4) Anlage 25
        Vizepräsidentin Claudia Roth
        (A) (C)
        (B) (D)
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22265
        Anlagen zum Stenografischen Bericht
        Anlage 1
        Liste der entschuldigten Abgeordneten
        Abgeordnete(r)
        entschuldigt bis
        einschließlich
        Albsteiger, Katrin CDU/CSU 09 .03 .2017
        Andreae, Kerstin BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        09 .03 .2017
        Beermann, Maik CDU/CSU 09 .03 .2017
        Binder, Karin DIE LINKE 09 .03 .2017
        Böhmer, Dr . Maria CDU/CSU 09 .03 .2017
        Deligöz, Ekin BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        09 .03 .2017
        Dröge, Katharina * BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        09 .03 .2017
        Ehrmann, Siegmund SPD 09 .03 .2017
        Fischer (Hamburg),
        Dirk
        CDU/CSU 09 .03 .2017
        Gabriel, Sigmar SPD 09 .03 .2017
        Hasselfeldt, Gerda CDU/CSU 09 .03 .2017
        Katzmarek, Gabriele SPD 09 .03 .2017
        Kühn-Mengel, Helga SPD 09 .03 .2017
        Kunert, Katrin DIE LINKE 09 .03 .2017
        Lerchenfeld, Philipp
        Graf
        CDU/CSU 09 .03 .2017
        Leutert, Michael DIE LINKE 09 .03 .2017
        Leyen, Dr . Ursula von
        der
        CDU/CSU 09 .03 .2017
        Marks, Caren SPD 09 .03 .2017
        Mosblech, Volker CDU/CSU 09 .03 .2017
        Nahles, Andrea SPD 09 .03 .2017
        Röspel, René SPD 09 .03 .2017
        Rüffer, Corinna BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        09 .03 .2017
        Rüthrich, Susann * SPD 09 .03 .2017
        Abgeordnete(r)
        entschuldigt bis
        einschließlich
        Sarrazin, Manuel BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        09 .03 .2017
        Schlecht, Michael DIE LINKE 09 .03 .2017
        Schmidt, Dr . Frithjof BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        09 .03 .2017
        Schulte, Ursula SPD 09 .03 .2017
        Strebl, Matthäus CDU/CSU 09 .03 .2017
        Veit, Rüdiger SPD 09 .03 .2017
        Vogt, Ute SPD 09 .03 .2017
        Wagenknecht, Dr . Sahra DIE LINKE 09 .03 .2017
        Wawzyniak, Halina DIE LINKE 09 .03 .2017
        Weber, Gabi SPD 09 .03 .2017
        Wöllert, Birgit DIE LINKE 09 .03 .2017
        Zdebel, Hubertus DIE LINKE 09 .03 .2017
        *aufgrund gesetzlichen Mutterschutzes
        Anlage 2
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
        brachten Entwurfs eines Gesetzes zu bereichsspe-
        zifischen Regelungen der Gesichtsverhüllung  (Ta-
        gesordnungspunkt 17)
        Dr. Tim Ostermann (CDU/CSU): Wir alle haben den
        großen Zuzug von Menschen nach Deutschland in den
        letzten Jahren erlebt und erleben ihn auch derzeit noch .
        Unter ihnen sind viele von Krieg, Flucht und Verfolgung
        betroffene Menschen, aber auch nicht wenige, die allein
        aus wirtschaftlichen Gründen zu uns kommen . Nach ih-
        rer Ankunft ist dann nicht immer sofort klar, wer über-
        haupt hier bleiben darf und wer nicht, und es ist nicht
        klar, wie lange die Menschen bleiben werden .
        Eines ist für mich jedoch glasklar: Alle Menschen,
        die sich in Deutschland aufhalten, müssen sich an unsere
        Gesetze, an unsere Regeln halten . Dabei ist es mir be-
        wusst, dass nicht alle Menschen, die herkommen, sofort
        alle unsere kulturellen, größtenteils ungeschriebenen Re-
        geln kennen und unmittelbar befolgen können . Es gibt
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722266
        (A) (C)
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        jedoch einige Regeln, die für unsere Gesellschaft zentral
        und wichtig sind . Hier genügt es nicht, einfach darauf zu
        hoffen, dass mit der Zeit ein gewisser Integrationseffekt
        entsteht und die Menschen sich den Regeln anpassen .
        Stattdessen müssen wir diesen zentralen Regeln auch per
        Gesetz Geltungskraft verleihen
        Das Gebot, Gesicht zu zeigen, gehört für mich zu die-
        sen zentralen Regeln unseres Landes . Das Verhüllen oder
        Verschleiern des Gesichts verstößt gegen unsere Grund-
        werte einer offenen Gesellschaft. Besonders die Burka
        und die Nikab sind für mich ein unmissverständliches
        Zeichen dafür, dass sich jemand den Werten unserer Ge-
        sellschaft entzieht .
        Nun gehört es zu unserer freien, liberalen Gesell-
        schaft auch, dass wir die Freiheit des Einzelnen achten .
        Der Staat sollte und darf den Menschen nur bis zu einem
        gewissen grundrechtlichen Schutzbereich vorschreiben,
        wie sie sich zu verhalten haben . In bestimmten Situatio-
        nen ist der Schutzbereich allerdings eingeschränkt . Dies
        gilt dann, wenn Personen ein öffentliches Amt ausüben,
        eine sonstige Tätigkeit für unseren Staat verrichten oder
        wenn sie sich gegenüber staatlichen Stellen identifizieren
        müssen . Gerade in diesen Bereichen verstößt es gegen
        unsere gesellschaftlichen Regeln, sich zu verhüllen, und
        ich meine, dass wir hier eine gesetzliche Regelung brau-
        chen, die dieses verbietet . Deshalb ist es gut, dass die
        Bundesregierung diesen Gesetzentwurf vorgelegt hat .
        Wir werden uns den Gesetzentwurf im parlamenta-
        rischen Verfahren noch im Detail anschauen, aber im
        Grunde legt das Gesetz vor allem zwei Regeln fest, die
        sehr zu begrüßen sind . Erstens: Bei Ausübung des Diens-
        tes oder bei einer Tätigkeit mit unmittelbarem Dienstbe-
        zug darf das Gesicht nicht verhüllt werden . Dies dient der
        Gewährleistung einer funktionsfähigen Verwaltung und
        der Erhaltung des Selbstverständnisses unseres demokra-
        tischen Rechtsstaates .
        Nur wenn das Gesicht unverhüllt bleibt, ist eine ver-
        trauensvolle Kommunikation zwischen staatlichen Funk-
        tionsträgern und Bürgerinnen und Bürgern möglich . Da-
        bei ist es essenziell, den Beamten und Beamtinnen auch
        ins Gesicht schauen zu können . Denn Kommunikation
        kann nur stattfinden, wenn man seinem Gesprächspartner
        auch ins Gesicht schauen sowie seine Gestik und Mimik
        sehen kann . Die Sprache allein macht eben nur einen Teil
        aus . Hinzu kommt, dass die Beamten zur Neutralität ge-
        genüber den Bürgerinnen und Bürgern verpflichtet sind.
        Deswegen sollen mit diesem Gesetzentwurf das Bundes-
        beamtengesetz, das Beamtenstatusgesetz und das Solda-
        tengesetz geändert werden .
        Die zweite Regel lautet, dass eine ausweispflichtige
        Person ihr Gesicht bei einem Lichtbildabgleich in vol-
        lem Umfang zeigen muss . Dazu wird eine Änderung des
        Personalausweisgesetzes, des Aufenthaltsgesetzes und
        des EU-Freizügigkeitsgesetzes nötig . Ebenfalls wird die
        Bundeswahlordnung geändert, nach der ein fehlender
        Abgleich des Gesichtes mit dem Ausweispapier zu einer
        Zurückweisung durch den Wahlvorstand führt .
        Ich meine, dass dieser Gesetzentwurf eine wichtige
        Regel unseres Zusammenlebens aufgreift und mit Geset-
        zeskraft ausstattet . Ich freue mich auf die nun anstehen-
        den Beratungen im parlamentarischen Verfahren .
        Dr. Lars Castellucci (SPD): Der vorliegende Ge-
        setzentwurf regelt vermeintlich eine ganze Reihe von
        Sachverhalten . Ich darf aus dem Text zitieren:
        „Durch eine Änderung des Bundesbeamtengesetzes,
        des Beamtenstatusgesetzes und des Soldatengesetzes
        wird es Beamtinnen und Beamten sowie Soldatinnen und
        Soldaten untersagt, bei Ausübung ihres Dienstes oder bei
        Tätigkeiten mit unmittelbarem Dienstbezug das Gesicht
        durch Kleidung o . ä . zu verhüllen … Eine Änderung des
        Bundeswahlgesetzes sieht ein entsprechendes Verbot
        auch für die Mitglieder der Wahlausschüsse und Wahl-
        vorstände … vor .
        Zur Durchsetzung von Identifizierungspflichten wird
        eine Änderung des Personalausweisgesetzes dahinge-
        hend vorgenommen, dass die ausweispflichtige Person
        einen Abgleich mit dem Lichtbild ermöglicht, indem sie
        ihr Gesicht in dem dem Lichtbild entsprechenden Um-
        fang zeigt . An die Änderung im Personalausweisgesetz
        anknüpfend werden Änderungen im Aufenthaltsgesetz
        und im Freizügigkeitsgesetz/EU vorgenommen, die
        ebenfalls einen Abgleich mit dem Lichtbild des Identi-
        fikationspapiers bzw. mit dem des Ankunftsnachweises
        ermöglichen .“
        Und schließlich: „Eine Änderung der Bundeswahlord-
        nung sieht vor, dass eine Wählerin oder ein Wähler dann
        vom Wahlvorstand zurückgewiesen werden kann, wenn
        sie oder er sich nicht ausweist oder die Feststellung ihrer
        oder seiner Identität durch den Wahlvorstand unmöglich
        macht und die zur Feststellung ihrer oder seiner Identität
        erforderliche Mitwirkungshandlung zum Abgleich mit
        dem Ausweispapier verweigert .“
        So weit die verschiedenen Regelungen, die wir in die-
        sem Gesetz erlassen wollen .
        Ich habe mich bei der Lektüre des Textes gefragt, wel-
        che Probleme wir mit dem Gesetz lösen wollen . Denn
        Recht ist ja ein Entscheidungssystem für soziale Sach-
        verhalte und Konflikte, die nach materiellen Regeln in
        einem vorgeschriebenen Verfahren gelöst werden . Die
        Leistung des Rechts besteht also darin, dass es das Kon-
        fliktpotenzial „entfesselter” subjektiver Freiheiten durch
        Gleichheit verbürgende Normen zähmt .
        Also an dieser Stelle nochmals die Frage: Welche Pro-
        bleme sollen mit dem Gesetz gelöst werden?
        Ich selbst kann mich an keinen Fall erinnern, in dem
        eine Soldatin oder Beamtin mir verschleiert gegenüber-
        getreten wäre, vielleicht mit Ausnahme des Karnevals .
        Ich habe aus der Zeitung von dem Fall in Neukölln er-
        fahren, bei dem eine Referendarin ein Kopftuch tragen
        wollte und gegen dieses Verbot geklagt hat . Nachdem sie
        recht bekommen hatte, hat sie die Stelle dann aber doch
        nicht antreten wollen, soweit ich das mitbekommen habe .
        Insofern kann ich die Intention des Entwurfs verste-
        hen, hier Regelungen zu schaffen, die die Neutralität des
        Staates und seiner Bediensteten klarstellen . Allerdings
        scheint mir die Fallzahl relativ gering zu sein .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22267
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        (B) (D)
        Weiterhin ist mir kein Fall bekannt, bei dem die
        Wahlvorstände bei Bundestagswahlen verschleiert ihren
        Dienst verrichtet hätten . Allerdings haben wir in Deutsch-
        land nach meinen Recherchen rund 60 .000 Stimmbezir-
        ke, sodass mehrere Hunderttausend Bürgerinnen und
        Bürger auch in diesem Jahr dankenswerterweise wieder
        an der Durchführung der Bundestagswahlen mitwirken .
        Insofern kann eine Klarstellung wohl auch nicht wirklich
        schaden .
        Ich finde, ein Problem mit dem Gesetzestext zeigt sich
        in der Äußerung des Bundesrates und der Erwiderung der
        Bundesregierung: Der Bundesrat hat an einigen Stellen
        den Vorschlag gemacht, eine präzisere Formulierung zu
        wählen . Im Kern geht es mehrfach um den Zusatz „sowie
        zu ermöglichen, ihr Gesicht mit dem Lichtbild … abzu-
        gleichen“ . Das sieht die Bundesregierung nicht so, da
        dies schon im Passgesetz etc . enthalten sei .
        Und so geht es mir an ganz vielen Stellen des Geset-
        zestextes: Eigentlich sollte das doch klar sein . Es kann
        doch niemand auf die Idee kommen, vollverschleiert in
        die Wahlkabine laufen zu wollen, ohne dass eine kurze
        Überprüfung stattfindet, ob es sich tatsächlich um den
        oder die Wahlberechtigte handelt . Alles andere wäre
        doch absurd .
        In der Summe stelle ich fest, dass die hier angestreb-
        ten Änderungen in weiten Teilen selbstverständlich sein
        müssen . Wenn es dazu noch dieser Klarstellungen be-
        darf, dann kann man dem auch zustimmen .
        Ich möchte auf den Anfang meiner Rede zurückkom-
        men und die Frage, welche Funktion Recht hat . Recht
        hat nur eine begrenzte Reichweite; zum Beispiel hat das
        Recht nur einen begrenzten Zugriff auf den privaten Be-
        reich. Viele Dinge, die wir nicht gut finden müssen, sind
        rechtlich nicht zu beanstanden .
        Ich selbst habe auch Probleme mit vollverschleierten
        Frauen. Ich – ganz persönlich – empfinde das als einen
        Ausdruck eines Frauenbildes, das ich nicht gut finde.
        Diese Konflikte werden wir aber nicht durch Gebote und
        Verbote lösen . Das ist eine gesellschaftliche Aufgabe, die
        uns alle einschließt und von allen auch eine gewisse Of-
        fenheit für den Anderen benötigt – eine Tugend, die mir
        in den letzten Monaten zum Teil etwas in Vergessenheit
        geraten zu sein scheint .
        Ulla Jelpke (DIE LINKE): Hinter dem sperrigen Titel
        „Entwurf eines Gesetzes zu bereichsspezifischen Rege-
        lungen der Gesichtsverhüllung“ verbirgt sich der Ver-
        such, ein Problem zu regeln, das gar nicht besteht . Es
        soll Beamtinnen und Beamten verboten werden, während
        ihres Dienstes ihr Gesicht zu verhüllen . Auch wenn jeder
        konkrete Bezug sorgsam vermieden wird, ist doch klar,
        dass sich der Gesetzentwurf auf muslimische Frauen be-
        zieht, die eine Vollverschleierung tragen, zum Beispiel
        einen Nikab oder eine Burka, die oft nicht einmal mehr
        die Augen freilässt . Mir persönlich ist es unverständlich,
        warum sich jemand – auch im Namen einer Religion –
        so eine Kleidung antut . Und wenn eine solche Vollver-
        schleierung auf den Druck zumeist männlicher Fami-
        lienmitglieder zurückzuführen ist, dann lehne ich das
        entschieden ab .
        Doch um Rechte der Frauen geht es im vorliegenden
        Gesetzentwurf überhaupt nicht . Vielmehr sorgt sich die
        Bundesregierung um die „Funktionsfähigkeit der Ver-
        waltung“ . Sie glauben doch nicht im Ernst, dass diese
        von der Frage abhängt, ob Beamtinnen oder Beamte eine
        Gesichtsverhüllung tragen oder nicht? Wenn es Ihnen um
        eine effektive Verwaltung ginge, dann würden Sie den
        öffentlichen Dienst nicht kaputtsparen und die Beamten
        mit sinnlosen bürokratischen Schikanen auf Trab halten .
        Eine Gesichtsverhüllung stehe einer „vertrauens-
        vollen Kommunikation der staatlichen Funktionsträger
        mit den Bürgerinnen und Bürgern“ entgegen, meint die
        Bundesregierung . Ein Großteil dieser Kommunikation
        erfolgt heute telefonisch, per Post oder per E-Mail . Ob
        die Beamtin am anderen Ende der Leitung Nikab oder
        Minirock trägt, ob sie Christin, Atheistin oder Muslima
        ist, kann ich da nicht erkennen, und es ist genauso wenig
        von Interesse für meine Belange . Für eine „vertrauens-
        volle Kommunikation“ mit einer Behörde ist das gänz-
        lich egal .
        Die einzigen mir bekannten Angehörigen des öffent-
        lichen Dienstes, die ihr Gesicht verhüllen, sind Mitglie-
        der von Polizeisonderkommandos . Deren Auftreten etwa
        am Rande von Demonstrationen erscheint mir in der Tat
        nicht als besonders vertrauensbildende Maßnahme .
        Ansonsten ist mir kein einziger Fall bekannt, wo eine
        Beamtin tatsächlich vollverschleiert zum Dienst erschie-
        nen ist . Auch die Bundesregierung konnte bislang kein
        praktisches Beispiel für den Nutzen eines solchen Geset-
        zes beibringen . Somit handelt es sich um ein reines Vor-
        ratsgesetz, wenn nicht gar um ein rechtlich unzulässiges
        Einzelfallgesetz . Es bestand bislang keine Notwendig-
        keit für solch ein Gesetz und ich sehe auch in der Zukunft
        keine Notwendigkeit dafür .
        Nur eine winzige Minderheit der in Deutschland le-
        benden Muslimas trägt einen Nikab oder gar eine Burka .
        Doch dieses an sich sinnlose Sondergesetz, das faktisch
        nur gegen Angehörige einer Religionsgemeinschaft ge-
        richtet ist, wird auch von anderen Muslimen, die für sich
        persönlich eine Vollverschleierung ablehnen, als Element
        einer wachsenden Islamfeindschaft verstanden .
        Mit diesem Gesetzentwurf werden der rechte Rand,
        die Pegida-Stammtische und das AfD-Klientel bedient .
        In Sachsen-Anhalt gelang es der AfD bereits, mit ei-
        nem entsprechenden Antrag die CDU-SPD-Grünen-Re-
        gierung vor sich her zu treiben . Im Innenausschuss des
        Landtages einigten sich Koalition und AfD auf einen
        Antrag, um Gesichtsschleier im öffentlichen Raum – so
        wörtlich – „zu begrenzen“. Ich bezweifle, dass in ganz
        Sachsen-Anhalt mehr als eine Handvoll vollverschleier-
        ter Frauen lebt, und ich bin sicher, dass keine einzige da-
        von Beamtin ist . Aus so einem Antrag spricht die blanke
        Hysterie; bedient wird damit zugleich dumpfe Fremden-
        feindlichkeit .
        Dass auch die Grünen darauf aufspringen, ist bezeich-
        nend . Aber was soll man von einer Partei halten, die ihren
        Restpazifismus bereitwillig opferte, um die Bundeswehr
        zur Befreiung der afghanischen Frauen von der Burka an
        den Hindukusch zu schicken?
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722268
        (A) (C)
        (B) (D)
        Fassen wir also zusammen: Der vorliegende Gesetz-
        entwurf hat kaum praktische Relevanz; er ist völlig über-
        flüssig. Doch er ist Wasser auf die Mühlen der Rechts-
        populisten, und er trägt in völlig unnötiger Weise dazu
        bei, das allgemeine Klima gegenüber Muslimen weiter
        zu vergiften . Daher lehnt die Linke dieses Gesetz ab .
        Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Das ist nicht gut gebrüllt; es ist eher Much Ado About Not-
        hing, was Sie dort zur Gesichtsverhüllung von SEK-Be-
        amtinnen und Feldjägerinnen veranstalten . Sie sollen
        fortan Karnevalsmasken nur noch tragen dürfen, wenn
        es aus gesundheitlichen Gründen erforderlich ist, wohl
        weil die Karnevalszeit ja leider Gottes nicht selten mit
        der einen oder anderen Grippewelle zusammenfällt . Das
        ist sicherlich gesundheitspolitisch lobenswert – wenn
        auch schlussendlich nicht überzeugend –, hat aber eben
        wenig mit dem Kampf zur Befreiung der unterdrückten
        Frau und schon gar nichts mit sinnvoller Terrorbekämp-
        fung zu tun .
        Aber genug der Polemik . Wenn dem so ist, dass man
        auf Grundlage des geltenden Rechts Richterinnen nicht
        verbieten kann, das Gesicht während der Verhandlung zu
        verhüllen, nun gut, dann kann man das meinetwegen re-
        geln . Klare Regeln sind im Rechtsstaat tendenziell richti-
        ger als juristische Verschwommenheit . Aber müssen wir
        über diese nichtexistenten Fälle tatsächlich eine mona-
        telange Debatte führen und dem bayerischen Minister-
        präsidenten eine bundespolitische Lichtung zum Röhren
        geben? Das ist doch Irrsinn . Es ist gut, dass die Reden
        zu diesem Thema heute zu Protokoll gehen; denn ehrlich
        gesagt kann man sich das alles nicht weiter anhören .
        Frauen in Burka sind sicherlich kein Anblick, den ich
        vermissen würde, wenn es ihn nicht mehr gäbe . Dennoch
        würde ich im Zweifel jeder Frau erst einmal das Recht
        zubilligen, sich so zu kleiden, wie sie es will . Belege da-
        für, dass sich Frauen hierzulande gegen ihren Willen in
        solche Verkleidungen sperren lassen, gibt es nicht . Aber
        auch wenn: Wie wollen Sie, liebe grauhaarige Verfech-
        ter der Emanzipation aus der CSU, diese Frauen denn
        aus ihrer wandelnden Textilhaft befreien, wenn Sie ih-
        nen faktisch den Zugang zum öffentlichen Raum noch
        erschweren? Es ist gut, dass die Koalition diesen Forde-
        rungen nicht nachgegeben hat und Säkularität nicht eben-
        so falsch versteht wie die parlamentarische Mehrheit in
        Frankreich, die aus der laizistischen Trennung von Staat
        und Kirche in dieser Sache ein Instrument der republi-
        kanischen Unterdrückung selbstgewählter Lebensstile
        gemacht hat. So schafft man nicht mehr Freiheit, sondern
        weniger .
        Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Recht-
        sprechung zum Kopftuch die positive Religionsfreiheit
        gestärkt . Der Staat hat demnach nicht zu beurteilen, wel-
        che Bekleidungsvorschriften jemand aus religiösen oder
        weltanschaulichen Gründen für sich als verpflichtend
        ansieht oder nicht . Pauschale Verbote kann es nach die-
        sem Urteil nicht mehr geben . Entsprechende Regelungen
        müssen zudem diskriminierungsfrei erfolgen, also für
        alle Religionen und Weltanschauungen gleichermaßen
        gelten . An diesen Leitprinzipien hat sich auch die De-
        batte um das Verbot von Burka und Nikab zu orientieren .
        Das Grundgesetz gibt hier zu Recht hohe Hürden vor .
        Partielle Verbote der Vollverschleierung müssen gut be-
        gründete Ziele haben .
        Wir Grünen haben – anders als manch anderer in die-
        sem Hohen Hause – zur Vorstellung der Kirchen von
        Geschlechterrollen und zur Sexuallehre kein Blatt vor
        den Mund genommen . Genauso werden wir auch gegen
        frauenfeindliche Haltungen im Islam streiten . Burka und
        Nikab können Ausdruck eines patriarchalischen, frauen-
        feindlichen Gesellschaftsbilds sein, das wir ablehnen und
        sind es oft auch . Auch die große Mehrheit der Muslimas
        und Muslime in Deutschland sieht die derartig weit ge-
        hende Verhüllung nicht als religiöses Gebot . Aber diese
        Entscheidung treffen die individuellen Grundrechtsträge-
        rinnen, also die Frauen selbst, und niemand anders für
        sie .
        Wer diesen Frauen dieses Recht von vornherein ab-
        spricht, befördert im Ergebnis antimuslimische Ressenti-
        ments und lenkt von den tatsächlich sicherheitspolitisch
        entscheidenden Maßnahmen ab: von dem Bedarf einer
        besseren Ausstattung der Polizei, von deutlich verbes-
        serten Präventionskonzepten . Wer wirklich etwas für
        die Selbstbestimmung von Frauen tun will, sollte Bera-
        tungsstellen finanziell fördern, Frauen über ihre Rechte
        aufklären und ihnen Schutz gewähren, wenn sie in ihrer
        Freiheit und Selbstbestimmung bedrängt oder bedroht
        werden – in bundesweit besser finanzierten Frauenhäu-
        sern zum Beispiel .
        Summa summarum: Nicht alles, was man falsch fin-
        det, kann man verbieten . Ich wünsche mir dennoch, dass
        trotz aller bereichsspezifischer Verbote der Gesichtsver-
        hüllung die karnevalesken Traditionen aufrechterhalten
        werden und dass man den Rekruten in den Bundeswehr-
        kasernen in ihrer Freizeit die kleine Freude des Alltags
        nicht verwehrt, mit übergezogenen Kopfkissenbezügen
        Kissenschlachten zu veranstalten .
        In diesem Sinne ein nachhallendes Alaaf! Und bis
        gleich!
        Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
        minister des Innern: Wer sein Gesicht offen zeigt, begeg-
        net seinen Mitmenschen in Offenheit. Diese Offenheit ist
        aus meiner Sicht eine Grundfeste unserer gemeinsamen
        Werteordnung .
        Ein vollverschleiertes Auftreten in der Öffentlich-
        keit kommt hingegen einer Ablehnung unserer Werte
        gleich . Die Vollverschleierung beeinträchtigt daher den
        gesellschaftlichen Zusammenhalt und die zwischen-
        menschlichen Beziehungen . Dem entgegenzuwirken
        hält im Übrigen auch der Europäische Gerichtshof für
        Menschenrechte für legitim . Denn wenn das Gesicht im
        Verborgenen bleibt, sind die Möglichkeiten des Kennen-
        lernens stark eingeschränkt . Das behindert Kommunika-
        tion, die eben nicht allein aus Worten besteht .
        Gerade für Menschen, die neu in unser Land kommen
        und von denen wir zu Recht die Integration verlangen, ist
        die Vollverschleierung ein Hemmnis . Im Verbergen des
        Gesichts manifestiert sich geradezu die Ablehnung der
        aufnehmenden Gesellschaft .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22269
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        Zu unserer Gesellschaft gehört auch die Gleichbe-
        rechtigung von Mann und Frau . In meinen Augen ist die
        Burka ein unerträgliches Symbol der Unterdrückung von
        Frauen . Eine derart manifestierte Diskriminierung kön-
        nen wir – auch zum Schutz von jungen Frauen und Mäd-
        chen – nicht hinnehmen . Ich halte es daher für geboten,
        dass jeder in der Öffentlichkeit sein Gesicht zeigt.
        Was für die zwischenmenschlichen Beziehungen all-
        gemein gilt, muss für das Verhältnis des Staates zu seinen
        Bürgern erst recht gelten: Vertrauen in das Amt des Be-
        amten kann nicht entstehen, wenn im Dienst das Gesicht
        komplett verhüllt ist. Eine offene Kommunikation mit
        den Bürgern wäre unmöglich und die Integrität des Staa-
        tes beeinträchtigt . Auch für die vertrauensvolle Zusam-
        menarbeit der Staatsdiener untereinander ist die offene
        Kommunikation essenziell .
        Der Gesetzgeber kann und muss daher zum Schutz der
        staatlichen Integrität vorausschauend handeln . Wir müs-
        sen nicht abwarten, bis der Streit um die Vollverschlei-
        erung im Dienst vor einem Gericht ausgetragen wird .
        Rechtsstreitigkeiten um religiös motivierte Bekleidung
        haben in den letzten Jahren zugenommen . Ein frühzeiti-
        ges Handeln des Gesetzgebers ist daher geboten .
        Wir senden mit dem Gesetzentwurf daher auch ein
        klares Signal: Unser Zusammenleben beruht auf Offen-
        heit. Wer die offene Gesellschaft ablehnt, kann unseren
        demokratischen Rechtstaat nicht repräsentieren .
        Klar ist auch: Nicht alles, was wir ablehnen, können
        wir verbieten . Grundsätzlich steht es jedem frei, sich so
        zu kleiden, wie es ihr oder ihm gefällt . Dies gilt umso
        mehr, wenn die Bekleidung unter den Schutz der Religi-
        onsfreiheit fällt .
        Dieses Spannungsfeld löst der vorgelegte Gesetzent-
        wurf umsichtig auf. Denn die Regelungen betreffen nicht
        jede Gesichtsverhüllung in der Öffentlichkeit. Der Ge-
        setzentwurf ist vielmehr das Ergebnis einer sorgfältigen
        Abwägung der betroffenen Rechtskreise. Er beschränkt
        sich auf die Bereiche, in denen es für die Funktionsfä-
        higkeit des Staates unabdingbar ist, dass ein Gesicht er-
        kennbar ist .
        Dies trifft für Beamte in Bund und Ländern, für Sol-
        daten sowie für Richter bei Ausübung ihres Dienstes und
        bei Tätigkeiten mit unmittelbarem Dienstbezug zu . Ent-
        sprechendes gilt auch für Mitglieder der Wahlausschüsse
        und Wahlvorstände .
        Zudem soll dort, wo gesetzliche Identifizierungs-
        pflichten bestehen, das Zeigen des Gesichts im Bedarfs-
        fall auch durchgesetzt werden können . Immer dann, wenn
        Identitätspapiere vorgelegt werden, muss der Abgleich
        des Lichtbilds mit dem Gesicht der Person möglich sein .
        Darüber hinaus gibt es weitere Bereiche, in denen
        ein Verbot der Vollverschleierung aus meiner Sicht ge-
        boten wäre . Dazu zählen zum Beispiel der Unterricht an
        Schulen oder die Betreuung in Kindergärten . Hier sind
        die Länder in der Pflicht, entsprechende Regelungen zu
        treffen.
        Der von der Bundesregierung vorgelegte Gesetzent-
        wurf beinhaltet also kein pauschales Verbot dessen, was
        mir und vielen von uns nicht gefällt . Aber er sendet das
        starke Signal, dass das Auftreten der staatlichen Reprä-
        sentanten mit unverhülltem Gesicht für den demokrati-
        schen Rechtsstaat unabdingbar ist .
        Anlage 3
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
        Berichts des Finanzausschusses zu dem Antrag der
        Abgeordneten Halina Wawzyniak, Sigrid Hupach,
        Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und
        der Fraktion DIE LINKE: Einrichtung einer Kom-
        mission beim Bundesministerium der Finanzen zur
        Evaluierung der Staatsleistungen seit 1803 (Tages-
        ordnungspunkt 18)
        Margaret Horb (CDU/CSU): Die Fraktion Die Linke
        ist überraschend traditionsbewusst . So traditionsbewusst
        sogar, dass sie das Thema Staatsleistungen regelmäßig
        vor Wahlen auf ihre Agenda setzt . Im Jahr 2012 woll-
        ten Sie die Staatsleistungen noch ganz abschaffen. Ihre
        Intention hat sich seitdem nicht geändert und ist immer
        noch genauso durchschaubar . Sie wollen die Ablösung
        der Staatsleistungen quasi zum Nulltarif, auch wenn Sie
        in Ihrem jetzigen Antrag die Einsetzung einer Kommis-
        sion beim BMF zur Evaluierung der Staatsleistungen seit
        1803 vorschieben .
        Dabei bauen Sie Ihre Argumentation auf der Annahme
        auf, dass sich die Staatsleistungen über die Jahre verrin-
        gert hätten . Es seien ja schon sehr lange Zahlungen an
        die Kirchen geleistet worden . Dabei verstehen Sie jedoch
        die Situation komplett falsch . Staatsleistungen sind der
        dauernde Ersatz für den Ausfall wirtschaftlicher Erträge .
        Die Länder erstatten die Einnahmen, die die Kirchen aus
        dem enteigneten Besitz erwirtschaftet hätten . Staatsleis-
        tungen sind somit keine Subventionen und schon gar kei-
        ne „Ewigkeitsrente“, wie es in Ihrem Antrag heißt . Wer
        das nicht begriffen hat, der lässt wichtige historische Ge-
        gebenheiten außer Acht . Man sollte annehmen, dass wir
        das bereits ausgiebig und verständlich hier im Bundestag
        klargestellt haben .
        Klar ist auch, dass wir gemäß Artikel 140 des Grund-
        gesetzes in Verbindung mit Artikel 138 Absatz 1 der Wei-
        marer Reichsverfassung einen Verfassungsauftrag haben .
        Der Bund soll hiernach Rahmenbedingungen schaffen.
        Der Auftrag lautet aber nicht, den Ländern und Kirchen
        komplizierte Detailvorgaben überzustülpen . Der Antrag
        der Linken überschreitet daher die Linie der Zuständig-
        keit .
        Besonders kritisch sehe ich die Größe der vorgeschla-
        genen Evaluierungskommission: „(Kirchen-) Historike-
        rinnen und (Kirchen-) Historiker, Kirchen- und/oder Ver-
        fassungsrechtlerinnen und -rechtler, Ökonominnen und
        Ökonomen sowie Vertreterinnen und Vertreter der Bun-
        desländer sowie der beiden großen Kirchen“ . Zusätzlich
        müssten Vertreter der Städte und Kommunen, der Kir-
        chengemeinden, des Heiligen Stuhls und gegebenenfalls
        weitere dazukommen . Wenn man alle Beteiligten an ei-
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        nen Tisch holen sollte, werden das ja mindestens hundert
        Personen . Und Sie gehen davon aus, dass die zahllosen
        historisch gewachsenen Besonderheiten der Staatsleis-
        tungen in jedem einzelnen Bundesland, in jeder Kommu-
        ne, in jeder Kirchengemeinde in diesem „kleinen“ Kreis
        effizient und schnell bearbeitet werden können. Das
        klingt nicht nach einer realistischen Herangehensweise .
        Was von einem solchen Gremium zu erwarten ist, zeigt
        ein Blick in die Geschichte . Es gab nämlich in meiner
        Heimat bereits einen Arbeitskreis, der die Staatsleistun-
        gen bemessen und prüfen sollte . Im Jahr 1820 wurde von
        König Wilhelm I . von Württemberg eine „gemeinschaft-
        liche Kommission“ einberufen, die das Ziel verfolgte,
        die gerade mal 17 Jahre zuvor erfolgten Enteignungen
        der evangelischen Kirche abzulösen . Sage und schreibe
        98 Jahre später war sie immer noch zu keinem Ergebnis
        gekommen und wurde mit dem Ende der Monarchie auf-
        gelöst . Diese Kommission erinnert mich doch stark an
        den jetzt vorgebrachten Antrag . Liebe Kollegen von der
        Fraktion Die Linke, auch Ihre Expertenrunde würde frü-
        hestens am Sankt-Nimmerleins-Tag zu einem Ergebnis
        kommen – wenn überhaupt .
        Wie gut die Länder und Kirchen sich einigen können,
        beweisen zahlreiche Beispiele . Nicht nur Hamburg und
        Bremen haben Antworten gefunden . Auch in Hessen und
        Brandenburg wurden Ablösungen vorbildlich durchge-
        führt . In Baden-Württemberg laufen ebenfalls Gespräche
        zur Ablösung der Staatsleistungen . Eine Kommission,
        die sich aus dem fernen Berlin einmischen würde, wäre
        nur kontraproduktiv .
        Wie stellen Sie sich das überhaupt in der Praxis vor?
        Wie sollte eine so heterogene Expertenrunde in Berlin
        eine Evaluierung beispielsweise für den Kölner Dom, die
        Heiliggeistkirche in Heidelberg oder die evangelische
        Kirche in Merchingen-Ravenstein vornehmen? Das kön-
        nen die Kirchen mit den Ländern besser .
        Liebe Kollegen der Fraktion Die Linke, ich wieder-
        hole meinen Vorschlag an Sie vom 15 . April 2016: Ins-
        tallieren Sie doch eine Kommission zur Evaluierung der
        Staatsleistungen in Thüringen; denn dort sind Sie seit
        Jahren in der Regierungsverantwortung . Interessanter-
        weise hört man aus Erfurt nichts, aber auch gar nichts .
        Auch hier im Bundestag ist es diesbezüglich still – kein
        Berichterstattergespräch, keine öffentliche Anhörung, ja,
        nicht einmal eine Debatte in den beratenden Ausschüssen
        haben Sie angestoßen . Und das, obwohl wir vonseiten
        der Regierungskoalitionen sowohl in der vergangenen als
        auch in der aktuellen Wahlperiode Gesprächsbereitschaft
        signalisiert und auch konkrete Angebote gemacht haben .
        Ich habe den Verdacht, dass Sie das Thema regelmäßig
        vor den Wahlen aus der Schublade holen, einzig und al-
        lein, um mit populistischen Äußerungen unsere Kirchen
        zu diskreditieren . Sie, liebe Frau Wawzyniak, sagten es ja
        selbst in Ihrer Rede vom 15 . April 2016, dass Die Linke
        mit der Frage, „ob überhaupt noch Staatsleistungen zu
        zahlen sind“, in den Wahlkampf ziehen sollte . Aber die-
        ses „linke“ Manöver ist mit uns nicht zu machen!
        Die Kirchen in unserem Land leisten eine wertvolle
        und unbezahlbare Arbeit für unser aller Gemeinwohl .
        Dieser Einsatz für unsere Gesellschaft ist von unschätz-
        barem Wert, und es ist mir eine Herzensangelegenheit,
        meine Rede mit dem ausdrücklichen Dank an alle Haupt-
        und Ehrenamtlichen in unseren Kirchen zu beenden . Die
        CDU/CSU-Bundestagsfraktion sieht keinen Handlungs-
        bedarf hinsichtlich der Einsetzung einer Evaluierungs-
        kommission . Wir werden daher den Antrag ablehnen .
        Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Staatsleistungen ha-
        ben ihre Grundlage darin, dass kirchliche Güter im Rah-
        men der Säkularisierung, namentlich im Reichsdeputa-
        tionshauptschluss im Jahre 1803, umfangreich enteignet
        wurden. Diese Güter befinden sich zumeist noch heute
        in staatlichem Eigentum . Damals übernahmen die Lan-
        desherren zugleich die Verpflichtung, die Besoldung und
        Versorgung der Pfarrer – sofern erforderlich – sicherzu-
        stellen . Es handelt sich also um eine Art von Pachtersatz-
        leistungen . Diese Staatsleistungen sind durch Artikel 140
        des Grundgesetzes mit dem dadurch geltenden Arti-
        kel 138 Absatz 1 der Weimarer Reichsverfassung verfas-
        sungsrechtlich verbürgt . Diese Entschädigungszahlungen
        werden noch heute an die beiden großen Amtskirchen in
        fast allen Bundesländern – mit Ausnahme von Hamburg
        und Bremen – erbracht . Sie betragen rund 480 Millionen
        Euro jährlich .
        Wir diskutieren heute den Antrag der Fraktion Die
        Linke, welcher die Einrichtung einer Expertenkommis-
        sion beim Bundesministerium der Finanzen fordert . Sinn
        und Zweck dieser Kommission soll sein, den Umfang
        der enteigneten Kircheneigentümer und der bisher ge-
        leisteten Entschädigungszahlungen zu evaluieren und
        zu prüfen . Die Fraktion Die Linke zielt darauf ab, die
        Ablösesumme der Staatsleistungen zu ermitteln und die
        Zahlungen der Staatsleistungen somit zu beenden . Mit
        diesem Vorhaben sind sie zu Recht bereits im Jahr 2012
        mit einem ähnlichen Gesetzentwurf gescheitert .
        Lassen Sie mich kurz erläutern, warum seitens des
        Bundes kein Anlass besteht, die Initiative zu einer Ab-
        lösung der Staatsleistungen zu ergreifen . Erstens ist
        festzustellen, dass der Bund selbst nicht Schuldner der
        Staatsleistungen ist . Wenn wir die Länder als Träger der
        Staatsleistungen betrachten, ist ferner zu unterstreichen,
        dass es diesen freisteht, einvernehmlich mit den Kirchen
        die Staatsleistungen zu verändern und neue Rechtsgrund-
        lagen zu schaffen. Eine individuelle Lösung zwischen
        den Bundesländern und Kirchen zu finden, ist im Rah-
        men der Länderhoheit die einfachere und sachgerechtere
        Vorgehensweise . Die Länder haben bislang jedoch nicht
        erkennen lassen, mit Gesprächen über die Ablösung der
        Staatskirchenleistungen beginnen zu wollen . Um die
        Staatsleistungen an die Kirchen abzulösen, ist eine expli-
        zite Initiative allerdings Grundvoraussetzung . Aus die-
        sem Grund besteht aktuell erst recht nicht für den Bund
        die Notwendigkeit, diesbezüglich tätig zu werden .
        Ich darf noch darauf verweisen, dass auch der Ko-
        alitionsvertrag keine Maßnahmen in diesem Bereich
        vorsieht . Das System der Kirchensteuer und des Staats-
        kirchenrechts hat sich bewährt . Eine Kommission, wie
        die Fraktion Die Linke sie in ihrem Antrag fordert, ist
        bürokratisch und verkennt die Gestaltungsautonomie auf
        Länderebene . Der Antrag der Fraktion Die Linke ist so-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22271
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        (B) (D)
        mit abzulehnen . Weder für die Einsetzung einer solchen
        Kommission noch für den Erlass eines Grundsätzegeset-
        zes zur Ablösung der Staatsleistungen des Bundes be-
        steht akuter Handlungsbedarf .
        Andreas Schwarz (SPD): Wir reden heute über ein
        altes Thema und über einen diskussionswürdigen An-
        trag . Bis ins Jahr 1803 müssen wir zurückblicken, um
        verstehen zu können, worum es hier eigentlich geht . Der
        Reichsdeputationshauptschluss vom 25 . Februar 1803
        hat sicherlich nicht erwartet, dass sich fast auf den Tag
        genau 214 Jahre später ein gesamtdeutsches Parlament
        mit dessen Auswirkungen beschäftigen wird . Worum
        geht es im Einzelnen? Im Jahr 1803 wurden im Rahmen
        der staatlichen Säkularisierung die Kirchen teilweise ent-
        eignet . Von Klöstern bis zu ganzen Ländereien . Seither
        fließen Entschädigungszahlungen des Staates an die Kir-
        chen, nicht ohne Grund, so zum Beispiel um die Seelsor-
        ge trotzdem in der ländlichen Region aufrechtzuerhalten .
        Im Jahr 1919 wurden viele Kirchenrechtsregelungen in
        die Verfassung der Weimarer Republik aus dem Kaiser-
        reich übernommen . Aber eben auch, dass die Regelungen
        zur Kirchenfinanzierung neu verhandelt und neu geord-
        net werden müssten, und zwar in Artikel 138 Absatz 1
        der Weimarer Reichsverfassung . Dieser Auftrag wurde
        mit Artikel 140 im Jahr 1949 auch ins Grundgesetz der
        Bundesrepublik Deutschland übernommen . Seither, und
        das ist doch einigermaßen erstaunlich, ist nichts gesche-
        hen . Ich möchte nicht verhehlen, dass auch ich glaube,
        dass wir hier tätig werden müssen . Mit „wir“ meine ich
        aber nicht zwangsläufig den Bund als Initiator dieser Ini-
        tiative, sondern am Ende einer notwendigen Kette .
        Bei der Berechtigung, die diese Debatte sicherlich hat,
        sind aber auch ein paar sensible Besonderheiten dieses
        Themas zu beachten . Die Kirchen in unserem Land tra-
        gen eine nicht hoch genug einzuschätzende Verantwor-
        tung für das Gemeinwohl in Deutschland . Nicht zuletzt
        in der Flüchtlingsfrage sind die Kirchen in unserem Land
        unverzichtbarer Partner einer humanen und menschen-
        würdigen Flüchtlingspolitik . Die kirchliche Seelsorge
        gibt den Menschen in unserem Land in einer immer
        schneller werdenden Welt Halt und Konstanz . Das gilt
        insbesondere für eine alternde Gesellschaft im ländlichen
        Raum . Hier ist die Kirche Hort des Zusammenkommens
        und auch des Gehörtwerdens . Ohne die sozialen und ka-
        ritativen Leistungen der Kirchen sähe der gesellschaft-
        liche Zusammenhalt in unserem Land ganz anders aus .
        Diesen Umstand sollten und dürfen wir bei jeder Debatte
        über die Finanzierung von Kirchen und Religionsge-
        meinschaften in unserem Land nie vergessen .
        Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, wie be-
        reits in der ersten Debatte zu Ihrem Antrag möchte ich
        heute auch noch mal betonen, dass wir gar nicht alles
        völlig abwegig finden, was Sie an Forderungen auffüh-
        ren . Sie fordern im Wesentlichen vier Punkte . Drei von
        diesen Punkten können wir etwas abgewinnen . Einem
        jedoch nicht . Da dieser jedoch der zentrale Punkt des An-
        trages ist, werden wir den gesamten Antrag leider nicht
        mittragen können . Ja, Sie fordern nicht zu Unrecht, dass
        es Zeit wird, den Umfang der Säkularisierungsverluste
        aus dem Jahr 1803 zu ermitteln . Dann spielt natürlich
        eine Rolle, wie hoch die Entschädigungszahlen seit dem
        Jahr 1919 sind. Ich glaube übrigens, dass die Differenz
        aus beiden Zahlen Sie eher überraschen würde als mich .
        Und jetzt stoßen wir aber auf das aus meiner Sicht
        entscheidende Problem . Und ich möchte das auch heu-
        te nochmals ausführen . In Ihrem Antrag fordern Sie die
        Einsetzung einer Kommission im Bundesfinanzminis-
        terium, bestehend aus – ich zitiere – Expertinnen und
        Experten wie Kirchenhistorikerinnen und Kirchenhisto-
        rikern, Kirchen- und/oder Verfassungsrechtlerinnen und
        -rechtlern, Ökonominnen und Ökonomen sowie Vertrete-
        rinnen und Vertretern der Bundesländer sowie der beiden
        großen Amtskirchen . Wenn Du nicht mehr weiter weißt,
        dann gründe einen Arbeitskreis . Ich glaube eine derartig
        aufgeblähte Kommission wird uns weitere 214 Jahre in
        der Debatte kosten, bis diese sich auch nur ansatzweise
        auf ein konkretes Ergebnis einigen könnte . Und, da wie-
        derhole ich mich nur ungern, wenn sie schon in solch
        großem Rahmen über Staatsleistungen und deren Zu-
        kunft diskutieren wollen, dann frage ich mich: wo sind
        die anderen Religionsgemeinschaften, die von Staatsver-
        trägen profitieren? Ob es nun die jüdischen Gemeinden
        in Sachsen-Anhalt oder die in Hamburg lebenden Musli-
        me und Aleviten sind . Sollen diese nicht an der Debatte
        beteiligt werden? Nein, ich glaube Sie zäumen das Pferd
        von hinten auf .
        Ja, wenn der Verfassungsauftrag erfüllt werden soll,
        muss der Bund irgendwann gesetzgeberisch tätig wer-
        den . In welcher Form auch immer . Aber zuvor muss es
        Gespräche auf viel kleinerer Ebene geben . Die Staats-
        verträge sind zwischen Bundesländern und Kirchen ge-
        schlossen und können nur zwischen diesen einvernehm-
        lich geregelt werden . Einige Bundesländer zahlen sehr
        viel, andere weniger . Teilweise erfolgen bis auf kom-
        munale Ebene gar keine Zahlungen mehr . Das bedeutet:
        Gespräche zwischen Landeskirchen und den jeweiligen
        Bundesländern und Kommunen sind nötig . Und sowohl
        Kirchen als auch Länder sind doch dazu bereit . Hier gibt
        es klare Signale der Gesprächsbereitschaft . Diese sollten
        aufgenommen werden, und dann freue ich mich auf die
        Initiative aus den Ländern, die dann etwa Bodo Ramelow
        anführen kann . Ich traue ihm da vielleicht mehr zu als
        seine Bundestagsfraktion . Erst danach kann und sollte
        der Bund tätig werden . Wie unfassbar Komplex diese
        Gespräche sind, kann ich als ehemaliger Bürgermeister
        gern mal im Einzelnen berichten, etwa Fragen rund um
        Unterhalts- und Kirchenbaulastfragen .
        Aus den genannten Gründen und nicht zuletzt, weil
        wir uns in einer Koalition befinden, können wir diesem
        Antrag nicht zustimmen .
        Christine Buchholz (DIE LINKE): In zwei Jahren
        wird ein Verfassungsauftrag, die Staatsleistungen an
        Religionsgemeinschaften betreffend, 100 Jahre alt. Der
        Artikel 140 unserer Verfassung hat den Artikel 138 der
        Weimarer Reichsverfassung aus dem Jahr 1919 zum Be-
        standteil des Grundgesetzes gemacht . Er lautet: „Die auf
        Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden
        Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften werden
        durch die Landesgesetzgebung abgelöst . Die Grundsät-
        ze hierfür stellt das Reich auf .“ Die Staatsleistungen im
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722272
        (A) (C)
        (B) (D)
        engen Sinne – altrechtliche Staatsleistungen genannt –
        liegen gegenwärtig im gesamten Bundesgebiet bei rund
        460 Millionen Euro jährlich . Gut Ding will Weile haben,
        aber 98 Jahre sind eine beachtlich lange Zeit, und deshalb
        ist aus unserer Sicht die Erfüllung des damals gegebenen
        Auftrages mehr als überfällig .
        In der vergangenen Legislaturperiode hatte meine
        Fraktion einen Gesetzentwurf zur Ablösung der Staats-
        leistungen vorgelegt, der abgelehnt wurde . Das passiert
        uns hin und wieder mit unseren Vorschlägen, trotzdem
        blieb im Ergebnis dieser Ablehnung ein weiterhin nicht
        eingelöster Verfassungsauftrag . Mit unserem Antrag zur
        Einrichtung einer Kommission beim Bundesministerium
        der Finanzen zur Evaluierung der Staatsleistungen seit
        1803 haben wir die Hürden für Ihrer aller Zustimmung
        niedriger gelegt . Wir sehen uns bestätigt, da es in allen
        Fraktion Stimmen gibt, nach denen die Ablösung der
        Staatsleistungen endlich in Angriff genommen werden
        muss . Und auch die beiden großen Kirchen sind bereit,
        darüber zu verhandeln .
        Wir sind davon ausgegangen, dass niemand etwas da-
        gegen vorbringen kann, eine Kommission, bestehend aus
        Kirchenhistorikerinnen, Kirchen- und Verfassungsrecht-
        lerinnen, Ökonominnen, Vertreterinnen der Länder und
        beider großer Amtskirchen einzusetzen, die sich des zu
        erfüllenden Auftrags annimmt und einen Vorschlag un-
        terbreitet, wie er konsensual erfüllt werden kann .
        Die CDU/CSU hat die mögliche Ablösesumme als
        ein Problem ausgemacht . Und ja, das ist eine Frage, die
        diskutiert werden muss . Durch Aussitzen kommt man
        an dem Punkt aber nicht weiter . Und weil es in der Ver-
        gangenheit immer wieder zu Verwirrungen und falschen
        Behauptungen geführt hat: Wir reden hier nicht von Sub-
        ventionen für Religionsgesellschaften zur Unterstützung
        ihrer Tätigkeit in Bereichen wie Sozialarbeit, Kinder-
        gärten, Schule, Jugendhilfe, Denkmalpflege. Die Leis-
        tungen der Kirchen sind hoch zu achten und tragen viel
        zum Zusammenhalt und friedlichen Zusammenleben in
        unserer Gesellschaft bei, vor allem auch wenn es um die
        Unterstützung und Hilfe für sozial benachteiligte Men-
        schen geht .
        Lothar Binding von der SPD hat in der ersten Lesung
        darauf verwiesen, dass dabei nicht die Handlungsfähig-
        keit der Kirchen auf dem Spiel steht, sondern dass die
        Summe der Staatsleistungen gerade mal 2 Prozent des
        Etats für die kirchliche Arbeit ausmacht .
        Das Ablösungsgebot hat einen guten Grund, ist es
        doch eine rechtliche Voraussetzung für einen säkularen
        und bekenntnisneutralen Staat und somit wichtig für die
        Entflechtung der finanziellen Beziehungen zwischen
        Staat und Kirche . Man kann mit Fug und Recht sagen,
        gerade in Zeiten einer weitaus größeren religiösen Viel-
        falt, als wir sie vor 100 Jahren hierzulande hatten, ver-
        stößt eine Bevorzugung bestimmter Kirchen gegenüber
        anderen Bekenntnisgemeinschaften und nichtreligiösen
        gesellschaftlichen Gruppen gegen das Prinzip der Tren-
        nung von Staat und Kirche . Und auch im Hinblick auf
        das Gleichbehandlungsgebot gegenüber allen Religions-
        gemeinschaften lässt sich auf Ewigkeit und Dauer die
        Bevorzugung nur zweier von ihnen nicht rechtfertigen .
        Aber es bleibt die Frage zu klären, inwieweit die Zah-
        lungen im engeren Sinne heute noch angemessen und
        zeitgemäß sind . Wir sagen, das sind sie nicht . Wir wol-
        len aber, dass darüber, ob dies so stimmt oder nicht, eine
        Expertinnen-kommission befindet. Die Voraussetzungen
        dafür sind gut, wie gesagt, beide große Kirchen haben
        mehrfach die Bereitschaft signalisiert, über die Ablösung
        der Staatsleistungen zu verhandeln . Dem sollte der Deut-
        sche Bundestag nicht nachstehen .
        Deshalb bitte ich Sie um Zustimmung .
        Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Ein Jubiläum steht vor der Tür . Es fällt unter die Katego-
        rie unerledigte Geschäfte .
        2019 feiern wir 100 Jahre Verfassungsauftrag zur Ab-
        lösung der Staatsleistungen an die Kirchen . Weder der
        Reichstag der Weimarer Republik noch der Bundestag
        haben bislang ernsthaft Anstrengungen unternommen,
        dem Auftrag der Verfassung an den Gesetzgeber nach-
        zukommen . Das ist verfassungspolitisch ein unguter Zu-
        stand .
        Wir Grüne wollen den seit 1919 nicht umgesetzten
        Verfassungsauftrag – zur Ablösung der historischen
        Staatsleistungen an die großen christlichen Kirchen –
        endlich entschlossen umsetzen .
        Die Kirchen erhalten vom Staat bis heute Leistungen
        als Entschädigung für Enteignungen in der Zeit der Sä-
        kularisierung . Der grundgesetzliche Auftrag zur Ablö-
        sung dieser Staatsleistungen ist bislang nicht umgesetzt .
        Bündnis 90/Die Grünen fordern, dass durch die Bundes-
        regierung unverzüglich eine Expertenkommission einge-
        setzt wird, die eine Gesamtübersicht über die Staatsleis-
        tungen im Sinne des Artikels 138 Absatz 1 der Weimarer
        Reichsverfassung vom 11 . August 1919 anfertigt und
        Vorschläge für eine entsprechende Ablösungsgesetzge-
        bung unterbreitet .
        Gegenstand der heutigen Beratung sind also die fi-
        nanziellen Beziehungen zwischen Staat und Kirchen,
        genauer: zwischen den Ländern und den christlichen
        Bistümern und Landeskirchen, die durch staatliches
        Handeln während der Reformationszeit und des Reichs-
        deputationshauptschlusses enteignet worden waren . Um
        den finanziellen Unterhalt der verloren gegangenen Be-
        sitztümer fortzuführen, werden die sogenannten Staats-
        leistungen bezahlt . Die Linksfraktion ist bisher nicht
        durch gesteigertes Interesse an religionspolitischen The-
        men aufgefallen . Aber da sie dieses Thema ja nicht ohne
        Hintergedanken aufruft, zwei Bemerkungen zum Antrag:
        Man kann skandalisieren, dass jährlich über 500 Mil-
        lionen Euro den ohnehin reichen Kirchen „geschenkt“
        werden . Man muss aber auch anerkennen, dass Institutio-
        nen, die enteignet wurden, ein Recht auf Entschädigung
        besitzen .
        Man kann skandalisieren, dass seit 1949 laut Huma-
        nistischer Union über 17 Milliarden Euro aus der Staats-
        kasse an die Kirchen bezahlt worden sind . Man muss aber
        auch anerkennen, dass es sich bei den Staatsleistungen
        nach Auskunft der allermeisten Verfassungsrechtlerinnen
        und Verfassungsrechtler eben nicht um eine einmalige
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22273
        (A) (C)
        (B) (D)
        Entschädigung handelt, sondern um Unterhaltsleistun-
        gen, die den durch die enteigneten Güter entgangenen
        Gewinn entschädigen . Es ist wie im Familienrecht: Ein
        Vater kann den Unterhalt für sein Kind (oder auch für
        seine armen Eltern) ja nicht einfach unter Verweis darauf
        einstellen, jetzt hätte er aber genug gezahlt .
        Damit ist hinsichtlich der Vorgaben, die der Antrag für
        die einzusetzende Kommission macht, für uns klar: Un-
        ter der Hand will uns die Linksfraktion hier eine Vorfest-
        legung abringen . Das aber werden wir nicht mittragen .
        Hier geht es um Verfassungsrecht, und da muss man sich
        auch dann an die verfassungsrechtlichen Festlegungen
        halten, wenn sie einem nicht so gefallen .
        Die Staatsleistungen sind hinsichtlich ihrer histori-
        schen Herleitung wie ihres Umfangs und Charakters
        eine schwierige und komplizierte Materie . Deswegen ist
        es sinnvoll und richtig, dass die Bundesregierung eine
        Kommission einsetzen soll, die genau das evaluiert und
        die dann auch am besten berufen ist, Vorschläge zu ma-
        chen, wie ein Grundsätzegesetz, das allein der Bund zu
        erlassen ermächtigt ist, aussehen könnte .
        Es soll aber noch erwähnt werden, dass ein solches
        Grundsätzegesetz es den Ländern ermöglichen würde,
        eine gesetzliche Ablösung voranzutreiben . Es gibt näm-
        lich noch die Alternative der vertraglichen Ablösung .
        Soweit ersichtlich, haben zahlreiche Bundesländer von
        der Möglichkeit Gebrauch gemacht, Kirchenbaulasten
        im Vertragswege abzulösen oder die auf mannigfaltiger
        Rechtsgrundlage gezahlten Staatsleistungen zu pauscha-
        lieren . Darauf ist in der Debatte schon verschiedentlich
        hingewiesen worden . Dieser Weg ist durch das Vorgehen
        des Bundes den Ländern weder verbaut, noch können sie
        dazu verpflichtet werden, nach Erlass eines Grundsätze-
        gesetzes ihrerseits gesetzlich vorzugehen . Die Länderau-
        tonomie ist also in jedem Fall gewahrt .
        Der Ablösungsauftrag richtet sich an den Staat, nicht
        an die Kirchen . Darauf hinzuweisen ist keine Petitesse,
        denn die Kirchen werden immer wieder für die Staats-
        leistungen kritisiert, bis hin zu der Forderung, auf sie
        zu verzichten . Abgesehen davon, dass es Sache der Ver-
        tragsparteien ist, ihre vertraglichen Rechte wahrzuneh-
        men oder auch nicht, ist es ein Versäumnis allein des
        Staates, der die Ablösungsverpflichtung des Artikel 138
        Weimarer Reichsverfassung nicht umgesetzt hat . Die
        Kirchen haben immer wieder deutlich gemacht, dass sie
        gegen eine Ablösung keine Einwände erheben würden –
        vorausgesetzt, sie stünden finanziell anschließend nicht
        schlechter da als bisher . Diese Bedingung aber ist in der
        verfassungsrechtlichen Literatur zu den Staatsleistungen
        ohnehin breit anerkannt . Insofern ist die Einsetzung einer
        Expertenkommission die konsequente Fortführung der
        Diskussion um dieses randständige, aber wichtige The-
        ma und liegt auch im Interesse der Kirchen – allerdings
        ohne die einschränkenden Bedingungen, die die Linke
        formuliert .
        Die Umsetzung des Verfassungsauftrages würde mehr
        Transparenz schaffen und die Chance zur Befriedung ei-
        ner Debatte bringen, die teilweise erbittert geführt wird
        und das gesellschaftliche Klima vergiftet .
        Anlage 4
        Erklärungen nach § 31 GO
        zu der Abstimmung über den von der Bundesre-
        gierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
        Umsetzung der Richtlinie 2014/52/EU im Städte-
        baurecht und zur Stärkung des neuen Zusammen-
        lebens in der Stadt (Tagesordnungspunkt 19)
        Josef Göppel (CDU/CSU): Der neue § 13b im
        BauGB ermöglicht die Ausweisung neuer Wohnbauge-
        biete am Außenrand eines jeden Ortsteils in Deutschland .
        Bei 11 162 Gemeinden mit durchschnittlich 30 Ortstei-
        len ergibt das 335 000 Baumöglichkeiten . Wenn nur die
        Hälfte der Gemeinden davon Gebrauch machen, wird der
        tägliche Flächenverbrauch von 60 auf 120 Hektar pro
        Tag verdoppelt . Das ist ein massiver Verstoß gegen den
        Koalitionsvertrag, in dem Union und SPD die Reduzie-
        rung auf 30 Hektar pro Tag beschlossen haben .
        Die Gemeinden können solche Flächen zwei Jahre
        lang ohne Umweltprüfung und Naturausgleich in be-
        schleunigten Verfahren ausweisen . Damit sind auch Was-
        serschutzgebiete, Frischluftschneisen und Freiräume für
        Erholung gefährdet . Landwirtschaftliche Flächen neh-
        men weiter ab .
        Besonders empörend finde ich, dass ein Bürgermeister
        den Vorrang der Innenentwicklung mit einer einfachen
        Erklärung „Es geht nicht“ abfertigen kann . Der § 13b for-
        dert keine vorherige Aufnahme von Leerständen im Orts-
        zentrum und keinen Nachweis konkreter Verhandlungen
        mit Eigentümern .
        Schließlich fehlt dieser Gesetzesänderung jede Ziel-
        genauigkeit . Zusätzliche Baumöglichkeiten machen Sinn
        in Gemeinden mit angespanntem Mietmarkt . Generelle
        Baulandausweisungen im ganzen Land führen aber nicht
        zu mehr Wohnungen, sondern zu mehr Planungsruinen .
        Insgesamt handelt es sich hier um verantwortungslo-
        sen Umgang mit Natur und Heimat, dem ich nicht zu-
        stimmen kann .
        Hans-Werner Kammer (CDU/CSU): Dem heute zur
        Abstimmung vorliegenden Gesetzentwurf stimme ich
        lediglich mit Einschränkung zu . Meine Position in der
        Sache erkläre ich wie folgt:
        Die Koalition stellt sich mit dem Gesetzentwurf aktu-
        ellen Herausforderungen der Stadtentwicklung und des
        Wohnungsbaus . Die Baugebietskategorie „Urbane Ge-
        biete“ unterstützt die Entwicklung lebendiger Stadtvier-
        tel . Zu begrüßen ist auch die befristete Ausweitung der
        beschleunigten Bebauungsplanverfahren auf Ortsrandla-
        gen, um den Wohnungsbau zu erleichtern .
        Ein weiterer wichtiger Bestandteil des Vorhabens ist
        die rechtliche Klarstellung zur Zulässigkeit von Ferien-
        wohnungen durch den neuen § 13a BauNVO . Das Ge-
        setz verfolgt dabei den richtigen Ansatz, indem es den
        Kommunen viel Entscheidungsfreiheit einräumt . Damit
        trägt es dem Umstand Rechnung, dass Kommunen unter-
        schiedliche Bedürfnisse hinsichtlich der Genehmigungs-
        fähigkeit von Ferienwohnungen haben .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722274
        (A) (C)
        (B) (D)
        Gleichwohl greift der Entwurf insoweit zu kurz, als
        er die Möglichkeiten der Kommunen, Ferienwohnungen
        in reinen Wohngebieten zuzulassen, unnötigerweise ein-
        schränkt . In reinen Wohngebieten sind Ferienwohnungen
        nur dann ausnahmsweise zulässig, wenn der Bebauungs-
        plan kleine Beherbergungsbetriebe erlaubt und die frag-
        liche Immobilie überwiegend zum Dauerwohnen genutzt
        wird . Viele Vermieter unterhalten jedoch in ihrem Haus
        mehrere Ferienwohnungen . Die Neuregelung kann in
        vielen touristisch geprägten Kommunen zu unbeabsich-
        tigten Härten führen und negative Auswirkungen auf das
        touristische Angebot haben . Eine erneute Welle von Ge-
        richtsverfahren, die sich speziell mit diesem Problemfeld
        befassen, ist daher möglich . Sinnvoll wäre gewesen, auch
        für reine Wohngebiete auf die Entscheidungskompetenz
        der Kommunen zu vertrauen .
        Anlage 5
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung
        – des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und
        SPD: Share Economy – Wachstumschancen der
        kollaborativen Wirtschaft nutzen und Heraus-
        forderungen annehmen.
        – des Antrags der Abgeordneten Dieter Janecek,
        Kerstin Andreae, Dr. Thomas Gambke, weiterer
        Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN: Share Economy – Ökologische
        Chancen nutzen und Teilen statt Besitzen unter-
        stützen
        (Tagesordnungspunkt 20 und Zusatztagesord-
        nungspunkt 10)
        Hansjörg Durz (CDU/CSU): Der Gedanke der ge-
        meinsamen Nutzung sowie des Teilens von Gütern ist
        wahrscheinlich so alt wie die Menschheit selbst . Neu und
        geradezu revolutionär ist aber, dass sich damit äußerst er-
        folgreich Geschäftsmodelle betreiben lassen . Getrieben
        durch die rasante technologische Entwicklung im Zuge
        der Digitalisierung haben sich in wenigen Jahren inno-
        vative Geschäftsmodelle entwickelt, die alle nach dem-
        selben Prinzip funktionieren: Egal ob die Kunstplattform
        Etsy, der Büroraumvermittler WeWork oder die populä-
        ren Unterkunfts- bzw . Transportvermittler Airbnb und
        Uber, sie alle eint, dass sie als Internetplattformen Pro-
        dukte und Dienstleistungen für einen bestimmten Zeit-
        raum zur Nutzung vermitteln und zeitweilige Geschäfts-
        beziehungen ermöglichen . Wichtigste Branchen sind die
        Personenbeförderung, das Crowdfunding, Dienstleistun-
        gen für Haushalte, Unterkunftsvermittlung und die Ver-
        mittlung freiberuflicher und technischer Dienstleistun-
        gen .
        Und sie alle eint, dass es sich bei den Unternehmen
        allesamt um relativ junge Firmen handelt .
        Eine dritte Gemeinsamkeit ist: Sie alle scheinen einen
        Nerv bei Anlegern und Kapitalgebern zu treffen. Bereits
        2015 wurde in den Wirtschaftsbereich der Share Eco-
        nomy mehr investiert als in den gesamten Social-Me-
        dia-Sektor, obwohl dieser Giganten wie Facebook und
        Twitter hervorgebracht hat . Es existieren bereits 17 Fir-
        men der Share Economy, die mit mehr als einer Milliar-
        de Dollar bewertet werden . Wie sehr die Geldgeber an
        das Geschäftsmodell glauben, zeigt sich auch daran, wie
        schnell es die Unternehmen in den Milliardenclub schaf-
        fen: Die Hälfte der Firmen erreichte bereits in weniger
        als fünf Jahren nach Gründung dieses schwindelerregen-
        de Niveau .
        In Deutschland ist die Share Economy großen Tei-
        len der Öffentlichkeit weniger aufgrund des damit ver-
        bundenen ökonomischen Marktpotenzials als vielmehr
        aufgrund der kontroversen Debatte um den Fahrdienst-
        vermittler Uber – Stichwort mangelnder Versicherungs-
        schutz – und die Unterkunftsplattform Airbnb – Stich-
        wort Wohnraumnutzungskonkurrenz – bekannt .
        Beide Aspekte, Potenzial wie Herausforderung, sind
        wichtig und haben ihre Berechtigung . Sie zeigen die
        Ambivalenz, die für die Branche Share Economy cha-
        rakteristisch ist: auf der einen Seite neue Unternehmen
        mit innovativen Geschäftsideen und entsprechenden Be-
        schäftigungsmöglichkeiten, auf der anderen Seite neue
        Herausforderungen, etwa in Bezug auf sozialpolitische
        Fragestellungen oder Fragen des Verbraucherschutzes
        bzw . einerseits der geringere Ressourcenverbrauch durch
        die bessere Auslastung und höhere Effizienz, das größere
        Angebot und das Mehr an Transparenz sowie die flexi-
        blere Verfügbarkeit und andererseits sozialpolitische Fra-
        gestellungen, vor allem im Verbraucher- und Arbeitneh-
        merschutz .
        Das Erfolgsmodell der sozialen Marktwirtschaft als
        ordnungspolitischer Rahmen in Deutschland ist grund-
        sätzlich dazu geeignet, auch die Share Economy zu er-
        fassen. Das heißt, offener Marktzugang für neue Akteure
        ja, aber nur unter der Voraussetzung, dass sich der Wett-
        bewerb mit herkömmlichen Anbietern auf Augenhöhe –
        sprich nach denselben Spielregeln, etwa im Arbeitneh-
        mer- und Verbraucherschutz – vollzieht .
        Das bedeutet jedoch gerade nicht, dass geltende Spiel-
        regeln zwingend aufrechtzuerhalten sind und damit ze-
        mentiert werden . Es ist gerade das Kernanliegen des An-
        trags der Koalitionsfaktionen, die Bundesregierung dazu
        aufzufordern, die bestehende Rechtsordnung vor dem
        Hintergrund innovativer Geschäftsmodelle zu durch-
        leuchten: Die Monopolkommission hat es zutreffend als
        asymmetrische Regulierung benannt, wenn konventio-
        nelle Dienste, die einer strikten Regulierung unterliegen,
        auf neue Wettbewerber der Share Economy treffen, die
        demgegenüber weniger oder gar nicht reguliert werden .
        Hier kann es sich in manchen Fällen empfehlen, die be-
        stehende Regulierung zu reduzieren oder abzubauen . In
        anderen Fällen ist es jedoch gegebenenfalls sinnvoller,
        die bestehende Regulierung auch auf neue Akteure zu
        übertragen . Der Anspruch lautet daher: gleiche Spielre-
        geln für alle, um ein einheitliches „level playing field“
        zu erreichen . Hier liegt noch einiges an Arbeit vor uns .
        Die EU-Kommission hat im letzten Sommer wichti-
        ge Impulse zur Frage formuliert, welche Leitlinien für
        die Share Economy von Bedeutung sind . Hierzu hat sie
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22275
        (A) (C)
        (B) (D)
        im Rahmen einer Mitteilung an die Mitgliedstaaten ers-
        te Vorschläge für Leitlinien unterbreitet, an der sich die
        Share Economy orientieren kann . Konkret fordert die
        EU-Kommission die Mitgliedstaaten auf, Vorgaben zu
        Haftungsregelungen, Verbraucher- und Nutzerschutz,
        Definition von Selbstständigen und Arbeitnehmern und
        Besteuerung zu erarbeiten .
        Dieser Aufforderung schließen sich die Koalitions-
        fraktionen an . Wir fordern die Bundesregierung auf, bis
        zum Ende der Legislaturperiode entlang dieser Punkte
        Handlungsbedarf und Rechtssetzungsbedarf zu identifi-
        zieren und damit einen Ordnungsrahmen für einen fai-
        ren und funktionsfähigen Wettbewerb zu erarbeiten . Hier
        bietet sich unserer Ansicht nach auch die große Chance,
        sich von überholter Regulierung zu verabschieden und
        damit die Wirtschaft von überflüssigen Auflagen zu ent-
        lasten .
        Wir fordern die Bundesregierung auf, Schwellenwer-
        te und Abgrenzungskriterien zu ermitteln, um professi-
        onelle von gelegentlichen Tätigkeiten zu unterscheiden .
        Diese Unterscheidung ist wichtig, damit Privatpersonen
        etwa anhand einer maximal zulässigen Zahl an Über-
        nachtungen in Privatunterkünften klar erkennen kön-
        nen, unter welchen Rechtsrahmen sie fallen und dadurch
        Rechtssicherheit erlangen .
        Wir fordern die Bundesregierung auf, insbesondere
        bestehende Fragen zu Datenschutz und Haftung im Zu-
        sammenhang mit Share Economy zu klären .
        Wir fordern die Bundesregierung auf, in ihrem En-
        gagement für den Breitbandausbau nicht nachzulassen .
        Dieser wird die grundlegende Voraussetzung für die
        weitere Verbreitung der Share Economy in Deutschland
        bleiben . Wir sind hier auf einem guten Weg, die entspre-
        chende Infrastruktur für die Digitalisierung technolo-
        gieoffen zu errichten und eine konvergente gigabitfähige
        Infrastruktur zu schaffen. Dabei wird insbesondere der
        Ausbau des Glasfasernetzes, auch für neue Technologi-
        en wie 5G, eine wichtige Rolle spielen, gerade um auch
        im ländlichen Raum den Menschen die Nutzung der di-
        gitalen Möglichkeiten zu ermöglichen . Als Deutscher
        Bundestag werden wir die Bundesregierung hier weiter
        unterstützen .
        Aus rein wirtschaftlicher Perspektive betrachtet ist
        der Trend der Share Economy an Europa bislang mehr
        oder weniger vorbeigegangen . 12 der 17 „Milliar-
        den-Start-ups“ stammen aus den Vereinigten Staaten, nur
        ein einziges Unternehmen hat in Großbritannien und da-
        mit auf europäischem Boden seinen Sitz . Dieser Zustand
        ist bedauerlich . Aber wir dürfen bei aller Euphorie und
        Begeisterung von Investoren über neue Geschäftsmodel-
        le nicht vergessen, dass Wirtschaft Spielregeln zu folgen
        hat . Regulierung ist kein Selbstzweck, sondern folgt in
        der Regel einem berechtigten Anliegen .
        Für uns als Union ist die Existenz neuer Marktakteure
        und Geschäftsmodelle grundsätzlich positiv konnotiert .
        Marktzugangsanforderungen sind daher nur dort akzep-
        tabel und gerechtfertigt, wo sie erforderlich und verhält-
        nismäßig sind . Dies gilt erst recht für komplette Verbote .
        Daher würde ich mir wünschen, wenn wir die sich
        uns bietende Chance nutzen, einen Ordnungsrahmen zu
        schaffen, der ausgewogen und am Allgemeinwohl ori-
        entiert für eine nachhaltige Entwicklung der Share Eco-
        nomy sorgt . Es bietet sich uns jetzt die Gelegenheit, die
        entsprechenden Strukturen im Sinne unserer Wirtschaft
        und vor allem der Menschen in unserem Land zu schaf-
        fen . Gehen wir es an .
        Axel Knoerig (CDU/CSU): Teilen und Tauschen –
        das sind die ältesten Grundlagen des Handels .
        Mit dem Begriff „Share Economy“ bezeichnen wir
        heute das gemeinsame Nutzen von Waren, Dienstleistun-
        gen oder Informationen . Das kann sowohl kostenlos als
        auch gegen Bezahlung erfolgen .
        In der digitalen Wirtschaft sind viele innovative Ge-
        schäftsmodelle entstanden:
        Die Plattform Wimdu bietet Unterkünfte an .
        Die Website MyHammer vermittelt Handwerker .
        Und namhafte Autohersteller bieten Car-Sharing an,
        etwa BMW mit DriveNow und Mercedes mit car2go .
        Diese neuen Konzepte fordern etablierte Anbieter wie
        das Taxi- oder Hotelgewerbe heraus .
        Hier müssen wir gleiche Bedingungen für alle Markt-
        teilnehmer schaffen. Es handelt sich um einen Milliar-
        denmarkt .
        Share Economy bietet aber auch viele Vorteile, wie
        unser Antrag zeigt:
        Erstens . Über Online-Plattformen kommen Geschäfts-
        beziehungen leicht zustande . Angebot und Nachfrage
        lassen sich gut aufeinander abstimmen .
        Zweitens . Es entstehen neue Arbeitsbeziehungen . Für
        uns als Union halte ich hier fest: Beschäftigte der Share
        Economy müssen genauso abgesichert sein wie Kollegen
        in anderen Branchen . Und auch für sie muss der Mindest-
        lohn gelten . Zugleich ist eine gewisse Flexibilität nötig .
        Drittens. Verbraucher profitieren von einer größeren
        Vielfalt bei Produkten und Dienstleistungen .
        Viertens . Das Prinzip des Teilens verspricht auch
        Nachhaltigkeit, wie zum Beispiel einen niedrigeren Res-
        sourcenverbrauch. Diese Effekte müssen wir nutzen.
        Die genauen Wirkungen und Möglichkeiten der Share
        Economy müssen noch geklärt werden . Das Bundesmi-
        nisterium für Bildung und Forschung hat hierzu schon
        mehrere Projekte initiiert . Das ist ein guter Auftakt . Wei-
        tere Projekte müssen folgen .
        Auch die anderen Ressorts investieren in die Share
        Economy . So wird heute ebenso das Carsharing-Gesetz
        des Bundesverkehrsministeriums beraten .
        In unserem Antrag gehen wir auf die Regelungsdefi-
        zite aller Branchen ein . Wir stellen daher in 18 Punkten
        einen Prüfauftrag an die Ministerien .
        Einige Forderungen habe ich bereits genannt, weitere
        möchte ich hervorheben:
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722276
        (A) (C)
        (B) (D)
        Die Bundesregierung soll Schwellenwerte für die ein-
        zelnen Branchen vorschlagen, zum Beispiel in Bezug auf
        die Anbieter von Unterkünften: Ab welchem Grenzwert
        sind sie gelegentlich tätige Privatpersonen oder gewerb-
        liche Anbieter?
        Zu klären ist auch, wie Start-ups und unser Mittel-
        stand in der Share Economy noch gezielter unterstützt
        werden können – zum Beispiel durch Beratungsangebote
        und Forschungsförderung .
        Daran schließt eine weitere Forderung an: Wir erwar-
        ten einen Bericht zu den neuen Marktperspektiven für
        unsere Unternehmen . Deutsche und europäische Portale
        müssen mit den amerikanischen Plattformen mithalten
        können . Es gilt, die Chancen der Share Economy zu nut-
        zen . Zugleich müssen wir Rechtssicherheit für Unterneh-
        men, Beschäftigte und Verbraucher schaffen.
        Matthias Ilgen (SPD): Fakt ist: Share Economy ist
        ein Motor für mehr Arbeitsplätze . Das liegt unter ande-
        rem daran, dass die Beliebtheit von Share Economy bei
        den Bürgerinnen und Bürgern in den letzten Jahren stark
        gestiegen ist . Mit der Zahl der Anbieter wächst auch das
        Wachstumspotenzial jährlich . Eine Bevölkerungsbefra-
        gung hat ergeben, dass zukünftig noch mehr Menschen
        Share-Economy-Angebote nutzen wollen . Auch bei älte-
        ren Bürgern, die bisher seltener solche Angebote wahr-
        genommen haben, steigt das Interesse stark an . Fest
        steht für mich aber auch: Die Share-Economy-Anbieter
        empfinden die unklare Gesetzeslage in Deutschland als
        problematisch . Daher stehen wir Parlamentarier vor der
        Herausforderung, die Rechtsunsicherheit für alle Betei-
        ligten soweit wie möglich zu reduzieren . Hierbei müs-
        sen wir darauf achten, dass wir keine nationalen oder am
        Ende sogar lokalen Sonderregelungen schaffen.
        Dadurch, dass die Anwendbarkeit von Steuerrecht und
        Verbraucherschutz teilweise unklar ist, laufen wir Ge-
        fahr, einen unfairen Wettbewerb zu schaffen. Die Mono-
        polkommission hat es zutreffend als asymmetrische Re-
        gulierung charakterisiert, wenn konventionelle Dienste,
        die einer strikten Regulierung unterliegen, auf neue Wett-
        bewerber der Share Economy treffen, die demgegenüber
        weniger oder gar nicht reguliert werden . Hierbei kann es
        sich in manchen Fällen empfehlen, bestehende Regulie-
        rung zu reduzieren oder vielleicht sogar ganz abzubauen,
        auch wenn das manch einer von Ihnen sicherlich nicht
        hören möchte .
        Ein Thema liegt mir in dieser Debatte als Koordinator
        für Existenzgründung besonders am Herzen: die junge
        digitale Start-up-Szene . Gemeinsam mit meiner Frakti-
        on setze ich mich dafür ein, dass die Rahmenbedingun-
        gen für junge innovative Unternehmen und ihr Zugang
        zu Wagniskapital weiter verbessert werden . Nur so ist
        es uns möglich, innovative Plattformen für Share Eco-
        nomy in Deutschland und Europa zu schaffen. Ich hal-
        te eine Unterstützung in Form von Beratungsangeboten
        für kleine und mittlere Unternehmen sowie Start-ups im
        Share-Economy-Bereich für äußerst wichtig . Sie ermög-
        lichen unseren jungen digitalen Unternehmen, im glo-
        balen Wettbewerb zu bestehen, und helfen, dass unsere
        Start-ups und KMUs nicht allein zu Lieferanten von in-
        ternationalen Plattformen werden .
        Abschließend möchte ich noch auf zwei Punkte ver-
        weisen, die wir bei der Debatte um Share Economy
        nicht aus den Augen verlieren dürfen . Zum einen, dass
        die Kriterien zur Definition von Selbstständigen und Ar-
        beitnehmern in der Share Economy nicht auf der Stre-
        cke bleiben dürfen . Dazu gehört, dass die bewährten ar-
        beitsrechtlichen Standards – wie Abhängigkeit, Art der
        Arbeit oder Vergütung – nicht umgangen werden dürfen .
        Außerdem muss die soziale Absicherung der Leistungs-
        erbringer – wie Clickworker und Scheinselbstständige –
        gewährleistet sein . Zum anderen – und damit möchte ich
        schließen – brauchen wir als eine der wichtigsten Grund-
        voraussetzungen für die Verbreitung der Share Economy
        den flächendeckenden Breitbandausbau in Deutschland
        mit deutlich höheren Übertragungsgeschwindigkeiten im
        Gigabitbereich .
        Dr. Hans-Joachim Schabedoth (SPD): So lange ist
        es noch nicht her, da hat man noch zum Handy in der Grö-
        ße eines Briketts gegriffen, um schnurlos und fernab ei-
        nes Telefonanschlusses zu telefonieren . Heute kann man
        sich eine Welt ohne auf schlanke Smartphones schauende
        Menschen fast nicht mehr vorstellen . Bis vor kurzem war
        es größter Wunsch, ein eigenes Auto zu besitzen . Heute
        wollen viele Menschen das Auto gar nicht mehr besitzen,
        sie wollen sie nutzen und mit anderen teilen, die das Auto
        auch nur nutzen wollen . Nutzen oder besitzen? Diese
        Frage stellt sich auch für andere Güter . Weitere Beispiele
        sind wie schon immer die Bücher und mehr und mehr
        Werkzeuge wie Bormaschine, Trennschleifer usw . Und
        es gibt auch den Wunsch nach Unterstützung bei Repara-
        turen und im Haushalt, sogar ein Austausch gegen eigene
        Dienstleistungen .
        Wie wird geteilt? Nebst analoger Share-Läden, die
        vor allem in Großstädten zu finden sind, prägen Online-
        plattformen und ihre Apps die Teilwirtschaft – die Share
        Economy . Besonders beliebt, gerade in Großstädten, das
        Car Sharing . Die Wagen von Car2Go und DriveNow ge-
        hören in Berlin fest zum Stadtbild . Und im Reisebereich
        ist Airbnb aus dem Business nicht mehr wegzudenken .
        Immer mehr Menschen beziehen auch haushaltsnahe
        Dienstleistungen über Internetplattformen wie Book a
        Tiger oder Helpling . Dass es sich bei diesen Entwicklun-
        gen um einen komplexen Vorgang handelt, zeigen nicht
        zuletzt die vielen verschiedenen Dinge, die man auf di-
        verse Arten teilen kann .
        Analog dazu gibt es zig verschiedene Handlungsan-
        sätze und Papiere, die aktuell zu den Themen Plattfor-
        mökonomie und Teilwirtschaft kursieren . Jeder Ansatz
        ist für sich genommen gut und richtig . Doch anstatt in
        der Dunkelheit und mit der Hand Schmetterlinge fangen
        zu wollen, sollte man es mal bei Tageslicht mit einem
        Netz versuchen . Viele grundsätzliche Fragen sind bislang
        nicht abschließend beantwortet worden, zum Beispiel:
        Wie kann Share Economy einheitlich definiert werden?
        Wie gestalten sich die Arbeitsbedingungen? Wie viele
        Menschen sind davon betroffen? Wer haftet?
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22277
        (A) (C)
        (B) (D)
        Bevor man mit dem Regulierungshammer draufhaut und
        womöglich den Nagel durch die Wand treibt, müssen die-
        se erstmal beantwortet werden . Was wir jetzt brauchen,
        ist erst einmal eine solide Datengrundlage . Denn wir
        wollen Rahmenbedingungen auf den Weg bringen, die
        weder die Plattformen zu sehr in ihrer Bewegungsfreiheit
        einschränken noch die Verbraucherrechte der Nutzer aus-
        hebeln . Das kann auch helfen, die laufenden, teils sehr
        emotionalen Debatten über die verschiedenen regulato-
        rischen Aspekte der Share Economy besser einzuordnen .
        Viele Diskutanten haben dabei noch die schwarz-weiß
        Brille auf . Plattformen sind die Spielwiese prekärer Be-
        schäftigung; jedwede regulatorische Eingriffe schränken
        die Wettbewerbsfähigkeit ein; Plattformen sind der Altar,
        auf dem die Handels- und die Dienstleistungsbranche,
        wie das Abendland sie bisher kannte, dem digitalen Wan-
        del und dem Wunsch nach Fortschrittlichkeit geopfert
        werden .
        Nun mal die SIM-Karte im Handy lassen! Von Entwe-
        der-oder ist hier nicht die Rede, es gilt ganz klar ein „So-
        wohl als auch“-Ansatz . Wirtschaftliche Chancen nutzen,
        beschäftigungsrelevante Risiken eindämmen! Bedenken
        und Fragen dazu haben wir in unserem Antrag aufgegrif-
        fen . Und schon jetzt können wir Veränderungen in der
        Branche beobachten . Ein Vorwurf, mit dem sich viele
        Plattformen konfrontiert sehen, lautet: Ihr Profit basiere
        auf einer modernen Tagelöhnerei . Dieser Vorwurf lässt
        sich nicht völlig entkräften, doch manche Firmen haben
        bereits einen Kurswechsel eingeleitet . Weg von der Ver-
        mittlung von Freiberuflern, hin zu sozialversicherungs-
        pflichtiger Beschäftigung und Bezahlung nach Tarif. Sie
        haben erkannt, dass sich Prozesssicherheit, Qualität und
        das Vertrauen der Kunden auf diese Weise schlicht besser
        gewährleisten lassen .
        In Zukunft wird die kollaborative Wirtschaft weiter
        wachsen . Mehr Menschen werden in diesem Bereich ihr
        Geld verdienen . Wir sollten diesen Prozess aufmerksam
        begleiten und dafür sorgen, dass gute Arbeit in diesem
        Wirtschaftsfeld der Zukunft möglich ist, auch ohne die
        Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen einzuschrän-
        ken . Wie in vielen anderen Bereichen wird auch hier die
        anfängliche Aufregung der Routine weichen . Vielleicht
        wird ein eigenes Auto irgendwann wirklich ebenso exo-
        tisch wie das Briketthandy von damals .
        Klaus Ernst (DIE LINKE): Liebe Kolleginnen und
        Kollegen von der CDU und SPD, Sie fordern uns in Ih-
        rem Antrag unter anderem auf, Ihre Maßnahmen der Di-
        gitalen Agenda und Ihr Engagement zur Gestaltung der
        Arbeit im digitalen Zeitalter zu begrüßen . Wollen wir uns
        einmal anschauen, was da von Ihrer Seite bisher vorge-
        legt wurde .
        Ein wesentlicher Bestandteil der Digitalen Agenda ist
        der flächendeckende Breitbandausbau. Die Notwendig-
        keit eines solchen Ausbaus ist unstrittig . Auf der Seite
        des BMWi liest man: „Deutschland will eine Vorrei-
        terrolle bei der Durchdringung und Nutzung digitaler
        Dienste einnehmen . … Deshalb braucht Deutschland
        flächendeckend Hochgeschwindigkeitsnetze.“ Auch hier
        könnte die Linke vollumfänglich zustimmen . Nur ist ihre
        Forderung alles andere als neu .
        Schon 2009 hatte Kanzlerin Merkel Highspeedan-
        schlüsse für 75 Prozent der Haushalte bis 2014 verspro-
        chen, mit mindestens 50 Mbit/s . Das ist drei Jahre her .
        Passiert ist seither nicht viel .
        Der Blick auf den Breitbandatlas des BMVI zeigt: Be-
        reits ab einer Bandbreite über 6 Mbit pro Sekunde herr-
        schen gravierende Versorgungslücken im Bundesgebiet .
        Um sich einmal klarzumachen, was 6 Mbit/s bedeuten,
        möchte ich ein einfaches Anschauungsbeispiel nennen .
        Nehmen wir an, Sie machen mit Ihrem Handy ein Bild
        und wollen dieses Ihrer Bekannten schicken . Sagen wir,
        das Bild hat die übliche Datengröße von 6 MB . Ihre Be-
        kannte wohnt nun vielleicht im Landkreis Bayreuth . Oder
        im südwestlichen Schwarzwald . Oder auf dem Land in
        Sachsen . Bei einem Internetanschluss von 6 Mbit pro
        Sekunde – was einem Datendurchsatz von 0,75 MB pro
        Sekunde entspricht – nimmt das Bild eine Downloadzeit
        von 8 Sekunden in Anspruch . Sie können jetzt gerne ein-
        mal bis acht zählen, um ein Gefühl dafür zu bekommen,
        wie lange das ist .
