internationalen Wettbewerb um die
niedrigsten Steuersätze somit kräftig an .
Jetzt endlich legt die Bundesregierung ein Gesetz
vor, das diese Machenschaften bekämpfen soll . Wir von
der Linken haben das schon lange gefordert und freuen
uns, dass die Bundesregierung hier zumindest mal einen
Schritt in die richtige Richtung zustande bringt . Kern des
Gesetzes ist grob gesagt, dass die oben beschriebenen
Lizenzaufwendungen hierzulande nicht mehr vollständig
von der Steuer abgesetzt werden können, wenn der Emp-
fänger sie mit weniger als 25 Prozent versteuern kann
und wie im obigen Beispiel ein entsprechendes Nähever-
hältnis zum zahlenden Unternehmen besteht . Inwiefern
das Gesetz im Detail noch nachgebessert werden muss,
wird sich in den kommenden Beratungen im Finanzaus-
schuss zeigen . Eines ist jedoch jetzt schon klar: Die gro-
ße Koalition hat ihrem Ruf als Koalition des Stillstands
im Kampf gegen Steuerumgehung wieder alle Ehre ge-
macht . Bereits in ihrem Koalitionsvertrag haben Union
und SPD großspurig angekündigt, man wolle „sicherstel-
len, dass der steuerliche Abzug von Lizenzaufwendungen
mit einer angemessenen Besteuerung der Lizenzerträge
im Empfängerland korrespondiert .“ Das war Ende 2013 .
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD,
was haben Sie in den letzten drei Jahren eigentlich ge-
macht? Jedes Jahr muss die Gemeinschaft der Steuerzah-
lerinnen und Steuerzahler auf Milliarden verzichten, weil
Sie es nicht schaffen, entschlossen und zügig zu handeln.
Und bevor Sie nun wieder mit der Ausrede kommen, dass
Sie auf die Mitwirkung auf europäischer und internatio-
naler Ebene angewiesen wären, werfen wir noch einmal
einen kurzen Blick in Ihren Koalitionsvertrag . Da steht
im selben Absatz, dass Sie „in Deutschland erforderli-
chenfalls gesetzgeberisch voranschreiten“ würden . Vom
Voranschreiten kann keine Rede mehr sein, im Gegenteil,
Sie schleichen hinterher .
Auf internationaler Ebene wurde inzwischen verein-
bart, schädliche Lizenzboxregelungen bis Mitte 2021 ab-
zuschaffen, danach ist das vorliegende Gesetz aller Vor-
aussicht nach nahezu wirkungslos . Böse Zungen könnten
also behaupten, die große Koalition hätte den Kampf
gegen Lizenzboxen so lang wie möglich hinausgezögert,
um die Megakonzerne so wenig wie möglich mit lästigen
Steuerforderungen zu behelligen . Für die Linke ist dieses
Schneckentempo bei der Bekämpfung solcher Gewinn-
verlagerungskonstruktionen zur Steuerumgehung jeden-
falls nicht hinnehmbar . Steuern müssen grundsätzlich da
gezahlt werden, wo die Wertschöpfung stattfindet, und
das muss auch gegen mächtige internationale Konzerne
konsequent durchgesetzt werden .
Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Die Bundesregierung bringt heute einen Gesetz-
entwurf mit dem Kurztitel „Gesetz gegen schädliche
Steuerpraktiken“ ein . Ich begrüße diese Initiative der
Bundesregierung sehr . Denn Maßnahmen gegen „schäd-
liche Steuerpraktiken“ – und das ist eine vornehme Be-
schreibung der Tatsache, dass sich viele international
tätige Unternehmen einer fairen Besteuerung entziehen –
sind überfällig . Es ist im Übrigen erschütternd, dass die
Bundesregierung und die Koalition dieses wichtige The-
ma an den äußersten Rand im Plenum schieben . Nachts
um 3 Uhr 20 eine solche Debatte anzusetzen, zeigt sehr
deutlich, dass die Bundesregierung offensichtlich verhin-
dern will, dass dieses wichtige Thema in der Öffentlich-
keit diskutiert wird . Vielleicht auch deshalb, weil dieser
Gesetzentwurf viel zu spät kommt und man die Kritik
scheut . Denn die richtige Wirkung hätte dieses Gesetz
vor zwei Jahren erzielt – um nämlich mehr Druck aus-
zuüben zur Schaffung einer internationalen Vereinbarung
gegen schädliche Steuerpraktiken . Schon vor zwei Jah-
ren hatte England die sogenannte Lizenzbox eingeführt
und war damit dem Beispiel von Luxemburg oder auch
den Niederlanden gefolgt . Mit mehr Druck vonseiten
Deutschlands hätte im Rahmen der OECD eine Regelung
gefunden werden können, die zeitnah und wirksam die
Steuerschlupflöcher auf der Basis von Lizenzzahlungen
schließt . Und wir wissen doch seit mehreren Jahren, dass
vor allem US-amerikanische IT-Konzerne mit diesem
Werkzeug sich einer angemessenen Steuerzahlung in
vielen europäischen Ländern entziehen .
Lassen Sie mich das Thema etwas näher beleuchten .
Es ist bekannt, dass der Steuerwettbewerb in den ver-
gangenen Jahren eher zu- als abgenommen hat . Dieser
„Wettbewerb“ wird nicht nur über Steuersätze ausgetra-
gen, sondern auch über die Frage, welche Einkünfte in
welcher Höher in die Steuerbemessungsgrundlage ein-
fließen. In Europa sind unter dem Deckmantel der For-
schungsförderung in vielen Staaten sogenannte Lizenz-
boxen eingeführt worden . In einer Lizenzbox werden
Einkünfte aus immateriellen Vermögensgegenständen,
wie zum Beispiel Patenten, besonders niedrig besteuert .
Mit Lizenzzahlungen in ein solches Sondersteuerregime
können internationale Konzerne ihre Gewinne gezielt
dort anfallen lassen, wo die Staaten Steuervergünstigun-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22315
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gen anbieten, und so ihre Gesamtsteuerbelastung mini-
mieren . Wenn also die Firma Fiat ihren Hauptsitz in die
Niederlande und den Steuersitz nach England verlegt,
dann sicher nicht deshalb, weil in den Niederlanden
so perfekt italienisch gesprochen wird oder in England
viele italienische Designer arbeiten . Oder Starbucks,
das ein Tochterunternehmen in den Niederlanden grün-
det – aber nicht, um Kaffee auszuschenken, sondern um
als Auffangbecken für Lizenzzahlungen zu dienen. Dies
geht nicht nur zulasten des deutschen bzw . nationalen
Steueraufkommens, sondern schadet auch dem Wettbe-
werb, weil Konzerne sich damit gegenüber nationalen
Konkurrenten einen Kostenvorteil erschleichen . Es soll-
te doch selbstverständlich sein, dass dem Staat, in dem
die Wertschöpfung stattfindet, auch ein fairer Anteil des
Steuersubstrats zusteht . Aus diesem Steueraufkommen
finanziert der Staat schließlich nicht nur Infrastruktur
und Bildung, sondern garantiert auch Rechtssicherheit .
Allesamt wichtige Grundvoraussetzungen für erfolgrei-
che Unternehmen . Staaten, die mit dem höchsten Steu-
errabatt ausländische Unternehmen anlocken wollen,
handeln unsolidarisch und untergraben sich gegenseitig
die Finanzierungsbasis ihrer Gemeinwesen . Leider gibt
es diesen schädlichen Steuerwettbewerb auch in Europa .
Die internationalen Bemühungen im Rahmen des
BEPS-Projektes haben nicht zu einer ausreichenden Ein-
dämmung des Problems der Gewinnverschiebung ge-
führt . Zwar hat man sich bei der OECD und in der G 20
darauf geeinigt, dass zukünftig nur noch Lizenzzahlun-
gen zu begünstigen sind, die dem sogenannten modifi-
zierten Nexus-Ansatz entsprechen . So soll eine begüns-
tigte Besteuerung nur noch dann gewährt werden, wenn
die zugrunde liegende Forschungs- und Entwicklungstä-
tigkeit vom steuerpflichtigen Tochterunternehmen selbst
ausgeführt wird . Allerdings gestatten die vereinbarten
Übergangsfristen eine Beibehaltung der bisherigen Sys-
teme bis zum Juni 2021 . Da die Lizenzzahlungen in Län-
dern der Europäischen Union und des EWR nicht mit
einer Quellensteuer belegt werden können, weil die Zins-
und Lizenzrichtlinie dies verbietet, ist es notwendig, dass
Deutschland zeitnah und konsequent nationale Abwehr-
maßnahmen gegen die Gewinnverlagerung ergreift, um
den Anreizsystemen anderer Staaten zu begegnen und
kurzfristig das inländische Besteuerungssubstrat zu si-
chern sowie langfristig jenen Staaten entgegenzuwirken,
welche die Beschränkung auf den Nexus-Ansatz nicht
einhalten .
Die im Gesetzentwurf der Bundesregierung vorge-
sehene erstmalige Anwendung der Lizenzschranke ab
dem Jahr 2018 kommt nach meiner Bewertung deutlich
zu spät . Wir werden im weiteren parlamentarischen Ver-
fahren die Möglichkeit einer rückwirkenden Anwendung
ab dem 1 . Januar 2017 prüfen . Wir müssen in Europa
stärkeren Druck ausüben und uns intensiv mit der Frage
auseinandersetzen, wie das Steuerdumping schnell und
effektiv beendet werden kann.
Ich möchte zum Schluss betonen, dass Lizenzzah-
lungen an fremde Dritte auch zukünftig weiter unein-
geschränkt abzugsfähig gestellt werden sollen, um
wirtschaftlich notwendige Geschäftsabläufe nicht zu
behindern . Dies ist wichtig zu erwähnen, weil in der Öf-
fentlichkeit fälschlicherweise der jetzt vorliegende Ge-
setzentwurf mit Blick auf die nicht unerheblichen, aber
gerechtfertigten und vom Gesetz gar nicht betroffenen
Lizenzzahlungen zwischen unabhängigen Unternehmen
diskreditiert wird .
Dr. Michael Meister, Parl. Staatssekretär beim Bun-
desminister der Finanzen: Vor gut einem halben Jahr
habe ich Ihnen an dieser Stelle den Entwurf des Amtshil-
ferichtlinien-Umsetzungsgesetzes vorgestellt . Mit jenem
Gesetz, das zwischenzeitlich im Bundesgesetzblatt ver-
öffentlicht ist, haben wir einen ersten großen Schritt zur
Umsetzung der Maßnahmen aus dem BEPS-Projekt von
OECD und G 20 gegen steuerlich motivierte Gewinnver-
lagerungen getan . Schon damals hatte ich angekündigt,
dass wir im Kontext des BEPS-Projekts klug analysieren
müssen, wo noch konkreter Handlungsbedarf besteht .
Und ich habe auch gesagt, dass wir, wenn wir einen sol-
chen Handlungsbedarf festgestellt haben, dazu auch ge-
setzgeberische Vorschläge machen werden .
Einen weiteren Schritt hin zu mehr Steuergerechtig-
keit haben wir dann jüngst mit dem Steuerumgehungs-
bekämpfungsgesetz getan . Nach Bekanntwerden der
sogenannten Panama-Papers haben wir kurzfristig ei-
nen Gesetzentwurf erarbeitet, der im Februar hier in der
ersten Lesung war . Mit dem Steuerumgehungsbekämp-
fungsgesetz wollen wir die Grundlage dafür schaffen,
dass Steuerpflichtige künftig nicht mehr mithilfe soge-
nannter Briefkastenfirmen steuerliche Tatbestände ver-
heimlichen können .
Diesen eingeschlagenen Weg zu mehr Steuergerech-
tigkeit setzen wir mit dem jetzt vorliegenden Gesetz ge-
gen schädliche Steuerpraktiken im Zusammenhang mit
Rechteüberlassungen konsequent fort . Anlass für das Ge-
setz ist, dass in der jüngeren Vergangenheit immer mehr
Staaten sogenannte Patent- oder Lizenzboxregime ein-
geführt haben . Diese werden von multinationalen Unter-
nehmen in hohem Maße genutzt, um Gewinne in solche
Staaten zu verlagern und dadurch Steuern zu vermeiden .
Die Patent- oder Lizenzboxen mögen sich im Detail von
Staat zu Staat unterscheiden . Eines haben diese Boxen
jedoch stets gemeinsam: Einnahmen aus der Überlassung
von Lizenzen, Patenten, Marken oder anderen Rechten
werden entweder gar nicht oder sehr niedrig besteuert .
OECD und G 20 haben im Rahmen des BEPS-Projekts
die bestehenden Lizenzboxen analysiert .
Dabei wurde festgestellt, dass keine einzige dieser Bo-
xen den Kriterien des sogenannten Nexus-Ansatzes ent-
spricht, der als Maßstab für eine zulässige Maßnahme im
internationalen Steuerwettbewerb angesehen wird . Die
steuerliche Folge der Nutzung einer Lizenzbox ist: Die
Lizenzaufwendungen, die der Schuldner für die Nutzung
des Rechts hat, können von diesem im einen Staat, zum
Beispiel in Deutschland, als Betriebsausgaben abgezo-
gen werden . Die korrespondierenden Einnahmen werden
aber im anderen Staat – dem Lizenzboxstaat – entweder
gar nicht oder nur niedrig besteuert . Konzerne, die schäd-
liche Lizenzboxen nutzen, erzielen dadurch einen erheb-
lichen Wettbewerbsvorteil gegenüber Unternehmen, die
solche Boxen nicht nutzen . Diesen Zustand wollen wir
nicht länger hinnehmen . Künftig sollen daher Zahlungen,
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722316
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die ein Unternehmen in ein schädliches – weil nicht dem
Nexus-Ansatz entsprechendes – Lizenzboxregime leis-
tet, nur noch beschränkt als Betriebsausgaben abgezogen
werden können . Der Nexus-Ansatz besagt vereinfacht,
dass die Staaten Steuervergünstigungen durch Lizenz-
boxen nur dann gewähren dürfen, wenn das zugrunde
liegende Recht der Lizenzaufwendungen auch in diesem
Staat geschaffen wurde. Ist dies der Fall, wird die Lizenz-
box nach internationalem Verständnis nicht als schädlich
eingestuft . Solche Lizenzboxen haben wir daher bewusst
von unserer Regelung ausgeklammert . Unsere Regelung
ergänzt und flankiert somit die internationalen Vereinba-
rungen, die wir im BEPS-Projekt getroffen haben. Uns
war wichtig, eine ausgewogene Regelung zu schaffen,
die einerseits geeignet ist, als schädlich einzustufende
Gestaltungen effektiv zu verhindern, andererseits aber
möglichst zielgenau wirkt und keine unnötigen Belas-
tungen für die ganz große Mehrheit der Steuerpflichtigen
mit sich bringt, die solche Gestaltungen nicht nutzen .
Von der Beschränkung der Abzugsfähigkeit werden da-
her ausschließlich Zahlungen für Rechteüberlassungen
erfasst, die in ein Lizenzboxregime fließen, das die fol-
genden drei Kriterien kumulativ erfüllt:
Erstens . Die Zahlung wird beim Empfänger abwei-
chend von der Regelbesteuerung besteuert .
Zweitens . Die Zahlung wird beim Empfänger niedrig
besteuert, das heißt unter 25 Prozent .
Drittens . Das Lizenzboxregime ist als schädlich ein-
zustufen, weil es nicht dem auf OECD-Ebene vereinbar-
ten Nexus-Ansatz entspricht .
Sind alle diese Voraussetzungen sowie die weiteren
Tatbestandsmerkmale erfüllt, gilt Folgendes: Je nied-
riger die Belastung beim Gläubiger ist, desto niedriger
soll künftig auch die steuerliche Abziehbarkeit der Auf-
wendungen beim Schuldner sein . Dagegen bleiben Auf-
wendungen für Rechteüberlassungen vollumfänglich
abzugsfähig, wenn die ausländische Präferenzregelung
dem Nexus-Ansatz entspricht . Das heißt auch: Unterneh-
men, die keine Gestaltungen mit schädlichen Lizenzbo-
xen durchführen, werden durch die Regelung keinerlei
Mehrbelastung erfahren .
Wir haben damit eine möglichst zielgenaue, ausgewo-
gene und verhältnismäßige Regelung vorgelegt, die einer
ungerechtfertigten Verlagerung von Besteuerungssubst-
rat ins Ausland entgegenwirkt und eine faire Besteuerung
sicherstellt .
Ich würde mich freuen, wenn Sie auch diesen Ge-
setzentwurf mit Wohlwollen beraten . Wir sind davon
überzeugt, dass er ein guter Beitrag dazu ist, die Steuer-
gerechtigkeit und damit auch die Akzeptanz von Steuer-
zahlungen in diesem Land zu heben .
Anlage 14
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur
Änderung des Kraftfahrzeugsteuergesetzes (Ta-
gesordnungspunkt 34)
Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU): Mit der Ein-
führung eines neuen Messverfahrens zur Ermittlung
von Emissionswerten bei Autos schlagen wir ein neu-
es Kapitel im Verkehrsrecht auf . Durch das sogenannte
WLTP-Verfahren (Worldwide Harmonized Light-Du-
ty-Vehicles Test Procedure) werden wir zukünftig reali-
tätsnähere CO2-Emissionswerte im Zuge der Ermittlung
von Abgasemissionen erhalten .
Die Einführung dieser weltweit harmonisierten
Testprozedur vollziehen wir durch die Änderung des
Kraftfahrzeugsteuergesetzes, das wir heute debattie-
ren . Das neue WLTP-Verfahren löst das bisher geltende
NEFZ-Verfahren (Neuer Europäischer Fahrzyklus) ab .
Im Gegensatz zum NEFZ-Verfahren, bei dem die
Emissionswerte der Autos unter „Laborbedingungen“ er-
mittelt werden, wird das WLTP-Verfahren unter realitäts-
nahen Bedingungen die Emissionswerte messen . Wobei
diese Realitätsnähe natürlich differenziert zu betrachten
ist, da der tatsächlich CO2-Ausstoß auch immer vom per-
sönlichen Fahrverhalten abhängt .
Realitätsnähe heißt also: So wie ein Auto tatsächlich
im Straßenverkehr genutzt wird, so wird auch der Emis-
sionsausstoß gemessen: kein erhöhter Reifendruck, keine
abgebauten Außenspiegel zur Reduzierung des Luftwi-
derstandes, kein leerer Tank, keine ausgebaute Klimaan-
lage .
Ab dem 1 . September 2018 gilt: Für jedes zum Stra-
ßenverkehr neu zugelassene Auto ist die Abgasmessung
mit dem neuen WLTP-Verfahren verpflichtend. Alle an-
deren Autos auf unseren Straßen, die vor diesem Stichtag
zugelassen wurden, haben aber natürlich Bestandsschutz .
Eine grundlegende Erneuerung, die mit dem neuen
Messverfahren einhergeht, ist also auch das Zulassungs-
verfahren . Werden Fahrzeuge bisher „autobezogen“ zu-
gelassen, wird es in Zukunft zu einer „typenbezogenen“
Zulassung kommen .
Demnach wird es nicht mehr nur eine Rolle spielen,
ob man einen Golf, eine S-Klasse oder einen Corsa fährt,
sondern welche konkreten Besonderheiten das Fahrzeug
aufweist: mit oder ohne Klimaanlage? Schmale oder
breite Reifen? Wie viele Airbags? Wie viel Hubraum?
Innerhalb eines Autotyps wird es perspektivisch zu ei-
ner Bildung von „Familien“ kommen . Denn, und das ist
nicht neu, nicht jeder Golf ist gleich . In der Konsequenz
heißt das: Nicht nur der Prüfzyklus wird kleinteiliger,
auch die Zulassung von Fahrzeugen wird differenzierter.
Nach der Veröffentlichung des Gesetzentwurfes
waren die ersten – empörten – Reaktionen: Das neue
Messverfahren führe zu einer versteckten Erhöhung der
Kfz-Steuer . Schnell war man sich einig, dass dies Betrug
am Wähler sei . Denn die Kfz-Steuer wird von der Ände-
rung der Testprozedur beeinflusst, da die CO2-Emissio-
nen eine wesentliche Komponente bei der Ermittlung der
Höhe der Kfz-Steuer sind .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22317
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Weil hier oft Fakten durcheinandergeraten, möchte ich
folgende Punkte klarstellen .
Erstens . Der vorliegende Gesetzentwurf regelt aus-
schließlich die Einführung eines neuen Messverfahrens
im Verkehrsrecht . Die konkrete technische Ausgestal-
tung des Messverfahrens – die im Übrigen noch gar
nicht endgültig feststeht; auch das könnte man kriti-
sieren – wird hingegen über eine unmittelbar wirkende
EU-Verordnung ins deutsche Recht implementiert . Diese
Verordnung beschreibt dann genau, wie der Testzyklus
auszusehen hat . Wir als Gesetzgeber haben darauf keinen
Einfluss.
Die Verordnung kommt aller Voraussicht nach im Mai
2017 . Ab dann gilt prinzipiell auch die Anwendung des
WLTP-Verfahrens bei Neufahrzeugen .
Um bei Käufern und Herstellern Planungs- und
Rechtssicherheit zu schaffen und die Gleichmäßigkeit
der Besteuerung sicherzustellen, ist der Stichtag zur An-
wendung des neuen Messverfahrens zur Ermittlung der
CO2-Werte für die Besteuerung aber erst der 1 . Septem-
ber 2018 .
Klarzustellen ist: Bestandsfahrzeuge bleiben unange-
tastet .
Zweitens . Anzunehmen ist, dass das neue Messver-
fahren andere, realitätsnähere CO2-Werte zutage fördern
wird, als es das NEFZ-Verfahren bisher tut . Das ist die
klare Absicht dieser Verfahrensumstellung .
Wissenschaftlichen Einschätzungen zufolge werden
die Messergebnisse des WLTP-Verfahrens einen um
15 Prozent höher liegenden CO2-Ausstoß nachweisen .
Im Vorhinein können jedoch weder Aussagen über er-
wartete CO2-Werte gemacht, noch kann die dadurch zu
erwartende Höhe der Kfz-Steuer prognostiziert werden .
Denn für welches Fahrzeug sich die Käufer in Zukunft
entscheiden, das wissen wir heute nicht .
Was ich an dieser Stelle aber anmerken möchte: Als
Neuwagenkäufer treffe ich eine ganz bewusste Entschei-
dung für oder gegen ein CO2-armes Auto . Je nachdem,
wie meine Entscheidung ausfällt, beeinflusst das natür-
lich auch die Höhe der Kfz-Steuer .
Wir setzen mit diesem Gesetz also auch einen ganz
klaren Anreiz, sich für ein emissionsarmes Fahrzeug zu
entscheiden .
Drittens . Das vorliegende Gesetz bringt ausdrücklich
keine Steuersatzerhöhung mit sich . Was sich ändert, ist
ausschließlich die Bemessungsgrundlage der Kfz-Steuer,
und auf die, so habe ich es ausgeführt, haben wir keinen
Einfluss.
Eine realitätsnähere Ermittlung des Emissionsaussto-
ßes bei Autos auf EU-Ebene wird im Übrigen auch nicht
erst seit dem VW-Abgasskandal forciert . Es gab auch im
Vorfeld dieses Ereignisses immer wieder Diskussionen
über eine Veränderung von Messzyklen .
Abschließend möchte ich noch kurz auf den sehr in
Verruf geratenen Diesel zu sprechen kommen . Mit Blick
auf die massive Vertrauenskrise, ausgelöst durch VW,
haben wir durch das neue Messverfahren auch die Chan-
ce, Vertrauen zurückzugewinnen . Die Dieseltechnologie
bleibt ein wichtiges Modul in der Motorenfamilien; denn
am Ende zählt die Summe aller Emissionen, und dabei
spielt natürlich auch der niedrigere Verbrauch pro km
eine wichtige Rolle . Und genau hier liegt auch eine wirk-
liche Chance, die hochinnovative deutsche Dieseltechno-
logie wieder nach vorne zu bringen .
Abschließend möchte ich festhalten:
Erstens . Unser Ziel, mit der Kfz-Steuer eine Len-
kungswirkung zu erreichen und kleinere und emissi-
onsarme Fahrzeuge zu bevorteilen, wird mit dem neuen
Messverfahren weiter verstärkt .
Zweitens . Wie sich das Aufkommen der Kfz-Steuer
tatsächlich entwickelt, haben Sie in der Hand, die Käufer
neuer Fahrzeuge, je nachdem wofür Sie sich entscheiden .
Sie haben die Freiheit und damit auch die Verantwortung .
Drittens . Unser wirtschaftspolitisches Leitziel gilt wei-
ter: Deutschland soll ein attraktiver Standort für moderne
Fahrzeugtechnologien bleiben – für die Fahrer ebenso
wie für die Autohersteller und ihre Technologiezulieferer .
Dafür werden wir uns auch weiter einsetzen .
Andreas Schwarz (SPD): Mit der Verabschiedung
dieses Gesetzentwurfs etablieren wir ein neues Prüfver-
fahren zur Ermittlung der Abgaswerte für Personenkraft-
wagen und setzen damit eine Vorgabe der EU um . Dieses
neue Verfahren WLTP, Worldwide Harmonized Light
Duty Test Procedure, wird genauere bzw . realistischere
Daten liefern als die alte Messmethode NEFZ, Neuer
Europäischer Fahrzyklus, die von den realistischen Fahr-
bedingungen im Alltag offenkundig stark abweicht. Wir
begrüßen das, denn bislang lag der tatsächliche Kraft-
stoffverbrauch eines Fahrzeugs teilweise deutlich höher
als der vom Hersteller angegebene Normverbrauch . Hier
musste endlich etwas unternommen werden .
Das Bekanntwerden der Abgasmanipulation bei
Volkswagen mag diesen Prozess beschleunigt haben, die
Forderung nach realistischeren Messergebnissen wird
aber bereits seit Jahren erhoben . Sowohl von der Autoin-
dustrie als auch den Umweltschützern .
Wir führen das WLTP-Verfahren schrittweise ein, damit
sich die Autofahrerinnen und Autofahrer darauf vorbe-
reiten können . Die Anwendung der neuen WLTP-Norm
gilt hier in Deutschland für neu zugelassene Fahrzeuge
erst ab dem 1 . September 2018 . Und da auch erst einmal
nur für Modelle, die ab September 2017 etwa nach einem
Modellwechsel eine neue Typgenehmigung benötigen .
So weit, so gut . Wir nähern uns den Tretminen .
Wie ist es denn um die Einnahmeseite bestellt? Was
kommt auf die Bürgerinnen und Bürger zu? Viele Fach-
leute gehen inzwischen davon aus, dass durch das neue
Messverfahren der gemessene CO2-Ausstoß so sehr
ansteigt, dass folglich auch für viele Fahrzeuge die
Kfz-Steuer ansteigen wird . In unserem Berichterstatter-
gespräch wurde auf meine Nachfrage hin, ob und wenn
ja, in welcher Höhe es durch das neue Prüfverfahren zu
Mehrbelastungen für die Autofahrerinnen und Autofah-
rer kommen könnte, vom BMF erklärt, man könne zum
jetzigen Zeitpunkt schlicht noch keine verlässlichen
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722318
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Aussagen darüber treffen, ob die Umstellung des Prüf-
verfahrens generell zu höheren Belastungen führe . Es sei
möglich, dass die Kfz-Steuer bei einigen Fahrzeugtypen
steige, bei anderen wiederum sinke . Das überraschte et-
was, denn der Referentenentwurf hatte dem Fiskus im
Zeitraum von 2018 bis 2022 noch Mehrreinnahmen in
Höhe von circa 1,1 Milliarden Euro prognostiziert . Das
BMF meint also, das Steueraufkommen sei zum gegen-
wärtigen Zeitpunkt nicht seriös zu beziffern.
Ist diese Berechnung in dem vorliegenden Gesetzentwurf
möglicherweise nicht mehr enthalten, weil sich damit
das eigene Mantra „Mit uns keine Steuererhöhungen“
leicht in Luft auflöst? Jedenfalls darf man sich schon
fragen, warum beispielsweise Einnahmeprognosen zur
Maut erstellt werden konnten, für die Einführung des
WLPT-Verfahrens aber nicht . Im bisherigen Verlauf des
Gesetzgebungsverfahrens habe ich mich maßgeblich da-
für eingesetzt, dass ein Jahr nach Inkrafttreten überprüft
wird, ob man eventuell gegensteuern muss . Nur so kön-
nen wir mögliche Fehlentwicklungen korrigieren .
Sabine Leidig (DIE LINKE): Mit der vorgelegten
Änderung am Kfz-Steuer-Gesetz macht die Bundesre-
gierung nicht mehr, als unbedingt notwendig . Es geht
darum, dass die KfZ-Steuer künftig an die weltweit har-
monisierte Testprozedur WLTP für Abgasmessung ange-
passt wird .
Dazu drei kritische Anmerkungen:
Erstens . Es ist absurd, dass nach dem neuen Fahrzyk-
lus die CO2-Emissionen höher liegen dürften als bisher .
Das ist offenbar dem Einfluss der Bundesregierung zu
„verdanken“, die wiederum unter massivem Einfluss der
Automobilindustrie steht – und das dient nicht dem Woh-
le der Allgemeinheit .
Zweitens . Immerhin werden künftig nicht mehr die
manipulierten Werte der „Prüfstände“ Grundlage der
Kfz-Steuer-Bemessung sein, sondern Messmethoden, die
dem wirklichen Schadstoffausstoß näher kommen – und
der ist ja erheblich höher als angegeben .
Als Stichtag für die neue CO2-Messung ist der
1 . September 2018 zwingend vorgegeben . Allerdings
werden neue Fahrzeugtypen bereits ein Jahr vorher ent-
sprechend gemessen . Für die könnte man also auch vor-
her schon die neue Kfz-Steuer einführen . Das ist aber
nicht gewollt . Aber warum nicht?!
Drittens . Die Bundesregierung behauptet, es ergäben
sich „keine haushalterischen Auswirkungen .“ Das ist al-
lerdings wirklich falsch . Klar, die neue Kfz-Steuer kostet
nichts . Aber dass seit Jahren und noch weiter auf die Be-
steuerung nach tatsächlichem Verbrauch/CO2-Ausstoß
verzichtet wird, das führte und führt weiterhin zu erheb-
lichen Einnahmeausfällen .
Im Auftrag der Linksfraktion im Bundestag hat das
„Forum ökologisch-soziale Marktwirtschaft“ eine Studie
erstellt und kommt zu folgenden Ergebnissen:
Die auf dem Prüfstand im Labor gemessenen Typ-
prüfwerte zum Ausstoß von Kohlenstoffdioxid, CO2 und
Stickstoffoxiden, NOx von Pkw wichen in den vergange-
nen Jahren immer gravierender von tatsächlich auf der
Straße festgestellten Emissionen ab . Dies hat Auswir-
kungen auf Verbraucherinnen und Verbraucher, Wettbe-
werb, Politik, Umwelt, Klima und Gesundheit .
Weniger beachtet sind die Auswirkungen auf die
Kraftfahrzeugsteuer aufgrund der verfälschten Bemes-
sungsgrundlage sowie zu Unrecht gewährter Steuer-
befreiungen, die im Rahmen dieser Studie quantifiziert
werden . Allein die Mindereinnahmen aufgrund nicht dem
Realverbrauch auf der Straße entsprechender CO2-Anga-
ben in den Herstellerbescheinigungen werden für den
Zeitraum 2010 bis 2015 auf rund 3,3 Milliarden Euro
geschätzt . Es ist davon auszugehen, dass dieser Betrag
in den kommenden Jahren deutlich und beschleunigt zu-
nehmen wird, falls keine Gegenmaßnahmen eingeleitet
werden sollten . Die Mindereinnahmen durch Steuerbe-
freiungen, die vermeintlich schadstoffarmen Fahrzeugen
der Klasse Euro 6 aufgrund unzutreffender NOx-Werte zu
Unrecht gewährt wurden, belaufen sich auf etwa 10 bis
18 Millionen Euro .
Der systematische Betrug durch die Spitzen der Auto-
mobilkonzerne, der von der Bundesregierung ermöglicht
wurde, kommt die Allgemeinheit also in jeder Hinsicht
teuer zu stehen . Es ist höchste Zeit, die Verantwortlichen
zur Rechenschaft zu ziehen und für den Schaden zur
Kasse zu bitten .
Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wenn der
Untersuchungsausschuss „Abgasskandal“ eines zutage
gefördert hat, dann, dass die VW-Affäre nur die Spitze
eines Eisbergs ist . Ein Eisberg, der tief in Politik und Au-
tomobilwirtschaft reicht . Auch abgesehen von dem vor-
sätzlichen Betrug durch den Einbau illegaler Abschaltein-
richtungen, haben wir ein ganz grundsätzliches Problem
mit dem aktuellen Testverfahren – dem Neuen Europä-
ischen Fahrzyklus, NEFZ . Das aktuelle Testverfahren
NEFZ misst falsch . Das Fahrverhalten und die äußeren
Bedingungen im Labor – Beschleunigung, Schaltverhal-
ten, die motorfreundliche Umgebungstemperatur – ent-
sprechen nicht der Beanspruchung auf der Straße . Zudem
bietet NEFZ den Automobilherstellern zahlreiche – le-
gale und illegale – Schlupflöcher, um die Autos für den
Test zu optimieren: rollwiderstandsoptimierte, schmalere
Autoreifen; abgeklebte Autoteile für eine bessere Aero-
dynamik; abgeschaltete Klimaanlagen und Navigations-
systeme; moderne Software, die erkennt, wann sie sich
auf dem Prüfstand befindet. Der Fantasie der Automo-
bilhersteller wird derzeit leider kaum Grenzen gesetzt,
um Kraftstoffverbrauch und CO2-Emissionen künstlich
niedrig zu halten . Deswegen weichen die im Realbetrieb
gemessenen CO2-Emissionen systematisch von den im
NEFZ gemessenen Laborwerten ab . Und der Abstand
wird immer größer . Das ergeben die Studien des Inter-
national Council on Clean Transportation, ICCT . 2014
lag die Differenz zwischen den CO2-Emissionen im
Realverkehr und den im NEFZ gemessenen Werten bei
durchschnittlich 40 Prozent . 2001 lag dieser Wert noch
bei rund 8 Prozent .
Das ist ein Problem für die Verbraucherinnen und
Verbraucher, denn sie werden durch unrealistische Ver-
brauchswerte getäuscht und in ihrer Kaufentscheidung
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22319
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beeinflusst. Das ist ein Problem für die Umwelt, denn
durch die falschen Angaben werden die Gesundheits-
und Umweltkosten des Pkw-Verkehrs verschleiert und
die europäischen Grenzwerte für Pkw-CO2-Emissionen
konterkariert .
Das sollte aber auch den Finanzminister umtreiben .
Seit dem 1 . Juli 2009 wird die Kfz-Steuer nämlich nach
dem CO2-Ausstoß berechnet. Durch die Differenz zwi-
schen Realität und Laborwert entgingen dem Fiskus laut
Berechnungen des Forums Ökologisch-Soziale Markt-
wirtschaft, FÖS, allein für den Zeitraum 2010 bis 2015
Steuereinnahmen in Höhe von 3,3 Milliarden Euro . Wir
müssen uns auch die Frage stellen, inwiefern hier durch
falsche Angaben seitens der Automobilhersteller syste-
matisch Steuerhinterziehung betrieben wird und wurde .
Im Zuge der Aufarbeitung des VW-Skandals ließ das
Bundesverkehrsministerium die gesundheitsschädlichen
Stickoxidemissionen von 53 Fahrzeugtypen prüfen .
Im Abschlussbericht wurde festgestellt, dass nicht nur
VW, sondern die gesamte Branche manipuliert hat . Im
Zuge der Abgastests hat das Verkehrsministerium auch
CO2-Emissionen auf Prüfstand und Straße ermitteln las-
sen . Die CO2-Emissionen wurden in diesem Bericht aber
nicht veröffentlicht mit dem Verweis, dass die Untersu-
chungen noch nicht abgeschlossen sind und zu einem
späteren Zeitpunkt in einem eigenen CO2-Prüfbericht
veröffentlicht würden. Das war im April 2016, und wir
warten immer noch auf die Ergebnisse .
Es ist mir unverständlich, warum der Finanzminister
hier nicht mehr Druck auf seinen Kollegen Verkehrs-
minister ausübt . Warum Herr Schäuble Herrn Dobrindt
nicht auffordert, die Ergebnisse der Nachmessungen zu
veröffentlichen. Denn die wären doch eine gute Grundla-
ge für das Finanzministerium, Berechnungen über mögli-
che Nachforderungen anzustellen . Nachforderungen, die
sich aus manipulierten CO2-Werten für die KfZ-Steuer
ergeben . Sie können sich schon mal darauf einstellen,
dass ich da im Finanzausschuss nachhaken werde .
Angesichts der unrealistischen CO2-Werte des NEFZ
ist es natürlich zu begrüßen, dass das alte Prüfverfah-
ren durch die Einführung eines neuen ersetzt wird: die
weltweit harmonisierte Testprozedur zur Ermittlung der
Abgasemissionen, kurz WLTP . Das neue Testverfahren
WLTP beruht auf realen Fahrstatistiken . Es macht auch
strengere Vorgaben, beispielsweise in Bezug auf die in-
dividuelle Ausstattung des Fahrzeuges oder die Testbe-
dingungen . Allerdings gilt die realistischere Berechnung
nach WLPT nur für neu zugelassene Fahrzeuge . Für die
circa 40 Millionen Bestandsfahrzeuge ändert sich nichts .
Außerdem ist leider auch das neue Verfahren WLPT
nicht vor Manipulationen gefeit . Deshalb fordern wir
Grüne: Die Tests müssen von wirklich unabhängigen
Behörden kontrolliert werden . Und es muss auch harte
Sanktionen geben für Tricksereien und falsche Angaben
zu CO2-Werten .
Und noch eine Lehre muss aus dem VW-Abgas-Skan-
dal gezogen werden: Die Strategie der deutschen Au-
tomobilindustrie, den Dieselmotor als klima- und um-
weltfreundliche Brückentechnologie zu verkaufen, ist
gescheitert . Autos, die nur unter Laborbedingungen Um-
weltvorgaben einhalten können, haben keine Zukunft .
Deshalb fordern wir Grünen einen schrittweisen Abbau
der Dieselsubvention . Das Ziel sollte sein, dass die Ener-
giesteuersätze für einen Liter Benzin und einen Liter
Diesel in zehn Jahren steuerlich auf dem gleichen Niveau
sind . Gleichzeitig wollen wir die Fahrer von Diesel-Pkw
entlasten, indem wir die Kfz-Steuer konsequent nach
dem CO2-Ausstoß von Kraftfahrzeugen ausrichten .
Wir fordern, dass die Bundesregierung einen Aus-
stiegsplan aus der Dieselsubvention vorlegt . Wir fordern,
dass die Bundesregierung Konsequenzen aus dem Ab-
gasskandal zieht, dass Herr Dobrindt endlich die realen
CO2-Emissionen der geprüften Modelle öffentlich macht.
Wir brauchen eine wirklich unabhängige Behörde, die
Messungen überprüft . Es braucht Sanktionen für diejeni-
gen, die manipulieren . Das brächte Transparenz für Ver-
braucher und Klarheit für die Automobilindustrie . Denn
nur mit echten Konsequenzen lässt sich der dringend not-
wendige Wechsel hin zu effizienten und emissionsfreien
Antrieben begleiten – das wäre ein echter Dienst für ei-
nen zukunftsfähigen Industriestandort Deutschland .
Dr. Michael Meister, Parl. Staatssekretär beim Bun-
desminister der Finanzen: Bevor ich Ihnen den Inhalt
des Entwurfes eines Sechsten Gesetzes zur Änderung des
Kraftfahrzeugsteuergesetzes vorstelle, ist es zum besse-
ren Verständnis der sehr technischen Materie sinnvoll,
einen kleinen Exkurs voranzustellen . Dies halte ich auch
deshalb für wichtig, weil zu dem Gesetzentwurf einige
fehlerhafte Informationen und irreführende Schlussfol-
gerungen in der Presse und in der Öffentlichkeit herum-
geistern, die ich heute hier ins rechte Licht rücken möch-
te .
Zur Vorgeschichte: Bereits im Jahre 2009 hat der
Deutsche Bundestag in einer grundlegenden Entschei-
dung den Regierungsentwurf der damaligen großen Ko-
alition beschlossen, der die Umstellung der Bemessung
der Kraftfahrzeugsteuer bei Personenkraftwagen, Pkw,
auf eine vorrangig nach Kohlenstoffdioxidemissionen
bemessene Steuer regelte . Nach dieser sogenannten
CO2-Reform der Kraftfahrzeugsteuer ist grundsätzlich
seit dem Stichtag 1 . Juli 2009 für Pkw-Erstzulassungen
neben dem Hubraum vorrangig der von den Zulassungs-
behörden festgestellte CO2-Wert für die Höhe der Kraft-
fahrzeugsteuer maßgeblich . Diese Änderung der ökolo-
gischen Komponente der Kraftfahrzeugsteuer diente und
dient noch heute in besonderem Maße dem Ziel einer
klimagerechten Zukunftspolitik .
Mit dem Ziel vor Augen, bis 2020 den CO2-Ausstoß
gegenüber 1990 um mindestens 40 Prozent zu senken,
sind auch im Verkehrssektor weiterhin Emissionsmin-
derungen notwendig . Neben der Steigerung des Anteils
von Elektrofahrzeugen ist die CO2-basierte Kraftfahr-
zeugsteuer mit ihrer daraus resultierenden Lenkungswir-
kung eine zentrale Maßnahme, um den Straßenverkehr
umweltverträglicher zu machen und einen adäquaten
Beitrag zur Reduktion der CO2-Emissionen zu leisten .
Der rechtliche Rahmen, nach dem die Zulassungsbehör-
den den CO2-Wert feststellen, wird unmittelbar durch das
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(B) (D)
Unionsrecht vorgegeben, nämlich konkret durch die Ver-
ordnung (EG) Nr . 715/2007 des Europäischen Parlaments
und des Rates vom 20 . Juni 2007 . Es handelt sich dabei
um den sogenannten Neuen Europäischen Fahrzyklus,
das sogenannte NEFZ-Messverfahren . Dieses stammt
noch aus den 1990er-Jahren und führt als veralteter Prüf-
zyklus zu realitätsfernen CO2-Werten . Bekanntlich lässt
sich das Unionsrecht nicht von heute auf morgen ändern .
Doch vorliegend ist noch für dieses Frühjahr mit dem In-
krafttreten einer Änderungsverordnung der bereits ange-
sprochenen Verordnung (EG) Nr . 715/2007 zu rechnen .
Hintergrund hierfür ist die Entwicklung einer auf Ebe-
ne der Vereinten Nationen weltweit harmonisierten Test-
prozedur zur Ermittlung der Abgasemissionen leichter
Kraftfahrzeuge, die „Worldwide harmonized light duty
test procedure“ . Dieses sogenannte WLTP-Verfahren
verfolgt das Ziel, künftig realitätsnähere Emissionswerte
für CO2 im Rahmen der Typgenehmigung für Pkw und
leichte Nutzfahrzeuge zu erhalten . Die Art der Ermitt-
lung der CO2-Emissionen nach WLTP wird sich erheb-
lich von dem derzeit maßgeblichen NEFZ-Verfahren
unterscheiden .
Die verpflichtende WLTP-Einführung im Verkehrs-
recht soll schrittweise und nur für Neufahrzeuge erfol-
gen . Sie beginnt mit der Verabschiedung und dem In-
krafttreten entsprechender Rechtsakte der Europäischen
Union bis zum Frühjahr 2017 . Die nach WLTP ermittel-
ten CO2-Werte sollen dann ab dem 1 . September 2017
bei der Genehmigung neuer Typen verbindlich werden .
Ab dem 1 . September 2018 werden sie zur Bedingung
für die Erstzulassung von Pkw . Die Automobilhersteller
müssen demzufolge auch ihre auf dem Markt befindli-
chen Fahrzeugmodelle nach WLTP nachprüfen lassen,
wenn sie sie weiter produzieren werden . Es liegt nahe,
dass einige Hersteller damit voraussichtlich kurz nach
der Verkündung der EU-Vorschriften beginnen .
Und damit komme ich nun unmittelbar zum Grund
für das aktuell eingebrachte steuerrechtliche Gesetzes-
vorhaben des 6 . Kraftfahrzeugsteueränderungsgesetzes .
Was regeln wir nun eigentlich im nationalen Kraftfahr-
zeugsteuergesetz? Das Kraftfahrzeugsteuergesetz bein-
haltet eine gleitende dynamische Außenverweisung auf
die maßgeblichen Vorschriften der Europäischen Union
zur Ermittlung der CO2-Werte . Durch diese Verweisung
würden sich die neuen CO2-Werte nach WLTP bereits
mit dem Inkrafttreten der geänderten EU-Vorschriften ab
Mitte 2017 auf die Kraftfahrzeugsteuer auswirken . Hier
genau setzen wir an und schaffen frühzeitig Rechts- und
Planungssicherheit, indem wir in Anlehnung an das Ver-
kehrsrecht ebenfalls den 1 . September 2018 als einheitli-
chen Stichtag zur Anwendung der nach WLTP ermittelten
realitätsnäheren CO2-Werte für die Kraftfahrzeugsteuer
in Deutschland bestimmen . Nur neue erstmals zugelasse-
ne Pkw werden betroffen sein. Auswirkungen aufgrund
neuer CO2-Werte nach WLTP auf die Steuererhöhe für
davor zugelassene Pkw sind demzufolge ausgeschlos-
sen. Leider wurde dies in der öffentlichen Wahrnehmung
durch die eine oder andere unzutreffende Sachdarstel-
lung verfälscht . Durch den einheitlichen Stichtag stel-
len wir die Gleichmäßigkeit der Besteuerung von Pkw
sicher . Würden wir im Kraftfahrzeugsteuergesetz kein
verbindliches Datum für die Anwendung der CO2-Werte
nach WLTP festlegen, wirkte sich unter anderem die op-
tionale, frühzeitige oder spätere Umstellung auf WLTP
vor dem 1 . September 2018 durch die Fahrzeugherstel-
ler, die von unternehmerischen Erwägungen geprägt ist,
auf die Besteuerung aus . In diesem Übergangszeitraum
könnte die Gleichmäßigkeit der Besteuerung nicht si-
chergestellt werden, da die von den Zulassungsbehörden
übermittelten CO2-Werte bis zur verbindlichen Anwen-
dung des WLTP nicht auf einem einheitlichen Verfahren
beruhen . Der gleitende Einstieg in das ab 1 . September
2018 verbindliche Verfahren wäre für Verbraucher zu-
dem intransparent .
Wir erhöhen also nicht die Kraftfahrzeugsteuer, wie
fälschlicherweise behauptet wurde, sondern wir sor-
gen – unter Inkaufnahme von vorübergehenden Minde-
reinnahmen – für Rechts-und Planungssicherheit und
Steuergerechtigkeit . Nochmal: Bestandsfahrzeuge sind
nicht betroffen. Und wir vermeiden Unsicherheit und
Ungewissheit für die Bürgerinnen und Bürger, die sich
in der Zeit vom Frühjahr 2017 bis zum 31 . August 2018
für die Anschaffung eines Neuwagens entscheiden. Wir
schaffen Klarheit. Der einheitliche Stichtag 1. September
2018 wird für alle Pkw-Neuzulassungen gelten .