        Von einer internationalen Vorreiterrolle sind wir
        Lichtjahre entfernt . Fakt ist: Die Bundesrepublik hat
        beim Breitbandausbau im internationalen Vergleich den
        Anschluss verloren . Wir rangieren im internationalen
        Ländervergleich auf den hintersten Plätzen, noch weit
        abgeschlagen hinter Rumänien, Tschechien und Irland .
        Während andere Staaten wie Australien und Südkorea
        bereits mit einer Breitbandversorgung von 100 Mbit pla-
        nen, will die Bundesregierung bis zum Jahr 2018 eine flä-
        chendeckende Grundversorgung mit mindestens 50 Me-
        gabit pro Sekunde fördern .
        Zu begrüßen wäre gewesen, hätte die Bundesregie-
        rung 2009 ihr Wort gehalten und den Breitbandausbau
        bis 2014 umgesetzt gehabt . So bleibt diese Maßnahme
        eine längst überfällige Maßnahme, die von der Bundes-
        regierung seit Jahren verschleppt wurde .
        Nun zum Bereich der zukünftigen Gestaltung von
        Arbeit und zu dem Dialogprozess „Arbeiten 4 .0“ . Als
        Ergebnis des Arbeitszeitdialoges mit Arbeitgebern und
        Gewerkschaften hat Ministerin Nahles angekündigt, den
        Achtstundentag in einem Feldversuch aufweichen zu
        wollen . Künftig sollen Gewerkschaften und ausgewählte
        Arbeitgeber die Möglichkeit bekommen, bei der Arbeits-
        zeit über die gesetzlichen Regeln hinauszugehen, sofern
        sie dies in einem Tarifvertrag vereinbart haben . Nahles
        will dabei herausfinden, ob Flexibilität und Schutz vor
        Überlastung zusammengehen . Die Idee, Menschen durch
        flexible und längere Arbeitszeiten vor Überlastung schüt-
        zen zu wollen, ist absurd . Denn in der Realität richten
        sich flexible Arbeitszeiten vor allem nach den Interes-
        sen der Arbeitgeber . Um Beschäftigte vor Überlastung
        zu schützen, müsste man vielmehr eine Verkürzung der
        realen Wochenhöchstarbeitszeit anstreben .
        Wie schon bei der Leiharbeit sollen jetzt gesetzliche
        Regelungen durch Tarifverträge verschlechtert werden
        können . Die Bundesregierung kehrt den Sinn von Tarif-
        verträgen um und bedient damit Interessen der Arbeitge-
        ber . Das ist ein Missbrauch der Tarifbindung .
        Um Beschäftigte effektiv zu schützen, brauchen wir
        eine Ausweitung der Mitbestimmungsrechte der Be-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722278
        (A) (C)
        (B) (D)
        triebsräte auf das Arbeitsvolumen und mehr individu-
        elle Rechte für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer .
        Um Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen zu schützen,
        braucht es auch ein Recht auf Nichterreichbarkeit wäh-
        rend der Freizeit: eine Anti-Stress-Verordnung . Es ist
        oberstes Gebot einer sozialen Politik, sich schützend vor
        die Beschäftigten zu stellen und dem Trend, dass Arbeit
        zunehmend krank macht, entgegenzuwirken .
        Nun geht es in dem Antrag in erster Linie um die soge-
        nannte Share Economy . Sie stellen völlig zu Recht fest:
        „Der ursprüngliche Gedanke der Share Economy bezog
        sich zunächst meist auf das unentgeltliche Teilen und
        Tauschen von Gütern unter sozialen und ökologischen
        Gesichtspunkten .“ Dieser ursprüngliche Gedanke lebt
        in bestimmten Nischen fort und hat seine Existenzbe-
        rechtigung und gehört auch aus unserer Sicht gefördert .
        Dazu haben die Grünen in ihrem Antrag durchaus ein
        paar richtige Positionen, weshalb wir dem Antrag auch
        zustimmen werden .
        Doch um was es bei Ihnen im Kern im Antrag geht,
        hat mit der ursprünglichen Share Economy fast nichts
        mehr zu tun . Insofern tue ich mich auch schwer, dies
        überhaupt mit dem Begriff „Share Economy“ oder „kol-
        laborative Wirtschaft“ fassen zu wollen . Oftmals geht es
        bei diesen vermeintlich innovativen Geschäftsmodellen
        in erster Linie um die Unterlaufung bestehender Stan-
        dards und Regelungen, insbesondere auch von Verbrau-
        cher und Arbeitnehmerschutzrechten . Insofern ist in den
        meisten Fällen für mich nicht erkennbar, warum darüber
        nachgedacht wird, hier Regelungen unter dem tatsächli-
        chen oder vermeintlichen Druck neuer Geschäftsmodelle
        aufweichen zu wollen . Da schütten Sie das Kind mit dem
        Bade aus . Davor kann ich nur warnen .
        Es muss vielmehr gesichert sein, dass die bestehen-
        den Regeln und Schutzstandards umfassend, effektiv
        und überprüfbar angewendet werden können . Doch so
        weit sind wir ja noch nicht; erst einmal wollen Sie viel
        prüfen, berichten und vorschlagen lassen . Insofern sage
        ich in Richtung der Regierung: Prüfen Sie ehrlich! Diffe-
        renzieren Sie, wo es um primär ökologische und soziale
        Gesichtspunkte geht und wo um knallharte Geschäftsin-
        teressen bzw . wo Geschäftsmodelle primär durch die Un-
        terlaufung von Standards funktionieren! Und schlagen
        Sie hier differenzierte, aber wirksame Lösungen vor!
        Wir sind gespannt, aber skeptisch, ob die Prüf- und
        Berichtsaufträge hier mit der richtigen Intention abge-
        schickt werden . Insofern können wir diesem Antrag nicht
        zustimmen .
        Dieter Janecek (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Eine
        Sache gleich vorweg, weil das in der öffentlichen Debat-
        te oftmals nicht und im Antrag der Koalitionsfraktionen
        leider gar nicht deutlich wird: Share Economy ist mehr
        als Uber und Airbnb . Es ist richtig und wichtig, dass die
        Themen solidarische Wirtschaft und gemeinschaftliche
        Konsumformen heute Eingang in die Tagesordnung des
        Deutschen Bundestags gefunden haben . Wir brauchen
        dringend neue Ideen, wie wir gleichzeitig unseren Wohl-
        stand erhalten und Ressourcen einsparen können, und
        innovative Geschäftsmodelle, die Teilen statt Besitzen
        ermöglichen . Immer mehr Menschen nutzen die bereits
        existierenden Angebote, registrieren sich für Carsharing,
        anstatt sich ein Privatfahrzeug zuzulegen, und erkennen,
        dass für ihre persönliche Lebensqualität die Verfügbar-
        keit von Dingen entscheidend und Eigentum kein Selbst-
        zweck ist . Die Akteure der Share Economy sind vielfältig,
        aktiv und kreativ . Mit dieser Debatte hier im Deutschen
        Bundestag haben wir die Chance, dies entsprechend zu
        würdigen und Modellen des gemeinwohlorientierten Tei-
        lens auch politisch Angebote zu machen . Innovation in
        diesem so zentralen Bereich für die ökologisch-soziale
        Modernisierung unserer Wirtschaft ist unbedingt unter-
        stützenswert .
        Leider hat die Große Koalition diese Chance heute ver-
        passt . Aus Ihrem Antrag geht doch ziemlich deutlich her-
        vor, dass der Begriff Share Economy in Ihrer Vorstellung
        eher so etwas wie ein Platzhalter für Uber und Airbnb ist .
        Die Vielfalt der Szene und die zahlreichen, innovativen
        Social Entrepreneurs und grünen Gründungen klammern
        Sie in Ihrem Antrag vollständig aus . Stattdessen konzen-
        trieren Sie sich auf die etablierten, großen Plattformen,
        vor allem im Bereich der Vermittlung von Dienstleistun-
        gen . Und es genügt Ihnen, in diesem Zusammenhang die
        altbekannten Problemstellungen zu beschreiben, ohne –
        und das ist zugegebenermaßen auch nicht ganz einfach;
        da werden wir auch noch viele Gespräche und die eine
        oder andere ausführliche Diskussion führen müssen – ab-
        schließende Antworten zu finden. Aber selbst dort, sehr
        geehrte Damen und Herren der Großen Koalition, wo Sie
        von Chancen sprechen, verkennen Sie das Offensichtli-
        che und ignorieren das Selbstverständnis der Mehrheit
        der Szene . Sie tun gerade so, als wäre Share Economy
        nicht mehr als ein trendiges Label für einen Marktsektor
        unter vielen, den Sie dann in guter schwarz-roter Traditi-
        on nach Ihren klassischen Kriterien für wirtschaftlichen
        Erfolg bemessen und dem Sie vor allem vor dem Hin-
        tergrund möglicher Wachstumschancen zunehmende Be-
        deutung zumessen .
        Dabei geht gerade der Ansatz, die Chancen der Sha-
        re Economy unter dem Titel Wachstumschancen zu dis-
        kutieren, völlig am Kern der Szene und ihrer Leitidee
        vorbei und zeigt leider wieder einmal, wie wenig sich
        Ihre Fraktionen unter dem Thema nachhaltiges Wirt-
        schaften vorstellen können und wie schwer sie sich da-
        mit tun, moderne Antworten auf die Digitalisierung zu
        finden. Wir haben in diesem Plenum bereits mehrmals
        darüber gesprochen, zuletzt auch in der Debatte zum Jah-
        reswirtschaftsbericht in Gegenüberstellung zum grünen
        Jahreswohlstandsbericht: Es ist allein schon nicht mehr
        zeitgemäß, im Bereich der klassischen Ökonomie wirt-
        schaftlichen Erfolg ausschließlich mit Blick auf quan-
        titatives Wachstum und Innovation in erster Linie über
        die Zahl von Neugründungen zu messen . Dass Sie das
        aber gerade bei der Share Economy tun, die ja nicht zu-
        fällig in einem engen Zusammenhang mit konsum- und
        wachstumskritischen sozialen Bewegungen steht, muss
        als komplette Themaverfehlung gewertet werden .
        Dabei ist das eigentliche Potenzial der Share Economy
        und der daraus resultierende politische Handlungsbedarf
        doch schon durch den Begriff ersichtlich: Es muss da-
        rum gehen, Teilen statt Besitzen zu unterstützen und die
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22279
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        damit einhergehenden ökologischen Chancen zu nutzen .
        Die Chancen der Share Economy liegen in ressourcen-
        schonenden Lebensentwürfen, nachhaltiger Mobilität,
        neuen Einstellungen zu Konsumgütern, einer gestärkten
        Rolle der Zivilgesellschaft in der Ökonomie, und – und
        das kann man gar nicht deutlich genug betonen – sie kann
        einen wichtigen Beitrag zur ökologisch-sozialen Moder-
        nisierung unseres Wirtschaftssystems leisten . Sie ist kein
        Wirtschaftszweig wie jeder andere, der momentan auf-
        grund guter Entwicklungschancen Ihre Aufmerksamkeit
        verdient, sondern sie ist und kann unter den entsprechen-
        den politischen Rahmenbedingungen eine bedeutende
        soziale Innovation sein, die sich quer durch die verschie-
        denen Branchen zieht und dort zu Ressourceneinsparun-
        gen und Effizienzgewinnen führt.
        Verstehen Sie mich nicht falsch: Die Vorschläge, die
        Sie mit Ihrem Antrag vorlegen, sind ja alle so nicht ver-
        kehrt . Niemand hat etwas dagegen, unseren Informati-
        onsstand zur Share Economy zu verbessern, Rechtsunsi-
        cherheiten zu benennen, die Bedingungen für KMU und
        Start-ups zu verbessern oder den Breitbandausbau vor-
        anzutreiben . Nur haben die meisten Ihrer Forderungen
        mit Share Economy erst einmal nur bedingt etwas zu tun .
        Und wenn Sie den Begriff dann doch aufgreifen, dann
        machen Sie keinerlei Vorschläge, wie Sie konkret und
        explizit Modelle des allgemeinwohlorientierten Teilens
        unterstützen wollen . Die Tatsache, dass Sie Ihren eige-
        nen Antrag offensichtlich weder im Plenum noch in den
        Ausschüssen debattieren möchten, spricht da auch für
        sich. Wir werden uns deshalb, was Ihren Antrag betrifft,
        sehr geehrte Damen und Herren der Großen Koalition,
        enthalten .
        Wenn es Ihnen tatsächlich darum geht, die Potenziale
        der Share Economy zum Tragen zu bringen, dann sor-
        gen Sie für Folgendes: Die Ideen und Konzepte gemein-
        schaftlicher Konsumformen müssen endlich Einzug in
        die klassische Wirtschaftspolitik finden, fest verankert in
        einer politischen Strategie „Solidarische Wirtschaft“ mit
        Zuständigkeit einer Staatssekretärin oder eines Staats-
        sekretärs im Bundeswirtschaftsministerium . Modelle
        des gemeinwohlorientierten Teilens müssen politisch
        gestärkt werden, wobei gerade nicht profitorientierte
        Gründungen eine besondere Berücksichtigung erfahren
        müssen und durch gezielte Maßnahmen wie Bürokra-
        tieabbau, eine Ausweitung der elektronischen Verwal-
        tungsdienstleistungen und die Überarbeitung veralteter
        Regularien mehr Freiräume erhalten . Meine Fraktion hat
        Ihnen dazu ja bereits Vorschläge vorgelegt .
        Anlage 6
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
        gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
        rung des Güterkraftverkehrsgesetzes, des Fahr-
        personalgesetzes, des Gesetzes zur Regelung der
        Arbeitszeit von selbständigen Kraftfahrern, des
        Straßenverkehrsgesetzes und des Gesetzes über
        die Einrichtung eines Kraftfahrt-Bundesamtes
        (Tagesordnungspunkt 21)
        Karl Holmeier (CDU/CSU): Mit dem vorliegenden
        Gesetzentwurf passen wir das Güterkraftverkehrsgesetz
        an mehreren Stellen redaktionell an und nehmen ver-
        schiedene Klarstellungen vor . Gleiches gilt für das Fahr-
        personalgesetz, das Gesetz zur Regelung der Arbeitszeit
        von selbständigen Kraftfahrern, das Straßenverkehrs-
        gesetz und das Gesetz über die Errichtung eines Kraft-
        fahrt-Bundesamtes .
        Im GüKG besteht darüber hinaus bei der nationa-
        len Erlaubnis die Besonderheit, dass diese im Falle der
        Wiedererteilung unbefristet erteilt wird . Dies stellt eine
        Diskrepanz zum europäischen Recht dar und bereitet
        Schwierigkeiten im Verwaltungsvollzug . Darüber hinaus
        ist es erforderlich, eine Ermächtigungsgrundlage für die
        Speicherung bestimmter Verstöße des Unternehmers und
        des Verkehrsleiters zu schaffen. Hiermit wird eine aus
        dem europäischen Recht stammende Vorgabe umgesetzt .
        Transport und Logistik bilden das Rückgrat unse-
        rer Industrie, unserer Wirtschaft und unseres täglichen
        Lebens . Der jährliche Umsatz der Logistikbranche hat
        sich in den letzten 20 Jahren fast verdoppelt, auf etwa
        250 Milliarden Euro . Transport und Logistik haben
        damit als Wirtschaftsfaktor und Arbeitsplatz enorme
        Relevanz für die deutsche Volkswirtschaft . Nahezu
        3 Millionen Beschäftigte in Deutschland zeigen täglich
        ihre Flexibilität, Kreativität und Schaffenskraft in der
        Logistikbranche . Rund 10 Prozent der sozialversiche-
        rungspflichtig Beschäftigten in Deutschland arbeiten in
        der Logistikbranche . Jeder Sechste von ihnen fährt auf
        unseren Straßen und ist wesentlicher Stützpfeiler unse-
        res wirtschaftlichen Erfolges . Die Branche ist dabei auf
        faire Arbeits- und Wettbewerbsbedingungen angewiesen .
        Gerade durch den zunehmenden Wettbewerb osteuropä-
        ischer Fuhrunternehmen geraten die Sozialstandards im
        Straßengüterverkehr hierzulande verstärkt unter Druck
        und bringen sozial verantwortlich handelnde Unterneh-
        men in Bedrängnis . Dem gilt es politisch entgegenzuwir-
        ken, um fairen Wettbewerb und gute Arbeitsbedingungen
        zu ermöglichen .
        Mehr als 40 Prozent aller mautpflichtigen Verkehre
        in Deutschland werden inzwischen durch gebietsfremde
        Transportunternehmen, insbesondere aus den östlichen
        EU-Mitgliedstaaten, geleistet . Seit der fünften Erweite-
        rung der Europäischen Union 2004 hat sich das Lohn- und
        Sozialkostengefälle im Straßengüterverkehr verstärkt .
        Es bestehen starke Anreize, große Fuhrparkflotten aus
        Deutschland in die neuen EU-Länder zu verlegen . Die
        Dienstleistungsfreiheit im Verkehr wird dabei oft ausge-
        nutzt, um Betriebsstandorte lediglich formell zu verle-
        gen. Ausgeflaggte Fuhrparkkapazitäten bleiben faktisch
        in Deutschland und auf den Hauptmärkten . Fahrzeuge
        und Fahrerinnen und Fahrer sind zu Arbeitsbedingungen
        ihres Entsendelands tätig . Mittelständische Transportun-
        ternehmen, die bei Lohn-, Sozialkosten und Arbeitsbe-
        dingungen den westeuropäischen Standards entsprechen,
        werden aus dem Markt gedrängt . Viele Fahrerinnen und
        Fahrer kehren erst nach Wochen oder Monaten an ihren
        Betriebsstandort zurück . Ruhezeiten und private Freizeit
        werden im Führerhaus, an Raststätten, Umschlags- oder
        Hafenanlagen verbracht . Selbst minimale Sozialstan-
        dards werden ihnen dabei vorenthalten .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722280
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        Hier muss dringend gehandelt werden . Das tun wir . Es
        gilt, einen fairen Wettbewerb im grenzüberschreitenden
        Straßengüterverkehr zu ermöglichen sowie Lohn- und
        Sozialdumping zu unterbinden. Dem Umflaggen von
        Fuhrparkflotten und der Gründung von Briefkastenfir-
        men muss zum Wohle des deutschen Arbeitsmarktes ent-
        gegengewirkt werden .
        Die Bundesregierung muss die wettbewerbsverzerren-
        den und unfairen Arbeitsbedingungen bekämpfen . Dies
        alles haben wir zum Wohle des deutschen Transportlo-
        gistikgewerbes ausführlich in unserem Entschließungs-
        antrag aufgeführt und gefordert .
        Im Fall des Verbringens der wöchentlichen Ruhezeit
        im oder um das Führerhaus haben wir mit unserem Än-
        derungsantrag eine wichtige Klarstellung gemacht: Die
        regelmäßige wöchentliche Ruhezeit darf nicht im Fah-
        rerhaus verbracht werden . Eine Zuwiderhandlung führt
        zu einer Sanktion .
        In einem gemeinsamen europäischen Binnenmarkt
        muss mittelfristig eine europäische Regelung geschaf-
        fen werden . Solange diese nicht vorliegt, müssen wir
        als nationaler Gesetzgeber handeln . Mit unserer Rege-
        lung wollen wir vor allem die ohnehin sehr belasteten
        Fahrer – wie uns im Rahmen der Expertenanhörung ein-
        drucksvoll verdeutlicht worden ist – vor menschenun-
        würdigen Verhältnissen schützen und somit gleichzeitig
        die Attraktivität des Kraftfahrerberufs verbessern . Das ist
        gleichzeitig auch ein wesentlicher Beitrag zur Erhöhung
        der Verkehrssicherheit auf unseren Straßen und stellt fai-
        re Wettbewerbsbedingungen sicher .
        Wir wollen schließlich auch der zum Teil prekären Si-
        tuation auf deutschen Rastplätzen an den Grenzen zu den
        Nachbarländern Rechnung tragen . Im Grenzbereich zu
        den Mitgliedstaaten der EU, die bereits durch nationale
        Regelungen Sanktionen in Bezug auf Verstöße gegen die
        Regelungen zur regelmäßigen wöchentlichen Ruhezeit
        eingeführt haben, kommt es auf den Rastplätzen zuneh-
        mend zu Ausweichentwicklungen, die zu unmenschli-
        chen Zuständen auf den Rastanlagen führen .
        Unser Gesetzentwurf ist ein erster Schritt . Eine euro-
        päische Regelung ist dringend notwendig, und so werden
        wir die Thematik in der kommenden Wahlperiode erneut
        auf die Tagesordnung bringen, in enger Zusammenarbeit
        mit dem deutschen Transportlogistikgewerbe und zu sei-
        nem Wohle .
        Oliver Wittke (CDU/CSU): Mit unserem heutigen
        Beschluss nehmen wir Änderungen am Güterkraftver-
        kehrsgesetz, am Fahrpersonalgesetz, am Gesetz zur Re-
        gelung der Arbeitszeit von selbständigen Kraftfahrern,
        am Straßenverkehrsgesetz und am Gesetz über die Er-
        richtung eines Kraftfahrt-Bundesamtes vor . Eine ganz
        wesentliche Änderung ist dabei die Aufnahme eines
        Bußgeldtatbestands in das Fahrpersonalgesetz, der eine
        Bußgeldbewehrung vorsieht, wenn die regelmäßige wö-
        chentliche Ruhezeit in der Fahrerkabine verbracht wird .
        Wir sorgen damit für eine dringend benötigte Klarstel-
        lung des heute schon im EU-Recht geltenden Verbots,
        geben der Bundesregierung das notwendige Werkzeug
        zur Ahndung an die Hand und schieben dem Nomaden-
        tum von Lkw-Fahrern an deutschen Autobahnraststätten
        einen Riegel vor . Damit schützen wir die Kraftfahrer vor
        den teils menschenunwürdigen Verhältnissen, die wir
        heute noch an Autobahnraststätten und Parkplätzen vor-
        finden.
        Wir verbinden diesen Schritt auch mit der Hoffnung,
        der Diskussion auf europäischer Ebene durch unseren
        Schritt neue Dynamik zu verleihen . Nachdem Belgien,
        Frankreich und jetzt auch Deutschland eigene natio-
        nale Regelungen getroffen haben, steigt der Druck auf
        die Länder, die sich derzeit noch einer klar formulierten
        europaweiten Regelung verweigern . In diesem Zusam-
        menhang begrüße ich auch den von Minister Dobrindt
        im Januar in Paris unterzeichneten Aktionsplan Deutsch-
        lands und acht weiterer westeuropäischer Länder . Wir
        werden in unserem Kampf gegen das Sozialdumping im
        Straßengüterverkehr nicht nachlassen und weiterhin für
        die Rechte der Lkw-Fahrer und faire Wettbewerbsbedin-
        gungen für unsere Unternehmen kämpfen .
        Vor diesem Hintergrund haben CDU/CSU und SPD
        auch einen Entschließungsantrag eingebracht, der sich
        mit diesen und weiteren Herausforderungen beschäftigt .
        In den kommenden Jahren müssen wir Antworten auf die
        drängenden Fragen finden, wie wir fairen Wettbewerb
        und die Beachtung europäischer und nationaler Sozial-
        vorschriften sicherstellen . Dafür bedarf es der Weiterent-
        wicklung des Rechtsrahmens in Europa und Deutschland .
        Wichtig ist uns auch die Stärkung der Attraktivität des
        Berufs des Kraftfahrers . Die heute zu beschließende neue
        Regelung zu den Lenk- und Ruhezeiten leistet zwar ei-
        nen Beitrag hierzu, aber weitere Schritte müssen folgen .
        Dazu gehören familienfreundliche Arbeitszeiten oder
        auch bessere Bedingungen an den Laderampen .
        Wir müssen die Meldepflichten und -systeme und die
        Zusammenarbeit und den Informationsaustausch zwi-
        schen Behörden verbessern, die Kontrollen intensivieren
        und Verstöße konsequenter sanktionieren . Wir dürfen
        nicht weiter zulassen, dass sich insbesondere osteuropä-
        ische Wettbewerber mit niedrigeren Sozial-, Lohn- und
        Sicherheitsstandards einen Vorteil vor unseren inländi-
        schen Unternehmen verschaffen.
        Viele der relevanten Regelungsbereiche liegen in der
        Zuständigkeit der Europäischen Union . Daher fordern
        wir die Bundesregierung auf, sich auf Europäischer Ebe-
        ne für eine entsprechende Weiterentwicklung des Rechts-
        rahmens einzusetzen . Dazu gehört nicht nur die bereits
        erwähnte Regelung zur Verbringung der Lenk- und Ru-
        hezeiten, sondern auch der Einsatz für eine stärkere Beto-
        nung der sozialen Aspekte in der erwarteten Straßenver-
        kehrsinitiative der Europäischen Kommission .
        Wichtig ist uns zudem, dass die Bundesregierung zü-
        gig zu einem Abschluss des Vertragsverletzungsverfah-
        rens zur Anwendung des Mindestlohns im Transportge-
        werbe kommt . Hier brauchen wir endlich eine Lösung,
        die fairen Wettbewerb zwischen in- und ausländischen
        Unternehmen sicherstellt .
        Spätestens im Frühjahr 2018, wenn die Bundesregie-
        rung an den Verkehrsausschuss berichtet, werden wir das
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22281
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        Thema erneut auf der Tagesordnung haben . Die Trans-
        port- und Logistikbranche mit ihren fast 3 Millionen
        Beschäftigten kann sich darauf verlassen, dass wir die
        Entwicklungen weiterhin aktiv begleiten und notwen-
        dige Anpassungen energisch einfordern und umsetzen
        werden .
        Udo Schiefner (SPD): Katastrophal und men-
        schenunwürdig geht es auf deutschen Autobahnrastplät-
        zen gerade an den Wochenenden und vor allem in Grenz-
        nähe zu Frankreich, Belgien und den Niederlanden zu .
        Bei unseren westlichen Nachbarn wird das Verbringen
        der regelmäßigen wöchentlichen Ruhezeit mit Bußgeld
        bestraft . Die Lkw stehen deshalb alle auf unserer Rhein-
        seite. Auf Rastplätzen für normalerweise 90 befinden
        sich regelmäßig über 200 Fahrzeuge . Deren Fahrer haben
        nicht das Geld, um kostenpflichtige Toiletten oder Du-
        schen zu benutzen . Sie sind monatelang unterwegs, nicht
        nur wochenlang . Sechs oder neun Monate sind keine Sel-
        tenheit . Die Fahrer kommen nicht mehr nach Hause; sie
        haben keine sozialen Kontakte mehr, keine Bindung zu
        ihrer Familie . Das sind unwürdige Zustände .
        Mit diesen deutlichen Worten wurden uns die Zustän-
        de auf unseren Autobahnraststätten am Montag dieser
        Woche geschildert. In der öffentlichen Anhörung zu dem
        Gesetzespaket, das heute zur Abstimmung steht, wurde
        ausgiebig und eindrücklich aus der Praxis auf der Straße
        geschildert . Wir alle kennen die Bilder und Geschich-
        ten über die Bedingungen im Straßengüterverkehr in-
        zwischen aus zahlreichen Fernsehberichten . Einige von
        uns konnten das Elend auch persönlich in Augenschein
        nehmen . Ich war zuletzt Weihnachten bei Fahrern auf
        Autobahnrastplätzen, die das Fest der Familie fern ih-
        rer Heimat verbringen mussten . In dem Zusammenhang
        will ich all den deutschen Fahrern danken, die sich in
        Kraftfahrerkreisen organisieren und zum Beispiel Weih-
        nachtsaktionen für ihre Kollegen, vor allem aus Osteuro-
        pa, durchführen .
        Die eindrücklichen Schilderungen in der Anhörung
        haben alle Anwesenden im Verkehrsausschuss spürbar
        berührt . Sollten noch Zweifel daran bestanden haben,
        dass wir gegen das moderne Nomadentum dringend han-
        deln müssen: Seit Montag hat diese Zweifel sicher keiner
        mehr .
        Uns wurde vor Augen geführt, dass wir über Güter-
        kraftverkehr und Fahrpersonal nicht sprechen können,
        ohne über faire Arbeits- und Wettbewerbsbedingungen
        zu sprechen . Auf deutschen Autobahnen sollte beides
        selbstverständlich sein . Doch wir sehen, wie erschre-
        ckend anders die Realität aussieht .
        Das Leid der Fahrer ist dabei die eine Seite der Me-
        daille . Leiden tut auch das Gewerbe . Große Teile des
        deutschen Transportlogistikgewerbes sind akuten Wett-
        bewerbsverzerrungen ausgesetzt . Ehrliche Logistik- und
        Transportunternehmen, die ihre Mitarbeiter fair bezah-
        len, soziale Standards einhalten und Umläufe so planen,
        dass die Fahrer regelmäßig am Wochenende zu Hause
        sein können, verlieren zunehmend Aufträge . Ihre Exis-
        tenz ist bedroht . Die Spediteure und ihre Fahrerinnen und
        Fahrer, die Menschen am Steuer der Lkw, fahren am Li-
        mit . Sie leiden darunter, dass auf deutschen Autobahnen
        zu viele schwarze Schafe zu unscharfe Regeln ausnutzen
        und geltendes Recht missachten . Diese schwarzen Scha-
        fe stammen keineswegs nur aus Osteuropa . Auch für ei-
        nige in Westeuropa ansässige große Unternehmen gehört
        das zu ihrem Geschäftsmodell .
        Wir müssen politisch handeln . Das wissen wir seit
        Jahren . Endlich tun wir es . Am Montag wurde auch deut-
        lich benannt, wie wir handeln können: Ein Instrument,
        etwas zu ändern, wäre es, die regelmäßige wöchentliche
        Ruhezeit vernünftig und menschenwürdig zu regulieren .
        Genau das Instrument, über das wir heute hier diskutie-
        ren, ist meiner Meinung nach eines der Schlüsselelemen-
        te, schrieb uns Udo Skoppeck, aktiver Fernfahrer und
        Aktivist für Fernfahrerrechte, ins Lastenheft . Wir haben
        die Forderung aufgenommen und im Verkehrsausschuss
        eine kleine, aber entscheidende Änderung zum Fahrper-
        sonalgesetz beschlossen .
        Um Missverständnissen vorzubeugen, will ich noch
        einmal benennen, was wir verbieten . Es geht um die re-
        gelmäßige wöchentliche Ruhezeit im Lkw . Mit Artikel 8
        Nummer 8 der EU-Verordnung 561/2006 ist die Voraus-
        setzung gegeben, um zu unterbinden, dass die regelmä-
        ßige wöchentliche Ruhezeit im Fahrzeug verbracht wird .
        Die EU-Verordnung sagt: In zwei jeweils aufeinander-
        folgenden Wochen hat der Fahrer mindestens zwei regel-
        mäßige wöchentliche Ruhezeiten oder eine regelmäßige
        wöchentliche Ruhezeit und eine reduzierte Wochenru-
        hezeit von mindestens 24 Stunden einzuhalten . Wichtig
        sind hier die zu unterscheidenden Begriffe „regelmä-
        ßige“ und „reduzierte“ wöchentliche Ruhezeit . Weiter
        heißt es nämlich, dass nicht am Standort eingelegte täg-
        liche Ruhezeiten und reduzierte wöchentliche Ruhezei-
        ten im Fahrzeug verbracht werden können . Regelmäßige
        wöchentliche Ruhezeiten im Fahrzeug werden in dieser
        Ausnahme explizit nicht benannt . Dem EU-Recht fol-
        gend können und müssen wir das Verbringen der regel-
        mäßigen wöchentlichen Ruhezeit im Fahrzeug verbieten
        und ahnden .
        Keine Frage: Die Klarstellung zum Verbot des Ver-
        bringens der wöchentlichen Ruhezeit im Lkw, die wir
        nun beschließen, ist nur ein Mosaikstein . Eigentlich wäre
        eine europäische Regelung notwendig, die keinerlei In-
        terpretationsspielraum bietet . Eigentlich müssen wir
        noch viele weitere Aspekte angehen, wollen wir fairen
        Wettbewerb und faire Arbeitsbedingungen im Transport-
        und Logistikgewerbe garantieren .
        In unserem Entschließungsantrag haben wir dazu
        Punkte benannt . Der Bundesregierung haben wir damit
        wichtige Aufgaben gestellt . Ich erwarte, dass wir im
        Frühjahr 2018 erste Ergebnisse präsentiert bekommen .
        Schon jetzt aber kommt, wenn uns der Bundesrat zu-
        stimmt, der kleine Mosaikstein, der, wie ich sicher bin,
        große Wirkung haben wird . In der Diskussion um das
        Fahrpersonalgesetz wurde im Vorfeld häufig angezwei-
        felt, dass das Verbot des Verbringens der regelmäßigen
        wöchentlichen Ruhezeit durchsetzbar sei . Dazu haben
        wir Montag wichtige Hinweise erhalten: Niederlande,
        Belgien und Frankreich zeigen bereits, dass das Verbot
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722282
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        kontrollierbar ist . Die Problematik der Kontrollen liegt
        bislang einzig darin, dass das „Schwert nicht schneidet“ .
        Mit dem heutigen Beschluss schärfen wir in jedem
        Fall das Schwert . Damit es schneidet, sind die Kontroll-
        behörden in der Pflicht und haben alle Möglichkeiten –
        wie ihre Kolleginnen und Kollegen in unseren westlichen
        Nachbarstaaten –, das Verbot durchzusetzen . Ich erwarte
        effektive Schwerpunktkontrollen, die deutlich abschre-
        ckenden Charakter haben müssen . Dazu sind integrative
        Kontrollen unter Einbindung von Polizeien, BAG, Zoll
        und auch Ämtern für Arbeitsschutz notwendig . Zudem
        müssen wir die Möglichkeiten der Digitalisierung noch
        besser nutzen . Mit dem digitalen Tachografen wird
        schon bald vieles einfacher . Ein obligatorischer digitaler
        Frachtbrief ist darüber hinaus dringend geboten . Das for-
        dern wir in unserem Entschließungsantrag .
        Ich will enden mit einem Zitat aus der Anhörung, das
        sich mir eingebrannt hat: „Ich weiß nicht, warum die
        Bevölkerung und die gesamte Politik – ich spreche jetzt
        die ganze Runde an – glauben, dass wir Kraftfahrer das
        stoisch mitmachen, nur weil es sich so eingebürgert hat .“
        Vollkommen richtig; Nicht das Gewohnheitsrecht, son-
        dern das gesetzte Recht muss gelten . Zur Frage der Ru-
        hezeit im Lkw gibt es eine EU-Verordnung und nun auch
        eine entsprechende Klarstellung im Fahrpersonalgesetz,
        und diesen Regelungen verschaffen wir Geltung.
        Thomas Lutze (DIE LINKE): Die Erteilung natio-
        naler güterkraftverkehrsrechtlicher Zulassungen erfolgt
        bislang für bis zu zehn Jahre . Bei einer Verlängerung ist
        diese bisher aber unbefristet zu erteilen . Dass dies nun,
        in Übereinstimmung mit dem EU-Recht, dahin gehend
        geändert werden soll, auch diese nur für zehn Jahre zu
        erteilen, ist sinnvoll .
        Verstöße von Güterkraftverkehrsunternehmen werden
        bislang nicht in der Verkehrsunternehmensdatei beim
        BAG geführt, sondern an zwei anderen Stellen gespei-
        chert, um Dopplungen zu vermeiden . Die EU hat nun
        vorgeschrieben, dass klar definierte, schwerste Verstöße
        in diese Datei aufzunehmen sind . Dies anzupassen war
        notwendig .
        Im Entschließungsantrag der Koalition werden eine
        Reihe sinnvoller Dinge gefordert, die über den Ände-
        rungsantrag hinausgehen . Dem können wir bis auf eine
        Ausnahme zustimmen . Dass es sich hierbei jedoch aus-
        gerechnet um die wöchentlichen Ruhezeiten handelt, ist
        äußerst bedauerlich . Im Antrag wird sich dafür ausge-
        sprochen, entgegen dem mit dem Änderungsantrag ein-
        geführten klaren Verbot, die Regelungen auf EU-Ebene
        dahin gehend zu regeln, dass wöchentliche Ruhezeiten
        im Fahrerhaus verbracht werden können . Die Ruhezei-
        ten im Fahrerhaus sollen zwar verkürzt werden, dennoch
        reicht diese Regelung nicht aus .
        Verdi hat in der Anhörung des Verkehrsausschusses
        zu Recht darauf hingewiesen, dass der Änderungsantrag
        der Koalition nicht ausreichend ist . Die Formulierung,
        dass „nicht geeignete Schlafmöglichkeiten“ sanktioniert
        werden sollen, ist alles andere als rechtssicher . Der Bun-
        desrat hat einen Vorschlag gemacht, der dies eindeutig in
        einem neuen Paragrafen definiert hätte. Dem hätte man
        folgen sollen .
        Zur Verbringung der wöchentlichen Ruhezeiten hatten
        wir ein Berichterstattergespräch, bei dem Frau Staatsse-
        kretärin Bär auf Zeit spielen wollte, während sich alle
        vier Fraktionen dafür aussprachen, den untragbaren
        Zuständen insbesondere in Grenznähe zu Belgien und
        Frankreich einen Riegel vorzuschieben . Wir begrüßen
        daher, dass diesbezüglich nun zumindest überhaupt et-
        was geschieht . Da sowohl die Unternehmen als auch die
        Fahrer bestraft werden können, bleibt unklar, inwieweit
        die Haftungsfrage geregelt ist: Wer muss bei Vergehen
        etwas zahlen? Es wäre durchaus möglich gewesen, le-
        diglich die Unternehmen haften zu lassen . Bei Verstößen
        könnte das Fahrzeug dann so lange festgehalten werden,
        bis das Unternehmen die Buße hinterlegt hat . So sind
        jetzt jedoch Streitigkeiten über das Verursachen der Ver-
        fehlungen vorprogrammiert . Besser wäre es gewesen,
        den Weg des Bundesrates zu gehen, der dies explizit als
        Verbot regeln will und Sanktionen zudem nur für Unter-
        nehmen, nicht auch für Fahrer, einführen möchte .
        In etwa zwei Monaten ist ein Urteil des EuGH zur
        Frage der Reichweite des EU-Rechts zu erwarten . Auch
        nach der Anhörung ist mir nicht klar, warum man das Ur-
        teil nicht einfach abwartet und dann schaut, was national
        zu regeln ist .
        Der Entschließungsantrag beschreibt in seinem Fest-
        stellungsteil zutreffend die schwierige Situation des na-
        tionalen Güterkraftverkehrs . Es sei an dieser Stelle der
        Hinweis erlaubt, dass man bei Kroatien keinen Gebrauch
        von der Möglichkeit gemacht hat, die dortigen Unterneh-
        men weiter von der Kabotage auszuschließen . Dies wird
        mit dem Gesetzentwurf nachvollzogen, ist aber bereits
        seit Sommer 2015 wirksam . Hier hat man sich also wei-
        tere Konkurrenz sozusagen ins Haus geholt .
        Den Prüfauftrag hinsichtlich der verkürzten wöchent-
        lichen Ruhezeiten, die eben doch in der Fahrerkabine
        verbracht werden dürfen, also die Umläufe von zwei
        auf drei Wochen im EU-Recht zu verankern, sehen wir
        kritisch . Deswegen enthalten wir uns bei diesem Antrag,
        auch wenn wir allen weiteren Forderungen zustimmen
        können .
        Die Durchsetzung des Mindestlohns ist uns natürlich
        ebenfalls ein großes Anliegen . Deswegen begrüßen wir
        die Anpassung der Meldepflichten. Der Prüfauftrag an
        dieser Stelle ist allerdings zu schwach .
        Stephan Kühn (Dresden) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Auf der Seite des Bundesverkehrsministeriums
        habe ich folgende Definition zum Begriff „Logistik“ ent-
        deckt: „Unter dem Begriff ‚Güterverkehr und Logistik‘
        werden alle Maßnahmen verstanden, die notwendig sind,
        um Güter in der richtigen Menge, im richtigen Zustand,
        zum richtigen Zeitpunkt, mit den richtigen Informationen
        und zu minimalen Kosten am richtigen Ort bedarfsge-
        recht zur Verfügung zu stellen“ . Ende des Zitats .
        Von vernünftigen Arbeitsverhältnissen und fairer Ent-
        lohnung der Beschäftigten ist nicht die Rede; stattdessen
        werden die minimalen Kosten besonders hervorgehoben .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22283
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        Die „Billigstrategie“ im Bereich des Straßengüterver-
        kehrs hat dabei in eine fatale Abwärtsspirale geführt und
        Sozialdumping erst ermöglicht .
        Die Folge sind katastrophale soziale Verhältnisse:
        Fernfahrer, die teilweise länger als ein halbes Jahr ihre
        Familien in den Heimatländern nicht gesehen haben und
        praktisch ein Leben im Lkw verbringen, bzw . Beschäf-
        tigte, die kaum mehr als 500 Euro im Monat erhalten und
        von ihren Unternehmen disponiert werden, wie die Ware,
        die sie quer durch Europa transportieren .
        Und um das hier auch noch einmal klarzustellen: Dies
        ist keine Problemlage, die allein durch osteuropäische
        Transportunternehmen zu verantworten ist . Vielmehr ist
        es oft so, dass deutsche bzw . westeuropäische Unterneh-
        men praktisch ihre Logistikabteilung über Briefkasten-
        firmen in Osteuropa im Sinne der erwähnten „Billigstra-
        tegie“ ausgelagert haben. Im Straßengüterverkehr finden
        wir daher Arbeitsverhältnisse vor, von denen wir früher
        geglaubt haben, dass diese Zeit der Ausnutzung und des
        sozialen Elends längst überwunden sei .
        Ihre Gesetzesinitiative zur Änderung des Fahrperso-
        nalgesetzes verbessert die Lage der Fernfahrer nur unzu-
        reichend . Sie hätten der Position des Bundesrats folgen
        sollen . Das wäre eine echte Verbesserung gewesen . Der
        Bundesrat hat richtigerweise gefordert, dass der Unter-
        nehmer dafür zu sorgen hat, dass das Fahrpersonal die
        regelmäßige wöchentliche Ruhezeit nicht mehr im Fahr-
        zeug verbringt . Die Ruhezeit sollte in festen Unterkünf-
        ten mit Sanitäreinrichtungen und ausreichenden Versor-
        gungsmöglichkeiten verbracht werden . Die Ruhezeit
        sollte nach dem Willen der Mehrheit der Länder wei-
        terhin am Wohnort des Fahrers bzw . Unternehmenssitz
        verbracht werden und nur in Ausnahmefällen unterwegs .
        Ihr Vorschlag bringt leider keine Rechtssicherheit .
        Was ist bitte unter der weit gefassten Formulierung ei-
        ner „geeigneten Schlafmöglichkeit“ zu verstehen? Da-
        bei hätte auch ein Blick in Richtung unserer westeuro-
        päischen Nachbarn Frankreich und Belgien genügt, um
        Anregungen zu bekommen . Klare Verbote in Verbindung
        mit wirksamen Kontrollen und spürbaren Bußgeldern für
        die Transportunternehmen zeigen dort seit Jahren Wir-
        kung . Dagegen sieht Ihr Vorschlag sogar vor, die Fahrer
        mit zur Kasse zu bitten – ein völlig falscher Ansatz, da
        der Fahrer am wenigsten Einfluss auf die Disposition der
        Fahrten hat .
        Die Anhörung im Verkehrsausschuss zu Beginn die-
        ser Woche hat es noch einmal ganz deutlich gezeigt: Die
        besten Gesetze und Verordnungen laufen ins Leere, wenn
        wir uns nicht um ihren wirksamen Vollzug kümmern .
        Regelmäßig berichten Fernfahrer, dass sie relativ selten
        von der Polizei oder dem Bundesamt für Güterverkehr
        kontrolliert werden . Wenn ein Fahrer in vier Jahren nur
        einmal in eine umfassende Kontrolle geraten ist, dann
        zeigt das schlaglichtartig, welche Defizite wir im Vollzug
        derzeit haben .
        Seltene Kontrollen in Verbindung mit milden Strafen
        und Bußgeldern sind für Transportunternehmer geradezu
        eine Einladung, gelegentliche Gesetzes- und Regelver-
        stöße in ihre Kostenkalkulation einzubeziehen: Es dürfte
        oft billiger sein, als sich an die Regeln zu halten . Wir
        brauchen also mehr Kontrollen . Der Bund ist hier mit
        dem Bundesamt für Güterverkehr direkt zuständig und
        könnte den Ländern ein gutes Vorbild sein, indem er das
        Kontrollpersonal massiv aufstockt .
        Staatssekretär Barthle wies in der Anhörung lapidar
        darauf hin, dass sich durch die Änderung des Fahrper-
        sonalgesetzes für den Bund kein erhöhter Erfüllungsauf-
        wand ergeben würde . Das klingt nach Aussitzen, nicht
        nach Anpacken .
        Wenn wir dem Sozialdumping auf unseren Straßen
        den Kampf ansagen, dann brauchen wir dringend klare
        Zuständigkeiten und schlagkräftige Strukturen. Ineffizi-
        ente Kontrollen müssen der Vergangenheit angehören .
        Sicherlich lässt sich einiges durch die zügige Einführung
        des digitalen Tachografen sowie des digitalen Fracht-
        briefs vereinfachen . Wir müssen aber gleichzeitig darü-
        ber diskutieren, ob wir beim BAG künftig einen Großteil
        der Kompetenzen zur Kontrolle des Straßengüterver-
        kehrs bündeln .
        Ich hatte es in meiner letzten Rede zu diesem Gesetz-
        entwurf schon gesagt: Wir stehen bei der Bekämpfung
        des Sozialdumpings im Straßengüterverkehr erst ganz
        am Anfang . So gesehen ist Ihr Gesetzentwurf ein erster
        kleiner Schritt – aber auch nicht mehr .
        Das ist kein großer Wurf, sondern nur der kleinste
        gemeinsame Nenner der sogenannten Großen Koalition .
        Auf mehr können Sie sich kurz vor Ende der Legislatur-
        periode offenbar nicht mehr einigen. Schade!
        Anlage 7
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
        brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
        des Strafgesetzbuchs, des Jugendgerichtsgesetzes,
        der Strafprozessordnung und weiterer Gesetze
        (Tagesordnungspunkt 24)
        Dr. Silke Launert (CDU/CSU): Strafe muss spür-
        bar sein . Anders ist manchen Menschen leider oft nicht
        beizubringen, dass sie sich an gewisse Regeln zu halten
        haben: dass sie fremde Sachen nicht wegnehmen dürfen,
        dass es falsch ist, ohne Ticket mit dem Bus zu fahren oder
        dass sie ihren Unterhaltspflichten nachzukommen haben.
        Die Aufgabe des Richters im Strafverfahren ist es da-
        her, die richtige Strafe zu finden, die, aus der der Täter
        auch wirklich lernt und später nicht zum Wiederholungs-
        täter wird . Dafür stehen dem Richter im deutschen Straf-
        recht aktuell zwei Mittel zur Verfügung: die Geldstrafe
        und die Freiheitsstrafe .
        Als ehemalige Staatsanwältin kann ich bestätigen,
        dass wir mit diesen beiden Mitteln bedauerlicherweise
        oft nur bedingt etwas bewirken können . So werden gera-
        de bei kleinerer bis mittlerer Kriminalität Freiheitsstrafen
        oft zur Bewährung ausgesetzt und von den Tätern dann
        wie ein Freispruch empfunden . Geldstrafen werden nicht
        selten von nahen Angehörigen beglichen, die es gut mei-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722284
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        nen . Oder die bisweilen auch hohen Tagessätze schmer-
        zen deshalb nicht, weil der Täter schlicht vermögend ist .
        Der Anspruch des Strafrechts und unseres Rechts-
        staates ist es aber, auch diesen Tätern beizukommen . Vor
        dem Gesetz sind schließlich alle Menschen gleich, und so
        sollte ein Strafurteil auch für jeden Straftäter eine spürba-
        re Konsequenz haben . Um das zu erreichen, wollen wir
        mit dem vorliegenden Gesetzentwurf den Katalog der
        Strafen um das Fahrverbot erweitern . Wir wollen, dass
        das Fahrverbot nicht nur dann verhängt werden kann,
        wenn die Straftat einen Straßenverkehrsbezug aufweist,
        sondern grundsätzlich bei allen Straftaten . Dabei soll der
        Charakter des Fahrverbots als Nebenstrafe beibehalten
        werden . Wir versprechen uns davon, den einen oder an-
        deren Täter damit stärker beeindrucken zu können als mit
        einer anderen Strafe . Warum? Weil Autos und Autofah-
        ren in unserer Gesellschaft einen Stellenwert haben wie
        sonst kaum anderswo auf der Welt . Ein Auto bedeutet
        Freiheit und Mobilität und für manch einen ist es hierzu-
        lande auch ein geliebtes Statussymbol .
        Sicher treffen wir hier einen empfindlichen Nerv. Das
        zeigt uns jedenfalls die aktuelle Erregung der Öffentlich-
        keit, und das zeigen uns auch die zahlreichen Gerichts-
        verfahren, in denen regelrecht leidenschaftlich darum ge-
        rungen wird, den Führerschein nicht abgeben zu müssen .
        Und genau das ist von uns gewollt; denn nur so kön-
        nen wir abschrecken und nur so können wir Wiederho-
        lungstaten vermeiden .
        Aus denselben Gründen wollen wir auch im Jugend-
        strafrecht die Sanktionsmöglichkeiten öffnen und um das
        Fahrverbot bei allen Straftaten erweitern . Dies halten wir
        erzieherisch für richtig, wenn mit einer anderen Strafe
        einem jungen Straftäter das Unrecht seines Verhaltens
        nicht deutlich genug vor Augen zu führen ist .
        Um den vielen Kritikern aus Jugendverbänden den
        Wind aus den Segeln zu nehmen, will ich an dieser Stelle
        an den sogenannten Warnschussarrest erinnern, der zum
        Ende der letzten Wahlperiode ins Jugendgerichtsgesetz
        eingeführt wurde . Da war der Aufschrei zunächst auch
        groß, und keiner wollte ihn haben . Inzwischen hat er den
        Praxistest jedoch mit Bravour bestanden und es wird von
        den Jugendgerichten vielfach auf ihn zurückgegriffen.
        Für nicht weniger sinnvoll als das Fahrverbot als Stra-
        fe erachte ich die in diesem Gesetzentwurf geplanten
        Neuregelungen zur Blutentnahme, die uns im Wesentli-
        chen dorthin zurückführen, wo wir schon einmal waren .
        Es geht insbesondere um die Fälle, in denen Polizei-
        beamte vermeintlich alkoholisierte Autofahrer aus dem
        Verkehr ziehen . Um in diesen Fällen später das Fahren
        unter Alkoholeinfluss nachweisen zu können, braucht
        es eine Blutentnahme . Diese muss wiederum von einem
        Richter angeordnet werden, denn sie steht unter dem so-
        genannten Richtervorbehalt .
        Vor 2007 haben Polizisten diese Eingriffe trotz des
        Richtervorbehalts regelmäßig selbst angeordnet . Be-
        gründet wurde das mit der besonderen Eilbedürftigkeit,
        da der Alkohol vom Körper recht schnell abgebaut wird
        und sich in einem späteren Gerichtsverfahren dann Nach-
        weisprobleme ergeben können .
        Vor zehn Jahren hat das Bundesverfassungsgericht
        schließlich klargestellt, dass der Richtervorbehalt leer-
        liefe, wenn man diese Praxis weiterverfolge . Damit hat
        er den Richtervorbehalt gestärkt . Weitere Urteile haben
        jedoch Folgefragen aufgeworfen und dadurch zu allerlei
        uneinheitlicher Rechtsprechung von Oberlandesgerich-
        ten geführt .
        Mit den geplanten Neuregelungen, werden wir nun
        wieder Klarheit schaffen:
        Wir wollen gesetzlich festschreiben, dass es in solchen
        Fällen wie denen von Trunkenheit am Steuer keine rich-
        terliche Anordnung braucht . Stattdessen soll es reichen,
        wenn die Staatsanwaltschaft oder die Polizei die Blutent-
        nahme anordnet . Dies ist nur recht und billig; schließlich
        wird der Täter dadurch weder schutzlos gestellt, noch ist
        der Richtervorbehalt aus verfassungsrechtlichen Grün-
        den zwingend geboten . Diese Änderung steht letztlich im
        Zeichen der Sicherstellung einer effektiven Strafverfol-
        gung und wird die ohnehin schon stark belastete Justiz
        entlasten – gerade bei einem Massendelikt wie dem der
        Trunkenheitsfahrt . Es ist eine mehr als gute Regelung
        also .
        Neben der Einführung des Fahrverbots als Strafe und
        der Änderung der Anordnungskompetenz bei der Blut-
        entnahme enthält der vorliegende Entwurf außerdem
        noch weitere Neuregelungen, die wichtige Anliegen
        sind und die ich nicht unterschlagen will . Dazu gehören
        insbesondere die verschärfte Strafbarkeit organisierter
        Formen von Schwarzarbeit oder auch die Erleichterung
        der Strafzurückstellung bei betäubungsmittelabhängigen
        Mehrfachtätern .
        Alles in allem also ein runder Gesetzentwurf .
        Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): Mit dem Gesetz-
        entwurf zur Änderung des Strafgesetzbuchs, des Jugend-
        gerichtsgesetzes und der Strafprozessordnung wurde ein
        Bündel einzelner Reformvorhaben vorgelegt, welches
        Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz der Strafver-
        folgung enthalten soll .
        Dabei möchte ich mich auf zwei Punkte beschränken .
        Zum einen auf das Fahrverbot als Nebenstrafe und zum
        anderen auf die Abschaffung des Richtervorbehalts in
        § 81a Absatz 2 StPO .
        Nach derzeitiger Rechtslage wird ein Fahrverbot als
        Nebenstrafe ausschließlich für Straftaten vorgesehen,
        die bei oder im Zusammenhang mit dem Führen eines
        Kraftfahrzeugs oder unter Verletzung der Pflichten eines
        Kraftfahrzeugführers begangen wurden . Sie ist damit
        eine Reaktion auf schuldhaft begangene Verkehrsverstö-
        ße, die als „Denkzettelmaßnahme“ den Täter vor einem
        Rückfall warnen und ihm das Gefühl geben soll, was es
        bedeutet, vorübergehend ohne Führerschein zu sein .
        Es wird vorgesehen, den Katalog der strafrechtlichen
        Sanktionen um die Möglichkeit der Verhängung eines
        Fahrverbots durch Einführung eines deliktsunabhängi-
        gen Fahrverbots als Nebenstrafe zu ergänzen . Damit soll
        eine zusätzliche Möglichkeit geschaffen werden, um in
        geeigneter Weise auf Straftäter einzuwirken . Es sollen
        Straftäter erreicht werden, bei denen die herkömmlichen
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22285
        (A) (C)
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        Sanktionen der Geld- und der Freiheitsstrafe wirkungs-
        los sind . Weiterhin wird die Höchstdauer des Fahrverbots
        von drei Monaten auf sechs Monate erhöht . Im Jugend-
        strafrecht soll es aufgrund des im Vordergrund stehenden
        Erziehungsgedankens und jugendkriminologischer Er-
        wägungen bei einer Höchstdauer von maximal drei Mo-
        naten verbleiben . Um taktische Anfechtungen allein we-
        gen des aus Sicht des Verurteilten zu frühen Beginns des
        Fahrverbots zu vermeiden, wird das Fahrverbot erst ei-
        nen Monat nach Rechtskraft des Urteils wirksam . Zudem
        ist mit § 44 Absatz 4 StGB-E eine Regelung zur Nachei-
        nandervollstreckung mehrerer Fahrverbote vorgesehen .
        Die Union verschließt sich diesem Vorhaben grund-
        sätzlich nicht . Jedoch ist zu bedenken, dass die Bedeu-
        tung des Führens eines Kraftfahrzeugs für den Einzelnen
        heute sehr unterschiedlich sein kann .
        Ein Berufskraftfahrer oder ein Pendler, der zum Errei-
        chen seines Arbeitsplatzes auf sein Kraftfahrzeug ange-
        wiesen ist, wird durch ein Fahrverbot wesentlich stärker
        belastet als jemand, der auf den öffentlichen Nahverkehr
        ausweichen kann und damit leichter auf das Autofahren
        verzichten kann . Dies gilt zum Beispiel für Menschen,
        die ihren Wohnsitz in ländlicheren Gebieten haben und
        denen anders als in Großstädten kein vergleichbarer öf-
        fentlicher Personennahverkehr zur Verfügung steht .
        Klar ist, dass auch Freiheitsstrafen und Geldstrafen
        unterschiedlich wirken . Isoliert verhängte Geldstrafen
        und zu vollstreckende Freiheitsstrafen können insbe-
        sondere in spezialpräventiver Hinsicht unter Umständen
        ihren Zweck nicht erreichen oder unerwünschte Neben-
        folgen haben . So beeindrucken Geldstrafen wirtschaft-
        lich gutsituierte Täter nicht immer in hinreichender Wei-
        se, und dort, wo die Zahlung von Dritten übernommen
        wird, stößt diese Sanktion ins Leere . Verurteilungen zu
        vollstreckbaren Freiheitsstrafen haben neben den hohen
        Vollstreckungskosten nicht selten auch zur Folge, dass
        Straftäter ihren Arbeitsplatz und ihre Wohnung verlieren
        und dass ihre sozialen Beziehungen erheblich gestört
        oder aufgelöst werden . Dies erschwert die Wiederein-
        gliederung der Täter nach der Entlassung und erhöht die
        Gefahr neuer Straffälligkeit. Die Freiheitsstrafe ist ge-
        nerell sehr belastend, und die unterschiedliche Wirkung
        der Geldstrafe wird durch die Bemessung der Tagessätze
        jedenfalls teilweise ausgeglichen . Bei dem Fahrverbot
        scheint es angesichts der verschiedenen Lebensumstände
        und Vorlieben der Betroffenen kaum möglich, für eine
        annähernde Wirkungsgleichheit der Strafe zu sorgen .
        Noch verstärkt werden dürfte dieser Umstand dadurch,
        dass die Befolgung des Fahrverbots nur schwer kontrol-
        lierbar ist .
        Sinnvolle Anwendungsfälle lassen sich aber zum
        Beispiel bei Gewalttaten junger Menschen denken . Es
        spricht einiges dafür, dass sich ein solcher Täter einen
        neuen Rechtsbruch sehr genau überlegen wird, wenn er
        sein Auto oder Motorrad bereits für maximal drei Monate
        nicht benutzen darf .
        Der zweite Punkt ist das Thema „Abschaffung des
        Richtervorbehalts bei der Blutprobenentnahme“ . Von
        Fahrzeugführern, die unter Alkohol- oder Drogeneinfluss
        stehen, gehen erhebliche Gefahren für die Sicherheit des
        Straßenverkehrs und andere Verkehrsteilnehmer aus .
        Sie sind eine der Hauptursachen für Verkehrsunfälle mit
        schweren, oft tödlichen Folgen. Eine jederzeit effektive
        Verfolgung der Täter ist daher von besonderer Bedeu-
        tung . Das bisher geltende Recht enthält in § 81a Absatz 2
        StPO einen Richtervorbehalt für alle körperlichen Unter-
        suchungen . Ausnahmen sind nur für den Fall vorgesehen,
        dass der Untersuchungserfolg bei einer Verzögerung ge-
        fährdet würde . Dann steht die Anordnungsbefugnis der
        Staatsanwaltschaft und ihren Ermittlungspersonen zu .
        Zur Beschleunigung der Beweissicherung im Straf- und
        Bußgeldverfahren insbesondere bei dem Verdacht auf
        ein Trunkenheitsdelikt und damit zur Verbesserung des
        Schutzes der Sicherheit des öffentlichen Straßenverkehrs
        vor ungeeigneten Fahrzeugführern soll der Richtervorbe-
        halt zukünftig für die Fälle der Entnahme einer Blutprobe
        gestrichen werden .
        Der Richtervorbehalt ist nicht erforderlich, da es
        sich bei einem vergleichsweise milden Eingriff um ein
        Massenphänomen in der Strafjustiz handelt . Außerdem
        gehört der Richtervorbehalt – anders als bei der Woh-
        nungsdurchsuchung – nicht zum rechtsstaatlichen Min-
        deststandard, und er kann aufgrund der Gegebenheiten in
        der Anwendungspraxis seiner Funktion als vorbeugende
        Kontrolle kaum gerecht werden . Denn der Richter hat
        keine echte Überprüfungsmöglichkeit . Er muss fast im-
        mer telefonisch und unter Zeitdruck eine Entscheidung
        treffen, auf Grundlage dessen, was ihm der Polizeibeam-
        te zum Sachverhalt berichtet . Ein rechtstaatlicher „Mehr-
        wert“ für den Beschuldigten ist selten ersichtlich . Zudem
        bleibt auf Antrag des Betroffenen nachträglich die Mög-
        lichkeit, die Rechtmäßigkeit der Anordnung entspre-
        chend § 98 Absatz 2 Satz 2 StPO überprüfen zu lassen .
        Wir sollten über diese Punkte noch intensiv debat-
        tieren, um Antworten zu finden und die Defizite im gel-
        tenden Straf- und Strafprozessrecht auszugleichen . Dies
        könnte ein Schritt sein, das Strafverfahren unter Wahrung
        rechtsstaatlicher Grundsätze noch effektiver und praxis-
        tauglicher zu gestalten .
        Dr. Johannes Fechner (SPD): Mit dem vorliegen-
        den Gesetz schaffen wir zahlreiche Verbesserungen und
        Verfahrensvereinfachungen im Strafprozessrecht und wir
        schließen Strafbarkeitslücken im Strafgesetzbuch .
        Wichtigste Regelung ist die Abschaffung des Richter-
        vorbehaltes bei der Blutentnahme zur Feststellung des
        Blutalkohols bei Verkehrskontrollen . Nach geltendem
        Recht muss ein Richter diese anordnen . In der Praxis
        hat sich aber nun gezeigt, dass wir einerseits sehr gut ge-
        schultes Personal bei der Polizei haben, das verantwor-
        tungsvoll mit dieser durchzuführenden Messmethode
        umgeht . Zudem hat sich gezeigt, dass die Rückfrage bei
        einem Richter oft nur pro forma erfolgte und erfolgen
        kann . Der Richter kann sich den Sachverhalt am Telefon
        schildern lassen, muss praktisch aber immer den Anga-
        ben des Polizisten vor Ort vertrauen . Die Erfahrung und
        alle Berichte zeigen, dass die Polizei verantwortungsvoll
        vorgeht . Den Richtervorbehalt braucht es deshalb nicht
        mehr . Vor allem war der Richtervorbehalt mit einem er-
        heblichen Arbeitsaufwand für die Polizei verbunden, da
        jede Blutalkoholentnahme in Absprache oder auf Anord-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722286
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        nung eines Gerichtes erfolgen muss . Mit der Abschaf-
        fung des Richtervorbehaltes erleichtern wir deshalb der
        Polizei ganz erheblich ihrer Arbeit, und wir verhindern,
        dass sich der Alkohol im Blut schon rapide abgebaut hat,
        bis die Entnahme endlich möglich ist .
        Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung nehmen lei-
        der auch bei uns zu . Dabei lassen sich die gut organisier-
        ten Tätergruppen einiges einfallen, um die tatsächlichen
        Beschäftigungsverhältnisse zu verschleiern . Diese neuen
        Methoden sind vom heutigen Straftatbestand des Vorent-
        haltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt nicht erfasst,
        sodass wir diese Lücke schließen müssen . Es ist deshalb
        gut, dass zukünftig mit der Einführung eines neuen be-
        sonders schweren Falls derjenige Arbeitgeber härter be-
        straft werden kann, der Beiträge zur Sozialversicherung
        vorenthält und sich zur Verschleierung der tatsächlichen
        Beschäftigungsverhältnisse unrichtige, nachgemachte
        oder verfälschte Belege von einem Dritten verschafft.
        Schließlich fügen wir als neue Nebenstrafe die Ver-
        hängung eines Fahrverbotes ein . Gerichte haben damit
        die Möglichkeit, in bestimmten Konstellationen, in de-
        nen eine Geldstrafe möglicherweise nicht die spürbarste
        Sanktion ist, durch die Verhängung eines Fahrverbotes
        auf den Täter einzuwirken . Dies kann insbesondere dann
        sinnvoll sein, wenn kurze Freiheitsstrafen oder Geldstra-
        fen bei vermögenden Tätern keine entsprechende zielge-
        naue Wirkung erwarten lassen . Leider nimmt der illegale
        Wildtierhandel zu, was eine massive Bedrohung für den
        Artenschutz ist . Es ist deshalb richtig und gut, dass wir
        im Bundesnaturschutzgesetz regeln, dass das leichtferti-
        ge Töten und Zerstören von streng geschützten wildle-
        benden Tieren oder geschützten seltenen Pflanzenarten
        zukünftig strafbar ist .
        Durch dieses Gesetz schaffen wir eine ganze Reihe
        von strafprozessualen Verbesserungen, und wir schließen
        mehrere strafrechtliche Lücken . Es ist deshalb ein gutes
        Gesetz, weshalb wir diesem zustimmen sollten .
        Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Da ist sie wieder: die
        Ausweitung des Fahrverbots auf alle Strafen unabhängig
        der Verkehrsbezogenheit der Delikte . Der Gedanke ist ja
        nicht neu, wurde immer wieder einmal hochgeholt und
        dann wieder versenkt, – zu Recht, wie ich meine .
        Gerade diese Ausweitung halte ich im Hinblick auf
        den Sinn und Zweck des Strafrechts und der erwünsch-
        ten Wirkung auf den Täter für problematisch, weil eine
        neue Ausbildungsstelle, ein neuer Arbeitsplatz, die Ein-
        bindung in soziale Netzwerke integrativ und reduzierend
        auf die Wahrscheinlichkeit der Begehung einer erneuten
        Straftat wirken können . All dies kann aber mit einer der-
        artigen Sanktion gefährdet werden .
        Auch wird diese neue Strafe nicht auf alle Angeklagten
        anwendbar sein, sondern nur auf diejenigen mit Führer-
        schein . Das Ziel, eine umfängliche dritte Sanktionsform
        zu schaffen, kann also nicht erreicht werden. Vielmehr
        sind hier schwer zu begründende Ungleichbehandlungen
        denkbar, so zum Beispiel, wenn bei Mittätern der eine ein
        Fahrverbot erhalten soll und der andere mangels Führer-
        schein eine kurze Freiheitsstrafe verbüßen soll .
        Es sollten Sanktionsformen gewählt werden, die mit
        der Tat im Zusammenhang stehen, da diese für den Täter
        auch nachvollziehbar sind . Dies wäre hier gerade nicht
        der Fall .
        Ferner fehlt es an einem objektiven Verrechnungs-
        maßstab des Fahrverbots gegenüber der Geldstrafe beim
        führerscheinlosen Täter . Anders als beim Freiheitsentzug
        und der Geldstrafe fehlt es beim Fahrverbot an einer Ein-
        heit mit allgemeiner Gültigkeit, da die Folgen des Fahr-
        verbots je nach Täter unterschiedliche wirtschaftliche
        und soziale Auswirkungen haben können .
        Da sich im Gesetzentwurf keine detaillierten Angaben
        finden lassen, in welchen Fällen das Fahrverbot verhängt
        werden soll, ist neben den beschriebenen Problemen
        überdies die Gewährleistung des Bestimmtheitsgebots
        problematisch .
        Daneben wird statistisch nur der allergeringste Teil
        der Fahrer ohne Fahrerlaubnis überhaupt entdeckt . Das
        Risiko besteht, dass die Verurteilten dennoch weiterfah-
        ren und als Konsequenz lernen, dass die Verurteilung
        wirkungslos bleibt und ein Verstoß nicht weiter schadet .
        Das würde die Zielsetzung des Strafrechts ad absurdum
        führen .
        Als Gegenargument in den Medien wird vorgebracht,
        dass das Fahrverbot insbesondere gegen Väter, die den
        vorgeschriebenen Unterhalt an die alleinerziehende Mut-
        ter nicht zahlen, eingesetzt werden soll. Häufig wäre eine
        Geldstrafe hier nicht erfolgreich . Nach einer Bertelsmann
        Studie würden 2,3 Millionen Kinder in einem Ein-El-
        tern-Haushalt aufwachsen . Die Hälfte würde dabei gar
        keinen Unterhalt und 25 Prozent nur unregelmäßig wel-
        chen erhalten . Dies sei für die Mütter eine schwere Be-
        lastung .
        Zwar stimmt es, dass hier ein großes Problem für die
        Mütter besteht, jedoch bleibt die Forderung nach einem
        Fahrverbot für solche Fälle rein populistisch . Denn in
        den allermeisten Fällen scheitert es nicht an dem Unwil-
        len der Väter, sondern vielmehr an ihrer aktuellen Zah-
        lungsunfähigkeit . Hier springen dann vorerst die Ämter
        ein, die später versuchen, das Geld zurückzubekommen .
        Sofern es sich tatsächlich um Zahlungsunwillige handelt,
        wäre wiederum eine konsequentere Zwangsvollstre-
        ckung das deutlich bessere Mittel . Denn damit kommt
        auch das Geld auf das Konto, im Gegensatz zu einem
        Fahrverbot . Daneben ist der Vorschlag auch absurd,
        weil er zivilrechtliche und strafrechtliche Probleme ver-
        mischt; reiner Populismus also .
        Sinnvoller für eine wirksame Strafe wäre unter Um-
        ständen eine Änderung des § 40 Absatz 2 StGB, welcher
        regelt, was bei der Berechnung der Tagessätze berück-
        sichtigt wird . Hier müssten tatsächlich ermittelte Vermö-
        genswerte und weitere Verbindlichkeiten ausreichende
        Berücksichtigung finden.
        Die Ergänzungen der Regelbeispiele zur Schwarzar-
        beit und illegalen Beschäftigung sind problematisch . Ins-
        besondere die geplante Nummer 3 will eine Strafbarkeit
        für den Fall regeln, dass jemand „fortgesetzt Beiträge
        vorenthält und sich zur Verschleierung der tatsächlichen
        Beschäftigungsverhältnisse unrichtige, nachgemachte
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22287
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        oder verfälschte Belege von einem Dritten verschafft,
        der diese gewerbsmäßig anbietet“ . Dabei ist allerdings
        in der Nummer 2 bereits das Verwenden solcher Belege
        geregelt . Hier soll dagegen noch einmal speziell das Ver-
        schaffen solcher unter Strafe gestellt werden. Damit han-
        delt es sich also um eine Vorverlagerung der Strafbarkeit,
        die ich generell kritisch sehe .
        Auch die Abschaffung des Richtervorbehalts bei Blut-
        probeentnahmen bei Straßenverkehrsdelikten ist nicht
        ohne, da diese einen Eingriff in die körperliche Unver-
        sehrtheit darstellen . Nur durch einen Richtervorbehalt
        kann die strukturelle Ungleichheit im Verfahren ausge-
        glichen werden. Untersuchungen, die bedeutsame Defi-
        zite in der Erreichbarkeit von Richtern in der Nachtzeit
        feststellen konnten und folglich die Beweissicherung
        gefährdet hätten, sind zudem nicht bekannt . Sollten hier
        dennoch Lücken auftreten, müssten diese beseitigt wer-
        den, um, wie ich es heute Mittag bereits sagte, der Ge-
        rechtigkeit endlich zum Durchbruch zu verhelfen .
        Das grundlegende Ziel, Drogenabhängige schneller
        einer Therapie zuzuführen, ist zu begrüßen . Dies ent-
        spricht auch den Wünschen aus der Praxis . Vielleicht
        sollte man sogar so weit gehen, nur zwei Drittel zu voll-
        strecken und den Rest bei Vorliegen der Voraussetzungen
        einer Zurückstellung nach 35 Betäubungsmittelgesetz
        mit entsprechender Auflage zur Bewährung auszusetzen.
        So könnten auch die hier Betroffenen schneller einer
        Therapie zugeführt werden . Denn in der Haft können nur
        schwer die erforderlichen Therapien angeboten werden .
        Schon wenn es sich um Freiheitsstrafen von mehreren
        Monaten handelt, kann dies den Therapieerfolg ernsthaft
        gefährden .
        Zur Stärkung der Bewährungshilfe und Straffälligen-
        arbeit lässt sich konstatieren, dass die Vereinfachungen
        und Klarstellungen mit Rücksicht auf das informationel-
        le Selbstbestimmungsrecht im Interesse einer effizienten
        Gefahrenabwehr liegen . Daneben können Daten zu den
        persönlichen Verhältnissen des Verurteilten die Qualität
        der Behandlungsuntersuchung zu Beginn der Inhaftie-
        rung und die Entlassungsvorbereitung an deren Ende
        verbessern .
        Die neuen Tatbestände auch zur leichtfertigen Tötung
        und Zerstörung von streng geschützten wildlebenden
        Tier- und Pflanzenarten sind grundsätzlich sinnvoll und
        unterstützenswert .
        Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE
        GRÜNEN): Zu Beginn dieser Legislatur gab es gro-
        ße Ankündigungen aus dem Bundesjustizministerium,
        die Strafprozessordnung grundlegend zu überarbeiten .
        Dazu wurde eine Kommission einberufen mit vielen
        Vertretern aus Wissenschaft und Praxis, die umfassende
        Empfehlungen für eine Reform vorgelegt haben . Fast
        200 Seiten umfasst der Abschlussbericht der Experten .
        Auf Grundlage dieses Berichts erarbeitete das Justizmi-
        nisterium zwei Gesetzentwürfe, die wir in dieser Woche
        debattieren . Beide Vorlagen verdienen die Bezeichnung
        „Reform“ nicht . Von den umfassenden Vorschlägen der
        Kommission wurde zu wenig aufgegriffen. Der Gesetz-
        entwurf zu diesem Tagesordnungspunkt 24 beschert uns
        eher kleinere Änderungen im Strafprozessrecht .
        Aber auch kleinere Änderungsvorschläge sind nicht
        davor gefeit, unsinnig und falsch zu sein . Und so verhält
        es sich mit dem Vorschlag, das Fahrverbot als Nebenstra-
        fe für alle Straftaten zu ermöglichen . Bisher konnte dies
        nur verhängt werden, wenn zwischen der Tat und dem
        Führen eines Kfz ein Zusammenhang besteht oder die
        Tat unter Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeug-
        führers begangen wurde . Die Erweiterung ist nicht nur
        Unsinn, sondern führt gleich in mehrfacher Hinsicht zu
        Ungleichbehandlungen, was in meinen Augen sogar ver-
        fassungsrechtlich bedenklich ist .
        Anders als die Geldstrafe, deren Höhe sich an dem
        Einkommen des Verurteilten orientiert, kann das Fahr-
        verbot nicht individuell schuldangemessen ausgestaltet
        werden . Das heißt, einen Verurteilten, der in einer grö-
        ßeren Stadt lebt, in der viele Möglichkeiten bestehen, öf-
        fentliche Verkehrsmittel zu nutzen, trifft ein Fahrverbot
        weniger hart als zum Beispiel einen Lehrling oder ein
        Elternteil auf dem Lande, der auf das Auto angewiesen
        ist, um damit zur Arbeitsstelle, zum Einkauf zu gelangen
        oder die Kinder zur Schule zu bringen . Auch den, der den
        Führerschein zwingend zur Ausführung seiner Arbeit be-
        nötigt, zum Beispiel einen Kurierfahrer, trifft die Strafe
        ungleich hart . Hier kann das Fahrverbot existenzbedro-
        hend sein . Hingegen sind für Wohlhabende Fahrverbote
        leichter zu verschmerzen, können Sie sich doch problem-
        los per Taxi chauffieren lassen.
        Die Bundesregierung behauptet, dass das Fahrverbot
        als Ergänzung zu anderen Sanktionen sinnvoll sei, ins-
        besondere wo Geldstrafen keinen nachhaltigen Eindruck
        hinterlassen, eine Freiheitsstrafe zu einschneidend sei
        oder eine eigentlich angezeigte Freiheitsstrafe dadurch
        abgewendet werden könne . Was aber ist mit demjenigen,
        der gar keinen Führerschein hat? Er wird keine Freiheits-
        strafe abwenden können und ist somit benachteiligt . Die-
        selbe Strafe kann also faktisch zu Ungleichbehandlungen
        führen .
        Es ist auch schwer vermittelbar, warum bei einer Tat,
        die nicht im Zusammenhang mit dem Führen eines Kfz
        steht, das Führen eines Fahrzeugs verboten wird . Das
        macht bei Rasern oder anderen Straßenverkehrsdelikten
        Sinn – aber eben nicht bei sämtlichen Straftaten .
        Die im vorliegenden Gesetzentwurf vorgeschlagene
        Ausweitung eines Fahrverbots als Nebenstrafe auf alle
        Straftaten im Jugendstrafrecht lehnen wir ebenfalls ab .
        Nach § 2 Absatz 1 Satz 2 Jugendgerichtsgesetz orientiert
        sich das Jugendstrafrecht vorrangig am Erziehungsge-
        danken . Die Bundesrechtsanwaltskammer weist in ih-
        rer Stellungnahme zu diesem Gesetzentwurf zu Recht
        darauf hin, dass bei der Verhängung eines Fahrverbots
        als Nebenstrafe in Fällen, in denen die Tat in keinem
        Zusammenhang mit der Teilnahme am Straßenverkehr
        und Nutzung eines Kraftfahrzeugs steht, keinerlei Erzie-
        hungsfunktion der Sanktion erkennbar sei . Diese Kritik,
        die ebenfalls aus der Wissenschaft und von Fachverbän-
        den geäußert wurde, teilen wir .
        Ein weiterer Teil dieses Gesetzentwurfs betrifft die
        Aufhebung des Richtervorbehalts bei der Anordnung
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722288
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        einer Blutentnahme im Bereich der Straßenverkehrsde-
        likte .
        Als einfachgesetzlicher Richtervorbehalt unterliegt
        § 81a Absatz 2 Strafprozessordnung grundsätzlich der
        Disposition des Gesetzgebers, da im Normbereich von
        Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 GG zum Schutz der körper-
        lichen Unversehrtheit im Rahmen von Verhältnismäßig-
        keit und Wesensgehaltgarantie Eingriffe aufgrund eines
        Gesetzes zulässig sind und kein grundgesetzlicher Rich-
        tervorbehalt besteht .
        Die Einschaltung eines Richters als „neutraler Wäch-
        ter“ soll die Kontrolle über die Anordnungsvorausset-
        zungen und die Wahrung des Verhältnismäßigkeits-
        grundsatzes garantieren . Die StPO-Kommission des
        Bundesjustizministeriums hielt die Einschaltung eines
        Richters in diesem Bereich für verzichtbar – angesichts
        der geringen Eingriffstiefe und der weitgehenden Unge-
        fährlichkeit der Blutentnahme, die ja in jedem Fall von
        einem Arzt vorzunehmen ist . Zudem muss der Richter
        schon heute meist am Telefon aus der Ferne entscheiden
        und sich dabei auf die von der Polizei vorgetragene Sach-
        lage verlassen, ohne die Ermittlungsakten selbst einse-
        hen zu können . Insofern spricht auch aus unserer Sicht
        vieles für die Aufhebung des Richtervorbehaltes, zumal
        Verkehrsdelikte unter Alkoholeinfluss ein Massenphäno-
        men mit erheblichem Gefährdungspotenzial sind . Hinzu
        kommt, dass momentan keine einheitliche Praxis besteht,
        in welchen Fallkonstellationen die Polizei Blutproben
        schon wegen Gefahr im Verzug anordnen darf und wann
        dies dem Richter vorbehalten bleibt bzw . wann zumin-
        dest die Staatsanwaltschaft zu befassen ist .
        Der Gesetzentwurf sieht nun vor, dass die Anord-
        nungsbefugnis durch die Staatsanwaltschaft oder ihre
        Ermittlungspersonen erfolgen kann . Das bedeutet wohl
        auch, dass trotz Sachleitungsbefugnis der Staatsanwalt-
        schaft die Polizei als verlängerter Arm der Staatsanwalt-
        schaft ohne vorherige Weisung durch sie tätig werden
        kann, davon geht jedenfalls die Stellungnahme des Bun-
        desrates aus .
        Was aber fehlt, ist eine ausdrückliche Dokumenta-
        tionspflicht der Polizei, sofern sie die Anordnung vor-
        nimmt . Nur durch eine detaillierte Dokumentation der je-
        weiligen Gründe für die Anordnung einer Blutentnahme
        ist im Zweifel eine umfassende nachträgliche Überprü-
        fung der Rechtmäßigkeit der Maßnahme möglich .
        Allerding darf die Aufhebung des Richtervorbehalts
        im Bereich der Straßenverkehrsdelikte nicht Einfallstor
        sein für weitere Verzichte auf dieses wichtige rechts-
        staatliche Kontrollinstrument . Praktische Erwägungen
        wie etwa, dass die Entscheidungen ja ohnehin meist nur
        aus der Ferne getroffen werden, dürfen nicht allein als
        Argument für die Aufhebung einer richterlichen Kontrol-
        le ausreichen .
        Christian Lange, Parl. Staatssekretär beim Bun-
        desminister der Justiz und für Verbraucherschutz: Wir
        befassen uns heute in erster Lesung mit dem Entwurf
        eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuchs, des
        Jugendgerichtsgesetzes, der Strafprozessordnung und
        weiterer Gesetze .
        Mit der Ausweitung des Fahrverbots setzen wir eine
        Vorgabe des Koalitionsvertrags um . Ein Fahrverbot
        stellt ein spürbares und empfindliches Übel dar. Um den
        Gerichten diese Strafmöglichkeit auch jenseits von ver-
        kehrsbezogenen Delikten zur Verfügung zu stellen, soll
        das Fahrverbot – unter Beibehaltung seines Rechtscha-
        rakters als Nebenstrafe – für alle Straftaten zugelassen
        werden . Seine Verhängung ist insbesondere dann sinn-
        voll, wenn eine Geldstrafe allein beim Verurteilten kei-
        nen hinreichenden Eindruck hinterlässt oder dadurch
        Verurteilungen zu spezialpräventiv eher kontraprodukti-
        ven kurzen Freiheitsstrafen vermieden werden können .
        Zudem soll die Höchstdauer des Fahrverbots im Strafge-
        setzbuch von derzeit drei auf sechs Monate angehoben
        und das Fahrverbot erst einen Monat nach Rechtskraft
        wirksam werden . Damit wollen wir den Gerichten einen
        erweiterten Bemessungsspielraum eröffnen und der Ein-
        legung taktischer Rechtsmittel entgegenwirken .
        Zwar wurden gegen die Ausweitung des Fahrverbots
        von Teilen der Wissenschaft und der Verbände Einwände
        erhoben . Diese könnten aber fast durchgehend auch ge-
        gen das Fahrverbot in seiner jetzigen Form erhoben wer-
        den . Wie schon beim bisherigen Fahrverbot werden zum
        Beispiel die Gerichte auch beim ausgeweiteten Fahrver-
        bot zu berücksichtigen haben, welche Auswirkungen das
        Fahrverbot für den konkret betroffenen Täter hätte, wie
        stark ihn das Verbot also treffen würde. Die Beibehaltung
        des Fahrverbots als Strafe, die nur neben einer Geld- oder
        Freiheitsstrafe verhängt werden kann, wird es den Ge-
        richten erleichtern, sachwidrige Ungleichbehandlungen
        zu vermeiden und zielgenauer als bisher zu einer ange-
        messenen Sanktionierung des Täters zu gelangen .
        Die besonders kritischen Argumente vieler Fachleu-
        te im Jugendstrafrecht haben wir ebenfalls nicht einfach
        übergangen; siehe etwa die Begrenzung der Höchstdau-
        er des Fahrverbots im Jugendstrafrecht auf drei Monate .
        Letztlich muss immer der Jugendrichter im Einzelfall
        entscheiden, ob ein Fahrverbot konkret wirklich das Ziel
        fördert, eine erneute Straffälligkeit zu vermeiden, oder
        ob es womöglich sogar eher zusätzliche Probleme erwar-
        ten lässt .
        Auch die übrigen Inhalte dieses Gesetzentwurfs tra-
        gen nach meiner Überzeugung zu einer effizienteren
        Strafverfolgung bei .
        Im Bereich der Schwarzarbeit und illegalen Beschäf-
        tigung werden mit der Schaffung von zwei neuen Regel-
        beispielen für besonders schwere Fälle solche Verhal-
        tensweisen mit einer höheren Strafandrohung bedroht,
        die sich durch den hohen Organisationsgrad der Täter
        deutlich vom Grundtatbestand des Vorenthaltens und
        Veruntreuens von Arbeitsentgelt abheben .
        Im Strafverfahrensrecht wollen wir für bestimmte
        Straßenverkehrsdelikte eine Ausnahme von der vorrangi-
        gen richterlichen Anordnungskompetenz für die Entnah-
        me von Blutproben schaffen, um der Polizei ein schnel-
        leres Handeln zu ermöglichen und die Aufklärung von
        Verkehrsstraftaten insgesamt zu fördern .
        Außerdem enthält der Entwurf im Bereich des Straf-
        vollstreckungsrechts Regelungsvorschläge, die eine
        Strafzurückstellung bei betäubungsmittelabhängigen
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22289
        (A) (C)
        (B) (D)
        Mehrfachtätern erleichtern . Im Bereich der Bewährungs-
        hilfe wird die Zulässigkeit der Übermittlung von Daten
        durch den Bewährungshelfer gesetzlich klargestellt .
        Der Gesetzentwurf sieht schließlich Änderungen im
        Bundesnaturschutzgesetz vor . Diese gehen einerseits auf
        die sogenannte EU-Richtlinie Umweltstrafrecht zurück .
        Andererseits ist im Bereich der Wilderei und der illega-
        len Entnahme von gefährdeten Tieren sowie des illegalen
        Wildtierhandels eine nachhaltigere strafrechtliche Ab-
        schreckung erforderlich, die durch eine Anhebung der
        Strafandrohung erreicht werden soll .
        Ich bitte Sie um Ihre Zustimmung zu diesem Vorha-
        ben .
        Anlage 8
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
        brachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Än-
        derung des Sicherheitsüberprüfungsgesetzes (Ta-
        gesordnungspunkt 25)
        Clemens Binninger (CDU/CSU): Dass wir das Si-
        cherheitsüberprüfungsgesetz dringend gründlich überar-
        beiten müssen, dürfte spätestens seit November vergan-
        genen Jahres klar sein . Damals wurde bekannt, dass sich
        ein Mitarbeiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz
        im Internet unter falschem Namen islamistisch geäußert
        und auch Dienstgeheimnisse verraten hatte . Es ist der
        Behörde damals gelungen, den Islamist in den eigenen
        Reihen zu identifizieren. Was zeigt uns dieser Vorfall?
        Das Gesetz in seiner jetzigen Form ist nicht mehr
        zeitgemäß; es wird der herrschenden Bedrohung durch
        den internationalen Terrorismus, aber auch durch andere
        extremistische Bestrebungen nicht gerecht . Die Regelun-
        gen greifen zu kurz und werden den Anforderungen im
        Sicherheitsbereich nicht mehr gerecht . Wir müssen die
        Effektivität und die Qualität des personellen und des ma-
        teriellen Geheimschutzes verbessern .
        Angesichts des Vorfalls im Bundesamt für Verfas-
        sungsschutz ist es richtig, den Blick auf das Verhalten
        der Bewerber und Mitarbeiter der Nachrichtendienste im
        Internet zu richten . Soziale Netzwerke und Internetauf-
        tritte werden bei der Selbstdarstellung gegenüber und in
        der Kommunikation mit anderen immer wichtiger . Künf-
        tig müssen die Bewerber und Mitarbeiter der Nachrich-
        tendienste daher angeben, ob und welche eigenen Inter-
        netseiten sie betreiben und darlegen, in welchen sozialen
        Netzwerken sie Mitglied sind .
        Aus den Reihen der Opposition erreichen mich in
        diesem Zusammenhang immer wieder datenschutzrecht-
        liche Bedenken . Man muss aber in der Debatte ehrlich
        sein: Die öffentlich zugängliche Internetpräsenz einer
        Person – es geht also ausschließlich um öffentlich ver-
        fügbare Daten – in die Überprüfung miteinzubeziehen,
        ist angesichts der jüngsten Erfahrungen nur konsequent
        und absolut richtig . Anderes zu behaupten, wäre weder
        seriös noch zeitgemäß .
        Zu einem modernen Sicherheitsüberprüfungsgesetz,
        das den Herausforderungen der heutigen Zeit gerecht
        wird, gehört auch, dass die Lebensumstände der poten-
        ziellen Geheimnisträger mit beachtet werden . Es ist nicht
        mehr unüblich, für eine bestimmte Zeit im Ausland zu
        leben . Das bedeutet aber, dass es für die Nachrichten-
        dienste wichtig ist, bei der Sicherheitsüberprüfung auch
        mit den jeweiligen ausländischen Stellen zusammenar-
        beiten zu dürfen . Das werden wir mit dem vorliegenden
        Gesetzentwurf – unter strengen Voraussetzungen und mit
        der ausdrücklichen Zustimmung des Betroffenen – er-
        möglichen .
        Wenn wir den empfindlichen Sicherheitsbereich vor
        extremistischen Bestrebungen schützen wollen, ist es
        außerdem notwendig, den materiellen Geheimschutz
        aufzuwerten . Bisher sind die Bestimmungen zum Schutz
        von Verschlusssachen nur untergesetzlich geregelt . Das
        reicht meiner Meinung nach nicht . Eine gesetzliche Ver-
        ankerung im Sicherheitsüberprüfungsgesetz macht die
        gemeinsame Verantwortung für das Wohl und den Schutz
        unseres Landes deutlich .