Anlage 15
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung
des Rechts auf Kenntnis der Abstammung bei
heterologer Verwendung von Samen (Tagesord-
nungspunkt 35)
Hubert Hüppe (CDU/CSU): Selbstverständlich wol-
len alle Menschen wissen, wo sie herkommen . Das kann
jeder von uns nachvollziehen . Von wem stamme ich ab?
Wer sind meine Eltern? Wer sind meine Großeltern?
Antworten auf diese Fragen sind für die Identität jedes
Menschen wichtig . Inzwischen wissen wir, dass viele,
die keine Antworten hierauf finden, unter ihrem Nicht-
wissen leiden . Vielfach hört man von emotionalem Leid
bei Menschen, die ihre Eltern früh verloren haben, die
anonym zur Adoption freigegeben wurden oder die durch
anonyme Samenspende entstanden sind . Eine Vereini-
gung von Betroffenen, Spenderkinder e. V., formuliert,
dass Anonymität ungünstige Dynamiken fördere .
Der Bundesgerichtshof in Karlsruhe hat 2015 ent-
schieden, dass durch heterologe Verwendung von Samen
gezeugte Kinder einen Anspruch auf Auskunft über die
Identität des anonymen Samenspenders haben . Zurück-
verfolgen lässt sich eine Samenspende vor allem über
die verschiedenen Entnahmeeinrichtungen, und die sind
über ganz Deutschland verstreut . Ein zentrales Register
gibt es bisher nicht – das ändern wir jetzt . Es ist deshalb
begrüßenswert, dass das Recht auf Kenntnis der eigenen
Abstammung aufgegriffen wird; wo wir als Gesetzgeber
Menschen zu Antworten über ihre biologischen Väter
verhelfen können, sollten wir es tun .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22321
(A) (C)
(B) (D)
Im vorliegenden Entwurf sehen wir zwei Dinge vor .
Im Gesetz zur Errichtung eines Samenspenderregis-
ters und zur Regelung der Auskunftserteilung über den
Spender nach heterologer Verwendung von Samen, Sa-
menspenderregistergesetz, wird eine zentrale Informa-
tionsstelle eingerichtet und die organisatorischen und
verfahrenstechnischen Voraussetzungen für deren Füh-
rung geschaffen. Darüber hinaus wird im Gesetzentwurf
durch eine Änderung des BGB sichergestellt, dass ein
Samenspender nicht als rechtlicher Vater eines durch
künstliche Befruchtung in einer deutschen Einrichtung
zur medizinischen Versorgung gezeugten Kindes festge-
stellt werden kann .
Beim Deutschen Institut für Medizinische Dokumen-
tation und Information, DIMDI, werden die Daten des
Samenspenders, der Mutter und die Geburtsdaten des
Kindes zusammenlaufen und für 110 Jahre gespeichert
werden . Personen können per Antrag Informationen an-
fordern, wenn sie den Verdacht hegen oder wissen, dass
sie durch heterologe Verwendung von Samen entstanden
sind .
Die Entnahmeeinrichtung erhebt die Daten des Spen-
ders . Neben dem Namen meldet die Einrichtung den
Geburtstag und -ort, die Staatsangehörigkeit und die An-
schrift an das DIMDI . Vor jeder Spende muss der Spen-
der aufgeklärt werden, dass eventuelle Kinder Zugang zu
diesen Daten haben . Dem kann der Spender nicht wider-
sprechen . Außerdem muss er erfahren, dass Samenspen-
der nicht als rechtliche Väter festgestellt werden können .
Diese Aufklärung ist zentral, damit potenzielle Spender
sich über die Konsequenzen im Klaren sind . Möchten
sie von ihren biologischen Kindern gefunden werden,
möglicherweise viele Jahre später? Bei falschen Anga-
ben droht ein Bußgeld . Die Entnahmeeinrichtung kenn-
zeichnet die Daten des Spenders mit einer eindeutigen
Spendennummer oder einer Spendenkennungssequenz .
Der Spender kann freiwillig weitere Angaben machen,
zum Beispiel könnte er den Grund für seine Samenspen-
de angeben .
Die Daten der Mutter sammelt die Einrichtung zur
medizinischen Versorgung, in der die künstliche Be-
fruchtung durchgeführt wird . Die Einrichtung meldet
dem DIMDI außerdem den Zeitpunkt der Verwendung
des Samens, den Beginn der Schwangerschaft und den
errechneten Geburtstermin . Das tatsächliche Datum der
Geburt und die Anzahl der geborenen Kinder werden
unverzüglich gemeldet, die Meldepflicht liegt diesbezüg-
lich bei der Empfängerin der Samenspende .
Samen darf nur zur künstlichen Befruchtung einge-
setzt werden, wenn die eindeutige Spendennummer oder
die Spendenkennungssequenz vorliegt . Das schließt auch
aus, dass deutsche Ärzte anonyme Samenspenden aus
dem Ausland verwenden . Nur wenn die vorgeschriebe-
nen Daten und eine eindeutige Identifikation per Spen-
dennummer oder Spendenkennungssequenz vorhanden
sind, kann ausländischer Samen benutzt werden . Zwar
haben wir auf ausländische Entnahmeeinrichtungen
keinen Einfluss, aber wir können die Verwendung von
ausländischem Samen in deutschen Einrichtungen unter-
binden, wenn keine Daten vorliegen . Damit wird, soweit
realistisch möglich, das Recht auf Kenntnis der eigenen
Abstammung auch bei durch Verwendung von ausländi-
schem Samen hervorgegangenen Kindern abgesichert .
Die persönlichen Angaben des Spenders, der Mutter
und des Kindes unterliegen natürlich dem Datenschutz .
Nur das Deutsche Institut für Medizinische Dokumenta-
tion und Information darf die Daten speichern und nur
auf Antrag dem erfassten Kind des Spenders übermitteln
bzw . vor dem sechzehnten Geburtstag des Kindes seinen
Eltern .
Was jetzt realistischerweise gesetzlich geregelt werden
kann, regeln wir mit unserem Entwurf . Einige Formen
der künstlichen Befruchtung, zum Beispiel außerhalb ei-
ner Einrichtung der medizinischen Versorgung oder im
Ausland, können nicht von einem deutschen Gesetz er-
fasst werden . Private Samenspenden etwa sind nicht vom
Gesetzentwurf betroffen. Wenn ein persönlicher Freund
einem lesbischen Paar Samen spendet, wird er nicht vom
Register erfasst – auf der anderen Seite ist er auch nicht
von der Feststellung als rechtlicher Vater ausgeschlossen .
Wir werden die parlamentarische Debatte mit einer
Anhörung weiterführen . Wir werden prüfen, ob an eini-
gen Stellen noch eine Feinjustierung nötig ist . Das grund-
sätzliche Anliegen des Gesetzentwurfes, Spenderkindern
die Wahrnehmung ihres Rechts auf Kenntnis der eige-
nen Abstammung zu ermöglichen, haben wir im Koali-
tionsvertrag vereinbart . Wir greifen damit das Anliegen
Betroffener auf, ihren biologischen Vater zu finden. Die
im Gesetzentwurf vorgestellten Regelungen stellen dafür
eine praxistaugliche Grundlage dar . Sie sind im Vergleich
zum Status quo ein großer Fortschritt .
Dr. Georg Kippels (CDU/CSU): Wer bin ich, wo
komme ich her? Diese Frage mag sich der ein oder an-
dere schon einmal ernsthaft oder auch weniger ernsthaft
gestellt haben . In den meisten Fällen handelt es sich mehr
um eine philosophische Fragestellung und nur seltener
um ein reales Informationsbedürfnis im Hinblick auf die
eigene Persönlichkeit und Identität . Da der Mensch sich
sehr intensiv über seine Außenweltbeziehung definiert,
bekommt diese Frage aber eine ganz andere Bedeutung,
wenn es um das Verhältnis zur eigenen Familie und dort
insbesondere zu den Eltern, also Mutter und Vater, geht .
Nun mag es gelegentlich vorkommen, dass dieses Ver-
hältnis in bestimmten Lebensphasen, sehr häufig zum
Beispiel in der Pubertät, gespannt ist und aus spontanen
Reaktionen heraus die Verbindung, das heißt die Abstam-
mung, gerne negiert würde .
Abgesehen von diesen oberflächlichen Befunden ist
die Frage der Abstammung für die Persönlichkeit und
die Frage der Selbstreflexion von enormer Wichtigkeit,
wenn nicht sogar in manchen Fällen existenziell und für
die psychische und physische Verfassung ursächlich . So
hat das BVerfG schon im Jahre 1988 festgestellt, dass
das allgemeine Persönlichkeitsrecht auch das Recht auf
Kenntnis der eigenen Abstammung umfasst . Auslöser
des damaligen Falles war das Adoptionsrecht, das nach
der damals geltenden Regelung ein sogenanntes Adopti-
onsgeheimnis vorsah, das Ausforschungen der Adoptiv-
familie verhindern sollte und nur bei Zustimmung von
Kind und Annehmenden ausgeforscht werden durfte .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722322
(A) (C)
(B) (D)
Dem sah das BVerfG das Grundrecht auf Kenntnis der
eigenen Abstammung gegenüber, das es aus dem allge-
meinen Persönlichkeitsrecht ableitete . Damit war die Be-
deutung der Abstammung für die Prägung der Individu-
alität höchstrichterlich anerkannt und seither unstreitig .
Diese Variante der rechtlich konstruierten Abstammung
hat nur durch den medizinischen Fortschritt und die
Möglichkeit der künstlichen heterologischen Inseminati-
on eine neue Qualität gefunden, mit der sich der BGH im
Jahre 2015 beschäftigen musste . Unter Beibehaltung der
grundrechtlichen Bewertung bejahte das Gericht auch in
diesem Fall ein entsprechendes Auskunftsrecht, wobei es
aber in dogmatischer Hinsicht auf die seit Jahrzehnten
immer wieder gerne bemühte und bewährte Krücke der
Vorschrift des § 242 BGB und den Grundsatz von Treu
und Glauben zurückgreifen musste .
Diese mithin festgestellte Regelungslücke ist nun
konsequent und vollständig mit dem im Kurztitel als
Samenspenderregister bezeichneten Gesetz normiert
worden . Es beinhaltet die notwendigen Regelungen zur
Datenerfassung bei der Samenspende bzw . Abgabe und
die Bedingungen, unter denen und mit welchem Inhalt
Auskunft über den Spender erteilt werden kann . Damit
ist dem grundrechtlichen Anspruch auf Abstammungser-
kenntnis ausreichend Rechnung getragen worden . Dabei
wurde auch darauf geachtet, dass der Prozess der Aus-
kunftserteilung wie auch der Prozess der anschließenden
Kontaktaufnahme, der durchaus ein hochemotionaler
Vorgang ist, in geeigneter Form begleitet und beraten
werden sollte .
Irritierend, aber konsequent ist die Aufbewahrungs-
frist von 110 Jahren, die sich an der Lebenserwartung
orientiert und alle Möglichkeiten offenlässt, auch zu
einem späteren Zeitpunkt des Entstehens des Informati-
onsbedürfnisses dieses zu befriedigen . Die Erfahrung hat
gelehrt, dass sowohl die Entstehung als auch die Bereit-
schaft zur Einholung der Abstammungsinformation fast
in jeder Lebensphase entstehen kann, egal ob noch jung
oder schon älter . Entscheidend ist bei der Regelung, dass
durch frühzeitige Löschung der Information kein psy-
chologisch problematisches Vakuum entsteht .
Eine wichtige Begleitregelung ist aber auch die Fra-
ge der Anordnung der Abstammung in zivilrechtlicher
Hinsicht, die nur für den Fall der ärztlich unterstützten
künstlichen Befruchtung unter heterologer Verwendung
von Samen nach dem Samenspenderregister erfolgt und
eine Feststellung als zivilrechtlicher Vater mit entspre-
chenden Folgen im Unterhalts-, Sorge- und Erbrecht
ausschließt . Hier geht der Gesetzgeber im Einklang mit
der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs davon aus,
dass nur im Rahmen der streng normierten Spende mit
begleitender und unwiderruflicher Aufklärung über das
Auskunftsrecht mit der erforderlichen Sicherheit ange-
nommen werden kann, dass der Spender gerade keine
Verantwortung als Vater übernehmen wollte .
Dies sieht die Rechtsprechung bei privaten Spenden
bzw . privater Befruchtung nicht zwingend als gegeben
an, weil – um mit der etwas trockenen Sprache der Juris-
ten zu sprechen – Spender und Empfängerin einen mehr
oder weniger engen sozialen Kontakt miteinander haben .
So der BGH noch im Jahre 2013 . Das Gesetz schließt
daher eine wichtige Regelungslücke und führt mit den
korrespondierenden Regeln des Zivilrechts hoffentlich
zu einer Verbesserung der Spenderbereitschaft, um dem
Kinderwunsch ungewollt kinderloser Paare Rechnung
tragen zu können . Gleichzeitig wird aber dem dringen-
den Bedürfnis nach Abstammungskenntnis und damit
dem Wunsch nach Identitätsfindung Rechnung getragen.
Die Frage „ Wer bin ich, wo komme ich her?“ bleibt
zukünftig nicht mehr unbeantwortet . Ich bitte daher um
Zustimmung zu diesem Gesetz .
Mechthild Rawert (SPD): Die reproduktive Medi-
zin, ihre technischen Möglichkeiten und damit verbun-
dene ethische Fragen und gesellschaftliche Auswirkun-
gen sind zentrale gesellschaftspolitische Themen . Es
geht um die Freiheit, unterschiedliche Familienformen
selbstbestimmt zu gestalten und zu verantworten, es
geht um die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit und
um die Erfüllung im Leben . Es geht schlicht darum, dass
Kinder entstehen und geborgen aufwachsen können . Es
geht also um etwas sehr Lebensnahes, was die allermeis-
ten Menschen zutiefst berührt . Damit hole ich weit aus .
Der Regelungsinhalt des vorliegenden Gesetzentwurfs
zur Regelung des Rechts auf Kenntnis der Abstammung
bei heterologer Verwendung von Samen ist im Vergleich
dazu viel spezifischer und abgegrenzter, greift aber Rege-
lungen auf, die der rechtlichen Klarstellung dienen .
Jeder Mensch hat das aus dem Persönlichkeitsrecht
folgende Recht auf Kenntnis seiner Abstammung . Wir
regeln nun, dass dieses Recht auch für Menschen gilt,
die durch Samenspende gezeugt wurden. Wir schaffen
zum einen die rechtlichen Voraussetzungen für die Er-
richtung und Führung eines bundesweiten Samenspen-
derregisters beim Deutschen Institut für Medizinische
Dokumentation und Information, DIMDI . In dieser zen-
tralen Datenbank werden die Daten sehr lange – 110 Jah-
re – aufbewahrt . Endlich werden auch Verfahren verein-
heitlicht und vereinfacht . Wir regeln aber auch, dass der
Samenspender weder durch das Kind noch durch dessen
Eltern als rechtlicher Vater in Anspruch genommen wer-
den kann . Zwischen Samenspendern und den durch die
Samenspende gezeugten Personen entstehen also keine
Erbschafts- bzw . Unterhaltsansprüche . Die biologischen
Spender werden entlastet, bei Wunsch des Kindes auf
Kenntnis der Abstammung Verantwortung übernehmen
zu müssen . Diese Rechtssicherheit führt voraussichtlich
auch zu einer größeren Spendebereitschaft . Ich bin davon
überzeugt: Die mit dem Gesetz hergestellte Rechtssicher-
heit hilft allen, den Frauen, den biologischen Spendern,
den durch Samenspende gezeugten Kindern . Dank der
nun hergestellten Rechtssicherheit wird die Möglichkeit
einer Kontaktaufnahme, eines Kennenlernens erleichtert .
Die Notwendigkeit dieser gesetzlichen Regelungen
ergibt sich aus mehreren Gerichtsurteilen . Die Urteile
des Bundesverfassungsgerichts vom 31 . Januar 1998, des
Oberlandesgerichts Hamm vom 6 . Februar 2013 und zu-
letzt des Bundesgerichtshofs vom 28 . Januar 2015 . Die-
ses Urteil stellt klar, dass durch Samenspende gezeug-
te Personen unabhängig von ihrem Alter ein Recht auf
Kenntnis ihrer Abstammung haben .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22323
(A) (C)
(B) (D)
Wie gesagt: Dieses Gesetz ist klar umrissen, es ver-
folgt nicht den Anspruch einer umfassenden Regelung
der vielen Fragen zum Abstammungsrecht . Dennoch
stellen sich mir auch bei diesem abgegrenzten Sach-
verhalt Fragen und Forderungen, die Gegenstand einer
Anhörung sein sollten . Der Gesetzentwurf nimmt aus-
schließlich Bezug auf die ärztlich unterstützte künstliche
Befruchtung, auf die „offizielle“ Samenspende. Gerade
damit haben aber lesbische oder alleinstehende Frauen
ein Problem, denn ihnen wird derzeit von vielen Ärztin-
nen und Ärzten, von Ärztekammern genau diese Form
der Samenspende verwehrt . Ich plädiere dafür, dass für
lesbische Frauen bzw . Paare oder alleinstehende Frauen
die gleichen Rechte gelten wie für heterosexuelle Men-
schen, wenn es um die künstliche Befruchtung geht . Ich
bin der Meinung, dass eine heterologe Insemination allen
offenstehen sollte. In unserer bunten Lebenswirklichkeit
finden derzeit zahlreiche „private“ heterologische Inse-
minationen statt . Sollen diese gesondert geregelt wer-
den? Oder ist es sinnvoller, die Anreize für eine private
Insemination zu reduzieren, zum Beispiel indem wir ge-
setzlicherseits den Kreis derer ausweiten, die berechtigt
sind, eine künstliche Befruchtung vorzunehmen, indem
Ärztinnen oder Ärzte zum Beispiel lesbische Paare nicht
mehr abweisen dürfen?
Wir leben in einer bunten Lebenswirklichkeit mit
einer Vielfalt von Familienkonstellationen . Wir leben
auch mit einem enormen wissenschaftlichen Fortschritt
im Bereich der Reproduktionsmedizin – und daraus fol-
genden zahlreichen Fragestellungen, die vielfach noch
rechtlicher Regelungen bedürfen . In der politischen und
gesellschaftlichen Debatte wird dabei auch das jewei-
lige Familienbild berührt . Wir wissen längst, dass die
sexuelle Identität der Eltern nicht entscheidend für das
Kindeswohl ist . Die Vielfalt der sexuellen Identitäten der
Eltern muss aber auch beim Abstammungsrecht immer
mitbedacht werden, damit keine Person, die eine Familie
gründen möchte, diskriminiert wird .
Ich stelle mir auch die Frage, welche Regelungen wir
hinsichtlich des Rechts auf Kenntnis der Abstammung
finden, wenn der biologische Spender in einer ausländi-
schen Samenbank aufgeführt ist . Darf es, kann es eine
Ungleichbehandlung der Rechtsfolgen für die Beteiligten
zu dem beim DIMDI existierenden Samenspenderregis-
ter geben? Vielleicht ist diese Frage aber auch noch nicht
im Zusammenhang dieses Gesetzes zu klären .
Es besteht grundlegender Reformbedarf im Abstam-
mungsrecht . Um diesen Reformbedarf zu prüfen und um
Lösungen vorzuschlagen, hat das Bundesministerium
der Justiz und für Verbraucherschutz im Februar 2015
den interdisziplinären Arbeitskreis „Abstammung“ ein-
gerichtet . Hier sitzen Sachverständige für die Bereiche
Familienrecht, Verfassungsrecht, Ethik und Medizin
bzw . Psychologie zusammen mit Vertreterinnen und Ver-
tretern verschiedener Bundes- und Landesministerien .
Im Sommer 2017 wird es den Abschlussbericht dieser
Gruppe geben . Ich bin mir sicher: Zu den Ergebnissen
des sehr breiten Themen- und Regelungsbereichs Ab-
stammungsrecht wird es eine intensive gesellschaftliche
und politische Debatte geben – und das ist auch gut so .
Schließlich erleben wir den medizinisch-technischen und
gesellschaftlichen Wandel mit seinen zahlreichen Fra-
gestellungen und Herausforderungen . Wir wollen aber
auch sicherstellen, dass eine Geburt ein Freudenereignis
ist, wollen, dass Familie mit Sicherheit und Geborgenheit
verbunden wird und nicht mit drohenden Rechtsstreitig-
keiten oder unklarer Zugehörigkeit .
Mein Fazit: Ich begrüße den vorliegenden Gesetzent-
wurf der Bundesregierung mit seinen spezifischen Rege-
lungen als einen guten Aufschlag . Wir werden wie bei
allen Gesetzen dazu intensive parlamentarische Beratun-
gen führen . Ich bin aber schon jetzt sehr gespannt auf
die große gesellschaftliche und politische Debatte, die
wir nach Veröffentlichung des Abschlussberichtes des
AK „Abstammung“ zu führen haben . Ich lade Sie ein:
Diskutieren Sie mit uns Parlamentarierinnen und Parla-
mentariern dazu . Es geht um unser aller Zusammenhalt
in Vielfalt .
Kathrin Vogler (DIE LINKE): Der heute vorliegende
Gesetzentwurf der Bundesregierung greift ein Anliegen
auf, mit dem sich die Betroffenen immer wieder aktiv
an die Politik gewendet haben: Auch Menschen, die mit
einer Samenspende gezeugt wurden, haben das Recht da-
rauf, ihre Abstammung zu kennen . In Deutschland wer-
den jährlich etwa 1 200 Kinder nach einer heterologen
Insemination, also einer Befruchtung der Frau mit Spen-
dersamen, geboren . Insgesamt leben über 100 000 so ge-
zeugte Menschen in Deutschland . Ihnen wird dieses Ge-
setz leider nicht mehr helfen können, ihren genetischen
Vater zu finden, obwohl viele dieses Bedürfnis im Laufe
ihres Lebens entwickeln . Bislang werden die Daten le-
diglich bei den Entnahmeeinrichtungen festgehalten . Die
Suche nach der Herkunft erfordert also das Abfragen
einzelner Samenbanken, in der Hoffnung, die richtige zu
finden und dort auch die richtigen Daten zu erhalten, die
bisher auch nur 30 Jahre aufbewahrt werden müssen .
Die Idee, diese derzeit völlig zersplitterten Daten zu-
künftig zentral bei einer Bundesbehörde wie dem DIM-
DI, dem Deutschen Institut für Medizinische Dokumen-
tation und Information, zu sammeln und bereitzustellen,
löst das Problem der zersplitterten Daten für die Zukunft .
Gleichzeitig muss geregelt werden, dass sich aus einer
Samenspende kein Verwandtschaftsverhältnis begründet .
Dieses könnte nämlich zu ziemlich schwierig zu lösen-
den rechtlichen Fragen führen – zum Beispiel im Bereich
des Unterhalts- und Erbschaftsrechts .
Der Verein „Spenderkinder“ hat zudem darauf gedrun-
gen, dass sowohl der Spender als auch die sozialen Eltern
vor der Samenspende ein verpflichtendes Beratungsan-
gebot erhalten, um zu verstehen, dass die Kinder später
das Bedürfnis haben könnten, ihren genetischen Vater
kennenzulernen, und dass ein offener Umgang mit der
Art der Zeugung für die familiäre Beziehung zwischen
den sozialen Eltern und dem Kind positiv sein kann . Dem
kommt der Gesetzentwurf zumindest teilweise nach .
Leider hat die Bundesregierung die Anregung nicht
aufgegriffen, eine Möglichkeit zu schaffen, den geneti-
schen Vater in irgendeiner Weise in den Abstammungs-
dokumenten der Kinder zu nennen und trotzdem recht-
liche Ansprüche auszuschließen . Wir werden in der
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722324
(A) (C)
(B) (D)
weiteren Beratung des Gesetzes prüfen, ob es nicht doch
Möglichkeiten gibt, diesen Wunsch der Betroffenen zu
berücksichtigen .
Auch weitere wichtige Vorschläge bleiben leider un-
berücksichtigt . So vermisse ich zum Beispiel eine Be-
grenzung der Zahl der Kinder, die mit den Samen eines
einzelnen Spenders gezeugt werden dürfen . Dieses wäre
angezeigt, um zu verhindern, dass unter Umständen sehr
viele genetisch verwandte Spenderkinder gezeugt wer-
den, die dann ein höheres Risiko haben, unwissentlich
mit einem Halbgeschwister eine Familie zu gründen, wo-
durch die Kinder aus solchen Familien höheren Risiken
für Erbkrankheiten ausgesetzt wären .
Ebenfalls nicht nachzuvollziehen ist, dass das Regis-
ter nicht auch genutzt wird, um die Daten von Zeugungen
in Form einer Embryonenspende zu erfassen . Auch wenn
dieses Verfahren meiner Ansicht nach nicht vereinbar ist
mit dem Embryonenschutzgesetz, wird es in Deutschland
dennoch angewandt . Auch diese Kinder haben das Recht,
ihre Abstammung zu kennen . So ist es wohl doch so, dass
die unselige Tradition fortgesetzt wird, dass die Gesetz-
gebung hinter den Anforderungen neuer Techniken in der
Reproduktionsmedizin herhinkt. Deswegen hoffe ich,
dass wir hier im Lauf der Beratung noch zu Verbesserun-
gen kommen werden .
Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Das Wissen eines Menschen, wo sie oder er herkommt,
hat eine erhebliche Bedeutung für die eigene Persönlich-
keit . Geprägt wird man von den Eltern, die einen groß-
ziehen . Wenn sich aber herausstellt, dass der eigene Vater
nicht auch der biologische Erzeuger ist, oder wenn von
vorneherein klar ist, dass die genetischen Eltern andere
sind, kann dies Menschen – zumindest vorübergehend –
in eine schwere Krise stürzen . Zumindest kann es den
Wunsch auslösen, diesen biologischen Elternteil auch
kennenzulernen .
Die Rechtsprechung hat diese Bedeutung schon län-
ger erkannt . Das Oberlandesgericht Hamm hat bereits im
Jahr 2013 in einem richtungsweisenden Urteil den An-
spruch von durch Samenspende gezeugten Kindern auf
Kenntnis des Spenders anerkannt . Die Bundesregierung
hat sich allerdings viel Zeit gelassen, diesen Anspruch
auch in Gesetzesform zu gießen . Und sie tut es mit die-
sem Gesetzentwurf auch nur halbherzig .
Punkt 1: Der Anspruch auf Kenntnis der eigenen Ab-
stammung besteht verfassungsrechtlich für alle Kinder,
die mittels Samenspende gezeugt wurden . Der Gesetzent-
wurf der Bundesregierung schafft allerdings nur Abhilfe
für die Kinder, die zukünftig gezeugt werden . Alle bereits
lebenden Personen werden konsequent ausgeklammert .
Für sie ist die geplante Gesetzesregelung also überhaupt
keine Hilfe . Sie bleiben weiterhin darauf verwiesen, sich
mühsam auf dem Rechtsweg gegenüber den beteiligten
Samenbanken und reproduktionsmedizinischen Zentren
eine Auskunft zu erstreiten .
Punkt 2: Der Vorschlag der Bundesregierung ist ver-
fassungsrechtlich fragwürdig, weil er zulasten der ge-
zeugten Kinder geht . Die Koalition will nämlich auf der
einen Seite jegliche Vaterschaftsfeststellung im Hinblick
auf den Spender ausschließen. Sie schafft aber auf der
anderen Seite keine Möglichkeit für andere Personen,
von Beginn an in die Rechte und Pflichten eines zwei-
ten Elternteils einzutreten . Selbst wenn diese dazu bereit
wären, kann der spätere Vater bzw . die spätere Co-Mutter
des gezeugten Kindes nicht schon vorab als Elternteil an-
erkannt werden . Der Vorschlag der Koalition nimmt da-
mit dem Kind einen Unterhaltsanspruch, ohne ihm einen
gleichwertigen Anspruch als Ersatz zu geben .
Und dies ist auch das zentrale Manko des Gesetzent-
wurfes: Die Koalition drückt sich vor der eigentlich ent-
scheidenden Frage, wie familienrechtliche Konstellatio-
nen in diesen Fällen geregelt werden sollen . Sie scheut
davor zurück, weil sie grundsätzlich nicht weiß, wie sie
mit neuen oder atypischen Familienkonstellationen um-
gehen soll . Und dieses Zögern geht wieder einmal zulas-
ten der betroffenen Kinder.
Wir Grünen sind da schon längst weiter, auch beim
Thema Samenspende . Wir haben bereits vor einem Jahr
einen Antrag vorgelegt, in dem wir das neue familien-
rechtliche Instrument der sogenannten Elternschafts-
vereinbarung fordern . Damit wird auch dem nicht bio-
logischen Elternteil ermöglicht, schon vor der Geburt in
sämtliche Rechte und Pflichten einzutreten. Das Kind er-
hält damit von Anfang an zwei gleichberechtigte Eltern-
teile . Wie sinnvoll und wichtig eine solche Regelung ist,
hat sich in der Anhörung zu diesem Antrag gezeigt . Es
wird also Zeit, dass auch die Koalition dies zur Kenntnis
nimmt und ihren Gesetzentwurf entsprechend verbessert .
Wir sind Ihnen dabei gern behilflich.
Anlage 16
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
raumordnungsrechtlicher Vorschriften (Tagesord-
nungspunkt 36)
Alexander Funk (CDU/CSU): Die geplante Ände-
rung des Raumordnungsgesetzes verfolgt im Wesentli-
chen drei wichtige Ziele:
Erstens. Da ist zum einen die verstärkte Öffentlich-
keitsbeteiligung, mit der die Bürger nun bereits deutlich
früher eingebunden werden sollen, als dies bisher der
Fall war .
Zweitens . Darüber hinaus geht es um die Umsetzung
einer europäischen Richtlinie zur maritimen Raumpla-
nung . Damit ist sichergestellt, dass künftig alle EU-Län-
der maritime Raumordnungspläne schaffen, so wie
Deutschland dies bereits 2009 etwa für die Schifffahrt,
die Offshorewindenergie oder den Umweltschutz in der
Nord- und Ostsee getan hat . Dies sollen alle anderen
EU-Länder in Zukunft entsprechend handhaben, und sie
sollen ihre Festlegungen dann grenzüberschreitend ab-
stimmen .
Drittens . Dritter Punkt ist das Thema Hochwasser-
schutz . Hier soll der Bund künftig die Kompetenz erhal-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22325
(A) (C)
(B) (D)
ten, im Bedarfsfall länderübergreifende Pläne aufzustel-
len . Der Hochwasserschutz liegt ja grundsätzlich in der
Kompetenz der Länder . Wenn man sich einmal die Hoch-
wassersituationen der letzten Jahre genauer anschaut, so
muss man feststellen, dass eine Unterstützung der Länder
durch einen länderübergreifenden Schutz erforderlich
und angemessen ist .
So wichtig die maritime Raumplanung und ihre grenz-
überschreitende Abstimmung und so notwendig der län-
derübergreifende Schutz gegen Hochwasser auch sind,
so unstrittig sind diese Regelungsfelder auch . In diesem
Hause gibt es wohl niemanden, der den jeweils vorge-
sehenen Schutzzweck der Norm auch nur ansatzweise
ernsthaft bestreiten würde . Möglicherweise sieht dies be-
züglich der künftig besseren Beteiligung der Öffentlich-
keit bei dem einen oder der anderen schon etwas anders
aus .
Vergegenwärtigen wir uns noch einmal, worum es
konkret geht: Es geht um eine obligatorische Öffentlich-
keitsbeteiligung – einschließlich der Prüfung von Projek-
talternativen – bereits im Raumordnungsverfahren .
Beim Raumordnungsverfahren handelt es sich um ein
frühes Stadium eines Vorhabens, genauer: um planerische
Festlegungen, und eben noch nicht um konkrete Vorha-
ben, sprich: Genehmigungsverfahren, Planfeststellungs-
verfahren . Diese greifen erst zu einem späteren Zeitpunkt
Platz . Als Beispiel: Beim Autobahnbau, der Errichtung
von Schienenstrecken oder auch bei dem Projekt Stutt-
gart 21 ist die Raumordnung dem Planfeststellungsver-
fahren vorgelagert . Und genau hier, in diesem Stadium,
soll künftig die Öffentlichkeit eingebunden werden. Wa-
rum? Weil wir maximale Transparenz insbesondere bei
der Durchführung von Infrastrukturvorhaben, aber etwa
auch bei Geothermie-Anlagen walten lassen möchten,
und zwar von Anfang an . Es gilt: Wer neue Projekte ins
Auge fassen, erfolgreich planen und vor allem erfolg-
reich umsetzen will, der braucht eine Bevölkerung, die
diese Projekte auch mitträgt!
Minister Dobrindt hat in diesem Zusammenhang vom
Begriff der größtmöglichen Transparenz gesprochen. Zu
Recht! Es geht um eine umfassende, vollumfängliche
und damit transparente, daneben aber vor allem auch
frühzeitige Information der Öffentlichkeit. Alle relevan-
ten Informationen müssen der Öffentlichkeit zugänglich
sein . Transparenz hat ja bekanntermaßen zwei Funktio-
nen: den offenen Zugang zu Informationen und gleich-
zeitig auch die Rechenschaft .
Nebenbei bemerkt: Mit der frühen Information der
Öffentlichkeit haben wir ja inzwischen sehr gute Er-
fahrungen gemacht . Ich spreche hier von der ersten Öf-
fentlichkeitsbeteiligung beim Bundesverkehrswegeplan .
Dazu gab es fast 40 000 Eingaben von Bürgerinnen und
Bürgern, die sich zur Hälfte per Post, zur Hälfte online
geäußert haben . Dementsprechend ist es richtig, die Öf-
fentlichkeit auch bei Raumordnungsverfahren in Zukunft
nicht mehr außen vor zu lassen, sondern direkt einzubin-
den und zu beteiligen .
Mit den letzten Änderungen am Gesetzentwurf zur
Änderung des Raumordnungsgesetzes, die vor der ab-
schließenden Beratung im Verkehrsausschuss erfolgt
sind, sollten alle Seiten gut leben können: Neben der
Korrektur eines Redaktionsversehens in § 7 ROG, die
der Bundesrat vorgeschlagen hatte, und einigen Folge-
änderungen in den §§ 9, 15 und 17, die natürlich absolu-
ter Konsens sind, sollten auch die weiteren Änderungen
nicht für Probleme sorgen:
Der Änderungsantrag Artikel 1 Nummer 12 § 9
Absatz 2 Satz 4 (neu) ROG entspricht einem Vorschlag
des Bundesrates und steht in Zusammenhang mit einer
Präklusionsregelung im Entwurf des Gesetzes zur An-
passung des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes und anderer
Vorschriften an europa- und völkerrechtliche Vorgaben .
Mit der Änderung soll eine entsprechende Präklusi-
onsvorschrift sowie der Hinweis auf die Präklusion im
Raumordnungsgesetz normiert werden . Die Präklusions-
vorschrift bei Raumordnungsplänen ist relevant, um die
Auswirkungen eines Urteils des Bundesverwaltungsge-
richts vom 16 . April 2015 für die Verwaltung praktikab-
ler zu gestalten .
Ähnlich sieht es bei dem Änderungsantrag zu Artikel 1
Nummer 13a § 10 Absatz 2 ROG aus, der auch auf einen
Vorschlag des Bundesrates zurückgeht . Diese Änderung
steht ebenfalls in Zusammenhang mit einer Regelung
über Rechtsbehelfsbelehrungen im Entwurf des Geset-
zes zur Anpassung des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes
und anderer Vorschriften an europa- und völkerrechtliche
Vorgaben . Die Änderung soll eine entsprechende Vor-
schrift im Raumordnungsgesetz normieren und somit zu
einer klaren und eindeutigen Rechtslage führen .
Schließlich gibt es noch den Änderungsantrag zu Arti-
kel 1 Nummer 14b § 11 Absatz 2 ROG, ebenso auf Vor-
schlag des Bundesrates . Der Gesetzentwurf der Bundes-
regierung würde zu einer Aufhebung des geltenden § 12
Absatz 2 ROG führen . Dieser dient jedoch der Gewähr-
leistung der Rechtssicherheit und soll daher beibehalten
werden .
Mit dem Gesetz zur Änderung raumordnungsrechtli-
cher Vorschriften soll auch § 48 Absatz 2 Satz 2 (neu)
Bundesberggesetz-E geändert werden . Konkret soll
hier eine Raumordnungsklausel eingeführt werden . Das
heißt, auch bei Vorhaben nach dem Bundesbergrecht sind
künftig die Ziele der Raumordnung zu beachten . Daraus
folgt, dass auch hier der Rechtsschutz auf die planerische
Ebene vorverlagert wird .
Nun könnte man zu der Ansicht gelangen, eine Raum-
ordnungsklausel im Bundesberggesetz hätte Konsequen-
zen für die Zulassung von Rohstoffgewinnungsvorhaben
in Deutschland und könnte zu verzögernden Klagen in
einem frühen Stadium der Vorhaben führen . Dement-
sprechend sei die Raumordnungsklausel aus dem Ge-
setzentwurf zu streichen . Aber das Gegenteil ist hier zu-
treffend: Eine solche Streichung würde der Intention des
Gesetzgebers und damit dem Regelungszweck diametral
entgegenstehen . Wie eingangs ausgeführt, kommt es uns
ja gerade darauf an, die Bevölkerung von Anfang an über
geplante Vorhaben zu informieren und einzubinden . Und
das muss selbstverständlich auch für untertägige Projekte
gelten, wenn wir es mit der Transparenz ernst meinen .
Daher bitte ich um Zustimmung zu unserem Änderungs-
antrag sowie zum Gesetz .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722326
(A) (C)
(B) (D)
Annette Sawade (SPD): Unser gemeinsamer Raum,
das ist unsere Umgebung, wo wir wohnen und leben . Die
Änderung des mittlerweile neun Jahre alten Raumord-
nungsgesetzes von 2008 befasst sich ganzheitlich mit der
maritimen sowie der untertägigen Raumplanung, mit der
Mitbestimmung von Bürgern bei Großprojekten und mit
den Herausforderungen des Klimawandels für unseren
gemeinsamen Raum .
Vier Ziele liegen der Gesetzesänderung zugrunde:
erstens die Umsetzung der EU-Richtlinie 2014/89/EU
zur Schaffung eines Rahmens für die maritime Raum-
planung, zweitens die frühzeitige Bürgerbeteiligung bei
Großprojekten sowie Prüfung von Alternativen, drittens
der Hochwasserschutz und viertens die bergrechtlichen
Vorschriften, die die Raumordnung gewissermaßen drei-
dimensional entwickeln .
Nationalen und europäischen Herausforderungen des
Klimawandels können wir nur gemeinsam begegnen . Das
Thema Hochwasserschutz gewinnt in den letzten Jahren
immer mehr an Bedeutung . Wer erinnert sich nicht an
Gerd Schröder in Gummistiefeln an der Elbe? Matthias
Platzeck an der Oder? Und die Starkstromregenfälle aus
2016 haben erneut gezeigt, dass Flüsse nun einmal nicht
an der Landesgrenze enden . Gerade meinen Wahlkreis
Schwäbisch Hall – Hohenlohe hatte es mit Braunsbach,
aber auch anderen Orten ganz besonders hart getroffen.
Deswegen ist es gut, dass die Länder endlich beim
Hochwasserschutz zusammenarbeiten müssen und der
Bund die Kompetenz bekommt, bei Bedarf einen länder-
übergreifenden Raumordnungsplan für den Hochwasser-
schutz aufzustellen .
Lassen Sie mich über den Punkt sprechen, der mir
auch als Vorsitzende des Unterausschusses Kommunales
besonders wichtig ist: das Mitspracherecht der Bürgerin-
nen und Bürger zu Belangen der Raumordnung . „Wer
an den Dingen seiner Gemeinde nicht Anteil nimmt, ist
kein stiller, sondern ein schlechter Bürger“, formulierte
Perikles im fünften Jahrhundert . Wir möchten, dass un-
sere Bürgerinnen und Bürger mitentscheiden können,
wenn unser gemeinsamer Raum neu gestaltet wird oder
geschützt werden muss .
Die Großprojekte in Deutschland, die verspätet und
mit höheren Kosten zum Teil immer noch nicht abge-
schlossen sind, haben häufig den Protest der Bürgerinnen
und Bürger hervorgerufen . Und dazu muss man leider oft
sagen: zu Recht! Weil unter anderem Alternativen und
die dazugehörige Transparenz fehlten .
Die Gesetzesänderung möchte solche Geschehnisse in
Zukunft vermeiden. Die Öffentlichkeitsbeteiligung wird
sogar obligatorisch . Größtmögliche Transparenz und Al-
ternativplanungen zum Großprojekt, die ernsthaft in Be-
tracht kommen, sollen zur Sprache gebracht werden und
Gehör finden.
Unsere Bürgerinnen und Bürger sollen sich aktiv an
der Raumordnung beteiligen können . Dazu gehört es na-
türlich auch, dass die Vorhaben von Großprojekten digi-
tal veröffentlicht und kommentiert werden können.
Deshalb meine Bitte auch an die Bürgerinnen und
Bürger: Informieren Sie sich, was um Sie herum pas-
siert! Sprechen Sie aus, wie unsere gemeinsamen Räu-
me gestaltet werden sollen! Nach drei Jahren der großen
Koalition – das ist schneller als die Umsetzung so man-
cher Großprojekte in Deutschland –, setzen wir nun die
EU-Richtlinie und weitere Änderungen am Raumände-
rungsgesetz um .
Sabine Leidig (DIE LINKE): Wir begrüßen es, dass
nun auch für den Hochwasserschutz länderübergreifen-
de Raumordnungspläne aufgestellt werden können . Hier
arbeiten die Länder ja oft aneinander vorbei, auch wenn
diese das offenkundig anders sehen, wie aus ihrer Stel-
lungnahme hervorgeht . Die Frage ist aber, ob es einen
solchen Raumordnungsplan geben wird . Für Häfen und
Flughäfen ist hier bislang überhaupt nichts passiert . Auf
eine schriftliche Frage von Herbert Behrens hin antwor-
tete das BMVI, dass dies nicht nötig sei, weil die ver-
kehrliche Anbindung von Häfen und Flughäfen durch
Hafenkonzept, Flughafenkonzept und Bundesverkehrs-
wegeplan ausreichend berücksichtigt seien . Diese beiden
Konzepte leisteten aber eben nicht das, was man eigent-
lich bräuchte, nämlich eine wirkliche Standortpriorisie-
rung . Hier wird eine Chance vertan .
Was für uns gar nicht geht, ist, dass der bisherige Ab-
satz 6 des § 17 ersatzlos gestrichen werden soll . Hierin
ist bislang die Beteiligung des Deutschen Bundestages
geregelt . Ich möchte mich aber nicht selbst entmachten
und kann die Begründung nicht verstehen, nach der der
Deutsche Bundestag bei Rechtsverordnungen, als solche
werden die Raumordnungspläne des Bundes erlassen,
nicht beteiligt wird . Im Grundsatz stimmt das schon,
aber bei den Verordnungen nach dem BImSchG ist das
anders . Und ein Plan, der die Anbindung der Häfen und
Flughäfen regelt, den muss man im Verkehrsausschuss,
der ja schließlich auch den Bundesverkehrswegeplan be-
schlossen hat, schon gerne beraten . Ebenso der Umwelt-
ausschuss den zum Hochwasserschutz . Falls es den denn
jemals geben wird . Die Frage ist eben nur, warum man
diese Bundesraumordnungspläne ins Gesetz schreibt,
wenn das Ministerium dann meint, man braucht die so-
wieso nicht .
Wir begrüßen, dass eine Öffentlichkeitsbeteiligung
nunmehr – zumindest im regulären, nicht im beschleu-
nigten Verfahren – vorgeschrieben ist, auch wenn dies in
den meisten Ländern bereits so gehandhabt wurde . Die
Begründung, dass man damit Akzeptanz für Großpro-
jekte schaffen will, teilen wir aber nicht. Denn es geht
nicht nur um die Akzeptanz, also das Durchsetzen von
Großprojekten, sondern eben auch darum, ob eine sol-
che Maßnahme überhaupt nötig ist . Immerhin sollen nun
„ernsthaft in Betracht kommende Alternativen“ geprüft
werden, dies schließt explizit auch solche ein, die von
Teilnehmern im Beteiligungsverfahren eingebracht wur-
den . Aber die Anpassung an das neue URG, die der Bun-
desrat vorschlug, ist abzulehnen, weil sie Beteiligungs-
rechte einschränkt .
Dass die Bundesregierung den Aufbau Ost für abge-
schlossen hält, in der Begründung heißt es explizit, „dass
sich 26 Jahre nach der Wiedervereinigung räumliche
Disparitäten … nicht mehr feststellen lassen“, ist für uns
ebenfalls nicht nachvollziehbar . Es wird suggeriert, dass
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22327
(A) (C)
(B) (D)
es die krassen Disparitäten zwischen Ost und West nicht
mehr gibt, sondern es quasi überall strukturpolitische
Schwächen und Stärken gebe . Das ist aber aus unserer
Sicht eben nicht der Fall, weil sich bei allen Struktur-
daten wie beispielsweise Arbeitslosigkeit, Bruttoinlands-
produkt, kommunale Steuereinnahmen oder FuE-Ausga-
ben immer die DDR abzeichnet, weil es eben im Osten
großflächig eine größere negative Betroffenheit gibt.
Selbst die schwächsten Westbundesländer sind immer
noch „reicher“ als die stärksten Ostländer .
Bedenken haben wir wegen der neuen Bestimmungen
zu Vorranggebieten . Denn hierzu heißt es in der Begrün-
dung, damit kann beispielsweise „eine Siedlungsent-
wicklung den Freiraumschutz ausschließen, desgleichen
ein Infrastrukturausbau die Erfordernisse des Biotopver-
bundes oder der vorbeugende Hochwasserschutz die Be-
lange des Naturschutzes“ . Genau das wollen wir nicht .
Dass quantifizierte Vorgaben zur Verringerung der
Flächeninanspruchnahme als neuer Grundsatz explizit
verankert werden, findet unsere Zustimmung, weil da-
mit die Umsetzung des 30-Hektar-Zieles der Deutschen
Nachhaltigkeitsstrategie unterstützt wird .
Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Heute geht es um die Zukunft der Meere . In Nord- und
Ostsee haben wir viele unterschiedliche Interessen, die
unter einen Hut gebracht werden müssen . Es ist zu begrü-
ßen, dass wir dafür jetzt einen europäischen Rahmen ha-
ben . Doch wie bei allen Richtlinien, die die Europäische
Union auf den Weg bringt, kommt es auch hier auf die
konkrete Umsetzung an . Und ich möchte ergänzen: Es
kommt auch auf den Zeitpunkt der Umsetzung an . Hier
hat die Bundesregierung ein weiteres Mal geschlampt
und ist eine geraume Weile im Verzug . Setzen Sie da-
her die Richtlinie um – aber bitte vernünftig . Wir geben
Ihnen gerne Vorschläge für eine bessere Umsetzung mit
auf den Weg .