        Das Sicherheitsüberprüfungsgesetz jetzt zu überarbei-
        ten, ist richtig und zeitlich notwendig . Man muss aber
        weiterdenken . Es ist doch so: Der Sicherheitsbereich
        endet nicht am Zugang zu Verschlusssachen oder dem
        Sabotageschutz . Deshalb haben wir auch erst im letzten
        Jahr beschlossen, dass sich alle Soldaten künftig schon
        zum Zeitpunkt ihrer Einstellung bei der Bundeswehr ei-
        ner einfachen Sicherheitsüberprüfung unterziehen müs-
        sen und nicht erst, wenn sie Berührung mit Verschlusssa-
        chen haben oder aus Gründen des Sabotageschutzes . An
        diesem Beispiel wird deutlich: Wir verhindern so, dass
        amtsbekannte, gewaltbereite Extremisten die Möglich-
        keit einer militärischen Ausbildung bei der Bundeswehr
        für ihre eigenen Zwecke nutzen . Wir werden daher in der
        Koalition darüber sprechen, ob und wie der zu überprü-
        fende Personenkreis gegebenenfalls erweitert werden
        muss . Nur so können wir den sich ständig wandelnden
        Anforderungen im Sicherheitsbereich entgegentreten .
        Susanne Mittag (SPD): Das Sicherheitsüberprü-
        fungsgesetz ist mittlerweile 22 Jahre alt und steht nun
        zur Überarbeitung an . Das ist auch nötig . Ein wenig an-
        gestaubt wirkt das derzeitige Gesetz schon, nicht nur,
        weil wir heute – einen Tag nach dem Internationalen
        Frauentag – in diesem Gesetz eine geschlechtsneutrale
        Personenbezeichnung durchführen, nein es werden vor
        allem wichtige technische Neuerungen nachvollzogen,
        die bisher unbeachtet geblieben sind .
        Aber um mal zum Ausgangspunkt des Gesetzes zu
        gehen: Warum brauchen wir eigentlich ein Sicherheits-
        überprüfungsgesetz? Ganz einfach: Es gibt Aufgaben
        und Tätigkeiten in unserem Staat, aber auch in privat-
        wirtschaftlichen Unternehmen, bei denen wir schon ge-
        nau wissen sollten, ob der oder diejenige, der sie erledigt,
        auch zuverlässig und auf dem Boden der freiheitlich-de-
        mokratischen Grundordnung steht . Das gilt für Extre-
        misten aller Ausprägung – also seien es Reichsbürger,
        Rechts- oder Linksextreme oder Islamisten oder ganz
        einfach Straftäter .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722290
        (A) (C)
        (B) (D)
        Ich möchte keinen Polizisten, keinen Mitarbeiter von
        Nachrichtendiensten, keine sonstigen Mitarbeiter mit
        sensiblen Aufgaben betraut sehen, an dem Zweifel bei
        der Zuverlässigkeit bestehen . Aber nicht nur extremis-
        tische Einstellungen werden bei der Sicherheitsüberprü-
        fung betrachtet, sondern eben auch die Lebenssituation
        des Einzelnen . Jemand der stark überschuldet ist, könnte
        anfälliger sein für Anwerbeversuche anderer Nachrich-
        tendienste! Gerade bei hochsensiblen Informationen, die
        den Bestand oder die Sicherheit unseres Staates gefähr-
        den, muss der Staat wissen, wem er solche Informatio-
        nen und Aufgaben anvertrauen kann . Es werden daher
        aber eben nicht nur die Antragsteller, sondern auch die
        Lebenspartner in den Blick genommen . Das ist sicher-
        lich ein Eingriff, der je nach Schutzbedürfigkeit der Ver-
        schlusssachen abgestuft erfolgt . Die Überprüfung unter-
        liegt aber der Freiwilligkeit des Bewerbers . Jemand, der
        mit streng geheimen Verschlusssachen umgeht, muss an-
        ders durchleuchtet werden als jemand der nur mit „VS –
        Nur für den Dienstgebrauch“ in Kontakt kommt . Dazu
        dient das Sicherheitsüberprüfungsgesetz .
        Was soll geändert werden?
        Als Erstes machen wir natürlich einen Schritt in Rich-
        tung der Digitalisierung . Vor 20 Jahren war das noch kein
        Thema, heute schon . Endlich kann man im Jahre 2017
        seine Zustimmung zur Sicherheitsüberprüfung auch
        elektronisch erklären, und es bedarf nicht mehr einer
        eigenhändigen Unterschrift . Es werden also in Zukunft
        Schriftformäquivalente, wie sie im E-Government-Ge-
        setz geregelt sind, genutzt werden .
        Darüber hinaus regeln wir materiellen Geheimschutz
        auch gesetzlich . Bisher hatten diesen nur die Allgemei-
        ne Verwaltungsvorschrift des Bundesministeriums des
        Innern zum materiellen Geheimschutz von Verschlusssa-
        chen, die sogenannten VSA, also eine untergesetzliche
        Regelung . Das hat zwar auch funktioniert, aber gesetz-
        lich geregelt ist es sicherer .
        Darüber hinaus stärken wir erneut das Bundesamt für
        die Sicherheit in der Informationstechnik – kurz BSI – als
        zuständige Behörde für den materiellen Geheimschutz
        in der Bundesverwaltung . Das BSI hat nun die Aufga-
        be und die Befugnisse für ein durchgängig hohes Niveau
        des materiellen Geheimschutzes im Geltungsbereich der
        VSA zu sichern . Dazu gehören Beratung, Zulassung und
        Überprüfung von organisatorischen und technischen Si-
        cherheitsmaßnahmen .
        Der Umgang mit sicherheitssensiblen Informationen
        bedarf klarer technisch aktueller Regeln . Mit dem neu-
        en Sicherheitsüberprüfungsgesetz schreiben wir den
        Grundsatz der „Kenntnis, nur wenn nötig“ gesetzlich
        fest . Dieser Grundsatz beschränkt die Weitergabe von
        eingestuften Informationen auf den zur Aufgabenerfül-
        lung notwendigen Teil . Das ist die eine Seite der Medail-
        le . Die andere Seite der gleichen Medaille ist aber auch,
        dass eine Verschlusssache zur Kenntnis bekommt, wenn
        sie für seine oder ihre Aufgabe benötigt wird . Das ist das
        sogenannte Need-to-share-Prinzip, das hier zum Tragen
        kommt .
        Gerade bei unserer Arbeit im NSA-Untersuchungs-
        ausschuss mussten wir immer wieder feststellen, dass
        dieses Prinzip eben nicht in allen Bereichen durchgän-
        gig geklappt hat . Man hat eher das Gefühl gehabt, dass
        „Kenntnis, nur wenn nötig“ den Mitarbeiterinnen und
        Mitarbeitern so in Fleisch und Blut übergegangen ist,
        dass eben auch wichtige Informationen nicht weitergege-
        ben wurden . Aber es kam eben auch vor, dass, wenn je-
        mandem etwas aufgefallen ist, nicht nachgefragt wurde .
        Die Begründung war dann immer: Das musste ich nicht
        für meine Aufgabe wissen. Ich hoffe, nein, ich erwarte,
        dass sich das verbessert .
        Insgesamt soll die gesamte Sicherheitsüberprüfung
        transparenter gestaltet werden . In Zukunft sollen alle be-
        troffenen Personen über das Ergebnis ihrer Sicherheits-
        überprüfung informiert werden . Das gilt für abgelehnte
        wie für zugelassene Personen . Ein jede und ein jeder
        muss wissen, welche Hinderungsgründe für eine Ableh-
        nung in einem sicherheitssensiblen Bereich bestehen .
        Das muss heute Standard sein .
        Allerdings gibt es auch dort eine Ausnahme . Bewer-
        berinnen und Bewerber von Nachrichtendiensten des
        Bundes wird das Ergebnis nicht mitgeteilt . Denn auslän-
        dische Nachrichtendienste versuchen immer wieder mit
        fingierten Bewerbungen, den Kenntnisstand der Nach-
        richtendienste bzw . die Einstellungspraktiken auszu-
        kundschaften. Bei aller Offenheit, so leicht sollten wir es
        den ausländischen Diensten nicht machen . Deshalb kann
        ich diese Ausnahme auch gut mittragen . Aber das wissen
        die Bewerber auch .
        Bei solch einer Sicherheitsüberprüfung fallen natur-
        gemäß auch persönliche Daten an . Wir regeln nun in
        diesem Gesetz, dass, spätestens ein Jahr nachdem eine
        sicherheitsempfindliche Tätigkeit nicht oder nicht mehr
        ausgeübt wird, die personenbezogenen Daten gelöscht
        werden müssen . Davon kann allerdings abgewichen wer-
        den, wenn die betroffene Person einer längeren Speiche-
        rung zustimmt, da sie anstrebt, in Zukunft erneut eine
        sicherheitsempfindliche Tätigkeit auszuüben. Ich denke,
        wir haben hier einen sehr ausgewogenen Gesetzentwurf,
        den wir nun ins parlamentarische Verfahren geben .
        Für interessant halte ich die Anmerkungen der Bun-
        desrates zu diesem Entwurf: Es versteht sich von selbst,
        dass Bewerberinnen und Bewerber für so sensible Tä-
        tigkeiten ihre öffentlich zugänglichen Accounts sozialer
        Netzwerke und ihre eigenen Internetseiten angeben . Wir
        sollten uns dabei aber wirklich nicht nur auf die eigenen
        Seiten beschränken, sondern sollten auch die Möglich-
        keit nutzen, öffentlich zugängliche Seite einzusehen, die
        eben nicht von den Betroffenen verwaltet werden. In Zei-
        ten von mit Hassnachrichten explodierenden Komment-
        arzeilen von Onlinezeitungen und anderen Internetseiten
        erscheint es nur sinnvoll, eben auch diese für die Bewer-
        tung heranzuziehen . Es kann ja sein, dass jemand auf
        seinem Facebook-Profil nur Katzenbilder teilt. Das heißt
        aber nicht, dass dieser sich auf anderen Seiten nicht ras-
        sistisch oder extremistisch äußert . Das muss bei der Si-
        cherheitsüberprüfung berücksichtigt werden . Ich denke,
        das werden wir hier im Saal alle nachvollziehen können .
        Dr. André Hahn (DIE LINKE): Die letzte grundle-
        gende Reform des Sicherheitsüberprüfungsgesetzes liegt
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22291
        (A) (C)
        (B) (D)
        inzwischen fast ein Vierteljahrhundert zurück . Ange-
        sichts der seitdem eingetretenen Veränderungen durch
        wachsende Terrorgefahren und erhebliche technische
        Fortentwicklungen erscheint es nachvollziehbar, das
        entsprechende Gesetz einer intensiven Überprüfung zu
        unterziehen . Die Bundesregierung hat dazu nun einen
        Entwurf vorgelegt, den wir heute in erster Lesung behan-
        deln .
        Ich will eingangs für meine Fraktion Die Linke eines
        ganz klar festhalten: Auch aus unserer Sicht gibt es gute
        Gründe, in bestimmten hochsensiblen Bereichen genau
        hinzuschauen, wen man mit extrem sicherheitsrelevanten
        Aufgaben betraut . Exemplarisch nenne ich hier nur Flug-
        häfen, Atomkraftwerke und andere besonders kritische
        Infrastruktureinrichtungen . Und natürlich bestreitet auch
        niemand die Notwendigkeit von Vorsorgemaßnahmen
        gegen potenzielle Terroranschläge . Für manche dieser
        Bereiche, wie beispielsweise die AKWs, existieren eige-
        ne gesetzliche Grundlagen, für alle anderen greifen die
        Bestimmungen des Sicherheitsüberprüfungsgesetzes .
        Mit dem nun vorliegenden Gesetzentwurf sollen die
        Regelungen zum materiellen Geheimschutz aus einer all-
        gemeinen Verwaltungsvorschrift in das Sicherheitsüber-
        prüfungsgesetz überführt werden . Das erscheint durch-
        aus sinnvoll; denn aus unserer Sicht ist eine gesetzliche
        Regelung einfachen und jederzeit änderbaren Verwal-
        tungsvorschriften in aller Regel vorzuziehen .
        Der uns vorgelegte Gesetzentwurf bringt jedoch in der
        Praxis kaum wirkliche Verbesserungen . Die Kriterien für
        die Einstufung als „Sicherheitsrisiko“ bleiben nach wie
        vor unscharf, wenig nachvollziehbar, und sie sollen vor
        allem auch künftig nicht anfechtbar sein . Einer solchen
        Fassung können und werden wir als Linke nicht zustim-
        men .
        Aus Platzgründen kann ich hier nur einige wenige
        Problemfelder ansprechen .
        Nach wie vor gibt es keine klare Definition, wer nach
        welchen Kriterien entscheidet, ob sich jemand einer Si-
        cherheitsüberprüfung unterziehen muss, und, falls ja, für
        welche Stufe dies erfolgt . Das Vorliegen eines Sicher-
        heitsrisikos wird durch die Novelle wesentlich weiter
        gefasst als bislang . Demnach sollen nun schon „mögli-
        che Anbahnungs- und Werbungsversuche“ ausländischer
        Nachrichtendienste als kriminell verdächtigter Vereini-
        gungen oder extremistischer Organisationen ausreichen,
        um als ein solches Sicherheitsrisiko angesehen zu wer-
        den . Vor derartigen Anbahnungsversuchen ist aber letzt-
        lich niemand wirklich gefeit, der zum Umgang mit Ver-
        schlusssachen ermächtigt ist .
        Zudem fehlen eindeutige Kriterien, wem die Ertei-
        lung der Sicherheitsüberprüfung aus welchen Gründen
        verweigert werden kann . Gleichzeitig nimmt der Gesetz-
        entwurf Erweiterungen bei der Überprüfung selbst vor .
        Dies führt zu einer immer stärkeren Durchleuchtung und
        Abfrage der Lebensumstände sowie des Umfeldes der zu
        überprüfenden Personen .
        Für die Betroffenen sind die Entscheidungen oft we-
        der nachvollziehbar noch anfechtbar . Es ist dringend ge-
        boten, ablehnende Bescheide über die Erteilung einer Si-
        cherheitsüberprüfung in Zukunft gerichtlich überprüfen
        lassen zu können . An der Frage, ob eine Sicherheitsüber-
        prüfung erteilt wird oder nicht, können im Zweifel ganze
        berufliche und auch familiäre Existenzen hängen, wenn
        jemand deshalb seinen Job verliert oder gar nicht erst be-
        kommt . Ohne einen klaren Kriterienkatalog und die ver-
        waltungsgerichtliche Überprüfbarkeit sind der Willkür
        Tür und Tor geöffnet. Auch deshalb plädieren wir dafür,
        dass die Betroffenen zu ihrer Anhörung von einem An-
        walt oder einer Person ihres Vertrauens begleitet werden
        können . Davon ist im vorliegenden Gesetzentwurf aller-
        dings leider keine Rede .
        Auch zukünftig sollen nicht näher definierte soge-
        nannte „amtliche Stellen des Bundes“ über die Einstu-
        fung von Verschlusssachen befinden. Jedes Ministerium,
        jedes Amt soll weiterhin völlig frei entscheiden können,
        was geheim ist und was nicht . Eine bundesweit einheit-
        liche Einstufungspraxis ist daher auch in Zukunft nicht
        zu erwarten .
        Wohin das führt, haben wir nicht zuletzt in parlamen-
        tarischen Untersuchungsausschüssen leidvoll erfahren
        müssen . In den letzten drei Jahren der großen Koaliti-
        on ist ein Trend zur immer restriktiveren Einstufung
        von Dokumenten festzustellen . Das behindert wirksame
        Kontrolle der Opposition . Teilweise werden sogar Fak-
        ten als geheim eingestuft, die bereits presseöffentlich
        waren . Zum anderen wird ein und dieselbe abgefragte
        Information in Bezug auf den BND als verschlusswür-
        dig angesehen, wohingegen die Antwort auf den gleichen
        Sachverhalt beim Verfassungsschutz offen erfolgt oder
        umgekehrt .
        Und schließlich: Aus unserer Sicht gibt es keinen
        Grund, warum unbedingt Geheimdienste, insbesondere
        das Bundesamt für Verfassungsschutz, die Sicherheits-
        überprüfungen durchführen müssen . Wir meinen, dass es
        in aller Regel ausreichen sollte, Abfragen bei der Poli-
        zei und den zuständigen Staatsanwaltschaften durchzu-
        führen . Durch eine solche Bindung an klassische Exe-
        kutivbehörden wäre zudem die verwaltungsgerichtliche
        Überprüfbarkeit der Ergebnisse auch deutlich einfacher
        umzusetzen .
        In der vorliegenden Form kann die Linke den Gesetz-
        entwurf nur ablehnen, sofern es im Ergebnis der Aus-
        schussberatungen nicht noch zu deutlichen Korrekturen
        kommt .
        Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der
        vorliegende Gesetzentwurf regelt Fragen des personellen
        und des materiellen Geheimschutzes . Wichtige Fragen
        bleiben dabei aber unbeantwortet, und manche Antwort,
        die gegeben wird, ist – bei näherer Betrachtung – gar kei-
        ne .
        Dafür findet der Antrag vermeintliche Lösungen für
        Probleme, die zwar in der Praxis bestehen mögen, ihre
        Ursache aber gerade nicht in der bestehenden gesetzli-
        chen Regelung haben . Das gilt in besonderem Maße für
        den Fall „Roque M .“, den die Presse den Maulwurf beim
        Verfassungsschutz nannte . Es geht um einen Mitarbeiter
        beim Verfassungsschutz, der für die Überwachung von
        mutmaßlichen islamistischen Attentätern zuständig war,
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722292
        (A) (C)
        (B) (D)
        aber im Netz offen seine Sympathie für den IS erklärt
        haben soll .
        Darauf reagiert nun der vorliegende Gesetzentwurf
        und ordnet an, dass zukünftig „Einsicht in den öffentlich
        sichtbaren Teil der Profilseiten in sozialen Netzwerken
        und in öffentlich sichtbare eigene Internetseiten“ genom-
        men werden kann . Dabei können bereits nach geltender
        Rechtslage Daten aus allgemein zugänglichen Quellen
        einschließlich des Internets im Rahmen einer Bewerbung
        beim Bundesamt für Verfassungsschutz erhoben wer-
        den, wenn die Daten Feststellungen über die Eignung,
        Befähigung und Leistung des Bewerbers ermöglichen .
        Insbesondere hinsichtlich der Sicherheitsüberprüfungen
        beim BfV ist der Gesetzentwurf daher in erster Linie ein
        Placebo .
        Der Gesetzentwurf zielt aber auch darauf ab, die
        Wahrung der schutzwürdigen Interessen der Bewerber
        einzuschränken, wenn zukünftig höchstpersönliche Äu-
        ßerungen pauschal und ohne jeden Bezug zur Tätigkeit
        abgefragt werden sollen . Sinnvoll wäre vielleicht gewe-
        sen, sich einmal bereichsspezifisch zu fragen, welche
        Sachverhalte für die Überprüfung zum Zweck der jewei-
        ligen Tätigkeit überhaupt relevant sind . Denn nur ein im
        Einzelfall begründeter Überprüfungsbedarf verhindert
        Wertungswidersprüche, wenn das private Profil oder die
        eigene Homepage ohne nennenswerte Reichweite im
        Einzelfall beispielsweise viel weniger relevant sind als
        die Beiträge, die jemand für eine einschlägige Zeitschrift
        oder einen einschlägigen Blog schreibt .
        Im Sinne der Rechtssicherheit ist aber auch für die
        nötige Rechtsklarheit zu sorgen. Was ist der „öffentlich
        sichtbare Teil“ einer Profilseite in einem sozialen Netz-
        werk? Ist es der für wirklich jeden, also auch Nichtnutzer
        des Netzwerks, einsehbare Teil, oder ist es der für alle
        Nutzer des Netzwerkes unabhängig vom Zugriffsrecht
        bzw . Friend-Status einsehbare Teil?
        Diese Fragen sind wichtig, auch um einen gerechten
        Ausgleich zwischen dem öffentlichen Sicherheitsinteres-
        se und der Wahrung der Rechte und Interessen der Be-
        troffenen zu schaffen. Diese Ausgewogenheit kommt im
        vorliegenden Entwurf aber zu kurz .
        Das gilt auch für den materiellen Geheimschutz . Auch
        hier fehlt dem Gesetzentwurf die nötige Ausgewogenheit .
        Es genügt eben nicht, zu definieren, was als Verschluss-
        sache besonders geheim zu halten ist . In der Demokratie
        hat auch das Interesse, Sachverhalte öffentlich zu disku-
        tieren, besonderes Gewicht . Notwendig wäre mindes-
        tens ein einheitliches Verfahren, in dem die Einstufung
        als geheimhaltungsbedürftig verwaltungsseitig schnell
        und einfach überprüft werden kann . Die Fraktion Bünd-
        nis 90/Die Grünen hat dazu bereits in der letzten Wahl-
        periode einen eigenen Antrag mit dem Titel eingebracht:
        „Demokratie durch Transparenz stärken – Deklassifizie-
        rung von Verschlusssachen gesetzlich regeln“, Bundes-
        tagsdrucksache 17/6128 . Die gleichen Fragen haben uns
        aber auch beim Archivgesetz beschäftigt . Diese Fragen
        haben für die parlamentarische Kontrolle der Regierung
        und die Demokratie große Bedeutung, und gerade in si-
        cherheitspolitisch schwierigen Zeiten ist es wichtig, die
        demokratischen Institutionen zu stärken. Ich hoffe daher
        sehr, dass das parlamentarische Verfahren jetzt genutzt
        wird, die offenen Fragen zu klären und diesen Gesetzent-
        wurf so weiterzuentwickeln, dass er tatsächlich die De-
        mokratie und die Sicherheit gleichermaßen stärkt .
        Dr. Günter Krings, Parl. Staatssekretär beim Bun-
        desminister des Innern: Personen, die eine sicherheits-
        empfindliche Tätigkeit ausüben, werden sicherheitsüber-
        prüft. Dies betrifft sowohl den öffentlichen Bereich, also
        die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundesbehör-
        den, als auch den Bereich der Wirtschaft . Seit nunmehr
        knapp 23 Jahren regelt das Sicherheitsüberprüfungsge-
        setz die Voraussetzungen und das Verfahren hierzu .
        Das Gesetz hat sich in dieser Zeit bewährt, aber es ist
        in die Jahre gekommen . In den vergangenen 23 Jahren
        hat sich unsere Gesellschaft stark verändert: Das Internet
        ist mittlerweile allgegenwärtig, immer mehr Menschen
        verbringen einen Teil ihres Lebens im Ausland und auch
        die Sicherheitsbedrohungen sind andere geworden . Mit
        dem vorliegenden Gesetzentwurf trägt die Bundesregie-
        rung diesen veränderten Rahmenbedingungen Rechnung .
        Er ergänzt zunächst die Maßnahmen, die bei einer
        Sicherheitsüberprüfung durchzuführen sind, um aktuel-
        le Bedürfnisse: Soziale Netzwerke und Internetauftritte
        nehmen einen immer größeren Stellenwert ein und wer-
        den zunehmend als Selbstdarstellungs- und Kommunika-
        tionsplattformen genutzt .
        Vor diesem Hintergrund können wir gerade bei Sicher-
        heitsüberprüfungen vor Informationen im Internet nicht
        die Augen verschließen, sondern müssen diese als Er-
        kenntnisquelle nutzen . Sind die Informationen für jeden
        sichtbar ins Internet eingestellt – und damit öffentlich –,
        können sie daher nach dem Gesetzentwurf in einem ge-
        wissen Umfang insbesondere bei den für die Mitarbeiter
        und Bewerber der Nachrichtendienste durchzuführenden
        Sicherheitsüberprüfungen berücksichtigt werden . Der
        Bundesrat hat hierzu in seiner Stellungnahme zum Ge-
        setzentwurf eine Ausdehnung des Umfangs der Recher-
        chen, vor allem aber auch des davon betroffenen Perso-
        nenkreises gefordert .
        Darüber wird im weiteren parlamentarischen Ver-
        fahren zu reden sein . Die Bundesregierung verschließt
        sich dieser Diskussion nicht, und ich hoffe, dass wir hier
        gemeinsam eine Lösung finden, die der Bedeutung von
        sicherheitsrelevanten Informationen im Internet gerecht
        wird .
        Doch nicht nur das Internet verbindet uns mit der
        Welt . Es ist mittlerweile weit verbreitet, dass Menschen
        Teile ihres Lebens im Ausland verbringen .
        Das Studiensemester in den USA, der nächste Karrie-
        reschritt durch ein berufliches Angebot in Polen oder die
        Entsendung an die deutsche Botschaft in Brasilien, sol-
        che Stationen sind in Lebensläufen längst keine Selten-
        heit mehr . Diese Auslandsaufenthalte machen bei Sicher-
        heitsüberprüfungen grundsätzlich eine Zusammenarbeit
        mit ausländischen Stellen notwendig, die in dem vorlie-
        genden Gesetzentwurf erstmals explizit geregelt wird .
        Bildet der Aufenthalt im Ausland den Lebensmittel-
        punkt, muss auch die dort verbrachte Zeit sicherheits-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22293
        (A) (C)
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        mäßig bewertet werden . Sonst entstehen Lücken in der
        Überprüfung, die nicht kalkulierbare Sicherheitsrisiken
        mit sich bringen können .
        Bei der Kooperation mit ausländischen Stellen werden
        auch immer die schutzwürdigen Interessen der betroffe-
        nen Personen berücksichtigt. Der Gesetzentwurf defi-
        niert klar diejenigen Daten, die zum Zwecke einer An-
        frage an ausländische Stellen übermittelt werden dürfen,
        und begrenzt sie somit zugleich . Zudem ist eine Anfrage
        im Ausland immer von der Zustimmung der betroffenen
        Person abhängig . Sie hat damit die Letztentscheidung
        über die Datenübermittlung . Durch Berücksichtigung
        dieses Zweiklangs von öffentlichem Interesse an der An-
        frage und den schutzwürdigen Interessen der betroffenen
        Person erzielt der Entwurf eine praxistaugliche Lösung
        für die Herausforderung der Globalisierung .
        Doch es gehen nicht nur Deutsche ins Ausland, son-
        dern es kommen auch Ausländer nach Deutschland .
        Der Gesetzentwurf schafft daher die Möglichkeit, im
        Rahmen von Sicherheitsüberprüfungen in bestimmten
        Fällen künftig auch auf Daten aus dem Ausländerzen-
        tralregister zuzugreifen . Mit dieser Anpassung wird eine
        wichtige Erkenntnisquelle erschlossen, die bereits in fünf
        Sicherheitsüberprüfungsgesetzen der Länder, im Luftsi-
        cherheitsgesetz und im Atomgesetz zur Verfügung steht .
        Die Maßnahme trägt damit auch dazu bei, ein vergleich-
        bares Niveau der verschiedenen Überprüfungsarten zu
        gewährleisten .
        Der veränderten Sicherheitslage trägt der Gesetzent-
        wurf mit der Erweiterung der möglichen Ablehnungs-
        gründe bei Sicherheitsüberprüfungen Rechnung . Die bis-
        herige Fokussierung auf ausländische Nachrichtendienste
        bei Anbahnungs- und Werbungsversuchen in Bezug auf
        Personen, die eine sicherheitsempfindliche Tätigkeit aus-
        üben, ist überholt . Es ist vielmehr davon auszugehen,
        dass auch kriminelle, extremistische oder gar terroristi-
        sche Vereinigungen an Informationen über den Wissens-
        stand der Sicherheitsbehörden interessiert sind und ver-
        suchen werden, sich Zugang zu diesen Informationen zu
        verschaffen. Entsprechend müssen diese Gruppierungen
        im Sicherheitsüberprüfungsgesetz berücksichtigt wer-
        den. Besteht für eine Person in sicherheitsempfindlicher
        Tätigkeit eine besondere Gefährdung, beispielsweise
        weil sie für solche Gruppierungen erpressbar ist, darf sie
        nicht länger in diesem Aufgabenbereich eingesetzt wer-
        den. Besonders sensible Informationen, die im öffentli-
        chen Interesse geheim gehalten werden, sind aber nicht
        nur dadurch bedroht, dass Innentäter diese weitergeben
        könnten; auch Versuche von Unbefugten, ohne Hilfe von
        innen an diese Informationen zu gelangen, sind keine
        Seltenheit .
        Hier hilft das Instrument der Sicherheitsüberprüfung
        wenig . Wichtig sind an dieser Stelle vielmehr die orga-
        nisatorischen und technischen Vorkehrungen zum Schutz
        von Verschlusssachen, also ein funktionierender mate-
        rieller Geheimschutz . Dessen Grundsätze werden mit
        dem vorliegenden Entwurf erstmals auf Gesetzesebene
        verankert, und die bislang nur untergesetzlichen Bestim-
        mungen werden damit aufgewertet . Da es nicht ausreicht,
        nur zum Zeitpunkt der Durchführung der Sicherheits-
        überprüfung ein hohes Sicherheitsniveau zu erreichen,
        sondern dieses hohe Niveau über den gesamten Zeitraum
        der sicherheitsempfindlichen Tätigkeit konstant aufrecht-
        zuerhalten ist, werden nunmehr regelmäßige Wiederho-
        lungsüberprüfungen für alle Arten der Sicherheitsüber-
        prüfung eingeführt . Der Entwurf sieht vor, bereits fünf
        Jahre nach erfolgreichem Abschluss der Erstüberprüfung
        die Maßnahmen der einfachen Sicherheitsüberprüfungen
        erneut durchzuführen; nach zehn Jahren steht dann die
        große Wiederholungsüberprüfung mit erneuter Durch-
        führung aller Maßnahmen an .
        Lassen Sie mich zusammenfassend sagen: Der vor-
        liegende Entwurf schafft ein modernes Sicherheitsüber-
        prüfungsgesetz, das den Herausforderungen unserer Zeit
        gerecht wird, das Gesamtgefüge der Sicherheitsgesetze
        sinnvoll ergänzt und die Sicherheit in unserem Land da-
        mit nachhaltig stärkt .
        Anlage 9
        Zu Protokoll gegebene Reden
        Zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
        brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung
        der Richtlinie (EU) 2016/1148 des Europäischen
        Parlaments und des Rates vom 6. Juli 2016 über
        Maßnahmen zur Gewährleistung eines hohen ge-
        meinsamen Sicherheitsniveaus von Netz- und In-
        formationssystemen in der Union (Tagesordnungs-
        punkt 27)
        Clemens Binninger (CDU/CSU): Die IT-Sicher-
        heitslage in der Bundesrepublik ist in den vergangenen
        Wochen, Monaten und Jahren zu Recht häufig themati-
        siert worden. Wir alle erinnern uns an den Cyberangriff
        auf die Telekom im vergangenen Jahr. Der Angriff, der
        bei knapp 1 Million Routern zu Störungen geführt hat,
        hat deutlich gezeigt, dass viele Systeme angreifbar sind
        und dass diese Systeme auch angegriffen werden. Wir
        erleben auch, dass die Zahl der Cyberangriffe insgesamt
        stark zunimmt . Die Sicherheit der digitalen Infrastruk-
        tur ist in der heutigen Gesellschaft daher von höchster
        Relevanz. Viele Bereiche des privaten und beruflichen
        Lebens der Bürgerinnen und Bürger und auch der Wirt-
        schaft wären ohne eine funktionierende und sichere IT so
        nicht mehr denkbar . Daher ist es dringend notwendig, eu-
        ropaweit ein hohes Sicherheitsniveau zum Schutze aller
        EU-Bürger zu gewährleisten . Auch bei uns in Deutsch-
        land wurde die Bedeutung der Bedrohung im Cyberraum
        in der Vergangenheit lange unterschätzt .
        In den letzten Jahren haben wir auf nationaler Ebene
        bereits einiges erreicht: der Umbau des Bundesamts für
        Sicherheit in der Informationstechnik, BSI, die Einrich-
        tung des Nationalen Cyber-Abwehrzentrums, der Natio-
        nale Cyber-Sicherheitsrat und zuletzt die Umsetzung des
        IT-Sicherheitsgesetzes . Neben diesen wichtigen nationa-
        len Maßnahmen benötigen wir jetzt vor allem auf europä-
        ischer Ebene eine verbesserte Zusammenarbeit . Deshalb
        war es auch wichtig, dass das Europäische Parlament mit
        der NIS-Richtlinie gemeinsame Regeln zum Schutz vor
        diesen neuen Gefahren beschlossen hat . Bereits mit dem
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722294
        (A) (C)
        (B) (D)
        IT-Sicherheitsgesetz haben wir in Deutschland die meis-
        ten Vorgaben dieser Richtlinie erfüllt und sind mit gutem
        Beispiel vorangegangen .
        Mit dem IT-Sicherheitsgesetz haben wir bereits eine
        gesetzliche Meldepflicht für Betreiber kritischer Infra-
        strukturen geschaffen. Diese Meldepflicht wird jetzt
        mit dem vorliegenden Gesetzentwurf auch auf digitale
        Dienste wie Onlinemarktplätze und Suchmaschinen aus-
        geweitet und erfüllt damit die Vorgaben der EU-Richtli-
        nie. Gerade diese Meldepflicht ist zur Erstellung eines
        Lagebilds unabdingbar . Nur dadurch können wir nach-
        vollziehen, wie umfangreich die Angriffe sind und wel-
        che neue Schadsoftware im Umlauf ist .
        Durch den vorliegenden Gesetzentwurf werden die
        Befugnisse des BSI zur Überprüfung der technischen
        und organisatorischen Sicherheitsanforderungen erwei-
        tert und die rechtlichen Grundlagen für den Einsatz von
        Mobilen Incident Response Teams, MIRTs, geschaffen,
        die andere Stellen bei Bedarf, bei der Abwehr von Cy-
        berangriffen mit besonders hoher technischer Qualität,
        vor Ort unterstützen können . Zusätzlich wird es dem BSI
        ermöglicht, die Einhaltung der Vorgaben bei Betreibern
        von kritischer Infrastruktur vor Ort zu kontrollieren . Da-
        mit stärken wir das BSI weiter bei der Bündelung der
        Kompetenzen im Cybersicherheitsbereich und verbes-
        sern den Schutz von Staat, Wirtschaft und der Bevölke-
        rung vor Angriffen.
        Diese Erweiterung der Befugnisse des BSI ist nach
        den Angriffen der letzten Jahre auch dringend notwen-
        dig . Dabei ist aber auch zu betonen: Die Befugniserwei-
        terung des BSI darf den Datenschutz nicht untergraben .
        Um dies zu gewährleisten, werden daher auch weiterhin
        keine sensiblen Daten erfasst . Alle personenbezogenen
        Daten, die für die Wiederherstellung der Sicherheit bei
        Betreibern kritischer Infrastruktur wichtig sind, werden
        deshalb sofort gelöscht, wenn sie nicht mehr benötigt
        werden. Zudem verpflichten wir das BSI mit dem vor-
        liegenden Entwurf, bei grenzüberschreitenden Vorfällen
        die Behörden des jeweiligen EU-Staates zu informie-
        ren . Diese internationale Kooperation ist für ein hohes
        Schutzniveau in der gesamten Union mitentscheidend
        und wird deshalb auch zu Recht in der EU-Richtlinie ge-
        fordert .
        Neben den bereits erwähnten Maßnahmen zeigt auch
        die Einrichtung der Zentralen Stelle für Informations-
        technik im Sicherheitsbereich, ZITiS, im Bundesinnen-
        ministerium, welche Bedeutung der Cybersicherheit von
        den Koalitionsfraktionen und der Bundesregierung zuge-
        messen wird .
        Bei der Diskussion über Cyberangriffe muss man aber
        auch immer erwähnen – und das ist durch die Angriffe
        in der Vergangenheit auch mehr als deutlich geworden –:
        Eine absolute Sicherheit vor solchen Angriffen gibt es
        nicht . Mit dem IT-Sicherheitsgesetz haben wir es aber
        geschafft, einheitliche Mindeststandards in der Bundes-
        republik zu schaffen.
        Die Umsetzung der Richtlinie ist für die europäische
        Zusammenarbeit im Bereich Cybersicherheit ein wich-
        tiges Signal und zeigt, dass wir unserer Vorreiterrolle in
        Europa nun auch endlich im Bereich der Cybersicherheit
        gerecht werden .
        Gerold Reichenbach (SPD): Die Digitalisierung
        durchdringt unser Leben immer weiter in nahezu allen
        Bereichen, ein Ende ist nicht absehbar . Das bereits heute
        bestehende Ausmaß an Vernetzung unserer Alltags- und
        Arbeitswelt, der Industrie und der Wirtschaft, dem Ge-
        sundheitswesen und vielem mehr macht uns in hohem
        Maße anfällig für Angriffe im und aus dem Cyberraum.
        Sicherheitslücken und Cyberangriffe können dramati-
        sche Folgen haben. Der Angriff auf Internetrouter Ende
        vergangenen Jahres, bei dem auch großflächig Router
        der Telekom ausfielen und circa 1 Million Kunden be-
        troffen waren, oder auch der Hackerangriff, der das
        Krankenhaus Neuss Anfang 2016 lahmgelegt hat, lassen
        erahnen, was für ein Gefahrenpotenzial im Bereich unsi-
        cherer IT-Produkte schlummert und wie sehr ihr Ausfall
        das öffentliche Gemeinwesen schädigen kann. Um sol-
        che Situationen geht es bei der Umsetzung der Richtlinie
        zur Gewährleistung eines hohen gemeinsamen Sicher-
        heitsniveaus von Netz- und Informationssystemen in der
        Europäischen Union, über die wir hier in erster Lesung
        beraten .
        Wir begrüßen daher diese vom Europäischen Parla-
        ment vorgelegte Richtlinie . Sie bildet die Grundlage für
        einen einheitlichen europäischen Rechtsrahmen, einen
        EU-weiten Ausbau nationaler Kapazitäten für die Cy-
        bersicherheit und eine stärkere Zusammenarbeit der Mit-
        gliedstaaten in diesem Bereich . Dies ist wichtig, denn
        IT-Sicherheit ist längst keine nationale Frage mehr . Es
        werden außerdem Mindestanforderungen und Melde-
        pflichten nicht nur für die Betreiber wesentlicher Diens-
        te, also für Betreiber kritischer Infrastrukturen, sondern
        auch für die Betreiber bestimmter digitaler Dienste ge-
        schaffen. Deutschland ist mit dem IT-Sicherheitsgesetz
        von 2015 bereits gut aufgestellt . Vorausschauend haben
        wir hier bereits mit Blick auf die NIS-Richtlinie viele
        Regelungen, die die Richtlinie nun vorgibt, umgesetzt,
        sodass die jetzt nötigen Änderungen gering gehalten wer-
        den können .
        Die Anforderungen der Richtlinie, die über das beste-
        hende IT-Sicherheitsgesetz hinausgehen, sind sinnvoll .
        Die Meldepflichten und stärkeren materiellen Vorgaben
        für Unternehmen, die nun beispielsweise Konzepte zur
        Bewältigung von Sicherheitsvorfällen vorlegen müssen,
        erachten wir als dringend erforderlich . Aktuelle Cyber-
        angriffe im Telekommunikationsbereich haben gezeigt,
        dass die Meldewege von der Bundesnetzagentur zum
        BSI bei Vorfällen in Telekommunikationsnetzen nicht
        mehr gerecht werden . Insbesondere der Telekom-Vorfall
        hat gezeigt, dass Meldewege optimiert werden müssen .
        Wir begrüßen daher auch die mit dem Umsetzungsgesetz
        eingeführte Doppelmeldepflicht von Sicherheitsvorfällen
        beim Bundesamt für Sicherheit in der Informationstech-
        nik und bei der Bundesnetzagentur . Durch die parallele
        Meldung wird es dem BSI ermöglicht, seine Ressourcen
        und Kompetenzen zeitnah und besser einzusetzen . Zur
        Erhöhung des Niveaus der Cybersicherheit wird das BSI
        insbesondere durch die Nachweis- und Meldepflichten
        der Betreiber kritischer Infrastrukturen weiter gestärkt .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22295
        (A) (C)
        (B) (D)
        Fortan müssen zudem nicht nur Ausfälle, sondern auch
        erhebliche Störungen gemeldet werden .
        Wir wollen uns den vorliegenden Gesetzentwurf noch
        näher anschauen mit Blick auf die Frage, wo sich aus den
        jüngsten Sicherheitsvorfällen noch weiterer Bedarf zur
        gesetzlichen Reaktion ergibt . Besonderes Augenmerk
        liegt dabei darauf, wie Sicherheitslücken in IT-Endgerä-
        ten, wie beispielsweise jene im genannten Router-Vor-
        fall, vermieden werden können, aber auch, welche Mög-
        lichkeiten Netzbetreiber benötigen, um künftig Angriffe
        schneller abwehren oder sogar verhindern zu können .
        Denn je mehr beispielsweise die klassische Telefonie auf
        Voice-over-IP übergeht – und in wenigen Jahren wird
        Telefonie flächendeckend über Voice-over-IP laufen –,
        desto mehr ist auch die Möglichkeit der Absetzung ei-
        nes Notrufs von einer funktionierenden Internetverbin-
        dung abhängig . So werden zum Beispiel Router Teil
        einer sicherheitsrelevanten Infrastruktur . Aus Sicht der
        SPD-Bundestagsfraktion besteht darum auch im Bereich
        der Produkthaftung und der Einführung eines verlässli-
        chen Gütesiegels Handlungsbedarf . Da zunehmend alles
        mit allem vernetzt ist – Stichwort Internet der Dinge/
        Internet of Things, IoT –, stellt sich immer drängender
        die Frage, wie die IT-Sicherheit der vernetzten Dinge
        sichergestellt werden kann und wer in der Haftung ist .
        Denn nicht nur offensichtlich internetfähige Geräte wie
        Computer, Smartphones und Tablets sind heutzutage
        vernetzt und eine potenzielle Gefahrenquelle, auch All-
        tagsgegenstände wie Wecker, Zahnbürsten, Babyphones,
        Kaffeemaschinen und Kühlschränke sind heute mit einer
        IP-Adres se ausgestattet und damit internetfähig . Das In-
        ternet der Dinge hat in einem sehr kurzen Zeitraum eine
        enorme Größe erreicht. Selten finden bei diesen Geräten
        Softwareupdates statt – oft weil die Hersteller keine si-
        cheren Produkte auf den Markt bringen, oft weil die Nut-
        zerinnen und Nutzer keine Softwareupdates durchführen
        oder diese auch nicht mehr zur Verfügung stehen . So ent-
        stehen weltweit bei Millionen Geräten Sicherheitslücken .
        Diese Geräte können leichter gehackt und für den Aufbau
        von Bot-Netzen und DDoS-Angriffe genutzt werden, die
        zu weiteren Ausfällen von Diensten und von ganzen Inf-
        rastrukturteilen führen können . So werden Massenwaren,
        die von jeder Privatperson gekauft werden können, zum
        Bestandteil einer kritischen Infrastruktur . Sicherheits-
        mängel bei privat erworbenen und genutzten Geräten
        werden so zu einem Sicherheitsrisiko für ganze Teile
        der Bevölkerung, wenn diese Geräte gehackt als Teil ei-
        nes Bot-Netzes beispielsweise für den Angriff auf einen
        Wasserversorger genutzt werden können . Ein Gütesiegel,
        basierend auf BSI-Mindeststandards halten wir daher für
        einen wichtigen ersten Schritt, um die Angreifbarkeit von
        IT-Produkten einzudämmen .
        Selbstverständlich macht das Internet nicht an natio-
        nalen Grenzen Halt . Insofern gilt es, europäische und in-
        ternationale Lösungen und Standards für diesen Bereich
        zu finden und durchzusetzen. Deutschland sollte hier mit
        gutem Beispiel vorangehen und eine Vorreiterrolle ein-
        nehmen . Denn ein hohes Maß an IT-Sicherheit bedeutet
        nicht nur eine Erhöhung der öffentlichen Sicherheit, son-
        dern auch einen Standortvorteil für Wirtschaft und Un-
        ternehmen . Wir sollten Regelungen für die Erhöhung der
        Sicherheit von IT-Produkten durch die Einführung eines
        Gütesiegels im weiteren gesetzgeberischen Verfahren da-
        her prüfen .
        Martina Renner (DIE LINKE): Die Bundesregierung
        hat sich vorgenommen, die Richtlinie zur Verbesserung
        der Netz- und Informationssicherheit, NIS-Richtlinie, in
        nationales Recht zu überführen . Wesentliche Regelun-
        gen der sogenannten NIS-Richtlinie allerdings wurden
        bereits mit dem im Sommer 2016 in Kraft getretenen
        deutschen IT-Sicherheitsgesetz umgesetzt . Dies betraf
        beispielsweise die sogenannten wesentlichen Dienste,
        sprich: Betreiber kritischer Infrastrukturen aus den Be-
        reichen Energie, Informationstechnik und Telekommu-
        nikation, Transport und Verkehr, Gesundheit, Wasser,
        Ernährung sowie Finanz- und Versicherungswesen . Sei-
        nerzeit nicht adressiert wurden die von der europäischen
        Richtlinie bereits erfassten „digitalen Dienste“ . Das sind
        Onlinemarktplätze, Suchmaschinen und Cloud-Compu-
        ting-Dienste . Diese Regelungslücke soll nun geschlossen
        werden . So weit, so scheinbar unspektakulär . Doch wer-
        den bei näherem Hinsehen drei grundlegende Mängel im
        Regierungsentwurf deutlich .
        Erstens . Rechtssicherheit für die Anbieter von „digi-
        talen Diensten“ wird nicht erreicht . Der Regierungsent-
        wurf zum Umsetzungsgesetz bleibt sowohl in der Defi-
        nition als auch in der Konkretion der Anforderungen für
        digitale Diensteanbieter völlig unbestimmt . Insbesondere
        bleibt unbeantwortet, wie diese von den bereits im Rah-
        men des IT-Sicherheitsgesetzes regulierten Anbietern
        von Telemediendiensten abzugrenzen sind . Im Zweifel
        müssten sich die Anbieter an beide Regelungen halten .
        Geschaffen wird so eine Doppelregulierung und ein un-
        durchsichtiges Dickicht an Sicherheitspflichten. Beides
        läuft der Gewährleistung der Netz- und Informationssi-
        cherheit und damit dem Zweck der Richtlinie zuwider .
        Weder Verbrauchern noch Anbietern ist damit gedient .
        Dringend notwendig ist es daher, eine inhaltliche Syste-
        matisierung der IT-Sicherheitspflichten für alle Anbieter
        und Dienste vorzunehmen .
        Zweitens . Das Bundesamt für Sicherheit in der Infor-
        mationstechnik, BSI, wird mit dem Umsetzungsgesetz
        weiter zu einer operativen Behörde ausgebaut . Erstmals
        erhält es operative Befugnisse zur Cyberabwehr, um mit
        eigenen Kräften – wie es im Entwurf des Gesetzestextes
        heißt – bei der „Wiederherstellung der Sicherheit oder
        Funktionsfähigkeit informationstechnischer Systeme“
        mitwirken zu können . Zum Ausdruck kommt die Aus-
        weitung des Aufgabenbereichs auch in einem erneuten
        Stellenaufwuchs . Wurden dem BSI mit Verabschiedung
        des IT-Sicherheitsgesetzes bereits 220 Stellen zusätzlich
        zugewiesen, so kommen nun noch einmal 181,5 Stellen
        hinzu .
        Zugleich wird die Behörde allerdings nicht institutio-
        nell gestärkt, sondern bleibt dem Bundesinnenministeri-
        um unterstellt . Die Unabhängigkeit des BSI ist nicht ge-
        währleistet . Der Präsident des BSI hat gerade erst erklärt,
        bei Ermittlungen zu Cyberattacken müssten am Ende
        Indizien interpretiert werden . Dies bedarf natürlich einer
        Unabhängigkeit der Untersuchungsbehörde . Zudem wird
        das schwammige Verhältnis des BSI zu den polizeilichen
        Sicherheitsbehörden und den Geheimdiensten von der
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722296
        (A) (C)
        (B) (D)
        Bundesregierung ausdrücklich gewollt . Dessen intensive
        Zusammenarbeit mit BND, BfV und MAD national via
        Cyber-Abwehrzentrum oder international in der Koope-
        ration mit der NSA soll nicht durchbrochen werden . Das
        Vertrauensproblem der für die Cyberabwehr zuständigen
        Bundesbehörde wird auf diese Weise nicht gelöst . Ge-
        rade die Sensibilität der beim BSI gesammelten Infor-
        mationen über Sicherheitslücken und -strukturen sowie
        der Umgang mit persönlichen Daten aus Unternehmen
        und von Privatpersonen erfordert zwingend, sie als un-
        abhängige Bundesbehörde mit unzweideutigem Sicher-
        heitsauftrag aufzustellen .
        Drittens . Die Bundesregierung verzichtet erneut da-
        rauf, Regelungen zur Produktsicherheit und Produkthaf-
        tung für IT-Produkte und IT-Dienste einzuführen . Das
        war bereits bei Verabschiedung des IT-Sicherheitsgeset-
        zes der Fall und ist es jetzt erneut . Ausgangspunkt von
        Sicherheitsproblemen aber sind in den allermeisten Fäl-
        len Sicherheitslücken in der eingesetzten Software . Zum
        Kern des Problems in der IT-Sicherheit vorzudringen,
        heißt daher, Haftungsverschärfungen für IT-Sicherheits-
        mängel im IT-Sicherheitsrecht aufzunehmen .
        Aus diesen Gründen werden wir dem Umsetzungsge-
        setz nicht zustimmen und uns enthalten .
        Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Das Smartphone wird zum verwanzten, ja fast
        allgegenwärtigen Begleiter, das Smart TV zum Schlüs-
        selloch Per-Remote-Control ins Büro oder Wohnzimmer .
        Der aktuelle CIA-Leak fügt sich ein in die Reihe digitaler
        Sicherheitsvorfälle auf ganz unterschiedlichen Feldern:
        von den Snowden-Enthüllungen über die Stuxnet-At-
        tacke bis zu ausgefallenen Telekom-Routern, gehack-
        ten Mittelständlern und Krankenhäusern oder auch den
        jüngst stundenlang blockierten Servern im Deutschen
        Bundestag . All dies sollte auch den letzten tatsächlich
        oder auch nur vorgeblich Ahnungslos-Gutgläubigen in
        verantwortlicher Position zeigen: Was fehleranfällig ist,
        wird auch zu Fehlern führen, was potenziell hackfähig
        ist, das wird auch mit hoher Wahrscheinlichkeit gehackt
        werden, und zwar rund um die Uhr, weltweit .
        In einer immer digitalisierteren Welt birgt die Frage
        nach der Sicherheit unserer digitalen Infrastruktur und
        Kommunikation multiple systemische Risiken in so gut
        wie jedem Gesellschaftsbereich . Eigentlich sollte dies
        im Jahr 2017 eine Binsenerkenntnis sein, ist es jedoch
        angesichts einer Bundesregierung nicht, die immer nur
        in Sonntagsreden die Wichtigkeit und Dringlichkeit des
        Themas betont, wenn es aber im eigenen Verantwor-
        tungsbereich konkret wird, wieder einmal nur unbeteiligt
        mit den Schultern zuckt, sie es wieder und wieder sagt –
        selbst um Mitternacht in einer übervollen Tagesordnung
        nur zu Protokoll . Allein dieser Debattenplatz widerspricht
        den großen Worten, die an anderer Stelle auf Podien und
        in Interviews so gern in den Mund genommen werden .
        Denn auch wenn es sich bei den CIA-Operationen offen-
        bar um gezielte Maßnahmen handelt, beruhen sie doch
        auf Sicherheitslücken in verbreiteten Betriebssystemen,
        die auf einem grauen Markt gehandelt und zum Schaden
        der Allgemeinheit offengehalten und ausgenutzt werden,
        statt umgehend gemeldet und geschlossen zu werden .
        Hier mischen neben Kriminellen offensichtlich auch
        Geheimdienste mit, die sie wiederum mit Steuergeldern
        bei ihren Exploit-Ankäufen auch noch subventionieren .
        Zudem zeigt der CIA-Leak nach den Snwoden-Enthül-
        lungen abermals auf, dass selbst diese hochgerüsteten
        Akteure ihre eigenen Daten und Informationen nicht zu
        sichern in der Lage sind .
        Bezeichnend ist, dass die Bundesregierung es noch
        in ihrer letzten Cybersicherheitsstrategie fertig brachte,
        die Erkenntnisse der Aufklärungsarbeit seit Snowden
        nicht auch nur mit einem Wort zu erwähnen . Es ist und
        bleibt der Kardinalfehler dieser Großen Koalition, die-
        ses Thema weitgehend dem Bundesinnenminister und
        den Sicherheitsbehörden zu überlassen . Solange dies so
        ist, werden noch so richtige Ansätze auf dem Papier und
        noch so löbliche Anstrengungen der zuständigen Stellen
        an dieser immanenten sicherheitspolitischen Ambivalenz
        scheitern .
        Wie will denn der Staat für Vertrauen in Sachen digi-
        taler Sicherheit sorgen, wenn sich beispielsweise ein be-
        troffener Betreiber einer kritischen Infrastruktur gar nicht
        sicher sein kann, dass ebendiese staatlichen Stellen nach
        seiner Meldung einzig und allein an der umgehenden
        Lösung seines Sicherheitsproblems interessiert sind und
        nicht an dessen Offenhaltung zu ganz anderen Zwecken?
        So verwundert es kaum, dass die Zahlen der gemelde-
        ten Anlagen und Betreiber in den vom IT-Sicherheits-
        gesetz bereits berücksichtigten Branchen ebenso hinter
        den großspurigen Ankündigungen zurückbleiben wie
        die wenigen erfassten Störfälle im Vergleich zum realis-
        tisch zu erwartenden Umfang der Problematik . Es fehlt
        der Bundesregierung in diesem so sensiblen und immer
        komplexeren Feld bereits am notwendigen Überblick des
        Marktes – von umfassenden Lösungsansätzen und dem
        politischen Willen zu ihrer Umsetzung ganz zu schwei-
        gen .
        Hier scheinen sich die Befürchtungen zu bestätigen,
        wonach Unternehmen aufgrund des Kosten- und Kont-
        rolldrucks umfassende Meldungen scheuen und damit
        die Erfassung des eigentlichen Umfeldes völlig unzu-
        reichend erfolgt . Umso unverständlicher ist es, dass bei
        den bisher nach dem deutschen IT-Sicherheitsgesetz ge-
        meldeten Störfällen dem Parlament trotz wiederholter
        Nachfragen pauschal nähere Informationen verweigert
        werden .
        Und just hier setzt nun auch die Europäische Union
        mit der NIS-Richtlinie in vielen Punkten strengere Nach-
        weis- und Meldepflichten vor. Doch solange bei der Er-
        hebung, Verarbeitung und Weitergabe von Daten zu die-
        sen hochsensiblen Vorgängen weiterhin die Abgrenzung
        gegenüber Sicherheitsbehörden und Geheimdiensten
        so unklar geregelt bleibt wie in diesem Gesetzentwurf,
        wird sich an der Zögerlichkeit der Betreiber wenig än-
        dern . Umso atemloser werden nun kurzlebige Strategien,
        Abwehrzentren und zuletzt gar Cyberwehrpläne präsen-
        tiert . Diesem Aktionismus ist auch geschuldet, dass das
        erst 2015 verabschiedete IT-Sicherheitsgesetz bereits
        nach einem Jahr in vielen Punkten von der NIS-Richtli-
        nie überholt wurde . Anstatt die Vorlage aus Brüssel ab-
        zuwarten, wollte das Innenministerium partout vor der
        Europäischen Kommission punkten und darf nun das
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22297
        (A) (C)
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        eigene Gesetz überarbeiten, das aufgrund der fehlenden
        Verordnungsbasis in den unterschiedlichen Bereichen
        der kritischen Infrastrukturen noch nicht einmal umge-
        setzt war . Aber auch im zweiten Versuch versäumt nun
        die Bundesregierung überfällige Korrekturen, sei es bei
        der Rechtsunsicherheit im Bereich der digitalen Dienste,
        sei es beim so wichtigen Haftungsansatz, sei es bei der
        pauschalen Ausnahme in eigener Sache, nämlich diese
        Sicherheitsvorgaben auch auf die öffentliche Verwaltung
        anzuwenden .
        Demgegenüber gälte es, dieser Problematik umfas-
        send, entschlossen und gut koordiniert zu begegnen .
        Die Zuständigkeiten der Cybersicherheitsfragen müssen
        dringend zusammengeführt werden . Neben der notwen-
        digen Ausstattung bedarf es vor allem der entsprechen-
        den Unabhängigkeit, um als vertrauenswürdiger Akteur
        auch ernst und angenommen zu werden . Umso mehr
        stellt sich diese Frage, als das Bundesamt für Sicherheit
        in der Informationstechnik nun abermals ausgebaut wird
        und immer noch im Schatten des Bundesinnenministeri-
        ums agieren muss .
        Darüber hinaus gilt es auf allen Ebenen die IT-Resi-
        lienz strukturell zu stärken, angefangen bei der Sicher-
        heit einzelner IT-Produkte sowie tragender Softwarele-
        mente des Internets bis hin zum präventiven Umgang
        mit der inhärenten Verletzlichkeit dieser Systeme . Hier
        stellen sich wegweisende Fragen, die in viel größerem
        Kontext – international wie zivilgesellschaftlich – unter
        Einbeziehung zahlreicher Akteure auf eine ganze andere
        Basis gestellt gehören .
        Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
        minister des Innern: Cybervandalismus ist eine ernste
        Bedrohung für unsere Gesellschaft . Lassen Sie mich nur
        eine Zahl herausgreifen: 70 Prozent der größeren Unter-
        nehmen in Deutschland waren bereits von einem Cyber-
        angriff betroffen. Die Zeit der digitalen Sorglosigkeit ist
        vorbei . Unsere Anstrengung richtet sich darauf, Deutsch-
        land zu einem der sichersten digitalen Standorte weltweit
        zu machen . Wir haben für Deutschland im letzten Jahr
        daher das IT-Sicherheitsgesetz auf den Weg gebracht .
        Dies war ein bedeutender Meilenstein der nationalen
        Digitalisierungspolitik . Wir haben damit bereits einen
        Rechtsrahmen, bei dem Staat und Wirtschaft für mehr
        Cybersicherheit zusammenarbeiten . Auf europäischer
        Ebene soll durch die sogenannte NIS-Richtlinie mehr
        Cybersicherheit in der gesamten EU erreicht werden .
        Das deutsche IT-Sicherheitsgesetz war die Blaupause für
        die Verhandlungen in der EU, die die Bundesregierung so
        in wesentlichen Punkten mitgestalten konnte .
        Der vorgelegte Gesetzentwurf setzt die Vorgaben die-
        ser EU-Richtlinie nun um . Ziel der Richtlinie ist es, in al-
        len Mitgliedstaaten Kapazitäten der Cybersicherheit auf-
        zubauen und wie in Deutschland Betreiber von kritischen
        Bereichen stärker in die Pflicht zu nehmen. Aufgrund des
        IT-Sicherheitsgesetzes und der ständig fortgeschriebenen
        Maßnahmen besteht bei uns nur sehr geringer Umset-
        zungsbedarf. Dies betrifft erstens den Schutz kritischer
        Infrastrukturen nach dem Gesetz über das Bundesamt für
        Sicherheit in der Informationstechnik, BSIG, sowie Spe-
        zialgesetze für bestimmte Branchen . Soweit noch nicht
        erfolgt, müssen diese spezialgesetzlichen Regelungen
        auf das nach dem Gesetz über das Bundesamt für Sicher-
        heit in der Informationstechnik, BSIG, geltende Niveau
        angehoben werden .
        Die NIS-Richtlinie verpflichtet uns zu einer umfassen-
        deren Vorabkontrolle der Betreiber kritischer Infrastruk-
        turen . Die Aufsicht durch das BSI muss so angepasst
        werden, dass dies möglich ist . Der kooperative Ansatz
        des IT-Sicherheitsgesetzes, der auf eine vertrauensvolle
        Zusammenarbeit mit den Betreibern setzt, soll aber Prä-
        misse für das Handeln des BSI bleiben .
        Zweitens muss das BSIG um Regelungen zu Sicher-
        heitsanforderungen und Meldepflichten für Anbieter
        der sogenannten digitalen Dienste ergänzt werden: On-
        linemarktplätze, Suchmaschinen und Cloud-Compu-
        ting-Dienste . Die NIS-Richtlinie führt für diese Dienste
        wegen ihrer übergeordneten Bedeutung für das Internet
        europaweit einheitliche Vorgaben ein . Der Gesetzent-
        wurf orientiert sich daher weitestgehend am Wortlaut der
        Richtlinie .
        Schließlich verpflichtet die NIS-Richtlinie die Mit-
        gliedstaaten auch, wirksame Maßnahmen für ein Incident
        Response, das heißt zur Bewältigung konkreter Vorfälle,
        zu treffen. Es soll deshalb auch eine Rechtsgrundlage
        für den Aufbau mobiler Einsatzkräfte, Mobile Incident
        Response Teams, beim BSI geschaffen werden. Wie in
        der vom Kabinett im November verabschiedeten „Cy-
        ber-Sicherheitsstrategie für Deutschland 2016“ vorgese-
        hen, sollen diese Teams künftig die Verwaltung, kritische
        Infrastrukturen und vergleichbare Einrichtungen unter-
        stützen können, wenn daran ein öffentliches Interesse
        besteht .
        Deutschland hat bei der Cybersicherheit in Europa
        eine Vorreiterrolle inne . Trotzdem – und auch gerade
        deshalb – können wir Cybersicherheit nur gewährleis-
        ten, wenn wir weiterhin erfolgreich mit unseren Partnern
        zusammenarbeiten und uns aktiv in die Gestaltung der
        Rahmenbedingungen in Europa einbringen . Hierzu gilt
        es jetzt, die Vorgaben der NIS-Richtlinie rechtzeitig und
        zeitnah umzusetzen. Hiermit schaffen wir die Vorausset-
        zungen dafür, dass das IT-Sicherheitsgesetz EU-weit als
        Vorbild dienen kann, und werden wir unserer Vorreiter-
        rolle in Europa gerecht .
        Anlage 10
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
        brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung
        des elektronischen Identitätsnachweises (Tages-
        ordnungspunkt 28)
        Heinrich Zertik (CDU/CSU): In erster Lesung spre-
        chen wir heute über das Gesetz zur Förderung des elekt-
        ronischen Identitätsnachweises . Der elektronische Iden-
        titätsnachweis im handlichen Format ersetzte den alten
        Personalausweis, weil er den Zugang in die digitale Welt
        sicher und verlässlich für alle Nutzerinnen und Nutzer
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722298
        (A) (C)
        (B) (D)
        öffnet. Seit 2010 wird der elektronische Identitätsnach-
        weis ausgegeben .
        Im Regierungsprogramm „Digitale Verwaltung 2020“
        hatten wir festgelegt, dass die Nutzung des elektroni-
        schen Ausweises vereinfacht und die Anwendung erwei-
        tert wird . Leider bleibt die Nutzung der Onlineausweis-
        funktion, die die Inhaber wahlweise einschalten konnten,
        hinter den Erwartungen zurück . Obwohl sich die Nutze-
        rinnen und Nutzer mit dieser Funktion gegenüber ihren
        Kommunikationspartnern sicher identifizieren könnten,
        scheint die Hemmschwelle, diese Funktion zu aktivieren,
        groß zu sein . 61 Millionen Dokumente wurden bisher
        ausgegeben . Davon nutzt nur circa ein Drittel der Aus-
        weisinhaber die elektronischen Funktionen umfänglich .
        Das Gesetz soll dazu beitragen, dass sich das ändert .
        Ich kann verstehen, dass es eine grundsätzliche Skep-
        sis gegenüber der Einführung dieser Identitätskarte gibt .
        Erstaunlicherweise besteht diese Skepsis gegenüber
        vielen anderen Onlinedienstleistungen nicht . Viele In-
        ternetnutzerinnen und -nutzer geben bereitwillig ihre
        E-Mail-Adresse preis und scheuen sich nicht, persön-
        liche Angaben wie Geburtsdatum, Adresse, Kreditkar-
        tennummer usw . anzugeben . Datenklau, das sogenannte
        Phishing, ist die Folge . Geschädigte Nutzerinnen und
        Nutzer können davon berichten . Ich erinnere nur an den
        gigantischen Datenklau in 2014, als 18 Millionen Daten
        samt Zugangswörtern innerhalb weniger Tage abgefischt
        wurden . Dann ist es natürlich ein Leichtes für Kriminelle
        im Netz, Schadsoftware zu installieren und sich in Bank-
        konten oder E-Mail-Verkehr einzuhacken . Tausende von
        Schadprogrammen, so das Bundesamt für Sicherheit in
        der Informationstechnik, werden täglich neu im Internet
        in Umlauf gebracht . Sie sind nicht zu kontrollieren .
        Was bietet der elektronische Identitätsnachweis nun
        für Vorteile, und was will der Gesetzgeber bezwecken?
        Erstens ist mit der Onlineausweisfunktion, kurz eID,
        eine verlässliche und sichere Identifizierung möglich.
        Deshalb wird diese Funktion zukünftig standardmä-
        ßig eingeschaltet sein . Damit soll das physische Pos-
        tIdent-Verfahren, bei dem der Ausweisinhaber eine
        zertifizierte Stelle wie zum Beispiel die Deutsche Post
        aufsuchen muss, durch ein digitales Verfahren ersetzt
        werden . So kann mit dem Smartphone und der entspre-
        chenden Ausweisapp der Identitätsnachweis erbracht
        werden . Vom heimischen PC aus können sich die Nut-
        zerinnen und Nutzer über ein Kartenlesegerät mit dem
        elektronischen Identitätsnachweis identifizieren, ohne
        vorher mit ihren alten Ausweisen Behörden oder Insti-
        tutionen aufsuchen und vor Ort ihre Identität nachweisen
        zu müssen . Das spart viel Zeit, und umständliche büro-
        kratische Abläufe können vereinfacht werden . Ob der
        elektronische Nachweis dann genutzt wird, bleibt nach
        wie vor eine freiwillige Entscheidung des Inhabers .
        Zweitens . Auch in der Wirtschaft wurde der elek-
        tronische Nachweis nur sehr zögerlich eingesetzt . Un-
        ternehmen haben bisher oftmals auf das elektronische
        Verfahren verzichtet, weil sie es als zu aufwendig und
        umständlich angesehen haben, die notwendige Berech-
        tigung für den Umgang mit dem elektronischen Identi-
        tätsnachweis zu erlangen . Da viele Nutzerinnen und Nut-
        zer die elektronische Funktion gar nicht aktiviert haben,
        hatten auch Unternehmen und Firmen die Anwendungs-
        möglichkeiten gar nicht erst angeboten .
        Für Firmen und Unternehmen schafft der Gesetz-
        geber deshalb jetzt die hohen Hürden ab und bietet ein
        vereinfachtes Verfahren an, um sich zertifizieren zu
        lassen . Damit steigt die Attraktivität für Behörden und
        Unternehmen, ihre Angebote und Dienstleistungen für
        Kundinnen und Kunden elektronisch anzubieten . Die Be-
        rechtigungszertifikate werden zukünftig nicht mehr nur
        für einen Geschäftsvorgang ausgestellt, sondern auf den
        Namen der Behörde oder des Unternehmens . Das bedeu-
        tet deutlich weniger Bürokratie und spart ebenfalls Zeit
        ein . Dadurch können sich auch Kundinnen und Kunden
        darauf verlassen, dass das Unternehmen, mit dem sie Ge-
        schäfte machen, auf Herz und Nieren geprüft ist . Daten-
        schutzbehörden werden regelmäßig überprüfen, dass mit
        den Benutzerdaten kein Missbrauch getrieben wird .
        Auch Behörden sollen aufgefordert werden, ihre
        Dienstleistungen auch elektronisch anzubieten . Vorreiter
        ist hier als einziges Bundesland Sachsen . Hier können
        Bürgerinnen und Bürger bereits auf elektronischem Weg
        BAföG-Anträge stellen und ihr Auto abmelden .
        Drittens . Es geht auch um Sicherheit für digitale
        Dienstleistungen . Leider beschäftigen Passfälschungen
        in erheblichem Maße Polizei und Sicherheitsbehörden,
        weil es geschickten Fälschern immer wieder gelingt, mit
        gefälschten Dokumenten neue Identitäten zu produzie-
        ren . Sozialbetrug ist eine Folge, die die Steuerzahler zu
        tragen haben . Das ist ärgerlich und ungerecht . Mit dem
        elektronischen Identitätsnachweis und dem elektroni-
        schen Aufenthaltstitel für Drittstaatsangehörige geben
        wir den Behörden ein fälschungssicheres Dokument an
        die Hand, welches betrügerische Machenschaften weit-
        gehend unterbindet und die Vernetzung der Behörden in
        allen EU-Ländern möglich macht . Auch das ist ein Bau-
        stein in unserer Sicherheitsarchitektur, die wir in der die-
        ser Legislaturperiode konsequent ausgebaut haben .
        Der Staat kommt damit auch seiner Fürsorgepflicht
        nach, die Daten seiner Bürgerinnen und Bürger zu schüt-
        zen . Die elektronische Identitätskarte gilt aufgrund ihres
        Aufbaus derzeit als ein äußerst sicheres Ausweisdoku-
        ment weltweit . Mehrere Staaten nutzen bereits diesen
        elektronischen Identitätsnachweis .
        Viertens knüpfen wir damit an das moderne digitale
        Zeitalter an und ermöglichen den elektronischen Handel
        zwischen Produzent und Konsument europaweit, ohne
        dass auch im internationalen Handel aufwendige Identi-
        tätsnachweise erbracht werden müssen .
        „Die eIDAS-Verordnung ist der erste konkrete Schritt
        in Richtung digitaler Binnenmarkt“, erläuterte Antonello
        Giacomelli, italienischer Staatssekretär für Kommunika-
        tion . Er signierte das Gesetz im Rahmen der italienischen
        Ratspräsidentschaft digital . Damit ist der Weg frei für
        den digitalen Binnenmarkt Europa – mit über 400 Mil-
        lionen Nutzern .
        Im Bereich der elektronischen Identifizierung setzt
        die EU-Verordnung auf eine gegenseitige Anerkennung
        der verschiedenen nationalen eID-Systeme, damit nicht
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22299
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        jedes der 27 Mitgliedsländer das gleiche System neu ein-
        führen muss .
        Seit 1 . Juli 2016 können auch Behörden aus den ande-
        ren EU Mitgliedstaaten auf Daten elektronisch zugreifen .
        Sogenannte Vertrauensdienste werden als „Zwischen-
        instanz“ beauftragt, damit es nicht zu Datenmissbrauch
        kommt . Bei den Vertrauensdiensten wurden neue, ver-
        einfachte Werkzeuge definiert und die Voraussetzungen
        für ein europaweit vereinheitlichtes Sicherheitsniveau
        geschaffen. Zukünftig können elektronische Transakti-
        onen EU-weit effizient und rechtsverbindlich durchge-
        führt werden .
        Öffentlich einsehbare Vertrauenslisten und das
        EU-Vertrauenssiegel stellen sicher, dass der Dienstleister
        rechtskonforme Vertrauensdienste anbietet . Das ist ein
        Meilenstein auf dem Weg zu Wirtschaftswachstum und
        globalem Handel, von dem Wirtschaft und Bürger profi-
        tieren werden .
        Schon der 1993 in Kraft getretene „analoge“ Euro-
        päische Binnenmarkt hatte große Wachstumsimpulse
        ausgelöst und für mehr Beschäftigung gesorgt . Allein
        in Deutschland stieg durch das wirtschaftliche Zusam-
        menwachsen Europas das Bruttoinlandsprodukt im Zeit-
        raum 1992 bis 2012 um durchschnittlich 37 Milliarden
        Euro pro Jahr . Mit Einführung des digitalen Systems
        werden Handel und Austausch im Netz im wahrsten Sin-
        ne grenzenlos . Knapp 60 Prozent der deutschen Ausfuh-
        ren gehen in EU-Länder . Deshalb hat Deutschland ein
        ureigenes Interesse an einer Weiterentwicklung des Bin-
        nenmarkts und baut mit am digitalen Weg .
        Ich werbe ausdrücklich für dieses Gesetz; denn es
        bringt wesentliche Verbesserungen für die Bürgerinnen
        und Bürger im europäischen Raum. Es schafft ein hohes
        Maß an Sicherheit für Nutzerinnen und Nutzer im digi-
        talen Handel, und es ist hoffentlich auch ein Instrument,
        mit dem der Datenmissbrauch eingedämmt werden kann .
        Mahmut Özdemir (Duisburg) (SPD): Im Jahre 2010
        wurden ein Personalausweis und ein elektronischer Auf-
        enthaltstitel eingeführt, die über eine Funktion zum elek-
        tronischen Identitätsnachweis, genannt eID-Funktion,
        verfügen . Mithilfe dieser Funktion besteht nunmehr die
        Möglichkeit, sich gegenüber Behörden und Unterneh-
        men im Internet zuverlässig und vertrauenswürdig aus-
        zuweisen . Erreicht wird dies über eine 2-Faktor-Authen-
        tisierung . Beide Seiten, also die Ausweisinhaberinnen
        und Ausweisinhaber einerseits und die Behörden und
        Unternehmen andererseits, identifizieren einander: Der
        Staat stellt hier also eine sichere und verlässliche Infra-
        struktur zur gegenseitigen Identifizierung im Internet zur
        Verfügung . So ist beispielsweise die Beantragung eines
        Führungszeugnisses mit der eID-Funktion erheblich ein-
        facher geworden .
        Das hört sich zunächst alles sehr vorteilig an, bedenkt
        man insbesondere, dass mit der Nutzung dieser Funkti-
        on der eine oder andere Behördengang und damit auch
        in der Regel ein nicht unerheblicher Zeitaufwand ein-
        gespart wird . Dennoch müssen wir feststellen, dass die
        Bürgerinnen und Bürger bis jetzt die eID-Funktion ihres
        Personalausweises wenig bis gar nicht nutzen . Genau ge-
        nommen ist sie ein Ladenhüter . Die Gründe dafür mögen
        vielfältig sein . Sicherlich bestehen bei den Bürgerinnen
        und Bürgern mitunter Bedenken ob des faktischen und
        des rechtlichen Datenschutzes . Diese Bedenken sind
        ernst zu nehmen und zu respektieren .
        Schon der Koalitionsvertrag stellt zutreffend fest,
        dass die Voraussetzung für die Akzeptanz elektronischer
        Behördendienste Datenschutz und Sicherheit der Kom-
        munikation sind, wenn es um entspreche Angebote zwi-
        schen Bürger und Staat geht . Gerade deshalb wird im
        Koalitionsvertrag die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung als
        unerlässlich gesehen .
        Wir bekennen uns nach wie vor zu diesem Ansatz und
        wollen fortwährend dafür sorgen, dass ein Mehr an di-
        gitalen Verwaltungsdienstleistungen und Nutzung dieser
        Möglichkeiten nicht zu einem Weniger an Datenschutz
        und letztlich persönlicher Sicherheit für die Bürgerinnen
        und Bürger führt .
        Andererseits stehen wir als Gesetzgeber vor der Auf-
        gabe, der Digitalisierung speziell in der Verwaltung
        Rechnung zu tragen und sie fit für die Zukunft zu ma-
        chen, aber auch im Sinne einer verantwortlichen Wirt-
        schaftspolitik Unternehmen die Möglichkeit zu geben,
        die Vorteile der eID-Funktion in ihre Geschäftsabläufe
        zu implementieren und diese somit zu optimieren – nicht
        zuletzt auch im Interesse der Verbraucherinnen und Ver-
        braucher .
        Im Strudel dieses vermeintlichen Dualismus aus För-
        derung der eID-Funktion und Sicherstellung des Daten-
        schutzes und der Datensicherheit bewegt sich dieser Ge-
        setzentwurf .
        Die eingangs angesprochene sehr geringe Nutzung
        der eID-Funktion durch die Bürgerinnen und Bürger geht
        letztlich auch auf den Umstand zurück, dass sie in vie-
        len Personalausweisen und Aufenthaltstiteln gar nicht
        erst bei Aushändigung eingeschaltet ist . Die bisherige
        Rechtslage sieht vor, dass eine Bürgerin oder ein Bür-
        ger bei der Beantragung eines solchen Dokuments aktiv
        gefragt wird, ob sie oder er diese Funktion einschalten
        lassen und damit grundsätzlich nutzbar machen möchte .
        Viele entscheiden sich dagegen . Somit ist ihnen die Mög-
        lichkeit, diese Funktion zu nutzen, direkt zu Beginn ge-
        nommen . Hier möchten wir ansetzen und diesen Verfah-
        rensablauf durch rechtliche Änderungen modifizieren.
        Fortan soll die eID-Funktion zunächst standardmäßig
        eingeschaltet sein . Die Bürgerinnen und Bürger sollen
        bei Beantragung ihres Ausweisdokumentes ausführlich
        und präzise über die Rahmenbedingungen und die Vor-
        teile der eID-Funktion aufgeklärt werden. Wir erhoffen
        uns davon, dass dadurch Vorurteile und die mitunter ab-
        lehnende Haltung gegenüber der eID-Funktion abgebaut
        werden und ihre Nutzung insgesamt gefördert wird .
        Allerdings ist der freie Wille der Bürgerinnen und
        Bürger auch hier maßgeblich . So können sie letztlich
        selbst entscheiden, ob sie ausführlich informiert werden
        möchten, beispielsweise per Informationsbroschüre oder
        per E-Mail, oder eben auch nicht . Wenn sie eine einge-
        schaltete eID-Funktion nicht wünschen, haben sie auch
        fortan die Möglichkeit, diese deaktivieren zu lassen . Die-
        se sogenannte Opt-out Lösung haben wir als Sozialde-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722300
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        mokraten durchgesetzt . Über die genaue Ausgestaltung
        dieser Möglichkeit wird in den Ausschussberatungen
        noch zu befinden sein. Dass diese Möglichkeit bestehen
        wird, ist allerdings ein unumstößlicher Bestandteil die-
        ses Gesetzentwurfs . Den Bürgerinnen und Bürgern soll
        nichts gegen ihren Willen aufgezwängt werden .
        Ein anderer Aspekt dieses Gesetzentwurfs betrifft die
        Frage, wie man die Implementierung der eID-Funktion
        für Unternehmen attraktiver gestalten kann . Denn auch
        hier schlummern Potenziale: So könnten in Zukunft On-
        linedienstleistungen von Unternehmen, wie beispiels-
        weise die Anbahnung eines Versicherungsvertrages, auf
        ein datenschutzsichereres Fundament gestellt werden,
        wenn beide Seiten zur Identifizierung die eID-Funktion
        nutzen. Eine weitere Verbreitung dieser Identifizierungs-
        möglichkeiten bei den Unternehmen ist somit auch aus
        Sicht der Verbraucherinnen und Verbraucher begrüßens-
        wert, die diese Dienstleistungen zwar jetzt schon in An-
        spruch nehmen, bei allerdings deutlich geringerem Da-
        tenschutzniveau .
        Wiederum ist es derzeit für die Unternehmen nicht
        hinreichend attraktiv, die eID-Funktion zu implemen-
        tieren, da sie insgesamt so wenig genutzt wird . Dieses
        Missstands will sich der Gesetzentwurf annehmen .
        Aber auch an dieser Stelle sei deutlich betont: Dieser
        richtige und wichtige Grundgedanke wird nicht zulasten
        der Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger gehen . Un-
        ternehmen, die diese eID-Funktion in ihre Geschäfts-
        abläufe integrieren möchten, müssen auch in Zukunft
        hohe Standards für ihre Dienste einhalten, damit sie die
        entsprechende Berechtigung dafür bekommen . Denn die
        eID-Funktion ist und bleibt eine staatliche, hoheitliche
        Einrichtung und ist kein Wirtschaftsgut .
        Unterm Strich: Wir gehen mit diesem Gesetzentwurf
        einen Schritt in die richtige Richtung . Die eID-Funktion
        muss stärker gefördert werden, damit ihre Vorteile zu-
        künftig von deutlich mehr Bürgerinnen und Bürgern ge-
        nutzt werden, ganz gleich, ob bei der Inanspruchnahme
        von Verwaltungs- oder Unternehmensdienstleistungen .
        Allerdings werden wir es nicht zulassen, dass diese För-
        derung der eID-Funktion zulasten des Datenschutzes und
        der Datensicherheit der Bürgerinnen und Bürger geht
        und ihnen durch den Gesetzentwurf Nichtgewolltes auf-
        genötigt wird .
        Daher glaube ich, dass wir in den Ausschussberatun-
        gen noch an der einen oder anderen Schraube werden
        drehen müssen . Kritisch sehen wir nämlich nach wie vor
        die Ausgestaltung der Erteilung von Berechtigungszer-
        tifikaten für Dienstanbieter, und auch der automatisier-
        te Lichtbildabruf unter anderem für Nachrichtendienste
        braucht einen klar gezeichneten und umgrenzten gesetz-
        lichen Tatbestand .
        Gleichzeitig bin ich aber auch sehr zuversichtlich,
        dass wir am Ende zu einem sinnvollen und ausgewoge-
        nen Ergebnis kommen werden, und ich ergänze: ein Er-
        gebnis, das unsere Verwaltungseinheiten in den Kommu-
        nen nicht belastet, sondern entlastet und damit Prozesse
        beschleunigt .
        Ulla Jelpke (DIE LINKE): Die Bundesregierung
        überschreibt ihren Gesetzentwurf mit „Förderung des
        elektronischen Identitätsnachweises“ . Das ist ein reiner
        Euphemismus . Tatsächlich birgt der Gesetzentwurf eine
        Verschlechterung der Datensicherheit für die Bürgerin-
        nen und Bürger .
        Es geht um den sogenannten ePass bzw . den elektroni-
        schen Identitätsnachweis im neuen Personalausweis . Der
        enthält seit 2010 einen Chip, mit dem sich die Inhaber,
        zum Teil unterstützt durch eine PIN, gegenüber Behör-
        den, aber auch der Privatwirtschaft ausweisen können .
        Das funktioniert dann ähnlich, als wenn man am Laden-
        tisch seinen Ausweis zeigt . Über die Vor- und Nachteile
        dieses Chips wurde schon viel geschrieben; das Fazit,
        das die Linke schon vor Jahren gezogen hat, bleibt be-
        stehen: Sicher ist er nicht und notwendig schon gar nicht .
        Unsere Skepsis wird von der großen Mehrheit der
        Bürgerinnen und Bürger geteilt . Von den 51 Millionen
        Deutschen, die in den letzten Jahren diesen neuen Per-
        sonalausweis bekommen haben, entschieden sich zwei
        Drittel dafür, die Onlinefunktion von vornherein zu de-
        aktivieren . Für diese Option kann man sich nämlich der-
        zeit noch bei Aushändigung des Ausweises entscheiden .
        Und von dem anderen Drittel haben auch nur 5 Prozent
        das notwendige Kartenlesegerät für den Heimcomputer .
        Der Bundesregierung ist diese Boykotthaltung ein
        Dorn im Auge . Aber was macht sie jetzt? Anstatt sich
        Mühe zu geben, die Bürgerinnen und Bürger zu überzeu-
        gen, greift sie einfach zum Zwangsmittel . Der Ausweis
        soll ab sofort immer mit bereits eingeschalteter Online-
        funktion ausgehändigt werden; die Bürger haben nicht
        mehr die Wahl, ganz nach dem Motto: Wenn die Bürger
        die falschen Antworten geben, hören wir einfach auf, sie
        zu fragen . Willkommen zurück im Obrigkeitsstaat!
        Das eigentliche Motiv hinter diesem Manöver kann
        man leicht aus der Gesetzesbegründung herauslesen: Es
        geht um die Durchsetzung einer neuen Technologie im
        Interesse der Wirtschaft . Der Handel, heißt es da, war-
        te darauf, dass eine größere Anzahl potenzieller Nutzer
        die Investition in die neue Technologie rechtfertigt . Und
        diese größere Anzahl wird dem Handel jetzt per Gesetz
        zugeführt . Deswegen ist der Preis für einen Personal-
        ausweis von 8 Euro auf über 28 Euro angestiegen . Die
        Bürgerinnen und Bürger müssen für eine Technologie
        bezahlen, die sie nicht wollen und die sie auch gar nicht
        brauchen .
        Und noch schlimmer: Es ist eine Technologie, der sie
        zu Recht nicht trauen . Der Chaos Computer Club weist
        darauf hin, es sei „nur eine Frage der Zeit“, bis der Chip
        geknackt, das Lesegerät ferngesteuert oder die PIN ge-
        stohlen wird . Kriminelle können sich dann über das In-
        ternet mit falschen Identitäten ausweisen . Die Bundes-
        regierung behauptet natürlich, jeglichem Missbrauch
        werde „sicher“ vorgebeugt . Aber wenn eines im IT-Be-
        reich sicher ist, dann dieses: Es gibt keine Sicherheit,
        schon gar nicht langfristig. Im Auffinden und Schließen
        von Sicherheitslücken befinden sich Cyberkriminelle
        und IT-Industrie seit Jahren in einem unendlichen Wett-
        lauf . Da nutzt es nichts, wenn die Bundesregierung den
        Nutzern empfiehlt, ihr Betriebssystem regelmäßig zu
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22301
        (A) (C)
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        aktualisieren: Bis die Sicherheitslücke entdeckt ist, kann
        es schon zu spät sein . Und wenn man bedenkt, dass der
        Ausweis zehn Jahre lang gültig sein soll, kann man nur
        sagen: Das ist eine Einladung zum Knacken . Von der
        Praxis der Geheimdienste, sich in Privatcomputer einzu-
        schleichen, ganz zu schweigen .
        Völlig zu Recht hat die Konferenz der unabhängigen
        Datenschutzbehörden des Bundes und der Länder am
        24 . Januar dieses Jahres gewarnt, dass „das Recht auf
        informationelle Selbstbestimmung der Bürgerinnen und
        Bürger übergangen und Datenschutz sichernde Standards
        unterlaufen“ werden .
        Ich will noch einen Punkt des Gesetzentwurfs anspre-
        chen, der ebenso eine Verschlechterung des Datenschut-
        zes vorsieht: den erweiterten und rascheren Zugriff der
        Sicherheitsbehörden auf die bei den Personalausweis-
        behörden gespeicherten Passbilder . Bislang ist dies der
        Polizei vorbehalten, die den automatisierten Abruf nur
        durchführen darf, wenn Gefahr im Verzug ist . In Zukunft
        wird dies praktisch völlig voraussetzungslos erlaubt, und
        zwar auch den Geheimdiensten . Die haben also dann
        freien Zugriff auf sämtliche Passbilder. Die Begründung
        dafür ist abenteuerlich: Das Anwerben von V-Leuten
        durch die Geheimdienste könne gefährdet sein, heißt es
        da, wenn die V-Mann-Führer persönlich bei den Ange-
        stellten der Behörden ein Passbild abholen müssten, weil
        es ja sein könnte, dass die Angestellten den V-Mann ken-
        nen und damit die Geheimhaltung platzt .
        Hier wird eine datenschutzfeindliche Maßnahme mit
        einem demokratiefeindlichen Zweck begründet . Die Lin-
        ke lehnt es ab, dass den Geheimdiensten ständig mehr
        Befugnisse eingeräumt werden, und die V-Mann-Praxis
        hat sich sowieso schon längst als absolut schädlich he-
        rausgestellt . Ich erinnere nur daran, dass die V-Männer
        des Verfassungsschutzes jahrelang die Naziterroristen
        vom NSU unterstützt haben .
        Die Datenschutzbeauftragten lehnen daher auch die-
        se Änderung ab, und da schließt sich die Linke voll und
        ganz an . Wir wollen nicht, dass der Datenschutz auf den
        Altären von Geheimdiensten und Privatwirtschaft geop-
        fert wird .
        Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Stellen Sie sich vor, sie sind eine mit dem Politbe-
        trieb nicht näher vertraute Bürgerin und werden gefragt,
        was Sie von den Maßnahmen der Merkel-Regierungen
        zum E-Government halten . Wie muss die Antwort lau-
        ten? Richtig: nichts! Denn Sie können beim besten Wil-
        len überhaupt keine einzige bekannte Maßnahme nennen .
        Auf Nachfrage Ihrerseits wird man Ihnen womöglich die
        E-Government-Ruinen der letzten Jahre wieder in Erin-
        nerung rufen, darunter De-Mail, ELENA, elektronische
        Gesundheitskarte oder der neue elektronische Personal-
        ausweis . Richtig, der Personalausweis, werden viele sa-
        gen, da war doch was; der war irgendwie ziemlich teuer,
        aber warum denn noch genau?
        Wir erläutern es gerne: Es wurde nie wirklich kom-
        muniziert, worin der Mehrwert dieses elektronischen
        Ausweises liegt, was er kann . Das hatte eine gewisse
        Schlüssigkeit, weil der Ausweis auch nie wirklich son-
        derlich viel Vorweisbares konnte und kann . Die Vorstel-
        lung jedenfalls, dass der nPA zum zentralen Onlineiden-
        titätstool der Bürger im geschäftlichen Leben als auch im
        Umgang mit Behörden wird, ist deshalb absurd, weil es
        schlicht bis heute an den dazugehörigen Angeboten fehlt .
        Man hat eben auch die Wirtschaft nicht ins Boot holen
        können, ganz zu schweigen von den Verwaltungen, die
        bei der Digitalisierung nach wie vor überwiegend eisern
        mauern und sich der Entwicklung insgesamt zu verwei-
        gern versuchen .
        Es kann also keine Akzeptanz der eID-Funktion auf
        dem neuen Personalausweis geben, denn in wohl kaum
        einem anderen Bereich hat diese sogenannte Große Ko-
        alition ihre nachhaltige Untätigkeit durch markige Re-
        den und Symbolpolitik so umfänglich kaschiert wie im
        E-Government . Die Digitale Agenda ist ein Stückwerk
        geblieben; von Open Data über Cybersicherheit bis hin
        zu Behördenangeboten online sind wir praktisch nicht
        vorangekommen . Natürlich handelt es sich um ein kom-
        plexes Feld . Aber die Probleme Ihrer Koalition sind
        eben auch hausgemacht: mangelnde Koordination der
        Digitalisierung ihrer eigenen Regierung, mangelhafte
        Beachtung von Akzeptanz- und Vertrauensfaktoren wie
        Rechtsstaatlichkeit, IT-Sicherheit und Datenschutz, aber
        auch die Kniepigkeit des Bundesfinanzministers.