Ähnlich wie an Land gibt es auch auf dem Meer viele
unterschiedliche Interessen . Wir müssen einerseits un-
sere Meere so weit schützen wie möglich . Wir müssen
unsere artenreichen Meere auch für die folgenden Gene-
rationen bewahren . Die Meere sind eine entscheidende
Lebensgrundlage . Gefährden wir den guten Zustand der
Meere, bringt dies vielseitige negative Auswirkungen
wie eine Verstärkung des Klimawandels, Artensterben
oder eine Versauerung der Meere mit sich . Die Ozeane
sind daher besonders schützenswert, und es muss deren
Schutz zukünftig eine deutlich höhere Bedeutung beige-
messen werden .
Die maritime Raumplanung kann ein Instrument sein,
Nutzungsinteressen aufzuzeigen, frühzeitig dem Schutz
der Meere, Ressourcen und Lebewesen einen größeren
Raum zu geben und die Interessen auszugleichen . Es ist
sinnvoll, frühzeitig einen Überblick darüber zu erhalten,
wo menschliche Nutzung stattfindet und wie Meeres-
schutz nötig und möglich ist . Der Schutz der Meere ist
vielseitig . Hier geht es vor allem um die Beibehaltung
einer hohen Wasserqualität, damit die Meere im ökologi-
schen Gleichgewicht bleiben . Es geht außerdem um den
Schutz der im Wasser lebenden Tier- und Pflanzenarten.
Vor allem der Schutz der Fischbestände wird in Zukunft
aufgrund drohender Überfischung einiger Arten eine gro-
ße Rolle spielen . Aber es wird auch darum gehen, Gebie-
te zu schützen, um Lebewesen eine Rückzugsmöglich-
keit zu bieten .
Wenn wir uns in Nord- und Ostsee umsehen, welche
vielseitigen Nutzungsinteressen bestehen, ist eine lang-
fristige maritime Raumplanung sehr wichtig . Denn der
Meeresschutz steht Nutzungsinteressen von Öl- und Gas-
förderungen, der Schifffahrt, dem Tourismus, der Fische-
rei oder Offshorewindanlagen häufig entgegen. Manch-
mal können Interessen aber auch ausgeglichen werden .
Bisher spricht sich Deutschland im Rahmen seiner
maritimen Raumplanung als Bund mit den Küstenlän-
dern im Rahmen des Integrierten Küstenzonenmanage-
ments, IKZM, einigermaßen ausreichend ab . Allerdings
finden manche Planungsansätze wie Öffentlichkeitsbe-
teiligung darin noch nicht ausreichend Berücksichtigung .
So ist das leider auch mit dem aktuellen Gesetzentwurf .
Gut gemeint, aber noch lange nicht gut gemacht . So ist
im Gesetzentwurf zwar die aus der EU-Richtlinie ver-
langte Öffentlichkeitsbeteiligung enthalten. Aber hier
muss die Bundesregierung dringend ihre Auffassung von
Öffentlichkeitsbeteiligung anpassen. Sie darf nicht so
aussehen, dass zwei Wochen in einem Amt ein Ordner
mit Planungsunterlagen ausliegt, zu dem in einem sehr
begrenzten Zeitraum die Bürger Stellung nehmen kön-
nen – und am Ende weder Lob noch Kritik Berücksich-
tigung finden. Eigentlich hätte Ihnen die Öffentlichkeits-
beteiligung zum Bundesverkehrswegeplan eine Lehre
sein sollen . Rund 40 000 Stellungnahmen – aber kaum
Einfluss der Bürger auf das Vorhaben. Am Ende war es
eine Farce und das Papier nicht wert, auf dem der Bericht
zur Öffentlichkeitsbeteiligung veröffentlicht worden war.
Eine solche Lachnummer darf sich nicht wiederholen .
Dasselbe gilt für die sogenannte Alternativenprüfung .
Diese soll auch für die maritime Raumplanung vorgese-
hen sein . Aber wir zweifeln stark daran, dass diese auch
wirklich ernst gemeint ist . Die Erfahrungen aus dem
Bundesverkehrswegeplan 2030 zeigen: Das stand nur auf
dem Papier . Eine objektive Prüfung oder gar Realisie-
rung tatsächlich vernünftiger Alternativen fanden nicht
statt . Diese Pseudoprüfung darf sich nicht wiederholen .
Diese Lehrbeispiele aus der kürzlich beendeten Auf-
stellung des Bundesverkehrswegeplans 2030 zeigen:
Bitte wiederholen Sie diese Fehler nicht . Denn: Wo Öf-
fentlichkeitsbeteiligung draufsteht, muss auch eine ech-
te Beteiligung der Öffentlichkeit drin sein. Ein simples
Gehörtwerden der Bürger reicht dazu nicht . Die Bürger
müssen sich sicher sein, in einem Beteiligungsprozess
auch Lösungsvorschläge einbringen zu können, die
ernsthaft abgewogen werden .
Anlage 17
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722328
(A) (C)
(B) (D)
Änderung des Binnenschifffahrtsaufgabengesetzes
(Tagesordungspunkt 37)
Hans-Werner Kammer (CDU/CSU): Die Moderni-
sierung und insbesondere die Digitalisierung der Binnen-
schifffahrt kommen voran. Der verstärkte Einsatz von
Binnenschifffahrtsinformationsdiensten und vor allem
der Nutzung des automatisierten Schiffsidentifikations-
systems AIS auch in der Binnenschifffahrt tragen enorm
zu einer Steigerung der Verkehrssicherheit auf den deut-
schen Wasserstraßen bei, etwa durch eine bessere Über-
wachung von Risikotransporten . Andere Maßnahmen
wie der zunehmende Automatikbetrieb von Schleusen
dienen der Effizienzsteigerung. Ziel dieser Optimierung
des Verkehrsträgers Wasserstraße ist es, seine Attraktivi-
tät zu erhöhen und so eine umweltfreundliche Verlage-
rung von Transporten auf das Wasser zu erreichen . Die-
se Modernisierung macht jedoch zahlreiche rechtliche
Änderungen notwendig, denn technischer Fortschritt im
Informationszeitalter bedeutet immer eine massive Zu-
nahme der anfallenden Daten und Informationen . Gerade
der Staat, in diesem Fall die Wasserstraßen- und Schiff-
fahrtsverwaltung, muss damit sehr verantwortungsvoll
umgehen . Daher ist eine vernünftige Rechtsgrundlage
zwingend erforderlich. Diese schafft die Große Koalition
mit dem vorliegenden Gesetzentwurf .
Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme die Ab-
schaffung des Länderfachausschusses kritisiert. Aber
dieses Gremium hat seit mehr als zwanzig Jahren nicht
mehr getagt . Während der gesamten WSV-Reform war
bislang keine Sitzung nötig . Der Ausschuss ist absolut
verzichtbar, weil sich Bund und Länder auf vielen ande-
ren Wegen über die Wasserstraßen austauschen . Das wird
auch in Zukunft so sein, gerade bei der von den Ländern
angeführten Debatte um die Zukunft der Nebenwasser-
straßen . Alle Beteiligten wissen doch, dass es hier ohne
Beteiligung der Länder gar nicht zu einer Lösung kom-
men kann. Die Abschaffung des Länderfachausschusses
ist daher konsequent und lange überfällig .
Anderen Bedenken des Bundesrates tragen wir hinge-
gen mit den vom Ausschuss eingebrachten Änderungen
Rechnung . Zum einen mildern wir eine unverhältnismä-
ßige Härte bei der Sanktionierung von Datenschutzver-
stößen durch Transportbeteiligte ab . Zweitens erschwe-
ren wir Führerscheintourismus nach einem Entzug der
deutschen Fahrerlaubnis . Dieses Feintuning am Entwurf
ist gelungen .
Ich danke den Kolleginnen und Kollegen der Koalition
sowie der Grünen für die konstruktive Zusammenarbeit
bei diesem Gesetz . Was die Linken bei dem Gesetz um-
treibt, verstehe ich hingegen nicht . Im Ausschuss lehnen
Sie, Herr Behrens, dieses Gesetz ab . Zugleich wollten Sie
aber auf die heutige Aussprache verzichten? Wer ein Ge-
setzesvorhaben ablehnt, sollte auch von sich aus bereit
sein, das zu begründen . So werden jedoch zwei Dinge
offenkundig: Erstens ist die Kritik der Linken an diesem
Gesetz unberechtigt . Zweitens fehlt ihnen der Respekt
für die Arbeit dieses Parlaments .
Matthias Lietz (CDU/CSU): Mit der heutigen Debat-
te passen wir das Binnenschifffahrtsaufgabengesetz noch
einmal an die bestehende Verwaltungssituation der Was-
ser- und Schifffahrtsverwaltung (WSV) an. Und das ist
gut so und richtig; denn der Frühjahrsputz ist dringend
nötig . Es ist höchste Zeit, den Staub wegzuwischen .
Zum einem muss das Binnenschifffahrtsaufgabenge-
setz eine Rechtsgrundlage für die WSV bilden, um Daten
zur Erfüllung konkret benannter Verwaltungsaufgaben
zu nutzen . Zum anderen muss – auch gegen den Willen
der Länder – aufgeräumt und entsorgt werden . Es kann
nicht angehen, dass ein Länderfachausschuss, der seit
der europäischen Handelsliberalisierung 1996 nicht mehr
getagt hat und mittlerweile gegenstandslos geworden ist,
beibehalten wird . Das entbehrt jeder Grundlage und wi-
derspricht unseren Zielen der WSV-Reform, die straffere
Strukturen schaffen soll.
Die jetzige Anpassung des Binnenschifffahrtsaufga-
bengesetzes setzt die Reform der WSV weiter richtig um .
Durch den verstärkten Einsatz von Binnenschifffahrtsin-
formationsdiensten (RIS) und der Nutzungspflicht des
automatischen Schiffsidentifikationssystems (AIS) wer-
den durch die WSV mehr Daten verarbeitet, die nun auch
für entsprechende Logistik- und Verwaltungsabläufe in
der voranschreitenden Digitalisierung genutzt werden
sollen .
Nur so kann das Personal der Verwaltung weitaus
sinnvollere Aufgaben übernehmen, als etwa Binnen-
schifffahrtsstatistiken noch mit Meldungen der Primär-
erhebungen zu füllen . Dies geht in vielen Fällen auch
automatisiert und verringert Zeitaufwand und Kosten .
Dieser Schritt war lange fällig und zeichnet ein wirt-
schaftliches Entlastungspotenzial von rund 170 000 Mel-
dungen oder 360 000 Euro auf . Das ist Bürokratieabbau,
wie wir es im Koalitionsvertrag vereinbart haben . Das
entlastet die Verwaltung, und das spart Kosten .
So beantworten wir eben auch die Fragen, die wir uns
zur Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung ge-
stellt haben: „Welche Aufgaben müssen durch die WSV
selbst wahrgenommen werden und welche nicht?“ und
„Wo können Aufgaben sogar völlig entfallen?“ . Beide
Fragen gehen wir mit dem Binnenschifffahrtsaufgaben-
gesetz an .
Wir lösen damit auch das Versprechen ein, den Betrieb
von Schifffahrtsanlagen wirtschaftlicher zu gestalten,
weil es eben zukünftig automatisierte und fernbediente
Schifffahrtsanlagen geben wird. Und das versteht sich
von selbst .
Der Gesetzentwurf schafft die Grundlage für ein zu-
kunftsfähiges Verkehrs-, Unfall-, Schleusen- und Lie-
gestellenmanagement . So werden Sicherheit, Interoper-
abilität und Effizienz des Verkehrssystems Binnenschiff
bzw . Wasserstraße noch einmal deutlich erhöht . Dabei
sind wir uns der Sensibilität bestimmter Daten durchaus
bewusst und sorgen dafür, dass logistikrelevante Daten
nicht uferlos gesammelt oder weitergegeben werden .
Wir tragen dem Rechnung, indem wir die gesteigerte
Schutzbedürftigkeit der betroffenen Binnenschiffer nicht
gefährden und die Privatsphäre der zahlreichen Partiku-
liere schützen, bei denen das Schiff als Wohn- und Ar-
beitsstätte gleichermaßen den Lebensmittelpunkt von Fa-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22329
(A) (C)
(B) (D)
milien bildet . Und diesen Schutz behalten wir nicht nur
in der Datenübermittlung bei, sondern weiten ihn auch
auf das Fahrerlaubnisregister aus .
Ein Riegel wird somit dem Führerscheintourismus mit
ausländischen Fahrerlaubnissen vorgeschoben . Denn der
Gesetzentwurf sieht vor, die Löschungsregel des künftig
zentralen Fahrerlaubnisregisters für Befähigungszeug-
nisse zu präzisieren . Deutsche Fahrerlaubnisse werden
nicht schon bei Entzug, sondern erst drei Jahre später aus
dem zentralen Register gelöscht . Damit können Zuwider-
handlungen bei Routinekontrollen aufgedeckt werden,
und so erschweren wir die Nutzung von ausländischen
Fahrerlaubnissen, die das Fahrverbot unerlaubterweise
umgehen könnten .
Und das schafft bereits heute Fakten. Wir bleiben
für eine zukunftsfähige, digitalisierte Binnenschifffahrt
am Ball, und wir werden für eine straffere Wasser- und
Schifffahrtsverwaltung weiter den Staubwedel schwin-
gen .
Gustav Herzog (SPD): Die Digitalisierung hat
auch vor der Binnenschifffahrt nicht Halt gemacht. Be-
reits heute fallen auf unseren Bundeswasserstraßen in
zunehmenden Mengen Telematikdaten an und machen
eine gesetzliche Regelung für ihre Nutzung dringend
notwendig . Im Gesetzgebungsverfahren wurden in der
Abwägung einzelner Regulierungsbereiche aber auch
ernstzunehmende Interessengegensätze insbesondere
zur Nutzung der Daten deutlich . Inwieweit können sich
personenbezogene Daten ableiten, und in welchem Maße
dürfen die Daten zur polizeilichen Verfolgung von Straf-
taten und Ordnungswidrigkeiten herangezogen werden?
Diese Fragen wurden kontrovers diskutiert und heute
beraten wir abschließend in zweiter bzw . dritter Lesung
das Dritte Gesetz zur Änderung des Binnenschifffahrts-
aufgabengesetzes .
Binnenschifffahrtsinformationsdienste wie der RIS,
River Information Service, oder die Einführung der Nut-
zungspflicht des automatischen Schiffsidentifikations-
systems AIS generieren mittlerweile erhebliche Daten-
mengen . In erster Linie dienen sie zwar der Sicherheit
und Erleichterung des Schiffsverkehrs, können aber auch
zur Verbesserung der Interoperabilität und Effizienz des
gesamten Verkehrssystems Wasserstraße herangezogen
werden. Die zugrundeliegenden Daten können die Effi-
zienz von Logistikketten verbessern und die Verwaltung
des Schiffsverkehrs deutlich erleichtern.
Daten fallen hierbei nicht nur auf den Schiffen und
in den Häfen, bei Logistikpartnern und bei der Passa-
ge von Schleusen an, sie fließen vor allem auch bei der
Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes,
WSV, zusammen. Mit der Änderung des Binnenschiff-
fahrtsaufgabengesetzes erlauben und regeln wir die Er-
hebung, Verarbeitung und Nutzung dieser Daten durch
die bundeseigene Verwaltung . Dabei gehen wir über die
rein statistische Auswertung hinaus und schaffen unter
anderem auch die Voraussetzungen für ein optimiertes
Verkehrs-, Unfall-, Schleusen- und Liegeplatzmanage-
ment. Die Effizienz unserer Infrastruktur wird dadurch
erheblich aufgewertet .
Ein wichtiger und ernsthaft diskutierter Punkt war das
Ausmaß der Weitergabe dieser Daten, deren Auswertung
und Verwendung durch Dritte in der Logistikkette, wie
zum Beispiel an die Hafenbetreiber . Als Teil der Lösung
haben wir die Datenweitergabe mit strikten Regeln, Spei-
cherfristen und Löschpflichten sowie mit einem ange-
messenen Sanktionierungsmechanismus bei Missbrauch
versehen . Das dient insbesondere dem Schutz personen-
bezogener Daten, die aus den Datenströmen abgeleitet
werden können .
Die SPD-Bundestagsfraktion stimmt dem Gesetzent-
wurf der Bundesregierung mit Änderungen zu, wird aber
insbesondere diesen Bereich zum Schutz persönlicher
Daten intensiv begleiten und auch zukünftig aufmerksam
beobachten .
Herbert Behrens (DIE LINKE): Wie auf hoher See
werden auch in der Binnenschifffahrt größere und schnel-
lere Schiffe eingesetzt. Das stellt erhöhte Anforderungen
an die Wasserstraßen . Niedrigwasser, Hochwasser oder
Eisgang führen gerade für größere Schiffe zu erheblichen
Einschränkungen der Schiffsauslastung und der Fahrten-
planung . Um optimal mit diesen Einschränkungen umzu-
gehen, setzen Binnenschiffer in Europa zunehmend Tele-
matiksysteme, die in die sogenannte River Information
Systems, RIS, europaweit harmonisiert wurden, ein . Zu-
dem wird mit der nach dem vorliegenden Gesetzentwurf
verpflichtenden Nutzung des Automatic Identification
System, AIS, die Verkehrssicherheit verbessert . Über das
AIS vermitteln Schiffe unter anderem Position, Kurs und
Geschwindigkeit sowie weitere Daten an andere Schiffe
und an die Schifffahrtsbehörden. Dies dient vor allem der
Vermeidung von Kollisionen .
So weit, so gut . Es ist nichts dagegen einzuwenden,
dass mit der Änderung des Binnenschifffahrtsaufgaben-
gesetztes eine Rechtsgrundlage für die Wasser- und
Schifffahrtsverwaltung zum Erheben, Verarbeiten und
Nutzen von Daten zur Optimierung und Sicherung der
Schifffahrt geschaffen wird. Doch ein Aspekt der Geset-
zesänderung ist sehr kritisch zu sehen . Denn die Ände-
rung schreibt auch eine „vermehrte Automatisierung von
Schifffahrtsanlagen“ vor und schafft dafür einen weiteren
rechtlichen Rahmen . Das Ziel dabei ist, und ich zitiere,
„den Betrieb der Schifffahrtsanlagen wirtschaftlicher zu
gestalten“ . Und „wirtschaftlicher“ heißt auch in diesem
Fall: mit weniger Personal . Der Schleusenwärter vor Ort
soll von einem Kollegen, der aus weiter Ferne bis zu zehn
Schleusen gleichzeitig von einer Leitzentrale heraus be-
dient, ersetzt werden . Da zeigt sich der neoliberale Geist
der WSV-Reform in der Urfassung von Peter Ramsauer .
Die Automatisierung der Schleusen ist bereits in vollem
Gange . Die Schleusen der Mittelweser, die Mindener
Schleusen und die Schleusen am Stichkanal Osnabrück
werden künftig von einer Fernbedienzentrale in Minden
aus bedient und überwacht . Die Schleusen Petershagen
und Schlüsselburg wurden bereits im März 2004 an die
Fernbedienzentrale angeschlossen . Seit 2005 werden die
Schleusen Landesbergen und Drakenburg ferngesteu-
ert . Die Anbindung der Schleuse Langwedel ist im Sep-
tember 2010 erfolgt . 2015 hat Staatssekretär Ferlemann
angekündigt, dass alle Schleusen an der Oberen Ha-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722330
(A) (C)
(B) (D)
vel-Wasserstraße automatisiert werden . Auch am Main,
Donau und Main-Donau-Kanal sind 52 Schleusen längst
automatisiert und werden aus einer Entfernung von bis
zu 120 Kilometern gesteuert .
Das Ganze findet nicht in einem luftleeren Raum statt.
Die Kollegen der WSV sind schon Jahrzehnte dauerhaf-
tem Personalabbau ausgesetzt . Seit 1993 wurde jede drit-
te Stelle bei der WSV abgebaut . Ausscheidende Kollegin-
nen und Kollegen wurden nicht ersetzt . Auszubildende
wurden nach ihrem Abschluss nicht übernommen . Nur
unter dem Druck der Belegschaften ist es im Jahr 2013
gelungen, den weiteren Personalabbau, der bereits an den
Kern der Verwaltung ging, zu beenden, um die krassesten
Folgen der Kahlschlagpläne abzuwehren .
Die Schleusenautomatisierung führt zu langsameren
Schleusungen, was auf häufiger befahrenen Wasserstra-
ßen leicht zu Staus führen kann . Nach Angaben der WSV
verlängert sich ein Schleusenvorgang sogar nach Ablauf-
optimierung um drei bis vier Minuten gegenüber einer
Schleusung mit Bediener . Der bis 2015 amtierende Leiter
des WSA Eberswalde Heymann bestätigte dies gegen-
über dem „Nordkurier“: „Es ist einfach so, dass ein Wär-
ter die Boote sprichwörtlich besser stapeln kann .“ In dem
Artikel vom 18 . August 2014 bemängelte Heymann den
Personalabbau, der verhindert, dass Schleusen durchgän-
gig mit Wärtern betrieben werden, und fügt hinzu: „Das
ist letztlich von der Politik so gewollt .“
Auch was die Sicherheit angeht, führt die Schleusen-
automatisierung zu Problemen . Wenn eine Schleusung
schiefgeht, müssen die Leitzentralen erstmal Rettungs-
kräfte, die nicht für den Umgang mit Schiffen ausgebil-
det sind, zur Hilfe rufen . So blieb an der Schleuse Leh-
men im Mai 2016 ein Sportboot mit dem Heck auf dem
Betondrempel unterhalb des Oberwassertores hängen,
während das Wasser abgesenkt wurde . Weil kein Schleu-
senwärter vor Ort war, der den Unfall hätte verhindern
können, mussten 40 Feuerwehrleute aus Lehmen, Bro-
denbach und Kobern-Gondorf zur Rettung anrücken .
Genau diese Schieflage wollen Sie, Kolleginnen und
Kollegen der Koalitionsfraktionen, zum neuen Standard
machen .
Die Digitalisierung darf nicht für die verfehlte Spar-
politik von Union, SPD und Grünen auf Kosten der
Beschäftigten und der Sicherheit auf den Wasserstra-
ßen missbraucht werden . Deswegen können ich und die
Fraktion Die Linke dem vorliegenden Änderungsentwurf
sowie dem Änderungsantrag nicht zustimmen .
Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Mit der vorgesehenen Gesetzesänderung soll eine
Rechtsgrundlage für die Bundesverwaltung geschaffen
werden, auch sogenannte AIS-Daten der Binnenschif-
fe zu nutzen . Dies ist sinnvoll und begrüßen wir . Denn
dadurch wird eine bessere Bewältigung des Verkehrs
möglich, aber auch eine bessere Steuerung oder sogar
Optimierung des Verkehrs auf Binnenwasserstraßen . Die
Erfassung der automatisch gesendeten Daten auch durch
die Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung, WSV, ist
längst nötig geworden in einer Zeit, in der zunehmend
Informationen digitalisiert übermittelt werden . Dem Ge-
setzentwurf werden wir daher zustimmen .
Dazu sollen aber meiner Auffassung nach zukünftig
auch Schiffsdokumente in der Binnenschifffahrt zählen.
In der Seeschifffahrt hat teilweise der Prozess schon in
Richtung digitalisierte Schiffs-, Besatzungs-, Fracht-
oder Zollpapiere begonnen – Stichwort European Single
Maritime Window . Dieser Prozess muss sich auch in der
grenzüberschreitenden Binnenschifffahrt durchsetzen.
Das würde die Nutzung des Binnenschiffs enorm verein-
fachen und Verwaltungsprozesse beschleunigen . Bringen
Sie also die WSV als Dienstleister für die Binnenschiff-
fahrt auf Vordermann, und modernisieren Sie bei dieser
Gelegenheit auch die Verwaltungsprozesse .
Es wird ja viel gesprochen von Verwaltungsverein-
fachung und -modernisierung . Wo bleibt in diesem Zu-
sammenhang die im Koalitionsvertrag angekündigte
Zusammenführung der Schifffahrtsgesetze zu einem
Schifffahrtsgesetzbuch? Die vielen verstreuten Gesetze
und Verordnungen, die oft zu deutlich ins Detail gehen,
lassen die Beteiligten schnell verzweifeln . Ich empfehle
daher: Nehmen Sie von der unvorteilhaften Regelungs-
tiefe in Gesetzen und Verordnungen Abstand . Regeln Sie
stattdessen die Details auf der Ebene der technischen Vor-
schriften . Als Vorbild einer solchen Entwicklung nenne
ich exemplarisch das Vorgehen bei der EU-Maschinen-
richtlinie . Hier wurde das sehr gut und nachvollziehbar
vollzogen . Führen Sie also schleunigst die bestehenden
Regularien in einem Schifffahrtsgesetzbuch zusammen,
und nehmen Sie tiefergehende Regelungen ausschließ-
lich in Form von Richtlinien vor .
Lassen Sie mich abschließend noch eine Frage stel-
len: Wann wird die Bundesregierung an der Umsetzung
der WSV-Reform eigentlich weiterarbeiten? Seit Beginn
der Wahlperiode wurde auf Druck der SPD die Arbeit an
einer sehr wichtigen Reform fast vollständig eingestellt .
Man hat in Bonn eine zusätzliche Behörde geschaffen,
die aber weder richtig in Gang kommt noch Erleichte-
rungen für die Nutzer mit sich bringt . Das eigentliche
Ziel, durch eine Reform als Verwaltung besser und lö-
sungsorientierter arbeiten zu können – und dadurch dem
miserablen Zustand der Schleusen entlang der Wasser-
straßen ein Ende zu setzen, wurde nicht erreicht . Bei der
Binnenschifffahrt ist die Reform nicht angekommen.
Sie hat weiterhin mit maroden Schleusen zu kämpfen .
Sie sollten die WSV eigentlich als Dienstleister für die
Wasserstraßennutzer sehen. Stattdessen pflegen Sie die
kaiserlich-wilhelminische Amtsschimmelstruktur weiter .
Das ist schlecht für unser Land und gegen eine ökolo-
gisch sinnvolle Verlagerung der Gütertransporte auf das
Binnenschiff.
Anlage 18
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
der materiellen Zulässigkeitsvoraussetzungen von
ärztlichen Zwangsmaßnahmen und zur Stärkung
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22331
(A) (C)
(B) (D)
des Selbstbestimmungsrechts von Betreuten (Ta-
gesordnungspunkt 38)
Dr. Silke Launert (CDU/CSU): Jedem Menschen
steht es grundsätzlich selbst zu, über die eigene Gesund-
heit „nach eigenem Gutdünken“ – wie der Bundesge-
richtshof es formuliert hat – zu entscheiden .
Das ist richtig so und deshalb auch verfassungsrecht-
lich garantiert .
Ärzte können daher Eingriffe, selbst wenn sie medi-
zinisch angezeigt sind, grundsätzlich nicht vornehmen,
ohne vorab eine Einwilligung der Patientin oder des Pa-
tienten eingeholt zu haben . Fehlt die Einwilligung, kann
sich der Arzt wegen einer Körperverletzung nach dem
Strafgesetzbuch strafbar machen .
Bei Menschen, die psychisch krank sind oder denen
aus einem anderen Grund die Einsichtsfähigkeit fehlt,
ist das anders . Wenn sie nicht erkennen, dass ihre Ge-
sundheit auf dem Spiel steht und sie sich deshalb einem
ärztlichen Eingriff verweigern, können sie einer medizi-
nischen Zwangsbehandlung unterzogen werden .
Da es sich hierbei um einen erheblichen Grundrechts-
eingriff handelt, sind solche Zwangsmaßnahmen jedoch
nach geltendem Recht nur in ganz engen Grenzen zuläs-
sig . Insbesondere muss sich die Patientin oder der Patient
aufgrund eines Gerichtsbeschlusses in einer freiheitsent-
ziehenden Unterbringung befinden. Nur dann kann der
Betreuer einer solchen Maßnahme zustimmen und sie
dann durch das Gericht genehmigen lassen . So sieht es
das Gesetz vor .
Doch was ist in den Fällen, in denen nicht einsichts-
fähige Patienten nicht freiheitsentziehend untergebracht
sind? Und wenn diese Unterbringung auch gar nicht nö-
tig ist, weil er oder sie weder in der Lage noch willens ist,
sich durch Flucht zu entfernen?
Wenn also beispielsweise eine psychisch schwer kran-
ke und deshalb betreute Frau querschnittsgelähmt ist und
man dann bei ihr ein Herzleiden feststellt; wenn dieses
Leiden dringend eine OP erfordert, die Frau sich aber ve-
hement weigert, sich der OP zu unterziehen, was dann?
Nach aktueller Rechtslage können hier tatsäch-
lich zwangsweise keine medizinischen Behandlungen
durchgeführt werden . Im schlimmsten Fall drohen also
schwerwiegende gesundheitliche Schäden, wenn nicht
gar der Tod .
In einem ähnlich gelagerten Fall hat das Bundesver-
fassungsgericht im Juli des vergangenen Jahres klarge-
stellt, dass der Staat auch in solchen Fällen einzugreifen
hat. Er habe hier ebenso eine Schutzpflicht, die sich aus
dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrt-
heit ergibt .
Mit anderen Worten: Wenn der Mensch nicht in der
Lage ist, sich selbst zu schützen, dann obliegt es dem
Staat, für ihn schützend einzugreifen .
Die gesetzliche Lücke, die das Bundesverfassungsge-
richt an dieser Stelle offenbart hat, wollen wir mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf nun schließen .
Der Entwurf sieht daher vor, dass die Einwilligung ei-
nes Betreuers in eine ärztliche Zwangsmaßnahme künftig
von der freiheitsentziehenden Unterbringung entkoppelt
wird . Die freiheitsentziehende Unterbringung soll nicht
mehr zwingende Voraussetzung sein .
Stattdessen wollen wir als Voraussetzung, dass die
Maßnahme im Rahmen eines stationären Aufenthalts in
einem Krankenhaus, in dem die gebotene medizinische
Versorgung des Betreuten einschließlich einer erforder-
lichen Nachbehandlung sichergestellt ist, durchgeführt
wird .
Damit lassen sich die Behandlungen dann auch auf
offenen Stationen durchführen, eben weil die freiheits-
entziehende Unterbringung gerade nicht notwendig ist,
und ambulante Zwangsbehandlungen bleiben weiterhin
ausgeschlossen .
Im Übrigen belassen wir es in diesem Entwurf bei
den strengen materiellen und verfahrensrechtlichen Zu-
lässigkeitsvoraussetzungen . Und das muss auch so sein,
denn vor dem Hintergrund des schwerwiegenden Grund-
rechtseingriffs darf die Zwangsmaßnahme auch nach der
Neuregelung wirklich nur Ultima Ratio sein, also das
letzte anzuwendende Mittel .
Um dies zu untermauern, wollen wir außerdem eine
neue Regelung einführen, mit der klargestellt wird, dass
auch bei Zwangsmaßnahmen die Vorschrift des § 1901 a
BGB zu beachten ist .
Demnach wird ausdrücklich vorausgesetzt, dass Be-
treuer und Betreuungsgerichte bei der Entscheidung
„Zwangsmaßnahme oder nicht“ stets die in einer Patien-
tenverfügung getroffenen Festlegungen berücksichtigen.
Sollte eine Patientenverfügung nicht vorliegen oder die
dort zum Ausdruck gebrachten Erklärungen nicht der ak-
tuellen Behandlungssituation entsprechen, dann müssen
die Behandlungswünsche und der mutmaßliche Wille des
Betreuten zur Grundlage der Entscheidung gemacht wer-
den .
Darüber hinaus wollen wir als Regelverpflichtung für
Betreuer einführen, dass diese in geeigneten Fällen die
Betreuten auf die Möglichkeiten der Patientenverfügung
hinweisen und sie gegebenenfalls bei der Errichtung un-
terstützen .
In meinem oben gebildeten Fall wäre der Betreuer also
dann dazu aufgefordert, die Frau auf die Möglichkeit ei-
ner Patientenverfügung hinzuweisen, wenn sie sich gera-
de in einem Zustand der Einwilligungsfähigkeit befindet.
Das Ziel dieser Regelungen und des Gesetzentwurfs
insgesamt ist ganz klar, Zwangsbehandlungen möglichst
zu vermeiden . Sie müssen das letzte Mittel bleiben . Glei-
chermaßen wollen wir mit diesem Gesetz das Selbstbe-
stimmungsrecht des Einzelnen stärken und die Verbrei-
tung von Patientenverfügungen fördern .
Ich denke, das sind wirklich wichtige Anliegen, und
ich denke, wir können sie mit diesem Gesetzentwurf um-
setzen .
Dr. Sabine Sütterlin-Waack (CDU/CSU): Am 1 . Ja-
nuar 1992 trat das Betreuungsrecht in Kraft . Damals, vor
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722332
(A) (C)
(B) (D)
inzwischen 25 Jahren, wurde aus Vormundschaft Betreu-
ung, aus Entmündigung eine unterstützte Entscheidung
des Betroffenen. Das Gesetz brachte für alle Menschen,
die ihre Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht mehr
selbst regeln können und deshalb auf die Hilfe anderer
angewiesen sind, entscheidende Verbesserungen mit
sich: Es hat die Selbstbestimmung jedes Einzelnen ge-
stärkt .
Ein großer Schritt für unsere Gesellschaft . Trotzdem
liegt auch heute noch ein gutes Wegstück vor uns . Das
Betreuungsrecht hat sich in den vergangenen Jahren wei-
terentwickelt, es wurde mehrfach umfassend reformiert
und modernisiert, so wie im Jahre 2013 mit dem Gesetz
zur Regelung der betreuungsrechtlichen Einwilligung in
eine ärztliche Zwangsmaßnahme .
Der uns heute vorliegende Gesetzentwurf der Bun-
desregierung knüpft genau an diese Reform an . Mit der
geplanten Änderung soll eine durch das Bundesverfas-
sungsgericht im letzten Jahr festgestellte Regelungslücke
geschlossen werden .
Bitte stellen Sie sich folgende Situation vor: Ein
Mensch, der beispielsweise infolge einer Altersdemenz
unter rechtlicher Betreuung steht und nicht mehr fähig
ist, über seine medizinische Behandlung selbst zu ent-
scheiden, muss gegen seinen natürlichen Willen ärztlich
behandelt werden . Ohne Behandlung würde ihm ein
ernsthafter gesundheitlicher, lebensbedrohlicher Scha-
den entstehen . Bislang, nach geltender Rechtslage, dürfte
dieser Mensch aber nur dann gegen seinen Willen behan-
delt werden, wenn er durch einen Gerichtsbeschluss in
einer geschlossenen Einrichtung untergebracht ist .
Es gibt aber auch Situationen, und darauf basiert die
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, in denen
eine solche freiheitsentziehende Unterbringung nicht
angeordnet werden darf. Dies betrifft nach geltender
Rechtslage Personen, die sich freiwillig in einer Klinik
befinden oder sich krankheitsbedingt räumlich nicht
entfernen können . Folglich können sie nicht ärztlich
zwangsweise behandelt werden, selbst dann nicht, wenn
sie lebensbedrohlich erkrankt sind . Das ist das Dilemma,
das es zu beseitigen gilt .
Deswegen begrüßen wir den Gesetzentwurf der Bun-
desregierung, der nicht nur diese Schutzlücke schließt,
sondern überdies das Selbstbestimmungsrecht der Be-
treuten weiter stärkt .
Der Entwurf sieht konkret vor, dass zukünftig eine
zwangsweise medizinische Behandlung nur dann zuge-
lassen werden kann, wenn sich der Betreute stationär
in einem Krankenhaus aufhält . Der Entwurf spricht an
dieser Stelle von einer „Entkopplung“ der ärztlichen
Zwangsbehandlung von der freiheitsentziehenden Unter-
bringung .
Ich gebe zu, es ist eine komplizierte Thematik . In aller
Kürze lässt sich der Kerninhalt der geplanten Regelung
folgendermaßen verständlich zusammenfassen: Künf-
tig sollen ärztliche Zwangsbehandlungen nicht nur auf
geschlossenen Stationen eines Krankenhauses, sondern
nun auch auf offenen Stationen in einem Krankenhaus
möglich sein .
Ganz wichtig zu erwähnen ist, dass der Gesetzentwurf
keine Ausweitung auf ambulante ärztliche Zwangsbe-
handlungen vorsieht . Das begrüße ich . Auch wenn ich
die Argumentation vieler nachvollziehen kann, die sich
für ambulante zwangsweise Behandlungen aussprechen,
empfinde ich den Weg des stationären Aufenthalts im
Krankenhaus als den richtigen . Denn wir dürfen hierbei
Folgendes nicht außer Acht lassen: Wir bewegen uns bei
dieser Thematik in einem grundgesetzlichen Spannungs-
verhältnis . Zwangsbehandlungen greifen mit einer sehr
hohen Intensität in die Grundrechte des Betreuten ein .
Sie sollten also nur als letztes Mittel angeordnet werden
dürfen, wenn die drohende Gefahr besteht, dass der Pati-
ent einen erheblichen gesundheitlichen Schaden erleiden
könnte .
Ich verstehe den Einwand und die damit zusammen-
hängenden Bedenken, dass Betroffene, die beispielswei-
se in speziellen Pflegeheimen leben, aus ihrer gewohnten
Umgebung „herausgerissen“ und in ein Krankenhaus
verlegt werden müssen, um medizinische Hilfe zu be-
kommen . Mit dem Ausschluss ambulanter Zwangsbe-
handlungen stellen wir aber sicher, dass den Betroffenen
einerseits die erforderliche medizinische Nachbehand-
lung zukommt und andererseits, dass ihr Wohn- und Le-
bensbereich nicht durch ärztliche Zwangsmaßnahmen
beeinträchtigt wird .
Zurückkommend auf den Anfang meiner Rede möch-
te ich nochmals den Meilenstein erwähnen, den wir vor
25 Jahren erreicht haben . Damals hat der Gesetzgeber
das Selbstbestimmungsrecht von betreuten Personen
maßgeblich gestärkt . Der uns heute vorliegende Gesetz-
entwurf rückt die Selbstbestimmung weiter in den Vor-
dergrund . Patientenverfügungen, Behandlungswünsche,
die jemand vor der Erkrankung mit seinem freien Willen
geäußert hat, und auch der mutmaßliche Wille der Be-
treuten sollen mehr Beachtung finden. Dies wird nun im
Gesetz klargestellt .
Im Sinne der Selbstbestimmung, und das ist besonders
wichtig, will der Gesetzentwurf das Instrument der Pa-
tientenverfügung weiter verfestigen und damit ärztliche
Zwangsbehandlungen auf das unbedingt erforderliche
Maß begrenzen . Das Aufgabenfeld des rechtlichen Be-
treuers wird dadurch verpflichtend erweitert. Zukünftig
müssen Betreuer Betroffene über die Patientenverfügung
aufklären und diese auf Wunsch der Betreuten in geeig-
neten Fällen schriftlich fixieren.
Der Gesetzentwurf weitet damit außerdem den Aufga-
benbereich der Beratungsleistung der Betreuungsvereine
aus . Diese Aufgabenerweiterung unterstreicht die in den
letzten Jahren wahrgenommene Tendenz eines gestie-
genen Arbeitsaufkommens bei den Betreuungsvereinen .
Auch vor diesem Hintergrund erscheint die Anhebung
der Betreuervergütung, die derzeit als paralleles Gesetz-
gebungsverfahren hier im Deutschen Bundestag disku-
tiert wird, als wichtiger Bestandteil eines funktionieren-
den und qualitativ hochwertigen Betreuungswesens .
Der Gesetzentwurf bietet also meiner Meinung nach
eine gute Grundlage für die weitere parlamentarische De-
batte, in der wir insbesondere die Praktikabilität dieser
Änderung prüfen werden .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22333
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Matthias Bartke (SPD): Das Gesetz, über das wir
heute erstmals beraten, ist das Resultat des Beschlusses
des Bundesverfassungsgerichts vom 26 . Juli 2016 . Der
Fall, der hinter diesem Beschluss steht, macht uns nach-
denklich . Wann ist ein Wille nicht mehr frei? Welche
Rolle kann ein Wille noch spielen, wenn der Betroffene
nicht mehr einsichtsfähig ist?
Im Ausgangsverfahren ging es um eine 63-jährige
Frau, die psychisch schwer erkrankt war – eine Mischung
aus Schizophrenie, Manie und Depression . Eine Autoim-
munkrankheit führte zusätzlich zu großflächigen Hautau-
sschlägen und massiver Muskelschwäche . Im Zuge der
Behandlungen wurde dann auch noch Brustkrebs festge-
stellt . Die erkrankte Frau aber war gegen eine Operation
wie auch gegen Bestrahlung . Ihre rechtliche Betreuerin
beantragte deswegen ärztliche Zwangsmaßnahmen zur
Behandlung des Brustkrebses . Es war klar: Ohne ärzt-
liche Maßnahmen würde sich der Krebs ausbreiten und
letztlich zum Tod der Patientin führen .
Zwangsbehandlungen sind bei psychisch Kranken
grundsätzlich möglich . Sie stehen aber zu Recht un-
ter sehr engen Voraussetzungen . Dazu zählt, dass nur
zwangsbehandelt werden darf, wer auch zwangsunter-
gebracht ist . Diese Zwangsunterbringung hatten die
Gerichte bei der 63-Jährigen aber abgelehnt . Die Frau
war nämlich so krank und schwach, dass sie nicht mehr
weglaufen konnte . Damit erübrigte sich die Zwangsun-
terbringung und damit auch die Zwangsbehandlung .
Der Fall ging durch die Instanzen und landete schließ-
lich vor dem Bundesverfassungsgericht, das sich mit der
Frage befasste: Muss man Bürger vor sich selbst schüt-
zen? Im Juli letzten Jahres hat es die Antwort darauf ge-
geben: Unter bestimmten Umständen: Ja .
Die geltende Rechtslage bestimmt Folgendes: Hilfsbe-
dürftige Menschen, die stationär in einer nicht geschlos-
senen Einrichtung behandelt werden und sich nicht aus
eigener Kraft fortbewegen können, dürfen notfalls auch
gegen ihren natürlichen Willen nicht ärztlich behandelt
werden . Das Bundesverfassungsgericht hat beschlossen:
Diese Rechtslage verstößt gegen die Schutzpflicht aus
Artikel 2 Absatz 2 GG . Jeder hat das Recht auf Leben
und körperliche Unversehrtheit .
Das Recht zur Selbstbestimmung umfasst grundsätz-
lich auch das Recht auf Krankheit . Der Patient kann Ent-
scheidungen treffen, die anscheinend unvernünftig sind.
Wenn ich eine lebenserhaltende Therapie ablehne und
mich zum Sterben entschließe, ist das Ausdruck meiner
Selbstbestimmung . Die Voraussetzung dafür ist aber mein
freier Wille . Manche Betreute können keinen freien Wil-
len mehr bilden . Wegen ihrer psychischen Erkrankung
oder wegen einer seelischen oder geistigen Behinderung
können sie die Notwendigkeit einer ärztlichen Behand-
lung nicht erkennen, oder aber sie können nicht nach
dieser Einsicht handeln . So kann eine schwere Demenz
eine Person nicht verstehen lassen, dass eine Operation
lebensrettend ist . Halluzinierte Befehle zur Selbsttötung
können die Selbstbestimmungsfähigkeit aufheben . Eine
schwere Depression kann dazu führen, dass der Erkrank-
te keine Entscheidung mehr treffen oder zum Ausdruck
bringen kann .
Es liegt ein großer Unterschied zwischen einer frei-
en Entscheidung und einer Entscheidung, der es an Ein-
sichtsfähigkeit fehlt . Lehne ich eine Chemotherapie ab,
weil ich die Qualen der Behandlung bei unsicheren Hei-
lungschancen nicht in Kauf nehmen will und akzeptiere
ich im Gegenzug meinen Tod, oder lehne ich die Chemo-
therapie ab, weil mir die Behandlung qualvoll erscheint
und ich nicht begreife, dass ich ohne sie auf jeden Fall an
dem Krebs sterben werde?
Doch auch wenn Patienten die Konsequenzen ihrer
Weigerung nicht abschätzen können, so haben sie doch
einen natürlichen Willen . Wegen des verfassungsrecht-
lich verbürgten Selbstbestimmungsrechts ist auch dieser
Wille grundsätzlich zu beachten. Ein Eingriff in dieses
Recht muss auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen
und verhältnismäßig sein . Ein Handeln gegen den natür-
lichen Willen lässt sich nur rechtfertigen, wenn es ande-
ren, gewichtigeren Rechtsgütern dient .
Bereits in der letzten Legislatur hat der Bundestag ein
Gesetz zur Regelung der ärztlichen Zwangsmaßnahmen
beschlossen . Nach der bis dahin geltenden Rechtspre-
chung des Bundesgerichtshofs wurde die gesetzliche Re-
gelung im Paragrafen zur freiheitsentziehenden Unter-
bringung gesehen . 2012 entschied der Bundesgerichtshof
dann aber, dass diese Regelung nicht ausreichend war .
Damit gab es keine Zwangsbefugnisse zur Durchsetzung
notwendiger medizinischer Maßnahmen mehr. Betroffe-
nen drohte ein schwerwiegender gesundheitlicher Scha-
den oder sogar der Tod . Der Bundestag beschloss daher
ein neues Gesetz, dass die bis dahin geltende Rechtslage
möglichst nah abbildete . Dazu zählte, dass eine Zwangs-
behandlung nur im Rahmen einer Unterbringung erfol-
gen kann . Wie die Unterbringung bedurfte damit auch die
Zwangsbehandlung der gerichtlichen Genehmigung und
unterlag denselben strengen verfahrensrechtlichen An-
forderungen . Die Regelung sollte ganz bewusst nur für
untergebrachte Personen gelten, um den Grundrechtsein-
griff möglichst zu minimieren. Auch die SPD-Fraktion
hat daher diesem Gesetz zugestimmt . Tatsächlich führ-
te diese Regelung nun aber zu der paradoxen Situation,
dass Betroffene untergebracht werden müssen, damit sie
zwangsbehandelt werden können . Das Bundesverfas-
sungsgericht hat uns die Hausaufgabe mit auf den Weg
gegeben, die festgestellte Schutzlücke unverzüglich zu
schließen . Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht . Der
Gesetzentwurf liegt nun vor .
Die Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme
wollen wir von der freiheitsentziehenden Unterbringung
entkoppeln . Ärztliche Zwangsmaßnahmen werden statt-
dessen an das Erfordernis eines stationären Aufenthalts
in einem Krankenhaus gebunden . Die materiellen Zu-
lässigkeitsvoraussetzungen für die Einwilligung bleiben
ansonsten erhalten . Das Gleiche gilt auch für die stren-
gen verfahrensrechtlichen Anforderungen . So muss die
ärztliche Zwangsmaßnahme zum Wohl des Betreuten
notwendig sein, um einen drohenden erheblichen ge-
sundheitlichen Schaden abzuwenden . Der Betreute muss
einwilligungsunfähig sein . Ein in einer Patientenverfü-
gung zum Ausdruck gebrachter oder mutmaßlicher Wille
des Betreuten darf der Zwangsmaßnahme nicht entge-
genstehen . Es muss – ohne Druck und mit der notwendi-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722334
(A) (C)
(B) (D)
gen Zeit – mindestens ein Überzeugungsversuch gemacht
worden sein . Der drohende gesundheitliche Schaden
darf durch keine andere weniger belastende Maßnahme
abgewendet werden können . Außerdem muss der zu er-
wartende Nutzen die zu erwartenden Beeinträchtigungen
deutlich überwiegen .
Vor allem mit dem Verweis auf die Patientenverfü-
gung bzw . den mutmaßlichen Willen wird klargestellt,
dass der Wille des Betreuten unbedingt Beachtung finden
muss . Liegt eine Patientenverfügung vor, muss dieser
Geltung verschafft werden. Kommt keine Patientenver-
fügung zum Zug, ist der Betreuer an den mutmaßlichen
Willen des Betreuten gebunden . Dafür muss der Betreuer
konkrete Anhaltspunkte finden: Ausschlaggebend sind
frühere schriftliche oder mündliche Äußerungen, ethi-
sche oder religiöse Überzeugungen und auch sonstige
persönliche Wertvorstellungen . Bei der Suche nach dem
mutmaßlichen Willen muss er auch nahe Angehörige und
sonstige Vertrauenspersonen einbeziehen .
Dieser Weg ist wichtig, um dem Willen des Betreuten
gerecht zu werden . Er ist aber auch aufwendig und wird
nie ganz sicherstellen können, wie der Betreute tatsäch-
lich zu den ärztlichen Zwangsmaßnahmen steht . Aus die-
sem Grund stärken wir mit dem vorliegenden Gesetz auch
die Patientenverfügung. Betreuer sind damit verpflichtet,
auf die Möglichkeit einer Patientenverfügung hinzuwei-
sen und bei der Errichtung zu unterstützen . Das ist vor
allem dann hilfreich, wenn der Betreute nach einer Phase
der Einwilligungsunfähigkeit wieder einwilligungsfähig
ist . Für den Fall einer erneuten Einwilligungsunfähigkeit
kann der Betreute dann festlegen, welche Behandlungen
vorzunehmen und welche zu unterlassen sind .
Auch zukünftig dürfen ärztliche Zwangsmaßnahmen
nur das letzte Mittel sein, das bei drohender erheblicher
Selbstgefährdung in Betracht kommt . Wir gehen damit
den schmalen Grat zwischen Selbstbestimmungsrecht
und Schutz der Betroffenen. Ich denke, wir haben eine
gute Lösung gefunden .
Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Wie im Gesetzent-
wurf der Bundesregierung zutreffend festgestellt wird,
gibt der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom
26 . Juli 2016 Anlass zur Änderung des Betreuungsrechts .
Die Koppelung einer ärztlichen Zwangsmaßnahme an
eine freiheitsentziehende Unterbringung führt zu der
Situation, dass es Fallkonstellationen gibt, in denen au-
ßerhalb einer geschlossenen Unterbringung keine Mög-
lichkeit besteht, einen Menschen gegen seinen Willen
ärztlich zu behandeln, selbst wenn schwerste Gesund-
heitsschäden drohen .
Infolgedessen hat das Bundesverfassungsgericht dem
Gesetzgeber aufgegeben, unter Berücksichtigung der
Schutzpflicht des Staates, die sich aus Artikel 2 Absatz 2
Satz 1 des Grundgesetzes – „Jeder hat das Recht auf Le-
ben und körperliche Unversehrtheit – eine Regelung zu
treffen, um diese Schutzlücke zu schließen. Dazu ist es,
wie der Gesetzentwurf anführt, in der Tat erforderlich,
die Einwilligung in die ärztliche Zwangsbehandlung von
der freiheitsentziehenden Unterbringung abzukoppeln,
wobei immer zu beachten ist, dass staatliche Eingriffe
in Grundrechte nur als Ultima Ratio und so gering wie
möglich erfolgen dürfen . Ob dies hier der Fall ist, müs-
sen die Beratungen zeigen .
Nach den vorgeschlagenen Regelungen sind vor einer
Einwilligung des Betreuers in eine ärztliche Behandlung
gegen den Willen des Betreuten insgesamt sieben Vo-
raussetzungen kumulativ zu erfüllen, bevor der Betreuer
zu der Einwilligung die zusätzlich erforderliche Geneh-
migung des Betreuungsgerichts einholen kann .
Einerseits erspart die vorgeschlagene Regelung dem
Betroffenen die zusätzlich belastende geschlossene Un-
terbringung, andererseits besteht die Gefahr, dass die
vorgeschlagene Neuregelung quasi die Tür zur Akzep-
tanz von ambulanten Behandlungen gegen den Willen
des Betroffenen werden kann. Solche Behandlungen wa-
ren und sind aber nicht gewollt . Von daher ist dies äußerst
kritisch zu betrachten .
Sehr schön ist, dass in dem nun vorgeschlagenen
§ 1906 a BGB auch als Voraussetzung gefordert wird,
dass „zuvor ernsthaft, mit dem nötigen Zeitaufwand und
ohne Ausübung unzulässigen Drucks versucht wurde, den
Betreuten von der Notwendigkeit der ärztlichen Maßnah-
me zu überzeugen“, während in der geltenden Regelung
des 1906 BGB nur von dem Versuch der Überzeugung
gesprochen wird . Auf dieses dringende Erfordernis hat
die Linke bereits vor mehr als vier Jahren hingewiesen .
Es soll – so ergibt es sich aus dem Gesetzestext bzw .
aus der Begründung – kein Erfüllungsaufwand entstehen,
weder für den Staat noch für die Bürger noch für die Wirt-
schaft . Oder anders gesagt: Es bleibt bei den geltenden
Kostenregelungen im Gesundheitswesen, wobei wir aus
früheren Beratungen spätestens seit 2012 wissen, dass es
Einrichtungen gibt, die offenbar auf Zwangsbehandlun-
gen in Gänze verzichten können, eben weil sie mit dem
nötigen Zeitaufwand und ohne Druck die Betroffenen
von der Notwendigkeit der ärztlichen Hilfe überzeugen .
Dies kostet Zeit; es kostet Nerven, und es kostet Geld .
Kosten, die, wie wir alle wissen, aufgrund der Kostenre-
gelungen des Gesundheitssystems nicht von der Kasse in
dem erforderlichen Umfang erstattet werden .
Hier muss in diesem Kontext auch nachgebessert wer-
den. Insbesondere ist die Linke der Auffassung, dass es
sich bei der notfalls einzuwilligenden Zwangsbehand-
lung nicht um die Behandlung der Anlasserkrankung
handeln darf . Denn Psychopharmaka heilen nicht; sie
stellen ruhig . Die Nebenwirkungen von Psychopharmaka
sind – das ist unbestritten – ganz erheblich . Aber insofern
dürfte eine solche Behandlung schon an den genannten
Voraussetzungen scheitern . Besser wäre es allerdings
dies ausdrücklich ins Gesetz aufzunehmen .
Keinesfalls darf suggeriert werden, dass diese Rege-
lung, so sie denn verabschiedet werden sollte, Spielräu-
me für ambulante Zwangsbehandlungen eröffnet. Aller-
dings ist, wenn die Voraussetzung der Behandlung nach
dem neuen § 1906a Absatz 1 Nummer 4 BGB ernst ge-
nommen wird, eine Zwangsbehandlung so gut wie nicht
mehr erforderlich . Man muss sich aber auch die Zeit für
den Patienten nehmen .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22335
(A) (C)
(B) (D)
Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Mit dem Gesetz zur Neuregelung der be-
treuungsrechtlichen Einwilligung in eine ärztliche
Zwangsmaßnahme im Jahr 2013 scheint es – zumin-
dest ersten veröffentlichten Zahlen zufolge – gelungen
zu sein, Zwangsbehandlungen in der Psychiatrie zu re-
duzieren . Das ist ein wichtiger Erfolg, der keinesfalls
durch das Anliegen, Zwangsbehandlungen auf Personen
auszuweiten, die deswegen nicht untergebracht werden
können, weil sie sich der Behandlung räumlich nicht
entziehen können oder wollen, gefährdet werden darf .
Ziel muss sein, die vom Bundesverfassungsgericht fest-
gestellte Schutzlücke zu schließen, ohne dabei die Vo-
raussetzungen für Zwangsbehandlungen im Allgemeinen
auszuweiten . Das gelingt der Bundesregierung mit ihrem
Gesetzentwurf nur teilweise . Wir begrüßen, dass der Ge-
setzentwurf die Möglichkeit einer Zwangsbehandlung
auf einen stationären Krankenhausaufenthalt beschränkt
und eine ambulante Zwangsbehandlung ausgeschlossen
bleibt . Menschen müssen sich zu Hause sicher fühlen
können .
Kritisch ist, dass mit der Gesetzesänderung Zwangs-
behandlungen psychiatrischer Erkrankungen auf offenen
psychiatrischen Stationen ermöglicht werden . Das kann
sich nicht nur negativ auf das Klima in offenen Stationen
auswirken, sondern birgt auch die Gefahr, dass psychisch
erkrankte Menschen davon abgeschreckt werden, sich
freiwillig in die stationäre Behandlung zu begeben . Eine
ähnlich unerwünschte Ausweitung ergibt sich aus der
neuen Rechtsgrundlage für eine Verbringung der betreu-
ten Person in ein Krankenhaus, die vor allem auf Perso-
nen abzielt, die wegen einer somatischen Erkrankung in
einem Krankenhaus zwangsbehandelt werden sollen . Die
Regelung ermöglicht jedoch gleichermaßen, ohne ein
vorgeschaltetes Unterbringungsverfahren Personen für
eine Zwangsbehandlung in ein psychiatrisches Kranken-
haus zu bringen . Um der unterschiedlichen Natur somati-
scher und psychischer Erkrankungen und Behandlungen
gerecht zu werden, spricht einiges dafür, wie im Maßre-
gelvollzugsrecht und dem Unterbringungsrecht der Län-
der, auch im Betreuungsrecht zwischen psychiatrischer
und somatischer Zwangsbehandlung zu unterscheiden .
Um den geltenden Schutz vor unverhältnismäßigen
Zwangsbehandlungen weiter zu stärken, plädieren wir
dafür, den Erforderlichkeitsgrundsatz im neuen § 1906a
BGB zu konkretisieren, zumindest jedoch den entspre-
chenden Wortlaut der Regelung zur Unterbringung im
§ 1906 Absatz 1 BGB zu übernehmen . Auch die Vor-
schläge des Betreuungsgerichtstags zur Stärkung des
Selbstbestimmungsrechts finden wir sinnvoll, wie die
Klarstellung in § 1906a Absatz 1 Nummer 3 BGB, dass
die Zwangsbehandlung dem früher erklärten Willen der
betreuten Person entsprechen muss .
Um Zwangsbehandlungen weiter zu reduzieren, ist
uns wichtig, psychiatrische Krankenhäuser zu verpflich-
ten, Patientinnen und Patienten mit wiederkehrenden
Krisen eine Behandlungsvereinbarung anzubieten . So
können Betroffene, wenn sie es möchten, gemeinsam
mit ihrem Arzt oder Psychotherapeuten verbindlich fest-
legen, wie sie im Zustand der Einwilligungsunfähigkeit
behandelt werden möchten . Als geeignetes Instrument
zur Zwangsvermeidung hat sich auch die Qualifizierung
von Verfahrenspflegerinnen und -pflegern herausgestellt,
vgl . Werdenfelser Weg . Hier wünschen wir uns eine ge-
setzliche Konkretisierung .
Sinnvoll, aber nicht ausreichend ist die im Gesetz-
entwurf vorgesehene Evaluation der Auswirkungen der
gesetzlichen Änderungen auf die Anwendungspraxis .
Notwendig ist ein dauerhaftes Monitoring über Anzahl,
Dauer und Durchführung von Zwangsbehandlungen, um
Missstände in der Praxis und gesetzliche Fehlentwick-
lungen zu erkennen und zu korrigieren . Zwangsmaß-
nahmen sind schwere Eingriffe in die Grundrechte von
Menschen, die, solange sie stattfinden, streng kontrolliert
werden müssen .
Wir sollten dieses Gesetzgebungsverfahren als Chan-
ce nutzen, um Zwang in der Psychiatrie weiter zu redu-
zieren und hoffen hierbei auf die Aufgeschlossenheit der
Koalitionsfraktionen für Nachbesserungen .
Christian Lange, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
minister der Justiz und für Verbraucherschutz: Die Bun-
desregierung hat dem Bundestag den Gesetzentwurf zur
Änderung der materiellen Zulässigkeitsvoraussetzungen
von ärztlichen Zwangsmaßnahmen und zur Stärkung des
Selbstbestimmungsrechts von Betreuten vorgelegt, über
den heute in erster Lesung beraten werden soll .
Mit dem Entwurf wollen wir die vom Bundesverfas-
sungsgericht am 26 . Juli 2016 festgestellte Schutzlücke
im Betreuungsrecht unverzüglich schließen .
Aktuell sieht das Betreuungsrecht vor, dass ärztliche
Zwangsmaßnahmen zwar grundsätzlich möglich sind,
wenn die Betroffenen aufgrund einer psychischen Krank-
heit oder einer geistigen oder seelischen Behinderung die
Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme nicht erkennen
oder nicht nach dieser Einsicht handeln können . Weitere
zwingende Voraussetzung ist aber eine freiheitsentzie-
hende Unterbringung . Die Durchführung einer ärztlichen
Zwangsmaßnahme ist also nur dann möglich, wenn die
betroffene Person freiheitsentziehend untergebracht ist.
Ist eine solche Unterbringung jedoch nicht erforderlich,
weil sich die betroffene Person gar nicht entfernen kann
oder will, so führt das dazu, dass diese auch dann nicht
gegen ihren natürlichen Willen behandelt werden kann,
wenn ihr ein erheblicher gesundheitlicher Schaden droht .
Denn in diesen Fällen ist es nicht erlaubt, die Betroffenen
geschlossen unterzubringen, weil dies nicht erforderlich
ist .
Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass
diese Rechtslage mit der Schutzpflicht des Staates für
das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrt-
heit hilfebedürftiger Personen unvereinbar ist (Artikel 2
Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes) . Wie das Bundes-
verfassungsgericht sind auch wir der Meinung, dass hil-
febedürftige Menschen nicht alleingelassen werden dür-
fen und es die Aufgabe des Staates ist, ihnen wie allen
Menschen die erforderliche medizinische Versorgung zu
ermöglichen .
Ziel des Entwurfs ist es, diese Regelungslücke in
angemessener Weise unter Beachtung des Ultima-Ra-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722336
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tio-Gebots zu schließen . Denn Zwang darf trotz allem
immer nur das letzte Mittel sein .
Das erreichen wir, indem wir ärztliche Zwangsmaß-
nahmen von der freiheitsentziehenden Unterbringung
entkoppeln . Stattdessen soll eine ärztliche Zwangsmaß-
nahme im Rahmen eines stationären Aufenthalts in ei-
nem Krankenhaus möglich sein, „in dem die gebotene
medizinische Versorgung des Betreuten einschließlich
einer erforderlichen Nachbehandlung sichergestellt ist“ .
Gleichzeitig wollen wir das Selbstbestimmungsrecht
von Betroffenen stärken. Dazu sieht der Entwurf aus-
drücklich vor, dass die Festlegungen in einer Patien-
tenverfügung, die früher mit freiem Willen geäußerten
Behandlungswünsche des Betroffenen bzw. sein mut-
maßlicher Wille beachtet werden müssen . Damit wird
noch deutlicher gemacht, dass der schon nach geltendem
Recht zu beachtende Wille des Betreuten die maßgebli-
che Grundlage für die Entscheidung über die ärztliche
Zwangsmaßnahme überhaupt ist .
Außerdem wollen wir die Verbreitung von Patienten-
verfügungen und Behandlungsvereinbarungen fördern,
indem wir den Betreuer verpflichten, den Betreuten in
geeigneten Fällen auf die Möglichkeit einer Patienten-
verfügung hinzuweisen und ihn auf seinen Wunsch bei
deren Erstellung zu unterstützen .
Wir müssen nämlich – und das ist uns ganz besonders
wichtig – alles dafür tun, dass ärztliche Zwangsmaßnah-
men nach Möglichkeit vermieden werden . Solche Maß-
nahmen stellen einen schwerwiegenden Eingriff in die
Grundrechte der betroffenen Personen dar. Auch vor dem
Hintergrund der UN-Behindertenrechtskonvention gilt
es, das Selbstbestimmungsrecht zu stärken und Eingriffe
auf das unbedingt erforderliche Maß zu reduzieren .
Beiden Aspekten – der staatlichen Schutzpflicht auf
der einen und der Stärkung des Selbstbestimmungsrechts
auf der anderen Seite – wird mit dem Entwurf besser als
bisher Rechnung getragen .
Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie diesen Ge-
setzentwurf möglichst rasch beraten und noch vor dem
Ende dieser Wahlperiode verabschieden . Wir wollen den
Menschen, um die es geht, möglichst schnell auf einer
sicheren Rechtsgrundlage helfen .
Anlage 19
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform
des Bauvertragsrechts und zur Änderung der
kaufrechtlichen Mängelhaftung (Tagesordnungs-
punkt 39)
Dr. Hendrik Hoppenstedt (CDU/CSU): Mit dem
Gesetz zur Reform des Bauvertragsrechts und zur Ände-
rung kaufrechtlicher Vorschriften stellen wir die rechtli-
chen Rahmenbedingungen für Bauverträge auf ein neues
und stabiles Fundament und beseitigen die Haftungsfalle
für Handwerker . Damit setzen wir zentrale Anliegen der
Union aus dem Koalitionsvertrag um .
Bevor ich zu den inhaltlichen Ausführungen komme,
möchte ich mich beim Kollegen Kelber stellvertretend
für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des BMJV aus-
drücklich für die sehr gute Zusammenarbeit bedanken .
Änderungswünsche der Koalitionsfraktionen wurden en-
gagiert aufgegriffen und äußerst konstruktiv und ergeb-
nisorientiert mit beeindruckend viel juristischer Fantasie
umgesetzt. Ich hoffe, dass Sie es ebenso sehen wie ich,
dass sich die besten Argumente durchgesetzt haben und
wir heute ein gutes Gesetz beschließen werden .
Weil insbesondere das Bauvertragsrecht sehr umstrit-
ten schien und Verzögerungen befürchtet wurden, sind
zu Beginn des Gesetzgebungsverfahrens insbesondere
von Handwerksseite Bedenken erhoben worden, die Ver-
knüpfung der Änderungen im Mängelgewährleistungs-
recht mit der Schaffung gesetzlicher Regelungen zum
Bauvertragsrecht sei nicht sachgerecht und führe zu Ver-
zögerungen . Deshalb möge man beide Teile des Gesetz-
entwurfs abtrennen und den kaufvertraglichen Teil vorab
beschließen . Allerdings besteht schon im Hinblick auf
den Adressatenkreis ein sachlicher Zusammenhang zwi-
schen den Regelungsmaterien, denn es sind jeweils Wer-
kunternehmer beteiligt . Im Ergebnis war es dann umge-
kehrt so, dass wir uns beim Bauvertragsrecht im Prinzip
schnell einig waren . Zur Verzögerung kam es, weil der
SPD-Fraktion der Gesetzentwurf des eigenen Ministers
in der AGB-Frage nicht weit genug ging .
Beginnen möchte ich mit der Reform des Bauver-
tragsrechts. Damit schaffen wir für Bauvorhaben neue
Rechtsgrundlagen und damit Rechtssicherheit und Trans-
parenz sowohl für Bauherren wie für Bauunternehmen .
Reformbedarf ergibt sich insbesondere daraus, dass
das Werkvertragsrecht des BGB auf den kurzfristigen
punktuellen Austausch von Leistung und Gegenleistung
ausgelegt ist . Die Durchführung von komplexen, auf län-
gere Zeit angelegten Bauvorhaben kann man damit nicht
sachgerecht abbilden .
Nach langjährigen Diskussionen und der Vorarbeit
zweier Arbeitsgruppen in den beiden vergangenen Wahl-
perioden wird das Bauvertragsrecht erstmals ausführlich
im BGB geregelt . Für den Bauvertrag, den Verbraucher-
bauvertrag sowie für den Architekten- und Ingenieurver-
trag werden spezielle Regelungen in das Werkvertrags-
recht des BGB eingefügt .
Ein Kernpunkt der Reform ist die deutliche Erhöhung
des Verbraucherschutzes bei Bauverträgen, die wir im
Koalitionsvertrag vereinbart haben . Angesichts niedriger
Zinsen ist Bauen aktuell auch für Private sehr attraktiv .
Der Bau eines Eigenheims ist häufig eine Entscheidung
für das ganze Leben und bedeutet für Verbraucherinnen
und Verbraucher regelmäßig die größte finanzielle Belas-
tung, die sie in ihrem Leben schultern . Deshalb sind sie
besonders schutzwürdig .
Bauunternehmer müssen Verbraucherbauherren des-
halb künftig vorab eine detaillierte Baubeschreibung zur
Verfügung stellen, die Vertragsinhalt wird . Die angebote-
nen Leistungen werden auf diese Weise transparent . So
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22337
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können Verbraucher realistisch vergleichen und sich für
das qualitativ beste Angebot entscheiden . Um wirksam
zu sein, muss der Verbraucherbauvertrag in Textform
geschlossen werden . Damit sie die Entscheidung gründ-
lich überdenken können, bekommen Verbraucherinnen
und Verbraucher ein 14-tägiges Widerrufsrecht . Durch
die Begrenzung der Höhe von Abschlagszahlungen wird
eine finanzielle Überforderung der Häuslebauer verhin-
dert .
Fast immer ergeben sich während der Bauausführung
gegenüber den Planungen Änderungswünsche, egal ob
es sich um ein privates Eigenheim oder ein Industriege-
bäude handelt . Bislang wird oft darüber gestritten, ob die
Änderungen erforderlich sind und wer diese zu bezahlen
hat . Schließlich dauert es zu lange, bis gerichtlich darü-
ber entschieden ist . Streitigkeiten während der Bauaus-
führung führen häufig zu Baustillständen. Das hat negati-
ve Folgen für Zeitplanung und Baukosten .
Künftig wird die einvernehmliche und zügige Lö-
sung von solchen Konflikten erleichtert. Es wird eine
30-tägige Frist für die Reaktion des Bestellers auf ein
entsprechendes Nachtragsangebot des Unternehmers
vorgesehen . Äußert er sich nicht, soll die Einigung als
gescheitert gelten .
Das ursprünglich im Entwurf vorgesehene zusätzli-
che Einigungsverfahren mit Sachverständigenbeteili-
gung vor der möglichen Inanspruchnahme einstweiligen
Rechtschutzes haben wir im Sinne der angestrebten Be-
schleunigung aus dem Gesetzentwurf gestrichen .
Für den Fall, dass sich Besteller und Unternehmer
nicht einigen, haben wir das grundsätzlich aus der VOB/B
bekannte einseitige Anordnungsrecht des Bauherrn in
das BGB-Bauvertragsrecht übernommen . Klarheit über
die konkrete Anordnung wird dadurch erreicht, dass sie
in Textform erfolgen muss . Natürlich ist klar, dass ein
solches Anordnungsrecht einen tiefen Eingriff in die Ver-
tragsfreiheit darstellt . Dieser ist aber gerechtfertigt; denn
auch der Bauunternehmer bekommt ein scharfes Schwert
an die Hand:
Nach dem neuen Bauvertragsrecht führt eine solche
Anordnung des Bestellers unmittelbar zu einer Preisan-
passung zugunsten des Bauunternehmers . Dieser kann
80 Prozent der geforderten Mehrvergütung verlangen .
Damit wird seine Liquidität sichergestellt und das Insol-
venzrisiko verringert .
Zur Vermeidung des Missbrauchs dieser 80-Pro-
zent-Regelung wird zum Schutz des Bestellers eine Verz-
insungspflicht des Bauunternehmers eingeführt.
Eine schnelle Rechtsdurchsetzung wird dadurch er-
reicht, dass Streitfälle aufgrund der Zuständigkeits-
konzentration beim Landgericht durch mit der Materie
besonders gut vertraute Richter schnell und effizient ge-
richtlich entschieden werden können .
Spezialkammern sind deshalb sinnvoll, weil es sich
um ein komplexes und schwieriges Rechtsgebiet handelt,
dessen Behandlung besondere Einarbeitung, Kenntnisse
und Erfahrungen erfordert . Schon der 70 . Deutsche Ju-
ristentag hatte sich 2014 dafür ausgesprochen, bei den
Landgerichten Spezialkammern unter anderem für Bau-
sachen einzurichten .
Die Detailprivilegierung der Vorschriften der VOB/B
zum Anordnungsrecht und zur Vergütungsanpassung wur-
de aus dem Gesetzentwurf gestrichen . Diese Regelung
hätte sonst dazu geführt, dass in der Praxis regelmäßig
die AGB-rechtlich privilegierten VOB/B-Bestimmungen
vereinbart und so die zugunsten des Unternehmers einzu-
führende 80-Prozent-Abschlagszahlung auf Basis seines
Angebots umgangen worden wären . Wir hätten damit un-
ser eigenes gesetzliches Leitbild demontiert .
Mit dem Erfordernis einer Schlussrechnung wird eine
zusätzliche Fälligkeitsvoraussetzung eingeführt . Das
hat folgenden Grund: Ein Bauvertrag ist typischerweise
komplex und besteht regelmäßig aus vielen Einzelleis-
tungen . Damit besteht generell ein Bedürfnis des Be-
stellers, die geltend gemachte Rechnungssumme anhand
einer Aufschlüsselung der erbrachten Einzelleistungen
überprüfen zu können .
Die Reform des Bauvertragsrechts wird insgesamt zu
einem sachgerechten Interessenausgleich und zu mehr
Rechtssicherheit führen . Das ist nicht nur gut für die Ver-
braucherinnen und Verbraucher, sondern ist auch und ge-
rade im Interesse der Bauwirtschaft und der Architekten .
Zum zweiten Teil des Gesetzes: Wie im Koalitions-
vertrag vereinbart, beenden wir zum 1 . Januar 2018 die
Haftungsfalle für Handwerker . Sie werden im Kaufrecht
erstmals einen gesetzlichen Anspruch gegen den Verkäu-
fer auf Ersatz der Aus- und Einbaukosten erhalten, wenn
er ihnen mangelhaftes Material geliefert hat . Handwerker
sind gegenüber ihren Kunden aufgrund des geschlosse-
nen Werkvertrags zum Ausbau des fehlerhaften und zum
Einbau des mangelfreien Baumaterials verpflichtet. Bis-
lang mussten sie die Kosten des Aus- und Wiedereinbaus
selbst tragen . Das ändern wir mit der Neuregelung, und
wir verbessern damit die Rechte der Handwerker signifi-
kant und nachhaltig .
Für die Kosten des zusätzlichen erforderlichen Aus-
und Wiedereinbaus werden zunächst die Verkäufer haf-
ten, die gegebenenfalls wiederum bei ihren Lieferanten
Regress nehmen können, sodass letztlich derjenige die
Kosten zu tragen hat, der dafür verantwortlich ist .
Im Interesse des Handwerks haben wir den Anwen-
dungsbereich des Nacherfüllungsanspruchs konkreti-
siert, um den Einbaufällen vergleichbare Sachverhalte
abzudecken . Wir haben dabei primär die Maler und La-
ckierer vor Augen, die mangelhafte Farben oder Lacke
nicht im Wortsinne eingebaut, sondern angebracht ha-
ben und diese abschleifen und erneut anbringen müssen .
Auch sie sollen die dafür erforderlichen Kosten vom Ver-
käufer erstattet bekommen .
Um Folgeprobleme zu vermeiden, die sich aufgrund
unterschiedlicher Verträge in der Leistungskette ergäben,
wird das streitanfällige sogenannte Selbstvornahmerecht
des Verkäufers zugunsten eines reinen Aufwendungser-
satzanspruchs gestrichen .
Es gab Befürchtungen, dass die neuen gesetzlichen
Regelungen über Allgemeine Geschäftsbedingungen
ausgehebelt werden könnten . Selbst unser Koalitions-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722338
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partner war zunächst der Meinung, der Gesetzentwurf
des eigenen SPD-Justizministers sei insoweit nicht aus-
reichend . Deshalb haben die Verhandlungen länger ge-
dauert als ursprünglich geplant .
Tatsächlich handelt es sich bei der AGB-Frage um
eine rechtlich sehr komplexe Regelungsmaterie . Glückli-
cherweise konnten wir diese Irritationen im Rahmen der
Berichterstattergespräche ausräumen .
In der AGB-Frage hat sich die CDU/CSU-Fraktion
gegenüber der SPD durchgesetzt . Das heißt, es bleibt
bei dem im ursprünglichen Gesetzentwurf vorgesehenen
Klauselverbot .
Wir haben uns auf eine Lösung verständigt, die Ver-
braucher und kleine Handwerksbetriebe schützt, aber
im unternehmerischen Geschäftsverkehr eine flexible
Inhaltskontrolle durch die Gerichte erlaubt, sodass die
besonderen Gegebenheiten von Geschäften im B2B-Be-
reich berücksichtigt werden können . Mit der Indizwir-
kung wird Einzelfallgerechtigkeit erreicht . Vielfältige
Konstellationen erfordern nun einmal die Möglichkeit
flexibler Entscheidungen durch die Gerichte.
Nehmen wir einmal an, der Bundestag wäre dem Vor-
schlag der SPD gefolgt und hätte die Verwendung die-
ser einen Klausel generell verboten . Dann hätte dieses
Klauselverbot unmittelbar für die gesamte Wirtschaft
gegolten, auch für große international tätige Unterneh-
men . Das wäre nicht sachgerecht . Die Regelung hätte zu
einem Dammbruch geführt: Es wäre eine Debatte über
die AGB-feste Ausgestaltung aller in § 308 und § 309
BGB geregelten Klauselverbote entbrannt, weil Kleinun-
ternehmer mit dem Argument ihrer Schutzbedürftigkeit
jeweils eine unmittelbare Geltung gefordert hätten .
Dazu kommt, dass eine solche Regelung angesichts
der Diskussion, ob das deutsche AGB-Recht im internati-
onalen Vergleich nicht ohnehin viel zu restriktiv ist, Gift
für den Rechts- und Wirtschaftsstandort Deutschland ge-
wesen wäre .
Nach eingehender Prüfung und Beratung ist der Aus-
schuss für Recht und Verbraucherschutz daher zu dem
Ergebnis gekommen, dass eine solche Regelung mit
Blick auf die Rechtsprechung zur Indizwirkung der
Klauselverbote für den unternehmerischen Bereich nicht
erforderlich ist .
Die Union hat sich für die Vertragsfreiheit eingesetzt,
hält aber zugleich gegenüber den Handwerkern Wort und
lässt sie bei den Aus- und Einbaukosten nicht im Stich .
Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Der Gesetzentwurf
zur Reform des Bauvertragsrechts und zur Änderung
der kaufrechtlichen Mängelhaftung steht am heutigen
Tag nach langen Verhandlungen vor der Verabschiedung
im Deutschen Bundestag . Mit den eingebrachten Än-
derungen ist uns ein sinnvoller Interessenausgleich für
alle Seiten gelungen . Durch die initiale Rechtsprechung
des Europäischen Gerichtshofs im kaufrechtlichen Män-
gelgewährleistungsrecht ergaben sich erhebliche Unge-
rechtigkeiten zulasten von kleinen Handwerksbetrieben .
Mit diesem Gesetzentwurf wird die Kostentragungs-
pflicht bei den Einbau- und Ausbaufällen im Rahmen der
Nacherfüllung an die Hersteller der mangelhaften Bau-
materialien weitergereicht . Es ist das Ziel erreicht, dass
kleine Handwerksbetriebe vor existenzbedrohenden Haf-
tungsfällen geschützt werden .
Im Interesse des Handwerks konnten wir weitere
Änderungen durchsetzen . Maler oder Lackierer, welche
mangelhafte Farben oder Lacke verarbeiten, sehen sich
ebenfalls der Pflicht zum Abschleifen und erneuten An-
bringen der Farben oder Lacke ausgesetzt . Solche Sach-
verhalte erscheinen mit den Einbau- und Ausbaufällen
vergleichbar, sodass wir den Anwendungsbereich des
Nacherfüllungsanspruchs konkretisieren .
Das Klauselverbot bei der Nacherfüllung bleibt je-
doch auf Allgemeine Geschäftsbedingungen beschränkt,
die gegenüber einem Verbraucher verwendet werden . Im
Ergebnis sind die kleinen Handwerksbetriebe weiterhin
geschützt . In der Rechtsprechung wird einem Klausel-
verbot gegenüber Verbrauchern eine Indizwirkung für
den unternehmerischen Bereich zugeschrieben . Ein Aus-
schluss oder die Einschränkung der Haftung des Bau-
stoffhändlers für Nacherfüllungsaufwendungen durch
AGB werden nach den allgemeinen Regeln der Inhalts-
kontrolle unwirksam sein .
Der zweite Teil dieser umfassenden Gesetzesände-
rungen betrifft den Bauvertrag und den Verbraucher-
bauvertrag, welche eine Regelung als eigenständige
Vertragstypen im Bürgerlichen Gesetzbuch erfahren . Bei
langwierigen Bauvorhaben ergeben sich oftmals Verän-
derungen zum ursprünglich geschlossenen Vertrag, wel-
che eine Anpassung des Vergütungsanspruchs erfordern .
Bei Streitigkeiten über die Höhe der Vergütung für zu-
sätzliche Leistungen wird ein Anspruch auf Abschlags-
zahlung in Höhe von 80 Prozent der im Angebot fest-
gesetzten Vergütung geschaffen. Die genaue Berechnung
der Mehrvergütung bleibt weiterhin der Schlussrechnung
vorbehalten. Mit der vorläufigen Pauschalierung möch-
ten wir jedoch das Insolvenzrisiko von Bauunternehmen
verringern, da diese selbst für Materialien in Vorleistung
gehen müssen .
Durch eine nachträgliche Änderung des Gesetzent-
wurfs verpflichten wir die Unternehmen jedoch, keine
überhöhten Forderungen bei der Mehrvergütung zu stel-
len . Überzahlungen sind mit einer Verzinsung nach den
Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs von bis zu
9 Prozent zurückzugewähren . Einem möglichen Miss-
brauch der Unternehmer wird damit entgegengetreten .
Als weitere Änderung konnte die AGB-rechtliche Pri-
vilegierung der VOB/B wieder aus dem Gesetzentwurf
gestrichen werden . Es sind keine zwingenden Gründe er-
sichtlich, dass die Inhaltskontrolle nach § 307 BGB bei
der Berechnung der Vergütungsanpassung keine Anwen-
dung finden soll. Einem Rosinenpicken der günstigsten
Bedingungen verhandlungsstarker Besteller möchten wir
keine gesetzliche Grundlage schaffen.
Mit den exemplarisch aufgezeigten Änderungen in
diesem umfassenden Gesetzesvorhaben möchte ich ver-
deutlichen, dass uns sinnvolle Regelungen mit Blick auf
alle Interessen gelungen sind . Es ist nun abzuwarten, ob
sich die Verbesserungen auch in der Praxis niederschla-
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gen werden . Ich kann jedenfalls mit gutem Gewissen um
Zustimmung zu diesem Gesetz bitten .
Dr. Johannes Fechner (SPD): Mit dem heute vor-
liegenden Gesetzentwurf zum neuen Bauvertragsrecht
und den wichtigen Änderungen im Kaufrecht schließen
wir ein Gesetzgebungsvorhaben ab, bei dem viele inten-
siv mitgearbeitet hatten – zum Teil über Jahre . Zu danken
gilt es deshalb allen Beteiligten . Hierzu gehören die Mit-
glieder der Expertenkommission zum Bauvertragsrecht,
die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen im Justizministeri-
um und alle Verbände, die sich durchweg konstruktiv an
der Erarbeitung dieses Gesetzentwurfes beteiligt haben .
In Deutschland gibt es rund 600 000 Handwerksun-
ternehmen, die über 500 Milliarden Euro Umsatz er-
wirtschaften und in denen über 5 Millionen Personen
beschäftigt sind . Für die SPD war deshalb klar, dass wir
das Handwerk, unsere Wirtschaftsmacht von nebenan,
unterstützen . Und das wollen wir nicht nur in Sonntags-
reden tun, sondern mit diesem Gesetzentwurf erleichtern
wir den Handwerkern in Deutschland das Geschäft . Zu-
künftig kann ein Handwerker grundsätzlich von seinem
Baustofflieferanten, der ihm mangelhaftes Material ge-
liefert hat und das er bei seinem Kunden eingebaut hat,
nicht nur neues Material, sondern auch die Ersetzung der
Ein- und Ausbaukosten verlangen . Erfasst sind jetzt auch
Fälle, bei denen mangelhaftes Material angebracht und
nicht nur eingebaut wurde . Verwendet also etwa ein Ma-
ler mangelhafte Farbe, kann er die Kosten der Neulackie-
rung von seinem Lieferanten verlangen . Wichtig ist auch,
dass in einem solchen Fall der Handwerker entscheiden
kann, wer den Schaden repariert . Ihm und seinem Kun-
den bleibt also die Situation erspart, dass der Baustofflie-
ferant und damit ein dem Kunden völlig Unbekannter die
Reparatur vornimmt .
In einem Punkt hat sich die SPD nicht durchgesetzt .
Dies war bekanntlich der Grund, warum wir für diesen
Gesetzentwurf so lange gebraucht haben . Wir hätten
gerne die Haftung des Baustofflieferanten für Ein- und
Ausbaukosten bei Materialfehlern AGB-fest geregelt .
Leider wollten dies unsere Kolleginnen und Kollegen
von der Union aus Rücksicht auf die Interessen des Han-
dels nicht . Es mag sein, dass es Argumente gibt für die
Annahme, die Rechtsprechung werde solche AGB-Aus-
schlüsse schon für unwirksam erklären . Aber wenn das
genau unser Ziel ist, wenn wir also verhindern wollen,
dass Handwerker in langwierigen, aufwendigen, teuren
Prozessen für ihre ordentlich erbrachte Arbeit ihrem
Geld hinterherlaufen müssen, dann hätten wir das auch
gleich ins Gesetz so hineinschreiben können . Immerhin
konnten wir eine verbindliche Evaluierung festschreiben,
die ausdrücklich untersuchen wird, wie die Praxis das
AGB-Klauselverbot handhabt .
Einen großen Fortschritt gibt es im Bauvertragsrecht
für Bauherren, aber auch für Bauunternehmen . Ausdrück-
lich haben Bauherren nun auch nach Vertragsabschluss
einen Rechtsanspruch auf Änderungen des Bauwerks .
Eigentlich gilt ja der Grundsatz „pacta sunt servanda“,
aber da man gerade eine Immobilie in der Regel ein Le-
ben lang nutzt, muss es möglich sein, wenn während der
Bauausführung ein neuer Wunsch entsteht, diesen auch
umsetzen zu können . Hierfür haben wir klare Regeln
geschaffen. Dem neuen Anordnungsrecht des Bauherrn
steht der Anspruch des Bauunternehmers gegenüber, die-
ses nur ausführen zu müssen, wenn eine angemessene
Vergütung hierfür bezahlt wird und wenn der Bauunter-
nehmer auch in der Lage ist, die angeordnete Änderung
auszuführen . Durch klare Regelungen zur Ausübung des
Anordnungsrechtes und zur Berechnung der angemesse-
nen Mehrvergütung für den Bauunternehmer verhindern
wir zudem Rechtsstreitigkeiten und damit einhergehende
Bauverzögerungen .
Handwerker, Bauherren und Bauunternehmen er-
halten durch dieses Gesetz mehr Rechtssicherheit . Wir
schaffen mehr Rechte für Verbraucher, Handwerker und
Bauunternehmen . Stimmen wir also diesem intensiv be-
ratenen und ausgewogenen Gesetz zu .
Sabine Poschmann (SPD): Als Handwerksbeauf-
tragte der SPD-Bundestagsfraktion begrüße ich, dass es
uns mit dem vorliegenden Bauvertragsrecht und im Spe-
ziellen mit den Regelungen zur kaufrechtlichen Mängel-
gewährleistung gelungen ist, ein zentrales Vorhaben aus
dem Koalitionsvertrag umzusetzen .
Mit der vorliegenden Regelung bleiben nun – wie
zwischen Union und SPD vereinbart – „Unternehmer
nicht pauschal auf den Folgekosten von Produktmängeln
sitzen“ . Dennoch hätte sich meine Fraktion gewünscht,
dass wir dieses Versprechen an die Handwerksunterneh-
men ohne Hintertüren für den Handel umgesetzt hätten .
Denn ohne die von uns geforderte AGB-feste Ausge-
staltung des Gewährleistungsrechts bleibt es dem Han-
del weiterhin möglich, die Übernahme der Einbau- und
Ausbaukosten zu verweigern . Ein entsprechender Passus
in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen genügt . Da
ist es auch nur wenig tröstlich, dass die Handwerker ge-
gen entsprechende Klauseln rechtlich vorgehen können .
Denn die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein Malermeister
in einen langwierigen und kostspieligen Rechtsstreit mit
einer Baumarktkette begibt, ist äußerst gering .
Meine Fraktion hat frühzeitig auf diese Lücke im Ge-
setzentwurf hingewiesen . Auch der Bundesrat hat in sei-
ner Stellungnahme deutlich gemacht, dass man durch die
Ausweitung des entsprechenden Klauselverbotes auf Ge-
schäftsbeziehungen zwischen Unternehmern Rechtssi-
cherheit für die Handwerksunternehmen hätte herstellen
können . Ich bedauere sehr, dass sich unser Koalitions-
partner dieser Auffassung nicht angeschlossen hat und
unserem Vorschlag für eine AGB-feste Ausgestaltung
nicht gefolgt ist .
Umso wichtiger ist es, dass der Ausschuss für Recht
und Verbraucherschutz die im Gesetzestext festgeschrie-
bene Evaluierung der Regelungen konkretisiert hat . Wir
legen Wert darauf, dass hierbei die Auswirkungen des
Gesetzes auf die unternehmerische Praxis genau unter
die Lupe genommen werden . Sollte es hier Fehlentwick-
lungen geben, die das Handwerk benachteiligen, müssen
wir nachbessern . Nur dann werden wir dem Versprechen
an die vielen kleinen Handwerksunternehmen in unse-
rem Land gerecht, dass sie nicht länger für unverschulde-
te Folgekosten aufkommen müssen .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722340
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Karin Binder (DIE LINKE): Fast zehn Jahre haben
die Bundesregierung und Koalition gebraucht, um end-
lich eine Reform des Vertragsrechts vorzulegen und die
Verbraucherinnen und Verbraucher besser zu schützen .
Knapp ein Jahr brauchte der Bundestag, um nach der An-
hörung den Gesetzentwurf endlich zu verabschieden . Da-
mit hat sie über Jahre hinweg Menschen, die sich ihr ei-
genes Zuhause finanzieren, im Regen stehen lassen. Bei
anderen Gesetzesvorhaben, die ihr wichtig sind, ist die
Koalition schneller . Das ist unverantwortlich . Der Schutz
von Verbraucherinnen und Verbrauchern ist beim Bau
eines Eigenheims besonders wichtig . Die Realität ist,
dass 97 Prozent der Bauverträge Mängel aufweisen . Die
privaten Haus- und Wohnungsbesitzer sind aber Verbrau-
cherinnen und Verbraucher, denen die Kompetenz fehlt,
um das einschätzen zu können . Für die meisten ist der
Bau die größte Investition ihres Lebens . 20 bis 30 Jahre
geht ein Großteil ihres Einkommens in die Finanzierung
der Wohnimmobilie .
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Bau-
vertragsrecht hat Licht und Schatten . Er schlägt wichtige
Verbesserungen vor, hat aber auch Mängel und benach-
teiligt Verbraucherinnen und Verbraucher gegenüber den
Bauunternehmen und Banken, die den Bau finanzieren.
Zu begrüßen ist, dass Bauunternehmer gegenüber pri-
vaten Bauherren zu einer Baubeschreibung verpflichtet
werden und dass es verbindliche Vereinbarungen zur
Bauzeit und ein zweiwöchiges Widerrufsrecht geben
soll . Außerdem sollen Obergrenzen für die Abschlags-
zahlungen eingeführt werden . Die Bauunternehmen
werden auch verpflichtet, die Bauunterlagen herauszu-
geben – was eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein
sollte . Zudem soll auch dem Bauunternehmer künftig
der Aufwand für den Austausch fehlerhafter Produkte
von den Herstellern erstattet werden . Das erleichtert die
gute Bauausführung. All das schafft mehr Klarheit für
Verbraucherinnen und Verbraucher . Doch die generelle
Benachteiligung privater Bauherren gegenüber den Un-
ternehmen wird nicht ausgeglichen .
Für Verbraucherinnen und Verbraucher bleiben erheb-
liche Nachteile bestehen, wenn sie bauen oder sanieren
wollen: So ist völlig unzureichend beschrieben, was
eigentlich ein Verbrauchervertrag ist . Regelungen zum
Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher sollen an
einem bestehenden Gebäude nur bei erheblichen Um-
baumaßnahmen greifen . Viele Bauleistungen sind damit
überhaupt nicht erfasst . Übliche Einzelleistungen, wie
der Rohbau eines Hauses oder der Einbau von Fenstern
und Türen, werden nicht in das neue Gesetzeswerk ein-
bezogen . Das wird dazu führen, dass Unternehmer die
Bauvorhaben in zahlreiche Einzelverträge aufteilen, um
sich vor gerechtfertigten Ansprüchen der Verbraucherin-
nen und Verbraucher zu drücken . Eine solche erhebliche
Verhinderung von Verbraucherschutz ist für die Linke
nicht hinnehmbar .
Außerdem ist es in der Baubranche üblich, Kasse
zu machen, bevor gebaut wird . Es muss doch endlich
unterbunden werden, dass Unternehmen von Verbrau-
cherinnen und Verbrauchern hohe Abschlags- und Si-
cherheitszahlungen verlangen, ohne dass eine Fertigstel-
lungsgarantie gegeben wird . Wir sagen: Die Höhe der
Sicherheitsleistung muss bei 20 Prozent gedeckelt wer-
den. Häufig werden Verbraucherinnen und Verbraucher
vertraglich genötigt, vor der Schlüsselübergabe 100 Pro-
zent des Vergütungsanspruchs an die Werkunternehmer
auszuzahlen . Das macht es aber erheblich schwerer, spä-
ter berechtigte Mängelansprüche durchzusetzen . Wir sa-
gen: Ein Bauvertragsrecht, das Verbraucherschutz ernst
nimmt, muss sicherstellen, dass erst gezahlt wird, wenn
die Leistung ordnungsgemäß erbracht wurde . Bauherren
müssen zuerst die Möglichkeit haben, mit Expertinnen
und Experten ihrer Wahl den Bau in Ruhe abzunehmen .
Dringend erforderlich ist außerdem ein gesetzlich gere-
geltes Kündigungsrecht der Verbraucherinnen und Ver-
braucher bei Insolvenz des Bauunternehmens . Bei einer
Insolvenz erhöhen sich die finanziellen und zeitlichen
Risiken für die Eigenheimbauer erheblich .
Leider zeigt sich auch bei dem Gesetzentwurf zum
Bauvertragsrecht, dass es sich die Bundesregierung
zur Aufgabe macht, Unternehmen vor Verbrauchern zu
schützen, anstatt den Verbraucherschutz zu stärken . Den
Gesetzentwurf lehnen wir daher ab .
Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dieses
Gesetz war jetzt zwar auch eine Weile in der Versenkung
verschwunden, aber am Ende muss ich positiv vermer-
ken, dass die Zeit offenbar sinnvoll genutzt worden ist.