        Vor diesem Hintergrund mutet es umso wunderlicher
        an, was Sie mit dem vorliegenden Gesetzentwurf versu-
        chen: ein disparates Artikelgesetz rund um Pass, Perso-
        nalausweis und elektronische Aufenthaltstitel . Getrieben
        vom Scheitern des nPA versuchen Sie es nun mit der
        Brechstange, einfach indem Sie den rechtsstaatlich-da-
        tenschutzrechtlichen Rahmen aufweichen .
        Die Onlineausweisfunktion des elektronischen Per-
        sonalausweises soll „leichter anwendbar“ werden . Dazu
        sieht ihr Gesetzentwurf (Drucksache 18/11279) vor, dass
        die sogenannte eID-Funktion zum elektronischen Identi-
        tätsnachweis künftig bei jedem Ausweis automatisch und
        dauerhaft eingeschaltet wird . Dies soll die eID-Funktion
        schneller verbreiten und dadurch einen Anreiz für Be-
        hörden und Unternehmen schaffen, mehr Anwendungen
        bereitzustellen .
        Dieses Vorgehen ist von beispielloser Frechheit und
        grenzt an magisches Denken . Das BMI merkt, dass die
        Bürgerinnen und Bürger in freier Entscheidung zu zwei
        Dritteln der rund 51 Millionen ausgegebenen Ausweise/
        eAT die eID-Funktion deaktivieren lassen haben, und
        schafft diese freie Entscheidung ab. Zur Strafe für die
        Ausübung ihrer Freiheiten wird den Pass- und Personal-
        ausweishaltern schlicht das Recht entzogen, überhaupt
        noch frei entscheiden zu können, ob die eID-Funktion
        eingeschaltet wird . Und diese Zwangsbeglückung soll
        dann den Erfolg eines Modells sicherstellen, bei dem von
        vornherein doch klar ist, dass nur bei hinreichenden An-
        geboten zur Nutzung der eID seitens der Wirtschaft und
        der Verwaltung überhaupt Transaktionen zustande kom-
        men, ganz zu schweigen vom notwendigen Vertrauen al-
        ler Seiten in den Einsatz der Technik .
        Auch Unternehmen und Behörden implementierten
        die eID bislang nur zögerlich in ihre Geschäftsabläufe .
        Das hat sicherlich viele Gründe, ganz sicherlich aber
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722302
        (A) (C)
        (B) (D)
        wird sich daran nicht einfach dadurch etwas ändern, dass
        Sie die Funktion per Default freischalten . Denn sie muss
        von den Nutzern auch angewendet, also akzeptiert wer-
        den .
        Daher soll dem Gesetzentwurf zufolge nun aber auch
        noch das Verfahren vereinfacht werden, mit dem Unter-
        nehmen und Behörden berechtigt werden, die eID-Daten
        auszulesen . Kurz gesagt, Sie senken die datenschutz-
        rechtlichen Anforderungen an den Nachweis der Erfor-
        derlichkeit bei den Unternehmen, die mit der eID arbei-
        ten wollen . Die Mehrarbeit der Überprüfung sollen die
        Datenschutzbehörden tragen . Selbstverständlich führen
        Sie nicht aus, mit welchen Mitteln . Abgesehen davon,
        dass wir zum Gegenstand der Sachverständigenanhörung
        die Auffassung der Datenschutzbehörden zu dieser Form
        der Zwangsbeglückung machen werden, wird auch diese
        Aufweichung der rechtsstaatlichen Standards Ihnen nicht
        die Akzeptanz bringen . Denn sie hintertreiben damit zu-
        gleich die Vertrauenswürdigkeit der gesamten Idee der
        eID, die wesentlich auf dem dahinterliegenden Daten-
        schutzkonzept basiert .
        Dass Sie aber keine Akzeptanz für die eID finden,
        hat zahlreiche andere Gründe, die Sie in Ihrem Entwurf
        überhaupt nicht erwähnen oder angehen, darunter die
        fehlenden Angebote der Behörden selbst, die fehlenden
        Apps für mobile Anwendungen bzw . das durchaus in der
        Praxis funktionierende, wenn auch unsichere Identifizie-
        ren per SMS, das von Anbeginn ungelöste Problem der
        Kartenlesegeräte, die von der Bundesregierung nicht ge-
        fordert wurden, und, und, und .
        Es gehört deshalb zu der großen Ironie dieses Gesetz-
        entwurfs, dass Sie das Kopieren des Passes bzw . des Per-
        sonalausweises erstmalig per Gesetz zulassen, nachdem
        über Jahrzehnte und völlig zu Recht – zusätzliche Sicher-
        heitsrisiken für Betroffene – aus Datenschutzgründen
        Unternehmen belehrt wurden, genau dieses nicht zu tun .
        Der Hammer aber, ein klassischer BMI-Move, wie
        er im Lehrbuche steht, ist die im Gesetz sorgfältig auf
        den hinteren Seiten versteckte Einführung des voraus-
        setzungslosen automatisierten Pass- bzw . Personalaus-
        weisfotoabgleichs durch alle bundesdeutschen Geheim-
        dienste. Dieses ist nichts anderes als der offene Einstieg
        in eine bundesweite biometrische Bilddatenbank aller
        Bundesbürger .
        Die Aufrüstung der Geheimdienste unter der Großen
        Koalition spottet jeder Beschreibung . Und das, obwohl
        Skandale uns immer wieder zeigen, dass uns der notwen-
        dige rechtsstaatliche Zugriff auf die Dienste bis heute
        fehlt . Deutlicher kann man Demokratie- und Rechts-
        staatgleichgültigkeit nicht zum Ausdruck bringen . Mit
        Sicherheit hat dieses Vorhaben übrigens sicherlich nichts
        zu tun . Es dürfte vielmehr große Teile der Bevölkerung
        massiv beunruhigen .
        Wir fordern den Bundestag und insbesondere die SPD
        auf, dieses Gesetzesvorhaben noch zu stoppen . Der Sach-
        verständigenanhörung am 24 . April sehen wir mit Inte-
        resse entgegen .
        Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär beim Bun-
        desminister des Innern: Wir alle erledigen heute einen
        Großteil unserer Geschäfte über das Internet . Wir be-
        stellen Bücher oder Kleidung bei Onlinehändlern . Wir
        schließen online eine Versicherung ab oder eröffnen ein
        neues Bankkonto .
        Bei allen diesen Vorgängen müssen wir uns identifi-
        zieren . Dies geschieht meist über eine Kombination von
        Benutzernamen und Passwort . Viele Menschen besitzen
        so eine Menge Benutzernamen und Passwörter . Den
        Überblick zu behalten, ist fast unmöglich . Und: Das Sys-
        tem „Benutzername/ Passwort“ macht es Identitätsdie-
        ben und Betrügern leicht . Benutzername und Passwort
        können gestohlen und anschließend betrügerisch einge-
        setzt werden .
        Diese Nachteile vermeidet die Onlineausweisfunktion
        des Personalausweises . So wie man den Personalausweis
        bis heute beim Bankschalter oder in der Behörde vorlegt,
        um sich zu identifizieren, kann man ihn seit 2010 auch
        bei Geschäften im Internet einsetzen .
        Ziel des Gesetzentwurfes ist es, die Nutzung des
        elektronischen Personalausweises weiterzuentwickeln .
        Personalausweise und elektronische Aufenthaltstitel mit
        geprüften Identitätsdaten sollen künftig durchgängig mit
        einer einsatzbereiten Onlineausweisfunktion ausgegeben
        werden .
        Der zweite wichtige Punkt betrifft das Verfahren zur
        Erteilung von Berechtigungen und Berechtigungszertifi-
        katen: Anbieter von Onlinedienstleistungen – also etwa
        Banken, Versicherungen, aber auch Behörden im E-Gov-
        ernment – benötigen nach geltendem Recht eine spezielle
        Berechtigung für jeden Service, um die Onlineausweis-
        funktion anbieten zu dürfen .
        Hierfür müssen sie gegenwärtig für jeden neuen Ser-
        vice immer wieder erneut ein aufwendiges Genehmi-
        gungsverfahren durchlaufen . Der Regierungsentwurf
        sieht hier wesentliche Erleichterungen vor .
        Drittens erweitert der Regierungsentwurf die Anwen-
        dungsmöglichkeiten des elektronischen Personalauswei-
        ses .
        Dies betrifft zunächst das sogenannte „Vor-Ort-Aus-
        lesen“ . Bürgerinnen und Bürger können ihren Ausweis
        in Zukunft am Bank-, Post- oder Behördenschalter dazu
        nutzen, ihre üblichen Personendaten – also etwa Namen
        und Adresse – auf elektronischem Wege, aber eben „vor
        Ort“ in ein elektronisches Formular zu übertragen . Das
        geht schnell und verhindert Schreibfehler .
        Außerdem können in Zukunft sogenannte Identifi-
        zierungsdiensteanbieter die Identifizierung mittels On-
        lineausweisfunktion übernehmen .
        Unternehmen und Behörden benötigen so künftig kei-
        ne eigene Informationstechnologie mehr, um diese Funk-
        tion anzubieten . Sie können für diesen sicheren Service
        einen spezialisierten Dienstleister beauftragen .
        Schließlich enthält der Regierungsentwurf noch zwei
        weitere Regelungen . Zum einen erhalten Sicherheitsbe-
        hörden künftig die Möglichkeit, die Pass- und Ausweis-
        register zum automatisierten Abruf von Passbildern zu
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22303
        (A) (C)
        (B) (D)
        nutzen . So können Personen, von denen Sicherheitsrisi-
        ken ausgehen, schneller überprüft werden . Der automa-
        tisierte Abruf von Passbildern erleichtert die Arbeit der
        Sicherheitsbehörden und erhöht die Sicherheit der Bür-
        gerinnen und Bürger .
        Zum anderen enthält der Entwurf einen neuen Pass-
        versagungsgrund . Er soll Auslandsreisen verhindern, die
        mit dem Ziel vorgenommen werden, eine sogenannte
        Ferienbeschneidung von Mädchen vornehmen zu lassen .
        Solche „Ferienbeschneidungen“ sind als Verstümmelung
        weiblicher Genitalien nach § 226a StGB strafbar und
        müssen auch präventiv bekämpft werden . Hierzu dient
        der neue Passversagungsgrund .
        Ich bitte Sie, den Gesetzentwurf zu unterstützen .
        Anlage 11
        Zu Protokoll gegebene Reden
        – des von der Bundesregierung eingebrachten
        Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung
        des BDBOSGesetzes
        – des Antrags der Abgeordneten Irene Mihalic,
        Matthias Gastel, Anja Hajduk, weiterer Abge-
        ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
        GRÜNEN: Lückenlose BOS-Digitalfunkabde-
        ckung in Bahnhöfen der Deutschen Bahn AG
        sicherstellen
        (Tagesordnungspunkt 31 und Zusatztagesord-
        nungspunkt 11)
        Marian Wendt (CDU/CSU): Kommunikationstech-
        nologie unterliegt einem ständigen Wandel . Staatliche
        Kommunikationsinfrastrukturen sind unmittelbar betrof-
        fen . Sind sie veraltet, unzuverlässig oder nicht leistungs-
        fähig genug; so kann der Staat seinen Aufgaben nicht
        nachkommen . Sind sie obendrein unsicher; so geht von
        ihr eine Gefahr für die Menschen aus, einerseits weil die
        Gefahrenabwehr, eine der zentralen Aufgaben des Staa-
        tes, nicht zuverlässig gewährleistet werden kann, ande-
        rerseits weil sie Angriffen auf sie selbst nicht standhalten
        können .
        Die Bundesrepublik Deutschland hat also die Aufgabe,
        dafür zu sorgen, dass ihre Kommunikationsinfrastruktur,
        namentlich vor allem die Netze des Bundes, aber auch
        alle anderen Kommunikationsinfrastrukturteile der Be-
        hörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben, si-
        cher sind, funktionieren und einem modernen Stand der
        Technik entsprechen .
        Ein entscheidender Faktor bei der Sicherstellung mo-
        derner und sicherer Kommunikationsinfrastrukturen ist
        es, die öffentliche Verwaltung in die Lage zu versetzen,
        möglichst flexibel auf die zukünftigen Herausforderun-
        gen zu reagieren und die Anforderungen stets anpassen
        zu können . Die bisherige Schwerfälligkeit, gegeben
        durch die verstreute Zuständigkeit und behäbige Appa-
        rate, muss überwunden werden . Eine Bündelung der Zu-
        ständigkeit in möglichst wenigen verantwortlichen Posi-
        tionen ist der richtige Weg .
        In Bezug auf die Bundesanstalt für den Digitalfunk
        der Behörden und Organisationen mit Sicherheitsauf-
        gaben bedeutet dies, dass die Aufgaben dieser Behörde
        schneller und flexibler an den Bedarf angepasst werden
        müssen, wenn es nötig wird .
        Die öffentliche Sicherheit wird durch den Digitalfunk
        für Behörden und Organisationen mit Sicherheitsauf-
        gaben wesentlich gestärkt . Ein modernes Kommunika-
        tionssystem für Sicherheitskräfte ist unerlässlich . Der
        Wechsel von den analogen Vorläufersystemen hat lange
        genug gedauert . Daher ist es richtig und wichtig, jetzt den
        nächsten Schritt zu gehen und das neue, moderne System
        noch fitter für die Zukunft zu machen. Doch es geht auch
        um mehr . Die Erfahrung rund um den Aufbau und den
        Betrieb von Digitalfunknetzen und anderen Kommuni-
        kationsnetzen soll nun auch, wenn es nötig ist, in ande-
        ren staatlichen Bereichen genutzt werden . Die stellt eine
        effiziente Nutzung der erworbenen Kenntnisse und des
        Materials in diesem Bereich dar . Es vermeidet eine Dop-
        pelbeschaffung.
        Um einen Ausblick auf die kommenden Herausforde-
        rungen zu geben, möchte ich auf einen besonders wich-
        tigen Punkt hinweisen . Die Einführung eines überall und
        stets verfügbaren Breitbandnetzes für die Behörden und
        Organisationen mit Sicherheitsaufgaben ist der nächste
        und höchst wichtige Schritt . Genau wie in der Industrie,
        in der Fertigung und in vielen anderen, auch privaten Be-
        reichen ermöglicht der technologische Fortschritt immer
        bessere und effizientere Wege. Die Nutzung dieser Tech-
        nologien ist auch im Bereich der öffentlichen Sicherheit
        nicht nur denkbar, sondern geboten .
        Dass der Staat eine zumindest in Teilen autarke und
        im Katastrophenfall von Dritten unabhängige Infrastruk-
        tur betreibt und nutzen kann, die verlässlich und sicher
        ist, muss das Ziel der Bemühungen um eine neue Sicher-
        heitspolitik sein, für die ich mich in Zukunft persönlich
        einsetzen will .
        Der geplante Schritt, den Betrieb der Netze des Bun-
        des in die Hand der Bundesanstalt für die Behörden und
        Organisationen mit Sicherheitsaufgaben zu legen, ist der
        richtige Weg zu diesem Ziel . Auch wirtschaftlich gesehen
        ist es eine vernünftige Maßnahme . Bei einer Fremdver-
        gabe des Betriebes der Netze des Bundes, im Gegensatz
        zu einem Betrieb durch die BDBOS, entstünden unge-
        fähr 70 Millionen Euro mehr Kosten als in der gewählten
        Variante . Dem Gebot der Wirtschaftlichkeit entspricht
        unser Vorgehen also auch .
        Es ist geboten, weil es nicht zu rechtfertigen ist, wenn
        ein Staat einen möglichen Gewinn an Sicherheit bei be-
        wältigbaren Kosten nicht ergreift . Die Tatsache, dass es
        hier im Hause bisher keinen Streit über eine Notwendig-
        keit der Novellierung des BDBOS-Gesetzes gegeben hat,
        zeigt mir überdies, dass es einen breiten Konsens über
        die Modernisierung und Straffung staatlicher sicherheits-
        relevanter Kommunikation gibt . Auch der Bundesrat hat
        am 10 . Februar 2017 beschlossen, keine Einwände zu er-
        heben . Dies stimmt mich überaus positiv .
        Gerold Reichenbach (SPD): Vor knapp zehn Jahren
        wurde in Deutschland das weltweit größte Digitalfunk-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722304
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        netz für Behörden und Organisationen mit Sicherheits-
        aufgaben, die sogenannten BOS, aufgebaut . Dies war
        keineswegs banal . Schließlich verfügte Deutschland im
        Gegensatz zu den meisten anderen europäischen Staaten
        bereits im Analogfunk über ein Integriertes Funknetz
        für die BOS . Nach einem längeren Bund-Länder-Ab-
        stimmungsprozess fiel dann der Startschuss mit dem
        am 1 . September 2006 in Kraft tretenden „Gesetz über
        die Errichtung einer Bundesanstalt für den Digitalfunk
        der Behörden und Organisationen mit Sicherheitsauf-
        gaben“, dem sogenannten BDBOS-Gesetz . Am 2 . April
        2007 wurde die BDBOS gegründet . Es war damals ein
        wichtiger Schritt, um ein Herzstück unseres polizeilichen
        und nicht polizeilichen Sicherheitssystems, nämlich die
        Kommunikation und den Datenaustausch, zu moderni-
        sieren . Der Digitalfunk ersetzte den bis dahin technisch
        veralteten, von der Polizei in Bund und Ländern, den
        Feuerwehren, den Rettungskräften sowie von den Kata-
        strophenschutz- und Zivilschutzbehörden in Bund und
        Ländern genutzten Analogfunk .
        Mitte 2009 haben wir mit dem ersten „Gesetz zur
        Änderung des BDBOS-Gesetzes“ die Voraussetzun-
        gen geschaffen, das in Deutschland bereits bestehende
        integrierte BOS-Funknetz von der analogen in die mo-
        derne digitale Funktechnik zu überführen . Damit wurde
        gewährleistet, dass die von Bund und Ländern für ihre
        jeweiligen Bedarfsträger dezentral beschafften digitalen
        Funkgeräte bestimmte Mindestanforderungen erfüllen
        und so störungsfrei mit den sonstigen Komponenten des
        BOS-Digitalfunknetzes sowie mit allen anderen Funkge-
        räten in diesem Netz zusammenarbeiten .
        Das BOS-Digitalfunknetz in Deutschland ist weltweit
        das Größte seiner Art und verfügt im Vergleich zum Ana-
        logfunk über einige Vorteile: Er ist abhörsicher, hoch-
        verfügbar, und hat eine verbesserte Sprachqualität . Der
        BOS-Digitalfunk wird heute bereits von über 700 000 re-
        gistrierten Teilnehmern genutzt und hat sich nicht nur im
        Alltag, sondern auch bei Großeinsatzlagen bewährt . Die-
        ses Ergebnis konnte durch die gute und enge Zusammen-
        arbeit zwischen dem Bund, den Ländern und der BDBOS
        erreicht werden .
        Mit dem nun heute vorliegenden zweiten und auch
        zu begrüßenden „Gesetz zur Änderung des BDBOS-Ge-
        setzes“ wollen wir sicherstellen, dass der öffentlichen
        Verwaltung die notwendige Flexibilität für die Zukunfts-
        herausforderungen und Zukunftsanforderungen gegeben
        werden, die durch den Wandel in staatlichen Kommuni-
        kationsstrukturen verursacht werden .
        Wir nehmen in das bestehende BDBOS-Gesetz eine
        Öffnungsklausel auf, mit der das Aufgabenspektrum der
        BDBOS jederzeit erweitert werden kann, um auf Ent-
        wicklungen im Bereich staatlicher Kommunikations-
        strukturen flexibel zu reagieren. Der Zweck der BDBOS
        liegt aber auch nach einer möglichen Übertragung wei-
        terer Aufgaben nach wie vor im Aufbau und Betrieb des
        Digitalfunks . Zunächst ist vorgesehen, den Eigenbetrieb
        der Netze des Bundes, NdB, als eine gesonderte Aufgabe
        an die BDBOS zu übergeben . Gerade mit der steigenden
        Gefahr durch Cyberattacken und dem schnellen techno-
        logischen Fortschritt sollen die Netze des Bundes mithal-
        ten können .
        Bund und Länder sitzen beim BDBOS nach wie vor in
        einem Boot . So wollen wir mit dem Änderungsgesetz die
        Möglichkeit des weiteren Zusammenwirkens von Bund
        und Ländern bei Planung, Errichtung und Betrieb der für
        ihre Aufgabenerfüllung benötigten informationstechni-
        schen Systeme einführen .
        Ebenso stellen wir klar, dass der beim BDBOS be-
        stehende Verwaltungsrat allein für die in § 2 Absatz 1
        Satz 1 BDBOSG geregelten Belange des Aufbaus, Be-
        treibens und der Weiterentwicklung des Digitalfunks der
        Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben
        sowie der Sicherstellung ihrer Funktionsfähigkeit zu-
        ständig ist . Dabei soll dem Verwaltungsrat insoweit die
        Entscheidung über die grundsätzlichen Angelegenheiten,
        soweit die zuvor genannten Belange nach § 2 Absatz
        1 Satz 1 BDBOSG betroffen sind oder die Übertragung
        von Aufgaben nach § 2 Absatz 1 Satz 2 BDBOSG-E im
        Raum steht, obliegen . Außerdem soll der vom Verwal-
        tungsrat aufzustellende Jahresabschluss auf die in § 2
        Absatz 1 Satz 1 BDBOSG geregelten Aufgaben fixiert
        werden .
        Wir legen fest, dass der jährlich zum 31 . Oktober für
        das folgende Geschäftsjahr zu erstellende Wirtschafts-
        plan Investitionen und Aufwendungen für die in § 2
        Absatz 1 Satz 1 und 2 BDBOSG fixierten Aufgaben ge-
        sondert auszuweisen hat und die Aufhebung der in § 18
        BDBOSG geregelten Übergangsvorschriften und der in
        § 19 BDBOSG vorgesehenen Änderungen des Bundes-
        besoldungsgesetzes .
        Natürlich sehen wir an einigen Stellen noch Umset-
        zungs- und Nachverdichtungsprobleme, insbesondere
        auch in der sogenannten In-House-Versorgung . Hier sind
        die Länder oder auch die Betreiber der jeweiligen Ein-
        richtungen weiter in der Pflicht.
        Der Antrag der Fraktion Bündnis90/Die Grünen greift
        damit auch nur einen Aspekt der notwendigen weiteren
        In-House-Verdichtung heraus, der der Sicherstellung ei-
        ner lückenlosen BOS-Digitalfunkabdeckung in Bahnhö-
        fen der Deutschen Bahn AG .
        Auch ohne den Antrag der Grünen ist auch heute
        schon die Deutsche Bahn AG genauso wie zum Beispiel
        Flughafenbetreiber in der Pflicht, technisch alles in die
        Wege zu leiten, damit Polizei und Rettungskräfte im
        Falle einer Krisensituation über den Digitalfunk vor Ort
        kommunizieren können . Übrigens nicht nur für den von
        den Grünen angeführten Fall eines Terroranschlages . Im
        Gegenteil, sie ist auch und gerade für die alltäglichen
        Einsätze der Polizei, der Feuerwehren und Rettungs-
        dienste notwendig .
        Wir wissen, dass es keine bundesweit einheitliche
        Rechtsverpflichtung der Betreiber zur Objektfunkver-
        sorgung gibt . Die Verantwortung für Anlagen der Eisen-
        bahninfrastruktur tragen die Eisenbahninfrastrukturun-
        ternehmen . Sie sind für die Gewährleistung des sicheren
        Betriebs ihrer Anlagen uneingeschränkt verantwortlich,
        wozu unter anderem auch Rettungskonzepte mit deren
        notwendigen Kommunikationsmöglichkeiten für die
        BOS gehören .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22305
        (A) (C)
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        Es ist doch schon seit Jahren mit Bundesmitteln aus
        der Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung mög-
        lich – auch für die Deutsche Bahn AG und ihre Eisen-
        bahninfrastrukturunternehmen –, die Ausrüstung mit
        BOS-Funk zu finanzieren, dabei ist es sogar egal, ob
        analog oder digital . Dafür muss im jeweiligen Einzelfall
        ein funktionierendes Rettungskonzept vorliegen und eine
        Aus- bzw . Umrüstung mit BOS-Digitalfunk erforderlich
        sein . Der Deutschen Bahn AG obliegt es jetzt schon in
        ihrer eigenen unternehmerischen Verantwortung, dies an
        ihren Bahnhöfen zu ändern; daraus wollen wir sie auch
        nicht entlassen .
        Für den Gesetzentwurf bitte ich um Ihre Zustimmung .
        Den Antrag von Bündnis90/Die Grünen halten wir durch
        die bestehende Rechtslage für erledigt .
        Frank Tempel (DIE LINKE): Im vorliegenden Ge-
        setzentwurf will die Bundesregierung die Möglichkeit
        schaffen, der Bundesanstalt für den Digitalfunk der Be-
        hörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben,
        BDBOS, neue Aufgaben jenseits des bisherigen Betrie-
        bes des TETRA-basierten Digitalfunk BOS zukommen
        zu lassen . Angedacht ist die Übertragung des Eigenbe-
        triebes der Netze des Bundes, NdB .
        Das Netz des Bundes als zukünftige Netzinfrastruktur
        der Bundesverwaltung ist unzweifelhaft Teil der kriti-
        schen Infrastruktur und auf das Engste mit den Kernauf-
        gaben des Staates verbunden . Solch kritische Infrastruk-
        turen in Betrieb privater Firmen bilden ein potenzielles
        Sicherheitsrisiko . Die bisherigen zwei Netze, das BVN/
        IVBV – Bundesverwaltungsnetz/Informationsverbund
        der Bundesverwaltung – und das IVBB – Informations-
        verbund Berlin-Bonn – wurden von zwei Privatfirmen,
        Verizon und T-Systems, betrieben . Darüber erfolgten
        die Regierungskommunikation sowie die Kommuni-
        kation der Bundesverwaltung . Via BVN/IVBV wird
        ebenfalls ein Teil der Datenverkehre des Deutschen Bun-
        destages abgewickelt . Mit den Snowden-Leaks wurde
        bekannt, dass Verizon zu jenen Firmen zählt, mit denen
        der US-amerikanische Geheimdienst NSA strategische
        Partnerschaften zur Datenüberwachung unterhält . Der
        Vertrag mit Verizon über den Betrieb des Bundesverwal-
        tungsnetzes wurde daraufhin später zu Recht gekündigt .
        Die Änderung des BDBOS-Gesetzes schafft die Mög-
        lichkeit, dass die Netze des Bundes, NdB, in Eigenbetrieb
        durch die Bundesbehörde geführt werden können . Das ist
        grundsätzlich zu begrüßen . Zudem sollen bis 2019 die
        einzelnen Fernkommunikationsnetze des Bundes zu-
        sammengefasst und migriert werden . Gegenüber einem
        Fremdbetrieb soll der Kostenvorteil des NdB in Eigenbe-
        trieb zudem laut dem Gesetzentwurf rund 160 Millionen
        pro Jahr betragen .
        Andererseits bleibt die Fraktion Die Linke skeptisch .
        Die Geschichte der Einführung des digitalen BOS-Netzes
        als auch des Netzes des Bundes war und ist ein Trauer-
        spiel . Schon zur Fußballweltmeisterschaft 2006 sollte in
        den Austragungsorten der digitale BOS-Funk verfügbar
        sein . Im Jahr 2007 gab es einen Neustart des gesamten
        Projektes . Seitdem ist die Bundesanstalt für den Digital-
        funk der Behörden und Organisationen mit Sicherheits-
        aufgaben für den Aufbau des Digitalnetzes zuständig .
        Immer größere Kosten, ein Ausbaurückstand von zwei
        Jahren und Berichte über ein Organisationschaos bei der
        BDBOS begleiteten deren Arbeit . Beim Aufbau des digi-
        talen Polizeifunks waren erhebliche Unregelmäßigkeiten
        zu beobachten . Der Bundesrechnungshof listete im Jah-
        re 2010 unglaubliche Zustände beim BDBOS auf . Mit-
        arbeiter wurden ohne Arbeitsvertrag angestellt, externe
        Dienstleister schrieben sich selbst die Arbeitsaufgaben
        zu, und die Rechnungslegung war über weite Strecken
        nicht nachvollziehbar . Die ursprünglich geplanten Kos-
        ten von 5,1 Milliarden Euro, die inzwischen auf 7,2 Mil-
        liarden Euro angestiegen sind, werden wohl noch um ei-
        nige Milliarden anschwellen . Grund dafür ist die immer
        noch nicht erreichte vollständige Abdeckung des Netzes .
        Insbesondere in Tälern, dichten Wäldern und innerhalb
        von Gebäuden ist der Empfang schwierig bis unmöglich .
        Deshalb muss die Stationsdichte nachträglich erhöht
        werden . Der heute vorliegende Antrag von Bündnis 90/
        Die Grünen geht in diese Richtung und wird natürlich
        von den Linken unterstützt .
        Weiterhin ist die Übertragung digitaler Daten beim
        Polizeifunk so unterdimensioniert, dass jedes normale
        Handy einen weit höheren Funktionsumfang aufweist .
        Die Übertragung von Fahndungsfotos oder Fingerabdrü-
        cken ist faktisch unmöglich . Es steht also ein milliarden-
        schwerer Ausbau bei den Bandbreiten an .
        Nach Jahren der Kritik von Katastrophenschützern
        und auch unserer Fraktion haben die Bundesregierung
        und die Länder endlich die Notwendigkeit erkannt, das
        digitale BOS-Netz gegen längere Stromausfälle zu här-
        ten . Bereits nach zwei Stunden ist heute das Netz tot
        und sind Polizei, Feuerwehr, Rettungsdienste und THW
        der Kommunikation beraubt. Der Puffer soll nun auf
        72 Stunden ausgebaut werden . Wann dies abschließend
        der Fall ist, steht aber in den Sternen . Auch das Projekt
        „Netze des Bundes“ ist dem Zeitplan um Jahre hinterher .
        Neben Diskussionen um die Sicherheit des Netzes wegen
        bekannter Trassenverläufe im ehemaligen Leerrohrnetz
        der amerikanischen Armee gibt es auch erhebliche Kritik
        des Bundesrechnungshofes an Fehlausgaben in Milliar-
        denhöhe .
        Sie verstehen sicherlich, dass wir trotz des nachvoll-
        ziehbaren Ansatzes in ihrem Gesetz große Befürchtun-
        gen gegenüber Ihren Plänen hegen . Es ist schon viel zu
        viel Geld der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler einge-
        setzt worden, und die Nutzbarkeit von digitalem BOS
        und des Netzes des Bundes ist trotzdem nicht auf dem
        versprochenen Stand .
        Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vie-
        le haben sicher nie davon gehört, aber: Die Umstellung
        des Analogfunks von Behörden und Organisationen
        mit Sicherheitsaufgaben auf BOS-Digitalfunk ist eines
        der größten technischen Modernisierungsprojekte in
        Deutschland . Die ursprünglichen Planungen sahen die
        Inbetriebnahme eines Rumpfnetzes in Berlin zur Fuß-
        ball-WM 2006 vor . Die Gesamtumstellung sollte dann
        bereits im Jahr 2012 abgeschlossen sein . Nach der Um-
        stellung soll der neue BOS-Digitalfunk den Behörden
        mit Sicherheitsaufgaben in Bund und Ländern, wie der
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722306
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        Polizei, den Feuerwehren, dem THW oder den Sanitäts-
        und Rettungsdiensten, ein zuverlässiges und modernes
        Funknetz bieten . Der Ausschreibungs- und Planungspro-
        zess war allerdings so miserabel, dass dieses Ziel weit
        verfehlt wurde und die Umstellung bis heute nicht voll-
        ständig abgeschlossen ist .
        Die eigens 2007 gegründete Bundesanstalt für den
        Digitalfunk der Behörden und Organisationen mit Si-
        cherheitsaufgaben, also der BDBOS hat die bestehenden
        Probleme offensichtlich nicht im Griff, und der BOS-Di-
        gitalfunk entwickelt sich mehr und mehr zu dem Berliner
        Flughafen des Bundesinnenministeriums . Der vorlie-
        gende Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht nun die
        Übertragungen von weiteren Aufgaben an die BDBOS
        vor, die bisher nur den Ausbau und den Betrieb des BOS-
        Funks zu verantworten hat .
        Mir erscheint das Vorhaben so, als würde man jetzt
        dem neuen Berliner Flughafen auch noch den Betrieb
        von Tegel anvertrauen . Dabei haben die Verantwortli-
        chen aus der Misere offensichtlich nicht viel gelernt,
        wenn man den vorliegenden Gesetzentwurf betrachtet .
        Dieser soll es ermöglichen, dass weitere Aufgaben an
        die BDBOS übertragen werden, ohne dass diese genau
        spezifiziert sind. Dabei ist der Gedanke, weitere Auf-
        gaben im Bereich der staatlichen Kommunikation an
        einer Stelle zu bündeln und dadurch beispielweise die
        Resilienz gegen Hackerangriffe zu stärken, sicherlich
        sinnvoll . Aber setzt dies nicht eine genaue Planung vo-
        raus? Ich frage mich: Wo möchte die Bundesregierung
        mit diesem Gesetzentwurf hin? Offensichtlich weiß man
        das selbst nicht so genau . Die Übertragung des Betriebs
        der sogenannten Netze des Bundes als mögliche Option
        bleibt mir an dieser Stelle zu unkonkret, insbesondere im
        Hinblick darauf, dass es sich allein hier um ein Projekt
        mit einem Erfüllungsaufwand von 100 Millionen Euro
        handelt und dass ein jährlicher Erfüllungsaufwand von
        rund 92 Millionen Euro veranschlagt ist, nach bisheri-
        gen Zahlen der Bundesregierung . Weitere Kosten, für die
        möglichen neuen Aufgaben, kann die Bundesregierung
        nicht einmal benennen .
        Vielleicht wäre es auch im Hinblick auf die gegenwer-
        tige sicherheitspolitische Lage angebracht, sich erstmal
        auf die bestehenden Probleme im BOS-Digitalfunk zu
        konzentrieren und der Behörde nicht pauschal so weit-
        reichende Aufgaben zu übertragen . Die terroristische
        Anschlagsgefahr prägt die politische Debatte derzeit wie
        kaum ein anderes Thema . Es werden im Eiltempo neue
        Gesetze verabschiedet und Markplatzreden über die Aus-
        stattung der Sicherheitsbehörden und insbesondere der
        Polizei gehalten .
        Den Polizistinnen und Polizisten, die täglich ihren
        Dienst ausüben, helfen diese Gesetze und warmen Worte
        wenig, wenn wir immer wieder erleben, dass diese unter
        grundlegenden Ausstattungsdefiziten leiden. Hier ist die
        Bundesregierung in der Pflicht, nachzubessern und eben
        auch für einen funktionierenden und zuverlässigen Be-
        hördenfunk zu sorgen .
        Ohne einen störungsfreien Funkverkehr ist keine zu-
        verlässige Kommunikation sichergestellt, und diese ist
        Grundlage eines erfolgreichen Einsatzes . Die Bewälti-
        gung einer komplexen Lage, wie zum Beispiel bei einem
        Amoklauf oder einem Terroranschlag, ist nur durch eine
        absolut zuverlässige Kommunikation zwischen den ver-
        schiedenen Polizeieinheiten, aber auch anderen Behör-
        den mit Sicherheitsaufgaben, wie der Feuerwehr oder den
        Rettungsdiensten, möglich . Aber auch im alltäglichen
        Dienst stellen die bestehenden Probleme im Digitalfunk
        ein erhebliches Risiko für die Beamtinnen und Beamten
        dar . Wie soll beispielsweise Verstärkung gerufen werden,
        wenn man sich gerade in einem „Funkloch“ befindet?
        Mit einem zuverlässigen BOS-Digitalfunk würde die
        Bundesregierung einen wertvollen Beitrag für die Sicher-
        heit und körperliche Unversehrtheit der Polizistinnen und
        Polizisten leisten und nicht mit einer Strafverschärfung,
        wie kürzlich beschlossen . Die Probleme im Aufbau des
        BOS-Digitalfunks sind Jahre nach der Einführung immer
        noch vielseitig . In der Fläche besteht teilweise immer
        noch ein Mangel an Basisstationen, die eine zuverlässige
        Netzabdeckung garantieren . Aus diesem Grund greifen
        Einsatzkräfte immer wieder auf private Mobiltelefo-
        ne zurück, um Meldungen abzugeben oder zusätzliche
        Kräfte anzufordern . Der Mangel in der Fläche sorgt auch
        immer wieder für eine schlechte Funkverbindung inner-
        halb von Gebäuden . Des Weiteren ist die Umstellung in
        den Behörden mit Sicherheitsaufgaben selbst noch nicht
        vollständig abgeschlossen, wie eine Kleine Anfrage von
        uns ergeben hat . Hier gilt es dringend nachzubessern .
        Die größte Herausforderung liegt aber in der Objekt-
        funkversorgung von großen Gebäuden, wie verschiedene
        Zwischenfälle und Berichte in den letzten Jahren gezeigt
        haben . Dieses Problem greift unser Antrag „Lückenlose
        BOS-Digitalfunkabdeckung in Bahnhöfen der Deutschen
        Bahn AG sicherstellen“ auf . Bahnhöfe sind besonders
        sensible Orte, die täglich von vielen Menschen frequen-
        tiert werden . Daraus ergeben sich bereits im alltäglichen
        Geschehen besondere Herausforderungen, insbesondere
        im Hinblick auf terroristische Ereignisse .
        Wir fordern die Bundesregierung auf, diese Missstän-
        de endlich zu beheben und gemeinsam mit der Deutschen
        Bahn AG für eine flächendeckende und zuverlässige Ob-
        jektfunkversorgung in den Bahnhöfen und den Tunnelan-
        lagen zu sorgen . Ich möchte eindringlich um eine Unter-
        stützung unseres Antrages werben, der einen erheblichen
        Sicherheitsgewinn für die Bevölkerung und die Beamtin-
        nen und Beamten im Dienst bedeutet .
        Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär beim Bun-
        desminister des Innern: Die Digitalisierung führt zu
        grundlegenden Veränderungen in unserem Land . Neben
        der Wirtschaft und Gesellschaft ist gerade auch der Staat
        von diesen Veränderungen betroffen. Die Bundesverwal-
        tung ist heute in ihrer Handlungsfähigkeit entscheidend
        auf eine moderne, sichere und zuverlässige IT-gestützte
        Kommunikation angewiesen . Dabei spielen Netzinfra-
        strukturen eine besondere Rolle . Sie stellen die übergrei-
        fende Sprach- und Datenkommunikation sicher, vernet-
        zen bundesweit Rechnernetze und bilden somit eine Art
        „zentrales Nervensystem“ für die moderne Verwaltung .
        Die kurzen Entwicklungszyklen auf dem IT-Markt
        führen allerdings dazu, dass alte Technologien den ste-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22307
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        tig wachsenden Anforderungen kaum noch Rechnung
        tragen . Daneben ist die Bedrohungslage der Netze durch
        hochentwickelte Schadprogramme wie zum Beispiel
        Trojaner gestiegen . Die Regierungsnetze werden täglich
        gezielt angegriffen. Auch hat die Vielfalt der Netze inner-
        halb der Bundesverwaltung zu einer hohen Komplexität
        geführt, welche die Beherrschbarkeit und damit die Si-
        cherheit der Regierungskommunikation gefährden kann .
        Die aktuellen Netzinfrastrukturen der Bundesverwal-
        tung sind historisch gewachsen und weisen eine Vielzahl
        von parallelen Flächennetzen und Spezialnetzen auf .
        Dazu kommt, dass unsere heutigen Netze kein einheit-
        liches Sicherheitsniveau und keine redundanten Netz-
        werkstrukturen für eine größtmögliche Verfügbarkeit
        besitzen:
        Punktuelle Modernisierungen und Erweiterungen der
        bestehenden Regierungsnetze können den Anforderun-
        gen einer vernetzten, modernen Verwaltung nicht dauer-
        haft gerecht werden .
        Deshalb wird derzeit mit dem Projekt „Netze des
        Bundes“ eine einheitliche Netzinfrastruktur mit erhöh-
        tem Sicherheitsniveau auf den Weg gebracht . Hierdurch
        werden die notwendige Größenvorteile, Krisensicherheit
        sowie Leistungssteigerung gewährleistet . Durch redun-
        dante Anbindungen wird die Verfügbarkeit der Netze er-
        heblich gesteigert .
        Es ist vorgesehen, der Bundesanstalt für den Digital-
        funk der Behörden und Organisationen mit Sicherheits-
        aufgaben, kurz: BDBOS, den Betrieb der Netze des Bun-
        des als gesonderte Aufgabe zu übertragen .
        Hierzu bedarf es der vorliegenden Gesetzesänderung,
        die eine solche Aufgabenübertragung an die BDBOS er-
        möglicht .
        Gegenwärtig bestehen die zentralen Aufgaben der
        BDBOS im Aufbau, Betrieb und der Weiterentwicklung
        des bundesweit einheitlichen digitalen Sprech- und Da-
        tenfunksystems für die Einsatzkräfte der Polizei, der
        Feuerwehr, der Rettungskräfte sowie der Katastrophen-
        und Zivilschutzbehörden in Bund und Ländern .
        Die Bundesanstalt ist besonders geeignet den Betrieb
        der Netze des Bundes zu übernehmen, da sie bereits für
        den Betrieb des designierten Backbones für die Netze des
        Bundes, dem „Kerntransportnetz Bund“, verantwortlich
        ist und aufgrund ihrer gefestigten Strukturen in der Lage
        ist, frühzeitig am Projekt Netze des Bundes mitzuwirken .
        Der Bund sichert sich mit der Übertragung der Aufgabe
        an eine Bundesanstalt im Vergleich zum Betrieb durch
        einen externen Dienstleister uneingeschränkte Einfluss-
        möglichkeiten . Dies ist gerade auch bei besonderen si-
        cherheitsrelevanten Lagen von Bedeutung . Auch die
        Einfluss- und Kontrollrechte des Parlaments bleiben so
        gewahrt .
        Wir haben ein gemeinsames Interesse daran, die Leis-
        tungsfähigkeit und Sicherheit der für das Funktionieren
        der Bundesverwaltung wichtigen behördlichen Netzinf-
        rastrukturen weiterhin zu gewährleisten und auf zukünf-
        tige Herausforderungen vorzubereiten . Deshalb bitte ich
        Sie um die Zustimmung zu unserem Gesetzentwurf .
        Anlage 12
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
        gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Um-
        setzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der
        Europäischen Union zur Arbeitsmigration (Tages-
        ordnungspunkt 32)
        Andrea Lindholz (CDU/CSU): Häufig ist der Vor-
        wurf zu hören, Deutschland und Europa schotteten sich
        ab . Migranten seien in Europa nicht mehr willkommen .
        Der vorliegende Gesetzentwurf zeigt, dass die europä-
        ische Migrationspolitik in eine ganz andere Richtung
        geht . Mit den drei EU-Richtlinien, die wir heute in deut-
        sches Aufenthaltsrecht umsetzen, erleichtern wir Nicht-
        europäern, die auf legalem Weg nach Europa gekommen
        sind, die Arbeitsmigration innerhalb der EU .
        Natürlich brauchen wir in Europa qualifizierte und
        motivierte Zuwanderer . Allerdings muss diese Zuwan-
        derung in jedem Fall klaren Regeln folgen, die jederzeit
        in allen EU-Mitgliedstaaten eingehalten und konsequent
        umgesetzt werden müssen .
        An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass
        die ganz große Mehrheit der Migranten in Europa unsere
        geltenden Zuwanderungsgesetze einhält . Die Phasen der
        hohen unkontrollierten und illegalen Migration, wie wir
        sie zuletzt erlebt haben, sind die Ausnahme und müssen
        die Ausnahme bleiben. Andernfalls erodiert die öffentli-
        che Akzeptanz für die Freizügigkeit in Europa noch wei-
        ter . Der Fortbestand des grenzfreien Schengen-Raums ist
        heute durch das dysfunktionale Asylsystem der EU akut
        bedroht .
        Die EU-Staaten müssen deutlich machen, dass es kla-
        re Regeln gibt, wer unter welchen Bedingungen und auf
        welchem Wege zu uns kommen darf . Dafür braucht die
        EU ein klares, verbindliches und glaubwürdiges Zuwan-
        derungsregime . Diejenigen Migranten, die unser gelten-
        des Recht einhalten, sollen auch von den Vorzügen des
        vereinten Europas profitieren können, aber eben unter
        bestimmten und kontrollierten Voraussetzungen .
        Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf kommt die Bun-
        desregierung ihrer Pflicht nach, drei EU-Richtlinien in
        das deutsche Aufenthaltsrecht umzusetzen . Nichteuropä-
        er erhalten durch die Umsetzung der Rest-Richtlinie, der
        ICT-Richtlinie und der Saisonarbeitnehmer-Richtlinie
        mehr Möglichkeiten und Freiheiten in der EU . Diese Re-
        form wird vielen Migranten, die nicht aus der EU stam-
        men, das Leben und Arbeiten in Europa und Deutschland
        erleichtern .
        Zum Beispiel sollen Studenten und Forscher leichter
        zu Studien- oder Forschungszwecken in andere EU-Staat
        wechseln dürfen . Ebenso sollen mit dem Gesetzentwurf
        die Regeln für unternehmensintern transferierte Arbeit-
        nehmer vereinfacht werden . Auch für Praktikanten und
        Teilnehmer von europäischen Freiwilligendiensten, die
        aus Drittstaaten stammen, wird das Aufenthaltsrecht
        verbessert . Zudem werden die Vorschriften zu Ein- und
        Ausreise von Saisonarbeitnehmern vereinheitlicht und
        vereinfacht .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722308
        (A) (C)
        (B) (D)
        In der Landwirtschaft, der Gastronomie und der
        Bauindustrie werden seit Jahren zusätzliche saisonale Ar-
        beitskräfte gebraucht . Es ist daher richtig, Drittstaatlern
        die Einreise für Kurzaufenthalte bis zu 90 Tagen oder
        längere Aufenthalte bis zu sechs Monaten zu ermögli-
        chen, um in Deutschland vorübergehend zu arbeiten . Sai-
        sonarbeiter müssen dafür einen gültigen Arbeitsvertrag
        und eine bezahlbare Unterkunft nachweisen . Zu begrü-
        ßen ist auch, dass in § 41 Aufenthaltsrecht eine Möglich-
        keit zum Widerruf der Arbeitserlaubnis verankert wurde,
        um unsere heimischen Arbeitnehmer vor Lohndumping
        zu schützen . Eine noch weiter gehende Verbesserung der
        Schutzstandards für Saisonarbeitnehmer vor Missbrauch
        und Ausbeutung wäre sicherlich zu begrüßen . Allerdings
        ist das vorliegende Gesetz dafür nicht der richtige An-
        satzpunkt .
        Wichtig ist auch, die Anreize für illegale Migration
        und das Überziehen der Aufenthaltsgestattung zu mini-
        mieren . In diesem Zusammenhang wird erneut deutlich,
        wie wichtig die zügige Einführung des geplanten zentra-
        len Einreise-Ausreise-Registers der EU ist . Dieses Re-
        gister ist für die europaweite Identifikation sogenannter
        Visa-Overstayer von großer Bedeutung .
        Natürlich ist Migration für unsere Volkwirtschaft, für
        die internationale Forschung und Lehre und die Unter-
        nehmen in Europa von großer Bedeutung . Zudem ha-
        ben die letzten Jahre in vielfacher Hinsicht gezeigt, wie
        wichtig eine verbindliche Ordnung und eine verlässliche
        staatliche Kontrolle bei der Einwanderung sind .
        Migration und Einwanderungskontrolle schließen sich
        nicht gegenseitig aus, sondern müssen als zwei Seiten
        der gleichen Medaille begriffen werden. Wer Migration
        nicht kontrolliert, riskiert, dass irgendwann Mauern ge-
        baut werden . Um das zu vermeiden, braucht es voraus-
        schauende, verbindliche und allgemein nachvollziehbare
        Regeln .
        Auch ich würde es begrüßen, wenn Deutschland ein
        einfaches Einwanderungsgesetz erhalten würde, wie es
        manche fordern . Diese Forderungen ignorieren jedoch
        die Tatsache, dass wir als EU-Mitglied unser Aufenthalts-
        recht immer im europäischen Kontext denken und regeln
        müssen . Dadurch wird das Ausländerrecht in Deutsch-
        land automatisch komplizierter als zum Beispiel in Ka-
        nada . Allerdings verkomplizieren wir mit der heutigen
        Novellierung das deutsche Aufenthaltsrecht und unsere
        Einwanderungsregeln zusätzlich . Es muss eine Aufgabe
        aller EU-Staaten sein, für Einwanderungsregeln zu sor-
        gen, die weltweit nachvollzogen und respektiert werden .
        Unter dem Strich verfügt Deutschland bereits über
        ein sehr liberales Einwanderungsrecht . Mit der heutigen
        Umsetzung der drei Richtlinien zur Arbeitsmigration
        stellen wir das erneut unter Beweis . Dazu bitte ich Sie
        um Ihre Zustimmung .
        Nina Warken (CDU/CSU): Laut dem kürzlich ver-
        öffentlichten Migrationsbericht der Bundesregierung ist
        der deutsche Arbeitsmarkt so beliebt wie nie . Fast 1 Mil-
        lion Unionsbürger sind allein 2015 nach Deutschland ge-
        kommen, um bei uns zu arbeiten oder um ein Studium
        oder eine Ausbildung aufzunehmen . Auch die Zahlen der
        Hochqualifizierten aus Drittstaaten sind erneut gestiegen.
        2015 kamen rund 29 000 Fachkräfte aus Drittstaaten, fast
        doppelt so viele wie noch vor sechs Jahren . Mit 7 Prozent
        Zuwachs wird Deutschland auch für Studierende und
        Wissenschaftler immer attraktiver . Nicht ohne Grund hat
        die OECD unser Zuwanderungsrecht für Fachkräfte als
        eines der liberalsten weltweit ausgezeichnet .
        Dennoch liegt Deutschland im internationalen Wett-
        bewerb um hochqualifizierte Fachkräfte, die unsere Wirt-
        schaft dringend braucht, noch nicht so weit vorne, wie es
        eigentlich sein könnte .
        Der Gesetzentwurf zur Umsetzung der drei EU-Richt-
        linien zur Arbeitsmigration von Drittstaaten, den wir
        heute beschließen wollen, schafft hierbei Abhilfe:
        Erstens sorgen wir mit der Umsetzung der sogenann-
        ten REST-Richtlinie dafür, dass Wissenschaftler und
        Studenten aus Drittstaaten deutlich einfacher bei uns for-
        schen und studieren können . Für sie reicht künftig ein
        gültiger Aufenthaltstitel in einem EU-Mitgliedsland aus,
        und es muss in Deutschland für einen vorübergehenden
        Aufenthalt nicht auch noch ein solcher beantragt werden .
        Wenn also zum Beispiel der argentinische Krebsforscher,
        der bereits ein Visum für Spanien hat, auch unkompliziert
        in Deutschland forschen kann oder der Informatikstudent
        aus Kamerun, der in Warschau studiert, für ein Semester
        auch zu uns kommen kann, sorgen wir nicht nur für mehr
        Mobilität und wissenschaftlichen Austausch, sondern
        wir stärken und fördern damit den Wirtschaftsstandort
        Deutschland .
        Zweitens wird es mit der Umsetzung der ICT-Richtli-
        nie für Arbeitnehmer aus Drittstaaten deutlich einfacher,
        an mehreren Standorten ihres Unternehmens in Europa
        zu arbeiten . Führungskräfte, Spezialisten und Trainees,
        also genau die Arbeitnehmer, die wir hierzulande drin-
        gend brauchen, benötigen für Aufenthalte bis zu drei
        Monaten keinen zusätzlichen deutschen Aufenthaltstitel
        mehr . Auch für längere Entsendungen wurde das Verfah-
        ren deutlich vereinfacht, sodass die klügsten Köpfe leich-
        ter zu uns kommen können .
        Drittens wird mit dem Gesetzentwurf die Saisonar-
        beitnehmerrichtlinie umgesetzt und werden damit die
        Voraussetzungen festgelegt, unter denen Drittstaatsange-
        hörige als Saisonarbeiter beschäftigt werden können . Ich
        möchte aufgrund der Kritik der Opposition nochmal ganz
        deutlich betonen, dass es sich hierbei um absolut faire
        und transparente Regeln handelt: Sowohl Kurzaufenthal-
        te bis zu 90 Tagen als auch längere Aufenthalte bis zu
        sechs Monaten sind möglich . Dafür müssen ein gültiger
        Arbeitsvertrag und eine bezahlbare Unterkunft nachge-
        wiesen werden . Gleichzeitig wurden die Rechte der Sai-
        sonarbeiter gestärkt, um eine Ausbeutung zu verhindern .
        Die Kritik der Opposition an diesen Regelungen für
        Saisonarbeiter verkennt völlig, dass die Mobilität, die
        dadurch entsteht, nicht nur unseren Unternehmen in der
        Landwirtschaft, der Gastronomie oder der Baubranche
        hilft . Sie ist auch im Sinne der Arbeitnehmer . Mobilität
        bedeutet, für kurze Zeit und auch in wiederkehrenden
        Abständen in verschiedenen Ländern arbeiten zu können,
        ohne dass man seinen dauerhaften Wohnsitz dorthin ver-
        legen muss . Das gehört zu einer modernen Gesellschaft
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22309
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        dazu, und glauben Sie mir – auch wenn sich das die Op-
        position vielleicht nur schwer vorstellen kann –, es gibt
        Menschen, die auch dann weiterhin in ihrem Heimatland
        leben wollen, wenn die wirtschaftliche Lage dort nicht so
        gut ist wie bei uns .
        Lassen wir uns nicht von haltloser Kritik in die Irre
        führen . Betrachten wir lieber die Fakten . Fakt ist: Mit
        diesem Gesetzentwurf wird nun ein EU-weit einheitli-
        cher Rechtsrahmen im Bereich der Arbeitsmigration in
        Deutschland umgesetzt . Auch der Bundesrat begrüßt das
        ausdrücklich in seiner Stellungnahme und sieht so gut wie
        keinen Änderungsbedarf . Die wenigen Änderungswün-
        sche wurden von der Bundesregierung sorgfältig geprüft,
        mit dem Ergebnis, dass diese bei genauerer Betrachtung
        entweder bereits in den Regelungen des Gesetzentwurfs
        enthalten sind oder aber nicht zielführend wären .
        So stellt die Bundesregierung beispielsweise völlig zu
        Recht klar, dass die Unterscheidung zwischen anerkann-
        ten Flüchtlingen und anderen Drittstaatsangehörigen bei
        der Umsetzung der REST-Richtlinie sehr wohl gerecht-
        fertigt ist . Die Verantwortung des aufnehmenden Mit-
        gliedslandes endet nicht mit dem Asylverfahren, sondern
        gilt auch im Hinblick auf die Integration . Diesen Grund-
        satz einer konsequenten Trennung zwischen Flucht und
        Migration müssen wir auch bei diesem Gesetzentwurf
        beibehalten, um keine falschen Anreize zu erzeugen .
        Der vorliegende Gesetzentwurf setzt nicht nur eu-
        ropäisches in nationales Recht um, sondern er stärkt
        den Forschungs- und Wissensstandort Deutschland, er
        schafft neue und erleichterte Einsatzmöglichkeiten für
        hochqualifizierte Arbeitskräfte und sorgt für einen fairen
        Rechtsrahmen für Saisonarbeiter . All das ist sowohl im
        Interesse unseres Landes als auch im Interesse der Men-
        schen, die bei uns leben und arbeiten wollen . Lassen Sie
        uns deshalb den Gesetzentwurf mit breiter Mehrheit be-
        schließen .
        Sebastian Hartmann (SPD): Deutschland ist schon
        seit langem ein Einwanderungsland, und Migration ist
        gelebte deutsche Realität . Sowohl nach Deutschland als
        auch in umgekehrte Richtung migrieren pro Jahr Milli-
        onen von Menschen . Migration prägt also die deutsche
        Gesellschaft nachhaltig, auch wenn sich die Erkenntnis
        von Deutschland als Migrations- und Einwanderungs-
        gesellschaft nur langsam durchgesetzt hat . Lassen Sie
        uns klarstellen: Während es beim vorliegenden Gesetz-
        entwurf heute um eine Eins-zu-eins-Umsetzung einer
        europäischen Richtlinie in deutsches Recht geht, steht
        dahinter doch immer der nachhaltige Anspruch einer
        Steuerung und Regulierung der Einwanderung insge-
        samt, den die SPD-Bundestagsfraktion mit unserer For-
        derung nach einem Einwanderungsgesetz auch hier noch
        einmal bekräftigt .
        Deutschland verzeichnet dabei sowohl aus Mitglied-
        staaten der EU als auch aus Drittstaaten seit Jahren ei-
        nen steigenden Zuzug . Mit seiner starken Wirtschaft,
        einer guten Kinderbetreuung, einer exzellenten Gesund-
        heitsversorgung und vor allem freien, individuellen Ent-
        faltungsmöglichkeiten ist Deutschland ein attraktives
        Zielland für hochqualifizierte Einwanderer. Und auch
        Deutschland profitiert dabei in hohem Maße von der Zu-
        wanderung .
        Schon heute kann der Bedarf an beruflich qualifizier-
        ten Fachkräften in bestimmten Wirtschaftszweigen ohne
        Zuwanderung aus Drittstaaten nicht mehr abgedeckt
        werden . Viele Stellen bleiben unbesetzt . Es fehlen gut
        1 Million Pflegekräfte, Ärzte oder Ingenieure. Das be-
        hindert unternehmerisches Wachstum . Zudem bedroht
        der demografische Wandel unsere Sozialsicherungssys-
        teme . In den nächsten zehn Jahren würde Deutschland
        ohne Migration über 6 Millionen Erwerbstätige verlie-
        ren . Diese enorme Zahl kann auch nicht alleine durch Zu-
        wanderung aus der EU aufgefangen werden; denn andere
        EU-Länder stehen vor ähnlichen Herausforderungen .
        Dabei wanderten in den letzten zehn Jahren bereits
        knapp 3,8 Millionen Menschen von außerhalb Euro-
        pas nach Deutschland ein . Allerdings nehmen im Zuge
        der Globalisierung auch Emigrationsbewegungen aus
        Deutschland heraus zu; das positive Migrationssaldo ist
        also deutlich geringer und liegt bei etwa 200 000 Zu-
        zügen jährlich . Um gegen die bestehenden und künfti-
        gen Arbeitskräfte- und Qualifikationsdefizite in der EU
        vorzugehen, müssen wir also weitere Anreize schaffen.
        Dazu trägt der vorliegende Gesetzentwurf bei .
        Er greift eine ganze Reihe von Maßnahmen auf, die
        bestehende Regeln vereinfachen und Bürokratie abbau-
        en . Konkret werden die ICT-Richtlinie, die Saisonarbeit-
        nehmerrichtlinie und die REST-Richtlinie im deutschen
        Aufenthaltsrecht umgesetzt . Damit stellen wir Regeln
        für ausländische Arbeitnehmer auf, die innerhalb ihres
        internationalen Unternehmens zeitweise in Deutschland
        arbeiten möchten . Zweitens regeln wir den Aufenthalt
        von Nicht-EU-Ausländern in Deutschland als Saison-
        arbeitnehmer, und drittens werden die Bedingungen
        für ausländische Studenten und Wissenschaftler, die in
        Deutschland forschen oder Studien absolvieren möchten,
        sowie für Praktikanten und Au-pair-Kräfte definiert.
        Durch diesen Gesetzentwurf wird der Zugang zum und
        die Bedingungen auf dem deutschen Arbeitsmarkt und
        an deutschen Hochschulen transparent und fair gestaltet .
        Zudem schaffen wir unnötige bürokratische Hindernis-
        se ab und entlasten damit die deutsche Verwaltung . So
        müssen Wissenschaftler aus Drittstaaten nicht mehr ei-
        nen eigenen Aufenthaltstitel beantragen, wenn sie bereits
        an einer anderen europäischen Hochschule forschen und
        dort einen Aufenthaltstitel haben . Der wissenschaftliche
        Austausch über Länder- und Hochschulgrenzen hinweg
        ist wichtig für Innovation in der Forschung . Er wird in
        der Zukunft deutlich einfacher . Auch wird es nun mög-
        lich, vom Aufenthaltszweck des Studiums zu einer Aus-
        bildung zu wechseln . Diese Flexibilität kann helfen, die
        unzähligen unbesetzten Ausbildungsplätze in Deutsch-
        land zu füllen, wenn ausländische Personen das deutsche
        Ausbildungssystem kennen- und schätzen gelernt haben .
        Die Migration aus EU-Staaten nach Deutschland ist
        nur schwer zu prognostizieren . Aber davon ist abhängig,
        wie hoch der Bedarf an Arbeitsmigration aus Drittstaa-
        ten ist. Um diese bedarfsorientiert und flexibel steuern
        zu können, setzt sich die SPD aus Überzeugung für ein
        Einwanderungsgesetz ein . Wir haben dazu einen Entwurf
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722310
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        vorgelegt, der nach einem transparenten Punktesystem
        verständliche Regeln aufstellt und damit Einwanderung
        in geordnete Bahnen lenkt . Wir werden bei diesem The-
        ma auch nicht locker lassen . Aber heute stimmen wir
        dem vorliegenden Gesetzentwurf zu, der eins zu eins die
        EU-Richtlinien in deutsches Recht umsetzt .
        Ähnlich verhält es sich mit Saisonarbeitnehmern und
        ihren Rechten im deutschen Arbeits- und Sozialsystem .
        Sie werden künftig mit einer erhaltenen Arbeitserlaubnis
        kein zusätzliches Visum beantragen müssen . Auch hier
        entbürokratisieren wir die Abläufe . Das hat jedoch nichts
        mit dem von der Opposition erhobenen Vorwurf zu tun,
        dass die sozialen Rechte von Saisonarbeitnehmern in
        dem Gesetzentwurf fehlen. Um das an dieser Stelle klar
        zu sagen: Als SPD-Bundestagsfraktion achten wir natür-
        lich besonders auf die sozialen Rechte von Saisonarbeit-
        nehmern und stehen für diese ein . Dafür ist jedoch das
        Sozialgesetzbuch der richtige Regelungsort und nicht das
        Aufenthaltsrecht . Heute geht es darum, aufenthaltsrecht-
        liche Vorgaben der EU in Bundesgesetzen umzusetzen .
        Gleiches gilt für die Absicherung sozialer Rechte auch
        auf europäischer Ebene .
        Abschließend sei noch einmal betont, dass Arbeits-
        migration ein Gewinn für den deutschen Arbeitsmarkt
        ist; denn wir profitieren vom sozialen Kapital ebenso wie
        von Erfahrungen und Qualifikationen von Drittstaats-
        angehörigen . Darüber hinaus entstehen neue Ideen im
        Austausch mit Ausländern . Verschiedene kulturelle Hin-
        tergründe in Arbeitsteams, internationale Universitäten
        und heterogen besetzte Forschungseinrichtungen regen
        zur Zusammenarbeit und gemeinsamer Veränderung an .
        In einer zunehmend globalisierten Welt wird es immer
        Ein- und Auswanderung geben . Für uns in der Politik gibt
        es den Auftrag, diese zu gestalten . Eine Einwanderungs-
        gesellschaft wandelt sich permanent . Das bedeutet, dass
        die Regelstrukturen für die Entwicklung dieser Gesell-
        schaft auch entsprechend angepasst werden müssen . Die
        vorliegenden Regeln tragen zu einem solchen System mit
        klaren und einfacheren Einwanderungsregeln bei .
        Ulla Jelpke (DIE LINKE): Der Gesetzentwurf der
        Bundesregierung sieht die Umsetzung von aufent-
        haltsrechtlichen EU-Richtlinien im Zusammenhang
        mit Arbeitsmigration vor . Konkret geht es dabei um
        Saison arbeiterinnen und -arbeiter, Studierende sowie
        Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Forschende
        sowie unternehmensinterne Transfers sogenannter Dritt-
        staatenangehöriger, also von Nicht-EU-Bürgern . Laut
        der EU-Richtlinie zur Saisonarbeit sollen Saisonarbeiter
        aus Drittstaaten anderen EU-Bürgern hinsichtlich Ar-
        beitsschutz, Bezahlung, Arbeitszeiten und Arbeitsschutz
        gleichgestellt werden . Teil der Richtlinie ist allerdings
        ein aus unserer Sicht hochproblematisches Mitteilungs-
        verfahren zur Kontrolle und Steuerung der Arbeitsmigra-
        tion . Konkret bedeutet dieses Mitteilungsverfahren, dass
        die Mitgliedsländer der Bundesagentur für Arbeit und
        dem BAMF im Gesetzentwurf nicht weiter spezifizierte
        Daten des Drittstaatenangehörigen mitzuteilen und diese
        darauf zu prüfen haben, ob es Einwände gegen eine Ein-
        reise gibt . Begründet wird dieses Verfahren in zweierlei
        Weise .
        Zum einen wird behauptet, man benötige dieses Ver-
        fahren, um Arbeitnehmer aus Drittstaaten vor Ausbeu-
        tung, zum Beispiel in Hinblick auf das Arbeitsentgelt,
        schützen . Das klingt erst einmal schön . Doch in der Praxis
        bedeutet diese scheinbare Fürsorge, dass Arbeitnehmern
        die Einreise kurzerhand ganz verweigert werden kann,
        wenn die Befürchtung besteht, dass sie nicht den entspre-
        chenden Lohn erhalten . „Schutz des Ausländers und Ver-
        hinderung von Ausbeutung“, wie es in der Richtlinie be-
        hauptet wird, sehe ich durch ein solches Verfahren kaum
        gegeben . Ganz im Gegenteil, es kann nicht angehen, dass
        sich diese Regelungen gegen die Arbeitnehmer richten .
        Stattdessen braucht es effektivere Kontrollen und Sank-
        tionen für Unternehmer, sobald die Befürchtung besteht,
        dass Arbeiter ausgebeutet werden könnten . Hier müssen
        klare Regelungen erfolgen .
        Der zweite Aspekt, mit dem das Mitteilungsverfahren
        begründet wird, ist nicht weniger kritikwürdig . So sollen
        sicherheitsrelevante Mitteilungen an das BAMF erfol-
        gen, um den potenziellen Arbeitnehmer durchleuchten
        zu lassen und etwa die Einreise verweigern zu können .
        Die Bundesregierung räumt ein, dass die Betroffenen
        zwar schon einen Aufenthalt in einem anderen Mit-
        gliedsland hätten, aber nur so könne man nachträgliche
        Veränderungen berücksichtigen . Wohlgemerkt, es geht
        nicht um Mitarbeiter in Atomkraftwerken oder anderen
        sicherheitsrelevanten Bereichen, sondern um Erntehelfer
        und ähnliche Berufsgruppen . Das ist reine Vorverurtei-
        lung, die übrigens auch zulasten einer ohnehin schon
        vollkommen überforderten Bundesbehörde, der BAMF,
        geht . Dem BAMF noch mehr Aufgaben aufzubürden, be-
        deutet, noch größere Einbußen bei Qualität und Dauer
        der Asylverfahren auf Kosten von Flüchtlingen hinzu-
        nehmen .
        Immer wieder redet die Bundesregierung von Integra-
        tion und Qualifikation von Geflüchteten. Der Bundesrat
        hat zu Recht vorgeschlagen, dass auch Geflüchteten, die
        studieren und über einen internationalen Schutzstatus
        verfügen, die Möglichkeit von Studienaufenthalten in
        Deutschland gewährt werden muss . Dieser Vorschlag,
        der die vielen Beschwernisse, denen studierende Flücht-
        linge ausgesetzt sind, wenigstens etwas erleichtern sollte,
        wurde von der Bundesregierung schlichtweg ignoriert .
        Auch das ist nichts anderes als Ungleichbehandlung und
        Diskriminierung .
        Ich fasse zusammen: Durch den Gesetzentwurf wer-
        den Arbeitsmigrantinnen und -migranten unter General-
        verdacht gestellt; es findet kein Schutz vor Ausbeutung
        statt, und Geflüchtete werden diskriminiert. Insofern
        können wir diesen Antrag nur ablehnen .
        Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Jede Rede zu fortgeschrittener nächtlicher Stunde weckt
        Erinnerungen an die Zeiten, in denen dieses Haus noch
        in meinem heiß geliebten Rheinland tagte . Hier in Berlin
        habe ich oft mit Sehnsucht und Verlangen an Vater Rhein
        gedacht . Doch genug des Schwelgens in Erinnerungen –
        es geht um ein wichtiges Thema . Ich kann nur wiederho-
        len, was ich vor drei Wochen hier gesagt habe: Es wäre
        schön, wenn die Bundesregierung bei der Umsetzung
        der Aufnahmerichtlinie, der Qualifikationsrichtlinie und
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22311
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        der Verfahrensrichtlinie ebenso emsig wäre wie bei der
        Umsetzung der Richtlinien zur Arbeitsmigration . Auf die
        Umsetzung des Beratungsanspruchs für Asylsuchende
        im Verfahren, auf die Einhaltung der Vorgaben zur Be-
        stimmung sicherer Herkunftsstaaten und auf so manch
        andere Verbesserung der Situation für Schutzsuchende in
        Deutschland warten wir jedoch seit geraumer Zeit ver-
        gebens .
        Dennoch begrüße ich nach wie vor, dass die Bundes-
        regierung bemüht ist, im Bereich der Arbeitsmigration
        die Vorgaben des europäischen Rechts umzusetzen . Ich
        bedauere allerdings, dass die Gelegenheit nicht genutzt
        wurde, um das Recht der Arbeitsmigration endlich deut-
        lich zu liberalisieren, zu systematisieren und zu entbü-
        rokratisieren. Das wäre angesichts des demografischen
        Wandels und des zunehmenden Fachkräftemangels in
        vielen Sektoren und Regionen notwendig . Zugegeben:
        Die SPD hat das erkannt, zumindest ihr Fraktionsvorsit-
        zender, der kürzlich ein Einwanderungsgesetz präsentiert
        hat, das er in Auftrag gegeben hatte . Ob dieser Vorschlag
        rechtssystematisch kohärent ist – damit würde ich mich
        gerne hier befassen . Liebe Genossen, wann bringt ihr
        diesen Entwurf denn endlich ein, damit wir ihn sinnvoll
        beraten können? Oder zieht ihr hier den Schwanz ein wie
        bei der Ehe für alle, die Sie immer wieder versprechen,
        aber es kommt nichts?! Und wo bleibt Ihr Vorschlag zur
        Umsetzung des Shanghaier Kugelfischabkommens, den
        wir schon seit Jahrzehnten sehnsuchtsvoll erwarten? Sie
        trauen sich wohl einfach nicht .
        Im Detail habe ich ja schon in meiner letzten Rede
        begrüßt, dass der Gesetzentwurf Verbesserungen beim
        Zugang zum Studium vorsieht und das Aufenthaltsrecht
        von Forscherinnen und Forschern neu regelt . Nach wie
        vor halte ich es aber – wie auch der Bundesrat – für
        bedauerlich, dass Personen, die in einem anderen Mit-
        gliedstaat internationalen Schutz genießen, von diesen
        Verbesserungen ausgeschlossen werden . Dafür gibt es
        einfach keinen nachvollziehbaren Grund . Integrations-,
        arbeitsmarkt- und forschungspolitisch ist das ein ver-
        heerendes Signal . Hier müssen wir mehr wagen . Erwä-
        gungsgrund 29 der sogenannten REST-Richtlinie sieht
        die Möglichkeit der Erteilung nationaler Aufenthaltstitel
        zu Studien- und Forschungszwecken ausdrücklich vor .
        Von dieser Möglichkeit macht der Gesetzentwurf nur
        unzureichend Gebrauch . Dem Bundesrat ist insofern
        zuzustimmen: Es ist einfach nicht nachvollziehbar, wa-
        rum Studieninteressierte oder Forschende, die gerade
        erst internationalen Schutz erhalten haben, gegenüber
        Menschen derselben Staatsangehörigkeit, die sich noch
        im Herkunftsstaat befinden, schlechter gestellt werden
        sollen . Angesichts der hohen Anforderungen an die Titel-
        erteilung – Sicherung des Lebensunterhalts bei Studie-
        renden, Kostenübernahme der Forschungseinrichtung bis
        zu sechs Monaten nach der Aufnahmevereinbarung bei
        Forschenden – ist Missbrauch nicht zu befürchten .
        Zudem war die Koalition offenbar taub für die For-
        derung der Arbeitsgeber, bei der Richtlinienumsetzung
        für mehr Praxistauglichkeit und weniger Bürokratie zu
        sorgen . Die Gestaltungsspielräume der ICT-Richtlinie
        hätten etwa weitaus großzügiger genutzt werden können .
        Auf das Mitteilungsverfahren bei innereuropäischer Mo-
        bilität hätte man beispielsweise auch verzichten können .
        Wir brauchen endlich – ich wiederhole es – den Mut
        zu einem Einwanderungsgesetz, das die Regelungen der
        Arbeitsmigration liberalisiert, systematisiert, entbüro-
        kratisiert und durch die Möglichkeit der angebotsorien-
        tierten, also vom Nachweis eines Arbeitsangebots unab-
        hängigen Einwanderung ergänzt . Nur so können wir den
        Herausforderungen des demografischen Wandels, des
        Fachkräftemangels und der zunehmenden internationa-
        len Mobilität von Fachkräften, Studierenden, Forsche-
        rinnen und Forschern und ihren Familienangehörigen
        gerecht werden .
        Anlage 13
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
        brachten Entwurfs eines Gesetzes gegen schädliche
        Steuerpraktiken im Zusammenhang mit Rechte-
        überlassungen (Tagespunkt 33)
        Dr. Mathias Middelberg (CDU/CSU): Bei der Be-
        kämpfung legaler Steuervermeidung gehen wir heute ei-
        nen weiteren – grundlegenden – Schritt voran . Mit der
        sogenannten Lizenzschranke wollen wir künftig verhin-
        dern, dass internationale Konzerne konzerninterne Li-
        zenzeinnahmen für Forschungsleistungen bzw . Patente
        in Niedrigsteuerländer verschieben, ohne dass dort tat-
        sächlich Forschungsleistungen erbracht werden . Einem
        der bekanntesten legalen Steuertricks wollen wir damit
        einen Riegel vorschieben . Viele internationale Konzer-
        ne nutzen solche Steuergestaltungen . Von den Filialen,
        in denen sie ihre Produkte verkaufen, nehmen sie hohe
        Patent- bzw . Lizenzgebühren . Damit schrumpft zum
        Beispiel der zu versteuernde Gewinn in Deutschland .
        Die Einnahmen fließen in ein Land, wo sie unter einem
        Deckmantel der „steuerlichen Förderung von Forschung
        und Entwicklung“ gar nicht oder nur gering besteuert
        werden. Tatsächlich findet in diesem Staat aber keine
        Forschungs- oder Entwicklungstätigkeit statt . Einige un-
        serer europäischen Nachbarn helfen bei diesen Gewinn-
        verschiebungen leider mit und besteuern Lizenzeinkünf-
        te nur marginal .
        Steuervermeidung ist ein großes Problem . Der Verlust
        an Steuersubstrat wird immer größer, weil gerade die in-
        ternationalen Unternehmen schnell wachsen . Gleichzei-
        tig – und das ist gravierend – werden unsere deutschen
        Unternehmen im Wettbewerb benachteiligt . Denn unser
        Steuerrecht funktioniert . Die deutschen Unternehmen
        zahlen hier ihre Steuern . Die Steuerquoten liegen zwi-
        schen 20 und über 30 Prozent . Bei Google oder Apple
        aber fällt auf, dass die Konzernsteuerquoten zwar bei
        20 bzw . 24 Prozent liegen, die Gewinne in Europa aber
        nur mit 3 bzw . 1 Prozent belastet sind . Das heißt, die-
        se Unternehmen zahlen hier bei uns – obwohl sie hier
        vielfältig Geschäfte abwickeln – kaum Steuern . Staaten,
        die derartig unfairen Steuerwettbewerb fördern, können
        nicht erwarten, dass wir dieser für uns schädlichen Praxis
        weiter zusehen .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722312
        (A) (C)
        (B) (D)
        Rabatte auf Lizenzeinkünfte, Lizenzboxen, dürfen
        von Staaten daher zukünftig nur noch gewährt werden,
        wenn das Unternehmen dort auch wirklich forscht und
        entwickelt, also Wertschöpfung betreibt . Erfüllt ein Staat
        diese Anforderung für Zwecke des schädlichen Steuer-
        wettbewerbs nicht, greifen die Regelungen des Gesetz-
        entwurfs: Das Unternehmen darf sich die Lizenzaufwen-
        dungen nicht vom zu versteuernden Gewinn abziehen,
        wenn damit im Empfängerland Lizenzeinnahmen entste-
        hen, die aufgrund eines als schädlich eingestuften Prä-
        ferenzregimes nicht oder nur niedrig besteuert werden .
        Diese nationale Regelung kann allerdings das Problem
        leider nicht an der Wurzel packen . Denn schädlicher
        Steuerwettbewerb ist ein internationales Problem . Daher
        ergänzt die Regelung das internationale Programm ge-
        gen „die Aushöhlung von Steuerbemessungsgrundlagen
        und Gewinnverlagerung“ – Base Erosion and Profit Shif-
        ting, kurz BEPS –, das Bundesfinanzminister Wolfgang
        Schäuble bereits im Jahr 2012 auf Ebene der G 20 und
        der OECD mitinitiiert hat .
        Nach Aktionspunkt 5 des BEPS-Projekts darf ein
        Staat Unternehmen nur dann eine spezielle Lizenzbox-
        regelung gewähren, wenn das Unternehmen in dem Staat
        Forschungs- und Entwicklungstätigkeiten durchgeführt
        und dafür effektiv Ausgaben getätigt hat, sogenannter
        Nexus-Ansatz . Bereits im Jahr 2016 bestehende Lizenz-
        boxen, die diesem Nexus-Ansatz nicht entsprechen, müs-
        sen spätestens bis zum 30. Juni 2021 abgeschafft werden.
        Diesen Programmpunkt müssen wir nicht umsetzen, da
        wir keine Lizenzbox in Deutschland anbieten . Allerdings
        schützen wir uns mit dem vorliegenden Gesetz schon
        vor dem Jahr 2021 vor Verlust von Steuersubstrat durch
        ausländische, nicht dem Nexus-Ansatz entsprechende
        Lizenzboxen .
        Auch wenn die Lizenzbox in den Staaten der OECD
        und G 20 ein Auslaufmodell sein sollte, bleibt die Li-
        zenzschranke auch nach 2021 von Bedeutung . Denn
        Staaten, die sich dem BEPS-Projekt nicht angeschlossen
        haben, könnten das Steuermodell auch nach 2021 noch
        anbieten . Umso wichtiger ist es, dass wir uns internatio-
        nal abstimmen und das Steuerrecht weiter harmonisieren .
        Wir wollen den internationalen Steuerwettbewerb dabei
        nicht abschaffen, sondern fairer gestalten. Gewinne sol-
        len dort besteuert werden, wo sie erwirtschaftet werden .
        Alles andere führt zu Wettbewerbsverzerrungen, die vor
        allem unseren Mittelstand treffen, der hier in Deutsch-
        land fair seine Steuern zahlt . Deutsches Steuersubstrat
        darf außerdem nicht geschmälert werden .
        Die Umsetzung des BEPS-Projekts darf aber auch
        nicht zu Wettbewerbsnachteilen für unsere Exportindus-
        trie führen . Vor allem Doppelbesteuerung, hier und zu-
        gleich am Exportstandort, muss vermieden werden . Das
        werden wir auch im kommenden Gesetzgebungsverfah-
        ren wieder berücksichtigen .
        Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Die Beobach-
        tungen der letzten Jahre haben gezeigt, wie multinatio-
        nale Unternehmen die unzureichende Abstimmung der
        nationalen Steuersysteme und den schädlichen Steuer-
        wettbewerb zwischen den Staaten in ihrem Sinne nutzen
        und so ihre Steuerlast auf ein Minimum senken können .
        Üblicherweise setzt hier das bekannte Unternehmensba-
        shing ein, die Beschimpfung der Unternehmen wegen ih-
        rer Steuerhinterziehung . Aber jeder der sich in die Rolle
        des Finanzvorstandes versetzt, würde ähnlich handeln –
        dorthin gehen, wo die Steuern unanständig niedrig sind,
        wenn die anderen Verhältnisse in diesem Niedrigsteuer-
        staat, etwa gut ausgebildete Arbeitnehmer, innere Sicher-
        heit, kulturelles Angebot, Gesundheitsvorsorge etc ., ver-
        gleichbar sind . Wir sprechen also heute davon, wie sich
        Staaten durch Steuerkonkurrenz gegenseitig das Leben
        schwer machen, um Unternehmen anzulocken . Ich bin
        froh, dass wir uns an diesem ruinösen Wettbewerb nicht
        beteiligen, indem wir das Gleiche tun wie eine ganze
        Reihe ansonsten seriöser Staaten . Vor einiger Zeit wäre
        unser Finanzminister ja auch dieser Versuchung unterle-
        gen – er hatte öffentlich eine Patentbox für Deutschland
        überlegt . Dieser Gedanke ist glücklicherweise mit dem
        heutigen Gesetzentwurf überwunden . „Steuerlast auf ein
        Minimum zu senken“, funktioniert über folgenden Me-
        chanismus: Gewinne verschieben und damit die Bemes-
        sungsgrundlage kleinrechnen, wir sagen auch: erodieren .
        Die Bemessungsgrundlage ist ja das, wonach sich die
        Steuer bemisst, also Steuersatz, Tarif, mal Bemessungs-
        grundlage . Insofern versuchen die Unternehmen, im ei-
        genen Land einerseits die Bemessungsgrundlage zu ver-
        kürzen – ist sie null, ist der Steuersatz gleichgültig . Klar:
        30 Prozent auf nix ist ziemlich wenig . Andererseits wird
        versucht, den Gewinn in Länder zu verschieben, in denen
        der Steuersatz niedrig ist . Auch klar: Ist der Steuersatz
        niedrig oder null, ist die Bemessungsgrundlage gleich-
        gültig . Null mal Egal-wie-viel ist auch ziemlich wenig
        Der im Auftrag der G-20-Staaten entwickelte An-
        ti-BEPS-Aktionsplan der OECD zeigt verschiedene
        fiskalische Maßnahmen dagegen auf. Sie verfolgen das
        Ziel, die Transparenz und den Informationsaustausch un-
        ter den Staaten zu verbessern, die Steuersysteme aufei-
        nander abzustimmen und gegen schädlichen Steuerwett-
        bewerb vorzugehen . Im Dezember haben wir Teile davon
        auf Grundlage der EU-Amtshilferichtlinie umgesetzt .
        Den automatischen Informationsaustausch zwischen den
        Staaten zu verbessern, war ein überaus wichtiger erster
        Schritt . Damit sorgen wir für mehr Transparenz bei der
        Verrechnungspreisdokumentation und einen automati-
        schen Austausch von Tax-Rulings und länderbezogenen
        Berichten, Country-by-Country Reporting . Was gefehlt
        hat, waren Maßnahmen gegen schädlichen Steuerwett-
        bewerb . Es liegt im Wesen eines ersten Schrittes, dass
        weitere folgen sollen . Der Bundesrat hat unter Führung
        der SPD-regierten Länder zur Umsetzung der EU-Amts-
        hilferichtlinie durch einen Entschließungsantrag deutlich
        gemacht, dass auch Handlungsbedarf gegen schädliche
        Steuerpraktiken im Zusammenhang mit Lizenz- und Pa-
        tentboxen besteht . Mit Lizenz- und Patentboxen, also
        zum Beispiel Tochterunternehmen, in denen die eigenen
        Patente liegen und die extrem niedrig besteuert werden,
        bieten sich Staaten als Präferenzregime an . Damit treten
        Staaten dann untereinander in Steuerwettbewerb . Auf der
        Grundlage dieses Entschließungsantrages gehen wir nun
        mit einem passenden Gesetzentwurf dagegen vor und
        unternehmen einen weiteren Schritt auf dem Weg zur
        Umsetzung des Anti-BEPS-Aktionsplanes – am Beispiel
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22313
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        der Gewinnverlagerung durch Lizenzzahlungen an eine
        ausländische Patentbox .
        Als Beispiel für „musterhaftes BEPS-Verhalten“ wird
        häufig die Steuergestaltungsstrategie von Google ge-
        nannt: Das Mutterunternehmen in den USA überträgt
        Lizenzen für die Nutzung der Suchmaschine an eine ei-
        gene Tochtergesellschaft auf den Bermudas . Für den eu-
        ropäischen Markt werden die Lizenzen an eine weitere
        Tochter in den Niederlanden weitergegeben und von der
        irischen Tochter gegen Gebühr genutzt . In den Nieder-
        landen erfahren Einnahmen für Lizenznutzung eine steu-
        erliche Begünstigung . Man spricht hier von einer soge-
        nannten Lizenzbox, also etwa eine GmbH bzw . Limited,
        die das Patent hält . Die Lizenzzahlungen mindern in den
        Quellenstaaten den steuerpflichtigen Gewinn und wer-
        den im Empfängerstaat im Rahmen der Lizenzbox nicht
        oder nur niedrig besteuert . Die Besteuerung erfolgt im
        Ergebnis nicht in dem Staat, in dem die wirtschaftliche
        Aktivität stattfand, sondern in dem Staat, der den höchs-
        ten Steuerrabatt gewährt . Dies ist ein Paradebeispiel für
        schädlichen Steuerwettbewerb, den sich die Staatenge-
        meinschaft nicht mehr bieten lassen darf, weil am Ende
        alle Staaten arm und einige Konzerne reich sind . Wir
        nennen das „Race to the Bottom“ .
        Unter anderem mit dieser Vorgehensweise befasst
        sich der fünfte Punkt des Anti-BEPS-Aktionsplans . Die
        teilnehmenden Staaten haben sich darauf geeinigt, dass
        solche Präferenzregime schädlich sind, und sich gegen
        sie ausgesprochen, es sei denn, die Präferenzregime fol-
        gen dem sogenannten Nexus-Ansatz . Nexus bedeutet
        Zusammenknüpfen, abgeleitet von nectere oder binden,
        verknüpfen . Dieser Ansatz knüpft die steuerliche Be-
        günstigung an eine eigene aktive Forschungstätigkeit im
        jeweiligen Staat . Es ist aber nicht sicher, dass auch alle
        Staaten ihre Lizenz- oder Patentboxen auf den Nexus-An-
        satz eingrenzen, und Staaten außerhalb der OECD haben
        sich erst gar nicht dazu bekannt . Es besteht auch deshalb
        weiterhin Steuerwettbewerb .
        In vielen Doppelbesteuerungsabkommen ist ein Null-
        steuersatz auf Lizenzzahlungen zwischen Deutschland
        und dem jeweils anderen Staat vereinbart . Auf diese Wei-
        se könnten Unternehmen auch weiterhin durch Gewinn-
        verlagerung Steuervermeidung betreiben . Deshalb hat
        der vorliegende Gesetzentwurf das Ziel, im Falle eines
        schädlichen Steuerwettbewerbs die steuerliche Abzugs-
        fähigkeit für Lizenzzahlungen einzuschränken . Es wird
        eine sogenannte Lizenzschranke heruntergefahren . Die
        Voraussetzung dafür ist, dass die entsprechenden Einnah-
        men beim Empfänger aufgrund eines als schädlich einge-
        stuften Präferenzregimes, zum Beispiel einer Lizenzbox,
        nicht oder nur niedrig besteuert werden .
        Wie gehen wir dabei vor? Wir schaffen eine Gren-
        ze für schädliche Niedrigbesteuerung . Diese liegt bei
        25 Prozent Ertragssteuerbelastung . Das Abzugsverbot ist
        dann abhängig von der Differenz zwischen der tatsächli-
        chen Besteuerung und der Sollbesteuerung von 25 Pro-
        zent . Das Ergebnis setzen wir dann wiederum ins Ver-
        hältnis zur Sollbesteuerung . Wer im anderen Staat zum
        Beispiel nur mit 5 Prozent Ertragsteuern belastet wird,
        erhält ein Abzugsverbot für 80 Prozent seiner Aufwen-
        dungen . Wir rechnen: 25 Prozent Sollbesteuerung minus
        5 Prozent tatsächliche Steuer ergibt eine Differenz von
        20 Prozent . Diese 20 Prozent setzen wir ins Verhältnis zu
        25 Prozent Sollbesteuerung . Wir dividieren also 20 Pro-
        zent durch 25 Prozent . 25 Prozent sind ein Viertel, und
        die Division durch ein Viertel entspricht einer Multipli-
        kation mit vier, dem Kehrwert . 20 Prozent mal vier ergibt
        80 Prozent . Wer den Zusammenhang lieber in einer For-
        mel nachvollziehen möchte: Abzugsverbot der Aufwen-
        dungen=(25 Prozent – tatsächliche Ertragsteuer Prozent)/
        (25 Prozent) .
        Der Anwendungsbereich des Gesetzes erstreckt sich
        auf Tochterunternehmen und auf Betriebsstätten des je-
        weiligen Unternehmens . Erfasst werden also nur kon-
        zerninterne Lizenzzahlungen . Dabei achten wir ferner
        darauf, dass sich ein Unternehmen nicht mithilfe von
        zwischengeschalteten Gläubigern – gemeint sind kon-
        zernfremde Unternehmen, quasi Strohmänner – dem Ab-
        zugsverbot entziehen kann . All dies wird in einem neuen
        § 4j im EStG geregelt . Um Doppelbesteuerung zu ver-
        meiden, wird dieser Paragraf in den Ausnahmenkatalog
        für die Hinzurechnungsbesteuerung des AStG aufgenom-
        men .