Es ist ja leider eher selten in dieser Legislatur, dass die
Erkenntnisse aus Anhörungen tatsächlich noch berück-
sichtigt und eingearbeitet werden . Hier ist es jedenfalls
mal tatsächlich so gelaufen, und das verdient auch das
Lob der Opposition . Zunächst zur kaufrechtlichen Män-
gelhaftung: Handwerker, die vom Hersteller mit fehler-
hafter Ware beliefert wurden, sollen künftig auch für die
Kosten für den Ein- und Ausbau der Waren beim Kunden
entschädigt werden . Zwei Probleme wurden im Verfah-
ren erkannt und behoben . Auch Handwerker, die ihre
Ware nicht direkt einbauen, sondern verarbeiten, wie
beispielsweise die Maler ihre Farbe, sollen von der Neu-
regelung erfasst werden . Das ist zu begrüßen . Außerdem
sollte der Lieferant im Ursprungsentwurf ein Wahlrecht
haben, ob er dem Handwerker den Schaden ersetzt oder
die Arbeiten selbst vornimmt . Dabei wäre es für den ei-
gentlichen Kunden zu der befremdlichen Lage gekom-
men, dass er plötzlich ein anderes als das von ihm beauf-
tragte Unternehmen in sein Haus lassen müsste . Dieses
Wahlrecht ist nunmehr zu Recht gestrichen worden . Mit
diesen Verbesserungen wurde den Interessen der Betei-
ligten angemessen Rechnung getragen .
Nicht ganz so schlank und eindeutig sind die Neurege-
lungen zum Bauvertragsrecht geworden . Unstreitig sind
da zunächst mal die Verbesserungen für die Verbraucher,
also die klassischen „Häuslebauer“ . Hier werden endlich
Pflichten zur Baubeschreibung und zu Vereinbarungen
über eine verbindliche Bauzeit eingefügt, die für mehr
Klarheit und Rechtssicherheit sorgen . Ob die Verbrau-
cher allerdings mit ihrem neuen Widerrufsrecht bei Bau-
verträgen glücklich werden, wage ich zu bezweifeln .
Läuft alles nach Plan, wird der Verbraucher ordnungs-
gemäß darüber belehrt, dass er fristgerecht widerrufen
kann, aber die bis dahin angefallenen Kosten tragen
muss . Ist der Verbraucher nicht ordnungsgemäß belehrt
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22341
(A) (C)
(B) (D)
worden, läuft die Widerrufsfrist nicht ab, und er kann
noch ein ganzes Jahr lang widerrufen, wobei dann be-
reits erheblich Summen verbaut sein können . In diesem
Fall ist es unangemessen, wenn das Gesetz trotz fehler-
hafter Belehrung eine verschuldensunabhängige einsei-
tige Kostentragung festlegt . Ein solches Widerrufsrecht
ist für den Verbraucher letztlich gefährlicher als gar kein
Widerrufsrecht .
Problematisch ist ebenfalls, dass die Ausnahme von
der Pflicht zur Stellung einer Bauhandwerkersicherung
nicht mehr für Verbraucher schlechthin, sondern nur
noch für Verbraucherbauverträge im Sinne des § 650h
BGB gilt . Das ist eine unnötige Schlechterstellung der
Verbraucher gegenüber heute . Nicht nur für Verbraucher,
sondern für alle Auftraggeber soll es künftig ein Anord-
nungsrecht für Änderungen am Bau geben . Das Baurecht
soll damit flexibler werden. Dem Änderungswunsch des
Bestellers steht aber logischerweise ein Anspruch auf
Vergütungsanpassung des Unternehmers gegenüber . Die
Ermittlung der Höhe dieses Anspruchs ist leider extrem
kompliziert . Zunächst soll der Unternehmer ein Angebot
über die Mehrvergütung abgeben und sich darüber mit
dem Bauherrn einigen . Wenn innerhalb von 30 Tagen
keine Einigung erzielt wird, kann der Bauherr entweder
seinen Änderungswunsch zurücknehmen, oder der Un-
ternehmer kann 80 Prozent der Summe aus seinem An-
gebotsvorschlag als Abschlagszahlung geltend machen .
Dem Besteller bleibt als Alternative nur, die Höhe der
Vergütungsanpassung durch eine einstweilige Verfügung
vor Gericht klären zu lassen . Immerhin haben Sie das
zusätzliche Sachverständigengutachten wieder gestri-
chen, das noch vor einer gerichtlichen Verfügung hätte
eingeholt werden sollen . Das ganze Verfahren ist ohne-
hin schon so kompliziert, dass es für private Verbrau-
cher eher nicht handhabbar sein dürfte . Da ist es mehr
als gerecht, dass Sie die ursprüngliche Bevorzugung der
öffentlichen Hand als Bauherr wieder gestrichen haben.
Im Regierungsentwurf war noch vorgesehen, dass im
Bereich der öffentlichen Aufträge der Rückgriff auf Ein-
zelteile der VOB/B möglich sein sollte . So hätten sich
verhandlungsstarke Unternehmer die besten Regelungen
herauspicken können und zum Beispiel die Abschlags-
zahlung von 80 Prozent umgehen können . Das wäre eine
ungerechtfertigte Besserstellung gewesen .
Ob das neue Anordnungsrecht trotz seiner kompli-
zierten Regelung den Praxistest bestehen wird, bleibt
abzuwarten . In einem so streitanfälligen Bereich wie
dem Baurecht wird es mit Sicherheit nicht lange dauern,
bis wir die erste Gerichtsentscheidung dazu evaluieren
können . Damit die Gerichte dazu auch gute und schnelle
Entscheidungen treffen können, ist die Einrichtung von
Spezialkammern an den Zivilgerichten sicherlich hilf-
reich . In ihrem Änderungsantrag haben Sie dies jetzt im
Gerichtsverfassungsgesetz verbindlich vorgeschrieben –
leider ohne Beteiligung derjenigen, die diese Vorgaben in
der Praxis umzusetzen haben, den Ländern . Ihr Hinweis,
es handele sich nicht um ein Zustimmungsgesetz, ist vor-
sichtig ausgedrückt nicht gerade diplomatisch .
Trotz der genannten Kritikpunkte sehe ich das berech-
tigte Bedürfnis nach Neuregelungen im Bauvertragsrecht
und bei der kaufrechtlichen Mängelhaftung . Daher stim-
men wir dem Gesetz zu . Eine gründliche Evaluation halte
ich allerdings für unumgänglich .
Anlage 20
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– des von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkom-
men vom 19. Februar 2013 über ein Einheitli-
ches Patentgericht
– des von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung patent-
rechtlicher Vorschriften auf Grund der europä-
ischen Patentreform
(Tagesordnungspunkt 42 a und b)
Sebastian Steineke (CDU/CSU):Knapp 40 Prozent
der Patentanmelder innerhalb der Europäischen Union
kommen aus Deutschland . Das ist eine beeindruckende
Zahl . Daran sieht man nicht nur, wie innovativ deutsche
Unternehmen arbeiten, sondern vor allem, wie wichtig
ein effektiver Patentschutz für unsere heimische Wirt-
schaft ist .
Schon im letzten Sommer haben wir hier im Bundes-
tag über die Patentreform debattiert . Dass wir die nun
vorliegenden zwei Gesetzentwürfe der Bundesregierung
heute als Paket beraten können, war lange Zeit nicht klar .
Grund war der Brexit im vergangenen Jahr . Das Verei-
nigte Königreich war das Zünglein an der Waage für die
Einführung des einheitlichen europäischen Patentsys-
tems; denn ohne die Ratifizierung des Übereinkommens
über ein einheitliches Patentgericht von Großbritannien
wären die beiden Verordnungen zur Schaffung eines ein-
heitlichen Patentschutzes und der anzuwendenden Über-
setzungsregelungen nicht anwendbar . Dies war auch der
Grund, weshalb das parlamentarische Verfahren in die-
sem Hause zunächst nicht weitergeführt wurde . Nach-
dem die britische Seite angekündigt hatte, das Überein-
kommen trotz des Brexit zu ratifizieren, konnten wir den
Weg nun freimachen, und darüber bin ich sehr froh .
Die Patentreform sieht in erster Linie ein europäisches
Einheitspatent mit Wirkung für alle teilnehmenden Staa-
ten vor . Bislang zeichnete sich das Patentrecht durch ei-
nen parallelen Schutz für Erfindungen mit der sogenann-
ten Doppelschutzfunktion aus . Es gab das nationale und
das europäische Patent . Die Verletzung des europäischen
Patents wurde nach nationalem Recht behandelt . Dies
hatte zur Folge, dass der Patentanmelder gerichtlichen
Rechtsschutz nur auf nationaler Ebene und mit Wirkung
für das Territorium des jeweiligen Vertragsstaates in An-
spruch nehmen konnte . Dies bedeutet, dass es bislang
für europaweite Patente keinen einheitlichen Schutztitel
gab . Diese Schutzlücke wird nun mit der Patentreform
geschlossen . Mit dem Einheitspatent wird es nunmehr ei-
nen europaweit einheitlichen Schutz geben . Im Zeitalter
der Globalisierung und des europäischen Binnenmarktes
ist dies eine absolute Notwendigkeit .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722342
(A) (C)
(B) (D)
Neben dem Schutz durch europäische Patente wer-
den wir allerdings auch den nationalen Patentschutz kei-
neswegs abschaffen. Deshalb wird mit dem Gesetz das
bestehende Verbot der doppelten Inanspruchnahme von
nationalen und europäischen Patenten neu gestaltet . An
der Aufhebung des Doppelschutzverbotes gab es durch-
aus Kritik . Dem trägt der Gesetzentwurf vor allem mit
der zusätzlichen Einführung der Einredemöglichkeit
bei doppelter Inanspruchnahme Rechnung . Durch diese
prozesshindernde Einrede kann die beklagte Partei eine
doppelte Inanspruchnahme vor einem nationalen Gericht
und dem Einheitlichen Europäischen Patentgericht unter
bestimmten Voraussetzungen vermeiden . Dies war für
uns ein zentraler Punkt, um eine Aufhebung des Doppel-
schutzverbotes in Betracht zu ziehen .
Unser nationales System hat sich bewährt . Um eine
nachhaltige Einschätzung über eine Weiterführung des
bisherigen nationalen Patentschutzes abgeben zu kön-
nen, ist es deshalb aus unserer Sicht auch sinnvoll, die
weitere Entwicklung erstmal abzuwarten, bevor man
über andere Modelle, die keinen Doppelschutz mehr
vorsehen, nachdenkt . Zudem ist ein Verfahren vor dem
Einheitlichen Europäischen Patentgericht deutlich teurer
als vor dem Bundespatentgericht, so dass der Weg zur
nationalen Gerichtsbarkeit nach wie vor eine deutliche
finanzielle Entlastung der hiesigen Patentinhaber zur
Folge hat . Auch mit der Kostenfrage beim Europäischen
Patentgericht haben wir uns auseinandergesetzt . Kleine
und mittelständische Unternehmen erhalten in Gerichts-
verfahren eine deutliche Ermäßigung . Damit werden die
Zugangsvoraussetzungen für das Rückgrat unserer Wirt-
schaft zur Patentgerichtsbarkeit deutlich erleichtert .
Die Zusammensetzung und der Aufbau der Gerichts-
barkeit sind im Übereinkommen geregelt . Das Einheitli-
che Patentgericht umfasst ein Gericht erster Instanz und
ein Berufungsgericht . Eine erstinstanzliche Regional-
kammer wird seinen Sitz in München haben . Sachlich
zuständig wird das Patentgericht für Einheitspatente, für
europäische Patente und für ergänzende Schutzzertifikate
sein . Für die klassischen europäischen Patente wird es für
eine Übergangszeit eine Opt-out-Möglichkeit geben, mit
der ein Patentinhaber sich dagegen aussprechen kann,
dass sein Patent der Gerichtsbarkeit des Europäischen
Patentgerichts unterfällt . Dies gibt den derzeitigen Pa-
tentinhabern in Deutschland eine zusätzliche Wahlmög-
lichkeit .
Ziel dieser Reform ist vor allem ein Mehr an Rechts-
sicherheit, eine System- und Verfahrensvereinfachung
sowie eine Kostenreduktion . Ich denke, dies haben wir
mit den vorliegenden Entwürfen erreicht . Ich freue mich
auch, dass die Entwürfe im Rechtsausschuss die Zustim-
mung aller vier Fraktionen erhalten haben . Dies zeigt,
dass wir hier auf dem richtigen Weg sind .
Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Wir sprechen heute
über einen Gesetzentwurf zu einer weiter gehenden Eu-
ropäisierung des Patentwesens .
Deutschland und die anderen Mitgliedstaaten der
Europäischen Union profitieren von den Grundfreihei-
ten . Der europäische Binnenmarkt ist durch den freien
Waren- und Dienstleistungsverkehr gekennzeichnet . Die
Vorzüge eines Austausches von Gütern über Landesgren-
zen hinweg erfordern spiegelbildlich den Schutz von Pa-
tenten auf europäischer Ebene .
Der Patentmarkt stellt sich gegenwärtig als fragmen-
tiert dar, und es zeigen sich beträchtliche Unterschiede
zwischen den nationalen Gerichtssystemen . Kleinere
Unternehmen können ihre Patente nicht durchsetzen oder
sich gegen unberechtigte Klagen wehren .
Mit diesem Gesetzentwurf wird nun ein Einheitliches
Patentgericht geschaffen. Zugleich wird mit der Einrich-
tung des neuen Gerichts die Einführung des europäi-
schen Patents mit einheitlicher Wirkung, das EU-Patent,
ermöglicht . Das Gericht wird künftig für Klagen gegen
die Erteilung des EU-Patents und auch für Klagen gegen
die Verletzung des EU-Patents zuständig sein . Die ein-
heitliche Wirkung des EU-Patents in den teilnehmenden
Staaten wird mehr Rechtssicherheit schaffen. Für die In-
anspruchnahme des Patentschutzes wird es insbesondere
nicht mehr auf den Ort der Rechtsverletzung ankommen .
Beim Europäischen Patentamt entfielen bisher 40 Pro-
zent der Anmeldungen auf solche aus Deutschland . Aus
diesem Grund wird der dezentralen Verteilung des Ein-
heitlichen Patentgerichts eine grundlegende Bedeutung
zukommen. Die Zentralkammer wird sich in Paris befin-
den, aber eine Außenstelle ist in München geplant, und es
treten noch vier Lokal- und Regionalkammern in Düssel-
dorf, Mannheim, München und Hamburg hinzu . Dies ist
für den Wirtschaftsstandort Deutschland wichtig . Patente
und ihre Durchsetzung sind ein wichtiger ökonomischer
Faktor . Patentschutz wirkt sich auf die Innovationskraft
aus .
Es ist noch kurz auf das positive Signal aus Großbri-
tannien einzugehen . Bedingung für das Einheitliche Pa-
tentgericht ist die Teilnahme der drei größten EU-Staaten:
Deutschland, Frankreich und das Vereinigte Königreich .
Mit der Ankündigung der Ratifizierung in London wird
das Einheitliche Patentgericht möglich . Die Ankündi-
gung ist aber auch als Signal zu verstehen, dass Groß-
britannien sich weiterhin dem europäischen Binnenmarkt
verpflichten möchte.
Ich bitte Sie um Zustimmung zu diesen Gesetzentwür-
fen .
Christian Flisek (SPD): Seit den 1960er-Jahren
wurde eine Reform des europäischen Patentsystems
angestrebt . Das Einheitliche Patentgericht setzt einen
Schlussstein für diese Reformbemühungen und schafft
damit Rahmenbedingungen, in denen sich innovative
Industrie im gesamten europäischen Binnenmarkt unter
einem starken Schutz entwickeln kann . Der Patentschutz
wird dadurch wesentlich erweitert und kann in allen
teilnehmenden Mitgliedstaaten durchgesetzt werden .
Anstelle vieler einzelner Blumen, die bisher an den ein-
zelnen Patentamten gepflückt werden mussten, ist nun
gleich der ganze Strauß aus einer Hand erhältlich . Das ist
ein großer Fortschritt .
Das Übereinkommen, das hier ratifiziert werden soll,
wurde von der Bundesrepublik am 19 . Februar 2013
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22343
(A) (C)
(B) (D)
unterzeichnet . Nach dem Brexit-Votum am 23 . Juni
2016 war unklar, ob der ursprüngliche Zeitplan zur Ein-
führung des Einheitlichen Patentgerichts eingehalten
werden kann . Wichtige Elemente des einheitlichen Pa-
tentgerichts wurden infrage gestellt, weil sie auf eine Be-
teiligung Großbritanniens aufbauen . Wir sind froh, dass
Großbritannien aus dem Projekt des einheitlichen Patent-
gerichts schlussendlich nicht austeigen möchte, und sind
froh, dass das Übereinkommen zum Einheitlichen Paten-
gericht nun umgesetzt werden kann . Der Bundestag trägt
mit der Ratifizierung des Übereinkommens das Seinige
bei, um das Projekt nun zügig zum Abschluss zu bringen .
Das einheitliche Patentgericht soll möglichst schnell auf-
gebaut werden und die Arbeit aufnehmen .
Es wurde beanstandet, dass die Kosten für eine Patent-
anmeldung in diesem System zu hoch seien . Tatsächlich
sind die Gebühren für das europäische Patent höher als
die Gebühren für nationale Patentanmeldungen . Natür-
lich sind die Kosten der Patentanmeldung ein wichtiger
Faktor, an dem sich jedes Patentsystem messen lassen
muss . Der Preis ist allerdings an der Gegenleistung zu
messen – und im europäischen Patentsystem ist der
Schutz wesentlich weitreichender als in den nationalen
Systemen . Im Ergebnis ist es preiswerter, ein europäi-
sches Patent zu erwerben als ein Dutzend nationaler Pa-
tente .
Das Europäische Patentgericht wird das deutsche Pa-
tentgericht nicht verdrängen . Das deutsche Patentgericht
leistet ausgezeichnete Arbeit und ist dank der Mitarbeit
technischer Richter eines der modernsten und besten Pa-
tentgerichte in Europa . Diese stärken sollen beibehalten
und genutzt werden, und das deutsche Patentgericht wird
weiterhin über deutsche Patente entscheiden .
Zu einem funktionsfähigen europäischen Patentsystem
gehört nicht nur das Europäische Patentgericht, sondern
auch das Europäische Patentamt . Bei dem Europäischen
Patentamt hat sich in den letzten Jahren eine Unruhe un-
ter den Mitarbeitern breitgemacht . Ich sage das nicht nur
aufgrund von Berichterstattungen in Zeitungen – obwohl
hier auch umfassend der Führungsstil des Präsidenten
kritisiert wurde . In persönlichen Gesprächen wurde mir
von Mitarbeitervertreten, ehemaligen Beschäftigen im
Patentamt, zur Lage der Arbeitsbedingungen im Euro-
päischen Patentamt berichtet . Hier wurde berichtet, dass
die Stimmung im Amt durch ein Übermaß von Melde-
pflichten vergiftet sei, und Arbeitnehmer würden dazu
aufgerufen, sich gegenseitig zu denunzieren . Die Ausein-
andersetzungen eskalierten erstmals Anfang letzten Jah-
res, als zwei Gewerkschaftsvertreter entlassen wurden .
Besonders problematisch sind solche Entlassungen, weil
die Rechtsschutzmöglichkeiten im EPA beschränkt sind .
Das EPA hat einen Sonderstatus und unterliegt keiner
nationalen oder europäischen Gerichtsbarkeit . Es ist da-
mit eine Art Raumschiff, das von der restlichen Rechts-
ordnung abgeschirmt nach eigenen Regeln funktioniert .
Rechtlicher Schutz kann nur vor Beschwerdekammern
erlangt werden . Mit der Unabhängigkeit dieser Be-
schwerdekammern steht und fällt eine faire Behandlung
der Arbeitnehmer . Die Unabhängigkeit der Beschwerde-
kammern ist jedoch dann in Gefahr, wenn der Präsident
für die Suspendierung unliebsamer Richter wirbt . Neben
den beschränkten Rechtschutzmöglichkeiten verschärft
das besonders intensive Abhängigkeitsverhältnis der Ar-
beitnehmer am Patentamt die Lage . Das Abhängigkeits-
verhältnis zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber beim
EPA ist besonders stark, weil die soziale Absicherung im
Wesentlichen über ein System des EPA erfolgt . Bei je-
dem Konflikt mit dem Präsidenten riskieren die Arbeit-
nehmer damit wesentliche Grundlagen ihrer Existenz .
Neben der Kritik der Arbeitnehmer im EPA tritt die
Kritik der Patentanwälte . Patentanwälte, die regelmäßig
am EPA Patente beantragen, stellen eine Verschlechte-
rung der Qualität der Patente fest . Diese Verschlechte-
rung führen sie ebenfalls auf die Personalführung im Amt
zurück .
Das europäische Patentamt hat seit seiner Gründung
eine äußert erfolgreiche Entwicklung genommen . Die
Strukturen des EPA sind – auch für Arbeitnehmer – funk-
tionstüchtig, wenn die Führung sich nicht gegen, sondern
an die Seite der Mitarbeiter stellt . Wir sind hier mit der
Kritik nicht allein, die Kollegen aus dem niederländi-
schen Parlament beschäftigen sich ebenfalls mit den Zu-
ständen am EPA . Die Bundesrepublik Deutschland hat
allerdings als Sitzstaat der größten Niederlassung des Pa-
tentamtes eine besondere Verantwortung, diese Missstän-
de zu beseitigen und damit für ein einwandfreies Funkti-
onieren des europäischen Patentsystems zu sorgen .
Harald Petzold (Havelland) (DIE LINKE):Wir re-
den heute hier in zweiter Lesung über einen besseren
Schutz von Erfindungen in Europa durch ein einheitli-
ches Patentgericht . Ziel des dafür von der Bundesregie-
rung vorgelegten Gesetzentwurfes ist es, die Rahmenbe-
dingungen für die innovative Industrie im europäischen
Binnenmarkt durch einen besseren Schutz von Erfindun-
gen nachhaltig zu stärken . Die besondere wirtschaftli-
che Bedeutung eines flächendeckenden einheitlichen
Patentschutzes in Europa liege in der Kostengünstigkeit
und darin, dass er „in einem Verfahren vor dem Einheit-
lichen Patentgericht mit Wirkung für alle teilnehmenden
EU-Mitgliedstaaten durchgesetzt werden kann“, so heißt
es in der Begründung . Insbesondere die deutsche Indus-
trie, auf die rund 40 Prozent der an Anmelder aus Euro-
pa erteilten europäischen Patente entfallen, soll von dem
verbesserten Schutz ihrer Erfindungen profitieren. Das
Einheitliche Patentgericht soll bei Streitigkeiten über
Patente, die vom Europäischen Patentamt erteilt wurden,
mit europaweiter Wirkung entscheiden . Deren erste In-
stanz soll ihren Sitz in Paris nehmen, mit Außenstellen
in London und München . Die Berufungsinstanz soll in
Luxemburg angesiedelt werden . In der Bundesrepublik
Deutschland soll eine Abteilung der Zentralkammer in
München und jeweils eine Lokalkammer in Düsseldorf,
Hamburg, Mannheim und München eingerichtet werden .
Die Linke unterstützt diesen besseren Schutz von
Erfindungen in Europa und damit grundsätzlich diesen
Gesetzentwurf . Im Zusammenhang mit der angestreb-
ten Konsistenz und Kostenersparnis für die streitenden
Parteien ist die vorgesehene Errichtung eines Einheitli-
chen Patentgerichts zu begrüßen . Denn bisher muss bei
Nichtigkeitsklagen und Verletzung vor den jeweiligen
nationalen Gerichten geklagt werden, und die Wirkung
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722344
(A) (C)
(B) (D)
der gerichtlichen Entscheidung bleibt auf das jeweilige
Staatsgebiet beschränkt . Trotzdem bleiben für uns Kri-
tikpunkte offen. So bedauern wir es sehr, dass die Kos-
tentragfähigkeit für kleine und mittlere Unternehmen,
KMU, infrage steht . Während sich die Gerichtskosten im
Rahmen bewegen, sind die Vertretungskosten sehr hoch
und aufgrund von Ausnahme- und Ermessensregelungen
unkalkulierbar . Damit gehen sie mit einem hohen Risiko
einher . Wirksame Maßnahmen zur Förderung von KMU
wären auf der Erteilungsseite eine Rabattierung der
Amtsgebühren und auf der Durchsetzungsseite die Aus-
weitung der Prozesskostenhilfe auf juristische Personen
und die Schaffung einer geeigneten Prozesskostenversi-
cherung . Doch davon ist bisher nichts im europäischen
Patentpaket zu finden. Profiteure des Einheitspatent-Pa-
kets sind diejenigen, die einen geografisch möglichst
breiten Patentschutz benötigen und über die erforderli-
che Finanzausstattung verfügen, um die hierfür und für
die gerichtliche Durchsetzung ausgerufenen Kosten zu
tragen .
Trotzdem bleibt meine Fraktion insgesamt bei ihrer
Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf und fordert, in
der Umsetzung die von uns kritisierten Sachverhalte im
Blick zu behalten und die gesetzlichen Regelungen zu
korrigieren, sollten sich unsere Befürchtungen bewahr-
heiten .
Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Als
wir das letzte Mal über das Europäische Einheitliche
Patentgericht sprachen, am 23 . Juni 2016, stimmten die
Briten gerade für ihren Ausstieg aus der Europäischen
Union . Ein schwarzer Tag für Europa, der zunächst auch
das Verfahren über das Einheitliche Patentgericht zum
Stillstand brachte . Denn das neue Patentgericht soll ne-
ben der Zentralkammer in Paris und einer Abteilung in
München auch eine dritte Abteilung in London haben .
Nun hat Großbritannien aber angekündigt, das Abkom-
men über das Einheitliche Patentgericht, dessen Umset-
zungsgesetz wir heute debattieren, doch ratifizieren zu
wollen . Das ist gut so .
Was sind die Vorteile des Einheitspatentes? Dazu muss
man sich die Struktur der Patente in der EU vor Augen
führen . Es gibt zunächst das nationale Patent, das bei uns
nach deutschen Vorschriften erteilt wird . Daneben gibt
es auch schon bisher die Möglichkeit eines Europäischen
Patents, das aber faktisch nur ein Bündel aus nationalen
Patenten ist . Rechtsschutz bei diesem Patent ist auch nur
über die jeweiligen nationalen Staaten, die im „Bündel-
patent“ erfasst sind, möglich .
Was also fehlt, ist ein Patent, dessen Schutzwirkung
einheitlich für die Vertragsstaaten des Europäischen Pa-
tentabkommens gilt . Dieses Ziel soll jetzt mit diesem
Gesetz realisiert werden . Für den Patentinhaber bedeutet
dies, dass er das Einheitspatent anstelle oder neben dem
nationalen Patent oder dem bisherigen Europäischen
„Bündelpatent“ wählen kann . Bekommt er das Einheits-
patent erteilt, so kann er sich im Streitfall an das Einheit-
liche Patentgericht wenden und ein Urteil erlangen, dass
es seiner Gegenseite in allen Mitgliedstaaten untersagt,
sein Patent zu vertreiben oder herzustellen . Eine Vielzahl
nationaler Verfahren, wie jetzt beim „Bündelpatent“ er-
forderlich, wird vermieden .
So positiv das alles klingt, das Einheitspatent hat
einen Haken: Es ist teuer . Ein Verfahren vor dem Ein-
heitlichen Patentgericht wird voraussichtlich ungefähr
doppelt so viel kosten wie ein Verfahren vor den deut-
schen Behörden . Allerdings bekommt man auch mehr für
sein Geld, denn die rechtliche Wirkung des Schutzes gilt
für alle Vertragsstaaten . Müsste der Patentinhaber Ver-
fahren vor mehreren nationalen Gerichten durchführen,
wie es derzeit beim Bündelpatent der Fall ist, kann es
sogar noch teurer werden . Wir müssen aufpassen, dass
keiner zurückbleibt und dass das Einheitspatent nicht
zu einem Privileg der großen Konzerne verkommt . Die
Kostenfrage können wir nicht im nationalen Alleingang
regeln, deshalb muss die Bundesregierung sich jetzt auf
EU-Ebene dafür einsetzen, dass Programme zur Un-
terstützung von KMU, wie sie die Kommission bereits
angekündigt hat, auch tatsächlich durchgesetzt werden .
Wenn das nicht klappt, müssen wir über das zugrunde-
liegende Übereinkommen nachverhandeln . Man könnte
zum Beispiel die Prozesskostenhilfe auf KMU ausdeh-
nen, wenn sie die Kosten des Verfahrens nicht bestreiten
können . Denn Rechtsschutz muss jedem möglich sein,
und Rechtsdurchsetzung darf nicht am Geld scheitern .
Die Frage des angemessenen Rechtsschutzes ist auch
der Punkt, der mich beim zweiten Gesetz beschäftigt, das
wir heute debattieren . Mit dem Begleitgesetz passen wir
das deutsche Recht an das neue europäische Patentrecht
an . Das ist weitgehend sinnvoll und erforderlich, weshalb
ich nur auf einen Punkt eingehen will: die Aufhebung des
Doppelschutzverbotes .
Bisher war es nicht möglich, dass ein nationales Pa-
tent in Deutschland neben dem europäischen (Bündel-)
Patent Wirkung entfaltet . Das soll sich mit dem Einheits-
patent nun ändern . Beide Patente – das Einheitspatent
und das deutsche Patent – sollen nach dem Gesetzent-
wurf nebeneinander bestehen können . Das bedeutet, dass
Patentinhaber bei Verletzung ihres Patentes zwischen
zwei Rechtswegen den Weg aussuchen können, der ihnen
mehr Schutz bietet . Entweder ziehen sie vor das Einheits-
gericht und klagen wegen Verletzung des Einheitspaten-
tes, oder sie wählen das deutsche Patentgericht wegen
Verletzung des nationalen Patentes . Ob diese Wahlfrei-
heit notwendig ist, ist schon zweifelhaft . Was aber in
jedem Fall gewährleistet werden muss, ist ein ausrei-
chender Schutz des Beklagten . Der Gesetzentwurf sieht
dazu die „Einrede der doppelten Inanspruchnahme“ vor,
die der Beklagte vor dem Patentgericht geltend machen
kann, wenn ein Verfahren gegen ihn aus derselben Sache
bereits beim Einheitlichen Patentgericht rechtshängig
oder das Verfahren sogar schon abgeschlossen ist .
Das Übereinkommen zum Einheitspatentgericht ent-
hält aber keine Einrede der doppelten Inanspruchnahme
für den umgekehrten Fall . In der Begründung des Ge-
setzentwurfes heißt es: „Im Übrigen, insbesondere nach
Abschluss des nationalen Verfahrens, ist auch das Ein-
heitliche Patentgericht aufgerufen, eine Lösung für den
Fall der doppelten Inanspruchnahme zu finden.“
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22345
(A) (C)
(B) (D)
Letztlich werden Richter des neuen Einheitsgerichtes
mangels konkreter Regelung höchstens den Einwand des
Rechtsmissbrauchs gelten lassen können . Das ist aber al-
les andere als Rechtssicherheit, die doch mit der Verein-
heitlichung im Patentrecht angestrebt wurde . Wir müssen
also auf europäischer Ebene nachbessern .
Wenn wir das schon auf europäischer Ebene im Pa-
tentrecht nachbessern, können wir auch gleich die weite-
re offene Baustelle angehen – die Biopatente. Die Reform
wurde nicht genutzt, um die Patenterteilung für Pflanzen
und Tiere als Produkte „im Wesentlichen biologischer
Verfahren“ endlich eindeutig auszuschließen . Eine un-
verbindliche Mitteilung der Kommission reicht mir nicht
aus . Es droht eine steigende Privatisierung genetischer
Ressourcen zulasten von Züchtung, Landwirtschaft und
der Verbraucherinnen und Verbraucher . Das müssen wir
stoppen, um biologische Vielfalt zu erhalten und die
Kontrolle und Monopole von Lebensmittelketten durch
Biopatentinhaberinnen und -inhaber zu unterbinden .
Anlage 21
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erleich-
terung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen
(Tagesordnungspunkt 43)
Dr. Heribert Hirte (CDU/CSU): Erstens . Für mich
schließt sich mit dieser heutigen Rede ein großer Kreis
in meiner Arbeit hier im Deutschen Bundestag . Denn
es war meine erste Rede in diesem Hohen Haus, die ich
am 14 . Februar 2014 – vor über drei Jahren – anlässlich
der Beratung im Rahmen der ersten Lesung des jetzt
zum Abschluss kommenden Gesetzgebungsverfahrens
gehalten hatte . Und damals hatte ich bei diesem Gesetz-
entwurf darauf verwiesen, dass es im Insolvenzrecht
noch andere wichtige Baustellen gebe, die eigentlich
vordringlich abgearbeitet werden müssten – insbesonde-
re die Reform des Insolvenzanfechtungsrechts . Wir wa-
ren deshalb überzeugt, dass eine finale Behandlung des
hiesigen Konzerninsolvenzgesetzes keinen Sinn mache,
wenn nicht zuvor oder jedenfalls gleichzeitig auch das
Insolvenzanfechtungsrecht – im Sinne übrigens unserer
Koalitionsvereinbarung – reformiert würde .
Diese zweite Baustelle erwies sich als deutlich kom-
plexer als gedacht, insbesondere wegen der Wünsche
des Fiskus . In der letzten Sitzungswoche aber haben wir
dieses „große Loch“ schließen können, und wenn nichts
Unvorhergesehenes passiert, wird der Gesetzentwurf am
morgigen Freitag auch den Bundesrat passieren . Damit
waren auch für das Konzerninsolvenzgesetz die Ampeln
auf Grün gestellt .
Das Gesetz, dessen Regierungsentwurf übrigens noch
unter der früheren Bundesregierung erarbeitet wurde und
dessen erste Vorarbeiten noch auf die letzte Große Koa-
lition zurückgehen (!), bildet den Abschluss – sicher nur
vorläufig – einer insolvenzrechtlichen Novellierungstrias
aus erstens dem ESUG, also dem Gesetz zur weiteren
Erleichterung der Sanierung von Unternehmen, zwei-
tens der Reform der Restschuldbefreiung und schließ-
lich heute drittens der Regelung der Konzerninsolvenz .
Alle Gesetze teilen das Ziel einer Erhaltung von Werten
und Arbeitsplätzen durch „Sanierung vor Zerschlagung“ .
Das ist ein richtiger Weg und konkrete soziale Marktwirt-
schaft .
Zweitens . Lassen Sie mich aber jetzt zunächst noch
einmal das Kernanliegen des heute abschließend zu be-
ratenden Gesetzentwurfs in Erinnerung rufen: Das Bild
des Bürgers vom Unternehmen ist noch immer geprägt
von der einzelnen Gesellschaft, meistens der GmbH oder
der Aktiengesellschaft . Die wirtschaftliche Realität ist
aber eine völlig andere . Unternehmensgruppen, teilweise
bestehend aus mehreren Hundert einzelnen Gesellschaf-
ten, bestimmen das Geschehen . Das gilt nicht nur für die
bekannten multinationalen Konzerne, sondern auch für
viele Mittelständler und sogar Handwerker .
Schon lange hat unsere Rechtsordnung auf dieses Phä-
nomen reagiert. So verlangen die Offenlegungsvorschrif-
ten des Bilanzrechts eine zusammengefasste Darstellung
aller Konzernunternehmen, um ein den tatsächlichen
Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Fi-
nanz- und Ertragslage des – so ist es gemeint – gesamten
Konzerns zu vermitteln .
Im Gesellschaftsrecht wird das Phänomen Konzern an
zahlreichen Stellen aufgegriffen. Es begründet unter hier
nicht weiter interessierenden Voraussetzungen Durch-
griffsmöglichkeiten, Haftung, Zurechnung usw. Auf der
Grenze zum Arbeitsrecht tragen schließlich der Konzern-
betriebsrat und die konzernweite unternehmerische Mit-
bestimmung dem Vorliegen einer Unternehmensgruppe
Rechnung .
Stiefmütterlich behandelt wird der Konzern aber bis-
lang im Insolvenzrecht . Hier steht die einzelne natürliche
oder juristische Person im Vordergrund, genauso wie im
19 . Jahrhundert, als mit der Konkursordnung die Vor-
gängerin unserer heutigen Insolvenzordnung geschaffen
wurde . Das ist wenig überzeugend; denn dadurch werden
die sogenannten Synergievorteile, die bei der lebenden
Großorganisation Konzern den Gesellschaftern, Gläubi-
gern und damit auch den Arbeitnehmern zugutekommen,
in der Abwicklung vergeudet .
Das Insolvenzverfahren über die einer Unternehmens-
gruppe angehörigen Unternehmen kann nämlich bislang
an ganz unterschiedlichen Orten mit jeweils unterschied-
lichen Insolvenzverwaltern stattfinden. Die Praxis – dazu
zählen auch die Insolvenzgerichte – hat hier im Wege von
Auslegung und Vereinbarung zwar durchaus praktikable
Lösungen entwickelt, beispielsweise ein einheitliches In-
solvenzverfahren in Köln . Für die notwendige Rechtssi-
cherheit reicht dies aber nicht aus, zumal wir uns hier in
einer Konkurrenz vor allem mit England befinden (des-
sen „markttreibende Rolle“ in diesem Bereich übrigens
im Falle eines Brexits durchaus andere EU-Staaten sich
zu übernehmen anschicken) . Es ist relativ leicht möglich,
den sogenannten Mittelpunkt der hauptsächlichen Inte-
ressen eines Unternehmens nach England (oder einen
anderen EU-Staat) zu verlegen und dann dort das ganze
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722346
(A) (C)
(B) (D)
Insolvenzverfahren über eine Unternehmensgruppe ein-
heitlich abzuwickeln . Handeln ist daher geboten .
Wo konkret liegt das Problem? Fünf Fragenkreise las-
sen sich ausmachen: erstens die divergierende örtliche
Zuständigkeit der Insolvenzgerichte, wie gerade gesagt;
zweitens die Tatsache, dass dann noch unterschiedliche
Insolvenzverwalter in den verschiedenen Verfahren tä-
tig sind; drittens, dass wir es mit unterschiedlichen In-
solvenzmassen zu tun haben; viertens die Frage, wie das
eine Verfahren auf das andere Verfahren einwirkt; und
fünftens und letztens, ob man einen Masterplan machen
kann, mit dem man das gesamte Unternehmen einheitlich
sanieren kann .
Der Entwurf adressiert positiv drei der genannten Fra-
gestellungen und einen weiteren explizit negativ . Diese
„Selbstbeschränkung“ ist zunächst zu begrüßen; denn
in den streitigen Fragen, in denen noch keine endgültige
Klarheit besteht, sollte der Gesetzgeber nicht autoritativ
eingreifen .
Als Erstes ermöglicht er eine einheitliche örtliche Zu-
ständigkeit für das Insolvenzverfahren der verschiedenen
konzernangehörigen Unternehmen bzw . Gesellschaften .
Der Gesetzentwurf stellt für diesen Ort im Grundsatz
auf das sogenannte Prioritätsprinzip ab, also den Ort, an
dem zuerst ein Insolvenzantrag gestellt wurde . Das er-
scheint mir überzeugend, weil es nur für einen frühzeitig
gestellten Eigenantrag gilt und Missbrauch in Form von
Zuständigkeitserschleichungen auch noch durch andere
Maßnahmen verhindert wird .
Zum Zweiten stellt er klar, dass in solchen Fällen ein
einheitlicher Insolvenzverwalter bestellt werden darf,
dass also gerade nicht, wie bisher teilweise behauptet
wurde, zwischen den einzelnen insolventen Gesellschaf-
ten so starke Konflikte bestehen, dass immer – kosten-
intensiv – unterschiedliche Verwalter bestellt werden
müssen . Soweit das gleichwohl der Fall ist, sollen sie zur
Zusammenarbeit verpflichtet werden.
Zum Dritten will der Entwurf die Möglichkeit einer
freiwilligen Koordination durch ein besonderes neues
Koordinationsverfahren schaffen, also einen Masterplan.
Zusammengefasst: Was das Gesellschaftsrecht zu-
sammengeführt hat, das soll das Insolvenzrecht nicht
scheiden . Das ist im Ansatz richtig und wichtig; denn die
durch die Neuregelung klargestellte Möglichkeit, die In-
solvenzverfahren verschiedener konzernangehöriger Un-
ternehmen an einem Ort und in einer Hand abzuwickeln,
spart Kosten . Das ist gut für die Gläubiger, die Arbeit-
nehmer und damit für die Menschen in unserem Land .
Was der Entwurf andererseits nicht vorschlägt: Weder
werden die Insolvenzverfahren der einzelnen konzern-
angehörigen Unternehmen als solche zusammengefasst,
noch – und erst recht nicht – werden die Vermögensmas-
sen der einzelnen Gesellschaften zusammengefasst . Das
entspricht der Selbstständigkeit juristischer Personen
auch im Konzern . Würde man anders vorgehen – es gibt
durchaus Stimmen, die das fordern –, würde die Mög-
lichkeit der Kreditvergabe an die einzelnen Gesellschaf-
ten nachhaltig beeinträchtigt . Denn als Gläubiger braucht
man Berechenbarkeit, und das heißt auch: Man muss vor-
her wissen, mit wem man nachher in einem Boot sitzt,
wenn die Mittel des Kreditnehmers nicht mehr reichen .
Drittens . An diesem, wie gesagt, schon seit Beginn der
Legislaturperiode vorliegenden guten Gesetzentwurf ha-
ben wir in den vergangenen Monaten noch einige Punkte
verbessert:
Hinsichtlich des „Gruppen-Gerichtsstands“ haben wir
in § 3a InsO (neu) deutlich gemacht, dass die Begrün-
dung einer Zuständigkeit an einem anderen Ort als dem
Sitz eines Konzernunternehmens nur dann in Betracht
kommt, wenn dieses Unternehmen „nicht offensichtlich
von untergeordneter Bedeutung“ ist – und dies dahin
gehend konkretisiert, dass dies dann der Fall ist, wenn
dieses Unternehmen mehr als 15 Prozent (statt ursprüng-
lich 10 Prozent) der Mitarbeiter des Konzerns beschäf-
tigt oder seine Bilanzsumme oder seine Umsätze mehr
als 15 Prozent (statt ursprünglich 10 Prozent) der Kon-
zernzahlen betrugen, wobei das genannte Beschäftigten-
quorum in jedem Fall die Begründung einer abweichen-
den Zuständigkeit ausschließt . Damit wird sichergestellt,
dass das Insolvenzverfahren in jedem Fall nicht von dort
wegverlegt werden kann, wo es eine – relativ gesehen –
große Beschäftigtenzahl gibt .
Auf Wunsch meiner Fraktion haben wir zudem in § 3e
Absatz 2 InsO (neu) klargestellt, dass auch GmbH & Co
KGs als Konzerne „gelten“, auch wenn sie es natürlich in
unserem gesellschaftsrechtlichen Verständnis nicht sind .
Aber auch hier ist es sinnvoll, sicherzustellen, dass die
Insolvenz der Komplementärin einer Gesellschaft dort
abgewickelt wird, wo auch das Insolvenzverfahren über
die Gesellschaft selbst durchgeführt wird .
Schließlich wollen wir anordnen, dass die Kosten für
den „Verfahrenskoordinator“ (so „umgetauft“; im Regie-
rungsentwurf noch „Koordinationsverwalter“) von den
Kosten der Einzelverfahren abgezogen werden, sodass
insgesamt keine höheren Verwalterkosten entstehen (Ar-
tikel 3 des Gesetzentwurfs mit der Änderung von § 3 Ab-
satz 2 der Insolvenzrechtlichen Vergütungsverordnung) .
Denn natürlich soll der mit dem neuen Verfahren ange-
strebte Gewinn für die Insolvenzmasse(n) nicht durch
höhere Kosten des Insolvenzverfahrens konterkariert
werden .
Auf Wunsch der SPD-Fraktion haben wir schließlich
eine Regelung in § 269c Absatz 1 InsO (neu) aufgenom-
men, dass in jeden Gruppen-Gläubigerausschuss ein Ar-
beitnehmervertreter berufen wird .
Viertens . Die CDU/CSU-Fraktion hatte zudem gebe-
ten, zu prüfen, ob ähnlich den insolvenzrechtlichen Zu-
ständigkeiten nicht auch die finanzgerichtlichen Zustän-
digkeiten konzentriert werden könnten . Geprüft wurde
die zentrale Zuständigkeit eines Finanzgerichts für alle
finanzgerichtlichen Verfahren, an denen gruppenangehö-
rige Unternehmen beteiligt und die nach der Eröffnung
des Insolvenzverfahrens über die jeweiligen Unterneh-
men anhängig geworden sind .
Der Vorschlag wurde seitens des – insoweit federfüh-
renden – BMF als ein nachvollziehbares und grundsätz-
lich unterstützungswürdiges Anliegen angesehen, weil es
dazu beitragen könne, die Klärung der mitunter komple-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22347
(A) (C)
(B) (D)
xen steuerrechtlichen Verhältnisse in der insolventen Un-
ternehmensgruppe zu erleichtern . Denn dadurch könnten
wie durch die §§ 3a ff. InsO (neu) insbesondere wider-
sprüchliche Entscheidungen vermieden und damit die
Rechts- und Planungssicherheit erhöht werden .
Da allerdings aus Sicht des – insoweit federführen-
den – BMF eine Zuständigkeitskonzentration bereits auf
der Ebene der Finanzämter, die dem finanzgerichtlichen
Verfahren vorgelagert wäre und sämtliche Steuerrechts-
verhältnisse erfassen würde, nicht in Betracht kommt,
und da von der vorgeschlagenen finanzgerichtlichen
Zuständigkeitskonzentration Verfahren ausgenommen
werden sollen, die vor Eröffnung des Insolvenzverfah-
rens über die jeweils betroffenen Unternehmen anhängig
geworden sind, ließe sich über die angedachte Regelung
nur ein Bruchteil der vorgenannten Vorteile realisieren .
Eine zügige und koordinierte Bereinigung der gesamten
steuerrechtlichen Seite der Konzerninsolvenz ließe sich
damit wohl nicht erreichen, zumal die vor Insolvenzer-
öffnung bereits anhängig gewordenen finanzgericht-
lichen Verfahren ab dem Zeitpunkt der Eröffnung des
Insolvenzverfahrens ohnehin unterbrochen sind, soweit
sie nicht – was in der Praxis die Ausnahme ist – nach
den für das Insolvenzverfahren geltenden Vorschriften
aufgenommen werden (§ 155 Satz 1 FGO in Verbindung
mit § 240 Satz 1 ZPO) . Hiernach mögliche Vorteile, die
man sich von einer finanzgerichtlichen Zuständigkeits-
konzentration versprechen könnte, würden sich zudem
nicht in jedem Fall erzielen lassen . So sind die Finanz-
gerichte nicht für alle unternehmensrechtlich wichtigen
Steuerarten zuständig; beispielsweise entscheiden über
Gewerbesteuerbescheide außerhalb der Stadtstaaten die
Verwaltungs- und nicht die Finanzgerichte . Auch wäre
einem finanzgerichtlichen Gruppen-Gerichtsstand die
Entscheidungskompetenz für Streitigkeiten über die Aus-
legung des Rechts eines anderen Bundeslandes entzogen .
Schließlich sind den Möglichkeiten Grenzen gesetzt,
sämtliche Verfahren in Analogie zu § 3c Absatz 1 InsO
(neu) bei einem Senat zu konzentrieren .
Eine solche Konzentration auf einen Senat könnte je-
denfalls nicht solche Verfahren erfassen, die in die Zu-
ständigkeit der gesetzlich vorgesehenen Spezialsenate
gemäß § 5 Absatz 2 Satz 2 FGO fallen . Auch wäre frag-
lich, ob die Richter eines Senats ausreichen würden, um
sämtliche sich im Zusammenhang mit Konzerninsolven-
zen stellenden steuerrechtlichen Fragen (etwa umsatz-
steuerrechtliche einerseits und körperschaftsteuerrecht-
liche andererseits) mit der dafür jeweils erforderlichen
Fachkompetenz abzudecken .
Ein von uns diskutierter möglicher Ausweg könnte
darin bestehen, durch eine Öffnungsklausel zumindest
eine Zuständigkeitskonzentration innerhalb der jeweili-
gen Landesgrenzen zu ermöglichen . Aus Sicht von Un-
ternehmensgruppen, deren Organisation über Landes-
grenzen hinwegreicht, wäre es dann allerdings bei einer
dezentralen Zuständigkeit der Finanzgerichte geblieben .
Daher hätte diese Lösung ebenfalls keine verlässlichen
Beiträge zur „Gesamtbereinigung“ der steuerrechtlichen
Seite der Konzerninsolvenz leisten können . Ein denkba-
rer Vorteil hätte allerdings darin bestehen können, dass
sich auf Landesebene Gerichte mit spezieller Kompetenz
und Erfahrung auf dem Gebiet des Insolvenzsteuerrechts
entwickeln können . Andererseits ist in den Bundeslän-
dern mit Ausnahme von Bayern und Nordrhein-West-
falen jeweils ohnehin nur ein Finanzgericht zuständig,
sodass der insoweit anzustrebende Zustand schon weit-
gehend erreicht ist . Zudem werden in den meisten Fällen
mit insolvenzrechtlichem Bezug umsatz- und körper-
schaftsteuerrechtliche Fragen im Vordergrund stehen, die
bereits jetzt die Zuständigkeit von regelmäßig eingerich-
teten Spezialsenaten in umsatzsteuerlichen bzw . körper-
schaftsteuerlichen Angelegenheiten begründen, sodass
die Schaffung einer weiteren Spezialzuständigkeit einen
Kompetenzgewinn eher nicht hätte erwarten lassen . Für
Bayern (zwei Finanzgerichte) und Nordrhein-Westfalen
(drei Finanzgerichte) hätte sich zudem die Frage gestellt,
ob die erhofften Vorteile einer Konzentration den damit
verbundenen Regelungsaufwand rechtfertigen .
Vor diesem Hintergrund hätte sich die von uns in Be-
tracht gezogene Zuständigkeitskonzentration nicht in
der gewünschten Weise und auch nicht mit dem Grup-
pen-Gerichtsstand vergleichbaren Wirkungen umsetzen
lassen . Die erwogene Änderung der Finanzgerichtsord-
nung würde einen Beitrag, der über das geltende Prozes-
srecht und die dort bereits vorgesehenen Möglichkeiten
hinausgeht, zur Erreichung der mit dem Entwurf zum
Konzerninsolvenzrecht verfolgten Ziele kaum leisten .
Um korrespondierende Entscheidungen bezüglich der
im Zusammenhang mit Konzerninsolvenzen relevanten
Spezialproblematik der Behandlung von steuerlichen Or-
ganschaften (§ 2 Absatz 2 Nummer 2 UStG) zu fördern,
bietet die Finanzgerichtsordnung zudem bereits heute
das verfahrensrechtliche Instrumentarium der Beiladung
(§ 174 Absatz 5 Satz 2 in Verbindung mit Absatz 4 AO,
§§ 60, 60a FGO) von Organträgern bzw . Organgesell-
schaften und Finanzbehörden anderer Bundesländer zum
gerichtlichen Verfahren .
Fünftens . Und natürlich hätten wir uns auch noch die
Regelung anderer offener Fragen vorstellen können. Eine
davon bildet die Beteiligung von Arbeitnehmervertretern
im (vorläufigen) Gläubigerausschuss, ein Problem, das
schon im Rahmen der Reform durch das ESUG nicht
gelöst worden war . Denn nach geltendem und insoweit
hier jetzt auch nicht zu änderndem Recht sind hier kei-
ne Vertreter zulässig, die nicht auch gleichzeitig selbst
Arbeitnehmer bzw . Insolvenzgläubiger sind, was für Ge-
werkschaftsvertreter gerade nicht gilt .
In diesem Zusammenhang ist darüber hinaus allge-
mein die Frage klärungsbedürftig, wie die Vertretung
von Gläubigern im (vorläufigen) Gläubigerausschuss
ausgestaltet werden sollte . Dabei wollten wir insbeson-
dere auch sicherstellen, dass im (vorläufigen) Gläubi-
gerausschuss keine Vertreter mehr sitzen, hinter denen
keine Gläubigerinteressen mehr stehen . Mit diesem
auch als „empty voting“ bezeichneten Vorgehen ist eine
Übernahme und Umgestaltung von Gesellschaften in der
Insolvenz durch Finanzhaie zulasten sanierungsfähiger
Unternehmen und ihrer Arbeitnehmer möglich . Hier ist
es daher besonders bedauerlich, dass die SPD-Fraktion
keinen Handlungsbedarf gesehen hat .
Gleichwohl: Wir haben ein gutes Gesetz gemacht, und
dazu bitte ich um Ihre Zustimmung .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722348
(A) (C)
(B) (D)
Alexander Hoffmann (CDU/CSU): Man könnte sa-
gen: Was lange währt, wird endlich gut . Ich freue mich,
dass wir heute ein Thema abschließen können, zu dem
ich meine allererste Rede in diesem Hohem Hause ge-
halten habe .
Eine Zielsetzung dieses Gesetzentwurfs ist die Vermei-
dung suboptimaler Verwertungsergebnisse, die Vermei-
dung eines „Gegeneinanderarbeitens“ der verschiedenen
Insolvenzverwalter mit unterschiedlichen Verwertungs-
strategien, die Vermeidung unproduktiver Verfahrens-
verzögerungen . Es wird deutlich: Der Gläubigerschutz
steht im Mittelpunkt dieses Gesetzentwurfs und damit
der Schutz von Unternehmen, von Handwerksbetrieben,
aber vor allem auch von Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmern .
Bisher ließen sich zentrale negative Auswirkungen
durch dezentrale Insolvenzbewältigung in Konzernen ei-
gentlich nur dadurch einschränken, dass alle Beteiligten
guten Willens waren, zusammenzuarbeiten . Das hat al-
lenfalls für eine Abmilderung gereicht; aber ausschließen
konnte man negative Konsequenzen eigentlich nie .
Mit diesem Gesetzentwurf wollen wir die Vorausset-
zungen dafür schaffen, dass auch Konzerninsolvenzen
künftig rechtssicher und effektiv bewältigt werden kön-
nen . Dies ist umso wichtiger, als es gerade im Rahmen
von Konzerninsolvenzen oftmals um eine Vielzahl von
Arbeitsplätzen geht und dort beträchtliche Vermögens-
werte auf dem Spiel stehen .
Dabei baut der Gesetzentwurf auf den Zielbestim-
mungen des geltenden Insolvenzrechts, insbesondere
auf § 1 Insolvenzordnung, und konkretisiert diese Ziel-
bestimmungen praxistauglich und gut orientiert . Es soll
die Realisierung solcher Insolvenzbewältigungsstrate-
gien ermöglicht werden, die den Gesamterlös für alle
Gläubiger im Vergleich zum unkoordinierten Nebenei-
nanderherlaufen der verschiedenen Verfahren – so will
ich es einmal nennen – verbessern, ohne dabei aber eine
Schlechterstellung von Gläubigern einzelner Konzerntei-
le zu verursachen .
Dabei erliegt dieser Entwurf gerade nicht der Versu-
chung – das ist ganz wichtig –, ein konsolidiertes Kon-
zernverfahren einzuführen . Sie wissen, im Konzern-
und im Gesellschaftsrecht gelten die Grundsätze der
rechtlichen Trennung und der Selbstständigkeit . Diesen
Grundsätzen würde eine Massekonsolidierung voll und
ganz widersprechen . Auch unter dem Gesichtspunkt der
Rechtsklarheit und der Rechtssicherheit im Geschäfts-
verkehr wäre dies nicht zu vermitteln . Denn sonst müsste
sich künftig ein Gläubiger – zum Beispiel im Vorfeld ei-
ner Kreditvergabeentscheidung – zunächst einmal darü-
ber klar werden, in was für einer wirtschaftlichen bzw .
finanziellen Situation der Konzern insgesamt und seine
Teile sind, bevor er dann mit der entsprechenden Schuld-
nergesellschaft kontrahieren kann .
Die flexiblen Koordinierungsmechanismen, die hier
zum Einsatz kommen sollen – ich will es einmal das
Handwerkszeug nennen –, wurden von meinen Vorred-
nern schon dargestellt . Lassen Sie mich daher nur noch
handverlesen auf Einzelheiten eingehen:
Neben die allgemeine Gerichtsstandregelung, wie wir
sie kennen, in § 3 Insolvenzordnung tritt nun die Mög-
lichkeit eines Gruppengerichtsstands auf Antrag des
Schuldners . Dabei ist wichtig, dass das nicht als eine
ausschließliche Gerichtsstandregelung ausgestaltet ist,
was eine flexible Handhabe ermöglicht. Denn es kann
auch weiterhin Konstellationen geben, wo kein erhöhter
Koordinierungsbedarf gegeben ist; da erscheint die alte
Regelung durchaus praktikabel .
In der ersten Beratung gab es nun eine Reihe ver-
schiedener Punkte, die ich gerne überdacht haben wollte .
Auch hier bin ich sehr zufrieden, dass gegenüber dem
ersten Entwurf noch einiges erreicht werden konnte . Da-
her bitte ich um Ihre Zustimmung .
Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD): Mit der heutigen
Debatte schließen wir endlich das Dauerthema Kon-
zerninsolvenzrecht ab . Was noch in der letzten Legisla-
tur begann, kommt endlich zu einem glücklichen, einem
guten Ende .
Der Gesetzentwurf schafft Regeln für eine effektivere
Abwicklung von Insolvenzen konzernangehöriger Un-
ternehmen . Nach geltendem Recht sind die konzernan-
gehörigen Unternehmen jeweils eigene Rechtsträger mit
eigenen Vermögensmassen, für die jeweils eigene Insol-
venzverfahren durch die Insolvenzgerichte am Ort des
Sitzes des jeweiligen Unternehmens bearbeitet werden,
in denen gegebenenfalls jeweils verschiedene Insolvenz-
verwalter bestellt werden . Diese dezentrale Bearbeitung
kann zu Nachteilen führen, wenn die zu dem Konzern zu-
sammengeschlossenen Unternehmen eine wirtschaftliche
Einheit bilden, weil betriebs- und finanzwirtschaftliche
Funktionen der insgesamt verfolgten unternehmerischen
Tätigkeiten auf unterschiedliche Unternehmensträger
verteilt sind .
Durch die Dezentralisierung der Verwaltungs- und
Verfügungsbefugnis im Rahmen der Insolvenzverfahren
wird die Erhaltung der wirtschaftlichen Einheit der Un-
ternehmensgruppe erschwert und droht eine Verringerung
der Befriedigungsinteressen der Gläubiger, insbesondere
wenn die Insolvenzverwalter jeweils verschiedene, nicht
aufeinander abgestimmte Verwertungsstrategien verfol-
gen, und nicht zuletzt findet sich nun rechtssicher auch
die GmbH & Co . KG wieder .
Die damit verbundenen Reibungsverluste versucht der
Gesetzentwurf durch Einführung geeigneter Koordinati-
onsinstrumentarien zu minimieren; ganz vermeiden wer-
den wir diese nie . Durch die vorgesehenen Instrumenta-
rien sollen die Insolvenzverfahren, die über die einzelnen
Konzerngesellschaften eröffnet werden, besser aufeinan-
der abgestimmt werden .
Die Änderungen schränken die Spielräume zur Be-
stimmung des Gruppen-Gerichtsstands ein . Grundsätz-
lich kann der Gruppen-Gerichtsstand bei jedem Gericht
begründet werden, das für die Eröffnung des Verfahrens
über gruppenangehörige Unternehmen zuständig ist, die
nicht „von untergeordneter Bedeutung“ sind . Ob eine
untergeordnete Bedeutung anzunehmen ist, richtet sich
danach, ob die vorgesehenen Schwellenwerte für die Kri-
terien Bilanzsumme, Umsatzerlöse und Arbeitnehmer-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22349
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(B) (D)
zahlen überschritten sind . Diese Schwellenwerte werden
von 10 auf 15 Prozent angehoben . Gleichzeitig wird
die Kumulation gelockert . Künftig reicht es aus, wenn
zwei der drei Schwellen überschritten werden, wobei die
Überschreitung der auf die Arbeitnehmerzahlen bezoge-
nen Schwelle nunmehr zwingend ist .
Werden die Schwellen von keinem gruppenangehöri-
gen Schuldner erreicht, sieht Absatz 1 Satz 4 vor, dass
der Gruppen-Gerichtsstand jedenfalls bei dem Gericht
begründet werden kann, das für den gruppenangehörigen
Schuldner mit den meisten Arbeitsplätzen zuständig ist .
Uns Sozialdemokraten geht es in erster Linie um den Er-
halt von den Arbeitsplätzen . Deswegen begrüße ich diese
Änderung ausdrücklich .
Mit diesem Gesetz wird sichergestellt, dass die Ar-
beitnehmer im Gruppen-Gläubigerausschuss vertreten
sind . Aus SPD-Sicht wäre eine ausdrückliche Regelung
zur Vertretung der Arbeitnehmer bereits im vorläufigen
Gläubigerausschuss durch Gewerkschaftsvertreter wün-
schenswert gewesen . Da der Koalitionspartner trotz in-
tensiver Beratungen dazu nicht bereit war, findet sich
diese Regelung nicht mehr, glücklicherweise, weil für
eine solche Regelung sowieso kein praktisches Bedürfnis
mehr besteht . Die gerichtliche Praxis war schneller und
klüger . Nicht nur Arbeitnehmervertretungen aus dem Un-
ternehmen, sondern auch Mitglieder des Betriebsrats und
der Gewerkschaften werden zwischenzeitlich selbstver-
ständlich in den vorläufigen Gläubigerausschuss berufen.
Eine weitere Änderung betrifft den Begriff „Koordi-
nationsverwalter“, der durch „Verfahrenskoordinator“
ersetzt wird, um deutlich zu machen, dass sich dessen
Aufgaben von denen eines Insolvenzverwalters grund-
legend unterscheiden . Der Verfahrenskoordinator hat
zum Vorteil aller Insolvenzmassen auf eine abgestimm-
te Abwicklung der einzelnen Verfahren hinzuwirken . Er
verwaltet nicht die Insolvenzmassen der gruppenangehö-
rigen Schuldner . Insbesondere geht auf ihn nicht die Ver-
waltungs- und Verfügungsbefugnis in Bezug auf diese
Vermögensmassen über .
Da die Tätigkeit des Verfahrenskoordinators in der
Regel der Entlastung der einzelnen Insolvenzverwal-
tungen dient und das Koordinationsverfahren zu keinen
Mehrkosten führen soll, wird auch ein Abschlag in der
Höhe der Vergütung des Verfahrenskoordinators einge-
führt . Und das ist gut so .
Richard Pitterle (DIE LINKE): Aufgaben- und
Arbeitsteilung ist schon lange nicht mehr auf Betrie-
be und einzelne Unternehmen beschränkt . Das Ideal-
bild vom engagierten Einzelunternehmer, der Produkte
oder Dienstleistungen eigenverantwortlich entwickelt
und vermarktet, ist in allen Branchen ein Auslaufmo-
dell . Wettbewerbsdruck und eine zunehmend komplexe
Wirtschaftswelt zwingen Unternehmen dazu, sich Part-
ner zu suchen, mit denen sie gemeinsam an Lösungen
arbeiten . Bei der Verbindung von verschiedenen Unter-
nehmen sind der Phantasie in der Praxis keine Grenzen
gesetzt. Die Verflechtungen reichen von der einfachen
Kapitalbeteiligung über die gemeinsame Nutzung von
Ressourcen bis hin zu echten Beherrschungs- und Ge-
winnabführungsverträgen, die die zusammenarbeitenden
Unternehmen wie ein großes Unternehmen erscheinen
lassen. Landläufig werden diese durch Verträge oder Ka-
pitalbeteiligungen verbundenen Unternehmen als Kon-
zern bezeichnet .
Auch wenn verlässliche Statistiken insbesondere
durch internationale Verflechtungen schwer zu erstellen
sind, lässt sich diese Konzentration in allen Branchen be-
obachten . In vielen Bereichen dominieren Konzerne den
Markt bei Umsatz und Beschäftigten .
Trotz dieser Bedeutung der Konzerne bereitet die
rechtliche Behandlung von Konzernstrukturen dem
deutschen Recht nach wie vor erhebliche Probleme . Das
Gesellschaftsrecht geht grundsätzlich vom sogenannten
Trennungsgebot aus: Jedes Unternehmen eines Konzerns
ist rechtlich selbstständig . Auch im Steuerrecht gilt der
Grundsatz der Individualbesteuerung der einzelnen Ge-
sellschaften, auch wenn mit vielen Sonderregelungen
versucht wird, den Konzern insgesamt zu erfassen .
Nun sind es gerade in letzter Zeit international agie-
rende Konzerne, die wiederholt die Öffentlichkeit und
Steuerpolitik bewegt haben . Obwohl sie wie ein Unter-
nehmen nach außen in Erscheinung treten, können sie
die Aufteilung in verschiedene rechtlich selbstständige
Unternehmen ausnutzen, um Gewinne kleinzurechnen,
zu verschieben und so ihre Steuern auf ein Minimum
zu reduzieren . Erst kürzlich haben wir mit dem Gesetz
über Maßnahmen gegen Gewinnkürzungen und -verla-
gerungen erstmalig Regelungen für „multinationale Un-
ternehmensgruppen“ in die Abgabenordnung aufnehmen
müssen .
Im Insolvenzrecht, das heute Gegenstand der Beratun-
gen ist, gilt – ich zitiere den geschätzten Kollegen Hirte
aus seiner Kommentierung zur Insolvenzordnung –:
„Eine Person, ein Vermögen, eine Insolvenz .“ Bisher
gibt es in der Insolvenzordnung keine eigenständigen
Regelungen, wie bei Konzernen zu verfahren ist, wenn
einzelne Teile insolvent werden . Gerade bei stark ver-
flochtenen Unternehmen führt jedoch die Insolvenz einer
Gesellschaft häufig zu einem Dominoeffekt, der die an-
deren Gesellschaften und damit den Konzern insgesamt
in den Abgrund reißen kann . Die Insolvenzrichter und In-
solvenzverwalter haben es bisher jedoch geschafft, auch
Konzerninsolvenzen mit pragmatischen Lösungen zu
bewältigen . Wenn derartige Regelungen nun in der Insol-
venzordnung aufgenommen werden, ist das prinzipiell zu
begrüßen .
Das vorliegende Gesetz wählt einen minimalistischen
Ansatz . Konzentration auf ein gemeinsames Insolvenz-
gericht, ein paar Koordinierungsregeln und die Beschwö-
rung guter Zusammenarbeit der Beteiligten: Fertig ist das
„Konzerninsolvenzrecht“ . Allerdings halten viele der an-
gehörten Sachverständigen die Regelungen für unprak-
tikabel .
Wir begrüßen, dass Sie unseren Forderungen gefolgt
sind, der Anzahl der Beschäftigten für die Wahl des ge-
meinsamen Gerichtsstandes Vorrang einzuräumen und
auch die Arbeitnehmervertretung im gemeinsamen Gläu-
bigerausschuss sicherzustellen .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722350
(A) (C)
(B) (D)
Wir hätten uns aber insgesamt einen mutigeren Ansatz
gewünscht, der, wie es auch in der betrieblichen Steuer-
lehre gefordert wird, das Trennungsgebot zugunsten des
Einheitsgebotes zumindest bei stark verflochtenen Unter-
nehmen aufgibt . Wenn ein Konzern organisatorisch und
betriebswirtschaftlich wie ein Unternehmen agiert, sollte
er auch wie nur ein Unternehmen behandelt werden . Oder
wie der Volksmund sagt: mitgefangen, mitgehangen .
Das Konzept der sogenannten materiellen bzw . Mas-
sekonsolidierung kommt in den USA bei größeren Kon-
zerninsolvenzen regelmäßig erfolgreich zur Anwendung .
Gerade aus Gläubigersicht erscheint ein derartiges Ver-
fahren wünschenswert . Geschäftspartner vertrauen auf
die Stärke des Konzerns, wenn sie Verträge mit den ein-
zelnen Gesellschaften abschließen . Bei der Insolvenz ei-
nes Teiles müssen sie dann aber erkennen, dass das Ta-
felsilber unerreichbar fern bei der Mutter liegt und die
verstoßene Tochter leider nur leere Schubladen vorwei-
sen kann . Mit der Massekonsolidierung steht den Gläubi-
gern dann auch das Tafelsilber der Mutter zur Verfügung .
Und wenn der Konzern ohnehin wie ein Unternehmen
agiert, lässt sich die Sanierung einzelner Teile in einem
einheitlichen Verfahren für den ganzen Konzern effekti-
ver sicherstellen .
Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Man kann
wohl sagen, dass dieses Gesetz seit der ersten Lesung am
14 . Februar 2014 die Dauer der Legislaturperiode voll
ausgeschöpft hat . Ob es allein dadurch schon an Qualität
gewonnen hat wie ein reifer Käse, ist allerdings zweifel-
haft .
Wenn ein Gesetz so lange auf sich warten lässt, könn-
te man vermuten, dass sein Inhalt sehr fortschrittlich –
geradezu revolutionär – und innovativ sein muss, dass
sich die Gemüter der Koalitionsbeteiligten so sehr daran
erhitzen und das Verfahren deshalb so lange stockt und
nichts vor oder zurück geht .
Mit viel Spannung wurde also der Änderungsantrag
erwartet . Wer hineinschaut, wird aber eines Besseren be-
lehrt .
Ein wesentliches Anliegen des Gesetzes war es von
Anfang an, die gerichtliche Zuständigkeit zu konzen-
trieren, um Missbrauch durch Rosinenpickerei beim
Gerichtsstand zu vermeiden . Neu ist jetzt, dass die
Schwelle für ein gruppenangehöriges Unternehmen, das
einen Gruppengerichtsstand begründen kann, von 10 auf
15 Prozent der zusammengefassten Bilanzsumme ange-
hoben wurde . Das weicht den bisherigen Vorschlag also
eher auf .
Dafür haben Sie jetzt der Zahl der Arbeitsplätze ein
höheres Gewicht beigemessen . Erreicht kein gruppenan-
gehöriges Unternehmen den Schwellenwert, dann kann
der Gerichtstand bei dem Gericht begründet werden, das
für den gruppenangehörigen Schuldner mit den meisten
Arbeitsplätzen zuständig ist . Das ist nachvollziehbar und
gleicht die Erhöhung des Schwellenwertes wieder eini-
germaßen aus .
Neu ist außerdem die Umbenennung des Koordi-
nationsverwalters in „Verfahrenskoordinator“ . Laut
Gesetzesbegründung grenze dies die Tätigkeiten eines
Koordinationsverwalters besser von denen eines Insol-
venzverwalters ab . – Wow! Sie sehen: Es hat sich ge-
lohnt, ganze drei Jahre hierauf zu warten .
Meine damaligen Kritikpunkte sind daher heute noch
immer dieselben wie damals: Die Rolle des Koordinati-
onsverwalters wurde durch die Umbenennung nicht ge-
stärkt . Er soll bei unterschiedlichen Insolvenzverfahren
diese koordinieren und auf abgestimmte Abwicklung
der einzelnen Verfahren hinwirken, ohne wirkliche Wei-
sungsrechte oder sonstige Durchschlagskraft . Unter ei-
nem reifen Käse stelle ich mir etwas anderes vor .
Aber immerhin: Wenn er schon nicht wirklich bedeu-
tungsvoll sein wird, soll er nicht noch unnötig Kosten
zulasten der Insolvenzmasse verursachen . Das haben Sie
erkannt und bei der Vergütungsregelung Vorsorge getrof-
fen . Da der neue Verfahrenskoordinator die einzelnen In-
solvenzverwalter entlasten soll, bekommen diese künftig
einen Abzug von Ihrer Regelvergütung, damit insgesamt
keine Mehrkosten entstehen. Das finde ich gut.
Die Ausnahme sagt dann aber, dass der Abzug nicht
erfolgt, wenn das Koordinationsverfahren für die Ver-
walter Zusatzaufwand verursacht . Ich werde das Gefühl
nicht los, dass diese Ausnahme in der Praxis zur Regel
werden dürfte .
Daher bleibe ich dabei: Ob Koordinationsverwalter
oder Verfahrenskoordinator, diese Konstruktion über-
zeugt mich nach wie vor nicht, und wir werden dem letzt-
lich auch nicht unsere Zustimmung geben .
Immerhin haben Sie am Ende noch eine Verbesserung
der Arbeitnehmervertretung im Gruppen-Gläubigeraus-
schuss vorgenommen, die positiv zu bewerten ist . Am
Ende reicht das dann aus unserer Sicht noch für eine Ent-
haltung .
Zum Schluss möchte ich Ihren Blick aber doch noch
einmal über die Grenzen dieses Gesetzes hinausrich-
ten: Wie sagte der Kollege Hirte in der ersten Lesung so
schön: „Was das Gesellschaftsrecht zusammengeführt
hat, das soll das Insolvenzrecht nicht scheiden“ .
Daran gemessen ist durchaus noch einiges zu tun .
Denn der Grundwiderspruch zwischen Insolvenzrecht
und Steuerrecht ist noch lange nicht gelöst .
Steuerlich können Mütter und Töchter ihre Verluste
munter und lustig miteinander verrechnen . Geht aber ei-
ner Tochter die Luft aus, hat die Mutter plötzlich nichts
mehr damit zu tun .
Dass dies zu nicht hinnehmbaren Zuständen führt,
haben wir gerade erst bei den Verhandlungen mit den
Atomkonzernen über die Kosten der Atommüllendlage-
rung gesehen . Da haben wir dann im Einzelfall jetzt den
heiligen Trennungsgrundsatz einmal berechtigterweise
durchbrochen und per Gesetz festgelegt, dass die Mütter
auch bei der Insolvenz ihrer Atommüll-Töchter weiter
haften .
Was beim Atommüll richtig ist, kann auch im sons-
tigen Leben nicht völlig falsch sein . Insolvenzrecht und
Steuerrecht der Konzerne miteinander zu synchronisie-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22351
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ren bleibt eine Herausforderung für weitere Legislatur-
perioden .
In Ihrem heutigen Gesetzentwurf ist zwar nicht alles
Käse, aber für die wirklich wichtigen Fragen würde auch
der weitere Reifungsprozess nichts mehr bringen . Brin-
gen wir es also zu Ende .
Anlage 22
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung
des Strafgesetzbuches – Umsetzung des Rahmen-
beschlusses 2008/841/JI des Rates vom 24. Oktober
2008 zur Bekämpfung der organisierten Krimina-
lität (Tagesordnungspunkt 44)
Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): Die Bekämpfung
der organisierten Kriminalität prägt die rechtspolitische
Agenda in Deutschland seit den späten 1980er-Jahren .
Das Schadens- und Bedrohungspotenzial der organisier-
ten Kriminalität ist unverändert hoch . Es handelt sich um
ein komplexes und vielschichtiges Kriminalitätsphäno-
men, welches sich gesellschaftlichen und wirtschaftli-
chen Veränderungen schnell anpassen kann . Organisierte
kriminelle Gruppierungen betätigen sich dabei in allen
Kriminalitätsbereichen . Als typische Felder sind der
Rauschgifthandel und -schmuggel, die Kriminalität im
Zusammenhang mit dem Wirtschaftsleben oder Delikte
der Eigentumskriminalität zu nennen . Darüber hinaus
gewinnen die Deliktsfelder Cybercrime und Schleusen-
kriminalität immer weiter an Bedeutung . Ursache hier-
für ist die zunehmende Bedeutung des Internets und der
digitalen Welt . Insbesondere im sogenannten Darknet
werden kriminelle Marktplätze betrieben, in denen in-
kriminierte Güter erworben werden können . Es werden
unter anderem Drogen, Waffen, Falschgeld, gefälschte
Ausweise oder gestohlene Kreditkartendaten angeboten .
Ausschlaggebend für diese Entwicklung sind die Ano-
nymität und ein vermeintlich geringes Entdeckungsrisi-
ko, aber auch der Umstand, dass über die illegalen On-
linemarktplätze weltweit eine Vielzahl von potenziellen
Kunden unter Nutzung kryptierter Verbindungen erreicht
werden können, und dies alles ohne spezielle Computer-
kenntnisse .
Derartige Kriminalität stellt nicht nur eine Bedrohung
für den jeweils betroffenen Bürger oder des jeweils be-
troffenen Rechtsguts der Allgemeinheit dar, sondern es
besteht darüber hinaus die wachsende Gefahr der Unter-
wanderung und Korrumpierung staatlicher und gesell-
schaftlicher Institutionen . Folglich ist rechtspolitisches
Ziel die Schaffung einer gesetzlichen Maßnahme, welche
die organisierte Kriminalität besser bekämpfen kann –
auch in den modernen Medien .
Mit dem vorliegenden Gesetz zur Änderung des
Strafgesetzbuches überführen wir die europarechtlichen
Vorgaben aus dem Rahmenbeschluss 2008/841/JI in
das nationale Recht . In den Bereichen, in denen durch
die europäischen Vorgaben Anpassungsbedarf bestand,
wurden die notwendigen Veränderungen vorgenommen .
Der Rahmenbeschluss ist im Wesentlichen bereits schon
durch den bestehenden § 129 StGB umgesetzt . Allerdings
ist der Begriff der Vereinigung nach § 129 StGB in der
Ausformung, die er durch die Rechtsprechung des Bun-
desgerichtshofs erfahren hat, enger als die Definition der
Vereinigung in Artikel 1 des Rahmenbeschlusses . Des-
wegen wird eine Angleichung der Definitionen als auch
der Straftaten vorgenommen, die im Zusammenhang mit
der Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung began-
gen werden . Hierdurch werden die gegenseitige Aner-
kennung von Urteilen und gerichtlichen Entscheidungen
sowie die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit er-
leichtert . Die CDU/CSU-Fraktion ist Vorreiter, wenn es
darum geht, gute europarechtliche Rechtsrahmen zu un-
terstützen, zu fördern und dann auch in nationales Recht
umzusetzen . Ich würde mir wünschen, dass alle Fraktio-
nen im Bundestag ein vergleichbares Engagement für die
Sicherheit der Menschen in die Debatte einbringen .
Der Entwurf sieht insoweit vor, den Begriff der Ver-
einigung in § 129 Absatz 2 StGB-E legal zu definieren
als einen auf längere Dauer angelegten, von einer Fest-
legung von Rollen der Mitglieder, der Kontinuität der
Mitgliedschaft und der Ausprägung der Struktur un-
abhängigen organisierten Zusammenschluss von mehr
als zwei Personen zur Verfolgung eines übergeordne-
ten gemeinsamen Interesses . Damit wird den Vorgaben
des Rahmenbeschlusses Rechnung getragen und dieser
vollständig umgesetzt. Der Begriff ist folglich durch ein
personelles, zeitliches, organisatorisches sowie volunta-
tives Element charakterisiert . Durch diese ausdrückliche
gesetzliche Festlegung, wonach es weder einer förmli-
chen Festlegung von Rollen für ihre Mitglieder noch der
Kontinuität ihrer Mitgliedschaft noch einer bestimmten
Ausprägung ihrer Struktur bedarf, unterscheidet sich die
Vereinigung im Sinne des § 129 Absatz 1 Satz 1 i . V . m .
Absatz 2 StGB-E von der Vereinigung in der Auslegung
durch die derzeitige Rechtsprechung .
Die Anforderungen an die Organisationsstrukturen
und die Willensbildung werden dadurch verringert . Mit-
hin bedarf es keiner derartig ausgeprägten „Gruppeniden-
tität“ mehr, wie sie die Rechtsprechung derzeit fordert .
Somit fallen hierarchische Zusammenschlüsse, in denen
sich die Mitglieder einem autoritären Anführerwillen
unterwerfen, nicht aus dem Tatbestand des § 129 StGB
heraus. Gerade bei mafiösen Strukturen, die intensiv die
Abschottung nach innen und außen betreiben, besteht
ein Problem, den von der Rechtsprechung geforderten
gemeinsamen Täterwillen zur Begehung konkreter Straf-
taten nachzuweisen . Dies bedeutet jedoch nicht, dass die
bloße lose Übereinkunft von mindestens zwei Personen
genügt . Es ist ausreichend, wenn der Zusammenschluss
ein Mindestmaß längerfristiger instrumenteller Voraus-
planung und Koordinierung sowie eine irgendwie gearte-
te regelhafte Willensbildung aufweist . Dies stimmt auch
mit dem Rahmenbeschluss überein, welcher Zusammen-
schlüsse aus dem Tatbestand ausscheidet, die sich zufäl-
lig zur unmittelbaren Begehung einer Straftat bilden .
Auch eine Abgrenzung zum Begriff der Bande wird
hierbei gewährleistet, indem eine möglicherweise nur
rudimentäre Organisationsstruktur und die Verfolgung
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eines übergeordneten gemeinsamen Interesses zu fordern
ist . Im Bereich politisch motivierter Kriminalität liegt
dieses übergeordnete gemeinsame Interesse in der von
den Mitgliedern der Vereinigung geteilten politischen
Überzeugung und der Verfolgung politischer Ziele, de-
nen die Begehung der einzelnen Straftaten dient .
Zur Vermeidung einer zu weitgehenden Vorfeldstraf-
barkeit sieht der Entwurf vor, als Bezugstaten nur Straf-
taten einzubeziehen, die im Höchstmaß mindestens mit
Freiheitsstrafe von zwei Jahren bedroht sind . Damit wird
von der vom Rahmenbeschluss eröffneten Möglichkeit
der Einschränkung nach der Schwere der in Aussicht
genommenen Straftaten Gebrauch gemacht . Aus dem
Schutzzweck der Norm, dem Verhältnismäßigkeitsgrund-
satz und der Bedeutung von § 129 StGB als Katalogtat
für bestimmte strafprozessuale Möglichkeiten folgt darü-
ber hinaus, dass die von der Vereinigung geplanten oder
begangenen Straftaten eine erhebliche Gefahr für die öf-
fentliche Sicherheit bedeuten und unter diesem Gesichts-
punkt von einigem Gewicht sein müssen . Der Entwurf
greift die vom Rahmenbeschluss eröffnete Möglichkeit
des einschränkenden Erfordernissen des in Aussicht ge-
nommenen Handelns um eines unmittelbaren oder mit-
telbaren finanziellen oder sonstigen materiellen Vorteils
willen hingegen nicht auf . Vielmehr wird die Verfolgung
eines übergeordneten gemeinsamen Interesses verlangt .
Die Beschränkung auf die Verfolgung eines finanziellen
oder sonstigen materiellen Vorteils hätte eine gewis-
se Einschränkung der Möglichkeiten der Wohnraum-
überwachung nach § 100 c Absatz 2 Nummer 1 Buch-
stabe b der Strafprozessordung in Verbindung mit § 129
Absatz 5 Satz 3 StGB-E zur Folge gehabt .
Weiterhin wird bei den Strafandrohungen des § 129
Absatz 1 StGB-E zwischen Gründung und der Mitglied-
schaft einerseits und der Werbung und der Unterstützung
andererseits differenziert. Die Erweiterung des Verei-
nigungsbegriffs wirkt sich auch auf § 129 a StGB aus.
Nach § 129 Absatz 1 Satz 2 StGB-E werden Personen,
die für eine kriminelle Vereinigung um Mitglieder oder
Unterstützer werben oder sie unterstützen, entsprechend
dem Gewicht ihres Tatbeitrages mit geringerer Strafe be-
droht werden als Personen, die eine kriminelle Vereini-
gung gründen oder ihr als Mitglied angehören . In § 129
Absatz 1 Satz 1 StGB-E werden die Gründung einer
kriminellen Vereinigung und die Mitgliedschaft in einer
solchen wie bisher mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren
oder mit Geldstrafe bestraft .
Es ist stets zu berücksichtigen, dass organisierte Kri-
minalitäts-Verfahren häufig komplexe, personalintensive
und zeitaufwändige Ermittlungen erfordern . Gerade vor
dem Hintergrund einer zunehmenden Nutzung digitaler
Kommunikationsmittel, der Verwendung von Anonymi-
sierungsmechanismen, steigende Professionalisierung,
des hohen Anteils transnational agierender Gruppierun-
gen und letztlich der Mobilität der Angehörigen steigen
die Herausforderungen der Strafverfolgungsbehörden .
Der Bekämpfung der organisierten Kriminalität kommt
damit eine unvermindert hohe Bedeutung zu .
Im Jahr 2015 wurden im Zusammenhang mit den or-
ganisierten Kriminalitäts-Verfahren in Deutschland mehr
als 8 500 Tatverdächtige ermittelt . Bei rund einem Drittel
der Tatverdächtigen handelt es sich um deutsche Tatver-
dächtige . Dieser Gesetzesentwurf stellt folglich ein pro-
bates Mittel dar, die Auslegung des § 129 StGB an dem
wirklichkeitsnahen Bild hierarchisch strukturierter Orga-
nisationen zu orientieren. Die Übergänge sind fließend.
So kann sich beispielsweise eine Bandenstruktur in eine
Vereinigung im Sinne von § 129 StGB wandeln . Das-
selbe gilt umgekehrt namentlich bei Zweckänderungen .
Kriminelle Vereinigungen können innerhalb einer grö-
ßeren Organisation bestehen, die als solche § 129 StGB
nicht unterfällt .
Mit dem vorliegenden Gesetzesentwurf wird der Rah-
menbeschluss effektiv in das nationale Recht umgesetzt.
Dabei wird ein guter Ausgleich zwischen den europäi-
schen Verpflichtungen einerseits und nationalen Anfor-
derungen des Strafrechts andererseits geschaffen. Dieser
Gesetzesentwurf ist ein scharfes Schwert, um gegen die
organisierte Kriminalität vorzugehen . Uns als Union ist
die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger von über-
ragender Bedeutung .
Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Wir sprechen heute
über den Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung eines
Rahmenbeschluss des Rates der Europäischen Union . Er
betrifft die Strafbarkeit der Bildung krimineller und ter-
roristischer Vereinigungen .
Das deutsche Strafrecht stellt die Bildung einer kri-
minellen Vereinigung bereits unter Strafe . Bei terroris-
tischen Vereinigungen im In- oder Ausland sieht das
Gesetz zwingend eine Freiheitsstrafe von mindestens ei-
nem Jahr vor . Wenngleich durch eine solche Vereinigung
noch kein Individualrechtsgut betroffen ist, werden die
öffentliche Sicherheit und die staatliche Ordnung bereits
verletzt . Kriminelle Organisationsformen steigern die
Gefahr für wichtige Rechtsgüter der Gemeinschaft . Ins-
besondere den Bedrohungen durch den internationalen
Terrorismus setzt das Strafrecht hier wirksame rechts-
staatliche Maßnahmen entgegen .
Dennoch besteht ein gesetzgeberischer Handlungsbe-
darf . Der Rahmenbeschluss des Rates der Europäischen
Union vom 24. Oktober 2008 beinhaltet eine Definition
der kriminellen Vereinigung . Es ist mit Bedauern fest-
zustellen, dass es der Rechtsprechung nicht gelungen
ist, eine europarechtskonforme Auslegung des Vereini-
gungsbegriffs zu finden. Der Wortlaut der Strafvorschrift
stand dem nicht entgegen . Eine Neubestimmung des Be-
griffs der Vereinigung wurde vielmehr dem Gesetzgeber
überlassen .
Mit diesem Gesetzentwurf kommen wir dieser Not-
wendigkeit nach. Die Legaldefinition der kriminellen
Vereinigung entspricht den Vorgaben aus dem Rahmen-
beschluss des Rates . Das vielfach kritisierte Erfordernis
einer Gruppenidentität wird aufgegeben . Bisher mussten
die Mitglieder derart in Beziehung stehen, dass sie sich
als einheitlicher Verband fühlen . Für die Strafbarkeit
als kriminelle Vereinigung soll es künftig vielmehr auf
die Organisationsstruktur, die Vorausplanung und Ko-
ordinierung ankommen . Mit der Neuregelung werden
hierarchische Zusammenschlüsse unter einem autoritä-
ren Anführerwillen als kriminelle Vereinigung erfasst .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22353
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Von solchen Gruppierungen gehen erhebliche Gefahren
für wichtige Rechtsgüter der Gemeinschaft aus . Mit der
Legaldefinition der kriminellen Vereinigung wird der
Rechtsprechung eine verbindliche Auslegungsregel ge-
geben . Der Gesetzentwurf leistet einen Beitrag zu mehr
Rechtssicherheit . Zugleich bewirkt die Umsetzung euro-
parechtlicher Vorgaben eine Angleichung der Strafvor-
schriften . Die Bildung einer kriminellen Vereinigung ist
in jedem Mitgliedsstaat der Europäischen Union strafbar
und wird mit vergleichbaren Strafen geahndet .
Der Gesetzentwurf enthält jedoch weitere Änderun-
gen des Straftatbestands der Bildung einer kriminellen
Vereinigung . Diese Änderungen werden vom Rahmen-
beschluss des Rates nicht gefordert und erscheinen nicht
zweckdienlich . Ich möchte auf zwei Punkte eingehen, die
es kritisch zu würdigen gilt .
Der Gesetzentwurf möchte zwischen der Gründung
und Beteiligung auf der einen Seite und der Unterstüt-
zung und Werbung auf der anderen Seite differenzieren.
Für die Unterstützung oder die Werbung um Mitglieder
oder Unterstützer einer kriminellen Vereinigung soll
künftig ein abgesenkter Strafrahmen gelten . Die erhöhte
Strafandrohung bei besonders schweren Bezugstaten soll
bei der Unterstützung und Werbung sogar entfallen .
Eine Differenzierung bei den angedrohten Strafen
erscheint nicht notwendig . Die Unterstützung und Wer-
bung für eine kriminelle Vereinigung stehen als gleichar-
tige Alternativen auf einer Ebene . Das Rechtsgut der
öffentliche Sicherheit und staatlichen Ordnung wird in
allen Alternativen verletzt .
Die Absenkung der Strafrahmen setzt zudem ein fal-
sches Signal . Wir möchten die Täter mit diesem Gesetz
nicht begünstigen . Ziel dieses Gesetzentwurfs ist eine
effektivere Strafverfolgung von kriminellen Vereinigun-
gen .
Diesem Ziel wird auch bei der Einschränkung der
Straftaten, auf welche die kriminelle Vereinigung gerich-
tet ist, widersprochen . Als Bezugstaten sollen nach dem
Gesetzentwurf nur noch Straftaten erfasst werden, die im
Höchstmaß mindestens mit Freiheitsstrafe von zwei Jah-
ren bedroht sind . Im Umkehrschluss sind Straftaten mit
geringerer Strafdrohung wie die Bedrohung nicht erfasst .
Kriminelle Vereinigungen, die ein Klima von systema-
tischer Einschüchterung und Bedrohung schaffen, sind
von der Strafbarkeit ausgeschlossen . Diese Strafbarkeits-
lücke sollte in dieser Gestalt nicht hingenommen werden .
Diese aufgeworfenen Punkte bedürfen im Ausschuss
und in der Sachverständigenanhörung nochmals einer
eingehenden Diskussion . Ich wünsche uns gute Beratun-
gen .
Bettina Bähr-Losse (SPD): Die EU-Kommission
hat die Mitgliedstaaten dazu aufgefordert, den EU-Rah-
menbeschluss zur Bekämpfung der organisierten Krimi-
nalität vollständig umzusetzen . Der Rahmenbeschluss
zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität ist zwar
durch das geltende deutsche Recht im Wesentlichen, aber
eben noch nicht vollständig umgesetzt, da der Begriff
der Vereinigung in § 129 des Strafgesetzbuches, StGB,
in der Auslegung durch die Rechtsprechung des Bun-
desgerichtshofs enger ist als die Definition in Artikel 1
des Rahmenbeschlusses . Bisher unterfallen hierarchisch
organisierte Gruppen mit bloßer Durchsetzung eines au-
toritären Anführerwillens mangels „Gruppenidentität“
nicht dem Tatbestand .
Die Vorgeschichte zu diesem Gesetz beginnt auf ei-
nem Bauhof in der sächsischen Stadt Mittweida . Dort
hatte sich ab dem Jahr 2005 regelmäßig eine Gruppe
politisch rechtsorientierter Jugendlicher getroffen. An-
fang 2006 kam innerhalb der Gruppe die Idee auf, eine
Kameradschaft zu gründen . Im März 2006 wurde auf
dem Bauhof eine Gründungsversammlung mit 30 bis 50
anwesenden Personen durchgeführt, in deren Rahmen
man sich auf den Namen „Kameradschaft Sturm 34“
einigte . Der Vorschlag, eine förmliche Mitgliederliste
anzulegen, wurde nicht umgesetzt, weil man eine solche
Liste im Falle polizeilicher Ermittlungen für nachteilig
hielt . Bei einer späteren Veranstaltung im Juni 2006 wur-
de aber ein vierköpfiger Vorstand gewählt. Eine schriftli-
che Satzung oder offizielle Entscheidungsregeln wurden
nicht niedergelegt .
Nach Gründung der „Kameradschaft Sturm 34“ kam
es bei mehreren Gelegenheiten zu von Kameradschafts-
mitgliedern initiierten Schlägereien, bei denen zahlreiche
Personen – teilweise erheblich – verletzt wurden .
Im Revisionsverfahren gegen das erstinstanzliche Ur-
teil des LG Dresden, das die Voraussetzungen für eine
kriminelle „Vereinigung“ nicht gegeben sah, setzte sich
der 3 . Strafsenat des BGH mit der Frage auseinander, ob
die „Kameradschaft Sturm 34“ als kriminelle Vereini-
gung im Sinne des § 129 StGB einzustufen und die An-
geklagten wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung hieran
zu verurteilen seien .
Der 3 . Strafsenat des BGH stufte die „Kameradschaft
Sturm 34“ als kriminelle Vereinigung im Sinne des § 129
StGB ein .
Entscheidender als diese Bewertung ist jedoch viel-
mehr, dass der 3 . Strafsenat des BGH es aus grundsätz-
lichen Erwägungen heraus abgelehnt hat, den Vereini-
gungsbegriff „europarechtsfreundlich“ und damit weiter
als bisher zu interpretieren und gleichzeitig nach einer
Regelung durch den Gesetzgeber rief .
Zur Lösung des Problems sieht der vorliegende Ent-
wurf vor, in § 129 StGB eine Legaldefinition der Vereini-
gung in Anlehnung an Artikel 1 des Rahmenbeschlusses
aufzunehmen. Die Erweiterung des Vereinigungsbegriffs
wird dazu führen, dass Erscheinungsformen aus dem Be-
reich der organisierten Kriminalität zukünftig strafrecht-
lich noch besser erfasst werden können .