        Wir sind dafür, dass Präferenzregime, die eine Vor-
        zugsbesteuerung erlauben, auf internationaler Ebene
        abgeschafft werden. Dabei sollten keine Ausnahmen
        gemacht werden . Die am Anti-BEPS-Projekt der OECD
        beteiligten Staaten haben sich aber leider auf eine solche
        Ausnahme verständigt . Eine steuerliche Begünstigung
        bei eigener Forschungstätigkeit im betreffenden Staat ist
        möglich . Dabei ist eine Niedrigbesteuerung von Lizenz-
        einnahmen ungeeignet, um Forschung und Entwicklung
        zu fördern . Die Begünstigung kommt viel zu spät – ex
        post –, und sie wirkt sich nur im Erfolgsfall aus . Eine
        direkte Forschungsförderung wäre viel effektiver. Diese
        Einigung bildet nun aber die Grundlage für die im Ge-
        setzentwurf enthaltene Rückausnahme von der Abzugs-
        beschränkung, wenn die Patentbox dem sogenannten Ne-
        xus-Ansatz – im Englischen Nexus Approach – entspricht,
        das heißt, wenn die Niedrigbesteuerung vom Umfang der
        eigenen Forschung und Entwicklung im Empfängerland
        abhängig gemacht wird . Die beschlossene Ausnahme für
        den Nexus-Ansatz sollte hier nur eine Übergangslösung
        auf dem Weg zu einer konsequenten Abschaffung von
        Präferenzregimen sein . In den anstehenden Gesetzesbe-
        ratungen werden wir außerdem die Begrenzung der Ab-
        zugsbeschränkung auf konzerninterne Lizenzzahlungen
        hinterfragen, denn eine schädliche Niedrigbesteuerung
        kann auch bei Lizenzzahlungen an Dritte vorliegen . Die-
        ser Gesetzentwurf ist ein Instrument, mit dessen Hilfe
        wir gegen eine Form des schädlichen Steuerwettbewerbs
        vorgehen können . Wir prüfen nun Möglichkeiten, wie
        dieses Instrument noch weitreichender und schärfer wir-
        ken kann . Immer wenn ein Steuerbürger zu wenig Steu-
        ern zahlt, bedeutet das: Andere Steuerbürger müssen zu
        viel bezahlen. Denn die öffentliche Infrastruktur wollen
        alle benutzen . Ich bin gespannt, wer in diesem Hase-Igel-
        Spiel den nächsten Zug macht .
        Richard Pitterle (DIE LINKE): Nehmen wir ein-
        mal an, es gäbe ein Möbelunternehmen mit schickem
        blau-gelben Logo und der tollen Idee, riesige Möbel-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722314
        (A) (C)
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        häuser an die Autobahnen in den Vorstädten zu bauen .
        Das Geschäft brummt, und das Unternehmen macht satte
        Gewinne . Darauf fallen hierzulande natürlich Steuern an .
        Und obwohl das Unternehmen von der gegebenen In-
        frastruktur hierzulande, der Autobahn etc . mächtig pro-
        fitiert, will es diese Steuern nicht zahlen, sondern den
        Gewinn am liebsten komplett für sich behalten . Um das
        zu erreichen, wird folgende Konstruktion gebastelt, die
        auch Lizenz- oder Patentbox genannt wird: Das Unter-
        nehmen gründet ein Tochterunternehmen in einer euro-
        päischen Steueroase wie Irland, Luxemburg oder den
        Niederlanden, wo auf den Gewinn, den wiederum das
        Tochterunternehmen macht, nur minimal Steuern anfal-
        len . Dann überträgt das große Möbelunternehmen die
        Rechte an seiner Möbelmarke auf das Tochterunterneh-
        men, und damit es die Marke weiter nutzen darf, wer-
        den Lizenzgebühren an das Tochterunternehmen gezahlt .
        Diese vom Möbelunternehmen zu zahlenden Lizenzge-
        bühren werden mit dem hierzulande erwirtschafteten
        Gewinn verrechnet, und siehe da: Das arme Möbelunter-
        nehmen macht kaum noch Plus und muss in Deutschland
        dementsprechend bedeutend weniger Steuern zahlen,
        während das Tochterunternehmen ordentlich Kasse zu
        Ministeuersätzen in der Steueroase macht . Diese dreiste
        Trickserei ist leider völlig normal bei international täti-
        gen Unternehmen . IKEA, Google oder Amazon machen
        von diesen Lizenzboxen seit Jahren Gebrauch und hei-
        zen den schädlichen internationalen Wettbewerb um die
        niedrigsten Steuersätze somit kräftig an .
        Jetzt endlich legt die Bundesregierung ein Gesetz
        vor, das diese Machenschaften bekämpfen soll . Wir von
        der Linken haben das schon lange gefordert und freuen
        uns, dass die Bundesregierung hier zumindest mal einen
        Schritt in die richtige Richtung zustande bringt . Kern des
        Gesetzes ist grob gesagt, dass die oben beschriebenen
        Lizenzaufwendungen hierzulande nicht mehr vollständig
        von der Steuer abgesetzt werden können, wenn der Emp-
        fänger sie mit weniger als 25 Prozent versteuern kann
        und wie im obigen Beispiel ein entsprechendes Nähever-
        hältnis zum zahlenden Unternehmen besteht . Inwiefern
        das Gesetz im Detail noch nachgebessert werden muss,
        wird sich in den kommenden Beratungen im Finanzaus-
        schuss zeigen . Eines ist jedoch jetzt schon klar: Die gro-
        ße Koalition hat ihrem Ruf als Koalition des Stillstands
        im Kampf gegen Steuerumgehung wieder alle Ehre ge-
        macht . Bereits in ihrem Koalitionsvertrag haben Union
        und SPD großspurig angekündigt, man wolle „sicherstel-
        len, dass der steuerliche Abzug von Lizenzaufwendungen
        mit einer angemessenen Besteuerung der Lizenzerträge
        im Empfängerland korrespondiert .“ Das war Ende 2013 .
        Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD,
        was haben Sie in den letzten drei Jahren eigentlich ge-
        macht? Jedes Jahr muss die Gemeinschaft der Steuerzah-
        lerinnen und Steuerzahler auf Milliarden verzichten, weil
        Sie es nicht schaffen, entschlossen und zügig zu handeln.
        Und bevor Sie nun wieder mit der Ausrede kommen, dass
        Sie auf die Mitwirkung auf europäischer und internatio-
        naler Ebene angewiesen wären, werfen wir noch einmal
        einen kurzen Blick in Ihren Koalitionsvertrag . Da steht
        im selben Absatz, dass Sie „in Deutschland erforderli-
        chenfalls gesetzgeberisch voranschreiten“ würden . Vom
        Voranschreiten kann keine Rede mehr sein, im Gegenteil,
        Sie schleichen hinterher .
        Auf internationaler Ebene wurde inzwischen verein-
        bart, schädliche Lizenzboxregelungen bis Mitte 2021 ab-
        zuschaffen, danach ist das vorliegende Gesetz aller Vor-
        aussicht nach nahezu wirkungslos . Böse Zungen könnten
        also behaupten, die große Koalition hätte den Kampf
        gegen Lizenzboxen so lang wie möglich hinausgezögert,
        um die Megakonzerne so wenig wie möglich mit lästigen
        Steuerforderungen zu behelligen . Für die Linke ist dieses
        Schneckentempo bei der Bekämpfung solcher Gewinn-
        verlagerungskonstruktionen zur Steuerumgehung jeden-
        falls nicht hinnehmbar . Steuern müssen grundsätzlich da
        gezahlt werden, wo die Wertschöpfung stattfindet, und
        das muss auch gegen mächtige internationale Konzerne
        konsequent durchgesetzt werden .
        Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Die Bundesregierung bringt heute einen Gesetz-
        entwurf mit dem Kurztitel „Gesetz gegen schädliche
        Steuerpraktiken“ ein . Ich begrüße diese Initiative der
        Bundesregierung sehr . Denn Maßnahmen gegen „schäd-
        liche Steuerpraktiken“ – und das ist eine vornehme Be-
        schreibung der Tatsache, dass sich viele international
        tätige Unternehmen einer fairen Besteuerung entziehen –
        sind überfällig . Es ist im Übrigen erschütternd, dass die
        Bundesregierung und die Koalition dieses wichtige The-
        ma an den äußersten Rand im Plenum schieben . Nachts
        um 3 Uhr 20 eine solche Debatte anzusetzen, zeigt sehr
        deutlich, dass die Bundesregierung offensichtlich verhin-
        dern will, dass dieses wichtige Thema in der Öffentlich-
        keit diskutiert wird . Vielleicht auch deshalb, weil dieser
        Gesetzentwurf viel zu spät kommt und man die Kritik
        scheut . Denn die richtige Wirkung hätte dieses Gesetz
        vor zwei Jahren erzielt – um nämlich mehr Druck aus-
        zuüben zur Schaffung einer internationalen Vereinbarung
        gegen schädliche Steuerpraktiken . Schon vor zwei Jah-
        ren hatte England die sogenannte Lizenzbox eingeführt
        und war damit dem Beispiel von Luxemburg oder auch
        den Niederlanden gefolgt . Mit mehr Druck vonseiten
        Deutschlands hätte im Rahmen der OECD eine Regelung
        gefunden werden können, die zeitnah und wirksam die
        Steuerschlupflöcher auf der Basis von Lizenzzahlungen
        schließt . Und wir wissen doch seit mehreren Jahren, dass
        vor allem US-amerikanische IT-Konzerne mit diesem
        Werkzeug sich einer angemessenen Steuerzahlung in
        vielen europäischen Ländern entziehen .
        Lassen Sie mich das Thema etwas näher beleuchten .
        Es ist bekannt, dass der Steuerwettbewerb in den ver-
        gangenen Jahren eher zu- als abgenommen hat . Dieser
        „Wettbewerb“ wird nicht nur über Steuersätze ausgetra-
        gen, sondern auch über die Frage, welche Einkünfte in
        welcher Höher in die Steuerbemessungsgrundlage ein-
        fließen. In Europa sind unter dem Deckmantel der For-
        schungsförderung in vielen Staaten sogenannte Lizenz-
        boxen eingeführt worden . In einer Lizenzbox werden
        Einkünfte aus immateriellen Vermögensgegenständen,
        wie zum Beispiel Patenten, besonders niedrig besteuert .
        Mit Lizenzzahlungen in ein solches Sondersteuerregime
        können internationale Konzerne ihre Gewinne gezielt
        dort anfallen lassen, wo die Staaten Steuervergünstigun-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22315
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        gen anbieten, und so ihre Gesamtsteuerbelastung mini-
        mieren . Wenn also die Firma Fiat ihren Hauptsitz in die
        Niederlande und den Steuersitz nach England verlegt,
        dann sicher nicht deshalb, weil in den Niederlanden
        so perfekt italienisch gesprochen wird oder in England
        viele italienische Designer arbeiten . Oder Starbucks,
        das ein Tochterunternehmen in den Niederlanden grün-
        det – aber nicht, um Kaffee auszuschenken, sondern um
        als Auffangbecken für Lizenzzahlungen zu dienen. Dies
        geht nicht nur zulasten des deutschen bzw . nationalen
        Steueraufkommens, sondern schadet auch dem Wettbe-
        werb, weil Konzerne sich damit gegenüber nationalen
        Konkurrenten einen Kostenvorteil erschleichen . Es soll-
        te doch selbstverständlich sein, dass dem Staat, in dem
        die Wertschöpfung stattfindet, auch ein fairer Anteil des
        Steuersubstrats zusteht . Aus diesem Steueraufkommen
        finanziert der Staat schließlich nicht nur Infrastruktur
        und Bildung, sondern garantiert auch Rechtssicherheit .
        Allesamt wichtige Grundvoraussetzungen für erfolgrei-
        che Unternehmen . Staaten, die mit dem höchsten Steu-
        errabatt ausländische Unternehmen anlocken wollen,
        handeln unsolidarisch und untergraben sich gegenseitig
        die Finanzierungsbasis ihrer Gemeinwesen . Leider gibt
        es diesen schädlichen Steuerwettbewerb auch in Europa .
        Die internationalen Bemühungen im Rahmen des
        BEPS-Projektes haben nicht zu einer ausreichenden Ein-
        dämmung des Problems der Gewinnverschiebung ge-
        führt . Zwar hat man sich bei der OECD und in der G 20
        darauf geeinigt, dass zukünftig nur noch Lizenzzahlun-
        gen zu begünstigen sind, die dem sogenannten modifi-
        zierten Nexus-Ansatz entsprechen . So soll eine begüns-
        tigte Besteuerung nur noch dann gewährt werden, wenn
        die zugrunde liegende Forschungs- und Entwicklungstä-
        tigkeit vom steuerpflichtigen Tochterunternehmen selbst
        ausgeführt wird . Allerdings gestatten die vereinbarten
        Übergangsfristen eine Beibehaltung der bisherigen Sys-
        teme bis zum Juni 2021 . Da die Lizenzzahlungen in Län-
        dern der Europäischen Union und des EWR nicht mit
        einer Quellensteuer belegt werden können, weil die Zins-
        und Lizenzrichtlinie dies verbietet, ist es notwendig, dass
        Deutschland zeitnah und konsequent nationale Abwehr-
        maßnahmen gegen die Gewinnverlagerung ergreift, um
        den Anreizsystemen anderer Staaten zu begegnen und
        kurzfristig das inländische Besteuerungssubstrat zu si-
        chern sowie langfristig jenen Staaten entgegenzuwirken,
        welche die Beschränkung auf den Nexus-Ansatz nicht
        einhalten .
        Die im Gesetzentwurf der Bundesregierung vorge-
        sehene erstmalige Anwendung der Lizenzschranke ab
        dem Jahr 2018 kommt nach meiner Bewertung deutlich
        zu spät . Wir werden im weiteren parlamentarischen Ver-
        fahren die Möglichkeit einer rückwirkenden Anwendung
        ab dem 1 . Januar 2017 prüfen . Wir müssen in Europa
        stärkeren Druck ausüben und uns intensiv mit der Frage
        auseinandersetzen, wie das Steuerdumping schnell und
        effektiv beendet werden kann.
        Ich möchte zum Schluss betonen, dass Lizenzzah-
        lungen an fremde Dritte auch zukünftig weiter unein-
        geschränkt abzugsfähig gestellt werden sollen, um
        wirtschaftlich notwendige Geschäftsabläufe nicht zu
        behindern . Dies ist wichtig zu erwähnen, weil in der Öf-
        fentlichkeit fälschlicherweise der jetzt vorliegende Ge-
        setzentwurf mit Blick auf die nicht unerheblichen, aber
        gerechtfertigten und vom Gesetz gar nicht betroffenen
        Lizenzzahlungen zwischen unabhängigen Unternehmen
        diskreditiert wird .
        Dr. Michael Meister, Parl. Staatssekretär beim Bun-
        desminister der Finanzen: Vor gut einem halben Jahr
        habe ich Ihnen an dieser Stelle den Entwurf des Amtshil-
        ferichtlinien-Umsetzungsgesetzes vorgestellt . Mit jenem
        Gesetz, das zwischenzeitlich im Bundesgesetzblatt ver-
        öffentlicht ist, haben wir einen ersten großen Schritt zur
        Umsetzung der Maßnahmen aus dem BEPS-Projekt von
        OECD und G 20 gegen steuerlich motivierte Gewinnver-
        lagerungen getan . Schon damals hatte ich angekündigt,
        dass wir im Kontext des BEPS-Projekts klug analysieren
        müssen, wo noch konkreter Handlungsbedarf besteht .
        Und ich habe auch gesagt, dass wir, wenn wir einen sol-
        chen Handlungsbedarf festgestellt haben, dazu auch ge-
        setzgeberische Vorschläge machen werden .
        Einen weiteren Schritt hin zu mehr Steuergerechtig-
        keit haben wir dann jüngst mit dem Steuerumgehungs-
        bekämpfungsgesetz getan . Nach Bekanntwerden der
        sogenannten Panama-Papers haben wir kurzfristig ei-
        nen Gesetzentwurf erarbeitet, der im Februar hier in der
        ersten Lesung war . Mit dem Steuerumgehungsbekämp-
        fungsgesetz wollen wir die Grundlage dafür schaffen,
        dass Steuerpflichtige künftig nicht mehr mithilfe soge-
        nannter Briefkastenfirmen steuerliche Tatbestände ver-
        heimlichen können .
        Diesen eingeschlagenen Weg zu mehr Steuergerech-
        tigkeit setzen wir mit dem jetzt vorliegenden Gesetz ge-
        gen schädliche Steuerpraktiken im Zusammenhang mit
        Rechteüberlassungen konsequent fort . Anlass für das Ge-
        setz ist, dass in der jüngeren Vergangenheit immer mehr
        Staaten sogenannte Patent- oder Lizenzboxregime ein-
        geführt haben . Diese werden von multinationalen Unter-
        nehmen in hohem Maße genutzt, um Gewinne in solche
        Staaten zu verlagern und dadurch Steuern zu vermeiden .
        Die Patent- oder Lizenzboxen mögen sich im Detail von
        Staat zu Staat unterscheiden . Eines haben diese Boxen
        jedoch stets gemeinsam: Einnahmen aus der Überlassung
        von Lizenzen, Patenten, Marken oder anderen Rechten
        werden entweder gar nicht oder sehr niedrig besteuert .
        OECD und G 20 haben im Rahmen des BEPS-Projekts
        die bestehenden Lizenzboxen analysiert .
        Dabei wurde festgestellt, dass keine einzige dieser Bo-
        xen den Kriterien des sogenannten Nexus-Ansatzes ent-
        spricht, der als Maßstab für eine zulässige Maßnahme im
        internationalen Steuerwettbewerb angesehen wird . Die
        steuerliche Folge der Nutzung einer Lizenzbox ist: Die
        Lizenzaufwendungen, die der Schuldner für die Nutzung
        des Rechts hat, können von diesem im einen Staat, zum
        Beispiel in Deutschland, als Betriebsausgaben abgezo-
        gen werden . Die korrespondierenden Einnahmen werden
        aber im anderen Staat – dem Lizenzboxstaat – entweder
        gar nicht oder nur niedrig besteuert . Konzerne, die schäd-
        liche Lizenzboxen nutzen, erzielen dadurch einen erheb-
        lichen Wettbewerbsvorteil gegenüber Unternehmen, die
        solche Boxen nicht nutzen . Diesen Zustand wollen wir
        nicht länger hinnehmen . Künftig sollen daher Zahlungen,
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722316
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        die ein Unternehmen in ein schädliches – weil nicht dem
        Nexus-Ansatz entsprechendes – Lizenzboxregime leis-
        tet, nur noch beschränkt als Betriebsausgaben abgezogen
        werden können . Der Nexus-Ansatz besagt vereinfacht,
        dass die Staaten Steuervergünstigungen durch Lizenz-
        boxen nur dann gewähren dürfen, wenn das zugrunde
        liegende Recht der Lizenzaufwendungen auch in diesem
        Staat geschaffen wurde. Ist dies der Fall, wird die Lizenz-
        box nach internationalem Verständnis nicht als schädlich
        eingestuft . Solche Lizenzboxen haben wir daher bewusst
        von unserer Regelung ausgeklammert . Unsere Regelung
        ergänzt und flankiert somit die internationalen Vereinba-
        rungen, die wir im BEPS-Projekt getroffen haben. Uns
        war wichtig, eine ausgewogene Regelung zu schaffen,
        die einerseits geeignet ist, als schädlich einzustufende
        Gestaltungen effektiv zu verhindern, andererseits aber
        möglichst zielgenau wirkt und keine unnötigen Belas-
        tungen für die ganz große Mehrheit der Steuerpflichtigen
        mit sich bringt, die solche Gestaltungen nicht nutzen .
        Von der Beschränkung der Abzugsfähigkeit werden da-
        her ausschließlich Zahlungen für Rechteüberlassungen
        erfasst, die in ein Lizenzboxregime fließen, das die fol-
        genden drei Kriterien kumulativ erfüllt:
        Erstens . Die Zahlung wird beim Empfänger abwei-
        chend von der Regelbesteuerung besteuert .
        Zweitens . Die Zahlung wird beim Empfänger niedrig
        besteuert, das heißt unter 25 Prozent .
        Drittens . Das Lizenzboxregime ist als schädlich ein-
        zustufen, weil es nicht dem auf OECD-Ebene vereinbar-
        ten Nexus-Ansatz entspricht .
        Sind alle diese Voraussetzungen sowie die weiteren
        Tatbestandsmerkmale erfüllt, gilt Folgendes: Je nied-
        riger die Belastung beim Gläubiger ist, desto niedriger
        soll künftig auch die steuerliche Abziehbarkeit der Auf-
        wendungen beim Schuldner sein . Dagegen bleiben Auf-
        wendungen für Rechteüberlassungen vollumfänglich
        abzugsfähig, wenn die ausländische Präferenzregelung
        dem Nexus-Ansatz entspricht . Das heißt auch: Unterneh-
        men, die keine Gestaltungen mit schädlichen Lizenzbo-
        xen durchführen, werden durch die Regelung keinerlei
        Mehrbelastung erfahren .
        Wir haben damit eine möglichst zielgenaue, ausgewo-
        gene und verhältnismäßige Regelung vorgelegt, die einer
        ungerechtfertigten Verlagerung von Besteuerungssubst-
        rat ins Ausland entgegenwirkt und eine faire Besteuerung
        sicherstellt .
        Ich würde mich freuen, wenn Sie auch diesen Ge-
        setzentwurf mit Wohlwollen beraten . Wir sind davon
        überzeugt, dass er ein guter Beitrag dazu ist, die Steuer-
        gerechtigkeit und damit auch die Akzeptanz von Steuer-
        zahlungen in diesem Land zu heben .
        Anlage 14
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
        gebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur
        Änderung des Kraftfahrzeugsteuergesetzes (Ta-
        gesordnungspunkt 34)
        Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU): Mit der Ein-
        führung eines neuen Messverfahrens zur Ermittlung
        von Emissionswerten bei Autos schlagen wir ein neu-
        es Kapitel im Verkehrsrecht auf . Durch das sogenannte
        WLTP-Verfahren (Worldwide Harmonized Light-Du-
        ty-Vehicles Test Procedure) werden wir zukünftig reali-
        tätsnähere CO2-Emissionswerte im Zuge der Ermittlung
        von Abgasemissionen erhalten .
        Die Einführung dieser weltweit harmonisierten
        Testprozedur vollziehen wir durch die Änderung des
        Kraftfahrzeugsteuergesetzes, das wir heute debattie-
        ren . Das neue WLTP-Verfahren löst das bisher geltende
        NEFZ-Verfahren (Neuer Europäischer Fahrzyklus) ab .
        Im Gegensatz zum NEFZ-Verfahren, bei dem die
        Emissionswerte der Autos unter „Laborbedingungen“ er-
        mittelt werden, wird das WLTP-Verfahren unter realitäts-
        nahen Bedingungen die Emissionswerte messen . Wobei
        diese Realitätsnähe natürlich differenziert zu betrachten
        ist, da der tatsächlich CO2-Ausstoß auch immer vom per-
        sönlichen Fahrverhalten abhängt .
        Realitätsnähe heißt also: So wie ein Auto tatsächlich
        im Straßenverkehr genutzt wird, so wird auch der Emis-
        sionsausstoß gemessen: kein erhöhter Reifendruck, keine
        abgebauten Außenspiegel zur Reduzierung des Luftwi-
        derstandes, kein leerer Tank, keine ausgebaute Klimaan-
        lage .
        Ab dem 1 . September 2018 gilt: Für jedes zum Stra-
        ßenverkehr neu zugelassene Auto ist die Abgasmessung
        mit dem neuen WLTP-Verfahren verpflichtend. Alle an-
        deren Autos auf unseren Straßen, die vor diesem Stichtag
        zugelassen wurden, haben aber natürlich Bestandsschutz .
        Eine grundlegende Erneuerung, die mit dem neuen
        Messverfahren einhergeht, ist also auch das Zulassungs-
        verfahren . Werden Fahrzeuge bisher „autobezogen“ zu-
        gelassen, wird es in Zukunft zu einer „typenbezogenen“
        Zulassung kommen .
        Demnach wird es nicht mehr nur eine Rolle spielen,
        ob man einen Golf, eine S-Klasse oder einen Corsa fährt,
        sondern welche konkreten Besonderheiten das Fahrzeug
        aufweist: mit oder ohne Klimaanlage? Schmale oder
        breite Reifen? Wie viele Airbags? Wie viel Hubraum?
        Innerhalb eines Autotyps wird es perspektivisch zu ei-
        ner Bildung von „Familien“ kommen . Denn, und das ist
        nicht neu, nicht jeder Golf ist gleich . In der Konsequenz
        heißt das: Nicht nur der Prüfzyklus wird kleinteiliger,
        auch die Zulassung von Fahrzeugen wird differenzierter.
        Nach der Veröffentlichung des Gesetzentwurfes
        waren die ersten – empörten – Reaktionen: Das neue
        Messverfahren führe zu einer versteckten Erhöhung der
        Kfz-Steuer . Schnell war man sich einig, dass dies Betrug
        am Wähler sei . Denn die Kfz-Steuer wird von der Ände-
        rung der Testprozedur beeinflusst, da die CO2-Emissio-
        nen eine wesentliche Komponente bei der Ermittlung der
        Höhe der Kfz-Steuer sind .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22317
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        Weil hier oft Fakten durcheinandergeraten, möchte ich
        folgende Punkte klarstellen .
        Erstens . Der vorliegende Gesetzentwurf regelt aus-
        schließlich die Einführung eines neuen Messverfahrens
        im Verkehrsrecht . Die konkrete technische Ausgestal-
        tung des Messverfahrens – die im Übrigen noch gar
        nicht endgültig feststeht; auch das könnte man kriti-
        sieren – wird hingegen über eine unmittelbar wirkende
        EU-Verordnung ins deutsche Recht implementiert . Diese
        Verordnung beschreibt dann genau, wie der Testzyklus
        auszusehen hat . Wir als Gesetzgeber haben darauf keinen
        Einfluss.
        Die Verordnung kommt aller Voraussicht nach im Mai
        2017 . Ab dann gilt prinzipiell auch die Anwendung des
        WLTP-Verfahrens bei Neufahrzeugen .
        Um bei Käufern und Herstellern Planungs- und
        Rechtssicherheit zu schaffen und die Gleichmäßigkeit
        der Besteuerung sicherzustellen, ist der Stichtag zur An-
        wendung des neuen Messverfahrens zur Ermittlung der
        CO2-Werte für die Besteuerung aber erst der 1 . Septem-
        ber 2018 .
        Klarzustellen ist: Bestandsfahrzeuge bleiben unange-
        tastet .
        Zweitens . Anzunehmen ist, dass das neue Messver-
        fahren andere, realitätsnähere CO2-Werte zutage fördern
        wird, als es das NEFZ-Verfahren bisher tut . Das ist die
        klare Absicht dieser Verfahrensumstellung .
        Wissenschaftlichen Einschätzungen zufolge werden
        die Messergebnisse des WLTP-Verfahrens einen um
        15 Prozent höher liegenden CO2-Ausstoß nachweisen .
        Im Vorhinein können jedoch weder Aussagen über er-
        wartete CO2-Werte gemacht, noch kann die dadurch zu
        erwartende Höhe der Kfz-Steuer prognostiziert werden .
        Denn für welches Fahrzeug sich die Käufer in Zukunft
        entscheiden, das wissen wir heute nicht .
        Was ich an dieser Stelle aber anmerken möchte: Als
        Neuwagenkäufer treffe ich eine ganz bewusste Entschei-
        dung für oder gegen ein CO2-armes Auto . Je nachdem,
        wie meine Entscheidung ausfällt, beeinflusst das natür-
        lich auch die Höhe der Kfz-Steuer .
        Wir setzen mit diesem Gesetz also auch einen ganz
        klaren Anreiz, sich für ein emissionsarmes Fahrzeug zu
        entscheiden .
        Drittens . Das vorliegende Gesetz bringt ausdrücklich
        keine Steuersatzerhöhung mit sich . Was sich ändert, ist
        ausschließlich die Bemessungsgrundlage der Kfz-Steuer,
        und auf die, so habe ich es ausgeführt, haben wir keinen
        Einfluss.
        Eine realitätsnähere Ermittlung des Emissionsaussto-
        ßes bei Autos auf EU-Ebene wird im Übrigen auch nicht
        erst seit dem VW-Abgasskandal forciert . Es gab auch im
        Vorfeld dieses Ereignisses immer wieder Diskussionen
        über eine Veränderung von Messzyklen .
        Abschließend möchte ich noch kurz auf den sehr in
        Verruf geratenen Diesel zu sprechen kommen . Mit Blick
        auf die massive Vertrauenskrise, ausgelöst durch VW,
        haben wir durch das neue Messverfahren auch die Chan-
        ce, Vertrauen zurückzugewinnen . Die Dieseltechnologie
        bleibt ein wichtiges Modul in der Motorenfamilien; denn
        am Ende zählt die Summe aller Emissionen, und dabei
        spielt natürlich auch der niedrigere Verbrauch pro km
        eine wichtige Rolle . Und genau hier liegt auch eine wirk-
        liche Chance, die hochinnovative deutsche Dieseltechno-
        logie wieder nach vorne zu bringen .
        Abschließend möchte ich festhalten:
        Erstens . Unser Ziel, mit der Kfz-Steuer eine Len-
        kungswirkung zu erreichen und kleinere und emissi-
        onsarme Fahrzeuge zu bevorteilen, wird mit dem neuen
        Messverfahren weiter verstärkt .
        Zweitens . Wie sich das Aufkommen der Kfz-Steuer
        tatsächlich entwickelt, haben Sie in der Hand, die Käufer
        neuer Fahrzeuge, je nachdem wofür Sie sich entscheiden .
        Sie haben die Freiheit und damit auch die Verantwortung .
        Drittens . Unser wirtschaftspolitisches Leitziel gilt wei-
        ter: Deutschland soll ein attraktiver Standort für moderne
        Fahrzeugtechnologien bleiben – für die Fahrer ebenso
        wie für die Autohersteller und ihre Technologiezulieferer .
        Dafür werden wir uns auch weiter einsetzen .
        Andreas Schwarz (SPD): Mit der Verabschiedung
        dieses Gesetzentwurfs etablieren wir ein neues Prüfver-
        fahren zur Ermittlung der Abgaswerte für Personenkraft-
        wagen und setzen damit eine Vorgabe der EU um . Dieses
        neue Verfahren WLTP, Worldwide Harmonized Light
        Duty Test Procedure, wird genauere bzw . realistischere
        Daten liefern als die alte Messmethode NEFZ, Neuer
        Europäischer Fahrzyklus, die von den realistischen Fahr-
        bedingungen im Alltag offenkundig stark abweicht. Wir
        begrüßen das, denn bislang lag der tatsächliche Kraft-
        stoffverbrauch eines Fahrzeugs teilweise deutlich höher
        als der vom Hersteller angegebene Normverbrauch . Hier
        musste endlich etwas unternommen werden .
        Das Bekanntwerden der Abgasmanipulation bei
        Volkswagen mag diesen Prozess beschleunigt haben, die
        Forderung nach realistischeren Messergebnissen wird
        aber bereits seit Jahren erhoben . Sowohl von der Autoin-
        dustrie als auch den Umweltschützern .
        Wir führen das WLTP-Verfahren schrittweise ein, damit
        sich die Autofahrerinnen und Autofahrer darauf vorbe-
        reiten können . Die Anwendung der neuen WLTP-Norm
        gilt hier in Deutschland für neu zugelassene Fahrzeuge
        erst ab dem 1 . September 2018 . Und da auch erst einmal
        nur für Modelle, die ab September 2017 etwa nach einem
        Modellwechsel eine neue Typgenehmigung benötigen .
        So weit, so gut . Wir nähern uns den Tretminen .
        Wie ist es denn um die Einnahmeseite bestellt? Was
        kommt auf die Bürgerinnen und Bürger zu? Viele Fach-
        leute gehen inzwischen davon aus, dass durch das neue
        Messverfahren der gemessene CO2-Ausstoß so sehr
        ansteigt, dass folglich auch für viele Fahrzeuge die
        Kfz-Steuer ansteigen wird . In unserem Berichterstatter-
        gespräch wurde auf meine Nachfrage hin, ob und wenn
        ja, in welcher Höhe es durch das neue Prüfverfahren zu
        Mehrbelastungen für die Autofahrerinnen und Autofah-
        rer kommen könnte, vom BMF erklärt, man könne zum
        jetzigen Zeitpunkt schlicht noch keine verlässlichen
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722318
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        Aussagen darüber treffen, ob die Umstellung des Prüf-
        verfahrens generell zu höheren Belastungen führe . Es sei
        möglich, dass die Kfz-Steuer bei einigen Fahrzeugtypen
        steige, bei anderen wiederum sinke . Das überraschte et-
        was, denn der Referentenentwurf hatte dem Fiskus im
        Zeitraum von 2018 bis 2022 noch Mehrreinnahmen in
        Höhe von circa 1,1 Milliarden Euro prognostiziert . Das
        BMF meint also, das Steueraufkommen sei zum gegen-
        wärtigen Zeitpunkt nicht seriös zu beziffern.
        Ist diese Berechnung in dem vorliegenden Gesetzentwurf
        möglicherweise nicht mehr enthalten, weil sich damit
        das eigene Mantra „Mit uns keine Steuererhöhungen“
        leicht in Luft auflöst? Jedenfalls darf man sich schon
        fragen, warum beispielsweise Einnahmeprognosen zur
        Maut erstellt werden konnten, für die Einführung des
        WLPT-Verfahrens aber nicht . Im bisherigen Verlauf des
        Gesetzgebungsverfahrens habe ich mich maßgeblich da-
        für eingesetzt, dass ein Jahr nach Inkrafttreten überprüft
        wird, ob man eventuell gegensteuern muss . Nur so kön-
        nen wir mögliche Fehlentwicklungen korrigieren .
        Sabine Leidig (DIE LINKE): Mit der vorgelegten
        Änderung am Kfz-Steuer-Gesetz macht die Bundesre-
        gierung nicht mehr, als unbedingt notwendig . Es geht
        darum, dass die KfZ-Steuer künftig an die weltweit har-
        monisierte Testprozedur WLTP für Abgasmessung ange-
        passt wird .
        Dazu drei kritische Anmerkungen:
        Erstens . Es ist absurd, dass nach dem neuen Fahrzyk-
        lus die CO2-Emissionen höher liegen dürften als bisher .
        Das ist offenbar dem Einfluss der Bundesregierung zu
        „verdanken“, die wiederum unter massivem Einfluss der
        Automobilindustrie steht – und das dient nicht dem Woh-
        le der Allgemeinheit .
        Zweitens . Immerhin werden künftig nicht mehr die
        manipulierten Werte der „Prüfstände“ Grundlage der
        Kfz-Steuer-Bemessung sein, sondern Messmethoden, die
        dem wirklichen Schadstoffausstoß näher kommen – und
        der ist ja erheblich höher als angegeben .
        Als Stichtag für die neue CO2-Messung ist der
        1 . September 2018 zwingend vorgegeben . Allerdings
        werden neue Fahrzeugtypen bereits ein Jahr vorher ent-
        sprechend gemessen . Für die könnte man also auch vor-
        her schon die neue Kfz-Steuer einführen . Das ist aber
        nicht gewollt . Aber warum nicht?!
        Drittens . Die Bundesregierung behauptet, es ergäben
        sich „keine haushalterischen Auswirkungen .“ Das ist al-
        lerdings wirklich falsch . Klar, die neue Kfz-Steuer kostet
        nichts . Aber dass seit Jahren und noch weiter auf die Be-
        steuerung nach tatsächlichem Verbrauch/CO2-Ausstoß
        verzichtet wird, das führte und führt weiterhin zu erheb-
        lichen Einnahmeausfällen .
        Im Auftrag der Linksfraktion im Bundestag hat das
        „Forum ökologisch-soziale Marktwirtschaft“ eine Studie
        erstellt und kommt zu folgenden Ergebnissen:
        Die auf dem Prüfstand im Labor gemessenen Typ-
        prüfwerte zum Ausstoß von Kohlenstoffdioxid, CO2 und
        Stickstoffoxiden, NOx von Pkw wichen in den vergange-
        nen Jahren immer gravierender von tatsächlich auf der
        Straße festgestellten Emissionen ab . Dies hat Auswir-
        kungen auf Verbraucherinnen und Verbraucher, Wettbe-
        werb, Politik, Umwelt, Klima und Gesundheit .
        Weniger beachtet sind die Auswirkungen auf die
        Kraftfahrzeugsteuer aufgrund der verfälschten Bemes-
        sungsgrundlage sowie zu Unrecht gewährter Steuer-
        befreiungen, die im Rahmen dieser Studie quantifiziert
        werden . Allein die Mindereinnahmen aufgrund nicht dem
        Realverbrauch auf der Straße entsprechender CO2-Anga-
        ben in den Herstellerbescheinigungen werden für den
        Zeitraum 2010 bis 2015 auf rund 3,3 Milliarden Euro
        geschätzt . Es ist davon auszugehen, dass dieser Betrag
        in den kommenden Jahren deutlich und beschleunigt zu-
        nehmen wird, falls keine Gegenmaßnahmen eingeleitet
        werden sollten . Die Mindereinnahmen durch Steuerbe-
        freiungen, die vermeintlich schadstoffarmen Fahrzeugen
        der Klasse Euro 6 aufgrund unzutreffender NOx-Werte zu
        Unrecht gewährt wurden, belaufen sich auf etwa 10 bis
        18 Millionen Euro .
        Der systematische Betrug durch die Spitzen der Auto-
        mobilkonzerne, der von der Bundesregierung ermöglicht
        wurde, kommt die Allgemeinheit also in jeder Hinsicht
        teuer zu stehen . Es ist höchste Zeit, die Verantwortlichen
        zur Rechenschaft zu ziehen und für den Schaden zur
        Kasse zu bitten .
        Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wenn der
        Untersuchungsausschuss „Abgasskandal“ eines zutage
        gefördert hat, dann, dass die VW-Affäre nur die Spitze
        eines Eisbergs ist . Ein Eisberg, der tief in Politik und Au-
        tomobilwirtschaft reicht . Auch abgesehen von dem vor-
        sätzlichen Betrug durch den Einbau illegaler Abschaltein-
        richtungen, haben wir ein ganz grundsätzliches Problem
        mit dem aktuellen Testverfahren – dem Neuen Europä-
        ischen Fahrzyklus, NEFZ . Das aktuelle Testverfahren
        NEFZ misst falsch . Das Fahrverhalten und die äußeren
        Bedingungen im Labor – Beschleunigung, Schaltverhal-
        ten, die motorfreundliche Umgebungstemperatur – ent-
        sprechen nicht der Beanspruchung auf der Straße . Zudem
        bietet NEFZ den Automobilherstellern zahlreiche – le-
        gale und illegale – Schlupflöcher, um die Autos für den
        Test zu optimieren: rollwiderstandsoptimierte, schmalere
        Autoreifen; abgeklebte Autoteile für eine bessere Aero-
        dynamik; abgeschaltete Klimaanlagen und Navigations-
        systeme; moderne Software, die erkennt, wann sie sich
        auf dem Prüfstand befindet. Der Fantasie der Automo-
        bilhersteller wird derzeit leider kaum Grenzen gesetzt,
        um Kraftstoffverbrauch und CO2-Emissionen künstlich
        niedrig zu halten . Deswegen weichen die im Realbetrieb
        gemessenen CO2-Emissionen systematisch von den im
        NEFZ gemessenen Laborwerten ab . Und der Abstand
        wird immer größer . Das ergeben die Studien des Inter-
        national Council on Clean Transportation, ICCT . 2014
        lag die Differenz zwischen den CO2-Emissionen im
        Realverkehr und den im NEFZ gemessenen Werten bei
        durchschnittlich 40 Prozent . 2001 lag dieser Wert noch
        bei rund 8 Prozent .
        Das ist ein Problem für die Verbraucherinnen und
        Verbraucher, denn sie werden durch unrealistische Ver-
        brauchswerte getäuscht und in ihrer Kaufentscheidung
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22319
        (A) (C)
        (B) (D)
        beeinflusst. Das ist ein Problem für die Umwelt, denn
        durch die falschen Angaben werden die Gesundheits-
        und Umweltkosten des Pkw-Verkehrs verschleiert und
        die europäischen Grenzwerte für Pkw-CO2-Emissionen
        konterkariert .
        Das sollte aber auch den Finanzminister umtreiben .
        Seit dem 1 . Juli 2009 wird die Kfz-Steuer nämlich nach
        dem CO2-Ausstoß berechnet. Durch die Differenz zwi-
        schen Realität und Laborwert entgingen dem Fiskus laut
        Berechnungen des Forums Ökologisch-Soziale Markt-
        wirtschaft, FÖS, allein für den Zeitraum 2010 bis 2015
        Steuereinnahmen in Höhe von 3,3 Milliarden Euro . Wir
        müssen uns auch die Frage stellen, inwiefern hier durch
        falsche Angaben seitens der Automobilhersteller syste-
        matisch Steuerhinterziehung betrieben wird und wurde .
        Im Zuge der Aufarbeitung des VW-Skandals ließ das
        Bundesverkehrsministerium die gesundheitsschädlichen
        Stickoxidemissionen von 53 Fahrzeugtypen prüfen .
        Im Abschlussbericht wurde festgestellt, dass nicht nur
        VW, sondern die gesamte Branche manipuliert hat . Im
        Zuge der Abgastests hat das Verkehrsministerium auch
        CO2-Emissionen auf Prüfstand und Straße ermitteln las-
        sen . Die CO2-Emissionen wurden in diesem Bericht aber
        nicht veröffentlicht mit dem Verweis, dass die Untersu-
        chungen noch nicht abgeschlossen sind und zu einem
        späteren Zeitpunkt in einem eigenen CO2-Prüfbericht
        veröffentlicht würden. Das war im April 2016, und wir
        warten immer noch auf die Ergebnisse .
        Es ist mir unverständlich, warum der Finanzminister
        hier nicht mehr Druck auf seinen Kollegen Verkehrs-
        minister ausübt . Warum Herr Schäuble Herrn Dobrindt
        nicht auffordert, die Ergebnisse der Nachmessungen zu
        veröffentlichen. Denn die wären doch eine gute Grundla-
        ge für das Finanzministerium, Berechnungen über mögli-
        che Nachforderungen anzustellen . Nachforderungen, die
        sich aus manipulierten CO2-Werten für die KfZ-Steuer
        ergeben . Sie können sich schon mal darauf einstellen,
        dass ich da im Finanzausschuss nachhaken werde .
        Angesichts der unrealistischen CO2-Werte des NEFZ
        ist es natürlich zu begrüßen, dass das alte Prüfverfah-
        ren durch die Einführung eines neuen ersetzt wird: die
        weltweit harmonisierte Testprozedur zur Ermittlung der
        Abgasemissionen, kurz WLTP . Das neue Testverfahren
        WLTP beruht auf realen Fahrstatistiken . Es macht auch
        strengere Vorgaben, beispielsweise in Bezug auf die in-
        dividuelle Ausstattung des Fahrzeuges oder die Testbe-
        dingungen . Allerdings gilt die realistischere Berechnung
        nach WLPT nur für neu zugelassene Fahrzeuge . Für die
        circa 40 Millionen Bestandsfahrzeuge ändert sich nichts .
        Außerdem ist leider auch das neue Verfahren WLPT
        nicht vor Manipulationen gefeit . Deshalb fordern wir
        Grüne: Die Tests müssen von wirklich unabhängigen
        Behörden kontrolliert werden . Und es muss auch harte
        Sanktionen geben für Tricksereien und falsche Angaben
        zu CO2-Werten .
        Und noch eine Lehre muss aus dem VW-Abgas-Skan-
        dal gezogen werden: Die Strategie der deutschen Au-
        tomobilindustrie, den Dieselmotor als klima- und um-
        weltfreundliche Brückentechnologie zu verkaufen, ist
        gescheitert . Autos, die nur unter Laborbedingungen Um-
        weltvorgaben einhalten können, haben keine Zukunft .
        Deshalb fordern wir Grünen einen schrittweisen Abbau
        der Dieselsubvention . Das Ziel sollte sein, dass die Ener-
        giesteuersätze für einen Liter Benzin und einen Liter
        Diesel in zehn Jahren steuerlich auf dem gleichen Niveau
        sind . Gleichzeitig wollen wir die Fahrer von Diesel-Pkw
        entlasten, indem wir die Kfz-Steuer konsequent nach
        dem CO2-Ausstoß von Kraftfahrzeugen ausrichten .
        Wir fordern, dass die Bundesregierung einen Aus-
        stiegsplan aus der Dieselsubvention vorlegt . Wir fordern,
        dass die Bundesregierung Konsequenzen aus dem Ab-
        gasskandal zieht, dass Herr Dobrindt endlich die realen
        CO2-Emissionen der geprüften Modelle öffentlich macht.
        Wir brauchen eine wirklich unabhängige Behörde, die
        Messungen überprüft . Es braucht Sanktionen für diejeni-
        gen, die manipulieren . Das brächte Transparenz für Ver-
        braucher und Klarheit für die Automobilindustrie . Denn
        nur mit echten Konsequenzen lässt sich der dringend not-
        wendige Wechsel hin zu effizienten und emissionsfreien
        Antrieben begleiten – das wäre ein echter Dienst für ei-
        nen zukunftsfähigen Industriestandort Deutschland .
        Dr. Michael Meister, Parl. Staatssekretär beim Bun-
        desminister der Finanzen: Bevor ich Ihnen den Inhalt
        des Entwurfes eines Sechsten Gesetzes zur Änderung des
        Kraftfahrzeugsteuergesetzes vorstelle, ist es zum besse-
        ren Verständnis der sehr technischen Materie sinnvoll,
        einen kleinen Exkurs voranzustellen . Dies halte ich auch
        deshalb für wichtig, weil zu dem Gesetzentwurf einige
        fehlerhafte Informationen und irreführende Schlussfol-
        gerungen in der Presse und in der Öffentlichkeit herum-
        geistern, die ich heute hier ins rechte Licht rücken möch-
        te .
        Zur Vorgeschichte: Bereits im Jahre 2009 hat der
        Deutsche Bundestag in einer grundlegenden Entschei-
        dung den Regierungsentwurf der damaligen großen Ko-
        alition beschlossen, der die Umstellung der Bemessung
        der Kraftfahrzeugsteuer bei Personenkraftwagen, Pkw,
        auf eine vorrangig nach Kohlenstoffdioxidemissionen
        bemessene Steuer regelte . Nach dieser sogenannten
        CO2-Reform der Kraftfahrzeugsteuer ist grundsätzlich
        seit dem Stichtag 1 . Juli 2009 für Pkw-Erstzulassungen
        neben dem Hubraum vorrangig der von den Zulassungs-
        behörden festgestellte CO2-Wert für die Höhe der Kraft-
        fahrzeugsteuer maßgeblich . Diese Änderung der ökolo-
        gischen Komponente der Kraftfahrzeugsteuer diente und
        dient noch heute in besonderem Maße dem Ziel einer
        klimagerechten Zukunftspolitik .
        Mit dem Ziel vor Augen, bis 2020 den CO2-Ausstoß
        gegenüber 1990 um mindestens 40 Prozent zu senken,
        sind auch im Verkehrssektor weiterhin Emissionsmin-
        derungen notwendig . Neben der Steigerung des Anteils
        von Elektrofahrzeugen ist die CO2-basierte Kraftfahr-
        zeugsteuer mit ihrer daraus resultierenden Lenkungswir-
        kung eine zentrale Maßnahme, um den Straßenverkehr
        umweltverträglicher zu machen und einen adäquaten
        Beitrag zur Reduktion der CO2-Emissionen zu leisten .
        Der rechtliche Rahmen, nach dem die Zulassungsbehör-
        den den CO2-Wert feststellen, wird unmittelbar durch das
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722320
        (A) (C)
        (B) (D)
        Unionsrecht vorgegeben, nämlich konkret durch die Ver-
        ordnung (EG) Nr . 715/2007 des Europäischen Parlaments
        und des Rates vom 20 . Juni 2007 . Es handelt sich dabei
        um den sogenannten Neuen Europäischen Fahrzyklus,
        das sogenannte NEFZ-Messverfahren . Dieses stammt
        noch aus den 1990er-Jahren und führt als veralteter Prüf-
        zyklus zu realitätsfernen CO2-Werten . Bekanntlich lässt
        sich das Unionsrecht nicht von heute auf morgen ändern .
        Doch vorliegend ist noch für dieses Frühjahr mit dem In-
        krafttreten einer Änderungsverordnung der bereits ange-
        sprochenen Verordnung (EG) Nr . 715/2007 zu rechnen .
        Hintergrund hierfür ist die Entwicklung einer auf Ebe-
        ne der Vereinten Nationen weltweit harmonisierten Test-
        prozedur zur Ermittlung der Abgasemissionen leichter
        Kraftfahrzeuge, die „Worldwide harmonized light duty
        test procedure“ . Dieses sogenannte WLTP-Verfahren
        verfolgt das Ziel, künftig realitätsnähere Emissionswerte
        für CO2 im Rahmen der Typgenehmigung für Pkw und
        leichte Nutzfahrzeuge zu erhalten . Die Art der Ermitt-
        lung der CO2-Emissionen nach WLTP wird sich erheb-
        lich von dem derzeit maßgeblichen NEFZ-Verfahren
        unterscheiden .
        Die verpflichtende WLTP-Einführung im Verkehrs-
        recht soll schrittweise und nur für Neufahrzeuge erfol-
        gen . Sie beginnt mit der Verabschiedung und dem In-
        krafttreten entsprechender Rechtsakte der Europäischen
        Union bis zum Frühjahr 2017 . Die nach WLTP ermittel-
        ten CO2-Werte sollen dann ab dem 1 . September 2017
        bei der Genehmigung neuer Typen verbindlich werden .
        Ab dem 1 . September 2018 werden sie zur Bedingung
        für die Erstzulassung von Pkw . Die Automobilhersteller
        müssen demzufolge auch ihre auf dem Markt befindli-
        chen Fahrzeugmodelle nach WLTP nachprüfen lassen,
        wenn sie sie weiter produzieren werden . Es liegt nahe,
        dass einige Hersteller damit voraussichtlich kurz nach
        der Verkündung der EU-Vorschriften beginnen .
        Und damit komme ich nun unmittelbar zum Grund
        für das aktuell eingebrachte steuerrechtliche Gesetzes-
        vorhaben des 6 . Kraftfahrzeugsteueränderungsgesetzes .
        Was regeln wir nun eigentlich im nationalen Kraftfahr-
        zeugsteuergesetz? Das Kraftfahrzeugsteuergesetz bein-
        haltet eine gleitende dynamische Außenverweisung auf
        die maßgeblichen Vorschriften der Europäischen Union
        zur Ermittlung der CO2-Werte . Durch diese Verweisung
        würden sich die neuen CO2-Werte nach WLTP bereits
        mit dem Inkrafttreten der geänderten EU-Vorschriften ab
        Mitte 2017 auf die Kraftfahrzeugsteuer auswirken . Hier
        genau setzen wir an und schaffen frühzeitig Rechts- und
        Planungssicherheit, indem wir in Anlehnung an das Ver-
        kehrsrecht ebenfalls den 1 . September 2018 als einheitli-
        chen Stichtag zur Anwendung der nach WLTP ermittelten
        realitätsnäheren CO2-Werte für die Kraftfahrzeugsteuer
        in Deutschland bestimmen . Nur neue erstmals zugelasse-
        ne Pkw werden betroffen sein. Auswirkungen aufgrund
        neuer CO2-Werte nach WLTP auf die Steuererhöhe für
        davor zugelassene Pkw sind demzufolge ausgeschlos-
        sen. Leider wurde dies in der öffentlichen Wahrnehmung
        durch die eine oder andere unzutreffende Sachdarstel-
        lung verfälscht . Durch den einheitlichen Stichtag stel-
        len wir die Gleichmäßigkeit der Besteuerung von Pkw
        sicher . Würden wir im Kraftfahrzeugsteuergesetz kein
        verbindliches Datum für die Anwendung der CO2-Werte
        nach WLTP festlegen, wirkte sich unter anderem die op-
        tionale, frühzeitige oder spätere Umstellung auf WLTP
        vor dem 1 . September 2018 durch die Fahrzeugherstel-
        ler, die von unternehmerischen Erwägungen geprägt ist,
        auf die Besteuerung aus . In diesem Übergangszeitraum
        könnte die Gleichmäßigkeit der Besteuerung nicht si-
        chergestellt werden, da die von den Zulassungsbehörden
        übermittelten CO2-Werte bis zur verbindlichen Anwen-
        dung des WLTP nicht auf einem einheitlichen Verfahren
        beruhen . Der gleitende Einstieg in das ab 1 . September
        2018 verbindliche Verfahren wäre für Verbraucher zu-
        dem intransparent .
        Wir erhöhen also nicht die Kraftfahrzeugsteuer, wie
        fälschlicherweise behauptet wurde, sondern wir sor-
        gen – unter Inkaufnahme von vorübergehenden Minde-
        reinnahmen – für Rechts-und Planungssicherheit und
        Steuergerechtigkeit . Nochmal: Bestandsfahrzeuge sind
        nicht betroffen. Und wir vermeiden Unsicherheit und
        Ungewissheit für die Bürgerinnen und Bürger, die sich
        in der Zeit vom Frühjahr 2017 bis zum 31 . August 2018
        für die Anschaffung eines Neuwagens entscheiden. Wir
        schaffen Klarheit. Der einheitliche Stichtag 1. September
        2018 wird für alle Pkw-Neuzulassungen gelten .
        Anlage 15
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
        brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung
        des Rechts auf Kenntnis der Abstammung bei
        heterologer Verwendung von Samen (Tagesord-
        nungspunkt 35)
        Hubert Hüppe (CDU/CSU): Selbstverständlich wol-
        len alle Menschen wissen, wo sie herkommen . Das kann
        jeder von uns nachvollziehen . Von wem stamme ich ab?
        Wer sind meine Eltern? Wer sind meine Großeltern?
        Antworten auf diese Fragen sind für die Identität jedes
        Menschen wichtig . Inzwischen wissen wir, dass viele,
        die keine Antworten hierauf finden, unter ihrem Nicht-
        wissen leiden . Vielfach hört man von emotionalem Leid
        bei Menschen, die ihre Eltern früh verloren haben, die
        anonym zur Adoption freigegeben wurden oder die durch
        anonyme Samenspende entstanden sind . Eine Vereini-
        gung von Betroffenen, Spenderkinder e. V., formuliert,
        dass Anonymität ungünstige Dynamiken fördere .
        Der Bundesgerichtshof in Karlsruhe hat 2015 ent-
        schieden, dass durch heterologe Verwendung von Samen
        gezeugte Kinder einen Anspruch auf Auskunft über die
        Identität des anonymen Samenspenders haben . Zurück-
        verfolgen lässt sich eine Samenspende vor allem über
        die verschiedenen Entnahmeeinrichtungen, und die sind
        über ganz Deutschland verstreut . Ein zentrales Register
        gibt es bisher nicht – das ändern wir jetzt . Es ist deshalb
        begrüßenswert, dass das Recht auf Kenntnis der eigenen
        Abstammung aufgegriffen wird; wo wir als Gesetzgeber
        Menschen zu Antworten über ihre biologischen Väter
        verhelfen können, sollten wir es tun .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22321
        (A) (C)
        (B) (D)
        Im vorliegenden Entwurf sehen wir zwei Dinge vor .
        Im Gesetz zur Errichtung eines Samenspenderregis-
        ters und zur Regelung der Auskunftserteilung über den
        Spender nach heterologer Verwendung von Samen, Sa-
        menspenderregistergesetz, wird eine zentrale Informa-
        tionsstelle eingerichtet und die organisatorischen und
        verfahrenstechnischen Voraussetzungen für deren Füh-
        rung geschaffen. Darüber hinaus wird im Gesetzentwurf
        durch eine Änderung des BGB sichergestellt, dass ein
        Samenspender nicht als rechtlicher Vater eines durch
        künstliche Befruchtung in einer deutschen Einrichtung
        zur medizinischen Versorgung gezeugten Kindes festge-
        stellt werden kann .
        Beim Deutschen Institut für Medizinische Dokumen-
        tation und Information, DIMDI, werden die Daten des
        Samenspenders, der Mutter und die Geburtsdaten des
        Kindes zusammenlaufen und für 110 Jahre gespeichert
        werden . Personen können per Antrag Informationen an-
        fordern, wenn sie den Verdacht hegen oder wissen, dass
        sie durch heterologe Verwendung von Samen entstanden
        sind .
        Die Entnahmeeinrichtung erhebt die Daten des Spen-
        ders . Neben dem Namen meldet die Einrichtung den
        Geburtstag und -ort, die Staatsangehörigkeit und die An-
        schrift an das DIMDI . Vor jeder Spende muss der Spen-
        der aufgeklärt werden, dass eventuelle Kinder Zugang zu
        diesen Daten haben . Dem kann der Spender nicht wider-
        sprechen . Außerdem muss er erfahren, dass Samenspen-
        der nicht als rechtliche Väter festgestellt werden können .
        Diese Aufklärung ist zentral, damit potenzielle Spender
        sich über die Konsequenzen im Klaren sind . Möchten
        sie von ihren biologischen Kindern gefunden werden,
        möglicherweise viele Jahre später? Bei falschen Anga-
        ben droht ein Bußgeld . Die Entnahmeeinrichtung kenn-
        zeichnet die Daten des Spenders mit einer eindeutigen
        Spendennummer oder einer Spendenkennungssequenz .
        Der Spender kann freiwillig weitere Angaben machen,
        zum Beispiel könnte er den Grund für seine Samenspen-
        de angeben .
        Die Daten der Mutter sammelt die Einrichtung zur
        medizinischen Versorgung, in der die künstliche Be-
        fruchtung durchgeführt wird . Die Einrichtung meldet
        dem DIMDI außerdem den Zeitpunkt der Verwendung
        des Samens, den Beginn der Schwangerschaft und den
        errechneten Geburtstermin . Das tatsächliche Datum der
        Geburt und die Anzahl der geborenen Kinder werden
        unverzüglich gemeldet, die Meldepflicht liegt diesbezüg-
        lich bei der Empfängerin der Samenspende .
        Samen darf nur zur künstlichen Befruchtung einge-
        setzt werden, wenn die eindeutige Spendennummer oder
        die Spendenkennungssequenz vorliegt . Das schließt auch
        aus, dass deutsche Ärzte anonyme Samenspenden aus
        dem Ausland verwenden . Nur wenn die vorgeschriebe-
        nen Daten und eine eindeutige Identifikation per Spen-
        dennummer oder Spendenkennungssequenz vorhanden
        sind, kann ausländischer Samen benutzt werden . Zwar
        haben wir auf ausländische Entnahmeeinrichtungen
        keinen Einfluss, aber wir können die Verwendung von
        ausländischem Samen in deutschen Einrichtungen unter-
        binden, wenn keine Daten vorliegen . Damit wird, soweit
        realistisch möglich, das Recht auf Kenntnis der eigenen
        Abstammung auch bei durch Verwendung von ausländi-
        schem Samen hervorgegangenen Kindern abgesichert .
        Die persönlichen Angaben des Spenders, der Mutter
        und des Kindes unterliegen natürlich dem Datenschutz .
        Nur das Deutsche Institut für Medizinische Dokumenta-
        tion und Information darf die Daten speichern und nur
        auf Antrag dem erfassten Kind des Spenders übermitteln
        bzw . vor dem sechzehnten Geburtstag des Kindes seinen
        Eltern .
        Was jetzt realistischerweise gesetzlich geregelt werden
        kann, regeln wir mit unserem Entwurf . Einige Formen
        der künstlichen Befruchtung, zum Beispiel außerhalb ei-
        ner Einrichtung der medizinischen Versorgung oder im
        Ausland, können nicht von einem deutschen Gesetz er-
        fasst werden . Private Samenspenden etwa sind nicht vom
        Gesetzentwurf betroffen. Wenn ein persönlicher Freund
        einem lesbischen Paar Samen spendet, wird er nicht vom
        Register erfasst – auf der anderen Seite ist er auch nicht
        von der Feststellung als rechtlicher Vater ausgeschlossen .
        Wir werden die parlamentarische Debatte mit einer
        Anhörung weiterführen . Wir werden prüfen, ob an eini-
        gen Stellen noch eine Feinjustierung nötig ist . Das grund-
        sätzliche Anliegen des Gesetzentwurfes, Spenderkindern
        die Wahrnehmung ihres Rechts auf Kenntnis der eige-
        nen Abstammung zu ermöglichen, haben wir im Koali-
        tionsvertrag vereinbart . Wir greifen damit das Anliegen
        Betroffener auf, ihren biologischen Vater zu finden. Die
        im Gesetzentwurf vorgestellten Regelungen stellen dafür
        eine praxistaugliche Grundlage dar . Sie sind im Vergleich
        zum Status quo ein großer Fortschritt .
        Dr. Georg Kippels (CDU/CSU): Wer bin ich, wo
        komme ich her? Diese Frage mag sich der ein oder an-
        dere schon einmal ernsthaft oder auch weniger ernsthaft
        gestellt haben . In den meisten Fällen handelt es sich mehr
        um eine philosophische Fragestellung und nur seltener
        um ein reales Informationsbedürfnis im Hinblick auf die
        eigene Persönlichkeit und Identität . Da der Mensch sich
        sehr intensiv über seine Außenweltbeziehung definiert,
        bekommt diese Frage aber eine ganz andere Bedeutung,
        wenn es um das Verhältnis zur eigenen Familie und dort
        insbesondere zu den Eltern, also Mutter und Vater, geht .
        Nun mag es gelegentlich vorkommen, dass dieses Ver-
        hältnis in bestimmten Lebensphasen, sehr häufig zum
        Beispiel in der Pubertät, gespannt ist und aus spontanen
        Reaktionen heraus die Verbindung, das heißt die Abstam-
        mung, gerne negiert würde .
        Abgesehen von diesen oberflächlichen Befunden ist
        die Frage der Abstammung für die Persönlichkeit und
        die Frage der Selbstreflexion von enormer Wichtigkeit,
        wenn nicht sogar in manchen Fällen existenziell und für
        die psychische und physische Verfassung ursächlich . So
        hat das BVerfG schon im Jahre 1988 festgestellt, dass
        das allgemeine Persönlichkeitsrecht auch das Recht auf
        Kenntnis der eigenen Abstammung umfasst . Auslöser
        des damaligen Falles war das Adoptionsrecht, das nach
        der damals geltenden Regelung ein sogenanntes Adopti-
        onsgeheimnis vorsah, das Ausforschungen der Adoptiv-
        familie verhindern sollte und nur bei Zustimmung von
        Kind und Annehmenden ausgeforscht werden durfte .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722322
        (A) (C)
        (B) (D)
        Dem sah das BVerfG das Grundrecht auf Kenntnis der
        eigenen Abstammung gegenüber, das es aus dem allge-
        meinen Persönlichkeitsrecht ableitete . Damit war die Be-
        deutung der Abstammung für die Prägung der Individu-
        alität höchstrichterlich anerkannt und seither unstreitig .
        Diese Variante der rechtlich konstruierten Abstammung
        hat nur durch den medizinischen Fortschritt und die
        Möglichkeit der künstlichen heterologischen Inseminati-
        on eine neue Qualität gefunden, mit der sich der BGH im
        Jahre 2015 beschäftigen musste . Unter Beibehaltung der
        grundrechtlichen Bewertung bejahte das Gericht auch in
        diesem Fall ein entsprechendes Auskunftsrecht, wobei es
        aber in dogmatischer Hinsicht auf die seit Jahrzehnten
        immer wieder gerne bemühte und bewährte Krücke der
        Vorschrift des § 242 BGB und den Grundsatz von Treu
        und Glauben zurückgreifen musste .
        Diese mithin festgestellte Regelungslücke ist nun
        konsequent und vollständig mit dem im Kurztitel als
        Samenspenderregister bezeichneten Gesetz normiert
        worden . Es beinhaltet die notwendigen Regelungen zur
        Datenerfassung bei der Samenspende bzw . Abgabe und
        die Bedingungen, unter denen und mit welchem Inhalt
        Auskunft über den Spender erteilt werden kann . Damit
        ist dem grundrechtlichen Anspruch auf Abstammungser-
        kenntnis ausreichend Rechnung getragen worden . Dabei
        wurde auch darauf geachtet, dass der Prozess der Aus-
        kunftserteilung wie auch der Prozess der anschließenden
        Kontaktaufnahme, der durchaus ein hochemotionaler
        Vorgang ist, in geeigneter Form begleitet und beraten
        werden sollte .
        Irritierend, aber konsequent ist die Aufbewahrungs-
        frist von 110 Jahren, die sich an der Lebenserwartung
        orientiert und alle Möglichkeiten offenlässt, auch zu
        einem späteren Zeitpunkt des Entstehens des Informati-
        onsbedürfnisses dieses zu befriedigen . Die Erfahrung hat
        gelehrt, dass sowohl die Entstehung als auch die Bereit-
        schaft zur Einholung der Abstammungsinformation fast
        in jeder Lebensphase entstehen kann, egal ob noch jung
        oder schon älter . Entscheidend ist bei der Regelung, dass
        durch frühzeitige Löschung der Information kein psy-
        chologisch problematisches Vakuum entsteht .
        Eine wichtige Begleitregelung ist aber auch die Fra-
        ge der Anordnung der Abstammung in zivilrechtlicher
        Hinsicht, die nur für den Fall der ärztlich unterstützten
        künstlichen Befruchtung unter heterologer Verwendung
        von Samen nach dem Samenspenderregister erfolgt und
        eine Feststellung als zivilrechtlicher Vater mit entspre-
        chenden Folgen im Unterhalts-, Sorge- und Erbrecht
        ausschließt . Hier geht der Gesetzgeber im Einklang mit
        der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs davon aus,
        dass nur im Rahmen der streng normierten Spende mit
        begleitender und unwiderruflicher Aufklärung über das
        Auskunftsrecht mit der erforderlichen Sicherheit ange-
        nommen werden kann, dass der Spender gerade keine
        Verantwortung als Vater übernehmen wollte .
        Dies sieht die Rechtsprechung bei privaten Spenden
        bzw . privater Befruchtung nicht zwingend als gegeben
        an, weil – um mit der etwas trockenen Sprache der Juris-
        ten zu sprechen – Spender und Empfängerin einen mehr
        oder weniger engen sozialen Kontakt miteinander haben .
        So der BGH noch im Jahre 2013 . Das Gesetz schließt
        daher eine wichtige Regelungslücke und führt mit den
        korrespondierenden Regeln des Zivilrechts hoffentlich
        zu einer Verbesserung der Spenderbereitschaft, um dem
        Kinderwunsch ungewollt kinderloser Paare Rechnung
        tragen zu können . Gleichzeitig wird aber dem dringen-
        den Bedürfnis nach Abstammungskenntnis und damit
        dem Wunsch nach Identitätsfindung Rechnung getragen.
        Die Frage „ Wer bin ich, wo komme ich her?“ bleibt
        zukünftig nicht mehr unbeantwortet . Ich bitte daher um
        Zustimmung zu diesem Gesetz .
        Mechthild Rawert (SPD): Die reproduktive Medi-
        zin, ihre technischen Möglichkeiten und damit verbun-
        dene ethische Fragen und gesellschaftliche Auswirkun-
        gen sind zentrale gesellschaftspolitische Themen . Es
        geht um die Freiheit, unterschiedliche Familienformen
        selbstbestimmt zu gestalten und zu verantworten, es
        geht um die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit und
        um die Erfüllung im Leben . Es geht schlicht darum, dass
        Kinder entstehen und geborgen aufwachsen können . Es
        geht also um etwas sehr Lebensnahes, was die allermeis-
        ten Menschen zutiefst berührt . Damit hole ich weit aus .
        Der Regelungsinhalt des vorliegenden Gesetzentwurfs
        zur Regelung des Rechts auf Kenntnis der Abstammung
        bei heterologer Verwendung von Samen ist im Vergleich
        dazu viel spezifischer und abgegrenzter, greift aber Rege-
        lungen auf, die der rechtlichen Klarstellung dienen .
        Jeder Mensch hat das aus dem Persönlichkeitsrecht
        folgende Recht auf Kenntnis seiner Abstammung . Wir
        regeln nun, dass dieses Recht auch für Menschen gilt,
        die durch Samenspende gezeugt wurden. Wir schaffen
        zum einen die rechtlichen Voraussetzungen für die Er-
        richtung und Führung eines bundesweiten Samenspen-
        derregisters beim Deutschen Institut für Medizinische
        Dokumentation und Information, DIMDI . In dieser zen-
        tralen Datenbank werden die Daten sehr lange – 110 Jah-
        re – aufbewahrt . Endlich werden auch Verfahren verein-
        heitlicht und vereinfacht . Wir regeln aber auch, dass der
        Samenspender weder durch das Kind noch durch dessen
        Eltern als rechtlicher Vater in Anspruch genommen wer-
        den kann . Zwischen Samenspendern und den durch die
        Samenspende gezeugten Personen entstehen also keine
        Erbschafts- bzw . Unterhaltsansprüche . Die biologischen
        Spender werden entlastet, bei Wunsch des Kindes auf
        Kenntnis der Abstammung Verantwortung übernehmen
        zu müssen . Diese Rechtssicherheit führt voraussichtlich
        auch zu einer größeren Spendebereitschaft . Ich bin davon
        überzeugt: Die mit dem Gesetz hergestellte Rechtssicher-
        heit hilft allen, den Frauen, den biologischen Spendern,
        den durch Samenspende gezeugten Kindern . Dank der
        nun hergestellten Rechtssicherheit wird die Möglichkeit
        einer Kontaktaufnahme, eines Kennenlernens erleichtert .
        Die Notwendigkeit dieser gesetzlichen Regelungen
        ergibt sich aus mehreren Gerichtsurteilen . Die Urteile
        des Bundesverfassungsgerichts vom 31 . Januar 1998, des
        Oberlandesgerichts Hamm vom 6 . Februar 2013 und zu-
        letzt des Bundesgerichtshofs vom 28 . Januar 2015 . Die-
        ses Urteil stellt klar, dass durch Samenspende gezeug-
        te Personen unabhängig von ihrem Alter ein Recht auf
        Kenntnis ihrer Abstammung haben .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22323
        (A) (C)
        (B) (D)
        Wie gesagt: Dieses Gesetz ist klar umrissen, es ver-
        folgt nicht den Anspruch einer umfassenden Regelung
        der vielen Fragen zum Abstammungsrecht . Dennoch
        stellen sich mir auch bei diesem abgegrenzten Sach-
        verhalt Fragen und Forderungen, die Gegenstand einer
        Anhörung sein sollten . Der Gesetzentwurf nimmt aus-
        schließlich Bezug auf die ärztlich unterstützte künstliche
        Befruchtung, auf die „offizielle“ Samenspende. Gerade
        damit haben aber lesbische oder alleinstehende Frauen
        ein Problem, denn ihnen wird derzeit von vielen Ärztin-
        nen und Ärzten, von Ärztekammern genau diese Form
        der Samenspende verwehrt . Ich plädiere dafür, dass für
        lesbische Frauen bzw . Paare oder alleinstehende Frauen
        die gleichen Rechte gelten wie für heterosexuelle Men-
        schen, wenn es um die künstliche Befruchtung geht . Ich
        bin der Meinung, dass eine heterologe Insemination allen
        offenstehen sollte. In unserer bunten Lebenswirklichkeit
        finden derzeit zahlreiche „private“ heterologische Inse-
        minationen statt . Sollen diese gesondert geregelt wer-
        den? Oder ist es sinnvoller, die Anreize für eine private
        Insemination zu reduzieren, zum Beispiel indem wir ge-
        setzlicherseits den Kreis derer ausweiten, die berechtigt
        sind, eine künstliche Befruchtung vorzunehmen, indem
        Ärztinnen oder Ärzte zum Beispiel lesbische Paare nicht
        mehr abweisen dürfen?
        Wir leben in einer bunten Lebenswirklichkeit mit
        einer Vielfalt von Familienkonstellationen . Wir leben
        auch mit einem enormen wissenschaftlichen Fortschritt
        im Bereich der Reproduktionsmedizin – und daraus fol-
        genden zahlreichen Fragestellungen, die vielfach noch
        rechtlicher Regelungen bedürfen . In der politischen und
        gesellschaftlichen Debatte wird dabei auch das jewei-
        lige Familienbild berührt . Wir wissen längst, dass die
        sexuelle Identität der Eltern nicht entscheidend für das
        Kindeswohl ist . Die Vielfalt der sexuellen Identitäten der
        Eltern muss aber auch beim Abstammungsrecht immer
        mitbedacht werden, damit keine Person, die eine Familie
        gründen möchte, diskriminiert wird .
        Ich stelle mir auch die Frage, welche Regelungen wir
        hinsichtlich des Rechts auf Kenntnis der Abstammung
        finden, wenn der biologische Spender in einer ausländi-
        schen Samenbank aufgeführt ist . Darf es, kann es eine
        Ungleichbehandlung der Rechtsfolgen für die Beteiligten
        zu dem beim DIMDI existierenden Samenspenderregis-
        ter geben? Vielleicht ist diese Frage aber auch noch nicht
        im Zusammenhang dieses Gesetzes zu klären .
        Es besteht grundlegender Reformbedarf im Abstam-
        mungsrecht . Um diesen Reformbedarf zu prüfen und um
        Lösungen vorzuschlagen, hat das Bundesministerium
        der Justiz und für Verbraucherschutz im Februar 2015
        den interdisziplinären Arbeitskreis „Abstammung“ ein-
        gerichtet . Hier sitzen Sachverständige für die Bereiche
        Familienrecht, Verfassungsrecht, Ethik und Medizin
        bzw . Psychologie zusammen mit Vertreterinnen und Ver-
        tretern verschiedener Bundes- und Landesministerien .
        Im Sommer 2017 wird es den Abschlussbericht dieser
        Gruppe geben . Ich bin mir sicher: Zu den Ergebnissen
        des sehr breiten Themen- und Regelungsbereichs Ab-
        stammungsrecht wird es eine intensive gesellschaftliche
        und politische Debatte geben – und das ist auch gut so .
        Schließlich erleben wir den medizinisch-technischen und
        gesellschaftlichen Wandel mit seinen zahlreichen Fra-
        gestellungen und Herausforderungen . Wir wollen aber
        auch sicherstellen, dass eine Geburt ein Freudenereignis
        ist, wollen, dass Familie mit Sicherheit und Geborgenheit
        verbunden wird und nicht mit drohenden Rechtsstreitig-
        keiten oder unklarer Zugehörigkeit .
        Mein Fazit: Ich begrüße den vorliegenden Gesetzent-
        wurf der Bundesregierung mit seinen spezifischen Rege-
        lungen als einen guten Aufschlag . Wir werden wie bei
        allen Gesetzen dazu intensive parlamentarische Beratun-
        gen führen . Ich bin aber schon jetzt sehr gespannt auf
        die große gesellschaftliche und politische Debatte, die
        wir nach Veröffentlichung des Abschlussberichtes des
        AK „Abstammung“ zu führen haben . Ich lade Sie ein:
        Diskutieren Sie mit uns Parlamentarierinnen und Parla-
        mentariern dazu . Es geht um unser aller Zusammenhalt
        in Vielfalt .
        Kathrin Vogler (DIE LINKE): Der heute vorliegende
        Gesetzentwurf der Bundesregierung greift ein Anliegen
        auf, mit dem sich die Betroffenen immer wieder aktiv
        an die Politik gewendet haben: Auch Menschen, die mit
        einer Samenspende gezeugt wurden, haben das Recht da-
        rauf, ihre Abstammung zu kennen . In Deutschland wer-
        den jährlich etwa 1 200 Kinder nach einer heterologen
        Insemination, also einer Befruchtung der Frau mit Spen-
        dersamen, geboren . Insgesamt leben über 100 000 so ge-
        zeugte Menschen in Deutschland . Ihnen wird dieses Ge-
        setz leider nicht mehr helfen können, ihren genetischen
        Vater zu finden, obwohl viele dieses Bedürfnis im Laufe
        ihres Lebens entwickeln . Bislang werden die Daten le-
        diglich bei den Entnahmeeinrichtungen festgehalten . Die
        Suche nach der Herkunft erfordert also das Abfragen
        einzelner Samenbanken, in der Hoffnung, die richtige zu
        finden und dort auch die richtigen Daten zu erhalten, die
        bisher auch nur 30 Jahre aufbewahrt werden müssen .
        Die Idee, diese derzeit völlig zersplitterten Daten zu-
        künftig zentral bei einer Bundesbehörde wie dem DIM-
        DI, dem Deutschen Institut für Medizinische Dokumen-
        tation und Information, zu sammeln und bereitzustellen,
        löst das Problem der zersplitterten Daten für die Zukunft .
        Gleichzeitig muss geregelt werden, dass sich aus einer
        Samenspende kein Verwandtschaftsverhältnis begründet .
        Dieses könnte nämlich zu ziemlich schwierig zu lösen-
        den rechtlichen Fragen führen – zum Beispiel im Bereich
        des Unterhalts- und Erbschaftsrechts .
        Der Verein „Spenderkinder“ hat zudem darauf gedrun-
        gen, dass sowohl der Spender als auch die sozialen Eltern
        vor der Samenspende ein verpflichtendes Beratungsan-
        gebot erhalten, um zu verstehen, dass die Kinder später
        das Bedürfnis haben könnten, ihren genetischen Vater
        kennenzulernen, und dass ein offener Umgang mit der
        Art der Zeugung für die familiäre Beziehung zwischen
        den sozialen Eltern und dem Kind positiv sein kann . Dem
        kommt der Gesetzentwurf zumindest teilweise nach .
        Leider hat die Bundesregierung die Anregung nicht
        aufgegriffen, eine Möglichkeit zu schaffen, den geneti-
        schen Vater in irgendeiner Weise in den Abstammungs-
        dokumenten der Kinder zu nennen und trotzdem recht-
        liche Ansprüche auszuschließen . Wir werden in der
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722324
        (A) (C)
        (B) (D)
        weiteren Beratung des Gesetzes prüfen, ob es nicht doch
        Möglichkeiten gibt, diesen Wunsch der Betroffenen zu
        berücksichtigen .
        Auch weitere wichtige Vorschläge bleiben leider un-
        berücksichtigt . So vermisse ich zum Beispiel eine Be-
        grenzung der Zahl der Kinder, die mit den Samen eines
        einzelnen Spenders gezeugt werden dürfen . Dieses wäre
        angezeigt, um zu verhindern, dass unter Umständen sehr
        viele genetisch verwandte Spenderkinder gezeugt wer-
        den, die dann ein höheres Risiko haben, unwissentlich
        mit einem Halbgeschwister eine Familie zu gründen, wo-
        durch die Kinder aus solchen Familien höheren Risiken
        für Erbkrankheiten ausgesetzt wären .
        Ebenfalls nicht nachzuvollziehen ist, dass das Regis-
        ter nicht auch genutzt wird, um die Daten von Zeugungen
        in Form einer Embryonenspende zu erfassen . Auch wenn
        dieses Verfahren meiner Ansicht nach nicht vereinbar ist
        mit dem Embryonenschutzgesetz, wird es in Deutschland
        dennoch angewandt . Auch diese Kinder haben das Recht,
        ihre Abstammung zu kennen . So ist es wohl doch so, dass
        die unselige Tradition fortgesetzt wird, dass die Gesetz-
        gebung hinter den Anforderungen neuer Techniken in der
        Reproduktionsmedizin herhinkt. Deswegen hoffe ich,
        dass wir hier im Lauf der Beratung noch zu Verbesserun-
        gen kommen werden .
        Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Das Wissen eines Menschen, wo sie oder er herkommt,
        hat eine erhebliche Bedeutung für die eigene Persönlich-
        keit . Geprägt wird man von den Eltern, die einen groß-
        ziehen . Wenn sich aber herausstellt, dass der eigene Vater
        nicht auch der biologische Erzeuger ist, oder wenn von
        vorneherein klar ist, dass die genetischen Eltern andere
        sind, kann dies Menschen – zumindest vorübergehend –
        in eine schwere Krise stürzen . Zumindest kann es den
        Wunsch auslösen, diesen biologischen Elternteil auch
        kennenzulernen .
        Die Rechtsprechung hat diese Bedeutung schon län-
        ger erkannt . Das Oberlandesgericht Hamm hat bereits im
        Jahr 2013 in einem richtungsweisenden Urteil den An-
        spruch von durch Samenspende gezeugten Kindern auf
        Kenntnis des Spenders anerkannt . Die Bundesregierung
        hat sich allerdings viel Zeit gelassen, diesen Anspruch
        auch in Gesetzesform zu gießen . Und sie tut es mit die-
        sem Gesetzentwurf auch nur halbherzig .
        Punkt 1: Der Anspruch auf Kenntnis der eigenen Ab-
        stammung besteht verfassungsrechtlich für alle Kinder,
        die mittels Samenspende gezeugt wurden . Der Gesetzent-
        wurf der Bundesregierung schafft allerdings nur Abhilfe
        für die Kinder, die zukünftig gezeugt werden . Alle bereits
        lebenden Personen werden konsequent ausgeklammert .
        Für sie ist die geplante Gesetzesregelung also überhaupt
        keine Hilfe . Sie bleiben weiterhin darauf verwiesen, sich
        mühsam auf dem Rechtsweg gegenüber den beteiligten
        Samenbanken und reproduktionsmedizinischen Zentren
        eine Auskunft zu erstreiten .
        Punkt 2: Der Vorschlag der Bundesregierung ist ver-
        fassungsrechtlich fragwürdig, weil er zulasten der ge-
        zeugten Kinder geht . Die Koalition will nämlich auf der
        einen Seite jegliche Vaterschaftsfeststellung im Hinblick
        auf den Spender ausschließen. Sie schafft aber auf der
        anderen Seite keine Möglichkeit für andere Personen,
        von Beginn an in die Rechte und Pflichten eines zwei-
        ten Elternteils einzutreten . Selbst wenn diese dazu bereit
        wären, kann der spätere Vater bzw . die spätere Co-Mutter
        des gezeugten Kindes nicht schon vorab als Elternteil an-
        erkannt werden . Der Vorschlag der Koalition nimmt da-
        mit dem Kind einen Unterhaltsanspruch, ohne ihm einen
        gleichwertigen Anspruch als Ersatz zu geben .
        Und dies ist auch das zentrale Manko des Gesetzent-
        wurfes: Die Koalition drückt sich vor der eigentlich ent-
        scheidenden Frage, wie familienrechtliche Konstellatio-
        nen in diesen Fällen geregelt werden sollen . Sie scheut
        davor zurück, weil sie grundsätzlich nicht weiß, wie sie
        mit neuen oder atypischen Familienkonstellationen um-
        gehen soll . Und dieses Zögern geht wieder einmal zulas-
        ten der betroffenen Kinder.
        Wir Grünen sind da schon längst weiter, auch beim
        Thema Samenspende . Wir haben bereits vor einem Jahr
        einen Antrag vorgelegt, in dem wir das neue familien-
        rechtliche Instrument der sogenannten Elternschafts-
        vereinbarung fordern . Damit wird auch dem nicht bio-
        logischen Elternteil ermöglicht, schon vor der Geburt in
        sämtliche Rechte und Pflichten einzutreten. Das Kind er-
        hält damit von Anfang an zwei gleichberechtigte Eltern-
        teile . Wie sinnvoll und wichtig eine solche Regelung ist,
        hat sich in der Anhörung zu diesem Antrag gezeigt . Es
        wird also Zeit, dass auch die Koalition dies zur Kenntnis
        nimmt und ihren Gesetzentwurf entsprechend verbessert .
        Wir sind Ihnen dabei gern behilflich.
        Anlage 16
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
        brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
        raumordnungsrechtlicher Vorschriften (Tagesord-
        nungspunkt 36)
        Alexander Funk (CDU/CSU): Die geplante Ände-
        rung des Raumordnungsgesetzes verfolgt im Wesentli-
        chen drei wichtige Ziele:
        Erstens. Da ist zum einen die verstärkte Öffentlich-
        keitsbeteiligung, mit der die Bürger nun bereits deutlich
        früher eingebunden werden sollen, als dies bisher der
        Fall war .
        Zweitens . Darüber hinaus geht es um die Umsetzung
        einer europäischen Richtlinie zur maritimen Raumpla-
        nung . Damit ist sichergestellt, dass künftig alle EU-Län-
        der maritime Raumordnungspläne schaffen, so wie
        Deutschland dies bereits 2009 etwa für die Schifffahrt,
        die Offshorewindenergie oder den Umweltschutz in der
        Nord- und Ostsee getan hat . Dies sollen alle anderen
        EU-Länder in Zukunft entsprechend handhaben, und sie
        sollen ihre Festlegungen dann grenzüberschreitend ab-
        stimmen .
        Drittens . Dritter Punkt ist das Thema Hochwasser-
        schutz . Hier soll der Bund künftig die Kompetenz erhal-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22325
        (A) (C)
        (B) (D)
        ten, im Bedarfsfall länderübergreifende Pläne aufzustel-
        len . Der Hochwasserschutz liegt ja grundsätzlich in der
        Kompetenz der Länder . Wenn man sich einmal die Hoch-
        wassersituationen der letzten Jahre genauer anschaut, so
        muss man feststellen, dass eine Unterstützung der Länder
        durch einen länderübergreifenden Schutz erforderlich
        und angemessen ist .
        So wichtig die maritime Raumplanung und ihre grenz-
        überschreitende Abstimmung und so notwendig der län-
        derübergreifende Schutz gegen Hochwasser auch sind,
        so unstrittig sind diese Regelungsfelder auch . In diesem
        Hause gibt es wohl niemanden, der den jeweils vorge-
        sehenen Schutzzweck der Norm auch nur ansatzweise
        ernsthaft bestreiten würde . Möglicherweise sieht dies be-
        züglich der künftig besseren Beteiligung der Öffentlich-
        keit bei dem einen oder der anderen schon etwas anders
        aus .
        Vergegenwärtigen wir uns noch einmal, worum es
        konkret geht: Es geht um eine obligatorische Öffentlich-
        keitsbeteiligung – einschließlich der Prüfung von Projek-
        talternativen – bereits im Raumordnungsverfahren .
        Beim Raumordnungsverfahren handelt es sich um ein
        frühes Stadium eines Vorhabens, genauer: um planerische
        Festlegungen, und eben noch nicht um konkrete Vorha-
        ben, sprich: Genehmigungsverfahren, Planfeststellungs-
        verfahren . Diese greifen erst zu einem späteren Zeitpunkt
        Platz . Als Beispiel: Beim Autobahnbau, der Errichtung
        von Schienenstrecken oder auch bei dem Projekt Stutt-
        gart 21 ist die Raumordnung dem Planfeststellungsver-
        fahren vorgelagert . Und genau hier, in diesem Stadium,
        soll künftig die Öffentlichkeit eingebunden werden. Wa-
        rum? Weil wir maximale Transparenz insbesondere bei
        der Durchführung von Infrastrukturvorhaben, aber etwa
        auch bei Geothermie-Anlagen walten lassen möchten,
        und zwar von Anfang an . Es gilt: Wer neue Projekte ins
        Auge fassen, erfolgreich planen und vor allem erfolg-
        reich umsetzen will, der braucht eine Bevölkerung, die
        diese Projekte auch mitträgt!
        Minister Dobrindt hat in diesem Zusammenhang vom
        Begriff der größtmöglichen Transparenz gesprochen. Zu
        Recht! Es geht um eine umfassende, vollumfängliche
        und damit transparente, daneben aber vor allem auch
        frühzeitige Information der Öffentlichkeit. Alle relevan-
        ten Informationen müssen der Öffentlichkeit zugänglich
        sein . Transparenz hat ja bekanntermaßen zwei Funktio-
        nen: den offenen Zugang zu Informationen und gleich-
        zeitig auch die Rechenschaft .
        Nebenbei bemerkt: Mit der frühen Information der
        Öffentlichkeit haben wir ja inzwischen sehr gute Er-
        fahrungen gemacht . Ich spreche hier von der ersten Öf-
        fentlichkeitsbeteiligung beim Bundesverkehrswegeplan .
        Dazu gab es fast 40 000 Eingaben von Bürgerinnen und
        Bürgern, die sich zur Hälfte per Post, zur Hälfte online
        geäußert haben . Dementsprechend ist es richtig, die Öf-
        fentlichkeit auch bei Raumordnungsverfahren in Zukunft
        nicht mehr außen vor zu lassen, sondern direkt einzubin-
        den und zu beteiligen .
        Mit den letzten Änderungen am Gesetzentwurf zur
        Änderung des Raumordnungsgesetzes, die vor der ab-
        schließenden Beratung im Verkehrsausschuss erfolgt
        sind, sollten alle Seiten gut leben können: Neben der
        Korrektur eines Redaktionsversehens in § 7 ROG, die
        der Bundesrat vorgeschlagen hatte, und einigen Folge-
        änderungen in den §§ 9, 15 und 17, die natürlich absolu-
        ter Konsens sind, sollten auch die weiteren Änderungen
        nicht für Probleme sorgen:
        Der Änderungsantrag Artikel 1 Nummer 12 § 9
        Absatz 2 Satz 4 (neu) ROG entspricht einem Vorschlag
        des Bundesrates und steht in Zusammenhang mit einer
        Präklusionsregelung im Entwurf des Gesetzes zur An-
        passung des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes und anderer
        Vorschriften an europa- und völkerrechtliche Vorgaben .
        Mit der Änderung soll eine entsprechende Präklusi-
        onsvorschrift sowie der Hinweis auf die Präklusion im
        Raumordnungsgesetz normiert werden . Die Präklusions-
        vorschrift bei Raumordnungsplänen ist relevant, um die
        Auswirkungen eines Urteils des Bundesverwaltungsge-
        richts vom 16 . April 2015 für die Verwaltung praktikab-
        ler zu gestalten .