Im weiteren Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens
werden folgende Punkte Berücksichtigung finden müs-
sen:
Erstens. Mit der Aufnahme einer Legaldefinition in
§ 129 StGB ist zwangsläufig eine Ausweitung der Straf-
barkeit im Vorfeld der eigentlichen Rechtsgutverletzung
verbunden .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722354
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(B) (D)
Zweitens muss gewährleistet werden, dass die vorge-
sehenen Änderungen nicht im Widerspruch zu wesentli-
chen Grundgedanken des Gesamtgefüges des deutschen
Strafrechts für die Behandlung mehrerer zusammenwir-
kender Personen, wie Vereinigungen, Gruppen, Banden
oder die Beteiligungsform der Mittäterschaft, stehen .
Sollten diese Bedenken im Rahmen des weiteren Ge-
setzgebungsverfahrens ausgeräumt werden, steht einer
Umsetzung des Rahmenbeschlusses nichts mehr im Weg .
Frank Tempel (DIE LINKE): Dieser im Bundes-
tag eingebrachte Gesetzentwurf strebt eine Anpassung
zu dem vom Europarat vereinbarten Rahmenbeschluss
2008/841/JI vom 24 . Oktober 2008 an . Mit dem Geset-
zesentwurf wird der Begriff der kriminellen Vereinigung
in § 129 StGB an die Definition in dem genannten Rah-
menbeschluss angepasst . Dadurch wird der Tatbestand
des § 129 StGB deutlich erweitert . Eine kriminelle Ver-
einigung ist zukünftig „ein auf längere Dauer angeleg-
ter von einer Festlegung von Rollen der Mitglieder, der
Kontinuität der Mitgliedschaft und der Ausprägung der
Struktur unabhängiger organisierter Zusammenschluss
von mehr als zwei Personen zur Verfolgung eines überge-
ordneten gemeinsamen Interesses“ . Nach der bisherigen
Rechtsprechung verlangt eine Vereinigung dagegen „ei-
nen auf eine gewisse Dauer angelegten, freiwilligen or-
ganisatorischen Zusammenschluss von mindestens drei
Personen, die bei Unterordnung des Willens des Einzel-
nen unter den Willen der Gesamtheit gemeinsame krimi-
nelle Zwecke verfolgen und derart in Beziehung stehen,
dass sie sich als einheitlicher Verband fühlen .“ Dieser
Erweiterung soll einschränkend begegnet werden, indem
die Begehung einer Straftat verlangt wird, die im Höchst-
maß mit einer Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jah-
ren bedroht ist . Ursprünglich war hier eine Strafbarkeit
von mindestens fünf Jahren geplant . Da dann aber der für
rechtsextreme Gruppen typische §130 StGB herausge-
fallen wäre, wurde dies geändert . Diese Einschränkung
wirkt sich jedoch nicht auf den § 129 a StGB aus .
Die Regierungen der Mitgliedstaaten haben erhebli-
chen Einfluss auf die Gesetzgebung innerhalb der EU.
In Deutschland findet das über den Artikel 23 GG statt.
Weil mit der neuen Definition die bisher vorausgesetzte
„Gruppenidentität“ nicht mehr erforderlich ist, fallen da-
nach auch hierarchisch organisierte Zusammenschlüsse,
in denen die Mitglieder sich einem autoritären Anführer-
willen unterwerfen, unter den Tatbestand . Neben dieser
unter Umständen sinnvollen Erweiterung führt die neue
Definition aber auch dazu, dass Gruppierungen mit ei-
ner lockeren Netzstruktur unter den Tatbestand fallen .
Die sowieso schon kritisierte vorverlagerte Strafbarkeit
der Tatbestände wird also noch weiter vorverlagert und
ausgeweitet . Trotz der Einschränkung für den §129 StGB
kann eine solche Erweiterung wegen der grundlegenden
Kritik an der in den Tatbeständen weit vorverlagerten
Strafbarkeit nicht mitgetragen werden .
Die Forderung nach einer Verschärfung des Straf-
rechts ist keine angemessene Lösung des Problems . Eine
Verschärfung des Strafrechts hilft den Opfern nicht, hat
auf Täter keine abschreckende Wirkung und führt des-
halb auch nicht zu mehr Sicherheit . Präventive Maßnah-
men sind nachhaltiger und versprechen im Gegensatz zur
Strafrechtsverschärfung, konkrete Erfolge zu zeigen . Wir
brauchen mehr Prävention im Bereich der Gruppen, die
für Radikalisierung anfällig sind .
In der Kriminologie ist belegt, dass härtere Strafen Tä-
ter bei der Begehung von Straftaten nicht abschrecken .
Nur die hohe Entdeckungswahrscheinlichkeit einer Tat
schreckt ab . Entdeckungswahrscheinlichkeiten steigen
mit dem Einsatz von mehr Personal bei Polizei und Zoll,
einer besserer Ausstattung für die Erledigung dieser spe-
zifischen Aufgabe und gezielter Aus- und Weiterbildung
der Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten in diesem Be-
reich .
Eine Verschärfung der Gesetze kann nicht zur Redu-
zierung der organisierten Kriminalität führen und bringt
auch nicht mehr Sicherheit . Eine Änderung eines Geset-
zes sollte in rechtlichem Sinne erforderlich, angemessen
und verhältnismäßig sein . Da es hier nicht der Fall ist,
wird die Bundestagsfraktion Die Linke diese vorgeschla-
gene Änderung ablehnen .
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Es steht gleich im ersten Satz des vorliegenden
Gesetzentwurfs: Der Rahmenbeschluss 2008/841/JI des
Rates vom 24 . Oktober 2008 zur Bekämpfung der orga-
nisierten Kriminalität ist durch das geltende Recht im
Wesentlichen bereits umgesetzt. Lediglich die Definiti-
on der Vereinigung in § 129 Strafgesetzbuch soll in An-
lehnung an den Rahmenbeschluss etwas weiter gefasst
werden, und es soll eine Legaldefinition dieses Begriffs
aufgenommen werden .
Darüber hinaus enthält der Gesetzentwurf den Vor-
schlag, bei den Strafandrohungen des § 129 StGB zwi-
schen der Gründung und Mitgliedschaft einerseits – bis
zu fünf Jahren Freiheitsstrafe – und der Unterstützung
bzw . Werbung um Unterstützer und Mitglieder anderer-
seits – bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe – zu differenzie-
ren . Konkret heißt dies, dass es nun abgestufte Strafdro-
hungen für die Gründung einer kriminellen Vereinigung
und die Mitgliedschaft in ihr einerseits und die Unterstüt-
zung einer kriminellen Vereinigung und die Werbung für
eine solche andererseits gelten . Dieser Vorschlag klingt
ganz vernünftig .
Der Bundesrat hat ebenfalls keine weiteren Einwände
gegen dieses Umsetzungsgesetz . In seiner Stellungnah-
me vom 10. Februar 2017 empfiehlt er lediglich zur bes-
seren Verständlichkeit der Legaldefinition des Begriffs
„Vereinigung“ in § 129 Absatz 2 StGB-E, die Regelung
in zwei Sätze aufzuteilen . In einem ersten Satz sollen
die grundlegenden Erfordernisse einer Vereinigung be-
stimmt und im zweiten Satz dann die Umstände gelistet
werden, die der Annahme einer Vereinigung nicht entge-
genstehen . Dieser Vorschlag des Bundesrates führt in der
Tat zu einer besseren Verständlichkeit und sollte daher
aufgegriffen werden. Viel mehr gibt es zu den Änderun-
gen in der Strafvorschrift nicht zu sagen .
Deshalb ein paar Anmerkungen zur Geschichte des
§ 129 StGB, „Bildung einer kriminellen Vereinigung“;
sie ist in der Tat eine bewegte . Immer wieder wurde ver-
sucht, die Vorschrift politisch zu instrumentalisieren .
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Der Eindruck drängte sich zum Beispiel auf anlässlich
von Strafverfahren gegen Teilnehmer einer Kundgebung
gegen den Naziaufmarsch in Dresden im Februar 2010 .
Schon im Vorfeld der Gegendemonstrationen hatte die
sächsische Polizei verlangt, die Internetadresse für die
bundesweiten Proteste gegen den Naziaufmarsch abzu-
schalten . Außerdem ließ die sächsische Polizei und Justiz
Aufrufplakate zur Gegendemonstration beschlagnahmen .
Mit Sitzblockaden blockierten dann am 13 . Februar 2010
Zehntausende den Aufmarsch der Rechtsextremisten .
Im Frühjahr wurde ein Ermittlungsverfahren ge-
gen Unbekannt wegen der Bildung einer kriminellen
Vereinigung eingeleitet. § 129 StGB eröffnet den Er-
mittlungsbehörden eine Vielzahl von weitreichenden
Ermittlungsbefugnissen, zum Beispiel Telekommuni-
kationsüberwachung, Observationen oder Einsatz ver-
deckter Ermittler . Der Verdacht der Beteiligung oder
Unterstützung einer kriminellen Vereinigung reicht . Im
folgenden Jahr wurden am Tag der gleichen Demons-
tration gegen den Aufmarsch am 19 . Februar 2011 Mo-
bilfunkverkehrsdaten ganzer Funkzellen abgefragt – das
heißt, Millionen von Handy-Gesprächen, die Demons-
tranten geführt hatten, wurden erfasst . Solche Vorgänge
bei der Anwendung des § 129 StGB sind geeignet, ein
Unbehagen zu schüren, der Straftatbestand werde als
wohlfeile „Allzweckwaffe“ gegen unliebsames politi-
sches Verhalten instrumentalisiert .
Der BGH-Richter Thomas Fischer schrieb in seiner
Kolumne in der Zeit, in Vorstellung und Definition der
„Vereinigung“ schwinge noch viel von der „Geheim-
gesellschaft“ mit, nebst ihren Implikationen der Staats-
feindlichkeit und des Umsturzes; sie stammten sozusa-
gen aus den Kindertagen des Staats .
In der Tat reicht die Geschichte des § 129 StGB weit
zurück bis ins Preußische Strafgesetzbuch und dann ins
Reichsstrafgesetzbuch . Er war Mittel zur Verfolgung
liberaler und demokratischer Tendenzen . Er kam zur
Anwendung in Prozessen gegen bekannte Vertreter der
Deutschen Arbeiterbewegung wie August Bebel und
befeuerte die Verfolgung der Sozialdemokratie, später
auch anderer Vereinigungen . Auch das 20 . Jahrhundert
überdauerte die „kriminelle Vereinigung“ im Strafge-
setzbuch . In der Weimarer Zeit fand sie Anwendung
bei der Verfolgung der „Ringvereine“ in Berlin . Später
wurde sie durch Änderungen den aktuellen, vor allem
politisch-gesellschaftlichen Umständen angeglichen und
erweitert um die § 129 a und b StGB . Einiges davon habe
ich miterlebt . Sogar mitgestaltet habe ich Änderungen
nach der Jahrtausendwende . Ob sich die jetzt vorgelegten
Änderungen in der Praxis der Rechtsprechung merklich
auswirken, bleibt abzuwarten . Zu mehr Klarheit kann die
Legaldefinition vielleicht beitragen.
Das Grundproblem der §§ 129 ff StGB, mitunter po-
litisch instrumentalisiert zu werden, bleibt aber wohl be-
stehen .
Christian Lange, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
minister der Justiz und für Verbraucherschutz: Mit dem
Gesetzentwurf, den wir heute hier behandeln, wollen wir
die Strafvorschrift des § 129 Strafgesetzbuch, den Straf-
tatbestand der Bildung krimineller Vereinigungen, an die
Vorgaben des Rahmenbeschlusses des Rates der Europäi-
schen Union vom 24 . Oktober 2008 zur Bekämpfung der
organisierten Kriminalität anpassen .
Das deutsche Strafrecht entspricht diesem Rahmenbe-
schluss bereits heute in weitem Umfang . Jedoch ist der
Begriff der Vereinigung nach § 129 Strafgesetzbuch zwar
nicht vom Wortlaut her, wohl aber in der Ausformung,
die er durch die Rechtsprechung des Bundesgerichts-
hofs erfahren hat, enger, als dies der Rahmenbeschluss
fordert . Deshalb besteht noch gesetzgeberischer Hand-
lungsbedarf, damit Deutschland seiner Verpflichtung zur
Umsetzung in vollem Umfang nachkommt .
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht vor,
ins Strafgesetzbuch eine Legaldefinition des Vereini-
gungsbegriffs aufzunehmen, die sich eng an den europä-
ischen Vorgaben orientiert. Damit ist zwangsläufig eine
Ausweitung der Strafbarkeit im Vorfeld der eigentlichen
Rechtsgutsverletzung verbunden . Denn die Lockerung
des Vereinigungsbegriffes führt dazu, dass die Anforde-
rungen an die Organisationsstruktur abgesenkt werden .
Aus dieser Organisationsstruktur wurden bisher aber die
Gefährlichkeit entsprechender Vereinigungen und damit
die Strafwürdigkeit der Betätigung bereits im Vorfeld des
strafbaren Versuchs abgeleitet .
Um dieser Ausweitung der Strafbarkeit zu begegnen,
sollen zukünftig die Bezugstaten, auf deren Begehung
eine kriminelle Vereinigung im Sinne des § 129 Straf-
gesetzbuch gerichtet sein kann, beschränkt werden, und
zwar auf Straftaten, bei denen die Höchststrafe eine Frei-
heitsstrafe von zwei Jahren an aufwärts ist .
Der Gesetzentwurf sieht außerdem vor, bei der Straf-
androhung zwischen der Gründung einer kriminellen
Vereinigung und der Mitgliedschaft in ihr einerseits so-
wie der Unterstützung einer kriminellen Vereinigung und
der Werbung um Mitglieder oder Unterstützer für sie an-
dererseits zu differenzieren. Der Gesetzentwurf folgt da-
mit einer Wertung, die das Strafgesetzbuch schon heute
beim Tatbestand der Bildung terroristischer Vereinigun-
gen vornimmt .
Die Erweiterung des Vereinigungsbegriffs wirkt sich
auch auf den Straftatbestand der Bildung terroristischer
Vereinigungen aus . Hier bedarf es keiner Einschränkung
des Anwendungsbereichs, da eine terroristische Verei-
nigung ohnehin nur eine Vereinigung sein kann, die auf
die Begehung bestimmter besonders schwerer Straftaten
gerichtet ist .
Auch wenn die Änderungen an den §§ 129 ff. Straf-
gesetzbuch überschaubar sind, so wird insbesondere die
Erweiterung des Vereinigungsbegriffs dazu führen, dass
Erscheinungsformen aus dem Bereich der organisierten
Kriminalität zukünftig strafrechtlich noch besser erfasst
werden können . Ich bitte Sie daher, diesen Gesetzent-
wurf der Bundesregierung zu unterstützen .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722356
(A) (C)
(B) (D)
Anlage 23
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag
der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Trilate-
rale Partnerschaften in der ASEAN-Region stär-
ken – Deutsches Know-how nutzen (Tagesord-
nungspunkt 46)
Jürgen Klimke (CDU/CSU): Ich freue mich sehr,
dass wir heute den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU
und SPD „Trilaterale Partnerschaften in der ASEAN-Re-
gion stärken“ verabschieden . Der Deutsche Bundestag
setzt damit ein wichtiges Zeichen für die Notwendigkeit
von internationaler wirtschaftlicher Zusammenarbeit und
ebenso ein Gegengewicht zum immer stärker propagier-
ten Protektionismus einzelner Akteure sowie zum militä-
rischen Wettrüsten in der ASEAN-Region, das wir in der
jüngeren Vergangenheit beobachten können .
Die zehn ASEAN-Staaten mit ihren über 600 Millio-
nen Einwohnern bieten große wirtschaftliche Entwick-
lungspotenziale . Damit Deutschland auch in den kom-
menden Jahren als entwicklungspolitischer Akteur in der
Region präsent sein kann, ist es notwendig, dass wir un-
ser Engagement auf ein breiteres Fundament stellen und
die bereits wirtschaftlich stärker entwickelten Partner des
ASEAN-Bündnisses in Dreieckskooperationen mit wirt-
schaftlich schwächeren Staaten der Region einbeziehen .
Unser Ziel ist es, das wirtschaftliche Gefälle zwischen
den einzelnen Staaten abzusenken .
An dieser Stelle möchte ich auf die von der Oppositi-
on geäußerten Vorbehalte zu diesem Antrag eingehen . So
wurde geäußert, der Antrag zeige keine Neuerungen auf,
sei quasi ein Nullsummenspiel . Das sehe ich so nicht .
Aus meiner Sicht ist das eine mutwillige Fehlinterpreta-
tion des Antrages .
Der Koalition geht es primär um den verstärkten Aus-
bau vorhandener und bewährter Strukturen sowie um die
Intensivierung von Synergieeffekten, die der Verbesse-
rung der Lebensgrundlage der Menschen vor Ort dienen .
Der Antrag ist zudem ein Statement, dass entwick-
lungspolitische Kooperationen in Südostasien kein Aus-
laufmodell sind, sondern in der Strategieplanung der
deutschen Entwicklungszusammenarbeit ihren festen
Platz haben .
Die ASEAN-Region ist im stetigen Wandel und weist
große Entwicklungsunterschiede auf . Mit einer Delegati-
on des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung konnte ich mir Anfang Februar dieses
Jahres in Laos und Kambodscha wieder ein Bild von der
Situation machen .
Im Gespräch mit unseren Partnern in Laos wurde mir
erneut versichert, dass Deutschland großes Ansehen in
dem Land genieße und man auf den Ausbau der Entwick-
lungszusammenarbeit setze . Laos ist seit 1997 Mitglied
der südostasiatischen Staatengemeinschaft (ASEAN)
und seit 2015 Mitglied der Wirtschaftsgemeinschaft
ASEAN Economic Community (AEC) . Es gehört zu den
am wenigsten entwickelten Staaten der Welt .
Um unsere Entwicklungsbemühungen in Laos und
den anderen ASEAN-Staaten in Zukunft noch breiter
aufzustellen, bietet sich meiner Meinung nach der Aus-
bau von trilateralen Entwicklungsprojekten an . Um beim
Beispiel zu bleiben: neben Deutschland und Laos noch
ein weiterer Partner aus der Region .
Für dieses Entwicklungsmodell werben wir mit un-
serem Antrag . Das BMZ hat mit Dreieckskooperationen
bereits vielfältige Erfahrung gemacht . Bei den bisherigen
Kooperationen handelte es sich fast ausschließlich um
Vorhaben im Rahmen der technischen Zusammenarbeit .
Ich plädiere an dieser Stelle auch dafür, die finanzielle
Zusammenarbeit in diesem Bereich auszubauen .
Deutschland hat aktuell mit Thailand, Malaysia und
Indonesien trilaterale Kooperationen vereinbart, die je-
weils einen weiteren regionalen Partner einbeziehen .
Diese Maßnahmen fördern nicht nur lokale Entwicklun-
gen, sondern tragen auch zum Harmonisierungs- und In-
tegrationsprozess innerhalb der ASEAN-Region bei .
Die Vorteile liegen auf der Hand; denn die Grundla-
gen für den Ausbau dieses Entwicklungsmodells sind
vorhanden . So verfügt beispielsweise Thailand über ent-
wicklungspolitische Institutionen, die sich im Wesentli-
chen auf die ärmeren Nachbarn ausrichten .
Das Beispiel Thailand zeigt: Mit wirtschaftlicher und
gesellschaftlicher Entwicklung der vergangenen Jahr-
zehnte wandelte sich Thailand zu einem Schwellenland –
und damit einhergehend auch die Zusammenarbeit mit
Deutschland . Aus der bilateralen Zusammenarbeit ent-
standen verschiedene deutsch-thailändische Kooperatio-
nen, um in den Nachbarländern Thailands Projekte in der
Entwicklungszusammenarbeit umzusetzen .
Wünschenswert wäre es, wenn diese Erfolge zukünf-
tig auch auf Regionen in der ASEAN-Region ausstrahlen
könnten, die bisher noch nicht in trilateralen Projekten
berücksichtigt sind . So sehe ich beispielsweise ähnli-
che Entwicklungs-herausforderungen in der Grenzregi-
on zwischen Thailand und Myanmar . Dieser Landstrich
war lange Zeit stark vom Drogenanbau betroffen. Durch
einen intensiven Strukturwandel konnten die Region in
jüngerer Vergangenheit zu einem Teeanbaugebiet entwi-
ckelt und einige nachhaltige Ansätze im Bereich Touris-
mus etabliert werden . Aber: Die Reduzierung des Dro-
genanbaus in den letzten Jahren konnte nicht verhindern,
dass sich die Region in jüngerer Vergangenheit zu einem
großen Handelsplatz für synthetische Drogen entwickelt
hat, die von dort in ganz Südostasien verbreitet werden .
Neue trilaterale Projekte in dieser Region könnten aus
meiner Sicht ein Beitrag Deutschlands sein, lokal und bi-
lateral erzielte Verbesserungen aufzugreifen und mithilfe
eines breiteren Bündnisses fortzuführen .
Der Blick auf die Zahlen verdeutlicht es: Trilatera-
le Kooperationen auf dem Gebiet der ASEAN-Staaten
sind durchaus ausbaufähig . Das vereinbarte Gesamt-
auftragsvolumen dieser Projekte zwischen Deutschland
und Thailand beträgt 8,3 Millionen Euro und läuft bis
Dezember 2017 . Thailand ist damit der wichtigste Part-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22357
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ner bei dieser Art Umsetzungsvorhaben . Zum Vergleich:
Mit Malaysia ist ein Gesamtvolumen von rund 3 Milli-
onen Euro vereinbart, mit Indonesien ein Volumen von
700 .000 Euro .
Lassen Sie mich nochmals die Zielrichtung des
Antrages zusammenfassen: Die vielfältigen Einsatz-
möglichkeiten von trilateralen Kooperation in der
ASEAN-Region sollen geprüft und die Effizienz zukünf-
tiger Maßnahmen gesteigert werden .
Bestehende Dreieckskooperationen sollen fortgesetzt
werden, wenn dadurch Synergieeffekte zu erzielen sind.
Dreieckskooperation sollen verstärkt als Instrument
genutzt werden, um international anerkannte Standards
in Projekten der Entwicklungszusammenarbeit einzuhal-
ten .
Neue Felder für trilaterale Kooperation sollen gefun-
den werden, die insbesondere im Hinblick auf die Umset-
zung der UN-Nachhaltigkeitsziele sinnvoll sind .
Die Privatwirtschaft soll bei zukünftigen Dreiecks-
kooperationen verstärkt miteinbezogen werden können .
Es sollen gezielt nachhaltige Projekte initiiert werden,
die in Sektoren liegen, die bisher noch nicht im Bereich
der Dreieckskooperationen vertreten sind .
Und das gewonnene Fachwissen aus Dreieckskoope-
ration soll für Dritte nutzbar und zugänglich sein . Das
heißt Evaluierung durch das DEval soll ein höherer Stel-
lenwert zukommen .
Mit dieser Zielsetzung untermauert der Antrag die Asi-
enstrategie der Bundesregierung . Die deutsche Entwick-
lungszusammenarbeit wird in den kommenden Jahren
mit den Partnerländern, in multilateralen Organisationen
wie der Weltbank, der Asiatischen Entwicklungsbank
(ADB), der Europäischen Union und eben im Rahmen
der ASEAN-Staaten große Herausforderungen angehen
müssen . Dazu zählt unter anderem den verstärkten Di-
alog mit den globalen Entwicklungspartnern zu suchen,
die soziale und ökologische Gestaltung der asiatischen
Marktwirtschaften zu gestalten, den Schutz von Klima
und Biodiversität zu sichern und die Bekämpfung von
Konflikt- und Fluchtursachen zu verstetigen.
In Thailand besagt das Sprichwort „Den Amboss zu
einer Nadel schleifen“, was sich bei uns in „Steter Trop-
fen höhlt den Stein“ übersetzen lässt . In diesem Sinne
werbe ich für Ihre Zustimmung für den Antrag, da wir
damit einen neuen Baustein für intensive und nachhaltige
Beziehungen mit den ASEAN-Staaten implementieren
werden .
Stefan Rebmann (SPD): Trilaterale Partnerschaften
haben sich als ein erfolgreiches Instrument der deutschen
Entwicklungszusammenarbeit bewährt . Die Partner-
schaft zwischen einem traditionellen Geberland, einem
Schwellenland als weiterem Geberland und einem Ent-
wicklungsland als Nehmerland kann neue Synergien
zwischen globalem Norden und Süden herstellen und ist
damit auch ein Beitrag zur Umsetzung der Sustainable
Development Goals (SDG 17: Globale Partnerschaften
für nachhaltige Entwicklung) . Die Stärkung trilatera-
ler Partnerschaften ist somit wünschenswert, und die
ASEAN-Region bietet sich dafür in besonderem Maße
an .
Die Association of Southeast Asian Nations, ASEAN,
ist ein wichtiger wirtschaftlicher Partner in Asien . Rund
630 Millionen Menschen leben in den ASEAN-Mitglied-
staaten . Mit rund 2,3 Billionen US-Dollar an erwirtschaf-
tetem Bruttoinlandsprodukt, BIP, pro Jahr reichen die
ASEAN-Mitgliedstaaten fast an die Wirtschaftsleistung
Großbritanniens, der sechstgrößten Volkswirtschaft der
Welt, heran . Prognosen gehen davon aus, dass sich das
Wirtschaftswachstum der ASEAN bis 2030 auf 10 Billi-
onen US-Dollar vergrößert .
Aber nicht nur wirtschaftlich, sondern auch entwick-
lungspolitisch stellt die ASEAN mit ihren Mitgliedstaa-
ten eine wichtige Partnerin dar . Als Staatenbündnis hat
sie sich den Menschenrechten sowie den Grundsätzen
von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verschrieben,
ASEAN-Charta 2007 . Zweifelsfrei bedarf es hier noch
weitreichender Reformen in vielen Mitgliedstaaten; je-
doch stellt dies einen guten Ausgangspunkt für eine en-
gere Zusammenarbeit dar .
Die Herausforderungen sind groß: Unter dem Dach der
ASEAN haben sich Staaten unterschiedlicher Kulturen,
Religionen und Sprachen, unterschiedlicher Regierungs-
formen und unterschiedlicher Entwicklungen zusam-
mengeschlossen . Während beispielsweise Singapur im
Index der menschlichen Entwicklung, HDI, auf Platz 11
liegt, liegt Kambodscha auf Platz 143 von 188 . Oder ein-
facher gesagt: Während Singapur boomt, leben in Laos
immer noch 23,3 Prozent der Bevölkerung unterhalb der
nationalen Armutsgrenze . Die ASEAN-Mitgliedstaaten
haben ein großes Interesse, diese Entwicklungslücke zu
schließen und haben ein eigenes Programm, „Narrowing
the Development Gap“, initiiert . Der Ausbau von trila-
teralen Kooperationen im südostasiatischen Raum kann
ein weiterer Beitrag sein, finanzielle Mittel zu generie-
ren, Know-how zu stärken und somit nachhaltige Ent-
wicklung zu fördern .
Ein besonderes Augenmerk sollte im Zuge der trila-
teralen Partnerschaften auf die Themen Menschenrechte
und Arbeitsbedingungen gelegt werden . Immer wieder
kommt es beispielsweise zu Fällen von Zwangsarbeit auf
thailändischen Fischfangkuttern oder zu Misshandlungen
von Hausangestellten in Singapur . Daher ist bei Maßnah-
men der trilateralen Partnerschaft zwingend darauf zu
achten, dass menschenrechtliche, soziale und ökologi-
sche Standards eingehalten und gefördert werden . Ist die-
se Voraussetzung erfüllt, können trilaterale Partnerschaf-
ten ein wirksames Instrument zur Förderung nachhaltiger
Entwicklung sein und sollten aus den oben genannten
Gründen im südostasiatischen Raum ausgebaut werden .
Dieser Antrag ist ein erster wichtiger Schritt dazu .
Niema Movassat (DIE LINKE): In der deutschen
Entwicklungszusammenarbeit finden trilaterale Partner-
schaften bis heute zu wenig Beachtung . Dabei birgt die
gezielte Zusammenarbeit zwischen einem etablierten Ge-
berland, einem Schwellen- und einem Entwicklungsland
großes Potenzial . In den Industriestaaten ausgebildete
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722358
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(B) (D)
Topexperten mögen hochqualifizierte Studienabschlüsse
vorweisen haben aber in der Geschichte der Entwick-
lungszusammenarbeit in zahllosen Projekten bewiesen,
dass ihre Konzepte den harten Praxistest im Alltag vieler
Entwicklungsländer nicht bestehen .
Mit Entwicklungs- und Schwellenländern gemeinsam
geplante, finanzierte und implementierte Kooperations-
projekte hingegen haben den Vorteil, sich meist bereits
in der Realität bewährt zu haben . Deshalb sind sie unter
Umständen nicht nur wirkungsvoller als herkömmliche
Entwicklungspartnerschaften, sondern tragen auch in be-
sonderem Maße zu mehr „Augenhöhe“ in der Entwick-
lungspolitik bei, weil sie die eigenen Erfahrungen der
Länder des Südens besonders berücksichtigen .
Wie keinem zweiten Staat ist es Kuba gelungen, mit
sehr geringen finanziellen Mitteln eine sehr gute staatli-
che Bildungs- und Gesundheitsversorgung aufzubauen,
zu der jede Kubanerin und jeder Kubaner auch kostenlos
Zugang hat .
Die Kindersterblichkeitsrate ist in Kuba niedriger, die
Lebenserwartung höher als in den USA obwohl in den
Vereinigten Staaten pro Kopf im Durchschnitt rund 46-
mal so hohe Gesundheitskosten entstehen wie auf der
Karibikinsel . Kubanische Ärzte helfen bereits heute in
aller Welt und sind besonders in Entwicklungsländern
sehr erfolgreich . Angesichts der großen gesundheitspoli-
tischen Ziele der SDG-Agenda und der veränderten poli-
tischen Gesamtlage sollte die Bundesregierung dringend
auf Kuba zugehen und die Möglichkeiten einer Dreiecks-
kooperation mit Ländern ohne funktionierendes Basisge-
sundheitssystem eruieren .
Ähnliches gilt für das kubanische Bildungssystem .
Ideologische Scheuklappen verursachen leider auch heu-
te noch vor allem bei Vertreterinnen und Vertretern der
Unionsfraktionen antikommunistische Reflexe, wenn es
um das sozialistische Kuba geht . Diese Geisteshaltung
stammt aus dem letzten Jahrhundert und sollte dringend
überwunden werden . Selbst die USA haben in den letzten
Jahren einen zeitgemäßeren Umgang mit der Karibikin-
sel gefunden .
Wenn der vorliegende Antrag der Regierungskoalition
eine Evaluierung der bisherigen Dreieckskooperationen
mit deutscher Beteiligung fordert, ist das durchaus unter-
stützenswert . Es ist ebenso richtig zu fordern, neue trila-
terale Partnerschaften in strategisch wichtigen Bereichen
aufzunehmen, wenn sich dadurch entwicklungspolitische
Synergieeffekte erzielen lassen.
Insgesamt ist der Antrag jedoch unausgegoren und
zusammengestückelt . Der Abschnitt über Drogenanbau
im Grenzgebiet zwischen Thailand, Laos und Myanmar
etwa fügt sich nicht in den restlichen Text ein und lässt
den Leser ratlos zurück, auch weil sich dieser Aspekt im
Forderungsteil nirgends wiederfindet. An anderer Stelle
ist der Antrag der Regierungskoalition schlicht falsch . So
bezeichnet er Kambodscha, Laos, Myanmar und Viet-
nam als neue ASEAN-Mitglieder, obwohl Vietnam 1995,
Myanmar und Laos 1997 und Kambodscha 1999 beige-
treten sind .
Die ASEAN-Gruppe besteht heute aus Thailand, In-
donesien, Malaysia, den Philippinen, Singapur, Brunei,
Vietnam, Myanmar, Laos sowie Kambodscha und um-
fasst rund 600 Millionen Einwohner . Auch wenn die Un-
terschiede bei den Lebensbedingungen etwa zwischen
Malaysia und Myanmar gewaltig sind, ist das Potenzial
in der Region für trilaterale Partnerschaften zweifellos
groß . Sie könnten zu einer Stärkung der regionalen Inte-
gration beitragen, wie sie die Mitgliedsländer anstreben .
Auf der anderen Seite ist die Region auch nicht völlig
konfliktfrei. Bestehende Spannungen zwischen Kambod-
scha, Thailand und Vietnam etwa klammert der vorlie-
gende Antrag in seiner Analyse völlig aus .
Wer tatsächlich trilaterale Partnerschaften zwischen
den ASEAN forcieren will, sollte sich etwas näher mit
der Ausgangslage beschäftigen, als die Antragsteller es
in diesem Fall getan haben .
Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Wenn wir heute einen Antrag zur Stärkung der
ASEAN-Region abschließend beraten, so müssen wir
diesen Antrag vor dem Hintergrund des Wechsels der
Regierungsverantwortung in den USA und in Hinblick
auf eine veränderte globale Weltlage bewerten. Offen-
sichtlich wird Präsident Trump die enge Zusammenar-
beit, die die Obama-Administration der ASEAN-Region
angeboten hat, nicht in gleicher Weise fortsetzen . Umso
mehr eröffnen sich für Europa und Deutschland Chancen
einer engeren Zusammenarbeit mit der ASEAN-Region .
Diese Zusammenarbeit kann und muss auf vielen Ebenen
erfolgen . Wichtig ist, die Handelsbeziehungen auszubau-
en und jetzt stringent die Verhandlung entsprechender
Verträge zwischen der EU und ASEAN voranzutreiben .
Mir ist es ein Anliegen, dies hier am Anfang zu betonen,
wenngleich es nicht Gegenstand dieses Antrages ist .
Der Antrag fordert, eine Ausweitung bestehender
entwicklungspolitischer Dreieckskooperationen in der
ASEAN-Region und deren vielfältige Einsatzmöglich-
keiten zu prüfen . Die Regierung solle zudem das Deutsche
Evaluierungsinstitut der Entwicklungszusammenarbeit
(DEval) mit der Evaluierung von Dreieckskooperationen
mit deutscher Beteiligung beauftragen und die Hand-
lungsempfehlungen für weitere Projekte nutzen . Dieses
sind wichtige Arbeitsfelder . Und ich hatte schon bei der
ersten Lesung drei wichtige Aspekte betont, die ich auch
hier nochmals anführen möchte: Rechtsstaatlichkeit, Bil-
dung und klimaschonende Energieversorgung .
Ich denke, dass es unverändert wichtig ist, diese drei
Aspekte bzw . Themen intensiv zu verfolgen . Rechts-
staatlichkeit, Gewaltenteilung, eine unabhängige Jus-
tiz, Einhaltung der Menschenrechte: Fortschritt gerade
hinsichtlich der Rechtstaatlichkeit ist der beste Anreiz
für ausländische Investitionen, sogenannte FDI . Dabei
könnten, im Zusammenhang zum Beispiel mit einer
Verstärkung des akademischen Austausches zwischen
den Ländern, Dreieckskooperationen eine wichtige Rol-
le spielen . Auf der Regierungsebene der ASEAN-Staa-
ten wird eine Zusammenarbeit bisher strikt abgelehnt,
weil dies als Einmischung in die Belange eines anderen
ASEAN-Staates empfunden wird . Aber ein Blick über
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22359
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den eigenen Tellerrand würde die Zusammenarbeit för-
dern, die heute aufgrund unterschiedlicher Strukturen nur
schwer möglich ist .
Wenn in gemeinsamen Projekten geforscht und in
Thinktanks Vorschläge entwickelt werden, ist das kein
Einmischen . Man wird sich dann damit auseinanderset-
zen können, wie möglicherweise in ähnlichen Strukturen
aktuelle Themen angegangen werden können . Als Bei-
spiele seien die Korruptionsbekämpfung und der Aufbau
einer unabhängigen Justiz oder aber auch die Förderung
von erneuerbaren Energien genannt .
Das Gleiche gilt für die Bildung . Hier können es ge-
meinsame Initiativen, zum Beispiel im Bereich der beruf-
lichen Bildung, sein . Es gibt einige hervorragende Vor-
reiter wie das German-Malaysian Institute (GMI) . Von
einer solchen Institution könnte – im Sinne von „Best
Practice“ – die Idee einer sehr berufsnahen Ausbildung
in einer Partnerschaft in Nachbarländer getragen werden .
Und dann das weite Feld der Energieversorgung: Hier
könnten tri- oder sogar multilaterale Zusammenarbeiten
erhebliche Synergieeffekte freisetzen. Dies ist vorstell-
bar sowohl in einer rein technischen Zusammenarbeit
als auch in einer Konstellation, die Finanzierung, tech-
nisches Know-how und Maschinenbau mit praktischer
Umsetzung umfasst . Wichtig ist, dass konkrete Projekte
umgesetzt werden und dabei verstärkt auch auf die loka-
len Kräfte – „Regional Ownership“ ist das Stichwort – zu
setzen . Diese freizusetzen wird und muss der Anspruch
für unsere Unterstützung sein, nicht das Besserwissen in
einigen Vorzeigeprojekten .
Fazit: Der Antrag der Koalition „Trilaterale Partner-
schaften in der ASEAN-Region stärken – Deutsches
Know-how nutzen“ benennt sinnvolle Maßnahmen, wel-
che die grüne Bundestagsfraktion unterstützt . Eine ver-
besserte Abstimmung der Geberländer, die Evaluierung
bestehender trilateraler deutscher Kooperationen durch
das DEval, Prüfaufträge für die Ausweitung bestehender
trilateraler Kooperationen und gegebenenfalls die Schaf-
fung neuer Kooperationen in der ASEAN-Region, insbe-
sondere mit Blick auf die Nachhaltigkeitsziele (genannt
SDGs: Sustainable Development Goals) und das Pariser
Klimaabkommen, die Forderung nach der Einhaltung in-
ternationaler Standards (ILO-Kernarbeitsnormen unter
anderem) und die Einbeziehung der lokalen Privatwirt-
schaft sind alles Forderungen, die unsere Unterstützung
finden.
Der Antrag benennt viele gute Aspekte, wobei natür-
lich erst die Umsetzung in konkrete Maßnahmen den
Erfolg ausmachen wird . Diese Umsetzung werden wir
Grünen weiterhin beobachten und auch einfordern . Die
Chancen in der Zusammenarbeit mit den ASEAN-Län-
dern sind gerade für Deutschland und vor allem für die
mittelständische Industrie groß . Wir Grünen wollen die
Nutzung dieser Chancen nach besten Kräften unterstüt-
zen .
Anlage 24
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 19. Mai 2016 zwischen der Bun-
desrepublik Deutschland und dem Obersten
Hauptquartier der Alliierten Mächte Europa zur
Änderung des Abkommens vom 13. März 1967
zwischen der Bundesrepublik Deutschland und
dem Obersten Hauptquartier der Alliierten Mäch-
te Europa über die besonderen Bedingungen für
die Einrichtung und den Betrieb internationaler
militärischer Hauptquartiere in der Bundesrepu-
blik Deutschland (Tagesordnungspunkt 47)
Julia Obermeier (CDU/CSU): Vor wenigen Wochen
stand auf der Münchner Sicherheitskonferenz die Bedeu-
tung der NATO im Zentrum vieler Reden und Diskus-
sionsrunden . So erörterten fünf NATO-Verteidigungsmi-
nister – vom westlichsten bis hin zum östlichsten Teil des
Bündnisgebietes – die Bedeutung der transatlantischen
Verteidigungsallianz . Sie waren sich einig: Die NATO ist
alles andere als obsolet . Vielmehr nehme ihre Bedeutung
angesichts der aktuellen sicherheitspolitischen Heraus-
forderungen weiter zu .
Auch unsere Bundeskanzlerin Dr . Angela Merkel hob
hervor, dass kein einzelner Staat der Welt die Herausfor-
derungen unserer heutigen Zeit allein bewältigen könne .
Dies bedürfe großer gemeinsamer Anstrengungen . Da-
raus ergebe sich die Notwendigkeit, die multilateralen
internationalen Strukturen wie beispielsweise die NATO
zu stärken und effizienter zu gestalten.
Vor diesem Hintergrund ist auch der vorliegende Ge-
setzentwurf von großer Aktualität . Vor einigen Jahren,
auf dem Gipfel in Lissabon 2010, hat der NATO-Rat sich
darauf geeinigt, die NATO-Kommandostrukturen zu re-
formieren .
Dabei wurde der Beschluss gefasst, die Strukturen
stark zu verschlanken und die Zahl der militärischen
Hauptquartiere zu reduzieren . In der Folge wurde mit
dem gemeinsamen Hauptquartier in Lissabon eines der
operativen Kommandos der NATO geschlossen, und
auch drei taktische Kommandos für Luftstreitkräfte, See-
streitkräfte und Landstreitkräfte sowie zwei Gefechts-
stände zur Führung von Luftstreitkräften wurden aufge-
löst . Dies führte zu deutlichen Personaleinsparungen in
der NATO-Kommandostruktur: von rund 13 000 Mann
um etwa 4 000 auf weniger als 9 000 . Das heißt, die Zahl
der Dienstposten wurde um ganze 33 Prozent reduziert .
Dieser Reform fiel auch ein Standort in Deutschland
zum Opfer: Das taktische Kommando der Landstreit-
kräfte in Heidelberg mit 350 Dienstposten wurde 2013
geschlossen .
Durch die Reform sollten jedoch nicht bloß die Kom-
mandostrukturen neu und effektiver gestaltet, sondern
auch der gemeinsame NATO-Militärhaushalt durch wei-
tere Maßnahmen entlastet werden . Diesem Ziel dient
auch der vorliegende Gesetzentwurf . Darin wird ein Ab-
kommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722360
(A) (C)
(B) (D)
dem Obersten Hauptquartier der Alliierten Mächte Euro-
pa umgesetzt, indem die Kosten für die Instandsetzung
und Instandhaltung der Infrastruktur von Hauptquartie-
ren der NATO-Kommandostruktur neu aufgeteilt wer-
den . Zukünftig soll die NATO nicht mehr die gesamten
Kosten alleine tragen . Diese werden nun mit den Staaten,
in denen die NATO-Hauptquartiere liegen, geteilt .
Diese Regelung betrifft drei NATO-Stützpunkte in
Deutschland: das Hauptquartier mit dem Luftwaffenober-
kommando der NATO in Ramstein, den multinational
besetzten Gefechtsstand der NATO zur Führung von
Luftstreitkräften in Uedem und das erste NATO-Fern-
meldebataillon in Wesel . Für diese Standorte übernimmt
die Bundesrepublik Deutschland zukünftig die Hälfte der
Infrastrukturkosten .
Durch diese Maßnahme entstehen dem Bund auf den
ersten Blick Kosten in Höhe von 200 000 Euro . Auf den
zweiten Blick zeigt sich jedoch: Deutschland spart durch
die Reform jedes Jahr über 1,5 Millionen Euro . Diese
Einsparungen entstehen, da alle Staaten mit Hauptquar-
tieren der NATO-Kommandostruktur die Hälfte der In-
frastrukturkosten übernehmen und hierdurch im Mili-
tärhaushalt der NATO insgesamt fast 12 Millionen Euro
eingespart werden . Da Deutschland als zweitgrößter
NATO-Beitragszahler – nach den USA und vor Frank-
reich – fast 15 Prozent des Etats trägt, profitieren wir fi-
nanziell auch sehr stark durch die Neuregelung .
Wir unterstützen den vorliegenden Gesetzentwurf . Er
ist Teil der Reform, die die Strukturen der NATO schlan-
ker, effektiver und erschwinglicher macht. Das ist wich-
tig; denn wir brauchen ein starkes transatlantisches Ver-
teidigungsbündnis .
Matthias Ilgen (SPD): Der vorliegende Gesetzent-
wurf spiegelt die Umsetzung von Teilen einer bereits im
Jahre 2010 beschlossenen NATO-Reform wider . Die-
se Reform wiederum mündete im letzten Jahr in einem
Änderungsabkommen zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und dem Obersten Hauptquartier der Alli-
ierten Mächte in Europa . Der daraus resultierende Ge-
setzentwurf sieht, kurz gesprochen, eine Umschichtung
der durch NATO-Hauptquartiere in Deutschland entste-
henden Kosten vor .
Das klingt zunächst vielleicht etwas plastisch, be-
trifft aber hierzulande beispielsweise das sogenannte
„Headquarters Allied Air Command“, oder kurz: „HQ
AIRCOM“, in Ramstein oder auch das „Headquarters
Rapid Deployable German-Netherlands Corps“ in Müns-
ter .
Die bisherige Regelung, was die Unterhaltung der NA-
TO-Hauptquartiere betrifft, entstammt dem Abkommen
von 1967 und sieht dabei eine Übernahme der Kosten
seitens der NATO zu 100 Prozent vor . Im Zuge der Re-
form der NATO-Kommandostruktur aus dem Jahre 2010
wurde beschlossen, diesen Schlüssel dahingehend anzu-
passen, dass sich künftig NATO und Gastgeberland diese
Kosten hälftig teilen, also im Verhältnis 50 : 50, statt wie
bisher der angesprochenen 100 : 0 .
Das Zahlenspiel klingt komplizierter, als es ist: Durch
diese hälftige Übernahme der Kosten für Liegenschafts-
instandsetzung und Liegenschaftsinstandhaltung entste-
hen im Kapitel 1408 des Bundeshaushaltes – das ist das
Kapitel im Haushalt des Bundesministeriums der Vertei-
digung, welches sich unter dem Schlagwort „Unterbrin-
gung“ auch mit den Liegenschaften beschäftigt – Mehr-
ausgaben in Höhe von 200 000 Euro . Auf der anderen
Seite reduzieren sich die Ausgaben in Kapitel 1401 –
dieses Kapitel betrifft unter anderem die sogenannten
„Verpflichtungen im Rahmen der Mitgliedschaft zur
NATO“ – um gut 1,7 Millionen Euro .
Diese Zahl ergibt sich aus der Tatsache, dass die
NATO derzeit 23,6 Millionen Euro für die Unterhaltung
der Hauptquartiere ausgibt . An der in Zukunft eingespar-
ten Hälfte dieser Summe, nämlich 11,8 Millionen Euro,
ist Deutschland, durch seinen Anteil am NATO-Haushalt
von 14,65 Prozent – ich hoffe, Sie sind noch bei mir –,
mit eben diesen besagten 1,7 Millionen Euro beteiligt .
Nach Adam Riese führt der vorliegende Gesetzentwurf
also zu Minderausgaben von 1,5 Millionen Euro . Ja, man
mag es kaum glauben, aber hier liegt ein Gesetz vor, wel-
ches bei uns in Deutschland zu haushälterischen Einspa-
rungen führt .
Anderen Ländern, deren Anteil am NATO-Bud-
get prozentual kleiner ist, die aber über entsprechende
NATO-Hauptquartiere innerhalb ihrer Landesgrenzen
verfügen, entstehen dadurch durchaus Mehrkosten . Der
Punkt ist allerdings, dass die Verteilung der Gesamtkos-
ten auf die Mitgliedsländer der NATO sich in Zukunft
etwas gerechter darstellt .
Mir ist bei all diesen Zahlenspielen schon klar, dass
es trotz Einsparungen jetzt wieder aus bestimmten Rich-
tungen des Hauses das übliche Getöse gibt: „NATO ab-
schaffen!“ und „Kein Geld mehr für die NATO!“ – das
sind hanebüchene Forderungen, die uns in diesem hohen
Hause nur allzu vertraut sind .