        Ähnlich sieht es bei dem Änderungsantrag zu Artikel 1
        Nummer 13a § 10 Absatz 2 ROG aus, der auch auf einen
        Vorschlag des Bundesrates zurückgeht . Diese Änderung
        steht ebenfalls in Zusammenhang mit einer Regelung
        über Rechtsbehelfsbelehrungen im Entwurf des Geset-
        zes zur Anpassung des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes
        und anderer Vorschriften an europa- und völkerrechtliche
        Vorgaben . Die Änderung soll eine entsprechende Vor-
        schrift im Raumordnungsgesetz normieren und somit zu
        einer klaren und eindeutigen Rechtslage führen .
        Schließlich gibt es noch den Änderungsantrag zu Arti-
        kel 1 Nummer 14b § 11 Absatz 2 ROG, ebenso auf Vor-
        schlag des Bundesrates . Der Gesetzentwurf der Bundes-
        regierung würde zu einer Aufhebung des geltenden § 12
        Absatz 2 ROG führen . Dieser dient jedoch der Gewähr-
        leistung der Rechtssicherheit und soll daher beibehalten
        werden .
        Mit dem Gesetz zur Änderung raumordnungsrechtli-
        cher Vorschriften soll auch § 48 Absatz 2 Satz 2 (neu)
        Bundesberggesetz-E geändert werden . Konkret soll
        hier eine Raumordnungsklausel eingeführt werden . Das
        heißt, auch bei Vorhaben nach dem Bundesbergrecht sind
        künftig die Ziele der Raumordnung zu beachten . Daraus
        folgt, dass auch hier der Rechtsschutz auf die planerische
        Ebene vorverlagert wird .
        Nun könnte man zu der Ansicht gelangen, eine Raum-
        ordnungsklausel im Bundesberggesetz hätte Konsequen-
        zen für die Zulassung von Rohstoffgewinnungsvorhaben
        in Deutschland und könnte zu verzögernden Klagen in
        einem frühen Stadium der Vorhaben führen . Dement-
        sprechend sei die Raumordnungsklausel aus dem Ge-
        setzentwurf zu streichen . Aber das Gegenteil ist hier zu-
        treffend: Eine solche Streichung würde der Intention des
        Gesetzgebers und damit dem Regelungszweck diametral
        entgegenstehen . Wie eingangs ausgeführt, kommt es uns
        ja gerade darauf an, die Bevölkerung von Anfang an über
        geplante Vorhaben zu informieren und einzubinden . Und
        das muss selbstverständlich auch für untertägige Projekte
        gelten, wenn wir es mit der Transparenz ernst meinen .
        Daher bitte ich um Zustimmung zu unserem Änderungs-
        antrag sowie zum Gesetz .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722326
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        Annette Sawade (SPD): Unser gemeinsamer Raum,
        das ist unsere Umgebung, wo wir wohnen und leben . Die
        Änderung des mittlerweile neun Jahre alten Raumord-
        nungsgesetzes von 2008 befasst sich ganzheitlich mit der
        maritimen sowie der untertägigen Raumplanung, mit der
        Mitbestimmung von Bürgern bei Großprojekten und mit
        den Herausforderungen des Klimawandels für unseren
        gemeinsamen Raum .
        Vier Ziele liegen der Gesetzesänderung zugrunde:
        erstens die Umsetzung der EU-Richtlinie 2014/89/EU
        zur Schaffung eines Rahmens für die maritime Raum-
        planung, zweitens die frühzeitige Bürgerbeteiligung bei
        Großprojekten sowie Prüfung von Alternativen, drittens
        der Hochwasserschutz und viertens die bergrechtlichen
        Vorschriften, die die Raumordnung gewissermaßen drei-
        dimensional entwickeln .
        Nationalen und europäischen Herausforderungen des
        Klimawandels können wir nur gemeinsam begegnen . Das
        Thema Hochwasserschutz gewinnt in den letzten Jahren
        immer mehr an Bedeutung . Wer erinnert sich nicht an
        Gerd Schröder in Gummistiefeln an der Elbe? Matthias
        Platzeck an der Oder? Und die Starkstromregenfälle aus
        2016 haben erneut gezeigt, dass Flüsse nun einmal nicht
        an der Landesgrenze enden . Gerade meinen Wahlkreis
        Schwäbisch Hall – Hohenlohe hatte es mit Braunsbach,
        aber auch anderen Orten ganz besonders hart getroffen.
        Deswegen ist es gut, dass die Länder endlich beim
        Hochwasserschutz zusammenarbeiten müssen und der
        Bund die Kompetenz bekommt, bei Bedarf einen länder-
        übergreifenden Raumordnungsplan für den Hochwasser-
        schutz aufzustellen .
        Lassen Sie mich über den Punkt sprechen, der mir
        auch als Vorsitzende des Unterausschusses Kommunales
        besonders wichtig ist: das Mitspracherecht der Bürgerin-
        nen und Bürger zu Belangen der Raumordnung . „Wer
        an den Dingen seiner Gemeinde nicht Anteil nimmt, ist
        kein stiller, sondern ein schlechter Bürger“, formulierte
        Perikles im fünften Jahrhundert . Wir möchten, dass un-
        sere Bürgerinnen und Bürger mitentscheiden können,
        wenn unser gemeinsamer Raum neu gestaltet wird oder
        geschützt werden muss .
        Die Großprojekte in Deutschland, die verspätet und
        mit höheren Kosten zum Teil immer noch nicht abge-
        schlossen sind, haben häufig den Protest der Bürgerinnen
        und Bürger hervorgerufen . Und dazu muss man leider oft
        sagen: zu Recht! Weil unter anderem Alternativen und
        die dazugehörige Transparenz fehlten .
        Die Gesetzesänderung möchte solche Geschehnisse in
        Zukunft vermeiden. Die Öffentlichkeitsbeteiligung wird
        sogar obligatorisch . Größtmögliche Transparenz und Al-
        ternativplanungen zum Großprojekt, die ernsthaft in Be-
        tracht kommen, sollen zur Sprache gebracht werden und
        Gehör finden.
        Unsere Bürgerinnen und Bürger sollen sich aktiv an
        der Raumordnung beteiligen können . Dazu gehört es na-
        türlich auch, dass die Vorhaben von Großprojekten digi-
        tal veröffentlicht und kommentiert werden können.
        Deshalb meine Bitte auch an die Bürgerinnen und
        Bürger: Informieren Sie sich, was um Sie herum pas-
        siert! Sprechen Sie aus, wie unsere gemeinsamen Räu-
        me gestaltet werden sollen! Nach drei Jahren der großen
        Koalition – das ist schneller als die Umsetzung so man-
        cher Großprojekte in Deutschland –, setzen wir nun die
        EU-Richtlinie und weitere Änderungen am Raumände-
        rungsgesetz um .
        Sabine Leidig (DIE LINKE): Wir begrüßen es, dass
        nun auch für den Hochwasserschutz länderübergreifen-
        de Raumordnungspläne aufgestellt werden können . Hier
        arbeiten die Länder ja oft aneinander vorbei, auch wenn
        diese das offenkundig anders sehen, wie aus ihrer Stel-
        lungnahme hervorgeht . Die Frage ist aber, ob es einen
        solchen Raumordnungsplan geben wird . Für Häfen und
        Flughäfen ist hier bislang überhaupt nichts passiert . Auf
        eine schriftliche Frage von Herbert Behrens hin antwor-
        tete das BMVI, dass dies nicht nötig sei, weil die ver-
        kehrliche Anbindung von Häfen und Flughäfen durch
        Hafenkonzept, Flughafenkonzept und Bundesverkehrs-
        wegeplan ausreichend berücksichtigt seien . Diese beiden
        Konzepte leisteten aber eben nicht das, was man eigent-
        lich bräuchte, nämlich eine wirkliche Standortpriorisie-
        rung . Hier wird eine Chance vertan .
        Was für uns gar nicht geht, ist, dass der bisherige Ab-
        satz 6 des § 17 ersatzlos gestrichen werden soll . Hierin
        ist bislang die Beteiligung des Deutschen Bundestages
        geregelt . Ich möchte mich aber nicht selbst entmachten
        und kann die Begründung nicht verstehen, nach der der
        Deutsche Bundestag bei Rechtsverordnungen, als solche
        werden die Raumordnungspläne des Bundes erlassen,
        nicht beteiligt wird . Im Grundsatz stimmt das schon,
        aber bei den Verordnungen nach dem BImSchG ist das
        anders . Und ein Plan, der die Anbindung der Häfen und
        Flughäfen regelt, den muss man im Verkehrsausschuss,
        der ja schließlich auch den Bundesverkehrswegeplan be-
        schlossen hat, schon gerne beraten . Ebenso der Umwelt-
        ausschuss den zum Hochwasserschutz . Falls es den denn
        jemals geben wird . Die Frage ist eben nur, warum man
        diese Bundesraumordnungspläne ins Gesetz schreibt,
        wenn das Ministerium dann meint, man braucht die so-
        wieso nicht .
        Wir begrüßen, dass eine Öffentlichkeitsbeteiligung
        nunmehr – zumindest im regulären, nicht im beschleu-
        nigten Verfahren – vorgeschrieben ist, auch wenn dies in
        den meisten Ländern bereits so gehandhabt wurde . Die
        Begründung, dass man damit Akzeptanz für Großpro-
        jekte schaffen will, teilen wir aber nicht. Denn es geht
        nicht nur um die Akzeptanz, also das Durchsetzen von
        Großprojekten, sondern eben auch darum, ob eine sol-
        che Maßnahme überhaupt nötig ist . Immerhin sollen nun
        „ernsthaft in Betracht kommende Alternativen“ geprüft
        werden, dies schließt explizit auch solche ein, die von
        Teilnehmern im Beteiligungsverfahren eingebracht wur-
        den . Aber die Anpassung an das neue URG, die der Bun-
        desrat vorschlug, ist abzulehnen, weil sie Beteiligungs-
        rechte einschränkt .
        Dass die Bundesregierung den Aufbau Ost für abge-
        schlossen hält, in der Begründung heißt es explizit, „dass
        sich 26 Jahre nach der Wiedervereinigung räumliche
        Disparitäten … nicht mehr feststellen lassen“, ist für uns
        ebenfalls nicht nachvollziehbar . Es wird suggeriert, dass
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22327
        (A) (C)
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        es die krassen Disparitäten zwischen Ost und West nicht
        mehr gibt, sondern es quasi überall strukturpolitische
        Schwächen und Stärken gebe . Das ist aber aus unserer
        Sicht eben nicht der Fall, weil sich bei allen Struktur-
        daten wie beispielsweise Arbeitslosigkeit, Bruttoinlands-
        produkt, kommunale Steuereinnahmen oder FuE-Ausga-
        ben immer die DDR abzeichnet, weil es eben im Osten
        großflächig eine größere negative Betroffenheit gibt.
        Selbst die schwächsten Westbundesländer sind immer
        noch „reicher“ als die stärksten Ostländer .
        Bedenken haben wir wegen der neuen Bestimmungen
        zu Vorranggebieten . Denn hierzu heißt es in der Begrün-
        dung, damit kann beispielsweise „eine Siedlungsent-
        wicklung den Freiraumschutz ausschließen, desgleichen
        ein Infrastrukturausbau die Erfordernisse des Biotopver-
        bundes oder der vorbeugende Hochwasserschutz die Be-
        lange des Naturschutzes“ . Genau das wollen wir nicht .
        Dass quantifizierte Vorgaben zur Verringerung der
        Flächeninanspruchnahme als neuer Grundsatz explizit
        verankert werden, findet unsere Zustimmung, weil da-
        mit die Umsetzung des 30-Hektar-Zieles der Deutschen
        Nachhaltigkeitsstrategie unterstützt wird .
        Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Heute geht es um die Zukunft der Meere . In Nord- und
        Ostsee haben wir viele unterschiedliche Interessen, die
        unter einen Hut gebracht werden müssen . Es ist zu begrü-
        ßen, dass wir dafür jetzt einen europäischen Rahmen ha-
        ben . Doch wie bei allen Richtlinien, die die Europäische
        Union auf den Weg bringt, kommt es auch hier auf die
        konkrete Umsetzung an . Und ich möchte ergänzen: Es
        kommt auch auf den Zeitpunkt der Umsetzung an . Hier
        hat die Bundesregierung ein weiteres Mal geschlampt
        und ist eine geraume Weile im Verzug . Setzen Sie da-
        her die Richtlinie um – aber bitte vernünftig . Wir geben
        Ihnen gerne Vorschläge für eine bessere Umsetzung mit
        auf den Weg .
        Ähnlich wie an Land gibt es auch auf dem Meer viele
        unterschiedliche Interessen . Wir müssen einerseits un-
        sere Meere so weit schützen wie möglich . Wir müssen
        unsere artenreichen Meere auch für die folgenden Gene-
        rationen bewahren . Die Meere sind eine entscheidende
        Lebensgrundlage . Gefährden wir den guten Zustand der
        Meere, bringt dies vielseitige negative Auswirkungen
        wie eine Verstärkung des Klimawandels, Artensterben
        oder eine Versauerung der Meere mit sich . Die Ozeane
        sind daher besonders schützenswert, und es muss deren
        Schutz zukünftig eine deutlich höhere Bedeutung beige-
        messen werden .
        Die maritime Raumplanung kann ein Instrument sein,
        Nutzungsinteressen aufzuzeigen, frühzeitig dem Schutz
        der Meere, Ressourcen und Lebewesen einen größeren
        Raum zu geben und die Interessen auszugleichen . Es ist
        sinnvoll, frühzeitig einen Überblick darüber zu erhalten,
        wo menschliche Nutzung stattfindet und wie Meeres-
        schutz nötig und möglich ist . Der Schutz der Meere ist
        vielseitig . Hier geht es vor allem um die Beibehaltung
        einer hohen Wasserqualität, damit die Meere im ökologi-
        schen Gleichgewicht bleiben . Es geht außerdem um den
        Schutz der im Wasser lebenden Tier- und Pflanzenarten.
        Vor allem der Schutz der Fischbestände wird in Zukunft
        aufgrund drohender Überfischung einiger Arten eine gro-
        ße Rolle spielen . Aber es wird auch darum gehen, Gebie-
        te zu schützen, um Lebewesen eine Rückzugsmöglich-
        keit zu bieten .
        Wenn wir uns in Nord- und Ostsee umsehen, welche
        vielseitigen Nutzungsinteressen bestehen, ist eine lang-
        fristige maritime Raumplanung sehr wichtig . Denn der
        Meeresschutz steht Nutzungsinteressen von Öl- und Gas-
        förderungen, der Schifffahrt, dem Tourismus, der Fische-
        rei oder Offshorewindanlagen häufig entgegen. Manch-
        mal können Interessen aber auch ausgeglichen werden .
        Bisher spricht sich Deutschland im Rahmen seiner
        maritimen Raumplanung als Bund mit den Küstenlän-
        dern im Rahmen des Integrierten Küstenzonenmanage-
        ments, IKZM, einigermaßen ausreichend ab . Allerdings
        finden manche Planungsansätze wie Öffentlichkeitsbe-
        teiligung darin noch nicht ausreichend Berücksichtigung .
        So ist das leider auch mit dem aktuellen Gesetzentwurf .
        Gut gemeint, aber noch lange nicht gut gemacht . So ist
        im Gesetzentwurf zwar die aus der EU-Richtlinie ver-
        langte Öffentlichkeitsbeteiligung enthalten. Aber hier
        muss die Bundesregierung dringend ihre Auffassung von
        Öffentlichkeitsbeteiligung anpassen. Sie darf nicht so
        aussehen, dass zwei Wochen in einem Amt ein Ordner
        mit Planungsunterlagen ausliegt, zu dem in einem sehr
        begrenzten Zeitraum die Bürger Stellung nehmen kön-
        nen – und am Ende weder Lob noch Kritik Berücksich-
        tigung finden. Eigentlich hätte Ihnen die Öffentlichkeits-
        beteiligung zum Bundesverkehrswegeplan eine Lehre
        sein sollen . Rund 40 000 Stellungnahmen – aber kaum
        Einfluss der Bürger auf das Vorhaben. Am Ende war es
        eine Farce und das Papier nicht wert, auf dem der Bericht
        zur Öffentlichkeitsbeteiligung veröffentlicht worden war.
        Eine solche Lachnummer darf sich nicht wiederholen .
        Dasselbe gilt für die sogenannte Alternativenprüfung .
        Diese soll auch für die maritime Raumplanung vorgese-
        hen sein . Aber wir zweifeln stark daran, dass diese auch
        wirklich ernst gemeint ist . Die Erfahrungen aus dem
        Bundesverkehrswegeplan 2030 zeigen: Das stand nur auf
        dem Papier . Eine objektive Prüfung oder gar Realisie-
        rung tatsächlich vernünftiger Alternativen fanden nicht
        statt . Diese Pseudoprüfung darf sich nicht wiederholen .
        Diese Lehrbeispiele aus der kürzlich beendeten Auf-
        stellung des Bundesverkehrswegeplans 2030 zeigen:
        Bitte wiederholen Sie diese Fehler nicht . Denn: Wo Öf-
        fentlichkeitsbeteiligung draufsteht, muss auch eine ech-
        te Beteiligung der Öffentlichkeit drin sein. Ein simples
        Gehörtwerden der Bürger reicht dazu nicht . Die Bürger
        müssen sich sicher sein, in einem Beteiligungsprozess
        auch Lösungsvorschläge einbringen zu können, die
        ernsthaft abgewogen werden .
        Anlage 17
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
        gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722328
        (A) (C)
        (B) (D)
        Änderung des Binnenschifffahrtsaufgabengesetzes 
        (Tagesordungspunkt 37)
        Hans-Werner Kammer (CDU/CSU): Die Moderni-
        sierung und insbesondere die Digitalisierung der Binnen-
        schifffahrt kommen voran. Der verstärkte Einsatz von
        Binnenschifffahrtsinformationsdiensten und vor allem
        der Nutzung des automatisierten Schiffsidentifikations-
        systems AIS auch in der Binnenschifffahrt tragen enorm
        zu einer Steigerung der Verkehrssicherheit auf den deut-
        schen Wasserstraßen bei, etwa durch eine bessere Über-
        wachung von Risikotransporten . Andere Maßnahmen
        wie der zunehmende Automatikbetrieb von Schleusen
        dienen der Effizienzsteigerung. Ziel dieser Optimierung
        des Verkehrsträgers Wasserstraße ist es, seine Attraktivi-
        tät zu erhöhen und so eine umweltfreundliche Verlage-
        rung von Transporten auf das Wasser zu erreichen . Die-
        se Modernisierung macht jedoch zahlreiche rechtliche
        Änderungen notwendig, denn technischer Fortschritt im
        Informationszeitalter bedeutet immer eine massive Zu-
        nahme der anfallenden Daten und Informationen . Gerade
        der Staat, in diesem Fall die Wasserstraßen- und Schiff-
        fahrtsverwaltung, muss damit sehr verantwortungsvoll
        umgehen . Daher ist eine vernünftige Rechtsgrundlage
        zwingend erforderlich. Diese schafft die Große Koalition
        mit dem vorliegenden Gesetzentwurf .
        Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme die Ab-
        schaffung des Länderfachausschusses kritisiert. Aber
        dieses Gremium hat seit mehr als zwanzig Jahren nicht
        mehr getagt . Während der gesamten WSV-Reform war
        bislang keine Sitzung nötig . Der Ausschuss ist absolut
        verzichtbar, weil sich Bund und Länder auf vielen ande-
        ren Wegen über die Wasserstraßen austauschen . Das wird
        auch in Zukunft so sein, gerade bei der von den Ländern
        angeführten Debatte um die Zukunft der Nebenwasser-
        straßen . Alle Beteiligten wissen doch, dass es hier ohne
        Beteiligung der Länder gar nicht zu einer Lösung kom-
        men kann. Die Abschaffung des Länderfachausschusses
        ist daher konsequent und lange überfällig .
        Anderen Bedenken des Bundesrates tragen wir hinge-
        gen mit den vom Ausschuss eingebrachten Änderungen
        Rechnung . Zum einen mildern wir eine unverhältnismä-
        ßige Härte bei der Sanktionierung von Datenschutzver-
        stößen durch Transportbeteiligte ab . Zweitens erschwe-
        ren wir Führerscheintourismus nach einem Entzug der
        deutschen Fahrerlaubnis . Dieses Feintuning am Entwurf
        ist gelungen .
        Ich danke den Kolleginnen und Kollegen der Koalition
        sowie der Grünen für die konstruktive Zusammenarbeit
        bei diesem Gesetz . Was die Linken bei dem Gesetz um-
        treibt, verstehe ich hingegen nicht . Im Ausschuss lehnen
        Sie, Herr Behrens, dieses Gesetz ab . Zugleich wollten Sie
        aber auf die heutige Aussprache verzichten? Wer ein Ge-
        setzesvorhaben ablehnt, sollte auch von sich aus bereit
        sein, das zu begründen . So werden jedoch zwei Dinge
        offenkundig: Erstens ist die Kritik der Linken an diesem
        Gesetz unberechtigt . Zweitens fehlt ihnen der Respekt
        für die Arbeit dieses Parlaments .
        Matthias Lietz (CDU/CSU): Mit der heutigen Debat-
        te passen wir das Binnenschifffahrtsaufgabengesetz noch
        einmal an die bestehende Verwaltungssituation der Was-
        ser- und Schifffahrtsverwaltung (WSV) an. Und das ist
        gut so und richtig; denn der Frühjahrsputz ist dringend
        nötig . Es ist höchste Zeit, den Staub wegzuwischen .
        Zum einem muss das Binnenschifffahrtsaufgabenge-
        setz eine Rechtsgrundlage für die WSV bilden, um Daten
        zur Erfüllung konkret benannter Verwaltungsaufgaben
        zu nutzen . Zum anderen muss – auch gegen den Willen
        der Länder – aufgeräumt und entsorgt werden . Es kann
        nicht angehen, dass ein Länderfachausschuss, der seit
        der europäischen Handelsliberalisierung 1996 nicht mehr
        getagt hat und mittlerweile gegenstandslos geworden ist,
        beibehalten wird . Das entbehrt jeder Grundlage und wi-
        derspricht unseren Zielen der WSV-Reform, die straffere
        Strukturen schaffen soll.
        Die jetzige Anpassung des Binnenschifffahrtsaufga-
        bengesetzes setzt die Reform der WSV weiter richtig um .
        Durch den verstärkten Einsatz von Binnenschifffahrtsin-
        formationsdiensten (RIS) und der Nutzungspflicht des
        automatischen Schiffsidentifikationssystems (AIS) wer-
        den durch die WSV mehr Daten verarbeitet, die nun auch
        für entsprechende Logistik- und Verwaltungsabläufe in
        der voranschreitenden Digitalisierung genutzt werden
        sollen .
        Nur so kann das Personal der Verwaltung weitaus
        sinnvollere Aufgaben übernehmen, als etwa Binnen-
        schifffahrtsstatistiken noch mit Meldungen der Primär-
        erhebungen zu füllen . Dies geht in vielen Fällen auch
        automatisiert und verringert Zeitaufwand und Kosten .
        Dieser Schritt war lange fällig und zeichnet ein wirt-
        schaftliches Entlastungspotenzial von rund 170 000 Mel-
        dungen oder 360 000 Euro auf . Das ist Bürokratieabbau,
        wie wir es im Koalitionsvertrag vereinbart haben . Das
        entlastet die Verwaltung, und das spart Kosten .
        So beantworten wir eben auch die Fragen, die wir uns
        zur Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung ge-
        stellt haben: „Welche Aufgaben müssen durch die WSV
        selbst wahrgenommen werden und welche nicht?“ und
        „Wo können Aufgaben sogar völlig entfallen?“ . Beide
        Fragen gehen wir mit dem Binnenschifffahrtsaufgaben-
        gesetz an .
        Wir lösen damit auch das Versprechen ein, den Betrieb
        von Schifffahrtsanlagen wirtschaftlicher zu gestalten,
        weil es eben zukünftig automatisierte und fernbediente
        Schifffahrtsanlagen geben wird. Und das versteht sich
        von selbst .
        Der Gesetzentwurf schafft die Grundlage für ein zu-
        kunftsfähiges Verkehrs-, Unfall-, Schleusen- und Lie-
        gestellenmanagement . So werden Sicherheit, Interoper-
        abilität und Effizienz des Verkehrssystems Binnenschiff
        bzw . Wasserstraße noch einmal deutlich erhöht . Dabei
        sind wir uns der Sensibilität bestimmter Daten durchaus
        bewusst und sorgen dafür, dass logistikrelevante Daten
        nicht uferlos gesammelt oder weitergegeben werden .
        Wir tragen dem Rechnung, indem wir die gesteigerte
        Schutzbedürftigkeit der betroffenen Binnenschiffer nicht
        gefährden und die Privatsphäre der zahlreichen Partiku-
        liere schützen, bei denen das Schiff als Wohn- und Ar-
        beitsstätte gleichermaßen den Lebensmittelpunkt von Fa-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22329
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        milien bildet . Und diesen Schutz behalten wir nicht nur
        in der Datenübermittlung bei, sondern weiten ihn auch
        auf das Fahrerlaubnisregister aus .
        Ein Riegel wird somit dem Führerscheintourismus mit
        ausländischen Fahrerlaubnissen vorgeschoben . Denn der
        Gesetzentwurf sieht vor, die Löschungsregel des künftig
        zentralen Fahrerlaubnisregisters für Befähigungszeug-
        nisse zu präzisieren . Deutsche Fahrerlaubnisse werden
        nicht schon bei Entzug, sondern erst drei Jahre später aus
        dem zentralen Register gelöscht . Damit können Zuwider-
        handlungen bei Routinekontrollen aufgedeckt werden,
        und so erschweren wir die Nutzung von ausländischen
        Fahrerlaubnissen, die das Fahrverbot unerlaubterweise
        umgehen könnten .
        Und das schafft bereits heute Fakten. Wir bleiben
        für eine zukunftsfähige, digitalisierte Binnenschifffahrt
        am Ball, und wir werden für eine straffere Wasser- und
        Schifffahrtsverwaltung weiter den Staubwedel schwin-
        gen .
        Gustav Herzog (SPD): Die Digitalisierung hat
        auch vor der Binnenschifffahrt nicht Halt gemacht. Be-
        reits heute fallen auf unseren Bundeswasserstraßen in
        zunehmenden Mengen Telematikdaten an und machen
        eine gesetzliche Regelung für ihre Nutzung dringend
        notwendig . Im Gesetzgebungsverfahren wurden in der
        Abwägung einzelner Regulierungsbereiche aber auch
        ernstzunehmende Interessengegensätze insbesondere
        zur Nutzung der Daten deutlich . Inwieweit können sich
        personenbezogene Daten ableiten, und in welchem Maße
        dürfen die Daten zur polizeilichen Verfolgung von Straf-
        taten und Ordnungswidrigkeiten herangezogen werden?
        Diese Fragen wurden kontrovers diskutiert und heute
        beraten wir abschließend in zweiter bzw . dritter Lesung
        das Dritte Gesetz zur Änderung des Binnenschifffahrts-
        aufgabengesetzes .
        Binnenschifffahrtsinformationsdienste wie der RIS,
        River Information Service, oder die Einführung der Nut-
        zungspflicht des automatischen Schiffsidentifikations-
        systems AIS generieren mittlerweile erhebliche Daten-
        mengen . In erster Linie dienen sie zwar der Sicherheit
        und Erleichterung des Schiffsverkehrs, können aber auch
        zur Verbesserung der Interoperabilität und Effizienz des
        gesamten Verkehrssystems Wasserstraße herangezogen
        werden. Die zugrundeliegenden Daten können die Effi-
        zienz von Logistikketten verbessern und die Verwaltung
        des Schiffsverkehrs deutlich erleichtern.
        Daten fallen hierbei nicht nur auf den Schiffen und
        in den Häfen, bei Logistikpartnern und bei der Passa-
        ge von Schleusen an, sie fließen vor allem auch bei der
        Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes,
        WSV, zusammen. Mit der Änderung des Binnenschiff-
        fahrtsaufgabengesetzes erlauben und regeln wir die Er-
        hebung, Verarbeitung und Nutzung dieser Daten durch
        die bundeseigene Verwaltung . Dabei gehen wir über die
        rein statistische Auswertung hinaus und schaffen unter
        anderem auch die Voraussetzungen für ein optimiertes
        Verkehrs-, Unfall-, Schleusen- und Liegeplatzmanage-
        ment. Die Effizienz unserer Infrastruktur wird dadurch
        erheblich aufgewertet .
        Ein wichtiger und ernsthaft diskutierter Punkt war das
        Ausmaß der Weitergabe dieser Daten, deren Auswertung
        und Verwendung durch Dritte in der Logistikkette, wie
        zum Beispiel an die Hafenbetreiber . Als Teil der Lösung
        haben wir die Datenweitergabe mit strikten Regeln, Spei-
        cherfristen und Löschpflichten sowie mit einem ange-
        messenen Sanktionierungsmechanismus bei Missbrauch
        versehen . Das dient insbesondere dem Schutz personen-
        bezogener Daten, die aus den Datenströmen abgeleitet
        werden können .
        Die SPD-Bundestagsfraktion stimmt dem Gesetzent-
        wurf der Bundesregierung mit Änderungen zu, wird aber
        insbesondere diesen Bereich zum Schutz persönlicher
        Daten intensiv begleiten und auch zukünftig aufmerksam
        beobachten .
        Herbert Behrens (DIE LINKE): Wie auf hoher See
        werden auch in der Binnenschifffahrt größere und schnel-
        lere Schiffe eingesetzt. Das stellt erhöhte Anforderungen
        an die Wasserstraßen . Niedrigwasser, Hochwasser oder
        Eisgang führen gerade für größere Schiffe zu erheblichen
        Einschränkungen der Schiffsauslastung und der Fahrten-
        planung . Um optimal mit diesen Einschränkungen umzu-
        gehen, setzen Binnenschiffer in Europa zunehmend Tele-
        matiksysteme, die in die sogenannte River Information
        Systems, RIS, europaweit harmonisiert wurden, ein . Zu-
        dem wird mit der nach dem vorliegenden Gesetzentwurf
        verpflichtenden Nutzung des Automatic Identification
        System, AIS, die Verkehrssicherheit verbessert . Über das
        AIS vermitteln Schiffe unter anderem Position, Kurs und
        Geschwindigkeit sowie weitere Daten an andere Schiffe
        und an die Schifffahrtsbehörden. Dies dient vor allem der
        Vermeidung von Kollisionen .
        So weit, so gut . Es ist nichts dagegen einzuwenden,
        dass mit der Änderung des Binnenschifffahrtsaufgaben-
        gesetztes eine Rechtsgrundlage für die Wasser- und
        Schifffahrtsverwaltung zum Erheben, Verarbeiten und
        Nutzen von Daten zur Optimierung und Sicherung der
        Schifffahrt geschaffen wird. Doch ein Aspekt der Geset-
        zesänderung ist sehr kritisch zu sehen . Denn die Ände-
        rung schreibt auch eine „vermehrte Automatisierung von
        Schifffahrtsanlagen“ vor und schafft dafür einen weiteren
        rechtlichen Rahmen . Das Ziel dabei ist, und ich zitiere,
        „den Betrieb der Schifffahrtsanlagen wirtschaftlicher zu
        gestalten“ . Und „wirtschaftlicher“ heißt auch in diesem
        Fall: mit weniger Personal . Der Schleusenwärter vor Ort
        soll von einem Kollegen, der aus weiter Ferne bis zu zehn
        Schleusen gleichzeitig von einer Leitzentrale heraus be-
        dient, ersetzt werden . Da zeigt sich der neoliberale Geist
        der WSV-Reform in der Urfassung von Peter Ramsauer .
        Die Automatisierung der Schleusen ist bereits in vollem
        Gange . Die Schleusen der Mittelweser, die Mindener
        Schleusen und die Schleusen am Stichkanal Osnabrück
        werden künftig von einer Fernbedienzentrale in Minden
        aus bedient und überwacht . Die Schleusen Petershagen
        und Schlüsselburg wurden bereits im März 2004 an die
        Fernbedienzentrale angeschlossen . Seit 2005 werden die
        Schleusen Landesbergen und Drakenburg ferngesteu-
        ert . Die Anbindung der Schleuse Langwedel ist im Sep-
        tember 2010 erfolgt . 2015 hat Staatssekretär Ferlemann
        angekündigt, dass alle Schleusen an der Oberen Ha-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722330
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        vel-Wasserstraße automatisiert werden . Auch am Main,
        Donau und Main-Donau-Kanal sind 52 Schleusen längst
        automatisiert und werden aus einer Entfernung von bis
        zu 120 Kilometern gesteuert .
        Das Ganze findet nicht in einem luftleeren Raum statt.
        Die Kollegen der WSV sind schon Jahrzehnte dauerhaf-
        tem Personalabbau ausgesetzt . Seit 1993 wurde jede drit-
        te Stelle bei der WSV abgebaut . Ausscheidende Kollegin-
        nen und Kollegen wurden nicht ersetzt . Auszubildende
        wurden nach ihrem Abschluss nicht übernommen . Nur
        unter dem Druck der Belegschaften ist es im Jahr 2013
        gelungen, den weiteren Personalabbau, der bereits an den
        Kern der Verwaltung ging, zu beenden, um die krassesten
        Folgen der Kahlschlagpläne abzuwehren .
        Die Schleusenautomatisierung führt zu langsameren
        Schleusungen, was auf häufiger befahrenen Wasserstra-
        ßen leicht zu Staus führen kann . Nach Angaben der WSV
        verlängert sich ein Schleusenvorgang sogar nach Ablauf-
        optimierung um drei bis vier Minuten gegenüber einer
        Schleusung mit Bediener . Der bis 2015 amtierende Leiter
        des WSA Eberswalde Heymann bestätigte dies gegen-
        über dem „Nordkurier“: „Es ist einfach so, dass ein Wär-
        ter die Boote sprichwörtlich besser stapeln kann .“ In dem
        Artikel vom 18 . August 2014 bemängelte Heymann den
        Personalabbau, der verhindert, dass Schleusen durchgän-
        gig mit Wärtern betrieben werden, und fügt hinzu: „Das
        ist letztlich von der Politik so gewollt .“
        Auch was die Sicherheit angeht, führt die Schleusen-
        automatisierung zu Problemen . Wenn eine Schleusung
        schiefgeht, müssen die Leitzentralen erstmal Rettungs-
        kräfte, die nicht für den Umgang mit Schiffen ausgebil-
        det sind, zur Hilfe rufen . So blieb an der Schleuse Leh-
        men im Mai 2016 ein Sportboot mit dem Heck auf dem
        Betondrempel unterhalb des Oberwassertores hängen,
        während das Wasser abgesenkt wurde . Weil kein Schleu-
        senwärter vor Ort war, der den Unfall hätte verhindern
        können, mussten 40 Feuerwehrleute aus Lehmen, Bro-
        denbach und Kobern-Gondorf zur Rettung anrücken .
        Genau diese Schieflage wollen Sie, Kolleginnen und
        Kollegen der Koalitionsfraktionen, zum neuen Standard
        machen .
        Die Digitalisierung darf nicht für die verfehlte Spar-
        politik von Union, SPD und Grünen auf Kosten der
        Beschäftigten und der Sicherheit auf den Wasserstra-
        ßen missbraucht werden . Deswegen können ich und die
        Fraktion Die Linke dem vorliegenden Änderungsentwurf
        sowie dem Änderungsantrag nicht zustimmen .
        Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Mit der vorgesehenen Gesetzesänderung soll eine
        Rechtsgrundlage für die Bundesverwaltung geschaffen
        werden, auch sogenannte AIS-Daten der Binnenschif-
        fe zu nutzen . Dies ist sinnvoll und begrüßen wir . Denn
        dadurch wird eine bessere Bewältigung des Verkehrs
        möglich, aber auch eine bessere Steuerung oder sogar
        Optimierung des Verkehrs auf Binnenwasserstraßen . Die
        Erfassung der automatisch gesendeten Daten auch durch
        die Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung, WSV, ist
        längst nötig geworden in einer Zeit, in der zunehmend
        Informationen digitalisiert übermittelt werden . Dem Ge-
        setzentwurf werden wir daher zustimmen .
        Dazu sollen aber meiner Auffassung nach zukünftig
        auch Schiffsdokumente in der Binnenschifffahrt zählen.
        In der Seeschifffahrt hat teilweise der Prozess schon in
        Richtung digitalisierte Schiffs-, Besatzungs-, Fracht-
        oder Zollpapiere begonnen – Stichwort European Single
        Maritime Window . Dieser Prozess muss sich auch in der
        grenzüberschreitenden Binnenschifffahrt durchsetzen.
        Das würde die Nutzung des Binnenschiffs enorm verein-
        fachen und Verwaltungsprozesse beschleunigen . Bringen
        Sie also die WSV als Dienstleister für die Binnenschiff-
        fahrt auf Vordermann, und modernisieren Sie bei dieser
        Gelegenheit auch die Verwaltungsprozesse .
        Es wird ja viel gesprochen von Verwaltungsverein-
        fachung und -modernisierung . Wo bleibt in diesem Zu-
        sammenhang die im Koalitionsvertrag angekündigte
        Zusammenführung der Schifffahrtsgesetze zu einem
        Schifffahrtsgesetzbuch? Die vielen verstreuten Gesetze
        und Verordnungen, die oft zu deutlich ins Detail gehen,
        lassen die Beteiligten schnell verzweifeln . Ich empfehle
        daher: Nehmen Sie von der unvorteilhaften Regelungs-
        tiefe in Gesetzen und Verordnungen Abstand . Regeln Sie
        stattdessen die Details auf der Ebene der technischen Vor-
        schriften . Als Vorbild einer solchen Entwicklung nenne
        ich exemplarisch das Vorgehen bei der EU-Maschinen-
        richtlinie . Hier wurde das sehr gut und nachvollziehbar
        vollzogen . Führen Sie also schleunigst die bestehenden
        Regularien in einem Schifffahrtsgesetzbuch zusammen,
        und nehmen Sie tiefergehende Regelungen ausschließ-
        lich in Form von Richtlinien vor .
        Lassen Sie mich abschließend noch eine Frage stel-
        len: Wann wird die Bundesregierung an der Umsetzung
        der WSV-Reform eigentlich weiterarbeiten? Seit Beginn
        der Wahlperiode wurde auf Druck der SPD die Arbeit an
        einer sehr wichtigen Reform fast vollständig eingestellt .
        Man hat in Bonn eine zusätzliche Behörde geschaffen,
        die aber weder richtig in Gang kommt noch Erleichte-
        rungen für die Nutzer mit sich bringt . Das eigentliche
        Ziel, durch eine Reform als Verwaltung besser und lö-
        sungsorientierter arbeiten zu können – und dadurch dem
        miserablen Zustand der Schleusen entlang der Wasser-
        straßen ein Ende zu setzen, wurde nicht erreicht . Bei der
        Binnenschifffahrt ist die Reform nicht angekommen.
        Sie hat weiterhin mit maroden Schleusen zu kämpfen .
        Sie sollten die WSV eigentlich als Dienstleister für die
        Wasserstraßennutzer sehen. Stattdessen pflegen Sie die
        kaiserlich-wilhelminische Amtsschimmelstruktur weiter .
        Das ist schlecht für unser Land und gegen eine ökolo-
        gisch sinnvolle Verlagerung der Gütertransporte auf das
        Binnenschiff.
        Anlage 18
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
        brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
        der materiellen Zulässigkeitsvoraussetzungen von
        ärztlichen Zwangsmaßnahmen und zur Stärkung
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22331
        (A) (C)
        (B) (D)
        des Selbstbestimmungsrechts von Betreuten (Ta-
        gesordnungspunkt 38)
        Dr. Silke Launert (CDU/CSU): Jedem Menschen
        steht es grundsätzlich selbst zu, über die eigene Gesund-
        heit „nach eigenem Gutdünken“ – wie der Bundesge-
        richtshof es formuliert hat – zu entscheiden .
        Das ist richtig so und deshalb auch verfassungsrecht-
        lich garantiert .
        Ärzte können daher Eingriffe, selbst wenn sie medi-
        zinisch angezeigt sind, grundsätzlich nicht vornehmen,
        ohne vorab eine Einwilligung der Patientin oder des Pa-
        tienten eingeholt zu haben . Fehlt die Einwilligung, kann
        sich der Arzt wegen einer Körperverletzung nach dem
        Strafgesetzbuch strafbar machen .
        Bei Menschen, die psychisch krank sind oder denen
        aus einem anderen Grund die Einsichtsfähigkeit fehlt,
        ist das anders . Wenn sie nicht erkennen, dass ihre Ge-
        sundheit auf dem Spiel steht und sie sich deshalb einem
        ärztlichen Eingriff verweigern, können sie einer medizi-
        nischen Zwangsbehandlung unterzogen werden .
        Da es sich hierbei um einen erheblichen Grundrechts-
        eingriff handelt, sind solche Zwangsmaßnahmen jedoch
        nach geltendem Recht nur in ganz engen Grenzen zuläs-
        sig . Insbesondere muss sich die Patientin oder der Patient
        aufgrund eines Gerichtsbeschlusses in einer freiheitsent-
        ziehenden Unterbringung befinden. Nur dann kann der
        Betreuer einer solchen Maßnahme zustimmen und sie
        dann durch das Gericht genehmigen lassen . So sieht es
        das Gesetz vor .
        Doch was ist in den Fällen, in denen nicht einsichts-
        fähige Patienten nicht freiheitsentziehend untergebracht
        sind? Und wenn diese Unterbringung auch gar nicht nö-
        tig ist, weil er oder sie weder in der Lage noch willens ist,
        sich durch Flucht zu entfernen?
        Wenn also beispielsweise eine psychisch schwer kran-
        ke und deshalb betreute Frau querschnittsgelähmt ist und
        man dann bei ihr ein Herzleiden feststellt; wenn dieses
        Leiden dringend eine OP erfordert, die Frau sich aber ve-
        hement weigert, sich der OP zu unterziehen, was dann?
        Nach aktueller Rechtslage können hier tatsäch-
        lich zwangsweise keine medizinischen Behandlungen
        durchgeführt werden . Im schlimmsten Fall drohen also
        schwerwiegende gesundheitliche Schäden, wenn nicht
        gar der Tod .
        In einem ähnlich gelagerten Fall hat das Bundesver-
        fassungsgericht im Juli des vergangenen Jahres klarge-
        stellt, dass der Staat auch in solchen Fällen einzugreifen
        hat. Er habe hier ebenso eine Schutzpflicht, die sich aus
        dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrt-
        heit ergibt .
        Mit anderen Worten: Wenn der Mensch nicht in der
        Lage ist, sich selbst zu schützen, dann obliegt es dem
        Staat, für ihn schützend einzugreifen .
        Die gesetzliche Lücke, die das Bundesverfassungsge-
        richt an dieser Stelle offenbart hat, wollen wir mit dem
        vorliegenden Gesetzentwurf nun schließen .
        Der Entwurf sieht daher vor, dass die Einwilligung ei-
        nes Betreuers in eine ärztliche Zwangsmaßnahme künftig
        von der freiheitsentziehenden Unterbringung entkoppelt
        wird . Die freiheitsentziehende Unterbringung soll nicht
        mehr zwingende Voraussetzung sein .
        Stattdessen wollen wir als Voraussetzung, dass die
        Maßnahme im Rahmen eines stationären Aufenthalts in
        einem Krankenhaus, in dem die gebotene medizinische
        Versorgung des Betreuten einschließlich einer erforder-
        lichen Nachbehandlung sichergestellt ist, durchgeführt
        wird .
        Damit lassen sich die Behandlungen dann auch auf
        offenen Stationen durchführen, eben weil die freiheits-
        entziehende Unterbringung gerade nicht notwendig ist,
        und ambulante Zwangsbehandlungen bleiben weiterhin
        ausgeschlossen .
        Im Übrigen belassen wir es in diesem Entwurf bei
        den strengen materiellen und verfahrensrechtlichen Zu-
        lässigkeitsvoraussetzungen . Und das muss auch so sein,
        denn vor dem Hintergrund des schwerwiegenden Grund-
        rechtseingriffs darf die Zwangsmaßnahme auch nach der
        Neuregelung wirklich nur Ultima Ratio sein, also das
        letzte anzuwendende Mittel .
        Um dies zu untermauern, wollen wir außerdem eine
        neue Regelung einführen, mit der klargestellt wird, dass
        auch bei Zwangsmaßnahmen die Vorschrift des § 1901 a
        BGB zu beachten ist .
        Demnach wird ausdrücklich vorausgesetzt, dass Be-
        treuer und Betreuungsgerichte bei der Entscheidung
        „Zwangsmaßnahme oder nicht“ stets die in einer Patien-
        tenverfügung getroffenen Festlegungen berücksichtigen.
        Sollte eine Patientenverfügung nicht vorliegen oder die
        dort zum Ausdruck gebrachten Erklärungen nicht der ak-
        tuellen Behandlungssituation entsprechen, dann müssen
        die Behandlungswünsche und der mutmaßliche Wille des
        Betreuten zur Grundlage der Entscheidung gemacht wer-
        den .
        Darüber hinaus wollen wir als Regelverpflichtung für
        Betreuer einführen, dass diese in geeigneten Fällen die
        Betreuten auf die Möglichkeiten der Patientenverfügung
        hinweisen und sie gegebenenfalls bei der Errichtung un-
        terstützen .
        In meinem oben gebildeten Fall wäre der Betreuer also
        dann dazu aufgefordert, die Frau auf die Möglichkeit ei-
        ner Patientenverfügung hinzuweisen, wenn sie sich gera-
        de in einem Zustand der Einwilligungsfähigkeit befindet.
        Das Ziel dieser Regelungen und des Gesetzentwurfs
        insgesamt ist ganz klar, Zwangsbehandlungen möglichst
        zu vermeiden . Sie müssen das letzte Mittel bleiben . Glei-
        chermaßen wollen wir mit diesem Gesetz das Selbstbe-
        stimmungsrecht des Einzelnen stärken und die Verbrei-
        tung von Patientenverfügungen fördern .
        Ich denke, das sind wirklich wichtige Anliegen, und
        ich denke, wir können sie mit diesem Gesetzentwurf um-
        setzen .
        Dr. Sabine Sütterlin-Waack (CDU/CSU): Am 1 . Ja-
        nuar 1992 trat das Betreuungsrecht in Kraft . Damals, vor
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722332
        (A) (C)
        (B) (D)
        inzwischen 25 Jahren, wurde aus Vormundschaft Betreu-
        ung, aus Entmündigung eine unterstützte Entscheidung
        des Betroffenen. Das Gesetz brachte für alle Menschen,
        die ihre Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht mehr
        selbst regeln können und deshalb auf die Hilfe anderer
        angewiesen sind, entscheidende Verbesserungen mit
        sich: Es hat die Selbstbestimmung jedes Einzelnen ge-
        stärkt .
        Ein großer Schritt für unsere Gesellschaft . Trotzdem
        liegt auch heute noch ein gutes Wegstück vor uns . Das
        Betreuungsrecht hat sich in den vergangenen Jahren wei-
        terentwickelt, es wurde mehrfach umfassend reformiert
        und modernisiert, so wie im Jahre 2013 mit dem Gesetz
        zur Regelung der betreuungsrechtlichen Einwilligung in
        eine ärztliche Zwangsmaßnahme .
        Der uns heute vorliegende Gesetzentwurf der Bun-
        desregierung knüpft genau an diese Reform an . Mit der
        geplanten Änderung soll eine durch das Bundesverfas-
        sungsgericht im letzten Jahr festgestellte Regelungslücke
        geschlossen werden .
        Bitte stellen Sie sich folgende Situation vor: Ein
        Mensch, der beispielsweise infolge einer Altersdemenz
        unter rechtlicher Betreuung steht und nicht mehr fähig
        ist, über seine medizinische Behandlung selbst zu ent-
        scheiden, muss gegen seinen natürlichen Willen ärztlich
        behandelt werden . Ohne Behandlung würde ihm ein
        ernsthafter gesundheitlicher, lebensbedrohlicher Scha-
        den entstehen . Bislang, nach geltender Rechtslage, dürfte
        dieser Mensch aber nur dann gegen seinen Willen behan-
        delt werden, wenn er durch einen Gerichtsbeschluss in
        einer geschlossenen Einrichtung untergebracht ist .
        Es gibt aber auch Situationen, und darauf basiert die
        Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, in denen
        eine solche freiheitsentziehende Unterbringung nicht
        angeordnet werden darf. Dies betrifft nach geltender
        Rechtslage Personen, die sich freiwillig in einer Klinik
        befinden oder sich krankheitsbedingt räumlich nicht
        entfernen können . Folglich können sie nicht ärztlich
        zwangsweise behandelt werden, selbst dann nicht, wenn
        sie lebensbedrohlich erkrankt sind . Das ist das Dilemma,
        das es zu beseitigen gilt .
        Deswegen begrüßen wir den Gesetzentwurf der Bun-
        desregierung, der nicht nur diese Schutzlücke schließt,
        sondern überdies das Selbstbestimmungsrecht der Be-
        treuten weiter stärkt .
        Der Entwurf sieht konkret vor, dass zukünftig eine
        zwangsweise medizinische Behandlung nur dann zuge-
        lassen werden kann, wenn sich der Betreute stationär
        in einem Krankenhaus aufhält . Der Entwurf spricht an
        dieser Stelle von einer „Entkopplung“ der ärztlichen
        Zwangsbehandlung von der freiheitsentziehenden Unter-
        bringung .
        Ich gebe zu, es ist eine komplizierte Thematik . In aller
        Kürze lässt sich der Kerninhalt der geplanten Regelung
        folgendermaßen verständlich zusammenfassen: Künf-
        tig sollen ärztliche Zwangsbehandlungen nicht nur auf
        geschlossenen Stationen eines Krankenhauses, sondern
        nun auch auf offenen Stationen in einem Krankenhaus
        möglich sein .
        Ganz wichtig zu erwähnen ist, dass der Gesetzentwurf
        keine Ausweitung auf ambulante ärztliche Zwangsbe-
        handlungen vorsieht . Das begrüße ich . Auch wenn ich
        die Argumentation vieler nachvollziehen kann, die sich
        für ambulante zwangsweise Behandlungen aussprechen,
        empfinde ich den Weg des stationären Aufenthalts im
        Krankenhaus als den richtigen . Denn wir dürfen hierbei
        Folgendes nicht außer Acht lassen: Wir bewegen uns bei
        dieser Thematik in einem grundgesetzlichen Spannungs-
        verhältnis . Zwangsbehandlungen greifen mit einer sehr
        hohen Intensität in die Grundrechte des Betreuten ein .
        Sie sollten also nur als letztes Mittel angeordnet werden
        dürfen, wenn die drohende Gefahr besteht, dass der Pati-
        ent einen erheblichen gesundheitlichen Schaden erleiden
        könnte .
        Ich verstehe den Einwand und die damit zusammen-
        hängenden Bedenken, dass Betroffene, die beispielswei-
        se in speziellen Pflegeheimen leben, aus ihrer gewohnten
        Umgebung „herausgerissen“ und in ein Krankenhaus
        verlegt werden müssen, um medizinische Hilfe zu be-
        kommen . Mit dem Ausschluss ambulanter Zwangsbe-
        handlungen stellen wir aber sicher, dass den Betroffenen
        einerseits die erforderliche medizinische Nachbehand-
        lung zukommt und andererseits, dass ihr Wohn- und Le-
        bensbereich nicht durch ärztliche Zwangsmaßnahmen
        beeinträchtigt wird .
        Zurückkommend auf den Anfang meiner Rede möch-
        te ich nochmals den Meilenstein erwähnen, den wir vor
        25 Jahren erreicht haben . Damals hat der Gesetzgeber
        das Selbstbestimmungsrecht von betreuten Personen
        maßgeblich gestärkt . Der uns heute vorliegende Gesetz-
        entwurf rückt die Selbstbestimmung weiter in den Vor-
        dergrund . Patientenverfügungen, Behandlungswünsche,
        die jemand vor der Erkrankung mit seinem freien Willen
        geäußert hat, und auch der mutmaßliche Wille der Be-
        treuten sollen mehr Beachtung finden. Dies wird nun im
        Gesetz klargestellt .
        Im Sinne der Selbstbestimmung, und das ist besonders
        wichtig, will der Gesetzentwurf das Instrument der Pa-
        tientenverfügung weiter verfestigen und damit ärztliche
        Zwangsbehandlungen auf das unbedingt erforderliche
        Maß begrenzen . Das Aufgabenfeld des rechtlichen Be-
        treuers wird dadurch verpflichtend erweitert. Zukünftig
        müssen Betreuer Betroffene über die Patientenverfügung
        aufklären und diese auf Wunsch der Betreuten in geeig-
        neten Fällen schriftlich fixieren.
        Der Gesetzentwurf weitet damit außerdem den Aufga-
        benbereich der Beratungsleistung der Betreuungsvereine
        aus . Diese Aufgabenerweiterung unterstreicht die in den
        letzten Jahren wahrgenommene Tendenz eines gestie-
        genen Arbeitsaufkommens bei den Betreuungsvereinen .
        Auch vor diesem Hintergrund erscheint die Anhebung
        der Betreuervergütung, die derzeit als paralleles Gesetz-
        gebungsverfahren hier im Deutschen Bundestag disku-
        tiert wird, als wichtiger Bestandteil eines funktionieren-
        den und qualitativ hochwertigen Betreuungswesens .
        Der Gesetzentwurf bietet also meiner Meinung nach
        eine gute Grundlage für die weitere parlamentarische De-
        batte, in der wir insbesondere die Praktikabilität dieser
        Änderung prüfen werden .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22333
        (A) (C)
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        Dr. Matthias Bartke (SPD): Das Gesetz, über das wir
        heute erstmals beraten, ist das Resultat des Beschlusses
        des Bundesverfassungsgerichts vom 26 . Juli 2016 . Der
        Fall, der hinter diesem Beschluss steht, macht uns nach-
        denklich . Wann ist ein Wille nicht mehr frei? Welche
        Rolle kann ein Wille noch spielen, wenn der Betroffene
        nicht mehr einsichtsfähig ist?
        Im Ausgangsverfahren ging es um eine 63-jährige
        Frau, die psychisch schwer erkrankt war – eine Mischung
        aus Schizophrenie, Manie und Depression . Eine Autoim-
        munkrankheit führte zusätzlich zu großflächigen Hautau-
        sschlägen und massiver Muskelschwäche . Im Zuge der
        Behandlungen wurde dann auch noch Brustkrebs festge-
        stellt . Die erkrankte Frau aber war gegen eine Operation
        wie auch gegen Bestrahlung . Ihre rechtliche Betreuerin
        beantragte deswegen ärztliche Zwangsmaßnahmen zur
        Behandlung des Brustkrebses . Es war klar: Ohne ärzt-
        liche Maßnahmen würde sich der Krebs ausbreiten und
        letztlich zum Tod der Patientin führen .
        Zwangsbehandlungen sind bei psychisch Kranken
        grundsätzlich möglich . Sie stehen aber zu Recht un-
        ter sehr engen Voraussetzungen . Dazu zählt, dass nur
        zwangsbehandelt werden darf, wer auch zwangsunter-
        gebracht ist . Diese Zwangsunterbringung hatten die
        Gerichte bei der 63-Jährigen aber abgelehnt . Die Frau
        war nämlich so krank und schwach, dass sie nicht mehr
        weglaufen konnte . Damit erübrigte sich die Zwangsun-
        terbringung und damit auch die Zwangsbehandlung .
        Der Fall ging durch die Instanzen und landete schließ-
        lich vor dem Bundesverfassungsgericht, das sich mit der
        Frage befasste: Muss man Bürger vor sich selbst schüt-
        zen? Im Juli letzten Jahres hat es die Antwort darauf ge-
        geben: Unter bestimmten Umständen: Ja .
        Die geltende Rechtslage bestimmt Folgendes: Hilfsbe-
        dürftige Menschen, die stationär in einer nicht geschlos-
        senen Einrichtung behandelt werden und sich nicht aus
        eigener Kraft fortbewegen können, dürfen notfalls auch
        gegen ihren natürlichen Willen nicht ärztlich behandelt
        werden . Das Bundesverfassungsgericht hat beschlossen:
        Diese Rechtslage verstößt gegen die Schutzpflicht aus
        Artikel 2 Absatz 2 GG . Jeder hat das Recht auf Leben
        und körperliche Unversehrtheit .
        Das Recht zur Selbstbestimmung umfasst grundsätz-
        lich auch das Recht auf Krankheit . Der Patient kann Ent-
        scheidungen treffen, die anscheinend unvernünftig sind.
        Wenn ich eine lebenserhaltende Therapie ablehne und
        mich zum Sterben entschließe, ist das Ausdruck meiner
        Selbstbestimmung . Die Voraussetzung dafür ist aber mein
        freier Wille . Manche Betreute können keinen freien Wil-
        len mehr bilden . Wegen ihrer psychischen Erkrankung
        oder wegen einer seelischen oder geistigen Behinderung
        können sie die Notwendigkeit einer ärztlichen Behand-
        lung nicht erkennen, oder aber sie können nicht nach
        dieser Einsicht handeln . So kann eine schwere Demenz
        eine Person nicht verstehen lassen, dass eine Operation
        lebensrettend ist . Halluzinierte Befehle zur Selbsttötung
        können die Selbstbestimmungsfähigkeit aufheben . Eine
        schwere Depression kann dazu führen, dass der Erkrank-
        te keine Entscheidung mehr treffen oder zum Ausdruck
        bringen kann .
        Es liegt ein großer Unterschied zwischen einer frei-
        en Entscheidung und einer Entscheidung, der es an Ein-
        sichtsfähigkeit fehlt . Lehne ich eine Chemotherapie ab,
        weil ich die Qualen der Behandlung bei unsicheren Hei-
        lungschancen nicht in Kauf nehmen will und akzeptiere
        ich im Gegenzug meinen Tod, oder lehne ich die Chemo-
        therapie ab, weil mir die Behandlung qualvoll erscheint
        und ich nicht begreife, dass ich ohne sie auf jeden Fall an
        dem Krebs sterben werde?
        Doch auch wenn Patienten die Konsequenzen ihrer
        Weigerung nicht abschätzen können, so haben sie doch
        einen natürlichen Willen . Wegen des verfassungsrecht-
        lich verbürgten Selbstbestimmungsrechts ist auch dieser
        Wille grundsätzlich zu beachten. Ein Eingriff in dieses
        Recht muss auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen
        und verhältnismäßig sein . Ein Handeln gegen den natür-
        lichen Willen lässt sich nur rechtfertigen, wenn es ande-
        ren, gewichtigeren Rechtsgütern dient .
        Bereits in der letzten Legislatur hat der Bundestag ein
        Gesetz zur Regelung der ärztlichen Zwangsmaßnahmen
        beschlossen . Nach der bis dahin geltenden Rechtspre-
        chung des Bundesgerichtshofs wurde die gesetzliche Re-
        gelung im Paragrafen zur freiheitsentziehenden Unter-
        bringung gesehen . 2012 entschied der Bundesgerichtshof
        dann aber, dass diese Regelung nicht ausreichend war .
        Damit gab es keine Zwangsbefugnisse zur Durchsetzung
        notwendiger medizinischer Maßnahmen mehr. Betroffe-
        nen drohte ein schwerwiegender gesundheitlicher Scha-
        den oder sogar der Tod . Der Bundestag beschloss daher
        ein neues Gesetz, dass die bis dahin geltende Rechtslage
        möglichst nah abbildete . Dazu zählte, dass eine Zwangs-
        behandlung nur im Rahmen einer Unterbringung erfol-
        gen kann . Wie die Unterbringung bedurfte damit auch die
        Zwangsbehandlung der gerichtlichen Genehmigung und
        unterlag denselben strengen verfahrensrechtlichen An-
        forderungen . Die Regelung sollte ganz bewusst nur für
        untergebrachte Personen gelten, um den Grundrechtsein-
        griff möglichst zu minimieren. Auch die SPD-Fraktion
        hat daher diesem Gesetz zugestimmt . Tatsächlich führ-
        te diese Regelung nun aber zu der paradoxen Situation,
        dass Betroffene untergebracht werden müssen, damit sie
        zwangsbehandelt werden können . Das Bundesverfas-
        sungsgericht hat uns die Hausaufgabe mit auf den Weg
        gegeben, die festgestellte Schutzlücke unverzüglich zu
        schließen . Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht . Der
        Gesetzentwurf liegt nun vor .
        Die Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme
        wollen wir von der freiheitsentziehenden Unterbringung
        entkoppeln . Ärztliche Zwangsmaßnahmen werden statt-
        dessen an das Erfordernis eines stationären Aufenthalts
        in einem Krankenhaus gebunden . Die materiellen Zu-
        lässigkeitsvoraussetzungen für die Einwilligung bleiben
        ansonsten erhalten . Das Gleiche gilt auch für die stren-
        gen verfahrensrechtlichen Anforderungen . So muss die
        ärztliche Zwangsmaßnahme zum Wohl des Betreuten
        notwendig sein, um einen drohenden erheblichen ge-
        sundheitlichen Schaden abzuwenden . Der Betreute muss
        einwilligungsunfähig sein . Ein in einer Patientenverfü-
        gung zum Ausdruck gebrachter oder mutmaßlicher Wille
        des Betreuten darf der Zwangsmaßnahme nicht entge-
        genstehen . Es muss – ohne Druck und mit der notwendi-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722334
        (A) (C)
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        gen Zeit – mindestens ein Überzeugungsversuch gemacht
        worden sein . Der drohende gesundheitliche Schaden
        darf durch keine andere weniger belastende Maßnahme
        abgewendet werden können . Außerdem muss der zu er-
        wartende Nutzen die zu erwartenden Beeinträchtigungen
        deutlich überwiegen .
        Vor allem mit dem Verweis auf die Patientenverfü-
        gung bzw . den mutmaßlichen Willen wird klargestellt,
        dass der Wille des Betreuten unbedingt Beachtung finden
        muss . Liegt eine Patientenverfügung vor, muss dieser
        Geltung verschafft werden. Kommt keine Patientenver-
        fügung zum Zug, ist der Betreuer an den mutmaßlichen
        Willen des Betreuten gebunden . Dafür muss der Betreuer
        konkrete Anhaltspunkte finden: Ausschlaggebend sind
        frühere schriftliche oder mündliche Äußerungen, ethi-
        sche oder religiöse Überzeugungen und auch sonstige
        persönliche Wertvorstellungen . Bei der Suche nach dem
        mutmaßlichen Willen muss er auch nahe Angehörige und
        sonstige Vertrauenspersonen einbeziehen .
        Dieser Weg ist wichtig, um dem Willen des Betreuten
        gerecht zu werden . Er ist aber auch aufwendig und wird
        nie ganz sicherstellen können, wie der Betreute tatsäch-
        lich zu den ärztlichen Zwangsmaßnahmen steht . Aus die-
        sem Grund stärken wir mit dem vorliegenden Gesetz auch
        die Patientenverfügung. Betreuer sind damit verpflichtet,
        auf die Möglichkeit einer Patientenverfügung hinzuwei-
        sen und bei der Errichtung zu unterstützen . Das ist vor
        allem dann hilfreich, wenn der Betreute nach einer Phase
        der Einwilligungsunfähigkeit wieder einwilligungsfähig
        ist . Für den Fall einer erneuten Einwilligungsunfähigkeit
        kann der Betreute dann festlegen, welche Behandlungen
        vorzunehmen und welche zu unterlassen sind .
        Auch zukünftig dürfen ärztliche Zwangsmaßnahmen
        nur das letzte Mittel sein, das bei drohender erheblicher
        Selbstgefährdung in Betracht kommt . Wir gehen damit
        den schmalen Grat zwischen Selbstbestimmungsrecht
        und Schutz der Betroffenen. Ich denke, wir haben eine
        gute Lösung gefunden .
        Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Wie im Gesetzent-
        wurf der Bundesregierung zutreffend festgestellt wird,
        gibt der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom
        26 . Juli 2016 Anlass zur Änderung des Betreuungsrechts .
        Die Koppelung einer ärztlichen Zwangsmaßnahme an
        eine freiheitsentziehende Unterbringung führt zu der
        Situation, dass es Fallkonstellationen gibt, in denen au-
        ßerhalb einer geschlossenen Unterbringung keine Mög-
        lichkeit besteht, einen Menschen gegen seinen Willen
        ärztlich zu behandeln, selbst wenn schwerste Gesund-
        heitsschäden drohen .
        Infolgedessen hat das Bundesverfassungsgericht dem
        Gesetzgeber aufgegeben, unter Berücksichtigung der
        Schutzpflicht des Staates, die sich aus Artikel 2 Absatz 2
        Satz 1 des Grundgesetzes – „Jeder hat das Recht auf Le-
        ben und körperliche Unversehrtheit – eine Regelung zu
        treffen, um diese Schutzlücke zu schließen. Dazu ist es,
        wie der Gesetzentwurf anführt, in der Tat erforderlich,
        die Einwilligung in die ärztliche Zwangsbehandlung von
        der freiheitsentziehenden Unterbringung abzukoppeln,
        wobei immer zu beachten ist, dass staatliche Eingriffe
        in Grundrechte nur als Ultima Ratio und so gering wie
        möglich erfolgen dürfen . Ob dies hier der Fall ist, müs-
        sen die Beratungen zeigen .
        Nach den vorgeschlagenen Regelungen sind vor einer
        Einwilligung des Betreuers in eine ärztliche Behandlung
        gegen den Willen des Betreuten insgesamt sieben Vo-
        raussetzungen kumulativ zu erfüllen, bevor der Betreuer
        zu der Einwilligung die zusätzlich erforderliche Geneh-
        migung des Betreuungsgerichts einholen kann .
        Einerseits erspart die vorgeschlagene Regelung dem
        Betroffenen die zusätzlich belastende geschlossene Un-
        terbringung, andererseits besteht die Gefahr, dass die
        vorgeschlagene Neuregelung quasi die Tür zur Akzep-
        tanz von ambulanten Behandlungen gegen den Willen
        des Betroffenen werden kann. Solche Behandlungen wa-
        ren und sind aber nicht gewollt . Von daher ist dies äußerst
        kritisch zu betrachten .
        Sehr schön ist, dass in dem nun vorgeschlagenen
        § 1906 a BGB auch als Voraussetzung gefordert wird,
        dass „zuvor ernsthaft, mit dem nötigen Zeitaufwand und
        ohne Ausübung unzulässigen Drucks versucht wurde, den
        Betreuten von der Notwendigkeit der ärztlichen Maßnah-
        me zu überzeugen“, während in der geltenden Regelung
        des 1906 BGB nur von dem Versuch der Überzeugung
        gesprochen wird . Auf dieses dringende Erfordernis hat
        die Linke bereits vor mehr als vier Jahren hingewiesen .
        Es soll – so ergibt es sich aus dem Gesetzestext bzw .
        aus der Begründung – kein Erfüllungsaufwand entstehen,
        weder für den Staat noch für die Bürger noch für die Wirt-
        schaft . Oder anders gesagt: Es bleibt bei den geltenden
        Kostenregelungen im Gesundheitswesen, wobei wir aus
        früheren Beratungen spätestens seit 2012 wissen, dass es
        Einrichtungen gibt, die offenbar auf Zwangsbehandlun-
        gen in Gänze verzichten können, eben weil sie mit dem
        nötigen Zeitaufwand und ohne Druck die Betroffenen
        von der Notwendigkeit der ärztlichen Hilfe überzeugen .
        Dies kostet Zeit; es kostet Nerven, und es kostet Geld .
        Kosten, die, wie wir alle wissen, aufgrund der Kostenre-
        gelungen des Gesundheitssystems nicht von der Kasse in
        dem erforderlichen Umfang erstattet werden .
        Hier muss in diesem Kontext auch nachgebessert wer-
        den. Insbesondere ist die Linke der Auffassung, dass es
        sich bei der notfalls einzuwilligenden Zwangsbehand-
        lung nicht um die Behandlung der Anlasserkrankung
        handeln darf . Denn Psychopharmaka heilen nicht; sie
        stellen ruhig . Die Nebenwirkungen von Psychopharmaka
        sind – das ist unbestritten – ganz erheblich . Aber insofern
        dürfte eine solche Behandlung schon an den genannten
        Voraussetzungen scheitern . Besser wäre es allerdings
        dies ausdrücklich ins Gesetz aufzunehmen .
        Keinesfalls darf suggeriert werden, dass diese Rege-
        lung, so sie denn verabschiedet werden sollte, Spielräu-
        me für ambulante Zwangsbehandlungen eröffnet. Aller-
        dings ist, wenn die Voraussetzung der Behandlung nach
        dem neuen § 1906a Absatz 1 Nummer 4 BGB ernst ge-
        nommen wird, eine Zwangsbehandlung so gut wie nicht
        mehr erforderlich . Man muss sich aber auch die Zeit für
        den Patienten nehmen .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22335
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        Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Mit dem Gesetz zur Neuregelung der be-
        treuungsrechtlichen Einwilligung in eine ärztliche
        Zwangsmaßnahme im Jahr 2013 scheint es – zumin-
        dest ersten veröffentlichten Zahlen zufolge – gelungen
        zu sein, Zwangsbehandlungen in der Psychiatrie zu re-
        duzieren . Das ist ein wichtiger Erfolg, der keinesfalls
        durch das Anliegen, Zwangsbehandlungen auf Personen
        auszuweiten, die deswegen nicht untergebracht werden
        können, weil sie sich der Behandlung räumlich nicht
        entziehen können oder wollen, gefährdet werden darf .
        Ziel muss sein, die vom Bundesverfassungsgericht fest-
        gestellte Schutzlücke zu schließen, ohne dabei die Vo-
        raussetzungen für Zwangsbehandlungen im Allgemeinen
        auszuweiten . Das gelingt der Bundesregierung mit ihrem
        Gesetzentwurf nur teilweise . Wir begrüßen, dass der Ge-
        setzentwurf die Möglichkeit einer Zwangsbehandlung
        auf einen stationären Krankenhausaufenthalt beschränkt
        und eine ambulante Zwangsbehandlung ausgeschlossen
        bleibt . Menschen müssen sich zu Hause sicher fühlen
        können .
        Kritisch ist, dass mit der Gesetzesänderung Zwangs-
        behandlungen psychiatrischer Erkrankungen auf offenen
        psychiatrischen Stationen ermöglicht werden . Das kann
        sich nicht nur negativ auf das Klima in offenen Stationen
        auswirken, sondern birgt auch die Gefahr, dass psychisch
        erkrankte Menschen davon abgeschreckt werden, sich
        freiwillig in die stationäre Behandlung zu begeben . Eine
        ähnlich unerwünschte Ausweitung ergibt sich aus der
        neuen Rechtsgrundlage für eine Verbringung der betreu-
        ten Person in ein Krankenhaus, die vor allem auf Perso-
        nen abzielt, die wegen einer somatischen Erkrankung in
        einem Krankenhaus zwangsbehandelt werden sollen . Die
        Regelung ermöglicht jedoch gleichermaßen, ohne ein
        vorgeschaltetes Unterbringungsverfahren Personen für
        eine Zwangsbehandlung in ein psychiatrisches Kranken-
        haus zu bringen . Um der unterschiedlichen Natur somati-
        scher und psychischer Erkrankungen und Behandlungen
        gerecht zu werden, spricht einiges dafür, wie im Maßre-
        gelvollzugsrecht und dem Unterbringungsrecht der Län-
        der, auch im Betreuungsrecht zwischen psychiatrischer
        und somatischer Zwangsbehandlung zu unterscheiden .
        Um den geltenden Schutz vor unverhältnismäßigen
        Zwangsbehandlungen weiter zu stärken, plädieren wir
        dafür, den Erforderlichkeitsgrundsatz im neuen § 1906a
        BGB zu konkretisieren, zumindest jedoch den entspre-
        chenden Wortlaut der Regelung zur Unterbringung im
        § 1906 Absatz 1 BGB zu übernehmen . Auch die Vor-
        schläge des Betreuungsgerichtstags zur Stärkung des
        Selbstbestimmungsrechts finden wir sinnvoll, wie die
        Klarstellung in § 1906a Absatz 1 Nummer 3 BGB, dass
        die Zwangsbehandlung dem früher erklärten Willen der
        betreuten Person entsprechen muss .
        Um Zwangsbehandlungen weiter zu reduzieren, ist
        uns wichtig, psychiatrische Krankenhäuser zu verpflich-
        ten, Patientinnen und Patienten mit wiederkehrenden
        Krisen eine Behandlungsvereinbarung anzubieten . So
        können Betroffene, wenn sie es möchten, gemeinsam
        mit ihrem Arzt oder Psychotherapeuten verbindlich fest-
        legen, wie sie im Zustand der Einwilligungsunfähigkeit
        behandelt werden möchten . Als geeignetes Instrument
        zur Zwangsvermeidung hat sich auch die Qualifizierung
        von Verfahrenspflegerinnen und -pflegern herausgestellt,
        vgl . Werdenfelser Weg . Hier wünschen wir uns eine ge-
        setzliche Konkretisierung .
        Sinnvoll, aber nicht ausreichend ist die im Gesetz-
        entwurf vorgesehene Evaluation der Auswirkungen der
        gesetzlichen Änderungen auf die Anwendungspraxis .
        Notwendig ist ein dauerhaftes Monitoring über Anzahl,
        Dauer und Durchführung von Zwangsbehandlungen, um
        Missstände in der Praxis und gesetzliche Fehlentwick-
        lungen zu erkennen und zu korrigieren . Zwangsmaß-
        nahmen sind schwere Eingriffe in die Grundrechte von
        Menschen, die, solange sie stattfinden, streng kontrolliert
        werden müssen .
        Wir sollten dieses Gesetzgebungsverfahren als Chan-
        ce nutzen, um Zwang in der Psychiatrie weiter zu redu-
        zieren und hoffen hierbei auf die Aufgeschlossenheit der
        Koalitionsfraktionen für Nachbesserungen .
        Christian Lange, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
        minister der Justiz und für Verbraucherschutz: Die Bun-
        desregierung hat dem Bundestag den Gesetzentwurf zur
        Änderung der materiellen Zulässigkeitsvoraussetzungen
        von ärztlichen Zwangsmaßnahmen und zur Stärkung des
        Selbstbestimmungsrechts von Betreuten vorgelegt, über
        den heute in erster Lesung beraten werden soll .
        Mit dem Entwurf wollen wir die vom Bundesverfas-
        sungsgericht am 26 . Juli 2016 festgestellte Schutzlücke
        im Betreuungsrecht unverzüglich schließen .
        Aktuell sieht das Betreuungsrecht vor, dass ärztliche
        Zwangsmaßnahmen zwar grundsätzlich möglich sind,
        wenn die Betroffenen aufgrund einer psychischen Krank-
        heit oder einer geistigen oder seelischen Behinderung die
        Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme nicht erkennen
        oder nicht nach dieser Einsicht handeln können . Weitere
        zwingende Voraussetzung ist aber eine freiheitsentzie-
        hende Unterbringung . Die Durchführung einer ärztlichen
        Zwangsmaßnahme ist also nur dann möglich, wenn die
        betroffene Person freiheitsentziehend untergebracht ist.
        Ist eine solche Unterbringung jedoch nicht erforderlich,
        weil sich die betroffene Person gar nicht entfernen kann
        oder will, so führt das dazu, dass diese auch dann nicht
        gegen ihren natürlichen Willen behandelt werden kann,
        wenn ihr ein erheblicher gesundheitlicher Schaden droht .
        Denn in diesen Fällen ist es nicht erlaubt, die Betroffenen
        geschlossen unterzubringen, weil dies nicht erforderlich
        ist .
        Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass
        diese Rechtslage mit der Schutzpflicht des Staates für
        das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrt-
        heit hilfebedürftiger Personen unvereinbar ist (Artikel 2
        Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes) . Wie das Bundes-
        verfassungsgericht sind auch wir der Meinung, dass hil-
        febedürftige Menschen nicht alleingelassen werden dür-
        fen und es die Aufgabe des Staates ist, ihnen wie allen
        Menschen die erforderliche medizinische Versorgung zu
        ermöglichen .
        Ziel des Entwurfs ist es, diese Regelungslücke in
        angemessener Weise unter Beachtung des Ultima-Ra-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722336
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        (B) (D)
        tio-Gebots zu schließen . Denn Zwang darf trotz allem
        immer nur das letzte Mittel sein .
        Das erreichen wir, indem wir ärztliche Zwangsmaß-
        nahmen von der freiheitsentziehenden Unterbringung
        entkoppeln . Stattdessen soll eine ärztliche Zwangsmaß-
        nahme im Rahmen eines stationären Aufenthalts in ei-
        nem Krankenhaus möglich sein, „in dem die gebotene
        medizinische Versorgung des Betreuten einschließlich
        einer erforderlichen Nachbehandlung sichergestellt ist“ .
        Gleichzeitig wollen wir das Selbstbestimmungsrecht
        von Betroffenen stärken. Dazu sieht der Entwurf aus-
        drücklich vor, dass die Festlegungen in einer Patien-
        tenverfügung, die früher mit freiem Willen geäußerten
        Behandlungswünsche des Betroffenen bzw. sein mut-
        maßlicher Wille beachtet werden müssen . Damit wird
        noch deutlicher gemacht, dass der schon nach geltendem
        Recht zu beachtende Wille des Betreuten die maßgebli-
        che Grundlage für die Entscheidung über die ärztliche
        Zwangsmaßnahme überhaupt ist .
        Außerdem wollen wir die Verbreitung von Patienten-
        verfügungen und Behandlungsvereinbarungen fördern,
        indem wir den Betreuer verpflichten, den Betreuten in
        geeigneten Fällen auf die Möglichkeit einer Patienten-
        verfügung hinzuweisen und ihn auf seinen Wunsch bei
        deren Erstellung zu unterstützen .
        Wir müssen nämlich – und das ist uns ganz besonders
        wichtig – alles dafür tun, dass ärztliche Zwangsmaßnah-
        men nach Möglichkeit vermieden werden . Solche Maß-
        nahmen stellen einen schwerwiegenden Eingriff in die
        Grundrechte der betroffenen Personen dar. Auch vor dem
        Hintergrund der UN-Behindertenrechtskonvention gilt
        es, das Selbstbestimmungsrecht zu stärken und Eingriffe
        auf das unbedingt erforderliche Maß zu reduzieren .
        Beiden Aspekten – der staatlichen Schutzpflicht auf
        der einen und der Stärkung des Selbstbestimmungsrechts
        auf der anderen Seite – wird mit dem Entwurf besser als
        bisher Rechnung getragen .
        Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie diesen Ge-
        setzentwurf möglichst rasch beraten und noch vor dem
        Ende dieser Wahlperiode verabschieden . Wir wollen den
        Menschen, um die es geht, möglichst schnell auf einer
        sicheren Rechtsgrundlage helfen .
        Anlage 19
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
        gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform
        des Bauvertragsrechts und zur Änderung der
        kaufrechtlichen Mängelhaftung (Tagesordnungs-
        punkt 39)
        Dr. Hendrik Hoppenstedt (CDU/CSU): Mit dem
        Gesetz zur Reform des Bauvertragsrechts und zur Ände-
        rung kaufrechtlicher Vorschriften stellen wir die rechtli-
        chen Rahmenbedingungen für Bauverträge auf ein neues
        und stabiles Fundament und beseitigen die Haftungsfalle
        für Handwerker . Damit setzen wir zentrale Anliegen der
        Union aus dem Koalitionsvertrag um .
        Bevor ich zu den inhaltlichen Ausführungen komme,
        möchte ich mich beim Kollegen Kelber stellvertretend
        für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des BMJV aus-
        drücklich für die sehr gute Zusammenarbeit bedanken .
        Änderungswünsche der Koalitionsfraktionen wurden en-
        gagiert aufgegriffen und äußerst konstruktiv und ergeb-
        nisorientiert mit beeindruckend viel juristischer Fantasie
        umgesetzt. Ich hoffe, dass Sie es ebenso sehen wie ich,
        dass sich die besten Argumente durchgesetzt haben und
        wir heute ein gutes Gesetz beschließen werden .
        Weil insbesondere das Bauvertragsrecht sehr umstrit-
        ten schien und Verzögerungen befürchtet wurden, sind
        zu Beginn des Gesetzgebungsverfahrens insbesondere
        von Handwerksseite Bedenken erhoben worden, die Ver-
        knüpfung der Änderungen im Mängelgewährleistungs-
        recht mit der Schaffung gesetzlicher Regelungen zum
        Bauvertragsrecht sei nicht sachgerecht und führe zu Ver-
        zögerungen . Deshalb möge man beide Teile des Gesetz-
        entwurfs abtrennen und den kaufvertraglichen Teil vorab
        beschließen . Allerdings besteht schon im Hinblick auf
        den Adressatenkreis ein sachlicher Zusammenhang zwi-
        schen den Regelungsmaterien, denn es sind jeweils Wer-
        kunternehmer beteiligt . Im Ergebnis war es dann umge-
        kehrt so, dass wir uns beim Bauvertragsrecht im Prinzip
        schnell einig waren . Zur Verzögerung kam es, weil der
        SPD-Fraktion der Gesetzentwurf des eigenen Ministers
        in der AGB-Frage nicht weit genug ging .
        Beginnen möchte ich mit der Reform des Bauver-
        tragsrechts. Damit schaffen wir für Bauvorhaben neue
        Rechtsgrundlagen und damit Rechtssicherheit und Trans-
        parenz sowohl für Bauherren wie für Bauunternehmen .
        Reformbedarf ergibt sich insbesondere daraus, dass
        das Werkvertragsrecht des BGB auf den kurzfristigen
        punktuellen Austausch von Leistung und Gegenleistung
        ausgelegt ist . Die Durchführung von komplexen, auf län-
        gere Zeit angelegten Bauvorhaben kann man damit nicht
        sachgerecht abbilden .
        Nach langjährigen Diskussionen und der Vorarbeit
        zweier Arbeitsgruppen in den beiden vergangenen Wahl-
        perioden wird das Bauvertragsrecht erstmals ausführlich
        im BGB geregelt . Für den Bauvertrag, den Verbraucher-
        bauvertrag sowie für den Architekten- und Ingenieurver-
        trag werden spezielle Regelungen in das Werkvertrags-
        recht des BGB eingefügt .
        Ein Kernpunkt der Reform ist die deutliche Erhöhung
        des Verbraucherschutzes bei Bauverträgen, die wir im
        Koalitionsvertrag vereinbart haben . Angesichts niedriger
        Zinsen ist Bauen aktuell auch für Private sehr attraktiv .
        Der Bau eines Eigenheims ist häufig eine Entscheidung
        für das ganze Leben und bedeutet für Verbraucherinnen
        und Verbraucher regelmäßig die größte finanzielle Belas-
        tung, die sie in ihrem Leben schultern . Deshalb sind sie
        besonders schutzwürdig .
        Bauunternehmer müssen Verbraucherbauherren des-
        halb künftig vorab eine detaillierte Baubeschreibung zur
        Verfügung stellen, die Vertragsinhalt wird . Die angebote-
        nen Leistungen werden auf diese Weise transparent . So
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22337
        (A) (C)
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        können Verbraucher realistisch vergleichen und sich für
        das qualitativ beste Angebot entscheiden . Um wirksam
        zu sein, muss der Verbraucherbauvertrag in Textform
        geschlossen werden . Damit sie die Entscheidung gründ-
        lich überdenken können, bekommen Verbraucherinnen
        und Verbraucher ein 14-tägiges Widerrufsrecht . Durch
        die Begrenzung der Höhe von Abschlagszahlungen wird
        eine finanzielle Überforderung der Häuslebauer verhin-
        dert .
        Fast immer ergeben sich während der Bauausführung
        gegenüber den Planungen Änderungswünsche, egal ob
        es sich um ein privates Eigenheim oder ein Industriege-
        bäude handelt . Bislang wird oft darüber gestritten, ob die
        Änderungen erforderlich sind und wer diese zu bezahlen
        hat . Schließlich dauert es zu lange, bis gerichtlich darü-
        ber entschieden ist . Streitigkeiten während der Bauaus-
        führung führen häufig zu Baustillständen. Das hat negati-
        ve Folgen für Zeitplanung und Baukosten .
        Künftig wird die einvernehmliche und zügige Lö-
        sung von solchen Konflikten erleichtert. Es wird eine
        30-tägige Frist für die Reaktion des Bestellers auf ein
        entsprechendes Nachtragsangebot des Unternehmers
        vorgesehen . Äußert er sich nicht, soll die Einigung als
        gescheitert gelten .
        Das ursprünglich im Entwurf vorgesehene zusätzli-
        che Einigungsverfahren mit Sachverständigenbeteili-
        gung vor der möglichen Inanspruchnahme einstweiligen
        Rechtschutzes haben wir im Sinne der angestrebten Be-
        schleunigung aus dem Gesetzentwurf gestrichen .
        Für den Fall, dass sich Besteller und Unternehmer
        nicht einigen, haben wir das grundsätzlich aus der VOB/B
        bekannte einseitige Anordnungsrecht des Bauherrn in
        das BGB-Bauvertragsrecht übernommen . Klarheit über
        die konkrete Anordnung wird dadurch erreicht, dass sie
        in Textform erfolgen muss . Natürlich ist klar, dass ein
        solches Anordnungsrecht einen tiefen Eingriff in die Ver-
        tragsfreiheit darstellt . Dieser ist aber gerechtfertigt; denn
        auch der Bauunternehmer bekommt ein scharfes Schwert
        an die Hand:
        Nach dem neuen Bauvertragsrecht führt eine solche
        Anordnung des Bestellers unmittelbar zu einer Preisan-
        passung zugunsten des Bauunternehmers . Dieser kann
        80 Prozent der geforderten Mehrvergütung verlangen .
        Damit wird seine Liquidität sichergestellt und das Insol-
        venzrisiko verringert .
        Zur Vermeidung des Missbrauchs dieser 80-Pro-
        zent-Regelung wird zum Schutz des Bestellers eine Verz-
        insungspflicht des Bauunternehmers eingeführt.
        Eine schnelle Rechtsdurchsetzung wird dadurch er-
        reicht, dass Streitfälle aufgrund der Zuständigkeits-
        konzentration beim Landgericht durch mit der Materie
        besonders gut vertraute Richter schnell und effizient ge-
        richtlich entschieden werden können .
        Spezialkammern sind deshalb sinnvoll, weil es sich
        um ein komplexes und schwieriges Rechtsgebiet handelt,
        dessen Behandlung besondere Einarbeitung, Kenntnisse
        und Erfahrungen erfordert . Schon der 70 . Deutsche Ju-
        ristentag hatte sich 2014 dafür ausgesprochen, bei den
        Landgerichten Spezialkammern unter anderem für Bau-
        sachen einzurichten .
        Die Detailprivilegierung der Vorschriften der VOB/B
        zum Anordnungsrecht und zur Vergütungsanpassung wur-
        de aus dem Gesetzentwurf gestrichen . Diese Regelung
        hätte sonst dazu geführt, dass in der Praxis regelmäßig
        die AGB-rechtlich privilegierten VOB/B-Bestimmungen
        vereinbart und so die zugunsten des Unternehmers einzu-
        führende 80-Prozent-Abschlagszahlung auf Basis seines
        Angebots umgangen worden wären . Wir hätten damit un-
        ser eigenes gesetzliches Leitbild demontiert .
        Mit dem Erfordernis einer Schlussrechnung wird eine
        zusätzliche Fälligkeitsvoraussetzung eingeführt . Das
        hat folgenden Grund: Ein Bauvertrag ist typischerweise
        komplex und besteht regelmäßig aus vielen Einzelleis-
        tungen . Damit besteht generell ein Bedürfnis des Be-
        stellers, die geltend gemachte Rechnungssumme anhand
        einer Aufschlüsselung der erbrachten Einzelleistungen
        überprüfen zu können .
        Die Reform des Bauvertragsrechts wird insgesamt zu
        einem sachgerechten Interessenausgleich und zu mehr
        Rechtssicherheit führen . Das ist nicht nur gut für die Ver-
        braucherinnen und Verbraucher, sondern ist auch und ge-
        rade im Interesse der Bauwirtschaft und der Architekten .
        Zum zweiten Teil des Gesetzes: Wie im Koalitions-
        vertrag vereinbart, beenden wir zum 1 . Januar 2018 die
        Haftungsfalle für Handwerker . Sie werden im Kaufrecht
        erstmals einen gesetzlichen Anspruch gegen den Verkäu-
        fer auf Ersatz der Aus- und Einbaukosten erhalten, wenn
        er ihnen mangelhaftes Material geliefert hat . Handwerker
        sind gegenüber ihren Kunden aufgrund des geschlosse-
        nen Werkvertrags zum Ausbau des fehlerhaften und zum
        Einbau des mangelfreien Baumaterials verpflichtet. Bis-
        lang mussten sie die Kosten des Aus- und Wiedereinbaus
        selbst tragen . Das ändern wir mit der Neuregelung, und
        wir verbessern damit die Rechte der Handwerker signifi-
        kant und nachhaltig .
        Für die Kosten des zusätzlichen erforderlichen Aus-
        und Wiedereinbaus werden zunächst die Verkäufer haf-
        ten, die gegebenenfalls wiederum bei ihren Lieferanten
        Regress nehmen können, sodass letztlich derjenige die
        Kosten zu tragen hat, der dafür verantwortlich ist .
        Im Interesse des Handwerks haben wir den Anwen-
        dungsbereich des Nacherfüllungsanspruchs konkreti-
        siert, um den Einbaufällen vergleichbare Sachverhalte
        abzudecken . Wir haben dabei primär die Maler und La-
        ckierer vor Augen, die mangelhafte Farben oder Lacke
        nicht im Wortsinne eingebaut, sondern angebracht ha-
        ben und diese abschleifen und erneut anbringen müssen .
        Auch sie sollen die dafür erforderlichen Kosten vom Ver-
        käufer erstattet bekommen .
        Um Folgeprobleme zu vermeiden, die sich aufgrund
        unterschiedlicher Verträge in der Leistungskette ergäben,
        wird das streitanfällige sogenannte Selbstvornahmerecht
        des Verkäufers zugunsten eines reinen Aufwendungser-
        satzanspruchs gestrichen .
        Es gab Befürchtungen, dass die neuen gesetzlichen
        Regelungen über Allgemeine Geschäftsbedingungen
        ausgehebelt werden könnten . Selbst unser Koalitions-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722338
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        partner war zunächst der Meinung, der Gesetzentwurf
        des eigenen SPD-Justizministers sei insoweit nicht aus-
        reichend . Deshalb haben die Verhandlungen länger ge-
        dauert als ursprünglich geplant .
        Tatsächlich handelt es sich bei der AGB-Frage um
        eine rechtlich sehr komplexe Regelungsmaterie . Glückli-
        cherweise konnten wir diese Irritationen im Rahmen der
        Berichterstattergespräche ausräumen .
        In der AGB-Frage hat sich die CDU/CSU-Fraktion
        gegenüber der SPD durchgesetzt . Das heißt, es bleibt
        bei dem im ursprünglichen Gesetzentwurf vorgesehenen
        Klauselverbot .
        Wir haben uns auf eine Lösung verständigt, die Ver-
        braucher und kleine Handwerksbetriebe schützt, aber
        im unternehmerischen Geschäftsverkehr eine flexible
        Inhaltskontrolle durch die Gerichte erlaubt, sodass die
        besonderen Gegebenheiten von Geschäften im B2B-Be-
        reich berücksichtigt werden können . Mit der Indizwir-
        kung wird Einzelfallgerechtigkeit erreicht . Vielfältige
        Konstellationen erfordern nun einmal die Möglichkeit
        flexibler Entscheidungen durch die Gerichte.
        Nehmen wir einmal an, der Bundestag wäre dem Vor-
        schlag der SPD gefolgt und hätte die Verwendung die-
        ser einen Klausel generell verboten . Dann hätte dieses
        Klauselverbot unmittelbar für die gesamte Wirtschaft
        gegolten, auch für große international tätige Unterneh-
        men . Das wäre nicht sachgerecht . Die Regelung hätte zu
        einem Dammbruch geführt: Es wäre eine Debatte über
        die AGB-feste Ausgestaltung aller in § 308 und § 309
        BGB geregelten Klauselverbote entbrannt, weil Kleinun-
        ternehmer mit dem Argument ihrer Schutzbedürftigkeit
        jeweils eine unmittelbare Geltung gefordert hätten .
        Dazu kommt, dass eine solche Regelung angesichts
        der Diskussion, ob das deutsche AGB-Recht im internati-
        onalen Vergleich nicht ohnehin viel zu restriktiv ist, Gift
        für den Rechts- und Wirtschaftsstandort Deutschland ge-
        wesen wäre .
        Nach eingehender Prüfung und Beratung ist der Aus-
        schuss für Recht und Verbraucherschutz daher zu dem
        Ergebnis gekommen, dass eine solche Regelung mit
        Blick auf die Rechtsprechung zur Indizwirkung der
        Klauselverbote für den unternehmerischen Bereich nicht
        erforderlich ist .
        Die Union hat sich für die Vertragsfreiheit eingesetzt,
        hält aber zugleich gegenüber den Handwerkern Wort und
        lässt sie bei den Aus- und Einbaukosten nicht im Stich .
        Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Der Gesetzentwurf
        zur Reform des Bauvertragsrechts und zur Änderung
        der kaufrechtlichen Mängelhaftung steht am heutigen
        Tag nach langen Verhandlungen vor der Verabschiedung
        im Deutschen Bundestag . Mit den eingebrachten Än-
        derungen ist uns ein sinnvoller Interessenausgleich für
        alle Seiten gelungen . Durch die initiale Rechtsprechung
        des Europäischen Gerichtshofs im kaufrechtlichen Män-
        gelgewährleistungsrecht ergaben sich erhebliche Unge-
        rechtigkeiten zulasten von kleinen Handwerksbetrieben .
        Mit diesem Gesetzentwurf wird die Kostentragungs-
        pflicht bei den Einbau- und Ausbaufällen im Rahmen der
        Nacherfüllung an die Hersteller der mangelhaften Bau-
        materialien weitergereicht . Es ist das Ziel erreicht, dass
        kleine Handwerksbetriebe vor existenzbedrohenden Haf-
        tungsfällen geschützt werden .
        Im Interesse des Handwerks konnten wir weitere
        Änderungen durchsetzen . Maler oder Lackierer, welche
        mangelhafte Farben oder Lacke verarbeiten, sehen sich
        ebenfalls der Pflicht zum Abschleifen und erneuten An-
        bringen der Farben oder Lacke ausgesetzt . Solche Sach-
        verhalte erscheinen mit den Einbau- und Ausbaufällen
        vergleichbar, sodass wir den Anwendungsbereich des
        Nacherfüllungsanspruchs konkretisieren .
        Das Klauselverbot bei der Nacherfüllung bleibt je-
        doch auf Allgemeine Geschäftsbedingungen beschränkt,
        die gegenüber einem Verbraucher verwendet werden . Im
        Ergebnis sind die kleinen Handwerksbetriebe weiterhin
        geschützt . In der Rechtsprechung wird einem Klausel-
        verbot gegenüber Verbrauchern eine Indizwirkung für
        den unternehmerischen Bereich zugeschrieben . Ein Aus-
        schluss oder die Einschränkung der Haftung des Bau-
        stoffhändlers für Nacherfüllungsaufwendungen durch
        AGB werden nach den allgemeinen Regeln der Inhalts-
        kontrolle unwirksam sein .
        Der zweite Teil dieser umfassenden Gesetzesände-
        rungen betrifft den Bauvertrag und den Verbraucher-
        bauvertrag, welche eine Regelung als eigenständige
        Vertragstypen im Bürgerlichen Gesetzbuch erfahren . Bei
        langwierigen Bauvorhaben ergeben sich oftmals Verän-
        derungen zum ursprünglich geschlossenen Vertrag, wel-
        che eine Anpassung des Vergütungsanspruchs erfordern .
        Bei Streitigkeiten über die Höhe der Vergütung für zu-
        sätzliche Leistungen wird ein Anspruch auf Abschlags-
        zahlung in Höhe von 80 Prozent der im Angebot fest-
        gesetzten Vergütung geschaffen. Die genaue Berechnung
        der Mehrvergütung bleibt weiterhin der Schlussrechnung
        vorbehalten. Mit der vorläufigen Pauschalierung möch-
        ten wir jedoch das Insolvenzrisiko von Bauunternehmen
        verringern, da diese selbst für Materialien in Vorleistung
        gehen müssen .
        Durch eine nachträgliche Änderung des Gesetzent-
        wurfs verpflichten wir die Unternehmen jedoch, keine
        überhöhten Forderungen bei der Mehrvergütung zu stel-
        len . Überzahlungen sind mit einer Verzinsung nach den
        Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs von bis zu
        9 Prozent zurückzugewähren . Einem möglichen Miss-
        brauch der Unternehmer wird damit entgegengetreten .
        Als weitere Änderung konnte die AGB-rechtliche Pri-
        vilegierung der VOB/B wieder aus dem Gesetzentwurf
        gestrichen werden . Es sind keine zwingenden Gründe er-
        sichtlich, dass die Inhaltskontrolle nach § 307 BGB bei
        der Berechnung der Vergütungsanpassung keine Anwen-
        dung finden soll. Einem Rosinenpicken der günstigsten
        Bedingungen verhandlungsstarker Besteller möchten wir
        keine gesetzliche Grundlage schaffen.
        Mit den exemplarisch aufgezeigten Änderungen in
        diesem umfassenden Gesetzesvorhaben möchte ich ver-
        deutlichen, dass uns sinnvolle Regelungen mit Blick auf
        alle Interessen gelungen sind . Es ist nun abzuwarten, ob
        sich die Verbesserungen auch in der Praxis niederschla-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22339
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        gen werden . Ich kann jedenfalls mit gutem Gewissen um
        Zustimmung zu diesem Gesetz bitten .
        Dr. Johannes Fechner (SPD): Mit dem heute vor-
        liegenden Gesetzentwurf zum neuen Bauvertragsrecht
        und den wichtigen Änderungen im Kaufrecht schließen
        wir ein Gesetzgebungsvorhaben ab, bei dem viele inten-
        siv mitgearbeitet hatten – zum Teil über Jahre . Zu danken
        gilt es deshalb allen Beteiligten . Hierzu gehören die Mit-
        glieder der Expertenkommission zum Bauvertragsrecht,
        die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen im Justizministeri-
        um und alle Verbände, die sich durchweg konstruktiv an
        der Erarbeitung dieses Gesetzentwurfes beteiligt haben .
        In Deutschland gibt es rund 600 000 Handwerksun-
        ternehmen, die über 500 Milliarden Euro Umsatz er-
        wirtschaften und in denen über 5 Millionen Personen
        beschäftigt sind . Für die SPD war deshalb klar, dass wir
        das Handwerk, unsere Wirtschaftsmacht von nebenan,
        unterstützen . Und das wollen wir nicht nur in Sonntags-
        reden tun, sondern mit diesem Gesetzentwurf erleichtern
        wir den Handwerkern in Deutschland das Geschäft . Zu-
        künftig kann ein Handwerker grundsätzlich von seinem
        Baustofflieferanten, der ihm mangelhaftes Material ge-
        liefert hat und das er bei seinem Kunden eingebaut hat,
        nicht nur neues Material, sondern auch die Ersetzung der
        Ein- und Ausbaukosten verlangen . Erfasst sind jetzt auch
        Fälle, bei denen mangelhaftes Material angebracht und
        nicht nur eingebaut wurde . Verwendet also etwa ein Ma-
        ler mangelhafte Farbe, kann er die Kosten der Neulackie-
        rung von seinem Lieferanten verlangen . Wichtig ist auch,
        dass in einem solchen Fall der Handwerker entscheiden
        kann, wer den Schaden repariert . Ihm und seinem Kun-
        den bleibt also die Situation erspart, dass der Baustofflie-
        ferant und damit ein dem Kunden völlig Unbekannter die
        Reparatur vornimmt .
        In einem Punkt hat sich die SPD nicht durchgesetzt .
        Dies war bekanntlich der Grund, warum wir für diesen
        Gesetzentwurf so lange gebraucht haben . Wir hätten
        gerne die Haftung des Baustofflieferanten für Ein- und
        Ausbaukosten bei Materialfehlern AGB-fest geregelt .
        Leider wollten dies unsere Kolleginnen und Kollegen
        von der Union aus Rücksicht auf die Interessen des Han-
        dels nicht . Es mag sein, dass es Argumente gibt für die
        Annahme, die Rechtsprechung werde solche AGB-Aus-
        schlüsse schon für unwirksam erklären . Aber wenn das
        genau unser Ziel ist, wenn wir also verhindern wollen,
        dass Handwerker in langwierigen, aufwendigen, teuren
        Prozessen für ihre ordentlich erbrachte Arbeit ihrem
        Geld hinterherlaufen müssen, dann hätten wir das auch
        gleich ins Gesetz so hineinschreiben können . Immerhin
        konnten wir eine verbindliche Evaluierung festschreiben,
        die ausdrücklich untersuchen wird, wie die Praxis das
        AGB-Klauselverbot handhabt .
        Einen großen Fortschritt gibt es im Bauvertragsrecht
        für Bauherren, aber auch für Bauunternehmen . Ausdrück-
        lich haben Bauherren nun auch nach Vertragsabschluss
        einen Rechtsanspruch auf Änderungen des Bauwerks .
        Eigentlich gilt ja der Grundsatz „pacta sunt servanda“,
        aber da man gerade eine Immobilie in der Regel ein Le-
        ben lang nutzt, muss es möglich sein, wenn während der
        Bauausführung ein neuer Wunsch entsteht, diesen auch
        umsetzen zu können . Hierfür haben wir klare Regeln
        geschaffen. Dem neuen Anordnungsrecht des Bauherrn
        steht der Anspruch des Bauunternehmers gegenüber, die-
        ses nur ausführen zu müssen, wenn eine angemessene
        Vergütung hierfür bezahlt wird und wenn der Bauunter-
        nehmer auch in der Lage ist, die angeordnete Änderung
        auszuführen . Durch klare Regelungen zur Ausübung des
        Anordnungsrechtes und zur Berechnung der angemesse-
        nen Mehrvergütung für den Bauunternehmer verhindern
        wir zudem Rechtsstreitigkeiten und damit einhergehende
        Bauverzögerungen .
        Handwerker, Bauherren und Bauunternehmen er-
        halten durch dieses Gesetz mehr Rechtssicherheit . Wir
        schaffen mehr Rechte für Verbraucher, Handwerker und
        Bauunternehmen . Stimmen wir also diesem intensiv be-
        ratenen und ausgewogenen Gesetz zu .
        Sabine Poschmann (SPD): Als Handwerksbeauf-
        tragte der SPD-Bundestagsfraktion begrüße ich, dass es
        uns mit dem vorliegenden Bauvertragsrecht und im Spe-
        ziellen mit den Regelungen zur kaufrechtlichen Mängel-
        gewährleistung gelungen ist, ein zentrales Vorhaben aus
        dem Koalitionsvertrag umzusetzen .
        Mit der vorliegenden Regelung bleiben nun – wie
        zwischen Union und SPD vereinbart – „Unternehmer
        nicht pauschal auf den Folgekosten von Produktmängeln
        sitzen“ . Dennoch hätte sich meine Fraktion gewünscht,
        dass wir dieses Versprechen an die Handwerksunterneh-
        men ohne Hintertüren für den Handel umgesetzt hätten .
        Denn ohne die von uns geforderte AGB-feste Ausge-
        staltung des Gewährleistungsrechts bleibt es dem Han-
        del weiterhin möglich, die Übernahme der Einbau- und
        Ausbaukosten zu verweigern . Ein entsprechender Passus
        in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen genügt . Da
        ist es auch nur wenig tröstlich, dass die Handwerker ge-
        gen entsprechende Klauseln rechtlich vorgehen können .
        Denn die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein Malermeister
        in einen langwierigen und kostspieligen Rechtsstreit mit
        einer Baumarktkette begibt, ist äußerst gering .
        Meine Fraktion hat frühzeitig auf diese Lücke im Ge-
        setzentwurf hingewiesen . Auch der Bundesrat hat in sei-
        ner Stellungnahme deutlich gemacht, dass man durch die
        Ausweitung des entsprechenden Klauselverbotes auf Ge-
        schäftsbeziehungen zwischen Unternehmern Rechtssi-
        cherheit für die Handwerksunternehmen hätte herstellen
        können . Ich bedauere sehr, dass sich unser Koalitions-
        partner dieser Auffassung nicht angeschlossen hat und
        unserem Vorschlag für eine AGB-feste Ausgestaltung
        nicht gefolgt ist .
        Umso wichtiger ist es, dass der Ausschuss für Recht
        und Verbraucherschutz die im Gesetzestext festgeschrie-
        bene Evaluierung der Regelungen konkretisiert hat . Wir
        legen Wert darauf, dass hierbei die Auswirkungen des
        Gesetzes auf die unternehmerische Praxis genau unter
        die Lupe genommen werden . Sollte es hier Fehlentwick-
        lungen geben, die das Handwerk benachteiligen, müssen
        wir nachbessern . Nur dann werden wir dem Versprechen
        an die vielen kleinen Handwerksunternehmen in unse-
        rem Land gerecht, dass sie nicht länger für unverschulde-
        te Folgekosten aufkommen müssen .
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        Karin Binder (DIE LINKE): Fast zehn Jahre haben
        die Bundesregierung und Koalition gebraucht, um end-
        lich eine Reform des Vertragsrechts vorzulegen und die
        Verbraucherinnen und Verbraucher besser zu schützen .
        Knapp ein Jahr brauchte der Bundestag, um nach der An-
        hörung den Gesetzentwurf endlich zu verabschieden . Da-
        mit hat sie über Jahre hinweg Menschen, die sich ihr ei-
        genes Zuhause finanzieren, im Regen stehen lassen. Bei
        anderen Gesetzesvorhaben, die ihr wichtig sind, ist die
        Koalition schneller . Das ist unverantwortlich . Der Schutz
        von Verbraucherinnen und Verbrauchern ist beim Bau
        eines Eigenheims besonders wichtig . Die Realität ist,
        dass 97 Prozent der Bauverträge Mängel aufweisen . Die
        privaten Haus- und Wohnungsbesitzer sind aber Verbrau-
        cherinnen und Verbraucher, denen die Kompetenz fehlt,
        um das einschätzen zu können . Für die meisten ist der
        Bau die größte Investition ihres Lebens . 20 bis 30 Jahre
        geht ein Großteil ihres Einkommens in die Finanzierung
        der Wohnimmobilie .
        Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Bau-
        vertragsrecht hat Licht und Schatten . Er schlägt wichtige
        Verbesserungen vor, hat aber auch Mängel und benach-
        teiligt Verbraucherinnen und Verbraucher gegenüber den
        Bauunternehmen und Banken, die den Bau finanzieren.
        Zu begrüßen ist, dass Bauunternehmer gegenüber pri-
        vaten Bauherren zu einer Baubeschreibung verpflichtet
        werden und dass es verbindliche Vereinbarungen zur
        Bauzeit und ein zweiwöchiges Widerrufsrecht geben
        soll . Außerdem sollen Obergrenzen für die Abschlags-
        zahlungen eingeführt werden . Die Bauunternehmen
        werden auch verpflichtet, die Bauunterlagen herauszu-
        geben – was eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein
        sollte . Zudem soll auch dem Bauunternehmer künftig
        der Aufwand für den Austausch fehlerhafter Produkte
        von den Herstellern erstattet werden . Das erleichtert die
        gute Bauausführung. All das schafft mehr Klarheit für
        Verbraucherinnen und Verbraucher . Doch die generelle
        Benachteiligung privater Bauherren gegenüber den Un-
        ternehmen wird nicht ausgeglichen .
        Für Verbraucherinnen und Verbraucher bleiben erheb-
        liche Nachteile bestehen, wenn sie bauen oder sanieren
        wollen: So ist völlig unzureichend beschrieben, was
        eigentlich ein Verbrauchervertrag ist . Regelungen zum
        Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher sollen an
        einem bestehenden Gebäude nur bei erheblichen Um-
        baumaßnahmen greifen . Viele Bauleistungen sind damit
        überhaupt nicht erfasst . Übliche Einzelleistungen, wie
        der Rohbau eines Hauses oder der Einbau von Fenstern
        und Türen, werden nicht in das neue Gesetzeswerk ein-
        bezogen . Das wird dazu führen, dass Unternehmer die
        Bauvorhaben in zahlreiche Einzelverträge aufteilen, um
        sich vor gerechtfertigten Ansprüchen der Verbraucherin-
        nen und Verbraucher zu drücken . Eine solche erhebliche
        Verhinderung von Verbraucherschutz ist für die Linke
        nicht hinnehmbar .
        Außerdem ist es in der Baubranche üblich, Kasse
        zu machen, bevor gebaut wird . Es muss doch endlich
        unterbunden werden, dass Unternehmen von Verbrau-
        cherinnen und Verbrauchern hohe Abschlags- und Si-
        cherheitszahlungen verlangen, ohne dass eine Fertigstel-
        lungsgarantie gegeben wird . Wir sagen: Die Höhe der
        Sicherheitsleistung muss bei 20 Prozent gedeckelt wer-
        den. Häufig werden Verbraucherinnen und Verbraucher
        vertraglich genötigt, vor der Schlüsselübergabe 100 Pro-
        zent des Vergütungsanspruchs an die Werkunternehmer
        auszuzahlen . Das macht es aber erheblich schwerer, spä-
        ter berechtigte Mängelansprüche durchzusetzen . Wir sa-
        gen: Ein Bauvertragsrecht, das Verbraucherschutz ernst
        nimmt, muss sicherstellen, dass erst gezahlt wird, wenn
        die Leistung ordnungsgemäß erbracht wurde . Bauherren
        müssen zuerst die Möglichkeit haben, mit Expertinnen
        und Experten ihrer Wahl den Bau in Ruhe abzunehmen .
        Dringend erforderlich ist außerdem ein gesetzlich gere-
        geltes Kündigungsrecht der Verbraucherinnen und Ver-
        braucher bei Insolvenz des Bauunternehmens . Bei einer
        Insolvenz erhöhen sich die finanziellen und zeitlichen
        Risiken für die Eigenheimbauer erheblich .
        Leider zeigt sich auch bei dem Gesetzentwurf zum
        Bauvertragsrecht, dass es sich die Bundesregierung
        zur Aufgabe macht, Unternehmen vor Verbrauchern zu
        schützen, anstatt den Verbraucherschutz zu stärken . Den
        Gesetzentwurf lehnen wir daher ab .
        Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dieses
        Gesetz war jetzt zwar auch eine Weile in der Versenkung
        verschwunden, aber am Ende muss ich positiv vermer-
        ken, dass die Zeit offenbar sinnvoll genutzt worden ist.
        Es ist ja leider eher selten in dieser Legislatur, dass die
        Erkenntnisse aus Anhörungen tatsächlich noch berück-
        sichtigt und eingearbeitet werden . Hier ist es jedenfalls
        mal tatsächlich so gelaufen, und das verdient auch das
        Lob der Opposition . Zunächst zur kaufrechtlichen Män-
        gelhaftung: Handwerker, die vom Hersteller mit fehler-
        hafter Ware beliefert wurden, sollen künftig auch für die
        Kosten für den Ein- und Ausbau der Waren beim Kunden
        entschädigt werden . Zwei Probleme wurden im Verfah-
        ren erkannt und behoben . Auch Handwerker, die ihre
        Ware nicht direkt einbauen, sondern verarbeiten, wie
        beispielsweise die Maler ihre Farbe, sollen von der Neu-
        regelung erfasst werden . Das ist zu begrüßen . Außerdem
        sollte der Lieferant im Ursprungsentwurf ein Wahlrecht
        haben, ob er dem Handwerker den Schaden ersetzt oder
        die Arbeiten selbst vornimmt . Dabei wäre es für den ei-
        gentlichen Kunden zu der befremdlichen Lage gekom-
        men, dass er plötzlich ein anderes als das von ihm beauf-
        tragte Unternehmen in sein Haus lassen müsste . Dieses
        Wahlrecht ist nunmehr zu Recht gestrichen worden . Mit
        diesen Verbesserungen wurde den Interessen der Betei-
        ligten angemessen Rechnung getragen .
        Nicht ganz so schlank und eindeutig sind die Neurege-
        lungen zum Bauvertragsrecht geworden . Unstreitig sind
        da zunächst mal die Verbesserungen für die Verbraucher,
        also die klassischen „Häuslebauer“ . Hier werden endlich
        Pflichten zur Baubeschreibung und zu Vereinbarungen
        über eine verbindliche Bauzeit eingefügt, die für mehr
        Klarheit und Rechtssicherheit sorgen . Ob die Verbrau-
        cher allerdings mit ihrem neuen Widerrufsrecht bei Bau-
        verträgen glücklich werden, wage ich zu bezweifeln .
        Läuft alles nach Plan, wird der Verbraucher ordnungs-
        gemäß darüber belehrt, dass er fristgerecht widerrufen
        kann, aber die bis dahin angefallenen Kosten tragen
        muss . Ist der Verbraucher nicht ordnungsgemäß belehrt
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22341
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        worden, läuft die Widerrufsfrist nicht ab, und er kann
        noch ein ganzes Jahr lang widerrufen, wobei dann be-
        reits erheblich Summen verbaut sein können . In diesem
        Fall ist es unangemessen, wenn das Gesetz trotz fehler-
        hafter Belehrung eine verschuldensunabhängige einsei-
        tige Kostentragung festlegt . Ein solches Widerrufsrecht
        ist für den Verbraucher letztlich gefährlicher als gar kein
        Widerrufsrecht .
        Problematisch ist ebenfalls, dass die Ausnahme von
        der Pflicht zur Stellung einer Bauhandwerkersicherung
        nicht mehr für Verbraucher schlechthin, sondern nur
        noch für Verbraucherbauverträge im Sinne des § 650h
        BGB gilt . Das ist eine unnötige Schlechterstellung der
        Verbraucher gegenüber heute . Nicht nur für Verbraucher,
        sondern für alle Auftraggeber soll es künftig ein Anord-
        nungsrecht für Änderungen am Bau geben . Das Baurecht
        soll damit flexibler werden. Dem Änderungswunsch des
        Bestellers steht aber logischerweise ein Anspruch auf
        Vergütungsanpassung des Unternehmers gegenüber . Die
        Ermittlung der Höhe dieses Anspruchs ist leider extrem
        kompliziert . Zunächst soll der Unternehmer ein Angebot
        über die Mehrvergütung abgeben und sich darüber mit
        dem Bauherrn einigen . Wenn innerhalb von 30 Tagen
        keine Einigung erzielt wird, kann der Bauherr entweder
        seinen Änderungswunsch zurücknehmen, oder der Un-
        ternehmer kann 80 Prozent der Summe aus seinem An-
        gebotsvorschlag als Abschlagszahlung geltend machen .
        Dem Besteller bleibt als Alternative nur, die Höhe der
        Vergütungsanpassung durch eine einstweilige Verfügung
        vor Gericht klären zu lassen . Immerhin haben Sie das
        zusätzliche Sachverständigengutachten wieder gestri-
        chen, das noch vor einer gerichtlichen Verfügung hätte
        eingeholt werden sollen . Das ganze Verfahren ist ohne-
        hin schon so kompliziert, dass es für private Verbrau-
        cher eher nicht handhabbar sein dürfte . Da ist es mehr
        als gerecht, dass Sie die ursprüngliche Bevorzugung der
        öffentlichen Hand als Bauherr wieder gestrichen haben.
        Im Regierungsentwurf war noch vorgesehen, dass im
        Bereich der öffentlichen Aufträge der Rückgriff auf Ein-
        zelteile der VOB/B möglich sein sollte . So hätten sich
        verhandlungsstarke Unternehmer die besten Regelungen
        herauspicken können und zum Beispiel die Abschlags-
        zahlung von 80 Prozent umgehen können . Das wäre eine
        ungerechtfertigte Besserstellung gewesen .
        Ob das neue Anordnungsrecht trotz seiner kompli-
        zierten Regelung den Praxistest bestehen wird, bleibt
        abzuwarten . In einem so streitanfälligen Bereich wie
        dem Baurecht wird es mit Sicherheit nicht lange dauern,
        bis wir die erste Gerichtsentscheidung dazu evaluieren
        können . Damit die Gerichte dazu auch gute und schnelle
        Entscheidungen treffen können, ist die Einrichtung von
        Spezialkammern an den Zivilgerichten sicherlich hilf-
        reich . In ihrem Änderungsantrag haben Sie dies jetzt im
        Gerichtsverfassungsgesetz verbindlich vorgeschrieben –
        leider ohne Beteiligung derjenigen, die diese Vorgaben in
        der Praxis umzusetzen haben, den Ländern . Ihr Hinweis,
        es handele sich nicht um ein Zustimmungsgesetz, ist vor-
        sichtig ausgedrückt nicht gerade diplomatisch .
        Trotz der genannten Kritikpunkte sehe ich das berech-
        tigte Bedürfnis nach Neuregelungen im Bauvertragsrecht
        und bei der kaufrechtlichen Mängelhaftung . Daher stim-
        men wir dem Gesetz zu . Eine gründliche Evaluation halte
        ich allerdings für unumgänglich .
        Anlage 20
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung:
        – des von der Bundesregierung eingebrachten
        Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkom-
        men vom 19. Februar 2013 über ein Einheitli-
        ches Patentgericht
        – des von der Bundesregierung eingebrachten
        Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung patent-
        rechtlicher Vorschriften auf Grund der europä-
        ischen Patentreform
        (Tagesordnungspunkt 42 a und b)
        Sebastian Steineke (CDU/CSU):Knapp 40 Prozent
        der Patentanmelder innerhalb der Europäischen Union
        kommen aus Deutschland . Das ist eine beeindruckende
        Zahl . Daran sieht man nicht nur, wie innovativ deutsche
        Unternehmen arbeiten, sondern vor allem, wie wichtig
        ein effektiver Patentschutz für unsere heimische Wirt-
        schaft ist .
        Schon im letzten Sommer haben wir hier im Bundes-
        tag über die Patentreform debattiert . Dass wir die nun
        vorliegenden zwei Gesetzentwürfe der Bundesregierung
        heute als Paket beraten können, war lange Zeit nicht klar .
        Grund war der Brexit im vergangenen Jahr . Das Verei-
        nigte Königreich war das Zünglein an der Waage für die
        Einführung des einheitlichen europäischen Patentsys-
        tems; denn ohne die Ratifizierung des Übereinkommens
        über ein einheitliches Patentgericht von Großbritannien
        wären die beiden Verordnungen zur Schaffung eines ein-
        heitlichen Patentschutzes und der anzuwendenden Über-
        setzungsregelungen nicht anwendbar . Dies war auch der
        Grund, weshalb das parlamentarische Verfahren in die-
        sem Hause zunächst nicht weitergeführt wurde . Nach-
        dem die britische Seite angekündigt hatte, das Überein-
        kommen trotz des Brexit zu ratifizieren, konnten wir den
        Weg nun freimachen, und darüber bin ich sehr froh .
        Die Patentreform sieht in erster Linie ein europäisches
        Einheitspatent mit Wirkung für alle teilnehmenden Staa-
        ten vor . Bislang zeichnete sich das Patentrecht durch ei-
        nen parallelen Schutz für Erfindungen mit der sogenann-
        ten Doppelschutzfunktion aus . Es gab das nationale und
        das europäische Patent . Die Verletzung des europäischen
        Patents wurde nach nationalem Recht behandelt . Dies
        hatte zur Folge, dass der Patentanmelder gerichtlichen
        Rechtsschutz nur auf nationaler Ebene und mit Wirkung
        für das Territorium des jeweiligen Vertragsstaates in An-
        spruch nehmen konnte . Dies bedeutet, dass es bislang
        für europaweite Patente keinen einheitlichen Schutztitel
        gab . Diese Schutzlücke wird nun mit der Patentreform
        geschlossen . Mit dem Einheitspatent wird es nunmehr ei-
        nen europaweit einheitlichen Schutz geben . Im Zeitalter
        der Globalisierung und des europäischen Binnenmarktes
        ist dies eine absolute Notwendigkeit .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722342
        (A) (C)
        (B) (D)
        Neben dem Schutz durch europäische Patente wer-
        den wir allerdings auch den nationalen Patentschutz kei-
        neswegs abschaffen. Deshalb wird mit dem Gesetz das
        bestehende Verbot der doppelten Inanspruchnahme von
        nationalen und europäischen Patenten neu gestaltet . An
        der Aufhebung des Doppelschutzverbotes gab es durch-
        aus Kritik . Dem trägt der Gesetzentwurf vor allem mit
        der zusätzlichen Einführung der Einredemöglichkeit
        bei doppelter Inanspruchnahme Rechnung . Durch diese
        prozesshindernde Einrede kann die beklagte Partei eine
        doppelte Inanspruchnahme vor einem nationalen Gericht
        und dem Einheitlichen Europäischen Patentgericht unter
        bestimmten Voraussetzungen vermeiden . Dies war für
        uns ein zentraler Punkt, um eine Aufhebung des Doppel-
        schutzverbotes in Betracht zu ziehen .
        Unser nationales System hat sich bewährt . Um eine
        nachhaltige Einschätzung über eine Weiterführung des
        bisherigen nationalen Patentschutzes abgeben zu kön-
        nen, ist es deshalb aus unserer Sicht auch sinnvoll, die
        weitere Entwicklung erstmal abzuwarten, bevor man
        über andere Modelle, die keinen Doppelschutz mehr
        vorsehen, nachdenkt . Zudem ist ein Verfahren vor dem
        Einheitlichen Europäischen Patentgericht deutlich teurer
        als vor dem Bundespatentgericht, so dass der Weg zur
        nationalen Gerichtsbarkeit nach wie vor eine deutliche
        finanzielle Entlastung der hiesigen Patentinhaber zur
        Folge hat . Auch mit der Kostenfrage beim Europäischen
        Patentgericht haben wir uns auseinandergesetzt . Kleine
        und mittelständische Unternehmen erhalten in Gerichts-
        verfahren eine deutliche Ermäßigung . Damit werden die
        Zugangsvoraussetzungen für das Rückgrat unserer Wirt-
        schaft zur Patentgerichtsbarkeit deutlich erleichtert .
        Die Zusammensetzung und der Aufbau der Gerichts-
        barkeit sind im Übereinkommen geregelt . Das Einheitli-
        che Patentgericht umfasst ein Gericht erster Instanz und
        ein Berufungsgericht . Eine erstinstanzliche Regional-
        kammer wird seinen Sitz in München haben . Sachlich
        zuständig wird das Patentgericht für Einheitspatente, für
        europäische Patente und für ergänzende Schutzzertifikate
        sein . Für die klassischen europäischen Patente wird es für
        eine Übergangszeit eine Opt-out-Möglichkeit geben, mit
        der ein Patentinhaber sich dagegen aussprechen kann,
        dass sein Patent der Gerichtsbarkeit des Europäischen
        Patentgerichts unterfällt . Dies gibt den derzeitigen Pa-
        tentinhabern in Deutschland eine zusätzliche Wahlmög-
        lichkeit .
        Ziel dieser Reform ist vor allem ein Mehr an Rechts-
        sicherheit, eine System- und Verfahrensvereinfachung
        sowie eine Kostenreduktion . Ich denke, dies haben wir
        mit den vorliegenden Entwürfen erreicht . Ich freue mich
        auch, dass die Entwürfe im Rechtsausschuss die Zustim-
        mung aller vier Fraktionen erhalten haben . Dies zeigt,
        dass wir hier auf dem richtigen Weg sind .
        Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Wir sprechen heute
        über einen Gesetzentwurf zu einer weiter gehenden Eu-
        ropäisierung des Patentwesens .
        Deutschland und die anderen Mitgliedstaaten der
        Europäischen Union profitieren von den Grundfreihei-
        ten . Der europäische Binnenmarkt ist durch den freien
        Waren- und Dienstleistungsverkehr gekennzeichnet . Die
        Vorzüge eines Austausches von Gütern über Landesgren-
        zen hinweg erfordern spiegelbildlich den Schutz von Pa-
        tenten auf europäischer Ebene .
        Der Patentmarkt stellt sich gegenwärtig als fragmen-
        tiert dar, und es zeigen sich beträchtliche Unterschiede
        zwischen den nationalen Gerichtssystemen . Kleinere
        Unternehmen können ihre Patente nicht durchsetzen oder
        sich gegen unberechtigte Klagen wehren .
        Mit diesem Gesetzentwurf wird nun ein Einheitliches
        Patentgericht geschaffen. Zugleich wird mit der Einrich-
        tung des neuen Gerichts die Einführung des europäi-
        schen Patents mit einheitlicher Wirkung, das EU-Patent,
        ermöglicht . Das Gericht wird künftig für Klagen gegen
        die Erteilung des EU-Patents und auch für Klagen gegen
        die Verletzung des EU-Patents zuständig sein . Die ein-
        heitliche Wirkung des EU-Patents in den teilnehmenden
        Staaten wird mehr Rechtssicherheit schaffen. Für die In-
        anspruchnahme des Patentschutzes wird es insbesondere
        nicht mehr auf den Ort der Rechtsverletzung ankommen .
        Beim Europäischen Patentamt entfielen bisher 40 Pro-
        zent der Anmeldungen auf solche aus Deutschland . Aus
        diesem Grund wird der dezentralen Verteilung des Ein-
        heitlichen Patentgerichts eine grundlegende Bedeutung
        zukommen. Die Zentralkammer wird sich in Paris befin-
        den, aber eine Außenstelle ist in München geplant, und es
        treten noch vier Lokal- und Regionalkammern in Düssel-
        dorf, Mannheim, München und Hamburg hinzu . Dies ist
        für den Wirtschaftsstandort Deutschland wichtig . Patente
        und ihre Durchsetzung sind ein wichtiger ökonomischer
        Faktor . Patentschutz wirkt sich auf die Innovationskraft
        aus .
        Es ist noch kurz auf das positive Signal aus Großbri-
        tannien einzugehen . Bedingung für das Einheitliche Pa-
        tentgericht ist die Teilnahme der drei größten EU-Staaten:
        Deutschland, Frankreich und das Vereinigte Königreich .
        Mit der Ankündigung der Ratifizierung in London wird
        das Einheitliche Patentgericht möglich . Die Ankündi-
        gung ist aber auch als Signal zu verstehen, dass Groß-
        britannien sich weiterhin dem europäischen Binnenmarkt
        verpflichten möchte.
        Ich bitte Sie um Zustimmung zu diesen Gesetzentwür-
        fen .
        Christian Flisek (SPD): Seit den 1960er-Jahren
        wurde eine Reform des europäischen Patentsystems
        angestrebt . Das Einheitliche Patentgericht setzt einen
        Schlussstein für diese Reformbemühungen und schafft
        damit Rahmenbedingungen, in denen sich innovative
        Industrie im gesamten europäischen Binnenmarkt unter
        einem starken Schutz entwickeln kann . Der Patentschutz
        wird dadurch wesentlich erweitert und kann in allen
        teilnehmenden Mitgliedstaaten durchgesetzt werden .
        Anstelle vieler einzelner Blumen, die bisher an den ein-
        zelnen Patentamten gepflückt werden mussten, ist nun
        gleich der ganze Strauß aus einer Hand erhältlich . Das ist
        ein großer Fortschritt .
        Das Übereinkommen, das hier ratifiziert werden soll,
        wurde von der Bundesrepublik am 19 . Februar 2013
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22343
        (A) (C)
        (B) (D)
        unterzeichnet . Nach dem Brexit-Votum am 23 . Juni
        2016 war unklar, ob der ursprüngliche Zeitplan zur Ein-
        führung des Einheitlichen Patentgerichts eingehalten
        werden kann . Wichtige Elemente des einheitlichen Pa-
        tentgerichts wurden infrage gestellt, weil sie auf eine Be-
        teiligung Großbritanniens aufbauen . Wir sind froh, dass
        Großbritannien aus dem Projekt des einheitlichen Patent-
        gerichts schlussendlich nicht austeigen möchte, und sind
        froh, dass das Übereinkommen zum Einheitlichen Paten-
        gericht nun umgesetzt werden kann . Der Bundestag trägt
        mit der Ratifizierung des Übereinkommens das Seinige
        bei, um das Projekt nun zügig zum Abschluss zu bringen .
        Das einheitliche Patentgericht soll möglichst schnell auf-
        gebaut werden und die Arbeit aufnehmen .
        Es wurde beanstandet, dass die Kosten für eine Patent-
        anmeldung in diesem System zu hoch seien . Tatsächlich
        sind die Gebühren für das europäische Patent höher als
        die Gebühren für nationale Patentanmeldungen . Natür-
        lich sind die Kosten der Patentanmeldung ein wichtiger
        Faktor, an dem sich jedes Patentsystem messen lassen
        muss . Der Preis ist allerdings an der Gegenleistung zu
        messen – und im europäischen Patentsystem ist der
        Schutz wesentlich weitreichender als in den nationalen
        Systemen . Im Ergebnis ist es preiswerter, ein europäi-
        sches Patent zu erwerben als ein Dutzend nationaler Pa-
        tente .
        Das Europäische Patentgericht wird das deutsche Pa-
        tentgericht nicht verdrängen . Das deutsche Patentgericht
        leistet ausgezeichnete Arbeit und ist dank der Mitarbeit
        technischer Richter eines der modernsten und besten Pa-
        tentgerichte in Europa . Diese stärken sollen beibehalten
        und genutzt werden, und das deutsche Patentgericht wird
        weiterhin über deutsche Patente entscheiden .
        Zu einem funktionsfähigen europäischen Patentsystem
        gehört nicht nur das Europäische Patentgericht, sondern
        auch das Europäische Patentamt . Bei dem Europäischen
        Patentamt hat sich in den letzten Jahren eine Unruhe un-
        ter den Mitarbeitern breitgemacht . Ich sage das nicht nur
        aufgrund von Berichterstattungen in Zeitungen – obwohl
        hier auch umfassend der Führungsstil des Präsidenten
        kritisiert wurde . In persönlichen Gesprächen wurde mir
        von Mitarbeitervertreten, ehemaligen Beschäftigen im
        Patentamt, zur Lage der Arbeitsbedingungen im Euro-
        päischen Patentamt berichtet . Hier wurde berichtet, dass
        die Stimmung im Amt durch ein Übermaß von Melde-
        pflichten vergiftet sei, und Arbeitnehmer würden dazu
        aufgerufen, sich gegenseitig zu denunzieren . Die Ausein-
        andersetzungen eskalierten erstmals Anfang letzten Jah-
        res, als zwei Gewerkschaftsvertreter entlassen wurden .
        Besonders problematisch sind solche Entlassungen, weil
        die Rechtsschutzmöglichkeiten im EPA beschränkt sind .
        Das EPA hat einen Sonderstatus und unterliegt keiner
        nationalen oder europäischen Gerichtsbarkeit . Es ist da-
        mit eine Art Raumschiff, das von der restlichen Rechts-
        ordnung abgeschirmt nach eigenen Regeln funktioniert .
        Rechtlicher Schutz kann nur vor Beschwerdekammern
        erlangt werden . Mit der Unabhängigkeit dieser Be-
        schwerdekammern steht und fällt eine faire Behandlung
        der Arbeitnehmer . Die Unabhängigkeit der Beschwerde-
        kammern ist jedoch dann in Gefahr, wenn der Präsident
        für die Suspendierung unliebsamer Richter wirbt . Neben
        den beschränkten Rechtschutzmöglichkeiten verschärft
        das besonders intensive Abhängigkeitsverhältnis der Ar-
        beitnehmer am Patentamt die Lage . Das Abhängigkeits-
        verhältnis zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber beim
        EPA ist besonders stark, weil die soziale Absicherung im
        Wesentlichen über ein System des EPA erfolgt . Bei je-
        dem Konflikt mit dem Präsidenten riskieren die Arbeit-
        nehmer damit wesentliche Grundlagen ihrer Existenz .
        Neben der Kritik der Arbeitnehmer im EPA tritt die
        Kritik der Patentanwälte . Patentanwälte, die regelmäßig
        am EPA Patente beantragen, stellen eine Verschlechte-
        rung der Qualität der Patente fest . Diese Verschlechte-
        rung führen sie ebenfalls auf die Personalführung im Amt
        zurück .
        Das europäische Patentamt hat seit seiner Gründung
        eine äußert erfolgreiche Entwicklung genommen . Die
        Strukturen des EPA sind – auch für Arbeitnehmer – funk-
        tionstüchtig, wenn die Führung sich nicht gegen, sondern
        an die Seite der Mitarbeiter stellt . Wir sind hier mit der
        Kritik nicht allein, die Kollegen aus dem niederländi-
        schen Parlament beschäftigen sich ebenfalls mit den Zu-
        ständen am EPA . Die Bundesrepublik Deutschland hat
        allerdings als Sitzstaat der größten Niederlassung des Pa-
        tentamtes eine besondere Verantwortung, diese Missstän-
        de zu beseitigen und damit für ein einwandfreies Funkti-
        onieren des europäischen Patentsystems zu sorgen .
        Harald Petzold (Havelland) (DIE LINKE):Wir re-
        den heute hier in zweiter Lesung über einen besseren
        Schutz von Erfindungen in Europa durch ein einheitli-
        ches Patentgericht . Ziel des dafür von der Bundesregie-
        rung vorgelegten Gesetzentwurfes ist es, die Rahmenbe-
        dingungen für die innovative Industrie im europäischen
        Binnenmarkt durch einen besseren Schutz von Erfindun-
        gen nachhaltig zu stärken . Die besondere wirtschaftli-
        che Bedeutung eines flächendeckenden einheitlichen
        Patentschutzes in Europa liege in der Kostengünstigkeit
        und darin, dass er „in einem Verfahren vor dem Einheit-
        lichen Patentgericht mit Wirkung für alle teilnehmenden
        EU-Mitgliedstaaten durchgesetzt werden kann“, so heißt
        es in der Begründung . Insbesondere die deutsche Indus-
        trie, auf die rund 40 Prozent der an Anmelder aus Euro-
        pa erteilten europäischen Patente entfallen, soll von dem
        verbesserten Schutz ihrer Erfindungen profitieren. Das
        Einheitliche Patentgericht soll bei Streitigkeiten über
        Patente, die vom Europäischen Patentamt erteilt wurden,
        mit europaweiter Wirkung entscheiden . Deren erste In-
        stanz soll ihren Sitz in Paris nehmen, mit Außenstellen
        in London und München . Die Berufungsinstanz soll in
        Luxemburg angesiedelt werden . In der Bundesrepublik
        Deutschland soll eine Abteilung der Zentralkammer in
        München und jeweils eine Lokalkammer in Düsseldorf,
        Hamburg, Mannheim und München eingerichtet werden .
        Die Linke unterstützt diesen besseren Schutz von
        Erfindungen in Europa und damit grundsätzlich diesen
        Gesetzentwurf . Im Zusammenhang mit der angestreb-
        ten Konsistenz und Kostenersparnis für die streitenden
        Parteien ist die vorgesehene Errichtung eines Einheitli-
        chen Patentgerichts zu begrüßen . Denn bisher muss bei
        Nichtigkeitsklagen und Verletzung vor den jeweiligen
        nationalen Gerichten geklagt werden, und die Wirkung
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722344
        (A) (C)
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        der gerichtlichen Entscheidung bleibt auf das jeweilige
        Staatsgebiet beschränkt . Trotzdem bleiben für uns Kri-
        tikpunkte offen. So bedauern wir es sehr, dass die Kos-
        tentragfähigkeit für kleine und mittlere Unternehmen,
        KMU, infrage steht . Während sich die Gerichtskosten im
        Rahmen bewegen, sind die Vertretungskosten sehr hoch
        und aufgrund von Ausnahme- und Ermessensregelungen
        unkalkulierbar . Damit gehen sie mit einem hohen Risiko
        einher . Wirksame Maßnahmen zur Förderung von KMU
        wären auf der Erteilungsseite eine Rabattierung der
        Amtsgebühren und auf der Durchsetzungsseite die Aus-
        weitung der Prozesskostenhilfe auf juristische Personen
        und die Schaffung einer geeigneten Prozesskostenversi-
        cherung . Doch davon ist bisher nichts im europäischen
        Patentpaket zu finden. Profiteure des Einheitspatent-Pa-
        kets sind diejenigen, die einen geografisch möglichst
        breiten Patentschutz benötigen und über die erforderli-
        che Finanzausstattung verfügen, um die hierfür und für
        die gerichtliche Durchsetzung ausgerufenen Kosten zu
        tragen .
        Trotzdem bleibt meine Fraktion insgesamt bei ihrer
        Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf und fordert, in
        der Umsetzung die von uns kritisierten Sachverhalte im
        Blick zu behalten und die gesetzlichen Regelungen zu
        korrigieren, sollten sich unsere Befürchtungen bewahr-
        heiten .
        Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Als
        wir das letzte Mal über das Europäische Einheitliche
        Patentgericht sprachen, am 23 . Juni 2016, stimmten die
        Briten gerade für ihren Ausstieg aus der Europäischen
        Union . Ein schwarzer Tag für Europa, der zunächst auch
        das Verfahren über das Einheitliche Patentgericht zum
        Stillstand brachte . Denn das neue Patentgericht soll ne-
        ben der Zentralkammer in Paris und einer Abteilung in
        München auch eine dritte Abteilung in London haben .
        Nun hat Großbritannien aber angekündigt, das Abkom-
        men über das Einheitliche Patentgericht, dessen Umset-
        zungsgesetz wir heute debattieren, doch ratifizieren zu
        wollen . Das ist gut so .
        Was sind die Vorteile des Einheitspatentes? Dazu muss
        man sich die Struktur der Patente in der EU vor Augen
        führen . Es gibt zunächst das nationale Patent, das bei uns
        nach deutschen Vorschriften erteilt wird . Daneben gibt
        es auch schon bisher die Möglichkeit eines Europäischen
        Patents, das aber faktisch nur ein Bündel aus nationalen
        Patenten ist . Rechtsschutz bei diesem Patent ist auch nur
        über die jeweiligen nationalen Staaten, die im „Bündel-
        patent“ erfasst sind, möglich .
        Was also fehlt, ist ein Patent, dessen Schutzwirkung
        einheitlich für die Vertragsstaaten des Europäischen Pa-
        tentabkommens gilt . Dieses Ziel soll jetzt mit diesem
        Gesetz realisiert werden . Für den Patentinhaber bedeutet
        dies, dass er das Einheitspatent anstelle oder neben dem
        nationalen Patent oder dem bisherigen Europäischen
        „Bündelpatent“ wählen kann . Bekommt er das Einheits-
        patent erteilt, so kann er sich im Streitfall an das Einheit-
        liche Patentgericht wenden und ein Urteil erlangen, dass
        es seiner Gegenseite in allen Mitgliedstaaten untersagt,
        sein Patent zu vertreiben oder herzustellen . Eine Vielzahl
        nationaler Verfahren, wie jetzt beim „Bündelpatent“ er-
        forderlich, wird vermieden .
        So positiv das alles klingt, das Einheitspatent hat
        einen Haken: Es ist teuer . Ein Verfahren vor dem Ein-
        heitlichen Patentgericht wird voraussichtlich ungefähr
        doppelt so viel kosten wie ein Verfahren vor den deut-
        schen Behörden . Allerdings bekommt man auch mehr für
        sein Geld, denn die rechtliche Wirkung des Schutzes gilt
        für alle Vertragsstaaten . Müsste der Patentinhaber Ver-
        fahren vor mehreren nationalen Gerichten durchführen,
        wie es derzeit beim Bündelpatent der Fall ist, kann es
        sogar noch teurer werden . Wir müssen aufpassen, dass
        keiner zurückbleibt und dass das Einheitspatent nicht
        zu einem Privileg der großen Konzerne verkommt . Die
        Kostenfrage können wir nicht im nationalen Alleingang
        regeln, deshalb muss die Bundesregierung sich jetzt auf
        EU-Ebene dafür einsetzen, dass Programme zur Un-
        terstützung von KMU, wie sie die Kommission bereits
        angekündigt hat, auch tatsächlich durchgesetzt werden .
        Wenn das nicht klappt, müssen wir über das zugrunde-
        liegende Übereinkommen nachverhandeln . Man könnte
        zum Beispiel die Prozesskostenhilfe auf KMU ausdeh-
        nen, wenn sie die Kosten des Verfahrens nicht bestreiten
        können . Denn Rechtsschutz muss jedem möglich sein,
        und Rechtsdurchsetzung darf nicht am Geld scheitern .
        Die Frage des angemessenen Rechtsschutzes ist auch
        der Punkt, der mich beim zweiten Gesetz beschäftigt, das
        wir heute debattieren . Mit dem Begleitgesetz passen wir
        das deutsche Recht an das neue europäische Patentrecht
        an . Das ist weitgehend sinnvoll und erforderlich, weshalb
        ich nur auf einen Punkt eingehen will: die Aufhebung des
        Doppelschutzverbotes .
        Bisher war es nicht möglich, dass ein nationales Pa-
        tent in Deutschland neben dem europäischen (Bündel-)
        Patent Wirkung entfaltet . Das soll sich mit dem Einheits-
        patent nun ändern . Beide Patente – das Einheitspatent
        und das deutsche Patent – sollen nach dem Gesetzent-
        wurf nebeneinander bestehen können . Das bedeutet, dass
        Patentinhaber bei Verletzung ihres Patentes zwischen
        zwei Rechtswegen den Weg aussuchen können, der ihnen
        mehr Schutz bietet . Entweder ziehen sie vor das Einheits-
        gericht und klagen wegen Verletzung des Einheitspaten-
        tes, oder sie wählen das deutsche Patentgericht wegen
        Verletzung des nationalen Patentes . Ob diese Wahlfrei-
        heit notwendig ist, ist schon zweifelhaft . Was aber in
        jedem Fall gewährleistet werden muss, ist ein ausrei-
        chender Schutz des Beklagten . Der Gesetzentwurf sieht
        dazu die „Einrede der doppelten Inanspruchnahme“ vor,
        die der Beklagte vor dem Patentgericht geltend machen
        kann, wenn ein Verfahren gegen ihn aus derselben Sache
        bereits beim Einheitlichen Patentgericht rechtshängig
        oder das Verfahren sogar schon abgeschlossen ist .
        Das Übereinkommen zum Einheitspatentgericht ent-
        hält aber keine Einrede der doppelten Inanspruchnahme
        für den umgekehrten Fall . In der Begründung des Ge-
        setzentwurfes heißt es: „Im Übrigen, insbesondere nach
        Abschluss des nationalen Verfahrens, ist auch das Ein-
        heitliche Patentgericht aufgerufen, eine Lösung für den
        Fall der doppelten Inanspruchnahme zu finden.“
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22345
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        Letztlich werden Richter des neuen Einheitsgerichtes
        mangels konkreter Regelung höchstens den Einwand des
        Rechtsmissbrauchs gelten lassen können . Das ist aber al-
        les andere als Rechtssicherheit, die doch mit der Verein-
        heitlichung im Patentrecht angestrebt wurde . Wir müssen
        also auf europäischer Ebene nachbessern .
        Wenn wir das schon auf europäischer Ebene im Pa-
        tentrecht nachbessern, können wir auch gleich die weite-
        re offene Baustelle angehen – die Biopatente. Die Reform
        wurde nicht genutzt, um die Patenterteilung für Pflanzen
        und Tiere als Produkte „im Wesentlichen biologischer
        Verfahren“ endlich eindeutig auszuschließen . Eine un-
        verbindliche Mitteilung der Kommission reicht mir nicht
        aus . Es droht eine steigende Privatisierung genetischer
        Ressourcen zulasten von Züchtung, Landwirtschaft und
        der Verbraucherinnen und Verbraucher . Das müssen wir
        stoppen, um biologische Vielfalt zu erhalten und die
        Kontrolle und Monopole von Lebensmittelketten durch
        Biopatentinhaberinnen und -inhaber zu unterbinden .
        Anlage 21
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
        gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erleich-
        terung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen
        (Tagesordnungspunkt 43)
        Dr. Heribert Hirte (CDU/CSU): Erstens . Für mich
        schließt sich mit dieser heutigen Rede ein großer Kreis
        in meiner Arbeit hier im Deutschen Bundestag . Denn
        es war meine erste Rede in diesem Hohen Haus, die ich
        am 14 . Februar 2014 – vor über drei Jahren – anlässlich
        der Beratung im Rahmen der ersten Lesung des jetzt
        zum Abschluss kommenden Gesetzgebungsverfahrens
        gehalten hatte . Und damals hatte ich bei diesem Gesetz-
        entwurf darauf verwiesen, dass es im Insolvenzrecht
        noch andere wichtige Baustellen gebe, die eigentlich
        vordringlich abgearbeitet werden müssten – insbesonde-
        re die Reform des Insolvenzanfechtungsrechts . Wir wa-
        ren deshalb überzeugt, dass eine finale Behandlung des
        hiesigen Konzerninsolvenzgesetzes keinen Sinn mache,
        wenn nicht zuvor oder jedenfalls gleichzeitig auch das
        Insolvenzanfechtungsrecht – im Sinne übrigens unserer
        Koalitionsvereinbarung – reformiert würde .
        Diese zweite Baustelle erwies sich als deutlich kom-
        plexer als gedacht, insbesondere wegen der Wünsche
        des Fiskus . In der letzten Sitzungswoche aber haben wir
        dieses „große Loch“ schließen können, und wenn nichts
        Unvorhergesehenes passiert, wird der Gesetzentwurf am
        morgigen Freitag auch den Bundesrat passieren . Damit
        waren auch für das Konzerninsolvenzgesetz die Ampeln
        auf Grün gestellt .
        Das Gesetz, dessen Regierungsentwurf übrigens noch
        unter der früheren Bundesregierung erarbeitet wurde und
        dessen erste Vorarbeiten noch auf die letzte Große Koa-
        lition zurückgehen (!), bildet den Abschluss – sicher nur
        vorläufig – einer insolvenzrechtlichen Novellierungstrias
        aus erstens dem ESUG, also dem Gesetz zur weiteren
        Erleichterung der Sanierung von Unternehmen, zwei-
        tens der Reform der Restschuldbefreiung und schließ-
        lich heute drittens der Regelung der Konzerninsolvenz .
        Alle Gesetze teilen das Ziel einer Erhaltung von Werten
        und Arbeitsplätzen durch „Sanierung vor Zerschlagung“ .
        Das ist ein richtiger Weg und konkrete soziale Marktwirt-
        schaft .
        Zweitens . Lassen Sie mich aber jetzt zunächst noch
        einmal das Kernanliegen des heute abschließend zu be-
        ratenden Gesetzentwurfs in Erinnerung rufen: Das Bild
        des Bürgers vom Unternehmen ist noch immer geprägt
        von der einzelnen Gesellschaft, meistens der GmbH oder
        der Aktiengesellschaft . Die wirtschaftliche Realität ist
        aber eine völlig andere . Unternehmensgruppen, teilweise
        bestehend aus mehreren Hundert einzelnen Gesellschaf-
        ten, bestimmen das Geschehen . Das gilt nicht nur für die
        bekannten multinationalen Konzerne, sondern auch für
        viele Mittelständler und sogar Handwerker .
        Schon lange hat unsere Rechtsordnung auf dieses Phä-
        nomen reagiert. So verlangen die Offenlegungsvorschrif-
        ten des Bilanzrechts eine zusammengefasste Darstellung
        aller Konzernunternehmen, um ein den tatsächlichen
        Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Fi-
        nanz- und Ertragslage des – so ist es gemeint – gesamten
        Konzerns zu vermitteln .
        Im Gesellschaftsrecht wird das Phänomen Konzern an
        zahlreichen Stellen aufgegriffen. Es begründet unter hier
        nicht weiter interessierenden Voraussetzungen Durch-
        griffsmöglichkeiten, Haftung, Zurechnung usw. Auf der
        Grenze zum Arbeitsrecht tragen schließlich der Konzern-
        betriebsrat und die konzernweite unternehmerische Mit-
        bestimmung dem Vorliegen einer Unternehmensgruppe
        Rechnung .
        Stiefmütterlich behandelt wird der Konzern aber bis-
        lang im Insolvenzrecht . Hier steht die einzelne natürliche
        oder juristische Person im Vordergrund, genauso wie im
        19 . Jahrhundert, als mit der Konkursordnung die Vor-
        gängerin unserer heutigen Insolvenzordnung geschaffen
        wurde . Das ist wenig überzeugend; denn dadurch werden
        die sogenannten Synergievorteile, die bei der lebenden
        Großorganisation Konzern den Gesellschaftern, Gläubi-
        gern und damit auch den Arbeitnehmern zugutekommen,
        in der Abwicklung vergeudet .
        Das Insolvenzverfahren über die einer Unternehmens-
        gruppe angehörigen Unternehmen kann nämlich bislang
        an ganz unterschiedlichen Orten mit jeweils unterschied-
        lichen Insolvenzverwaltern stattfinden. Die Praxis – dazu
        zählen auch die Insolvenzgerichte – hat hier im Wege von
        Auslegung und Vereinbarung zwar durchaus praktikable
        Lösungen entwickelt, beispielsweise ein einheitliches In-
        solvenzverfahren in Köln . Für die notwendige Rechtssi-
        cherheit reicht dies aber nicht aus, zumal wir uns hier in
        einer Konkurrenz vor allem mit England befinden (des-
        sen „markttreibende Rolle“ in diesem Bereich übrigens
        im Falle eines Brexits durchaus andere EU-Staaten sich
        zu übernehmen anschicken) . Es ist relativ leicht möglich,
        den sogenannten Mittelpunkt der hauptsächlichen Inte-
        ressen eines Unternehmens nach England (oder einen
        anderen EU-Staat) zu verlegen und dann dort das ganze
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        Insolvenzverfahren über eine Unternehmensgruppe ein-
        heitlich abzuwickeln . Handeln ist daher geboten .
        Wo konkret liegt das Problem? Fünf Fragenkreise las-
        sen sich ausmachen: erstens die divergierende örtliche
        Zuständigkeit der Insolvenzgerichte, wie gerade gesagt;
        zweitens die Tatsache, dass dann noch unterschiedliche
        Insolvenzverwalter in den verschiedenen Verfahren tä-
        tig sind; drittens, dass wir es mit unterschiedlichen In-
        solvenzmassen zu tun haben; viertens die Frage, wie das
        eine Verfahren auf das andere Verfahren einwirkt; und
        fünftens und letztens, ob man einen Masterplan machen
        kann, mit dem man das gesamte Unternehmen einheitlich
        sanieren kann .
        Der Entwurf adressiert positiv drei der genannten Fra-
        gestellungen und einen weiteren explizit negativ . Diese
        „Selbstbeschränkung“ ist zunächst zu begrüßen; denn
        in den streitigen Fragen, in denen noch keine endgültige
        Klarheit besteht, sollte der Gesetzgeber nicht autoritativ
        eingreifen .
        Als Erstes ermöglicht er eine einheitliche örtliche Zu-
        ständigkeit für das Insolvenzverfahren der verschiedenen
        konzernangehörigen Unternehmen bzw . Gesellschaften .
        Der Gesetzentwurf stellt für diesen Ort im Grundsatz
        auf das sogenannte Prioritätsprinzip ab, also den Ort, an
        dem zuerst ein Insolvenzantrag gestellt wurde . Das er-
        scheint mir überzeugend, weil es nur für einen frühzeitig
        gestellten Eigenantrag gilt und Missbrauch in Form von
        Zuständigkeitserschleichungen auch noch durch andere
        Maßnahmen verhindert wird .
        Zum Zweiten stellt er klar, dass in solchen Fällen ein
        einheitlicher Insolvenzverwalter bestellt werden darf,
        dass also gerade nicht, wie bisher teilweise behauptet
        wurde, zwischen den einzelnen insolventen Gesellschaf-
        ten so starke Konflikte bestehen, dass immer – kosten-
        intensiv – unterschiedliche Verwalter bestellt werden
        müssen . Soweit das gleichwohl der Fall ist, sollen sie zur
        Zusammenarbeit verpflichtet werden.
        Zum Dritten will der Entwurf die Möglichkeit einer
        freiwilligen Koordination durch ein besonderes neues
        Koordinationsverfahren schaffen, also einen Masterplan.
        Zusammengefasst: Was das Gesellschaftsrecht zu-
        sammengeführt hat, das soll das Insolvenzrecht nicht
        scheiden . Das ist im Ansatz richtig und wichtig; denn die
        durch die Neuregelung klargestellte Möglichkeit, die In-
        solvenzverfahren verschiedener konzernangehöriger Un-
        ternehmen an einem Ort und in einer Hand abzuwickeln,
        spart Kosten . Das ist gut für die Gläubiger, die Arbeit-
        nehmer und damit für die Menschen in unserem Land .
        Was der Entwurf andererseits nicht vorschlägt: Weder
        werden die Insolvenzverfahren der einzelnen konzern-
        angehörigen Unternehmen als solche zusammengefasst,
        noch – und erst recht nicht – werden die Vermögensmas-
        sen der einzelnen Gesellschaften zusammengefasst . Das
        entspricht der Selbstständigkeit juristischer Personen
        auch im Konzern . Würde man anders vorgehen – es gibt
        durchaus Stimmen, die das fordern –, würde die Mög-
        lichkeit der Kreditvergabe an die einzelnen Gesellschaf-
        ten nachhaltig beeinträchtigt . Denn als Gläubiger braucht
        man Berechenbarkeit, und das heißt auch: Man muss vor-
        her wissen, mit wem man nachher in einem Boot sitzt,
        wenn die Mittel des Kreditnehmers nicht mehr reichen .
        Drittens . An diesem, wie gesagt, schon seit Beginn der
        Legislaturperiode vorliegenden guten Gesetzentwurf ha-
        ben wir in den vergangenen Monaten noch einige Punkte
        verbessert:
        Hinsichtlich des „Gruppen-Gerichtsstands“ haben wir
        in § 3a InsO (neu) deutlich gemacht, dass die Begrün-
        dung einer Zuständigkeit an einem anderen Ort als dem
        Sitz eines Konzernunternehmens nur dann in Betracht
        kommt, wenn dieses Unternehmen „nicht offensichtlich
        von untergeordneter Bedeutung“ ist – und dies dahin
        gehend konkretisiert, dass dies dann der Fall ist, wenn
        dieses Unternehmen mehr als 15 Prozent (statt ursprüng-
        lich 10 Prozent) der Mitarbeiter des Konzerns beschäf-
        tigt oder seine Bilanzsumme oder seine Umsätze mehr
        als 15 Prozent (statt ursprünglich 10 Prozent) der Kon-
        zernzahlen betrugen, wobei das genannte Beschäftigten-
        quorum in jedem Fall die Begründung einer abweichen-
        den Zuständigkeit ausschließt . Damit wird sichergestellt,
        dass das Insolvenzverfahren in jedem Fall nicht von dort
        wegverlegt werden kann, wo es eine – relativ gesehen –
        große Beschäftigtenzahl gibt .
        Auf Wunsch meiner Fraktion haben wir zudem in § 3e
        Absatz 2 InsO (neu) klargestellt, dass auch GmbH & Co
        KGs als Konzerne „gelten“, auch wenn sie es natürlich in
        unserem gesellschaftsrechtlichen Verständnis nicht sind .
        Aber auch hier ist es sinnvoll, sicherzustellen, dass die
        Insolvenz der Komplementärin einer Gesellschaft dort
        abgewickelt wird, wo auch das Insolvenzverfahren über
        die Gesellschaft selbst durchgeführt wird .
        Schließlich wollen wir anordnen, dass die Kosten für
        den „Verfahrenskoordinator“ (so „umgetauft“; im Regie-
        rungsentwurf noch „Koordinationsverwalter“) von den
        Kosten der Einzelverfahren abgezogen werden, sodass
        insgesamt keine höheren Verwalterkosten entstehen (Ar-
        tikel 3 des Gesetzentwurfs mit der Änderung von § 3 Ab-
        satz 2 der Insolvenzrechtlichen Vergütungsverordnung) .
        Denn natürlich soll der mit dem neuen Verfahren ange-
        strebte Gewinn für die Insolvenzmasse(n) nicht durch
        höhere Kosten des Insolvenzverfahrens konterkariert
        werden .
        Auf Wunsch der SPD-Fraktion haben wir schließlich
        eine Regelung in § 269c Absatz 1 InsO (neu) aufgenom-
        men, dass in jeden Gruppen-Gläubigerausschuss ein Ar-
        beitnehmervertreter berufen wird .
        Viertens . Die CDU/CSU-Fraktion hatte zudem gebe-
        ten, zu prüfen, ob ähnlich den insolvenzrechtlichen Zu-
        ständigkeiten nicht auch die finanzgerichtlichen Zustän-
        digkeiten konzentriert werden könnten . Geprüft wurde
        die zentrale Zuständigkeit eines Finanzgerichts für alle
        finanzgerichtlichen Verfahren, an denen gruppenangehö-
        rige Unternehmen beteiligt und die nach der Eröffnung
        des Insolvenzverfahrens über die jeweiligen Unterneh-
        men anhängig geworden sind .
        Der Vorschlag wurde seitens des – insoweit federfüh-
        renden – BMF als ein nachvollziehbares und grundsätz-
        lich unterstützungswürdiges Anliegen angesehen, weil es
        dazu beitragen könne, die Klärung der mitunter komple-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22347
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        xen steuerrechtlichen Verhältnisse in der insolventen Un-
        ternehmensgruppe zu erleichtern . Denn dadurch könnten
        wie durch die §§ 3a ff. InsO (neu) insbesondere wider-
        sprüchliche Entscheidungen vermieden und damit die
        Rechts- und Planungssicherheit erhöht werden .
        Da allerdings aus Sicht des – insoweit federführen-
        den – BMF eine Zuständigkeitskonzentration bereits auf
        der Ebene der Finanzämter, die dem finanzgerichtlichen
        Verfahren vorgelagert wäre und sämtliche Steuerrechts-
        verhältnisse erfassen würde, nicht in Betracht kommt,
        und da von der vorgeschlagenen finanzgerichtlichen
        Zuständigkeitskonzentration Verfahren ausgenommen
        werden sollen, die vor Eröffnung des Insolvenzverfah-
        rens über die jeweils betroffenen Unternehmen anhängig
        geworden sind, ließe sich über die angedachte Regelung
        nur ein Bruchteil der vorgenannten Vorteile realisieren .
        Eine zügige und koordinierte Bereinigung der gesamten
        steuerrechtlichen Seite der Konzerninsolvenz ließe sich
        damit wohl nicht erreichen, zumal die vor Insolvenzer-
        öffnung bereits anhängig gewordenen finanzgericht-
        lichen Verfahren ab dem Zeitpunkt der Eröffnung des
        Insolvenzverfahrens ohnehin unterbrochen sind, soweit
        sie nicht – was in der Praxis die Ausnahme ist – nach
        den für das Insolvenzverfahren geltenden Vorschriften
        aufgenommen werden (§ 155 Satz 1 FGO in Verbindung
        mit § 240 Satz 1 ZPO) . Hiernach mögliche Vorteile, die
        man sich von einer finanzgerichtlichen Zuständigkeits-
        konzentration versprechen könnte, würden sich zudem
        nicht in jedem Fall erzielen lassen . So sind die Finanz-
        gerichte nicht für alle unternehmensrechtlich wichtigen
        Steuerarten zuständig; beispielsweise entscheiden über
        Gewerbesteuerbescheide außerhalb der Stadtstaaten die
        Verwaltungs- und nicht die Finanzgerichte . Auch wäre
        einem finanzgerichtlichen Gruppen-Gerichtsstand die
        Entscheidungskompetenz für Streitigkeiten über die Aus-
        legung des Rechts eines anderen Bundeslandes entzogen .
        Schließlich sind den Möglichkeiten Grenzen gesetzt,
        sämtliche Verfahren in Analogie zu § 3c Absatz 1 InsO
        (neu) bei einem Senat zu konzentrieren .
        Eine solche Konzentration auf einen Senat könnte je-
        denfalls nicht solche Verfahren erfassen, die in die Zu-
        ständigkeit der gesetzlich vorgesehenen Spezialsenate
        gemäß § 5 Absatz 2 Satz 2 FGO fallen . Auch wäre frag-
        lich, ob die Richter eines Senats ausreichen würden, um
        sämtliche sich im Zusammenhang mit Konzerninsolven-
        zen stellenden steuerrechtlichen Fragen (etwa umsatz-
        steuerrechtliche einerseits und körperschaftsteuerrecht-
        liche andererseits) mit der dafür jeweils erforderlichen
        Fachkompetenz abzudecken .
        Ein von uns diskutierter möglicher Ausweg könnte
        darin bestehen, durch eine Öffnungsklausel zumindest
        eine Zuständigkeitskonzentration innerhalb der jeweili-
        gen Landesgrenzen zu ermöglichen . Aus Sicht von Un-
        ternehmensgruppen, deren Organisation über Landes-
        grenzen hinwegreicht, wäre es dann allerdings bei einer
        dezentralen Zuständigkeit der Finanzgerichte geblieben .
        Daher hätte diese Lösung ebenfalls keine verlässlichen
        Beiträge zur „Gesamtbereinigung“ der steuerrechtlichen
        Seite der Konzerninsolvenz leisten können . Ein denkba-
        rer Vorteil hätte allerdings darin bestehen können, dass
        sich auf Landesebene Gerichte mit spezieller Kompetenz
        und Erfahrung auf dem Gebiet des Insolvenzsteuerrechts
        entwickeln können . Andererseits ist in den Bundeslän-
        dern mit Ausnahme von Bayern und Nordrhein-West-
        falen jeweils ohnehin nur ein Finanzgericht zuständig,
        sodass der insoweit anzustrebende Zustand schon weit-
        gehend erreicht ist . Zudem werden in den meisten Fällen
        mit insolvenzrechtlichem Bezug umsatz- und körper-
        schaftsteuerrechtliche Fragen im Vordergrund stehen, die
        bereits jetzt die Zuständigkeit von regelmäßig eingerich-
        teten Spezialsenaten in umsatzsteuerlichen bzw . körper-
        schaftsteuerlichen Angelegenheiten begründen, sodass
        die Schaffung einer weiteren Spezialzuständigkeit einen
        Kompetenzgewinn eher nicht hätte erwarten lassen . Für
        Bayern (zwei Finanzgerichte) und Nordrhein-Westfalen
        (drei Finanzgerichte) hätte sich zudem die Frage gestellt,
        ob die erhofften Vorteile einer Konzentration den damit
        verbundenen Regelungsaufwand rechtfertigen .
        Vor diesem Hintergrund hätte sich die von uns in Be-
        tracht gezogene Zuständigkeitskonzentration nicht in
        der gewünschten Weise und auch nicht mit dem Grup-
        pen-Gerichtsstand vergleichbaren Wirkungen umsetzen
        lassen . Die erwogene Änderung der Finanzgerichtsord-
        nung würde einen Beitrag, der über das geltende Prozes-
        srecht und die dort bereits vorgesehenen Möglichkeiten
        hinausgeht, zur Erreichung der mit dem Entwurf zum
        Konzerninsolvenzrecht verfolgten Ziele kaum leisten .
        Um korrespondierende Entscheidungen bezüglich der
        im Zusammenhang mit Konzerninsolvenzen relevanten
        Spezialproblematik der Behandlung von steuerlichen Or-
        ganschaften (§ 2 Absatz 2 Nummer 2 UStG) zu fördern,
        bietet die Finanzgerichtsordnung zudem bereits heute
        das verfahrensrechtliche Instrumentarium der Beiladung
        (§ 174 Absatz 5 Satz 2 in Verbindung mit Absatz 4 AO,
        §§ 60, 60a FGO) von Organträgern bzw . Organgesell-
        schaften und Finanzbehörden anderer Bundesländer zum
        gerichtlichen Verfahren .
        Fünftens . Und natürlich hätten wir uns auch noch die
        Regelung anderer offener Fragen vorstellen können. Eine
        davon bildet die Beteiligung von Arbeitnehmervertretern
        im (vorläufigen) Gläubigerausschuss, ein Problem, das
        schon im Rahmen der Reform durch das ESUG nicht
        gelöst worden war . Denn nach geltendem und insoweit
        hier jetzt auch nicht zu änderndem Recht sind hier kei-
        ne Vertreter zulässig, die nicht auch gleichzeitig selbst
        Arbeitnehmer bzw . Insolvenzgläubiger sind, was für Ge-
        werkschaftsvertreter gerade nicht gilt .
        In diesem Zusammenhang ist darüber hinaus allge-
        mein die Frage klärungsbedürftig, wie die Vertretung
        von Gläubigern im (vorläufigen) Gläubigerausschuss
        ausgestaltet werden sollte . Dabei wollten wir insbeson-
        dere auch sicherstellen, dass im (vorläufigen) Gläubi-
        gerausschuss keine Vertreter mehr sitzen, hinter denen
        keine Gläubigerinteressen mehr stehen . Mit diesem
        auch als „empty voting“ bezeichneten Vorgehen ist eine
        Übernahme und Umgestaltung von Gesellschaften in der
        Insolvenz durch Finanzhaie zulasten sanierungsfähiger
        Unternehmen und ihrer Arbeitnehmer möglich . Hier ist
        es daher besonders bedauerlich, dass die SPD-Fraktion
        keinen Handlungsbedarf gesehen hat .
        Gleichwohl: Wir haben ein gutes Gesetz gemacht, und
        dazu bitte ich um Ihre Zustimmung .
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        Alexander Hoffmann (CDU/CSU): Man könnte sa-
        gen: Was lange währt, wird endlich gut . Ich freue mich,
        dass wir heute ein Thema abschließen können, zu dem
        ich meine allererste Rede in diesem Hohem Hause ge-
        halten habe .
        Eine Zielsetzung dieses Gesetzentwurfs ist die Vermei-
        dung suboptimaler Verwertungsergebnisse, die Vermei-
        dung eines „Gegeneinanderarbeitens“ der verschiedenen
        Insolvenzverwalter mit unterschiedlichen Verwertungs-
        strategien, die Vermeidung unproduktiver Verfahrens-
        verzögerungen . Es wird deutlich: Der Gläubigerschutz
        steht im Mittelpunkt dieses Gesetzentwurfs und damit
        der Schutz von Unternehmen, von Handwerksbetrieben,
        aber vor allem auch von Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
        nehmern .
        Bisher ließen sich zentrale negative Auswirkungen
        durch dezentrale Insolvenzbewältigung in Konzernen ei-
        gentlich nur dadurch einschränken, dass alle Beteiligten
        guten Willens waren, zusammenzuarbeiten . Das hat al-
        lenfalls für eine Abmilderung gereicht; aber ausschließen
        konnte man negative Konsequenzen eigentlich nie .
        Mit diesem Gesetzentwurf wollen wir die Vorausset-
        zungen dafür schaffen, dass auch Konzerninsolvenzen
        künftig rechtssicher und effektiv bewältigt werden kön-
        nen . Dies ist umso wichtiger, als es gerade im Rahmen
        von Konzerninsolvenzen oftmals um eine Vielzahl von
        Arbeitsplätzen geht und dort beträchtliche Vermögens-
        werte auf dem Spiel stehen .
        Dabei baut der Gesetzentwurf auf den Zielbestim-
        mungen des geltenden Insolvenzrechts, insbesondere
        auf § 1 Insolvenzordnung, und konkretisiert diese Ziel-
        bestimmungen praxistauglich und gut orientiert . Es soll
        die Realisierung solcher Insolvenzbewältigungsstrate-
        gien ermöglicht werden, die den Gesamterlös für alle
        Gläubiger im Vergleich zum unkoordinierten Nebenei-
        nanderherlaufen der verschiedenen Verfahren – so will
        ich es einmal nennen – verbessern, ohne dabei aber eine
        Schlechterstellung von Gläubigern einzelner Konzerntei-
        le zu verursachen .
        Dabei erliegt dieser Entwurf gerade nicht der Versu-
        chung – das ist ganz wichtig –, ein konsolidiertes Kon-
        zernverfahren einzuführen . Sie wissen, im Konzern-
        und im Gesellschaftsrecht gelten die Grundsätze der
        rechtlichen Trennung und der Selbstständigkeit . Diesen
        Grundsätzen würde eine Massekonsolidierung voll und
        ganz widersprechen . Auch unter dem Gesichtspunkt der
        Rechtsklarheit und der Rechtssicherheit im Geschäfts-
        verkehr wäre dies nicht zu vermitteln . Denn sonst müsste
        sich künftig ein Gläubiger – zum Beispiel im Vorfeld ei-
        ner Kreditvergabeentscheidung – zunächst einmal darü-
        ber klar werden, in was für einer wirtschaftlichen bzw .
        finanziellen Situation der Konzern insgesamt und seine
        Teile sind, bevor er dann mit der entsprechenden Schuld-
        nergesellschaft kontrahieren kann .
        Die flexiblen Koordinierungsmechanismen, die hier
        zum Einsatz kommen sollen – ich will es einmal das
        Handwerkszeug nennen –, wurden von meinen Vorred-
        nern schon dargestellt . Lassen Sie mich daher nur noch
        handverlesen auf Einzelheiten eingehen:
        Neben die allgemeine Gerichtsstandregelung, wie wir
        sie kennen, in § 3 Insolvenzordnung tritt nun die Mög-
        lichkeit eines Gruppengerichtsstands auf Antrag des
        Schuldners . Dabei ist wichtig, dass das nicht als eine
        ausschließliche Gerichtsstandregelung ausgestaltet ist,
        was eine flexible Handhabe ermöglicht. Denn es kann
        auch weiterhin Konstellationen geben, wo kein erhöhter
        Koordinierungsbedarf gegeben ist; da erscheint die alte
        Regelung durchaus praktikabel .
        In der ersten Beratung gab es nun eine Reihe ver-
        schiedener Punkte, die ich gerne überdacht haben wollte .
        Auch hier bin ich sehr zufrieden, dass gegenüber dem
        ersten Entwurf noch einiges erreicht werden konnte . Da-
        her bitte ich um Ihre Zustimmung .
        Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD): Mit der heutigen
        Debatte schließen wir endlich das Dauerthema Kon-
        zerninsolvenzrecht ab . Was noch in der letzten Legisla-
        tur begann, kommt endlich zu einem glücklichen, einem
        guten Ende .
        Der Gesetzentwurf schafft Regeln für eine effektivere
        Abwicklung von Insolvenzen konzernangehöriger Un-
        ternehmen . Nach geltendem Recht sind die konzernan-
        gehörigen Unternehmen jeweils eigene Rechtsträger mit
        eigenen Vermögensmassen, für die jeweils eigene Insol-
        venzverfahren durch die Insolvenzgerichte am Ort des
        Sitzes des jeweiligen Unternehmens bearbeitet werden,
        in denen gegebenenfalls jeweils verschiedene Insolvenz-
        verwalter bestellt werden . Diese dezentrale Bearbeitung
        kann zu Nachteilen führen, wenn die zu dem Konzern zu-
        sammengeschlossenen Unternehmen eine wirtschaftliche
        Einheit bilden, weil betriebs- und finanzwirtschaftliche
        Funktionen der insgesamt verfolgten unternehmerischen
        Tätigkeiten auf unterschiedliche Unternehmensträger
        verteilt sind .
        Durch die Dezentralisierung der Verwaltungs- und
        Verfügungsbefugnis im Rahmen der Insolvenzverfahren
        wird die Erhaltung der wirtschaftlichen Einheit der Un-
        ternehmensgruppe erschwert und droht eine Verringerung
        der Befriedigungsinteressen der Gläubiger, insbesondere
        wenn die Insolvenzverwalter jeweils verschiedene, nicht
        aufeinander abgestimmte Verwertungsstrategien verfol-
        gen, und nicht zuletzt findet sich nun rechtssicher auch
        die GmbH & Co . KG wieder .
        Die damit verbundenen Reibungsverluste versucht der
        Gesetzentwurf durch Einführung geeigneter Koordinati-
        onsinstrumentarien zu minimieren; ganz vermeiden wer-
        den wir diese nie . Durch die vorgesehenen Instrumenta-
        rien sollen die Insolvenzverfahren, die über die einzelnen
        Konzerngesellschaften eröffnet werden, besser aufeinan-
        der abgestimmt werden .
        Die Änderungen schränken die Spielräume zur Be-
        stimmung des Gruppen-Gerichtsstands ein . Grundsätz-
        lich kann der Gruppen-Gerichtsstand bei jedem Gericht
        begründet werden, das für die Eröffnung des Verfahrens
        über gruppenangehörige Unternehmen zuständig ist, die
        nicht „von untergeordneter Bedeutung“ sind . Ob eine
        untergeordnete Bedeutung anzunehmen ist, richtet sich
        danach, ob die vorgesehenen Schwellenwerte für die Kri-
        terien Bilanzsumme, Umsatzerlöse und Arbeitnehmer-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22349
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        zahlen überschritten sind . Diese Schwellenwerte werden
        von 10 auf 15 Prozent angehoben . Gleichzeitig wird
        die Kumulation gelockert . Künftig reicht es aus, wenn
        zwei der drei Schwellen überschritten werden, wobei die
        Überschreitung der auf die Arbeitnehmerzahlen bezoge-
        nen Schwelle nunmehr zwingend ist .
        Werden die Schwellen von keinem gruppenangehöri-
        gen Schuldner erreicht, sieht Absatz 1 Satz 4 vor, dass
        der Gruppen-Gerichtsstand jedenfalls bei dem Gericht
        begründet werden kann, das für den gruppenangehörigen
        Schuldner mit den meisten Arbeitsplätzen zuständig ist .
        Uns Sozialdemokraten geht es in erster Linie um den Er-
        halt von den Arbeitsplätzen . Deswegen begrüße ich diese
        Änderung ausdrücklich .
        Mit diesem Gesetz wird sichergestellt, dass die Ar-
        beitnehmer im Gruppen-Gläubigerausschuss vertreten
        sind . Aus SPD-Sicht wäre eine ausdrückliche Regelung
        zur Vertretung der Arbeitnehmer bereits im vorläufigen
        Gläubigerausschuss durch Gewerkschaftsvertreter wün-
        schenswert gewesen . Da der Koalitionspartner trotz in-
        tensiver Beratungen dazu nicht bereit war, findet sich
        diese Regelung nicht mehr, glücklicherweise, weil für
        eine solche Regelung sowieso kein praktisches Bedürfnis
        mehr besteht . Die gerichtliche Praxis war schneller und
        klüger . Nicht nur Arbeitnehmervertretungen aus dem Un-
        ternehmen, sondern auch Mitglieder des Betriebsrats und
        der Gewerkschaften werden zwischenzeitlich selbstver-
        ständlich in den vorläufigen Gläubigerausschuss berufen.
        Eine weitere Änderung betrifft den Begriff „Koordi-
        nationsverwalter“, der durch „Verfahrenskoordinator“
        ersetzt wird, um deutlich zu machen, dass sich dessen
        Aufgaben von denen eines Insolvenzverwalters grund-
        legend unterscheiden . Der Verfahrenskoordinator hat
        zum Vorteil aller Insolvenzmassen auf eine abgestimm-
        te Abwicklung der einzelnen Verfahren hinzuwirken . Er
        verwaltet nicht die Insolvenzmassen der gruppenangehö-
        rigen Schuldner . Insbesondere geht auf ihn nicht die Ver-
        waltungs- und Verfügungsbefugnis in Bezug auf diese
        Vermögensmassen über .
        Da die Tätigkeit des Verfahrenskoordinators in der
        Regel der Entlastung der einzelnen Insolvenzverwal-
        tungen dient und das Koordinationsverfahren zu keinen
        Mehrkosten führen soll, wird auch ein Abschlag in der
        Höhe der Vergütung des Verfahrenskoordinators einge-
        führt . Und das ist gut so .
        Richard Pitterle (DIE LINKE): Aufgaben- und
        Arbeitsteilung ist schon lange nicht mehr auf Betrie-
        be und einzelne Unternehmen beschränkt . Das Ideal-
        bild vom engagierten Einzelunternehmer, der Produkte
        oder Dienstleistungen eigenverantwortlich entwickelt
        und vermarktet, ist in allen Branchen ein Auslaufmo-
        dell . Wettbewerbsdruck und eine zunehmend komplexe
        Wirtschaftswelt zwingen Unternehmen dazu, sich Part-
        ner zu suchen, mit denen sie gemeinsam an Lösungen
        arbeiten . Bei der Verbindung von verschiedenen Unter-
        nehmen sind der Phantasie in der Praxis keine Grenzen
        gesetzt. Die Verflechtungen reichen von der einfachen
        Kapitalbeteiligung über die gemeinsame Nutzung von
        Ressourcen bis hin zu echten Beherrschungs- und Ge-
        winnabführungsverträgen, die die zusammenarbeitenden
        Unternehmen wie ein großes Unternehmen erscheinen
        lassen. Landläufig werden diese durch Verträge oder Ka-
        pitalbeteiligungen verbundenen Unternehmen als Kon-
        zern bezeichnet .
        Auch wenn verlässliche Statistiken insbesondere
        durch internationale Verflechtungen schwer zu erstellen
        sind, lässt sich diese Konzentration in allen Branchen be-
        obachten . In vielen Bereichen dominieren Konzerne den
        Markt bei Umsatz und Beschäftigten .
        Trotz dieser Bedeutung der Konzerne bereitet die
        rechtliche Behandlung von Konzernstrukturen dem
        deutschen Recht nach wie vor erhebliche Probleme . Das
        Gesellschaftsrecht geht grundsätzlich vom sogenannten
        Trennungsgebot aus: Jedes Unternehmen eines Konzerns
        ist rechtlich selbstständig . Auch im Steuerrecht gilt der
        Grundsatz der Individualbesteuerung der einzelnen Ge-
        sellschaften, auch wenn mit vielen Sonderregelungen
        versucht wird, den Konzern insgesamt zu erfassen .
        Nun sind es gerade in letzter Zeit international agie-
        rende Konzerne, die wiederholt die Öffentlichkeit und
        Steuerpolitik bewegt haben . Obwohl sie wie ein Unter-
        nehmen nach außen in Erscheinung treten, können sie
        die Aufteilung in verschiedene rechtlich selbstständige
        Unternehmen ausnutzen, um Gewinne kleinzurechnen,
        zu verschieben und so ihre Steuern auf ein Minimum
        zu reduzieren . Erst kürzlich haben wir mit dem Gesetz
        über Maßnahmen gegen Gewinnkürzungen und -verla-
        gerungen erstmalig Regelungen für „multinationale Un-
        ternehmensgruppen“ in die Abgabenordnung aufnehmen
        müssen .
        Im Insolvenzrecht, das heute Gegenstand der Beratun-
        gen ist, gilt – ich zitiere den geschätzten Kollegen Hirte
        aus seiner Kommentierung zur Insolvenzordnung –:
        „Eine Person, ein Vermögen, eine Insolvenz .“ Bisher
        gibt es in der Insolvenzordnung keine eigenständigen
        Regelungen, wie bei Konzernen zu verfahren ist, wenn
        einzelne Teile insolvent werden . Gerade bei stark ver-
        flochtenen Unternehmen führt jedoch die Insolvenz einer
        Gesellschaft häufig zu einem Dominoeffekt, der die an-
        deren Gesellschaften und damit den Konzern insgesamt
        in den Abgrund reißen kann . Die Insolvenzrichter und In-
        solvenzverwalter haben es bisher jedoch geschafft, auch
        Konzerninsolvenzen mit pragmatischen Lösungen zu
        bewältigen . Wenn derartige Regelungen nun in der Insol-
        venzordnung aufgenommen werden, ist das prinzipiell zu
        begrüßen .