Fest steht aber: Die NATO ist für Deutschland seit
über 60 Jahren ein Garant für unsere Sicherheit und für
die westliche Sicherheitsarchitektur als Ganzes . Ob Sie
das nun gerne hören oder nicht . Daran wird zukünftig
weder ein Donald Trump etwas ändern noch die Kolle-
ginnen und Kollegen von der Linkspartei .
Gerade die seit einigen Jahren veränderte sicherheits-
politische Lage innerhalb Europas macht die NATO auf
absehbare Zeit unersetzlich . Umso wichtiger ist es dabei,
diese Institution eben nicht „obsolete“ werden zu lassen,
wie vor einigen Wochen noch der neu gewählte US-ame-
rikanische Präsident wenig eloquent propagierte, oder
die NATO gar institutionellen Staub ansetzen zu lassen,
sondern sie auch weiterhin modern, dynamisch und fit zu
halten, um eben auch in Zukunft ein Instrument an der
Hand zu haben, mit Hilfe dessen Deutschland auf sicher-
heitspolitische Herausforderungen angemessen reagieren
kann . Deshalb ist es wichtig, die auf NATO-Ebene ange-
schobenen Reformen auch hierzulande umzusetzen .
Der Bundesrat hat diesem Entwurf in seiner Sitzung
am 10 . Februar bereits ohne Einwendungen zugestimmt .
Wir als SPD-Bundestagsfraktion schließen uns den Kol-
https://de.wikipedia.org/wiki/Gefechtsstand
https://de.wikipedia.org/wiki/Luftstreitkr%C3%A4fte
http://www.1gnc.org/
http://www.1gnc.org/
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22361
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(B) (D)
leginnen und Kollegen aus den Ländern an und stimmen
diesem Entwurf ebenfalls zu .
Inge Höger (DIE LINKE): Die NATO ist ein Re-
likt des Kalten Krieges . Sie bezeichnet sich als Vertei-
digungsbündnis und ist in Wirklichkeit doch meist ein
Angriffsbündnis. Betrachtet man ihr Wirken in den Jahr-
zehnten seit Ende des Kalten Krieges, dann ist sie bes-
tenfalls überflüssig. Überall, wo die NATO konkret aktiv
war, wie im Jugoslawienkrieg, in Afghanistan etc ., war
ihr Handeln jedoch extrem destruktiv . Die NATO ist so-
wohl verantwortlich für die Zerstörung ganzer Regionen
und unzähliger Menschenleben als auch für Angriffe auf
das Völkerrecht und die Destabilisierung vieler Länder .
Das Gebot der Stunde ist die Auflösung der NATO,
nicht eine Neuordnung der Finanzierung dieses Bünd-
nisses . In dem vorliegenden Gesetzentwurf geht es vor-
dergründig darum, dass zukünftig die Staaten, in denen
es NATO-Kommandostrukturen gibt, die Hälfte der Un-
terhalts- und Instandsetzungskosten für diese Kriegsin-
frastruktur bezahlen . Damit müssen einerseits die Statio-
nierungsländer mehr zahlen, und andererseits werden das
zentrale NATO-Budget und der Anteil der Mitgliedslän-
der daran entlastet . Angesichts der Milliardenausgaben
für Kriege und Kriegsvorbereitungen geht es hier nur um
die Umverteilung von 11,8 Millionen Euro jährlich . Zu
berücksichtigen ist dabei, dass die Liegenschaften des
Bundes der NATO unentgeltlich zur Nutzung überlassen
werden und nur die Kosten der Instandsetzung und In-
standhaltung nun anders verteilt werden .
Die Linke befürchtet, dass diese Gesetzesänderung nur
einer von vielen Schritten ist, mit denen die NATO mit
einem immer größeren Budget ausgestattet und auch der
deutsche Militäretat immer weiter aufgebläht wird . Bei
diesem Gesetz geht es wohl „nur“ um die anteilige Fi-
nanzierung der NATO-Kommandobehörde zur Führung
von Luftstreitkräften in Ramstein und den NATO-Ge-
fechtsstand zur Führung von Luftstreitkräften in Uedem .
Zukünftig geht es wohl um weitere NATO-Strukturen
wie etwa in Geilenkirchen und Kalkar .
Darüber hinaus wird bereits diskutiert, dass Deutsch-
land sich in noch größerem Umfang als bisher an den
US-Stützpunkten und Kommandostrukturen hierzulande
beteiligt . Da ginge es dann um ganz andere Beträge . Alle
momentan vorbereiteten Entscheidungen im Bereich
der Militärausgaben stehen unter der Vorgabe bzw . dem
Ziel, zukünftig 2 Prozent des Bruttoinlandsproduktes
in Kriegsvorbereitungen zu investieren . Wenn dies tat-
sächlich umgesetzt wird – und nicht nur Ursula von der
Leyen hat dies zugesagt –, dann bedeutet dies, dass das
wirtschaftsstarke Deutschland bis 2024 mehr Militäraus-
gaben hat als Russland . Ein militärisch starkes Deutsch-
land, mit starken Ansprüchen im Bereich der Macht- und
Interessenpolitik – das war noch nie ein Vorbote für eine
friedliche Entwicklung .
Egal ob die neue Aufrüstungswelle mit dem Druck
aus Washington oder mit der globalen Sicherheitslage
begründet wird: Sie ist in jedem Fall eine falsche und ge-
fährliche Entwicklung . Nötig sind Abrüstungsinitiativen
und eine Rückkehr zu vertrauensbildenden Maßnahmen .
In diesem Kontext lehnt die Linke jede Reform der
NATO-Strukturen ab, die nicht zu Abrüstung führt . Wir
fordern den Austritt Deutschlands aus der NATO und
werden an der Mobilisierung der Proteste gegen den
nächsten NATO-Gipfel im Mai in Brüssel mitwirken .
Wir wollen die Stimmen für eine friedliche Zukunft stär-
ken .
Dr. Tobias Lindner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Wir debattieren den Entwurf eines Gesetzes, das die
zwischen dem obersten Hauptquartier der NATO und
der Bundesrepublik Deutschland ausgehandelten Än-
derungen des Vertrages ratifiziert, der 1967 zwischen
diesen beiden Parteien geschlossen wurde . In der Sa-
che geht es im Kern darum, dass die Instandsetzung
und Instandhaltung von NATO-Hauptquartieren künftig
jeweils zur Hälfte von der NATO und dem jeweiligen
Aufnahmestaat getragen werden sollen . Bei der Über-
lassung von Liegenschaften und bei Baumaßnahmen
wird den Vertragsparteien die Möglichkeit eingeräumt,
hinsichtlich der Kostenverteilung spezifische Regelun-
gen und Vereinbarungen zu treffen. Das Abkommen geht
auf den Beschluss der Staats- und Regierungschefs der
NATO-Mitgliedstaaten zu einer neuen Kommandostruk-
tur der NATO von 2010 zurück . Für die Bundesrepublik
Deutschland entstehen hierdurch Mehrkosten in Höhe
von 200 000 Euro . Laut Gesetzentwurf stehen diesen er-
hebliche Einsparungen im NATO-Haushalt gegenüber,
an denen Deutschland in der Höhe von 1,72 Millionen
Euro teilhat .
Die NATO setzt sich mit einer Vielzahl von Heraus-
forderungen in unserer Welt auseinander . Durch das
aggressive Vorgehen Russlands in der Ukraine hat die
Bündnisverteidigung gerade für die östlichen Mitglied-
staaten eine wichtige Rolle eingenommen . Zahlreiche
Maßnahmen, die auf den Gipfeln in Wales und Warschau
beschlossen wurden, sollen die Entschlossenheit des
Bündnisses in Gänze und die Solidarität zwischen den
Bündnispartnern unterstreichen . Das Ganze soll dem
Zweiklang der Abschreckung und des Dialogs dienen .
Das ist richtig, weil wir unseren östlichen Bündnispart-
nern gegenüber solidarisch sein müssen . Wichtig ist mir,
dabei nochmals deutlich zu unterstreichen, dass wir zwar
durchaus die Notwendigkeit sehen, unsere östlichen
Bündnispartner auch mit Beiträgen der Bundeswehr zu
unterstützten, es jedoch unerlässlich ist, den Dialog mit
gleicher Kraft, nein noch viel stärker zu verfolgen . Eine
militärische Lösung wird es nicht geben, und es wäre
nichts fataler, als wieder in die Logik des Kalten Krieges,
der massiven Abschreckung und von Rüstungsspiralen
zurückzuverfallen .
Vor dem Hintergrund der für die NATO wieder ge-
stiegenen Bedeutung der Bündnisverteidigung hat die
Bundesregierung den Verteidigungsetat bereits erhöht .
Die USA haben auch schon vor Präsident Trump gefor-
dert, dass die Mitgliedstaaten das 2-Prozent-Ziel erfüllen
sollen . Die Bundesregierung hatte in Wales zugesagt,
das Erreichen dieses Ziels anzustreben . Inzwischen wol-
len Frau Merkel und Frau von der Leyen es nicht nur
versuchen, sondern tatsächlich im nächsten Jahrzehnt
erreichen . Das käme einer massiven Aufstockung des
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722362
(A) (C)
(B) (D)
Verteidigungshaushaltes gleich . In diesem Jahr hätten
die Ausgaben nach NATO-Kriterien bei 65 Milliarden
Euro liegen müssen, also 26 Milliarden Euro über dem
tatsächlichen Ansatz .
Es ist nicht zielführend, die Beiträge der NATO-Staa-
ten zum Bündnis am Erreichen des 2-Prozent-Zieles fest-
zumachen . Die Berechnungen der Militärausgaben nach
NATO-Kriterien enthalten auch Ausgaben wie Pensions-
zahlungen, die zur tatsächlichen Verteidigungsfähigkeit
nichts beitragen . Der Input alleine reicht als Messgrö-
ße nicht aus . Viel wichtiger ist es, sich den Output an-
zuschauen, also was die Streitkräfte leisten . Die NATO
muss ihre Messgrößen über das 2-Prozent-Ziel hinaus
weiterentwickeln, sodass nicht einfach nur Geldausge-
ben, sondern die konkreten Beiträge der Staaten aner-
kannt werden .
Pauschale Rufe nach einer Erhöhung des deutschen
Verteidigungshaushaltes sind nicht zielführend . Eine Er-
höhung macht ganz besonders dann keinen Sinn, wenn
nur des Ausgebens wegen gekauft wird und wenn die
Beschaffungsstrukturen so problembehaftet sind wie die
der Bundeswehr . Viel mehr Geld hilft nicht zwingend
viel . Die europäischen Staaten könnten durch eine bes-
sere Abstimmung untereinander mit dem gleichen Geld
weitaus mehr zur NATO beitragen als bisher . Insofern ist
die Zusage von Kanzlerin Merkel und Verteidigungsmi-
nisterin von der Leyen – zumal sie nicht einmal sagen,
wofür genau sie das viele Geld ausgeben wollen – falsch .
Vor diesem Hintergrund gehen wir nun in die Bera-
tungen des vorliegenden Gesetzentwurfes und werden
die geänderte Kostenverteilung bei der Unterhaltung von
NATO-Hauptquartieren wohlwollend prüfen .
Markus Grübel, Parl. Staatssekretär bei der Bun-
desministerin der Verteidigung: Mit dem vorliegenden
Entwurf eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 19 . Mai
2016 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und
dem Obersten Hauptquartier der Alliierten Mächte Eu-
ropa (SHAPE1) zur Änderung des Abkommens vom
13 . März 1967 zwischen der Bundesrepublik Deutsch-
land und SHAPE über die besonderen Bedingungen für
die Einrichtung und den Betrieb internationaler militä-
rischer Hauptquartiere in der Bundesrepublik Deutsch-
land, dem sogenannten Ergänzungsabkommen zum
Hauptquartier-Protokoll, das wir heute in erster Lesung
beraten, soll die innerstaatliche Umsetzung des Ände-
rungsabkommens erfolgen .
Das Änderungsabkommen verfolgt das auf politischer
Ebene beschlossene Ziel, die Kosten der Instandset-
zung und Instandhaltung der Infrastruktur von militäri-
schen Hauptquartieren der NATO-Kommandostruktur
zwischen der NATO und der Bundesrepublik Deutsch-
land als Aufnahmestaat aufzuteilen . Die gegenwärtige
Fassung des Ergänzungsabkommens zum Hauptquar-
tier-Protokoll von 1967 weist diese Infrastrukturkosten
ausschließlich der NATO zu .
Das Änderungsabkommen geht auf den Beschluss
des NATO-Rates zurück, den NATO-Militärhaushalt
entsprechend der von den Staats- und Regierungschefs
der NATO-Mitgliedstaaten veranlassten und inzwischen
durchgeführten Reorganisation der NATO-Kommando-
struktur zu entlasten . Hierzu ist unter anderem vorgese-
hen, dass Aufnahmestaaten NATO-Hauptquartiere der
NATO-Kommandostruktur, die sich in ihrem Hoheitsge-
biet befinden, künftig in verstärktem Maße im Rahmen
des sogenannten Host Nation Support unterstützen . In
Deutschland betrifft dies die NATO-Hauptquartiere in
Uedem, Wesel und Ramstein . So sollen die Kosten für
die Instandsetzung und Instandhaltung der Liegenschaf-
ten von NATO-Hauptquartieren nicht mehr – wie bis-
her – ausschließlich von der NATO getragen, sondern
zwischen der NATO und dem jeweiligen Aufnahmestaat
hälftig aufgeteilt werden .
Die NATO will mit der neuen Kostenregelung Ein-
sparungen im NATO-Haushalt erreichen . Diese sollen
sich – bezogen auf den gegenwärtigen Haushalt – auf
rund 11,8 Millionen Euro pro Jahr belaufen . Bei ei-
nem deutschen Finanzierungsanteil von 14,654 Prozent
wird Deutschland entsprechend seinem Anteil mit rund
1,72 Millionen Euro an diesen Einsparungen teilhaben .
Diesen Einsparungen in Bezug auf den NATO-Haus-
halt stehen gegenwärtig Mehrausgaben in Höhe von rund
0,2 Millionen Euro für die hälftige Übernahme der Kos-
ten für die Liegenschaftsinstandsetzung und -instandhal-
tung der NATO-Hauptquartiere in Deutschland gegen-
über . Zudem erfordert die Umsetzung der Regelung zur
geänderten Kostenaufteilung zusätzliche Personalres-
sourcen zur Erbringung liegenschaftsbezogener Leistun-
gen für die NATO-Hauptquartiere in Deutschland . Dies
wird im Rahmen der Trendwende Personal berücksich-
tigt und mit Kosten in Höhe von rund 0,6 Millionen Euro
pro Jahr zu Buche schlagen .
Die Mehrkosten liegen damit trotz der organisatori-
schen und personellen Anpassungen immer noch deut-
lich unter den jährlichen Einsparungen beim deutschen
Anteil an den im NATO-Militärhaushalt veranschlag-
ten, von der NATO zu tragenden Infrastrukturkosten für
NATO-Hauptquartiere insgesamt .
Mit der Änderung des Ergänzungsabkommens leistet
Deutschland seinen solidarischen Beitrag zur Umsetzung
des Beschlusses des NATO-Rates, den NATO-Militär-
haushalt deutlich zu entlasten . Die Inkraftsetzung des Än-
derungsabkommens ist darüber hinaus für Deutschland
finanziell von Vorteil, da die Einsparungen am deutschen
Anteil des NATO-Militärhaushaltes die Mehrausgaben
für die Liegenschaftsinstandsetzung und -instandhaltung
der drei NATO-Hauptquartiere in Deutschland überwie-
gen .
Anlage 25
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– des von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung eines
familiengerichtlichen Genehmigungsvorbehal-
tes für freiheitsentziehende Maßnahmen bei
Kindern
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22363
(A) (C)
(B) (D)
– des von den Abgeordneten Corinna Rüffer,
Katja Keul, Katja Dörner, weiteren Abgeordne-
ten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuchs
zur Einführung eines gerichtlichen Genehmi-
gungserfordernisses bei freiheitsbeschränken-
den Maßnahmen gegenüber Kindern
(Tagesordnungspunkt 48 a und b)
Dr. Silke Launert (CDU/CSU): Wir beraten heute
über ein sensibles Thema, über das keiner gerne spricht:
Es geht um „freiheitsentziehende Maßnahmen bei Kin-
dern“ in Heimen, Krankenhäusern und anderen Einrich-
tungen . Leider gibt es Situationen, in denen sich aus
Gründen des Kindeswohls die Frage nach dem Einsatz
freiheitsentziehender Maßnahmen wie beispielsweise
mechanische Vorrichtungen (Fixierung am Bett etc .) oder
Medikamente stellt, weil sich das Kind sonst selbst oder
andere gefährden würde . Leidet beispielsweise ein jun-
ges Mädchen an einer lebensbedrohlichen Magersucht
und wiegt nur noch 30 Kilogramm bei einer Größe von
179 Zentimetern, so muss wahrscheinlich eine Zwangs-
ernährung erfolgen, um das Leben des Mädchens zu ret-
ten . Ein Junge, der mit Selbstmordgedanken in eine kin-
der- und jugendpsychiatrische Klinik eingeliefert wird,
muss in der Nacht an seinem Bett fixiert werden, um zu
verhindern, dass er sich selbst verletzen kann .
Freiheitsbeschränkende Maßnahmen sind immer ein
sehr schwerwiegender Eingriff in die Persönlichkeits-
und Schutzrechte eines Menschen und dürfen dement-
sprechend nur als allerletztes Mittel der Hilfe und des
Schutzes eingesetzt werden . In den von mir benannten
Beispielen handelt es sich um Situationen, in denen mit
den entsprechenden Maßnahmen wohl das letztmögliche
Mittel zum Schutz der Kinder ausgeschöpft wurde .
Leider gibt es aber auch Fälle, in denen freiheitsent-
ziehende Maßnahmen zu leichtfertig angewendet wer-
den . In jüngerer Zeit sind einige Fälle von Einrichtungen
bekannt geworden, in denen Kinder mit geistigen und
seelischen Behinderungen regelmäßig freiheitsbeschrän-
kenden Maßnahmen ausgesetzt wurden, obwohl mildere
Maßnahmen möglich gewesen wären . Hier mangelt es
vielleicht im Einzelfall am Wissen des Personals um die
Bedeutung der freiheitsentziehenden Maßnahme, oder
aber es ist nicht genügend Personal vorhanden, um eine
Freiheitsentziehung zu vermeiden .
In Gesprächen mit Experten wurde mir zudem be-
richtet, dass freiheitsentziehende Maßnahmen von den
betroffenen Kindern häufig als intensivere Beeinträch-
tigung wahrgenommen werden als die eigentliche Un-
terbringung . Das ist für mich nachvollziehbar: Während
sich Kinder bei einer Unterbringung frei auf der Station
bewegen können, spüren sie bei einer Fixierung durch
Gurte oder beim Einschluss in einen Raum unmittelbar
die fehlende Bewegungsmöglichkeit .
Bislang unterliegen in Deutschland nur Unterbringun-
gen von Minderjährigen, die mit einer Freiheitsentzie-
hung verbunden sind, einer Genehmigung des Familien-
gerichts . Für die unterbringungsähnlichen Maßnahmen
sieht das Gesetz dagegen anders als das Betreuungsrecht
für volljährig Betreute keine gerichtliche Genehmi-
gungspflicht vor. Über diese Maßnahmen entscheiden al-
lein die Eltern im Rahmen ihrer elterlichen Sorge . Das ist
auch grundsätzlich richtig so . Das Verfassungsrecht legt
den Vorrang der elterlichen Verantwortung fest, weil es
davon ausgeht, dass die Eltern selbst am besten wissen,
was gut für das eigene Kind ist .
Allerdings sieht das Grundgesetz auch eine Wächter-
funktion des Staates vor, die gerade in der vorliegenden
Situation entscheidend ist. Die Eltern befinden sich ver-
ständlicherweise in einer besonderen emotionalen Belas-
tungssituation, wenn sie darüber entscheiden müssen, ob
bei ihrem Kind freiheitsentziehende Maßnahmen ange-
wendet werden dürfen . Nicht selten stehen sie in einem
schwierigen Interessenkonflikt zwischen dem Schutz ih-
res Kindes einerseits und dem Wunsch nach einer fach-
gerechten Betreuung andererseits . In solchen Drucksitu-
ationen werden teilweise weitreichende Einwilligungen
erteilt und Empfehlungen von Ärzten und Pflegepersonal
nicht immer hinterfragt . Anders als zu Hause geben die
Eltern aber ihre Kontrollmöglichkeit an die Einrichtun-
gen ab und müssen auf eine verhältnismäßige Anwen-
dung durch das Personal vertrauen .
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wollen wir
die Eltern deshalb bei dieser schwierigen Entscheidung
unterstützen: Künftig sollen auch freiheitsentziehende
Maßnahmen bei Kindern nur nach gerichtlicher Prüfung
und Genehmigung des Familiengerichts zulässig sein .
Dabei ist es der Union ein wichtiges Anliegen, dass wir
das grundrechtlich geschützte Elternrecht vollumfäng-
lich erhalten . Auch nach dem vorliegenden Gesetzent-
wurf obliegt die Entscheidung, ob und in welcher Art und
Weise eine freiheitsentziehende Maßnahme durchgeführt
werden darf, daher ausschließlich den Eltern . Lehnen sie
eine Maßnahme ab, darf diese daher auch künftig von
dem Heim oder der Einrichtung nicht durchgeführt wer-
den . Nur wenn die Eltern eine Maßnahme bejahen, soll
diese zusätzlich durch das Familiengericht überprüft und
genehmigt werden .
Schließlich will ich noch darauf hinweisen, dass das
Genehmigungserfordernis selbstverständlich nicht im el-
terlichen Haushalt gilt . Ein Bedürfnis für die zusätzliche
Überprüfung durch das Familiengericht besteht nur dann,
wenn die Eltern ihre eigene Kontrollmöglichkeit abgege-
ben haben, weil sich ihr Kind in einem Heim oder einer
Einrichtung befindet.
Zusammenfassend möchte ich sagen: Die Entschei-
dung für oder gegen freiheitsentziehende Maßnahmen
kann mitunter erhebliche Folgen für die Entwicklung des
Kindes oder des Jugendlichen haben . Eltern sollten in
dieser Situation, die in der Regel ohnehin schon äußerst
belastend ist, nicht allein gelassen werden und sich allein
auf die Einschätzung der Einrichtung verlassen müssen .
Ich hoffe daher, dass wir im weiteren Verlauf des
parlamentarischen Verfahrens zu einem guten Ergebnis
kommen .
Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU): Wir
beraten heute in erster Lesung den Gesetzentwurf der
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722364
(A) (C)
(B) (D)
Bundesregierung zur Einführung eines familiengericht-
lichen Genehmigungsvorbehaltes für freiheitsentziehen-
de Maßnahmen bei Kindern . Mit dem Gesetzentwurf
sollen bestimmte freiheitsentziehende Maßnahmen bei
Minderjährigen unter den Vorbehalt der Genehmigung
des Familiengerichts gestellt werden . Derzeit besteht
eine solche Genehmigungspflicht nur für eine freiheits-
entziehende Unterbringung in einem Heim, nicht aber
für sonstige freiheitsentziehende Maßnahmen wie zum
Beispiel eine Fixierung . Im Betreuungsrecht bedürfen
solche Maßnahmen zum Schutz der betroffenen Erwach-
senen einer gerichtlichen Genehmigung . Im Interesse des
Kinderschutzes sollen daher künftig auch Maßnahmen,
mit denen Kindern und Jugendlichen über einen längeren
Zeitraum oder regelmäßig auf nicht altersgerechte Wei-
se die Freiheit entzogen werden soll – gemeint sind hier
zum Beispiel Fixierungen, medikamentöse Sedierungen,
Anbringen von Bettgittern –, nicht ohne gerichtliche
Kontrolle zulässig sein . Das Familiengericht muss im-
mer dann eingeschaltet werden, wenn sich das Kind in
einem Krankenhaus, einem Heim oder einer ähnlichen
Einrichtung befindet.
Aus meiner Sicht ist der vorgelegte Entwurf ein wich-
tiger Baustein für besseren Kinderschutz . Wir als CDU/
CSU-Bundestagsfraktion haben uns mit Nachdruck für
eine gesetzliche Regelung eingesetzt, um damit auf
teilweise unhaltbare Zustände in Heimen und Kranken-
häusern reagieren zu können . Als ehemaliger Familien-
richterin bin ich davon überzeugt, dass es allen Beteilig-
ten – den Eltern, dem Heim- oder Krankenhauspersonal,
aber allen voran den Kindern – hilft, wenn sich ein Rich-
ter oder eine Richterin mit juristischer Fachkunde und
mit professioneller Distanz prüft, ob etwas so Einschnei-
dendes wie eine Freiheitsentziehung dem Kindeswohl
entspricht .
Sachverständige und Praktiker aus dem Bereich der
Kinder- und Jugendpsychiatrie berichten uns zum Teil
von erschreckenden Verhältnissen in einzelnen Einrich-
tungen . Kinder würden oftmals über längere Zeit mit
mechanischen oder medikamentösen Mitteln „ruhig ge-
stellt“, ohne dass es dafür einen unabweisbaren Bedarf
gebe. Die betreffenden Eltern seien schlichtweg überfor-
dert, im Sinne ihres Kindes sachgerechte Entscheidun-
gen zu treffen. Sie befinden sich bei der Entscheidung
über freiheitsentziehende Maßnahmen meist in einer
besonderen Belastungssituation; sie sehen sich in einem
Interessenskonflikt, weil sie einerseits die Grundrech-
te ihres Kindes schützen wollen und andererseits errei-
chen möchten, dass ihr Kind fachgerecht behandelt wird .
In solchen Situationen werden oftmals weitreichende
Vollmachten an Ärzte oder Betreuungspersonal erteilt,
die in ihren Auswirkungen von den Eltern weder kon-
trolliert noch hinterfragt werden können . Eltern stehen
teilweise unter solchem Druck, dass sie Einwilligungen
in freiheitsentziehende Maßnahmen auch erteilen, wenn
sie vermieden werden könnten . Die Sachverständigen
berichten zudem, dass Fixierungen von den Kindern oft-
mals als einschneidender erlebt würden als zum Beispiel
eine Unterbringung auf einer geschlossenen Station .
Vor dem Hintergrund solcher Schilderungen müssen
wir als Gesetzgeber dafür sorgen, dass Eingriffe in die
Rechte des Kindes nur dann erfolgen, wenn sie geeignet,
erforderlich und angemessen sind . Die Überprüfung ei-
ner solchen Maßnahme durch eine unabhängige Instanz
entlastet zudem die Eltern und hilft ihnen dabei, die Inte-
ressen des Kindes jeweils am besten wahrzunehmen . Die
Schaffung eines familiengerichtlichen Genehmigungs-
vorbehaltes ist aus meiner Sicht das gebotene Mittel .
Zugleich muss sich dieser Genehmigungsvorbehalt auf
das notwenige Maß beschränken . Es muss zum Beispiel
klar sein, dass nicht das Familiengericht einzuschalten
ist, wenn ein Kind in der Kita in einen Hochstuhl ge-
setzt wird . Auf solche Konstellationen hin, in denen ein
Genehmigungsvorbehalt unangebracht wäre, werden wir
den Gesetzentwurf in den parlamentarischen Beratungen
genau prüfen .
Wichtig ist uns außerdem, dass das Elternrecht ge-
wahrt bleibt . In Artikel 6 Absatz 2 des Grundgesetzes ist
festgeschrieben: Pflege und Erziehung der Kinder sind
das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ih-
nen obliegende Pflicht. Dafür stehen wir als CDU und
CSU ein – und das gilt auch bei diesem Gesetzentwurf .
Der Entscheidungsvorrang der sorgeberechtigten Eltern
bleibt in vollem Umfang gewahrt . Die Befugnis zur Ent-
scheidung über den Einsatz freiheitsentziehender Maß-
nahmen und die Art und Weise ihrer Anwendung liegen
weiterhin bei den Eltern . Lehnen sie eine Maßnahme ab,
darf sie nicht durchgeführt werden . Entscheiden sich die
Eltern aber für eine freiheitsentziehende Maßnahme bei
ihrem Kind, das sich in einem Krankenhaus, einem Heim
oder einer anderen Einrichtung aufhält, muss das Fami-
liengericht zustimmen, wenn die Maßnahme über einen
längeren Zeitraum oder regelmäßig in nicht altersgerech-
ter Weise erfolgen soll . Das entspricht der staatlichen
Wächterfunktion, die ebenfalls in Artikel 6 Absatz 2 des
Grundgesetzes ihre Grundlage findet. Das Familienge-
richt hat im Verhältnis zum Elternrecht keine ersetzende,
sondern eine unterstützende Funktion . Der neue Geneh-
migungstatbestand soll um notwendige verfahrensrecht-
liche Anpassungen ergänzt werden; so soll der Min-
derjährige einen Verfahrensbeistand erhalten, um seine
Interessen im Verfahren zur Geltung zu bringen . Zudem
soll die Höchstdauer der freiheitsentziehenden Maßnah-
me von bisher zwölf auf sechs Monate verkürzt werden .
Ein Wort noch zu dem Gesetzentwurf von Bünd-
nis 90/Die Grünen, der heute ebenfalls in erster Lesung
beraten wird: In der Zielrichtung sind wir uns mit Ihnen
einig . Ich glaube allerdings, dass der Gesetzentwurf der
Koalition das Problem wesentlich zielgenauer adressiert .
Weil Sie keine Beschränkung auf nicht altersgerechte
Maßnahmen vorsehen, müsste zum Beispiel die Kita bei
jedem Kleinkind, das zum Mittagessen in den Hochstuhl
gesetzt wird, zunächst das Familiengericht anrufen .
Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Eine mit Freiheits-
entziehung verbundene Unterbringung von Minderjähri-
gen muss laut § 1631b Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)
vom Familiengericht genehmigt werden . Sogenannte
freiheitsbeschränkende oder unterbringungsähnliche
Maßnahmen unterliegen hingegen keiner richterlichen
Genehmigungspflicht. Für diese Maßnahmen ist eine Zu-
stimmung der Sorgeberechtigten ausreichend .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22365
(A) (C)
(B) (D)
Unabhängig von der Frage, ob solche Methoden der
Behandlung unabdingbar sind, ist eine neben das Eltern-
recht tretende weitere Kontrollinstanz zunächst offen-
sichtlich zu begrüßen, zumal die Wirkung von Fixierun-
gen oder auch Sedierung bei Kindern gravierender sein
kann als die Unterbringung an sich .
Während bei erwachsenen Betreuten bei solchen
Maßnahmen eine betreuungsgerichtliche Genehmigung
einzuholen ist, ist eine solche Genehmigungspflicht nach
§ 1906 BGB auf das Kindschaftsrecht nicht analog an-
wendbar .
Legt man die entsprechenden Artikel der UN-Kinder-
rechtskonvention und die UN-Behindertenrechtskonven-
tion zugrunde, ist die Genehmigungspflicht bei freiheits-
beschränkenden Maßnahmen von Minderjährigen nur der
logische Schluss . Dies würde auch, wie es die Grünen in
ihrem Gesetzentwurf betonen, die bisher unzureichende
gesetzliche Regelung im Sinne einer Stärkung der Rechte
von Kindern und Jugendlichen ergänzen . Das wäre ein
wichtiges Signal; denn „Kinder haben besondere Bedürf-
nisse hinsichtlich ihrer Förderung, ihres Schutzes, ihrer
Mitbestimmung und ihrer Entwicklung . Kinder und Ju-
gendliche mit Behinderungen oder psychischen Erkran-
kungen haben darüber hinaus mit weiteren Barrieren zu
kämpfen und erleben häufig gesellschaftliche Diskrimi-
nierung . Sie sind eine besonders verletzliche Gruppe, die
durch das Recht geschützt werden muss“ .
Allerdings wird mit der vorgeschlagenen Regelung der
Widerspruch zwischen Elternrecht einerseits und Recht
des Kindes andererseits nicht aufgelöst, wie es auch in
der Beschlussempfehlung des Bundesrates aufgezeigt
wird . Allein den Blick auf das Genehmigungsverfahren
zu lenken und damit zu suggerieren, die Situation sei ge-
klärt, reicht eben nicht aus .
Viel wichtiger wäre es, die entsprechenden Fachberei-
che und die Jugendhilfe personell so auszustatten, dass
es möglichst nicht zu genehmigungspflichtigen Maßnah-
men kommt . Insbesondere die vorgelagerten Systeme
der Jugendhilfe, welche unterstützen und helfen können,
sind hierbei besonders zu beachten und entsprechend
auszustatten .
Es überrascht aber nicht wenig, dass es im Vorfeld
zu diesem Gesetzentwurf, anders als sonst üblich, keine
Fachdebatte mit der Jugendhilfe gab . Lediglich Ärzten
wurde die Gelegenheit zur Stellungnahme zu dem Ge-
setzentwurf gegeben, war heute in der taz zu lesen .
Ich möchte insoweit nur Wolfgang Hammer und
Friedhelm Peters zitieren, welche sich wie folgt geäußert
haben: „Was hier als Kinderschutz gedacht ist, wird zum
Einfallstor für Freiheitsentzug als pädagogischem Mittel,
wo immer Eltern und Einrichtungen sich überfordert se-
hen“ bzw . „Fixierungen mit Gurten auf einer Liege sind
ein No-Go in der Jugendhilfe“ .
Es bleibt dabei: Bei allen guten Absichten müssen der
Schutz und die Rechte des Kindes stets im Vordergrund
stehen . Und es ist Aufgabe der Jugendhilfe, dies zu ge-
währleisten . Dafür braucht sie die entsprechende per-
sonelle, fachliche und finanzielle Ausstattung. Zwangs-
maßnahmen sind kein Mittel der Jugendhilfe, sondern
Vertrauen und Zuwendung .
Ich denke, in diesem hochsensiblen Bereich werden
die Beratungen intensiv und tiefgründig unter Beteili-
gung der Jugendhilfe verlaufen .
Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Gut,
dass wir die bestehende gesetzliche Lücke beim Schutz
von Kindern und Jugendlichen endlich schließen . Gut,
dass wir uns an dieser Stelle einig sind und nach uns nun
auch die Bundesregierung einen Gesetzentwurf vorgelegt
hat . Der Bundesgerichtshof hat bereits 2013 den Gesetz-
geber aufgefordert, zu prüfen, ob eine familiengerichtli-
che Genehmigung bei freiheitsentziehenden Maßnahmen
eingeführt werden sollte .
Zwei Jahre später hat der UN-Fachausschuss für die
Rechte von Menschen mit Behinderungen in seinem
Staatenbericht die Anwendung von Zwang und unfrei-
williger Behandlung gegenüber Menschen mit Behinde-
rungen in Deutschland gerügt – auch die Tatsache, dass
nirgends dokumentiert wird, inwieweit Zwangsmaßnah-
men angewendet werden . Wir haben für alle möglichen
Dinge Statistiken, aber wir wissen nicht einmal, wo und
wie oft Zwangsmaßnahmen stattfinden. Die gesetzli-
che Neuregelung kommt also ziemlich spät und ist das
Mindeste, was wir machen müssen, um Kinder besser zu
schützen .
Zimmereinschlüsse, das oftmals stundenlange Ver-
weilen in Time-Out-Räumen, Fixierungen am Bett oder
Spezialbetten, in denen Kinder gefangen sind – all diese
Maßnahmen finden Anwendung in Einrichtungen der Be-
hindertenhilfe, der Kinder- und Jugendhilfe oder in Kin-
der- und Jugendpsychiatrien . Die Recherchen des Baye-
rischen Rundfunks, die dann im vergangenen Jahr in dem
erschütternden Beitrag Blackbox Heim veröffentlicht wur-
den, haben diese Missstände sehr eindrücklich gezeigt .
Anders als bei Erwachsenen, die unter Betreuung ste-
hen, muss derzeit bei Kindern kein Gericht solche freiheit-
beschränkenden Maßnahmen genehmigen . Das ist völlig
inakzeptabel und wird schon lange von vielen Expertin-
nen und Experten kritisiert . Kinder müssen mindestens
den gleichen Schutz erwarten können wie Erwachsene!
Das verlangen auch die UN-Behindertenrechtskonven-
tion und die UN-Kinderrechtskonvention: Keinem Kind
darf die Freiheit entzogen werden, und bei allen Maßnah-
men muss das Wohl des Kindes Vorrang haben .
Da derzeit die Zustimmung der Sorgeberechtigten
ausreicht, um freiheitsbeschränkende Maßnahmen anzu-
wenden, können Eltern unter immensen Druck geraten,
wenn sie ihr Kind aus Mangel an ambulanten Hilfen in
einer heilpädagogischen Einrichtung unterbringen müs-
sen . Eine solche Entscheidung ist für Eltern ohnehin
schon sehr schwerwiegend . Noch viel schmerzvoller
wird sie, wenn die Einrichtung von den Eltern vorab
eine pauschale Zustimmung zu freiheitsbeschränkenden
Maßnahmen verlangt . Ohne Unterschrift kein Heim-
platz; das kommt nicht selten vor . Eine solche Blanko-
vollmacht reicht künftig nicht mehr aus . Mit der neuen
gesetzlichen Regelung stärken wir also auch die Position
der Eltern gegenüber den Einrichtungen . Deshalb bin ich
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722366
(A) (C)
(B) (D)
Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
erleichtert, dass wir diese Schutzlücke nun im Sinne von
Kindern und ihren Eltern schließen .
Auch wenn wir grundsätzlich den Gesetzentwurf der
Bundesregierung begrüßen, gibt es Kritik . Der Gesetz-
entwurf sieht vor, dass im Genehmigungsverfahren frei-
heitsbeschränkender Maßnahmen ein ärztliches Zeugnis
ausreichend ist . Wie mehrere Fachverbände festgestellt
haben, ist ein solches ärztliches Zeugnis anstelle eines
Sachverständigengutachtens nicht ausreichend und birgt
das Risiko, dass die gesetzliche Neuregelung ins Leere
läuft . An dieser Stelle muss nachgebessert werden .
Außerdem schlagen wir in unserem Gesetzentwurf
vor, dass die Einrichtungen über die Anwendung von
Zwangsmaßnahmen Bericht erstatten müssen . Neben den
Familiengerichten können auch die Eltern einen solchen
Bericht anfordern . Eine solche Dokumentation der kon-
kreten Maßnahmen mit genauer Datums- und Zeitangabe
sowie einer Erläuterung zur Funktion und Erforderlich-
keit der Maßnahmen hat eine wichtige Kontrollfunktion .
Die grundsätzliche Frage, die wir uns stellen müssen,
ist jedoch: Wie lassen sich Zwangsmaßnahmen, die ja im-
mer auch eine Form von Gewalt sind, die oft demütigend
und erniedrigend sind, vermeiden? Es gibt ja zahlreiche
alternative Ansätze und Methoden, die auf Deeskalation
statt Gewalt setzen . Es ist extrem wichtig, das Mitarbei-
terinnen und Mitarbeiter in Einrichtungen diese Ansätze
kennen und anwenden können . Gewaltfreie Konzepte
müssen in der Ausbildung vermittelt werden, und wäh-
rend der Berufslaufbahn müssen regelmäßig entspre-
chende Fortbildungen und Schulungen stattfinden.
Außerdem müssen wir uns fragen, ob die bisherige
Kontrolle von Einrichtungen durch Heimaufsichten aus-
reichend ist und wie die Länder an dieser Stelle mög-
licherweise unterstützt werden können . Auch für die
Kontrolle ist gut geschultes und qualifiziertes Personal
nötig – aber auch eine ausreichende finanzielle Ausstat-
tung der zuständigen Behörden .
Auf bundesrechtlicher Ebene sind wir beim Schutz
von Kindern und Jugendlichen einen kleinen Schritt wei-
ter . Aber die Diskussion darf an dieser Stelle auf keinen
Fall enden .
Christian Lange, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
minister der Justiz und für Verbraucherschutz: Wir bera-
ten heute über den Entwurf eines Gesetzes zur Einführung
eines familiengerichtlichen Genehmigungsvorbehalts für
freiheitsentziehende Maßnahmen bei Kindern .
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht vor,
freiheitsentziehende Maßnahmen bei Minderjährigen zu-
künftig unter den Vorbehalt einer Genehmigung durch das
Familiengericht zu stellen . Freiheitsentziehende Maß-
nahmen sind Maßnahmen, die dem Betroffenen medika-
mentös oder mechanisch – etwa durch Bettgitter, Gurte,
Schutzanzüge oder sogenannte Time-Out-Räume – die
Bewegungsfreiheit entziehen . Solche Maßnahmen wer-
den in kinder- und jugendpsychiatrischen Kliniken sowie
in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und der
Behindertenhilfe bisher ohne familiengerichtliche Ge-
nehmigung eingesetzt, sofern die Eltern einwilligen . Bis-
lang bedarf nur die Unterbringung eines Minderjährigen
durch die Eltern, die mit Freiheitsentziehung verbunden
ist, einer Genehmigung des Familiengerichts . Sollen an
einem Minderjährigen dagegen weitere freiheitsentzie-
hende Maßnahmen angewandt werden, genügt hierfür
die Einwilligung der Eltern allein .
Der Bundesgerichtshof hat in einer grundlegenden Ent-
scheidung vom 7 . August 2013 klargestellt, dass die Rege-
lung des Betreuungsrechts für Erwachsene, die eine solche
Genehmigungspflicht vorsieht, mangels Regelungslücke
auf Minderjährige nicht entsprechend angewandt werden
kann . Er hat es dem Gesetzgeber überlassen, eine Rege-
lung zu treffen, wenn er sie für erforderlich hält.
Die Einführung der vorgesehenen Genehmigungs-
pflicht ist nach Auffassung der Experten aus folgenden
Gründen dringend erforderlich:
Erstens werden freiheitsentziehende Maßnahmen von
den Betroffenen häufig als besonders gravierend erlebt.
Gerade Kinder, die häufig noch einen ausgeprägten Be-
wegungsdrang haben, kommen besser damit klar, auf
einer vielleicht weitläufigen geschlossenen Station unter-
gebracht zu sein und sich wenigstens innerhalb derselben
frei bewegen zu können, als zum Beispiel damit, fixiert
zu sein . Und zweitens entlastet es auch die Eltern, wenn
eine unabhängige Instanz die Verantwortung für derart
einschneidende Eingriffe in das Freiheitsgrundrecht des
Kindes bzw . Jugendlichen mitträgt . Denn gerade die
Eltern befinden sich in einer besonderen Belastungssi-
tuation, wenn sie bezüglich ihres Kindes vor die Frage
gestellt sind, ob freiheitsentziehende Maßnahmen ange-
wandt werden sollen .
Die Einführung der Genehmigungspflicht ist in der
Fachliteratur und von Verbänden schon seit längerer Zeit
gefordert worden . Dementsprechend positiv wurde der
Gesetzentwurf aufgenommen . Auch der Bundesrat hat
den Gesetzentwurf begrüßt .
Ich bitte Sie daher, den vorliegenden Gesetzentwurf
zu unterstützen und damit den Kindesschutz weiter zu
verbessern .
Anlage 26
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Astrid Grotelüschen (CDU/
CSU) zu der namentlichen Abstimmung über den
von den Abgeordneten Christian Kühn (Tübin-
gen), Renate Künast, Luise Amtsberg, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurf eines Gesetzes
zur Dämpfung des Mietanstiegs auf angespannten
Wohnungsmärkten bei umfassenden Modernisie-
rungen (Drucksache 18/8856) (Zusatztagesord-
nungspunkt 4)
Astrid Grotelüschen (CDU/CSU): In der Ergebnis-
liste zu der namentlichen Abstimmung ist meine Abstim-
mung nicht enthalten .
Mein Votum lautet: Nein .
221. Sitzung
Inhaltsverzeichnis
TOP 3 Regierungserklärung zum Europäischen Rat
TOP 4, ZP 3 u. 4 Kündigungsschutz für Mieter und Mietpreisbremse
TOP 5 Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen
TOP 56, ZP 5 Überweisungen im vereinfachten Verfahren
TOP 57 Abschließende Beratungen ohne Aussprache
TOP 6 Wahl: Stiftung Fonds kerntechnische Entsorgung
TOP 7 Effektivere und praxistauglichere Strafverfahren
ZP 6 - 8 Frauen- und Gleichstellungspolitik
TOP 9 Stärkung der Arzneimittelversorgung in der GKV
TOP 10, ZP 9 Personalbemessung in der Altenpflege
TOP 11 Datenschutzrecht
TOP 8 Öffentliches Vermögen
TOP 13 Einführung eines Anspruchs auf Hinterbliebenengeld
TOP 14 Novellierung des Berufsbildungsgesetzes
TOP 15 Bundeswehreinsatz EUTM Somalia
TOP 12 Globale Investitionen
TOP 17 Gesetz zu Regelungen der Gesichtsverhüllung
TOP 18 Evaluierung der Staatsleistungen an Kirchen
TOP 19 Umsetzung einer EU-Richtlinie im Städtebaurecht
TOP 16 Zeit- und Kostenrahmen bei Großprojekten des Bundes
TOP 20, ZP 10 Wachstumschancen der kollaborativen Wirtschaft
TOP 21 Änderungen im Straßenverkehrsrecht
TOP 22 Neuordnung der Klärschlammverwertung
TOP 23 Carsharinggesetz
TOP 24 Änderungen im Straf- und Strafprozessrecht
TOP 25 Änderung des Sicherheitsüberprüfungsgesetzes
TOP 26 EU-Regelungen über Dienstleistungen
TOP 27 EU-Richtlinie zu Netz- und Informationssystemen
TOP 28 Förderung des elektronischen Identitätsnachweises
TOP 30 Erhöhung der Sicherheit durch Videotechnologie
TOP 31, ZP 11 Staatliche Kommunikationsinfrastruktur
TOP 32 Umsetzung von EU-Richtlinien zur Arbeitsmigration
TOP 33 Schädliche Steuerpraktiken bei Rechteüberlassungen
TOP 34 Änderung des Kraftfahrzeugsteuergesetzes
TOP 35 Recht auf Kenntnis der Abstammung bei Samenspende
TOP 36 Änderung raumordnungsrechtlicher Vorschriften
TOP 37 Änderung des Binnenschifffahrtsaufgabengesetzes
TOP 38 Ärztliche Zwangsbehandlung bei Betreuten
TOP 39 Reform des Bauvertragsrechts
TOP 40 Strafbarkeit von Sportwettbetrug
TOP 41 CSR-Richtlinie-Umsetzungsgesetz
TOP 42 Europäische Patentreform
TOP 43 Bewältigung von Konzerninsolvenzen
TOP 44 Bekämpfung der organisierten Kriminalität
TOP 46 Trilaterale Partnerschaften in der ASEAN-Region
TOP 47 Abkommen zu militärischen Hauptquartieren
TOP 48 Freiheitsbeschränkende Maßnahmen gegenüber Kindern
Anlagen
Anlage 1
Anlage 2
Anlage 3
Anlage 4
Anlage 5
Anlage 6
Anlage 7
Anlage 8
Anlage 9
Anlage 10
Anlage 11
Anlage 12
Anlage 13
Anlage 14
Anlage 15
Anlage 16
Anlage 17
Anlage 18
Anlage 19
Anlage 20
Anlage 21
Anlage 22
Anlage 23
Anlage 24
Anlage 25
Anlage 26