        Das vorliegende Gesetz wählt einen minimalistischen
        Ansatz . Konzentration auf ein gemeinsames Insolvenz-
        gericht, ein paar Koordinierungsregeln und die Beschwö-
        rung guter Zusammenarbeit der Beteiligten: Fertig ist das
        „Konzerninsolvenzrecht“ . Allerdings halten viele der an-
        gehörten Sachverständigen die Regelungen für unprak-
        tikabel .
        Wir begrüßen, dass Sie unseren Forderungen gefolgt
        sind, der Anzahl der Beschäftigten für die Wahl des ge-
        meinsamen Gerichtsstandes Vorrang einzuräumen und
        auch die Arbeitnehmervertretung im gemeinsamen Gläu-
        bigerausschuss sicherzustellen .
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        (B) (D)
        Wir hätten uns aber insgesamt einen mutigeren Ansatz
        gewünscht, der, wie es auch in der betrieblichen Steuer-
        lehre gefordert wird, das Trennungsgebot zugunsten des
        Einheitsgebotes zumindest bei stark verflochtenen Unter-
        nehmen aufgibt . Wenn ein Konzern organisatorisch und
        betriebswirtschaftlich wie ein Unternehmen agiert, sollte
        er auch wie nur ein Unternehmen behandelt werden . Oder
        wie der Volksmund sagt: mitgefangen, mitgehangen .
        Das Konzept der sogenannten materiellen bzw . Mas-
        sekonsolidierung kommt in den USA bei größeren Kon-
        zerninsolvenzen regelmäßig erfolgreich zur Anwendung .
        Gerade aus Gläubigersicht erscheint ein derartiges Ver-
        fahren wünschenswert . Geschäftspartner vertrauen auf
        die Stärke des Konzerns, wenn sie Verträge mit den ein-
        zelnen Gesellschaften abschließen . Bei der Insolvenz ei-
        nes Teiles müssen sie dann aber erkennen, dass das Ta-
        felsilber unerreichbar fern bei der Mutter liegt und die
        verstoßene Tochter leider nur leere Schubladen vorwei-
        sen kann . Mit der Massekonsolidierung steht den Gläubi-
        gern dann auch das Tafelsilber der Mutter zur Verfügung .
        Und wenn der Konzern ohnehin wie ein Unternehmen
        agiert, lässt sich die Sanierung einzelner Teile in einem
        einheitlichen Verfahren für den ganzen Konzern effekti-
        ver sicherstellen .
        Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Man kann
        wohl sagen, dass dieses Gesetz seit der ersten Lesung am
        14 . Februar 2014 die Dauer der Legislaturperiode voll
        ausgeschöpft hat . Ob es allein dadurch schon an Qualität
        gewonnen hat wie ein reifer Käse, ist allerdings zweifel-
        haft .
        Wenn ein Gesetz so lange auf sich warten lässt, könn-
        te man vermuten, dass sein Inhalt sehr fortschrittlich –
        geradezu revolutionär – und innovativ sein muss, dass
        sich die Gemüter der Koalitionsbeteiligten so sehr daran
        erhitzen und das Verfahren deshalb so lange stockt und
        nichts vor oder zurück geht .
        Mit viel Spannung wurde also der Änderungsantrag
        erwartet . Wer hineinschaut, wird aber eines Besseren be-
        lehrt .
        Ein wesentliches Anliegen des Gesetzes war es von
        Anfang an, die gerichtliche Zuständigkeit zu konzen-
        trieren, um Missbrauch durch Rosinenpickerei beim
        Gerichtsstand zu vermeiden . Neu ist jetzt, dass die
        Schwelle für ein gruppenangehöriges Unternehmen, das
        einen Gruppengerichtsstand begründen kann, von 10 auf
        15 Prozent der zusammengefassten Bilanzsumme ange-
        hoben wurde . Das weicht den bisherigen Vorschlag also
        eher auf .
        Dafür haben Sie jetzt der Zahl der Arbeitsplätze ein
        höheres Gewicht beigemessen . Erreicht kein gruppenan-
        gehöriges Unternehmen den Schwellenwert, dann kann
        der Gerichtstand bei dem Gericht begründet werden, das
        für den gruppenangehörigen Schuldner mit den meisten
        Arbeitsplätzen zuständig ist . Das ist nachvollziehbar und
        gleicht die Erhöhung des Schwellenwertes wieder eini-
        germaßen aus .
        Neu ist außerdem die Umbenennung des Koordi-
        nationsverwalters in „Verfahrenskoordinator“ . Laut
        Gesetzesbegründung grenze dies die Tätigkeiten eines
        Koordinationsverwalters besser von denen eines Insol-
        venzverwalters ab . – Wow! Sie sehen: Es hat sich ge-
        lohnt, ganze drei Jahre hierauf zu warten .
        Meine damaligen Kritikpunkte sind daher heute noch
        immer dieselben wie damals: Die Rolle des Koordinati-
        onsverwalters wurde durch die Umbenennung nicht ge-
        stärkt . Er soll bei unterschiedlichen Insolvenzverfahren
        diese koordinieren und auf abgestimmte Abwicklung
        der einzelnen Verfahren hinwirken, ohne wirkliche Wei-
        sungsrechte oder sonstige Durchschlagskraft . Unter ei-
        nem reifen Käse stelle ich mir etwas anderes vor .
        Aber immerhin: Wenn er schon nicht wirklich bedeu-
        tungsvoll sein wird, soll er nicht noch unnötig Kosten
        zulasten der Insolvenzmasse verursachen . Das haben Sie
        erkannt und bei der Vergütungsregelung Vorsorge getrof-
        fen . Da der neue Verfahrenskoordinator die einzelnen In-
        solvenzverwalter entlasten soll, bekommen diese künftig
        einen Abzug von Ihrer Regelvergütung, damit insgesamt
        keine Mehrkosten entstehen. Das finde ich gut.
        Die Ausnahme sagt dann aber, dass der Abzug nicht
        erfolgt, wenn das Koordinationsverfahren für die Ver-
        walter Zusatzaufwand verursacht . Ich werde das Gefühl
        nicht los, dass diese Ausnahme in der Praxis zur Regel
        werden dürfte .
        Daher bleibe ich dabei: Ob Koordinationsverwalter
        oder Verfahrenskoordinator, diese Konstruktion über-
        zeugt mich nach wie vor nicht, und wir werden dem letzt-
        lich auch nicht unsere Zustimmung geben .
        Immerhin haben Sie am Ende noch eine Verbesserung
        der Arbeitnehmervertretung im Gruppen-Gläubigeraus-
        schuss vorgenommen, die positiv zu bewerten ist . Am
        Ende reicht das dann aus unserer Sicht noch für eine Ent-
        haltung .
        Zum Schluss möchte ich Ihren Blick aber doch noch
        einmal über die Grenzen dieses Gesetzes hinausrich-
        ten: Wie sagte der Kollege Hirte in der ersten Lesung so
        schön: „Was das Gesellschaftsrecht zusammengeführt
        hat, das soll das Insolvenzrecht nicht scheiden“ .
        Daran gemessen ist durchaus noch einiges zu tun .
        Denn der Grundwiderspruch zwischen Insolvenzrecht
        und Steuerrecht ist noch lange nicht gelöst .
        Steuerlich können Mütter und Töchter ihre Verluste
        munter und lustig miteinander verrechnen . Geht aber ei-
        ner Tochter die Luft aus, hat die Mutter plötzlich nichts
        mehr damit zu tun .
        Dass dies zu nicht hinnehmbaren Zuständen führt,
        haben wir gerade erst bei den Verhandlungen mit den
        Atomkonzernen über die Kosten der Atommüllendlage-
        rung gesehen . Da haben wir dann im Einzelfall jetzt den
        heiligen Trennungsgrundsatz einmal berechtigterweise
        durchbrochen und per Gesetz festgelegt, dass die Mütter
        auch bei der Insolvenz ihrer Atommüll-Töchter weiter
        haften .
        Was beim Atommüll richtig ist, kann auch im sons-
        tigen Leben nicht völlig falsch sein . Insolvenzrecht und
        Steuerrecht der Konzerne miteinander zu synchronisie-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22351
        (A) (C)
        (B) (D)
        ren bleibt eine Herausforderung für weitere Legislatur-
        perioden .
        In Ihrem heutigen Gesetzentwurf ist zwar nicht alles
        Käse, aber für die wirklich wichtigen Fragen würde auch
        der weitere Reifungsprozess nichts mehr bringen . Brin-
        gen wir es also zu Ende .
        Anlage 22
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
        brachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung
        des Strafgesetzbuches – Umsetzung des Rahmen-
        beschlusses 2008/841/JI des Rates vom 24. Oktober
        2008 zur Bekämpfung der organisierten Krimina-
        lität (Tagesordnungspunkt 44)
        Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): Die Bekämpfung
        der organisierten Kriminalität prägt die rechtspolitische
        Agenda in Deutschland seit den späten 1980er-Jahren .
        Das Schadens- und Bedrohungspotenzial der organisier-
        ten Kriminalität ist unverändert hoch . Es handelt sich um
        ein komplexes und vielschichtiges Kriminalitätsphäno-
        men, welches sich gesellschaftlichen und wirtschaftli-
        chen Veränderungen schnell anpassen kann . Organisierte
        kriminelle Gruppierungen betätigen sich dabei in allen
        Kriminalitätsbereichen . Als typische Felder sind der
        Rauschgifthandel und -schmuggel, die Kriminalität im
        Zusammenhang mit dem Wirtschaftsleben oder Delikte
        der Eigentumskriminalität zu nennen . Darüber hinaus
        gewinnen die Deliktsfelder Cybercrime und Schleusen-
        kriminalität immer weiter an Bedeutung . Ursache hier-
        für ist die zunehmende Bedeutung des Internets und der
        digitalen Welt . Insbesondere im sogenannten Darknet
        werden kriminelle Marktplätze betrieben, in denen in-
        kriminierte Güter erworben werden können . Es werden
        unter anderem Drogen, Waffen, Falschgeld, gefälschte
        Ausweise oder gestohlene Kreditkartendaten angeboten .
        Ausschlaggebend für diese Entwicklung sind die Ano-
        nymität und ein vermeintlich geringes Entdeckungsrisi-
        ko, aber auch der Umstand, dass über die illegalen On-
        linemarktplätze weltweit eine Vielzahl von potenziellen
        Kunden unter Nutzung kryptierter Verbindungen erreicht
        werden können, und dies alles ohne spezielle Computer-
        kenntnisse .
        Derartige Kriminalität stellt nicht nur eine Bedrohung
        für den jeweils betroffenen Bürger oder des jeweils be-
        troffenen Rechtsguts der Allgemeinheit dar, sondern es
        besteht darüber hinaus die wachsende Gefahr der Unter-
        wanderung und Korrumpierung staatlicher und gesell-
        schaftlicher Institutionen . Folglich ist rechtspolitisches
        Ziel die Schaffung einer gesetzlichen Maßnahme, welche
        die organisierte Kriminalität besser bekämpfen kann –
        auch in den modernen Medien .
        Mit dem vorliegenden Gesetz zur Änderung des
        Strafgesetzbuches überführen wir die europarechtlichen
        Vorgaben aus dem Rahmenbeschluss 2008/841/JI in
        das nationale Recht . In den Bereichen, in denen durch
        die europäischen Vorgaben Anpassungsbedarf bestand,
        wurden die notwendigen Veränderungen vorgenommen .
        Der Rahmenbeschluss ist im Wesentlichen bereits schon
        durch den bestehenden § 129 StGB umgesetzt . Allerdings
        ist der Begriff der Vereinigung nach § 129 StGB in der
        Ausformung, die er durch die Rechtsprechung des Bun-
        desgerichtshofs erfahren hat, enger als die Definition der
        Vereinigung in Artikel 1 des Rahmenbeschlusses . Des-
        wegen wird eine Angleichung der Definitionen als auch
        der Straftaten vorgenommen, die im Zusammenhang mit
        der Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung began-
        gen werden . Hierdurch werden die gegenseitige Aner-
        kennung von Urteilen und gerichtlichen Entscheidungen
        sowie die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit er-
        leichtert . Die CDU/CSU-Fraktion ist Vorreiter, wenn es
        darum geht, gute europarechtliche Rechtsrahmen zu un-
        terstützen, zu fördern und dann auch in nationales Recht
        umzusetzen . Ich würde mir wünschen, dass alle Fraktio-
        nen im Bundestag ein vergleichbares Engagement für die
        Sicherheit der Menschen in die Debatte einbringen .
        Der Entwurf sieht insoweit vor, den Begriff der Ver-
        einigung in § 129 Absatz 2 StGB-E legal zu definieren
        als einen auf längere Dauer angelegten, von einer Fest-
        legung von Rollen der Mitglieder, der Kontinuität der
        Mitgliedschaft und der Ausprägung der Struktur un-
        abhängigen organisierten Zusammenschluss von mehr
        als zwei Personen zur Verfolgung eines übergeordne-
        ten gemeinsamen Interesses . Damit wird den Vorgaben
        des Rahmenbeschlusses Rechnung getragen und dieser
        vollständig umgesetzt. Der Begriff ist folglich durch ein
        personelles, zeitliches, organisatorisches sowie volunta-
        tives Element charakterisiert . Durch diese ausdrückliche
        gesetzliche Festlegung, wonach es weder einer förmli-
        chen Festlegung von Rollen für ihre Mitglieder noch der
        Kontinuität ihrer Mitgliedschaft noch einer bestimmten
        Ausprägung ihrer Struktur bedarf, unterscheidet sich die
        Vereinigung im Sinne des § 129 Absatz 1 Satz 1 i . V . m .
        Absatz 2 StGB-E von der Vereinigung in der Auslegung
        durch die derzeitige Rechtsprechung .
        Die Anforderungen an die Organisationsstrukturen
        und die Willensbildung werden dadurch verringert . Mit-
        hin bedarf es keiner derartig ausgeprägten „Gruppeniden-
        tität“ mehr, wie sie die Rechtsprechung derzeit fordert .
        Somit fallen hierarchische Zusammenschlüsse, in denen
        sich die Mitglieder einem autoritären Anführerwillen
        unterwerfen, nicht aus dem Tatbestand des § 129 StGB
        heraus. Gerade bei mafiösen Strukturen, die intensiv die
        Abschottung nach innen und außen betreiben, besteht
        ein Problem, den von der Rechtsprechung geforderten
        gemeinsamen Täterwillen zur Begehung konkreter Straf-
        taten nachzuweisen . Dies bedeutet jedoch nicht, dass die
        bloße lose Übereinkunft von mindestens zwei Personen
        genügt . Es ist ausreichend, wenn der Zusammenschluss
        ein Mindestmaß längerfristiger instrumenteller Voraus-
        planung und Koordinierung sowie eine irgendwie gearte-
        te regelhafte Willensbildung aufweist . Dies stimmt auch
        mit dem Rahmenbeschluss überein, welcher Zusammen-
        schlüsse aus dem Tatbestand ausscheidet, die sich zufäl-
        lig zur unmittelbaren Begehung einer Straftat bilden .
        Auch eine Abgrenzung zum Begriff der Bande wird
        hierbei gewährleistet, indem eine möglicherweise nur
        rudimentäre Organisationsstruktur und die Verfolgung
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722352
        (A) (C)
        (B) (D)
        eines übergeordneten gemeinsamen Interesses zu fordern
        ist . Im Bereich politisch motivierter Kriminalität liegt
        dieses übergeordnete gemeinsame Interesse in der von
        den Mitgliedern der Vereinigung geteilten politischen
        Überzeugung und der Verfolgung politischer Ziele, de-
        nen die Begehung der einzelnen Straftaten dient .
        Zur Vermeidung einer zu weitgehenden Vorfeldstraf-
        barkeit sieht der Entwurf vor, als Bezugstaten nur Straf-
        taten einzubeziehen, die im Höchstmaß mindestens mit
        Freiheitsstrafe von zwei Jahren bedroht sind . Damit wird
        von der vom Rahmenbeschluss eröffneten Möglichkeit
        der Einschränkung nach der Schwere der in Aussicht
        genommenen Straftaten Gebrauch gemacht . Aus dem
        Schutzzweck der Norm, dem Verhältnismäßigkeitsgrund-
        satz und der Bedeutung von § 129 StGB als Katalogtat
        für bestimmte strafprozessuale Möglichkeiten folgt darü-
        ber hinaus, dass die von der Vereinigung geplanten oder
        begangenen Straftaten eine erhebliche Gefahr für die öf-
        fentliche Sicherheit bedeuten und unter diesem Gesichts-
        punkt von einigem Gewicht sein müssen . Der Entwurf
        greift die vom Rahmenbeschluss eröffnete Möglichkeit
        des einschränkenden Erfordernissen des in Aussicht ge-
        nommenen Handelns um eines unmittelbaren oder mit-
        telbaren finanziellen oder sonstigen materiellen Vorteils
        willen hingegen nicht auf . Vielmehr wird die Verfolgung
        eines übergeordneten gemeinsamen Interesses verlangt .
        Die Beschränkung auf die Verfolgung eines finanziellen
        oder sonstigen materiellen Vorteils hätte eine gewis-
        se Einschränkung der Möglichkeiten der Wohnraum-
        überwachung nach § 100 c Absatz 2 Nummer 1 Buch-
        stabe b der Strafprozessordung in Verbindung mit § 129
        Absatz 5 Satz 3 StGB-E zur Folge gehabt .
        Weiterhin wird bei den Strafandrohungen des § 129
        Absatz 1 StGB-E zwischen Gründung und der Mitglied-
        schaft einerseits und der Werbung und der Unterstützung
        andererseits differenziert. Die Erweiterung des Verei-
        nigungsbegriffs wirkt sich auch auf § 129 a StGB aus.
        Nach § 129 Absatz 1 Satz 2 StGB-E werden Personen,
        die für eine kriminelle Vereinigung um Mitglieder oder
        Unterstützer werben oder sie unterstützen, entsprechend
        dem Gewicht ihres Tatbeitrages mit geringerer Strafe be-
        droht werden als Personen, die eine kriminelle Vereini-
        gung gründen oder ihr als Mitglied angehören . In § 129
        Absatz 1 Satz 1 StGB-E werden die Gründung einer
        kriminellen Vereinigung und die Mitgliedschaft in einer
        solchen wie bisher mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren
        oder mit Geldstrafe bestraft .
        Es ist stets zu berücksichtigen, dass organisierte Kri-
        minalitäts-Verfahren häufig komplexe, personalintensive
        und zeitaufwändige Ermittlungen erfordern . Gerade vor
        dem Hintergrund einer zunehmenden Nutzung digitaler
        Kommunikationsmittel, der Verwendung von Anonymi-
        sierungsmechanismen, steigende Professionalisierung,
        des hohen Anteils transnational agierender Gruppierun-
        gen und letztlich der Mobilität der Angehörigen steigen
        die Herausforderungen der Strafverfolgungsbehörden .
        Der Bekämpfung der organisierten Kriminalität kommt
        damit eine unvermindert hohe Bedeutung zu .
        Im Jahr 2015 wurden im Zusammenhang mit den or-
        ganisierten Kriminalitäts-Verfahren in Deutschland mehr
        als 8 500 Tatverdächtige ermittelt . Bei rund einem Drittel
        der Tatverdächtigen handelt es sich um deutsche Tatver-
        dächtige . Dieser Gesetzesentwurf stellt folglich ein pro-
        bates Mittel dar, die Auslegung des § 129 StGB an dem
        wirklichkeitsnahen Bild hierarchisch strukturierter Orga-
        nisationen zu orientieren. Die Übergänge sind fließend.
        So kann sich beispielsweise eine Bandenstruktur in eine
        Vereinigung im Sinne von § 129 StGB wandeln . Das-
        selbe gilt umgekehrt namentlich bei Zweckänderungen .
        Kriminelle Vereinigungen können innerhalb einer grö-
        ßeren Organisation bestehen, die als solche § 129 StGB
        nicht unterfällt .
        Mit dem vorliegenden Gesetzesentwurf wird der Rah-
        menbeschluss effektiv in das nationale Recht umgesetzt.
        Dabei wird ein guter Ausgleich zwischen den europäi-
        schen Verpflichtungen einerseits und nationalen Anfor-
        derungen des Strafrechts andererseits geschaffen. Dieser
        Gesetzesentwurf ist ein scharfes Schwert, um gegen die
        organisierte Kriminalität vorzugehen . Uns als Union ist
        die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger von über-
        ragender Bedeutung .
        Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Wir sprechen heute
        über den Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung eines
        Rahmenbeschluss des Rates der Europäischen Union . Er
        betrifft die Strafbarkeit der Bildung krimineller und ter-
        roristischer Vereinigungen .
        Das deutsche Strafrecht stellt die Bildung einer kri-
        minellen Vereinigung bereits unter Strafe . Bei terroris-
        tischen Vereinigungen im In- oder Ausland sieht das
        Gesetz zwingend eine Freiheitsstrafe von mindestens ei-
        nem Jahr vor . Wenngleich durch eine solche Vereinigung
        noch kein Individualrechtsgut betroffen ist, werden die
        öffentliche Sicherheit und die staatliche Ordnung bereits
        verletzt . Kriminelle Organisationsformen steigern die
        Gefahr für wichtige Rechtsgüter der Gemeinschaft . Ins-
        besondere den Bedrohungen durch den internationalen
        Terrorismus setzt das Strafrecht hier wirksame rechts-
        staatliche Maßnahmen entgegen .
        Dennoch besteht ein gesetzgeberischer Handlungsbe-
        darf . Der Rahmenbeschluss des Rates der Europäischen
        Union vom 24. Oktober 2008 beinhaltet eine Definition
        der kriminellen Vereinigung . Es ist mit Bedauern fest-
        zustellen, dass es der Rechtsprechung nicht gelungen
        ist, eine europarechtskonforme Auslegung des Vereini-
        gungsbegriffs zu finden. Der Wortlaut der Strafvorschrift
        stand dem nicht entgegen . Eine Neubestimmung des Be-
        griffs der Vereinigung wurde vielmehr dem Gesetzgeber
        überlassen .
        Mit diesem Gesetzentwurf kommen wir dieser Not-
        wendigkeit nach. Die Legaldefinition der kriminellen
        Vereinigung entspricht den Vorgaben aus dem Rahmen-
        beschluss des Rates . Das vielfach kritisierte Erfordernis
        einer Gruppenidentität wird aufgegeben . Bisher mussten
        die Mitglieder derart in Beziehung stehen, dass sie sich
        als einheitlicher Verband fühlen . Für die Strafbarkeit
        als kriminelle Vereinigung soll es künftig vielmehr auf
        die Organisationsstruktur, die Vorausplanung und Ko-
        ordinierung ankommen . Mit der Neuregelung werden
        hierarchische Zusammenschlüsse unter einem autoritä-
        ren Anführerwillen als kriminelle Vereinigung erfasst .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22353
        (A) (C)
        (B) (D)
        Von solchen Gruppierungen gehen erhebliche Gefahren
        für wichtige Rechtsgüter der Gemeinschaft aus . Mit der
        Legaldefinition der kriminellen Vereinigung wird der
        Rechtsprechung eine verbindliche Auslegungsregel ge-
        geben . Der Gesetzentwurf leistet einen Beitrag zu mehr
        Rechtssicherheit . Zugleich bewirkt die Umsetzung euro-
        parechtlicher Vorgaben eine Angleichung der Strafvor-
        schriften . Die Bildung einer kriminellen Vereinigung ist
        in jedem Mitgliedsstaat der Europäischen Union strafbar
        und wird mit vergleichbaren Strafen geahndet .
        Der Gesetzentwurf enthält jedoch weitere Änderun-
        gen des Straftatbestands der Bildung einer kriminellen
        Vereinigung . Diese Änderungen werden vom Rahmen-
        beschluss des Rates nicht gefordert und erscheinen nicht
        zweckdienlich . Ich möchte auf zwei Punkte eingehen, die
        es kritisch zu würdigen gilt .
        Der Gesetzentwurf möchte zwischen der Gründung
        und Beteiligung auf der einen Seite und der Unterstüt-
        zung und Werbung auf der anderen Seite differenzieren.
        Für die Unterstützung oder die Werbung um Mitglieder
        oder Unterstützer einer kriminellen Vereinigung soll
        künftig ein abgesenkter Strafrahmen gelten . Die erhöhte
        Strafandrohung bei besonders schweren Bezugstaten soll
        bei der Unterstützung und Werbung sogar entfallen .
        Eine Differenzierung bei den angedrohten Strafen
        erscheint nicht notwendig . Die Unterstützung und Wer-
        bung für eine kriminelle Vereinigung stehen als gleichar-
        tige Alternativen auf einer Ebene . Das Rechtsgut der
        öffentliche Sicherheit und staatlichen Ordnung wird in
        allen Alternativen verletzt .
        Die Absenkung der Strafrahmen setzt zudem ein fal-
        sches Signal . Wir möchten die Täter mit diesem Gesetz
        nicht begünstigen . Ziel dieses Gesetzentwurfs ist eine
        effektivere Strafverfolgung von kriminellen Vereinigun-
        gen .
        Diesem Ziel wird auch bei der Einschränkung der
        Straftaten, auf welche die kriminelle Vereinigung gerich-
        tet ist, widersprochen . Als Bezugstaten sollen nach dem
        Gesetzentwurf nur noch Straftaten erfasst werden, die im
        Höchstmaß mindestens mit Freiheitsstrafe von zwei Jah-
        ren bedroht sind . Im Umkehrschluss sind Straftaten mit
        geringerer Strafdrohung wie die Bedrohung nicht erfasst .
        Kriminelle Vereinigungen, die ein Klima von systema-
        tischer Einschüchterung und Bedrohung schaffen, sind
        von der Strafbarkeit ausgeschlossen . Diese Strafbarkeits-
        lücke sollte in dieser Gestalt nicht hingenommen werden .
        Diese aufgeworfenen Punkte bedürfen im Ausschuss
        und in der Sachverständigenanhörung nochmals einer
        eingehenden Diskussion . Ich wünsche uns gute Beratun-
        gen .
        Bettina Bähr-Losse (SPD): Die EU-Kommission
        hat die Mitgliedstaaten dazu aufgefordert, den EU-Rah-
        menbeschluss zur Bekämpfung der organisierten Krimi-
        nalität vollständig umzusetzen . Der Rahmenbeschluss
        zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität ist zwar
        durch das geltende deutsche Recht im Wesentlichen, aber
        eben noch nicht vollständig umgesetzt, da der Begriff
        der Vereinigung in § 129 des Strafgesetzbuches, StGB,
        in der Auslegung durch die Rechtsprechung des Bun-
        desgerichtshofs enger ist als die Definition in Artikel 1
        des Rahmenbeschlusses . Bisher unterfallen hierarchisch
        organisierte Gruppen mit bloßer Durchsetzung eines au-
        toritären Anführerwillens mangels „Gruppenidentität“
        nicht dem Tatbestand .
        Die Vorgeschichte zu diesem Gesetz beginnt auf ei-
        nem Bauhof in der sächsischen Stadt Mittweida . Dort
        hatte sich ab dem Jahr 2005 regelmäßig eine Gruppe
        politisch rechtsorientierter Jugendlicher getroffen. An-
        fang 2006 kam innerhalb der Gruppe die Idee auf, eine
        Kameradschaft zu gründen . Im März 2006 wurde auf
        dem Bauhof eine Gründungsversammlung mit 30 bis 50
        anwesenden Personen durchgeführt, in deren Rahmen
        man sich auf den Namen „Kameradschaft Sturm 34“
        einigte . Der Vorschlag, eine förmliche Mitgliederliste
        anzulegen, wurde nicht umgesetzt, weil man eine solche
        Liste im Falle polizeilicher Ermittlungen für nachteilig
        hielt . Bei einer späteren Veranstaltung im Juni 2006 wur-
        de aber ein vierköpfiger Vorstand gewählt. Eine schriftli-
        che Satzung oder offizielle Entscheidungsregeln wurden
        nicht niedergelegt .
        Nach Gründung der „Kameradschaft Sturm 34“ kam
        es bei mehreren Gelegenheiten zu von Kameradschafts-
        mitgliedern initiierten Schlägereien, bei denen zahlreiche
        Personen – teilweise erheblich – verletzt wurden .
        Im Revisionsverfahren gegen das erstinstanzliche Ur-
        teil des LG Dresden, das die Voraussetzungen für eine
        kriminelle „Vereinigung“ nicht gegeben sah, setzte sich
        der 3 . Strafsenat des BGH mit der Frage auseinander, ob
        die „Kameradschaft Sturm 34“ als kriminelle Vereini-
        gung im Sinne des § 129 StGB einzustufen und die An-
        geklagten wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung hieran
        zu verurteilen seien .
        Der 3 . Strafsenat des BGH stufte die „Kameradschaft
        Sturm 34“ als kriminelle Vereinigung im Sinne des § 129
        StGB ein .
        Entscheidender als diese Bewertung ist jedoch viel-
        mehr, dass der 3 . Strafsenat des BGH es aus grundsätz-
        lichen Erwägungen heraus abgelehnt hat, den Vereini-
        gungsbegriff „europarechtsfreundlich“ und damit weiter
        als bisher zu interpretieren und gleichzeitig nach einer
        Regelung durch den Gesetzgeber rief .
        Zur Lösung des Problems sieht der vorliegende Ent-
        wurf vor, in § 129 StGB eine Legaldefinition der Vereini-
        gung in Anlehnung an Artikel 1 des Rahmenbeschlusses
        aufzunehmen. Die Erweiterung des Vereinigungsbegriffs
        wird dazu führen, dass Erscheinungsformen aus dem Be-
        reich der organisierten Kriminalität zukünftig strafrecht-
        lich noch besser erfasst werden können .
        Im weiteren Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens
        werden folgende Punkte Berücksichtigung finden müs-
        sen:
        Erstens. Mit der Aufnahme einer Legaldefinition in
        § 129 StGB ist zwangsläufig eine Ausweitung der Straf-
        barkeit im Vorfeld der eigentlichen Rechtsgutverletzung
        verbunden .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722354
        (A) (C)
        (B) (D)
        Zweitens muss gewährleistet werden, dass die vorge-
        sehenen Änderungen nicht im Widerspruch zu wesentli-
        chen Grundgedanken des Gesamtgefüges des deutschen
        Strafrechts für die Behandlung mehrerer zusammenwir-
        kender Personen, wie Vereinigungen, Gruppen, Banden
        oder die Beteiligungsform der Mittäterschaft, stehen .
        Sollten diese Bedenken im Rahmen des weiteren Ge-
        setzgebungsverfahrens ausgeräumt werden, steht einer
        Umsetzung des Rahmenbeschlusses nichts mehr im Weg .
        Frank Tempel (DIE LINKE): Dieser im Bundes-
        tag eingebrachte Gesetzentwurf strebt eine Anpassung
        zu dem vom Europarat vereinbarten Rahmenbeschluss
        2008/841/JI vom 24 . Oktober 2008 an . Mit dem Geset-
        zesentwurf wird der Begriff der kriminellen Vereinigung
        in § 129 StGB an die Definition in dem genannten Rah-
        menbeschluss angepasst . Dadurch wird der Tatbestand
        des § 129 StGB deutlich erweitert . Eine kriminelle Ver-
        einigung ist zukünftig „ein auf längere Dauer angeleg-
        ter von einer Festlegung von Rollen der Mitglieder, der
        Kontinuität der Mitgliedschaft und der Ausprägung der
        Struktur unabhängiger organisierter Zusammenschluss
        von mehr als zwei Personen zur Verfolgung eines überge-
        ordneten gemeinsamen Interesses“ . Nach der bisherigen
        Rechtsprechung verlangt eine Vereinigung dagegen „ei-
        nen auf eine gewisse Dauer angelegten, freiwilligen or-
        ganisatorischen Zusammenschluss von mindestens drei
        Personen, die bei Unterordnung des Willens des Einzel-
        nen unter den Willen der Gesamtheit gemeinsame krimi-
        nelle Zwecke verfolgen und derart in Beziehung stehen,
        dass sie sich als einheitlicher Verband fühlen .“ Dieser
        Erweiterung soll einschränkend begegnet werden, indem
        die Begehung einer Straftat verlangt wird, die im Höchst-
        maß mit einer Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jah-
        ren bedroht ist . Ursprünglich war hier eine Strafbarkeit
        von mindestens fünf Jahren geplant . Da dann aber der für
        rechtsextreme Gruppen typische §130 StGB herausge-
        fallen wäre, wurde dies geändert . Diese Einschränkung
        wirkt sich jedoch nicht auf den § 129 a StGB aus .
        Die Regierungen der Mitgliedstaaten haben erhebli-
        chen Einfluss auf die Gesetzgebung innerhalb der EU.
        In Deutschland findet das über den Artikel 23 GG statt.
        Weil mit der neuen Definition die bisher vorausgesetzte
        „Gruppenidentität“ nicht mehr erforderlich ist, fallen da-
        nach auch hierarchisch organisierte Zusammenschlüsse,
        in denen die Mitglieder sich einem autoritären Anführer-
        willen unterwerfen, unter den Tatbestand . Neben dieser
        unter Umständen sinnvollen Erweiterung führt die neue
        Definition aber auch dazu, dass Gruppierungen mit ei-
        ner lockeren Netzstruktur unter den Tatbestand fallen .
        Die sowieso schon kritisierte vorverlagerte Strafbarkeit
        der Tatbestände wird also noch weiter vorverlagert und
        ausgeweitet . Trotz der Einschränkung für den §129 StGB
        kann eine solche Erweiterung wegen der grundlegenden
        Kritik an der in den Tatbeständen weit vorverlagerten
        Strafbarkeit nicht mitgetragen werden .
        Die Forderung nach einer Verschärfung des Straf-
        rechts ist keine angemessene Lösung des Problems . Eine
        Verschärfung des Strafrechts hilft den Opfern nicht, hat
        auf Täter keine abschreckende Wirkung und führt des-
        halb auch nicht zu mehr Sicherheit . Präventive Maßnah-
        men sind nachhaltiger und versprechen im Gegensatz zur
        Strafrechtsverschärfung, konkrete Erfolge zu zeigen . Wir
        brauchen mehr Prävention im Bereich der Gruppen, die
        für Radikalisierung anfällig sind .
        In der Kriminologie ist belegt, dass härtere Strafen Tä-
        ter bei der Begehung von Straftaten nicht abschrecken .
        Nur die hohe Entdeckungswahrscheinlichkeit einer Tat
        schreckt ab . Entdeckungswahrscheinlichkeiten steigen
        mit dem Einsatz von mehr Personal bei Polizei und Zoll,
        einer besserer Ausstattung für die Erledigung dieser spe-
        zifischen Aufgabe und gezielter Aus- und Weiterbildung
        der Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten in diesem Be-
        reich .
        Eine Verschärfung der Gesetze kann nicht zur Redu-
        zierung der organisierten Kriminalität führen und bringt
        auch nicht mehr Sicherheit . Eine Änderung eines Geset-
        zes sollte in rechtlichem Sinne erforderlich, angemessen
        und verhältnismäßig sein . Da es hier nicht der Fall ist,
        wird die Bundestagsfraktion Die Linke diese vorgeschla-
        gene Änderung ablehnen .
        Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Es steht gleich im ersten Satz des vorliegenden
        Gesetzentwurfs: Der Rahmenbeschluss 2008/841/JI des
        Rates vom 24 . Oktober 2008 zur Bekämpfung der orga-
        nisierten Kriminalität ist durch das geltende Recht im
        Wesentlichen bereits umgesetzt. Lediglich die Definiti-
        on der Vereinigung in § 129 Strafgesetzbuch soll in An-
        lehnung an den Rahmenbeschluss etwas weiter gefasst
        werden, und es soll eine Legaldefinition dieses Begriffs
        aufgenommen werden .
        Darüber hinaus enthält der Gesetzentwurf den Vor-
        schlag, bei den Strafandrohungen des § 129 StGB zwi-
        schen der Gründung und Mitgliedschaft einerseits – bis
        zu fünf Jahren Freiheitsstrafe – und der Unterstützung
        bzw . Werbung um Unterstützer und Mitglieder anderer-
        seits – bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe – zu differenzie-
        ren . Konkret heißt dies, dass es nun abgestufte Strafdro-
        hungen für die Gründung einer kriminellen Vereinigung
        und die Mitgliedschaft in ihr einerseits und die Unterstüt-
        zung einer kriminellen Vereinigung und die Werbung für
        eine solche andererseits gelten . Dieser Vorschlag klingt
        ganz vernünftig .
        Der Bundesrat hat ebenfalls keine weiteren Einwände
        gegen dieses Umsetzungsgesetz . In seiner Stellungnah-
        me vom 10. Februar 2017 empfiehlt er lediglich zur bes-
        seren Verständlichkeit der Legaldefinition des Begriffs
        „Vereinigung“ in § 129 Absatz 2 StGB-E, die Regelung
        in zwei Sätze aufzuteilen . In einem ersten Satz sollen
        die grundlegenden Erfordernisse einer Vereinigung be-
        stimmt und im zweiten Satz dann die Umstände gelistet
        werden, die der Annahme einer Vereinigung nicht entge-
        genstehen . Dieser Vorschlag des Bundesrates führt in der
        Tat zu einer besseren Verständlichkeit und sollte daher
        aufgegriffen werden. Viel mehr gibt es zu den Änderun-
        gen in der Strafvorschrift nicht zu sagen .
        Deshalb ein paar Anmerkungen zur Geschichte des
        § 129 StGB, „Bildung einer kriminellen Vereinigung“;
        sie ist in der Tat eine bewegte . Immer wieder wurde ver-
        sucht, die Vorschrift politisch zu instrumentalisieren .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22355
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        (B) (D)
        Der Eindruck drängte sich zum Beispiel auf anlässlich
        von Strafverfahren gegen Teilnehmer einer Kundgebung
        gegen den Naziaufmarsch in Dresden im Februar 2010 .
        Schon im Vorfeld der Gegendemonstrationen hatte die
        sächsische Polizei verlangt, die Internetadresse für die
        bundesweiten Proteste gegen den Naziaufmarsch abzu-
        schalten . Außerdem ließ die sächsische Polizei und Justiz
        Aufrufplakate zur Gegendemonstration beschlagnahmen .
        Mit Sitzblockaden blockierten dann am 13 . Februar 2010
        Zehntausende den Aufmarsch der Rechtsextremisten .
        Im Frühjahr wurde ein Ermittlungsverfahren ge-
        gen Unbekannt wegen der Bildung einer kriminellen
        Vereinigung eingeleitet. § 129 StGB eröffnet den Er-
        mittlungsbehörden eine Vielzahl von weitreichenden
        Ermittlungsbefugnissen, zum Beispiel Telekommuni-
        kationsüberwachung, Observationen oder Einsatz ver-
        deckter Ermittler . Der Verdacht der Beteiligung oder
        Unterstützung einer kriminellen Vereinigung reicht . Im
        folgenden Jahr wurden am Tag der gleichen Demons-
        tration gegen den Aufmarsch am 19 . Februar 2011 Mo-
        bilfunkverkehrsdaten ganzer Funkzellen abgefragt – das
        heißt, Millionen von Handy-Gesprächen, die Demons-
        tranten geführt hatten, wurden erfasst . Solche Vorgänge
        bei der Anwendung des § 129 StGB sind geeignet, ein
        Unbehagen zu schüren, der Straftatbestand werde als
        wohlfeile „Allzweckwaffe“ gegen unliebsames politi-
        sches Verhalten instrumentalisiert .
        Der BGH-Richter Thomas Fischer schrieb in seiner
        Kolumne in der Zeit, in Vorstellung und Definition der
        „Vereinigung“ schwinge noch viel von der „Geheim-
        gesellschaft“ mit, nebst ihren Implikationen der Staats-
        feindlichkeit und des Umsturzes; sie stammten sozusa-
        gen aus den Kindertagen des Staats .
        In der Tat reicht die Geschichte des § 129 StGB weit
        zurück bis ins Preußische Strafgesetzbuch und dann ins
        Reichsstrafgesetzbuch . Er war Mittel zur Verfolgung
        liberaler und demokratischer Tendenzen . Er kam zur
        Anwendung in Prozessen gegen bekannte Vertreter der
        Deutschen Arbeiterbewegung wie August Bebel und
        befeuerte die Verfolgung der Sozialdemokratie, später
        auch anderer Vereinigungen . Auch das 20 . Jahrhundert
        überdauerte die „kriminelle Vereinigung“ im Strafge-
        setzbuch . In der Weimarer Zeit fand sie Anwendung
        bei der Verfolgung der „Ringvereine“ in Berlin . Später
        wurde sie durch Änderungen den aktuellen, vor allem
        politisch-gesellschaftlichen Umständen angeglichen und
        erweitert um die § 129 a und b StGB . Einiges davon habe
        ich miterlebt . Sogar mitgestaltet habe ich Änderungen
        nach der Jahrtausendwende . Ob sich die jetzt vorgelegten
        Änderungen in der Praxis der Rechtsprechung merklich
        auswirken, bleibt abzuwarten . Zu mehr Klarheit kann die
        Legaldefinition vielleicht beitragen.
        Das Grundproblem der §§ 129 ff StGB, mitunter po-
        litisch instrumentalisiert zu werden, bleibt aber wohl be-
        stehen .
        Christian Lange, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
        minister der Justiz und für Verbraucherschutz: Mit dem
        Gesetzentwurf, den wir heute hier behandeln, wollen wir
        die Strafvorschrift des § 129 Strafgesetzbuch, den Straf-
        tatbestand der Bildung krimineller Vereinigungen, an die
        Vorgaben des Rahmenbeschlusses des Rates der Europäi-
        schen Union vom 24 . Oktober 2008 zur Bekämpfung der
        organisierten Kriminalität anpassen .
        Das deutsche Strafrecht entspricht diesem Rahmenbe-
        schluss bereits heute in weitem Umfang . Jedoch ist der
        Begriff der Vereinigung nach § 129 Strafgesetzbuch zwar
        nicht vom Wortlaut her, wohl aber in der Ausformung,
        die er durch die Rechtsprechung des Bundesgerichts-
        hofs erfahren hat, enger, als dies der Rahmenbeschluss
        fordert . Deshalb besteht noch gesetzgeberischer Hand-
        lungsbedarf, damit Deutschland seiner Verpflichtung zur
        Umsetzung in vollem Umfang nachkommt .
        Der Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht vor,
        ins Strafgesetzbuch eine Legaldefinition des Vereini-
        gungsbegriffs aufzunehmen, die sich eng an den europä-
        ischen Vorgaben orientiert. Damit ist zwangsläufig eine
        Ausweitung der Strafbarkeit im Vorfeld der eigentlichen
        Rechtsgutsverletzung verbunden . Denn die Lockerung
        des Vereinigungsbegriffes führt dazu, dass die Anforde-
        rungen an die Organisationsstruktur abgesenkt werden .
        Aus dieser Organisationsstruktur wurden bisher aber die
        Gefährlichkeit entsprechender Vereinigungen und damit
        die Strafwürdigkeit der Betätigung bereits im Vorfeld des
        strafbaren Versuchs abgeleitet .
        Um dieser Ausweitung der Strafbarkeit zu begegnen,
        sollen zukünftig die Bezugstaten, auf deren Begehung
        eine kriminelle Vereinigung im Sinne des § 129 Straf-
        gesetzbuch gerichtet sein kann, beschränkt werden, und
        zwar auf Straftaten, bei denen die Höchststrafe eine Frei-
        heitsstrafe von zwei Jahren an aufwärts ist .
        Der Gesetzentwurf sieht außerdem vor, bei der Straf-
        androhung zwischen der Gründung einer kriminellen
        Vereinigung und der Mitgliedschaft in ihr einerseits so-
        wie der Unterstützung einer kriminellen Vereinigung und
        der Werbung um Mitglieder oder Unterstützer für sie an-
        dererseits zu differenzieren. Der Gesetzentwurf folgt da-
        mit einer Wertung, die das Strafgesetzbuch schon heute
        beim Tatbestand der Bildung terroristischer Vereinigun-
        gen vornimmt .
        Die Erweiterung des Vereinigungsbegriffs wirkt sich
        auch auf den Straftatbestand der Bildung terroristischer
        Vereinigungen aus . Hier bedarf es keiner Einschränkung
        des Anwendungsbereichs, da eine terroristische Verei-
        nigung ohnehin nur eine Vereinigung sein kann, die auf
        die Begehung bestimmter besonders schwerer Straftaten
        gerichtet ist .
        Auch wenn die Änderungen an den §§ 129 ff. Straf-
        gesetzbuch überschaubar sind, so wird insbesondere die
        Erweiterung des Vereinigungsbegriffs dazu führen, dass
        Erscheinungsformen aus dem Bereich der organisierten
        Kriminalität zukünftig strafrechtlich noch besser erfasst
        werden können . Ich bitte Sie daher, diesen Gesetzent-
        wurf der Bundesregierung zu unterstützen .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722356
        (A) (C)
        (B) (D)
        Anlage 23
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
        Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-
        sammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag
        der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Trilate-
        rale Partnerschaften in der ASEAN-Region stär-
        ken – Deutsches Know-how nutzen (Tagesord-
        nungspunkt 46)
        Jürgen Klimke (CDU/CSU): Ich freue mich sehr,
        dass wir heute den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU
        und SPD „Trilaterale Partnerschaften in der ASEAN-Re-
        gion stärken“ verabschieden . Der Deutsche Bundestag
        setzt damit ein wichtiges Zeichen für die Notwendigkeit
        von internationaler wirtschaftlicher Zusammenarbeit und
        ebenso ein Gegengewicht zum immer stärker propagier-
        ten Protektionismus einzelner Akteure sowie zum militä-
        rischen Wettrüsten in der ASEAN-Region, das wir in der
        jüngeren Vergangenheit beobachten können .
        Die zehn ASEAN-Staaten mit ihren über 600 Millio-
        nen Einwohnern bieten große wirtschaftliche Entwick-
        lungspotenziale . Damit Deutschland auch in den kom-
        menden Jahren als entwicklungspolitischer Akteur in der
        Region präsent sein kann, ist es notwendig, dass wir un-
        ser Engagement auf ein breiteres Fundament stellen und
        die bereits wirtschaftlich stärker entwickelten Partner des
        ASEAN-Bündnisses in Dreieckskooperationen mit wirt-
        schaftlich schwächeren Staaten der Region einbeziehen .
        Unser Ziel ist es, das wirtschaftliche Gefälle zwischen
        den einzelnen Staaten abzusenken .
        An dieser Stelle möchte ich auf die von der Oppositi-
        on geäußerten Vorbehalte zu diesem Antrag eingehen . So
        wurde geäußert, der Antrag zeige keine Neuerungen auf,
        sei quasi ein Nullsummenspiel . Das sehe ich so nicht .
        Aus meiner Sicht ist das eine mutwillige Fehlinterpreta-
        tion des Antrages .
        Der Koalition geht es primär um den verstärkten Aus-
        bau vorhandener und bewährter Strukturen sowie um die
        Intensivierung von Synergieeffekten, die der Verbesse-
        rung der Lebensgrundlage der Menschen vor Ort dienen .
        Der Antrag ist zudem ein Statement, dass entwick-
        lungspolitische Kooperationen in Südostasien kein Aus-
        laufmodell sind, sondern in der Strategieplanung der
        deutschen Entwicklungszusammenarbeit ihren festen
        Platz haben .
        Die ASEAN-Region ist im stetigen Wandel und weist
        große Entwicklungsunterschiede auf . Mit einer Delegati-
        on des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit
        und Entwicklung konnte ich mir Anfang Februar dieses
        Jahres in Laos und Kambodscha wieder ein Bild von der
        Situation machen .
        Im Gespräch mit unseren Partnern in Laos wurde mir
        erneut versichert, dass Deutschland großes Ansehen in
        dem Land genieße und man auf den Ausbau der Entwick-
        lungszusammenarbeit setze . Laos ist seit 1997 Mitglied
        der südostasiatischen Staatengemeinschaft (ASEAN)
        und seit 2015 Mitglied der Wirtschaftsgemeinschaft
        ASEAN Economic Community (AEC) . Es gehört zu den
        am wenigsten entwickelten Staaten der Welt .
        Um unsere Entwicklungsbemühungen in Laos und
        den anderen ASEAN-Staaten in Zukunft noch breiter
        aufzustellen, bietet sich meiner Meinung nach der Aus-
        bau von trilateralen Entwicklungsprojekten an . Um beim
        Beispiel zu bleiben: neben Deutschland und Laos noch
        ein weiterer Partner aus der Region .
        Für dieses Entwicklungsmodell werben wir mit un-
        serem Antrag . Das BMZ hat mit Dreieckskooperationen
        bereits vielfältige Erfahrung gemacht . Bei den bisherigen
        Kooperationen handelte es sich fast ausschließlich um
        Vorhaben im Rahmen der technischen Zusammenarbeit .
        Ich plädiere an dieser Stelle auch dafür, die finanzielle
        Zusammenarbeit in diesem Bereich auszubauen .
        Deutschland hat aktuell mit Thailand, Malaysia und
        Indonesien trilaterale Kooperationen vereinbart, die je-
        weils einen weiteren regionalen Partner einbeziehen .
        Diese Maßnahmen fördern nicht nur lokale Entwicklun-
        gen, sondern tragen auch zum Harmonisierungs- und In-
        tegrationsprozess innerhalb der ASEAN-Region bei .
        Die Vorteile liegen auf der Hand; denn die Grundla-
        gen für den Ausbau dieses Entwicklungsmodells sind
        vorhanden . So verfügt beispielsweise Thailand über ent-
        wicklungspolitische Institutionen, die sich im Wesentli-
        chen auf die ärmeren Nachbarn ausrichten .
        Das Beispiel Thailand zeigt: Mit wirtschaftlicher und
        gesellschaftlicher Entwicklung der vergangenen Jahr-
        zehnte wandelte sich Thailand zu einem Schwellenland –
        und damit einhergehend auch die Zusammenarbeit mit
        Deutschland . Aus der bilateralen Zusammenarbeit ent-
        standen verschiedene deutsch-thailändische Kooperatio-
        nen, um in den Nachbarländern Thailands Projekte in der
        Entwicklungszusammenarbeit umzusetzen .
        Wünschenswert wäre es, wenn diese Erfolge zukünf-
        tig auch auf Regionen in der ASEAN-Region ausstrahlen
        könnten, die bisher noch nicht in trilateralen Projekten
        berücksichtigt sind . So sehe ich beispielsweise ähnli-
        che Entwicklungs-herausforderungen in der Grenzregi-
        on zwischen Thailand und Myanmar . Dieser Landstrich
        war lange Zeit stark vom Drogenanbau betroffen. Durch
        einen intensiven Strukturwandel konnten die Region in
        jüngerer Vergangenheit zu einem Teeanbaugebiet entwi-
        ckelt und einige nachhaltige Ansätze im Bereich Touris-
        mus etabliert werden . Aber: Die Reduzierung des Dro-
        genanbaus in den letzten Jahren konnte nicht verhindern,
        dass sich die Region in jüngerer Vergangenheit zu einem
        großen Handelsplatz für synthetische Drogen entwickelt
        hat, die von dort in ganz Südostasien verbreitet werden .
        Neue trilaterale Projekte in dieser Region könnten aus
        meiner Sicht ein Beitrag Deutschlands sein, lokal und bi-
        lateral erzielte Verbesserungen aufzugreifen und mithilfe
        eines breiteren Bündnisses fortzuführen .
        Der Blick auf die Zahlen verdeutlicht es: Trilatera-
        le Kooperationen auf dem Gebiet der ASEAN-Staaten
        sind durchaus ausbaufähig . Das vereinbarte Gesamt-
        auftragsvolumen dieser Projekte zwischen Deutschland
        und Thailand beträgt 8,3 Millionen Euro und läuft bis
        Dezember 2017 . Thailand ist damit der wichtigste Part-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22357
        (A) (C)
        (B) (D)
        ner bei dieser Art Umsetzungsvorhaben . Zum Vergleich:
        Mit Malaysia ist ein Gesamtvolumen von rund 3 Milli-
        onen Euro vereinbart, mit Indonesien ein Volumen von
        700 .000 Euro .
        Lassen Sie mich nochmals die Zielrichtung des
        Antrages zusammenfassen: Die vielfältigen Einsatz-
        möglichkeiten von trilateralen Kooperation in der
        ASEAN-Region sollen geprüft und die Effizienz zukünf-
        tiger Maßnahmen gesteigert werden .
        Bestehende Dreieckskooperationen sollen fortgesetzt
        werden, wenn dadurch Synergieeffekte zu erzielen sind.
        Dreieckskooperation sollen verstärkt als Instrument
        genutzt werden, um international anerkannte Standards
        in Projekten der Entwicklungszusammenarbeit einzuhal-
        ten .
        Neue Felder für trilaterale Kooperation sollen gefun-
        den werden, die insbesondere im Hinblick auf die Umset-
        zung der UN-Nachhaltigkeitsziele sinnvoll sind .
        Die Privatwirtschaft soll bei zukünftigen Dreiecks-
        kooperationen verstärkt miteinbezogen werden können .
        Es sollen gezielt nachhaltige Projekte initiiert werden,
        die in Sektoren liegen, die bisher noch nicht im Bereich
        der Dreieckskooperationen vertreten sind .
        Und das gewonnene Fachwissen aus Dreieckskoope-
        ration soll für Dritte nutzbar und zugänglich sein . Das
        heißt Evaluierung durch das DEval soll ein höherer Stel-
        lenwert zukommen .
        Mit dieser Zielsetzung untermauert der Antrag die Asi-
        enstrategie der Bundesregierung . Die deutsche Entwick-
        lungszusammenarbeit wird in den kommenden Jahren
        mit den Partnerländern, in multilateralen Organisationen
        wie der Weltbank, der Asiatischen Entwicklungsbank
        (ADB), der Europäischen Union und eben im Rahmen
        der ASEAN-Staaten große Herausforderungen angehen
        müssen . Dazu zählt unter anderem den verstärkten Di-
        alog mit den globalen Entwicklungspartnern zu suchen,
        die soziale und ökologische Gestaltung der asiatischen
        Marktwirtschaften zu gestalten, den Schutz von Klima
        und Biodiversität zu sichern und die Bekämpfung von
        Konflikt- und Fluchtursachen zu verstetigen.
        In Thailand besagt das Sprichwort „Den Amboss zu
        einer Nadel schleifen“, was sich bei uns in „Steter Trop-
        fen höhlt den Stein“ übersetzen lässt . In diesem Sinne
        werbe ich für Ihre Zustimmung für den Antrag, da wir
        damit einen neuen Baustein für intensive und nachhaltige
        Beziehungen mit den ASEAN-Staaten implementieren
        werden .
        Stefan Rebmann (SPD): Trilaterale Partnerschaften
        haben sich als ein erfolgreiches Instrument der deutschen
        Entwicklungszusammenarbeit bewährt . Die Partner-
        schaft zwischen einem traditionellen Geberland, einem
        Schwellenland als weiterem Geberland und einem Ent-
        wicklungsland als Nehmerland kann neue Synergien
        zwischen globalem Norden und Süden herstellen und ist
        damit auch ein Beitrag zur Umsetzung der Sustainable
        Development Goals (SDG 17: Globale Partnerschaften
        für nachhaltige Entwicklung) . Die Stärkung trilatera-
        ler Partnerschaften ist somit wünschenswert, und die
        ASEAN-Region bietet sich dafür in besonderem Maße
        an .
        Die Association of Southeast Asian Nations, ASEAN,
        ist ein wichtiger wirtschaftlicher Partner in Asien . Rund
        630 Millionen Menschen leben in den ASEAN-Mitglied-
        staaten . Mit rund 2,3 Billionen US-Dollar an erwirtschaf-
        tetem Bruttoinlandsprodukt, BIP, pro Jahr reichen die
        ASEAN-Mitgliedstaaten fast an die Wirtschaftsleistung
        Großbritanniens, der sechstgrößten Volkswirtschaft der
        Welt, heran . Prognosen gehen davon aus, dass sich das
        Wirtschaftswachstum der ASEAN bis 2030 auf 10 Billi-
        onen US-Dollar vergrößert .
        Aber nicht nur wirtschaftlich, sondern auch entwick-
        lungspolitisch stellt die ASEAN mit ihren Mitgliedstaa-
        ten eine wichtige Partnerin dar . Als Staatenbündnis hat
        sie sich den Menschenrechten sowie den Grundsätzen
        von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verschrieben,
        ASEAN-Charta 2007 . Zweifelsfrei bedarf es hier noch
        weitreichender Reformen in vielen Mitgliedstaaten; je-
        doch stellt dies einen guten Ausgangspunkt für eine en-
        gere Zusammenarbeit dar .
        Die Herausforderungen sind groß: Unter dem Dach der
        ASEAN haben sich Staaten unterschiedlicher Kulturen,
        Religionen und Sprachen, unterschiedlicher Regierungs-
        formen und unterschiedlicher Entwicklungen zusam-
        mengeschlossen . Während beispielsweise Singapur im
        Index der menschlichen Entwicklung, HDI, auf Platz 11
        liegt, liegt Kambodscha auf Platz 143 von 188 . Oder ein-
        facher gesagt: Während Singapur boomt, leben in Laos
        immer noch 23,3 Prozent der Bevölkerung unterhalb der
        nationalen Armutsgrenze . Die ASEAN-Mitgliedstaaten
        haben ein großes Interesse, diese Entwicklungslücke zu
        schließen und haben ein eigenes Programm, „Narrowing
        the Development Gap“, initiiert . Der Ausbau von trila-
        teralen Kooperationen im südostasiatischen Raum kann
        ein weiterer Beitrag sein, finanzielle Mittel zu generie-
        ren, Know-how zu stärken und somit nachhaltige Ent-
        wicklung zu fördern .
        Ein besonderes Augenmerk sollte im Zuge der trila-
        teralen Partnerschaften auf die Themen Menschenrechte
        und Arbeitsbedingungen gelegt werden . Immer wieder
        kommt es beispielsweise zu Fällen von Zwangsarbeit auf
        thailändischen Fischfangkuttern oder zu Misshandlungen
        von Hausangestellten in Singapur . Daher ist bei Maßnah-
        men der trilateralen Partnerschaft zwingend darauf zu
        achten, dass menschenrechtliche, soziale und ökologi-
        sche Standards eingehalten und gefördert werden . Ist die-
        se Voraussetzung erfüllt, können trilaterale Partnerschaf-
        ten ein wirksames Instrument zur Förderung nachhaltiger
        Entwicklung sein und sollten aus den oben genannten
        Gründen im südostasiatischen Raum ausgebaut werden .
        Dieser Antrag ist ein erster wichtiger Schritt dazu .
        Niema Movassat (DIE LINKE): In der deutschen
        Entwicklungszusammenarbeit finden trilaterale Partner-
        schaften bis heute zu wenig Beachtung . Dabei birgt die
        gezielte Zusammenarbeit zwischen einem etablierten Ge-
        berland, einem Schwellen- und einem Entwicklungsland
        großes Potenzial . In den Industriestaaten ausgebildete
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722358
        (A) (C)
        (B) (D)
        Topexperten mögen hochqualifizierte Studienabschlüsse
        vorweisen haben aber in der Geschichte der Entwick-
        lungszusammenarbeit in zahllosen Projekten bewiesen,
        dass ihre Konzepte den harten Praxistest im Alltag vieler
        Entwicklungsländer nicht bestehen .
        Mit Entwicklungs- und Schwellenländern gemeinsam
        geplante, finanzierte und implementierte Kooperations-
        projekte hingegen haben den Vorteil, sich meist bereits
        in der Realität bewährt zu haben . Deshalb sind sie unter
        Umständen nicht nur wirkungsvoller als herkömmliche
        Entwicklungspartnerschaften, sondern tragen auch in be-
        sonderem Maße zu mehr „Augenhöhe“ in der Entwick-
        lungspolitik bei, weil sie die eigenen Erfahrungen der
        Länder des Südens besonders berücksichtigen .
        Wie keinem zweiten Staat ist es Kuba gelungen, mit
        sehr geringen finanziellen Mitteln eine sehr gute staatli-
        che Bildungs- und Gesundheitsversorgung aufzubauen,
        zu der jede Kubanerin und jeder Kubaner auch kostenlos
        Zugang hat .
        Die Kindersterblichkeitsrate ist in Kuba niedriger, die
        Lebenserwartung höher als in den USA obwohl in den
        Vereinigten Staaten pro Kopf im Durchschnitt rund 46-
        mal so hohe Gesundheitskosten entstehen wie auf der
        Karibikinsel . Kubanische Ärzte helfen bereits heute in
        aller Welt und sind besonders in Entwicklungsländern
        sehr erfolgreich . Angesichts der großen gesundheitspoli-
        tischen Ziele der SDG-Agenda und der veränderten poli-
        tischen Gesamtlage sollte die Bundesregierung dringend
        auf Kuba zugehen und die Möglichkeiten einer Dreiecks-
        kooperation mit Ländern ohne funktionierendes Basisge-
        sundheitssystem eruieren .
        Ähnliches gilt für das kubanische Bildungssystem .
        Ideologische Scheuklappen verursachen leider auch heu-
        te noch vor allem bei Vertreterinnen und Vertretern der
        Unionsfraktionen antikommunistische Reflexe, wenn es
        um das sozialistische Kuba geht . Diese Geisteshaltung
        stammt aus dem letzten Jahrhundert und sollte dringend
        überwunden werden . Selbst die USA haben in den letzten
        Jahren einen zeitgemäßeren Umgang mit der Karibikin-
        sel gefunden .
        Wenn der vorliegende Antrag der Regierungskoalition
        eine Evaluierung der bisherigen Dreieckskooperationen
        mit deutscher Beteiligung fordert, ist das durchaus unter-
        stützenswert . Es ist ebenso richtig zu fordern, neue trila-
        terale Partnerschaften in strategisch wichtigen Bereichen
        aufzunehmen, wenn sich dadurch entwicklungspolitische
        Synergieeffekte erzielen lassen.
        Insgesamt ist der Antrag jedoch unausgegoren und
        zusammengestückelt . Der Abschnitt über Drogenanbau
        im Grenzgebiet zwischen Thailand, Laos und Myanmar
        etwa fügt sich nicht in den restlichen Text ein und lässt
        den Leser ratlos zurück, auch weil sich dieser Aspekt im
        Forderungsteil nirgends wiederfindet. An anderer Stelle
        ist der Antrag der Regierungskoalition schlicht falsch . So
        bezeichnet er Kambodscha, Laos, Myanmar und Viet-
        nam als neue ASEAN-Mitglieder, obwohl Vietnam 1995,
        Myanmar und Laos 1997 und Kambodscha 1999 beige-
        treten sind .
        Die ASEAN-Gruppe besteht heute aus Thailand, In-
        donesien, Malaysia, den Philippinen, Singapur, Brunei,
        Vietnam, Myanmar, Laos sowie Kambodscha und um-
        fasst rund 600 Millionen Einwohner . Auch wenn die Un-
        terschiede bei den Lebensbedingungen etwa zwischen
        Malaysia und Myanmar gewaltig sind, ist das Potenzial
        in der Region für trilaterale Partnerschaften zweifellos
        groß . Sie könnten zu einer Stärkung der regionalen Inte-
        gration beitragen, wie sie die Mitgliedsländer anstreben .
        Auf der anderen Seite ist die Region auch nicht völlig
        konfliktfrei. Bestehende Spannungen zwischen Kambod-
        scha, Thailand und Vietnam etwa klammert der vorlie-
        gende Antrag in seiner Analyse völlig aus .
        Wer tatsächlich trilaterale Partnerschaften zwischen
        den ASEAN forcieren will, sollte sich etwas näher mit
        der Ausgangslage beschäftigen, als die Antragsteller es
        in diesem Fall getan haben .
        Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Wenn wir heute einen Antrag zur Stärkung der
        ASEAN-Region abschließend beraten, so müssen wir
        diesen Antrag vor dem Hintergrund des Wechsels der
        Regierungsverantwortung in den USA und in Hinblick
        auf eine veränderte globale Weltlage bewerten. Offen-
        sichtlich wird Präsident Trump die enge Zusammenar-
        beit, die die Obama-Administration der ASEAN-Region
        angeboten hat, nicht in gleicher Weise fortsetzen . Umso
        mehr eröffnen sich für Europa und Deutschland Chancen
        einer engeren Zusammenarbeit mit der ASEAN-Region .
        Diese Zusammenarbeit kann und muss auf vielen Ebenen
        erfolgen . Wichtig ist, die Handelsbeziehungen auszubau-
        en und jetzt stringent die Verhandlung entsprechender
        Verträge zwischen der EU und ASEAN voranzutreiben .
        Mir ist es ein Anliegen, dies hier am Anfang zu betonen,
        wenngleich es nicht Gegenstand dieses Antrages ist .
        Der Antrag fordert, eine Ausweitung bestehender
        entwicklungspolitischer Dreieckskooperationen in der
        ASEAN-Region und deren vielfältige Einsatzmöglich-
        keiten zu prüfen . Die Regierung solle zudem das Deutsche
        Evaluierungsinstitut der Entwicklungszusammenarbeit
        (DEval) mit der Evaluierung von Dreieckskooperationen
        mit deutscher Beteiligung beauftragen und die Hand-
        lungsempfehlungen für weitere Projekte nutzen . Dieses
        sind wichtige Arbeitsfelder . Und ich hatte schon bei der
        ersten Lesung drei wichtige Aspekte betont, die ich auch
        hier nochmals anführen möchte: Rechtsstaatlichkeit, Bil-
        dung und klimaschonende Energieversorgung .
        Ich denke, dass es unverändert wichtig ist, diese drei
        Aspekte bzw . Themen intensiv zu verfolgen . Rechts-
        staatlichkeit, Gewaltenteilung, eine unabhängige Jus-
        tiz, Einhaltung der Menschenrechte: Fortschritt gerade
        hinsichtlich der Rechtstaatlichkeit ist der beste Anreiz
        für ausländische Investitionen, sogenannte FDI . Dabei
        könnten, im Zusammenhang zum Beispiel mit einer
        Verstärkung des akademischen Austausches zwischen
        den Ländern, Dreieckskooperationen eine wichtige Rol-
        le spielen . Auf der Regierungsebene der ASEAN-Staa-
        ten wird eine Zusammenarbeit bisher strikt abgelehnt,
        weil dies als Einmischung in die Belange eines anderen
        ASEAN-Staates empfunden wird . Aber ein Blick über
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22359
        (A) (C)
        (B) (D)
        den eigenen Tellerrand würde die Zusammenarbeit för-
        dern, die heute aufgrund unterschiedlicher Strukturen nur
        schwer möglich ist .
        Wenn in gemeinsamen Projekten geforscht und in
        Thinktanks Vorschläge entwickelt werden, ist das kein
        Einmischen . Man wird sich dann damit auseinanderset-
        zen können, wie möglicherweise in ähnlichen Strukturen
        aktuelle Themen angegangen werden können . Als Bei-
        spiele seien die Korruptionsbekämpfung und der Aufbau
        einer unabhängigen Justiz oder aber auch die Förderung
        von erneuerbaren Energien genannt .
        Das Gleiche gilt für die Bildung . Hier können es ge-
        meinsame Initiativen, zum Beispiel im Bereich der beruf-
        lichen Bildung, sein . Es gibt einige hervorragende Vor-
        reiter wie das German-Malaysian Institute (GMI) . Von
        einer solchen Institution könnte – im Sinne von „Best
        Practice“ – die Idee einer sehr berufsnahen Ausbildung
        in einer Partnerschaft in Nachbarländer getragen werden .
        Und dann das weite Feld der Energieversorgung: Hier
        könnten tri- oder sogar multilaterale Zusammenarbeiten
        erhebliche Synergieeffekte freisetzen. Dies ist vorstell-
        bar sowohl in einer rein technischen Zusammenarbeit
        als auch in einer Konstellation, die Finanzierung, tech-
        nisches Know-how und Maschinenbau mit praktischer
        Umsetzung umfasst . Wichtig ist, dass konkrete Projekte
        umgesetzt werden und dabei verstärkt auch auf die loka-
        len Kräfte – „Regional Ownership“ ist das Stichwort – zu
        setzen . Diese freizusetzen wird und muss der Anspruch
        für unsere Unterstützung sein, nicht das Besserwissen in
        einigen Vorzeigeprojekten .
        Fazit: Der Antrag der Koalition „Trilaterale Partner-
        schaften in der ASEAN-Region stärken – Deutsches
        Know-how nutzen“ benennt sinnvolle Maßnahmen, wel-
        che die grüne Bundestagsfraktion unterstützt . Eine ver-
        besserte Abstimmung der Geberländer, die Evaluierung
        bestehender trilateraler deutscher Kooperationen durch
        das DEval, Prüfaufträge für die Ausweitung bestehender
        trilateraler Kooperationen und gegebenenfalls die Schaf-
        fung neuer Kooperationen in der ASEAN-Region, insbe-
        sondere mit Blick auf die Nachhaltigkeitsziele (genannt
        SDGs: Sustainable Development Goals) und das Pariser
        Klimaabkommen, die Forderung nach der Einhaltung in-
        ternationaler Standards (ILO-Kernarbeitsnormen unter
        anderem) und die Einbeziehung der lokalen Privatwirt-
        schaft sind alles Forderungen, die unsere Unterstützung
        finden.
        Der Antrag benennt viele gute Aspekte, wobei natür-
        lich erst die Umsetzung in konkrete Maßnahmen den
        Erfolg ausmachen wird . Diese Umsetzung werden wir
        Grünen weiterhin beobachten und auch einfordern . Die
        Chancen in der Zusammenarbeit mit den ASEAN-Län-
        dern sind gerade für Deutschland und vor allem für die
        mittelständische Industrie groß . Wir Grünen wollen die
        Nutzung dieser Chancen nach besten Kräften unterstüt-
        zen .
        Anlage 24
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
        gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
        kommen vom 19. Mai 2016 zwischen der Bun-
        desrepublik Deutschland und dem Obersten
        Hauptquartier der Alliierten Mächte Europa zur
        Änderung des Abkommens vom 13. März 1967
        zwischen der Bundesrepublik Deutschland und
        dem Obersten Hauptquartier der Alliierten Mäch-
        te Europa über die besonderen Bedingungen für
        die Einrichtung und den Betrieb internationaler
        militärischer Hauptquartiere in der Bundesrepu-
        blik Deutschland (Tagesordnungspunkt 47)
        Julia Obermeier (CDU/CSU): Vor wenigen Wochen
        stand auf der Münchner Sicherheitskonferenz die Bedeu-
        tung der NATO im Zentrum vieler Reden und Diskus-
        sionsrunden . So erörterten fünf NATO-Verteidigungsmi-
        nister – vom westlichsten bis hin zum östlichsten Teil des
        Bündnisgebietes – die Bedeutung der transatlantischen
        Verteidigungsallianz . Sie waren sich einig: Die NATO ist
        alles andere als obsolet . Vielmehr nehme ihre Bedeutung
        angesichts der aktuellen sicherheitspolitischen Heraus-
        forderungen weiter zu .
        Auch unsere Bundeskanzlerin Dr . Angela Merkel hob
        hervor, dass kein einzelner Staat der Welt die Herausfor-
        derungen unserer heutigen Zeit allein bewältigen könne .
        Dies bedürfe großer gemeinsamer Anstrengungen . Da-
        raus ergebe sich die Notwendigkeit, die multilateralen
        internationalen Strukturen wie beispielsweise die NATO
        zu stärken und effizienter zu gestalten.
        Vor diesem Hintergrund ist auch der vorliegende Ge-
        setzentwurf von großer Aktualität . Vor einigen Jahren,
        auf dem Gipfel in Lissabon 2010, hat der NATO-Rat sich
        darauf geeinigt, die NATO-Kommandostrukturen zu re-
        formieren .
        Dabei wurde der Beschluss gefasst, die Strukturen
        stark zu verschlanken und die Zahl der militärischen
        Hauptquartiere zu reduzieren . In der Folge wurde mit
        dem gemeinsamen Hauptquartier in Lissabon eines der
        operativen Kommandos der NATO geschlossen, und
        auch drei taktische Kommandos für Luftstreitkräfte, See-
        streitkräfte und Landstreitkräfte sowie zwei Gefechts-
        stände zur Führung von Luftstreitkräften wurden aufge-
        löst . Dies führte zu deutlichen Personaleinsparungen in
        der NATO-Kommandostruktur: von rund 13 000 Mann
        um etwa 4 000 auf weniger als 9 000 . Das heißt, die Zahl
        der Dienstposten wurde um ganze 33 Prozent reduziert .
        Dieser Reform fiel auch ein Standort in Deutschland
        zum Opfer: Das taktische Kommando der Landstreit-
        kräfte in Heidelberg mit 350 Dienstposten wurde 2013
        geschlossen .
        Durch die Reform sollten jedoch nicht bloß die Kom-
        mandostrukturen neu und effektiver gestaltet, sondern
        auch der gemeinsame NATO-Militärhaushalt durch wei-
        tere Maßnahmen entlastet werden . Diesem Ziel dient
        auch der vorliegende Gesetzentwurf . Darin wird ein Ab-
        kommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722360
        (A) (C)
        (B) (D)
        dem Obersten Hauptquartier der Alliierten Mächte Euro-
        pa umgesetzt, indem die Kosten für die Instandsetzung
        und Instandhaltung der Infrastruktur von Hauptquartie-
        ren der NATO-Kommandostruktur neu aufgeteilt wer-
        den . Zukünftig soll die NATO nicht mehr die gesamten
        Kosten alleine tragen . Diese werden nun mit den Staaten,
        in denen die NATO-Hauptquartiere liegen, geteilt .
        Diese Regelung betrifft drei NATO-Stützpunkte in
        Deutschland: das Hauptquartier mit dem Luftwaffenober-
        kommando der NATO in Ramstein, den multinational
        besetzten Gefechtsstand der NATO zur Führung von
        Luftstreitkräften in Uedem und das erste NATO-Fern-
        meldebataillon in Wesel . Für diese Standorte übernimmt
        die Bundesrepublik Deutschland zukünftig die Hälfte der
        Infrastrukturkosten .
        Durch diese Maßnahme entstehen dem Bund auf den
        ersten Blick Kosten in Höhe von 200 000 Euro . Auf den
        zweiten Blick zeigt sich jedoch: Deutschland spart durch
        die Reform jedes Jahr über 1,5 Millionen Euro . Diese
        Einsparungen entstehen, da alle Staaten mit Hauptquar-
        tieren der NATO-Kommandostruktur die Hälfte der In-
        frastrukturkosten übernehmen und hierdurch im Mili-
        tärhaushalt der NATO insgesamt fast 12 Millionen Euro
        eingespart werden . Da Deutschland als zweitgrößter
        NATO-Beitragszahler – nach den USA und vor Frank-
        reich – fast 15 Prozent des Etats trägt, profitieren wir fi-
        nanziell auch sehr stark durch die Neuregelung .
        Wir unterstützen den vorliegenden Gesetzentwurf . Er
        ist Teil der Reform, die die Strukturen der NATO schlan-
        ker, effektiver und erschwinglicher macht. Das ist wich-
        tig; denn wir brauchen ein starkes transatlantisches Ver-
        teidigungsbündnis .
        Matthias Ilgen (SPD): Der vorliegende Gesetzent-
        wurf spiegelt die Umsetzung von Teilen einer bereits im
        Jahre 2010 beschlossenen NATO-Reform wider . Die-
        se Reform wiederum mündete im letzten Jahr in einem
        Änderungsabkommen zwischen der Bundesrepublik
        Deutschland und dem Obersten Hauptquartier der Alli-
        ierten Mächte in Europa . Der daraus resultierende Ge-
        setzentwurf sieht, kurz gesprochen, eine Umschichtung
        der durch NATO-Hauptquartiere in Deutschland entste-
        henden Kosten vor .
        Das klingt zunächst vielleicht etwas plastisch, be-
        trifft aber hierzulande beispielsweise das sogenannte
        „Headquarters Allied Air Command“, oder kurz: „HQ
        AIRCOM“, in Ramstein oder auch das „Headquarters
        Rapid Deployable German-Netherlands Corps“ in Müns-
        ter .
        Die bisherige Regelung, was die Unterhaltung der NA-
        TO-Hauptquartiere betrifft, entstammt dem Abkommen
        von 1967 und sieht dabei eine Übernahme der Kosten
        seitens der NATO zu 100 Prozent vor . Im Zuge der Re-
        form der NATO-Kommandostruktur aus dem Jahre 2010
        wurde beschlossen, diesen Schlüssel dahingehend anzu-
        passen, dass sich künftig NATO und Gastgeberland diese
        Kosten hälftig teilen, also im Verhältnis 50 : 50, statt wie
        bisher der angesprochenen 100 : 0 .
        Das Zahlenspiel klingt komplizierter, als es ist: Durch
        diese hälftige Übernahme der Kosten für Liegenschafts-
        instandsetzung und Liegenschaftsinstandhaltung entste-
        hen im Kapitel 1408 des Bundeshaushaltes – das ist das
        Kapitel im Haushalt des Bundesministeriums der Vertei-
        digung, welches sich unter dem Schlagwort „Unterbrin-
        gung“ auch mit den Liegenschaften beschäftigt – Mehr-
        ausgaben in Höhe von 200 000 Euro . Auf der anderen
        Seite reduzieren sich die Ausgaben in Kapitel 1401 –
        dieses Kapitel betrifft unter anderem die sogenannten
        „Verpflichtungen im Rahmen der Mitgliedschaft zur
        NATO“ – um gut 1,7 Millionen Euro .
        Diese Zahl ergibt sich aus der Tatsache, dass die
        NATO derzeit 23,6 Millionen Euro für die Unterhaltung
        der Hauptquartiere ausgibt . An der in Zukunft eingespar-
        ten Hälfte dieser Summe, nämlich 11,8 Millionen Euro,
        ist Deutschland, durch seinen Anteil am NATO-Haushalt
        von 14,65 Prozent – ich hoffe, Sie sind noch bei mir –,
        mit eben diesen besagten 1,7 Millionen Euro beteiligt .
        Nach Adam Riese führt der vorliegende Gesetzentwurf
        also zu Minderausgaben von 1,5 Millionen Euro . Ja, man
        mag es kaum glauben, aber hier liegt ein Gesetz vor, wel-
        ches bei uns in Deutschland zu haushälterischen Einspa-
        rungen führt .
        Anderen Ländern, deren Anteil am NATO-Bud-
        get prozentual kleiner ist, die aber über entsprechende
        NATO-Hauptquartiere innerhalb ihrer Landesgrenzen
        verfügen, entstehen dadurch durchaus Mehrkosten . Der
        Punkt ist allerdings, dass die Verteilung der Gesamtkos-
        ten auf die Mitgliedsländer der NATO sich in Zukunft
        etwas gerechter darstellt .
        Mir ist bei all diesen Zahlenspielen schon klar, dass
        es trotz Einsparungen jetzt wieder aus bestimmten Rich-
        tungen des Hauses das übliche Getöse gibt: „NATO ab-
        schaffen!“ und „Kein Geld mehr für die NATO!“ – das
        sind hanebüchene Forderungen, die uns in diesem hohen
        Hause nur allzu vertraut sind .
        Fest steht aber: Die NATO ist für Deutschland seit
        über 60 Jahren ein Garant für unsere Sicherheit und für
        die westliche Sicherheitsarchitektur als Ganzes . Ob Sie
        das nun gerne hören oder nicht . Daran wird zukünftig
        weder ein Donald Trump etwas ändern noch die Kolle-
        ginnen und Kollegen von der Linkspartei .
        Gerade die seit einigen Jahren veränderte sicherheits-
        politische Lage innerhalb Europas macht die NATO auf
        absehbare Zeit unersetzlich . Umso wichtiger ist es dabei,
        diese Institution eben nicht „obsolete“ werden zu lassen,
        wie vor einigen Wochen noch der neu gewählte US-ame-
        rikanische Präsident wenig eloquent propagierte, oder
        die NATO gar institutionellen Staub ansetzen zu lassen,
        sondern sie auch weiterhin modern, dynamisch und fit zu
        halten, um eben auch in Zukunft ein Instrument an der
        Hand zu haben, mit Hilfe dessen Deutschland auf sicher-
        heitspolitische Herausforderungen angemessen reagieren
        kann . Deshalb ist es wichtig, die auf NATO-Ebene ange-
        schobenen Reformen auch hierzulande umzusetzen .
        Der Bundesrat hat diesem Entwurf in seiner Sitzung
        am 10 . Februar bereits ohne Einwendungen zugestimmt .
        Wir als SPD-Bundestagsfraktion schließen uns den Kol-
        https://de.wikipedia.org/wiki/Gefechtsstand
        https://de.wikipedia.org/wiki/Luftstreitkr%C3%A4fte
        http://www.1gnc.org/
        http://www.1gnc.org/
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22361
        (A) (C)
        (B) (D)
        leginnen und Kollegen aus den Ländern an und stimmen
        diesem Entwurf ebenfalls zu .
        Inge Höger (DIE LINKE): Die NATO ist ein Re-
        likt des Kalten Krieges . Sie bezeichnet sich als Vertei-
        digungsbündnis und ist in Wirklichkeit doch meist ein
        Angriffsbündnis. Betrachtet man ihr Wirken in den Jahr-
        zehnten seit Ende des Kalten Krieges, dann ist sie bes-
        tenfalls überflüssig. Überall, wo die NATO konkret aktiv
        war, wie im Jugoslawienkrieg, in Afghanistan etc ., war
        ihr Handeln jedoch extrem destruktiv . Die NATO ist so-
        wohl verantwortlich für die Zerstörung ganzer Regionen
        und unzähliger Menschenleben als auch für Angriffe auf
        das Völkerrecht und die Destabilisierung vieler Länder .
        Das Gebot der Stunde ist die Auflösung der NATO,
        nicht eine Neuordnung der Finanzierung dieses Bünd-
        nisses . In dem vorliegenden Gesetzentwurf geht es vor-
        dergründig darum, dass zukünftig die Staaten, in denen
        es NATO-Kommandostrukturen gibt, die Hälfte der Un-
        terhalts- und Instandsetzungskosten für diese Kriegsin-
        frastruktur bezahlen . Damit müssen einerseits die Statio-
        nierungsländer mehr zahlen, und andererseits werden das
        zentrale NATO-Budget und der Anteil der Mitgliedslän-
        der daran entlastet . Angesichts der Milliardenausgaben
        für Kriege und Kriegsvorbereitungen geht es hier nur um
        die Umverteilung von 11,8 Millionen Euro jährlich . Zu
        berücksichtigen ist dabei, dass die Liegenschaften des
        Bundes der NATO unentgeltlich zur Nutzung überlassen
        werden und nur die Kosten der Instandsetzung und In-
        standhaltung nun anders verteilt werden .
        Die Linke befürchtet, dass diese Gesetzesänderung nur
        einer von vielen Schritten ist, mit denen die NATO mit
        einem immer größeren Budget ausgestattet und auch der
        deutsche Militäretat immer weiter aufgebläht wird . Bei
        diesem Gesetz geht es wohl „nur“ um die anteilige Fi-
        nanzierung der NATO-Kommandobehörde zur Führung
        von Luftstreitkräften in Ramstein und den NATO-Ge-
        fechtsstand zur Führung von Luftstreitkräften in Uedem .
        Zukünftig geht es wohl um weitere NATO-Strukturen
        wie etwa in Geilenkirchen und Kalkar .
        Darüber hinaus wird bereits diskutiert, dass Deutsch-
        land sich in noch größerem Umfang als bisher an den
        US-Stützpunkten und Kommandostrukturen hierzulande
        beteiligt . Da ginge es dann um ganz andere Beträge . Alle
        momentan vorbereiteten Entscheidungen im Bereich
        der Militärausgaben stehen unter der Vorgabe bzw . dem
        Ziel, zukünftig 2 Prozent des Bruttoinlandsproduktes
        in Kriegsvorbereitungen zu investieren . Wenn dies tat-
        sächlich umgesetzt wird – und nicht nur Ursula von der
        Leyen hat dies zugesagt –, dann bedeutet dies, dass das
        wirtschaftsstarke Deutschland bis 2024 mehr Militäraus-
        gaben hat als Russland . Ein militärisch starkes Deutsch-
        land, mit starken Ansprüchen im Bereich der Macht- und
        Interessenpolitik – das war noch nie ein Vorbote für eine
        friedliche Entwicklung .
        Egal ob die neue Aufrüstungswelle mit dem Druck
        aus Washington oder mit der globalen Sicherheitslage
        begründet wird: Sie ist in jedem Fall eine falsche und ge-
        fährliche Entwicklung . Nötig sind Abrüstungsinitiativen
        und eine Rückkehr zu vertrauensbildenden Maßnahmen .
        In diesem Kontext lehnt die Linke jede Reform der
        NATO-Strukturen ab, die nicht zu Abrüstung führt . Wir
        fordern den Austritt Deutschlands aus der NATO und
        werden an der Mobilisierung der Proteste gegen den
        nächsten NATO-Gipfel im Mai in Brüssel mitwirken .
        Wir wollen die Stimmen für eine friedliche Zukunft stär-
        ken .
        Dr. Tobias Lindner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Wir debattieren den Entwurf eines Gesetzes, das die
        zwischen dem obersten Hauptquartier der NATO und
        der Bundesrepublik Deutschland ausgehandelten Än-
        derungen des Vertrages ratifiziert, der 1967 zwischen
        diesen beiden Parteien geschlossen wurde . In der Sa-
        che geht es im Kern darum, dass die Instandsetzung
        und Instandhaltung von NATO-Hauptquartieren künftig
        jeweils zur Hälfte von der NATO und dem jeweiligen
        Aufnahmestaat getragen werden sollen . Bei der Über-
        lassung von Liegenschaften und bei Baumaßnahmen
        wird den Vertragsparteien die Möglichkeit eingeräumt,
        hinsichtlich der Kostenverteilung spezifische Regelun-
        gen und Vereinbarungen zu treffen. Das Abkommen geht
        auf den Beschluss der Staats- und Regierungschefs der
        NATO-Mitgliedstaaten zu einer neuen Kommandostruk-
        tur der NATO von 2010 zurück . Für die Bundesrepublik
        Deutschland entstehen hierdurch Mehrkosten in Höhe
        von 200 000 Euro . Laut Gesetzentwurf stehen diesen er-
        hebliche Einsparungen im NATO-Haushalt gegenüber,
        an denen Deutschland in der Höhe von 1,72 Millionen
        Euro teilhat .
        Die NATO setzt sich mit einer Vielzahl von Heraus-
        forderungen in unserer Welt auseinander . Durch das
        aggressive Vorgehen Russlands in der Ukraine hat die
        Bündnisverteidigung gerade für die östlichen Mitglied-
        staaten eine wichtige Rolle eingenommen . Zahlreiche
        Maßnahmen, die auf den Gipfeln in Wales und Warschau
        beschlossen wurden, sollen die Entschlossenheit des
        Bündnisses in Gänze und die Solidarität zwischen den
        Bündnispartnern unterstreichen . Das Ganze soll dem
        Zweiklang der Abschreckung und des Dialogs dienen .
        Das ist richtig, weil wir unseren östlichen Bündnispart-
        nern gegenüber solidarisch sein müssen . Wichtig ist mir,
        dabei nochmals deutlich zu unterstreichen, dass wir zwar
        durchaus die Notwendigkeit sehen, unsere östlichen
        Bündnispartner auch mit Beiträgen der Bundeswehr zu
        unterstützten, es jedoch unerlässlich ist, den Dialog mit
        gleicher Kraft, nein noch viel stärker zu verfolgen . Eine
        militärische Lösung wird es nicht geben, und es wäre
        nichts fataler, als wieder in die Logik des Kalten Krieges,
        der massiven Abschreckung und von Rüstungsspiralen
        zurückzuverfallen .
        Vor dem Hintergrund der für die NATO wieder ge-
        stiegenen Bedeutung der Bündnisverteidigung hat die
        Bundesregierung den Verteidigungsetat bereits erhöht .
        Die USA haben auch schon vor Präsident Trump gefor-
        dert, dass die Mitgliedstaaten das 2-Prozent-Ziel erfüllen
        sollen . Die Bundesregierung hatte in Wales zugesagt,
        das Erreichen dieses Ziels anzustreben . Inzwischen wol-
        len Frau Merkel und Frau von der Leyen es nicht nur
        versuchen, sondern tatsächlich im nächsten Jahrzehnt
        erreichen . Das käme einer massiven Aufstockung des
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722362
        (A) (C)
        (B) (D)
        Verteidigungshaushaltes gleich . In diesem Jahr hätten
        die Ausgaben nach NATO-Kriterien bei 65 Milliarden
        Euro liegen müssen, also 26 Milliarden Euro über dem
        tatsächlichen Ansatz .
        Es ist nicht zielführend, die Beiträge der NATO-Staa-
        ten zum Bündnis am Erreichen des 2-Prozent-Zieles fest-
        zumachen . Die Berechnungen der Militärausgaben nach
        NATO-Kriterien enthalten auch Ausgaben wie Pensions-
        zahlungen, die zur tatsächlichen Verteidigungsfähigkeit
        nichts beitragen . Der Input alleine reicht als Messgrö-
        ße nicht aus . Viel wichtiger ist es, sich den Output an-
        zuschauen, also was die Streitkräfte leisten . Die NATO
        muss ihre Messgrößen über das 2-Prozent-Ziel hinaus
        weiterentwickeln, sodass nicht einfach nur Geldausge-
        ben, sondern die konkreten Beiträge der Staaten aner-
        kannt werden .
        Pauschale Rufe nach einer Erhöhung des deutschen
        Verteidigungshaushaltes sind nicht zielführend . Eine Er-
        höhung macht ganz besonders dann keinen Sinn, wenn
        nur des Ausgebens wegen gekauft wird und wenn die
        Beschaffungsstrukturen so problembehaftet sind wie die
        der Bundeswehr . Viel mehr Geld hilft nicht zwingend
        viel . Die europäischen Staaten könnten durch eine bes-
        sere Abstimmung untereinander mit dem gleichen Geld
        weitaus mehr zur NATO beitragen als bisher . Insofern ist
        die Zusage von Kanzlerin Merkel und Verteidigungsmi-
        nisterin von der Leyen – zumal sie nicht einmal sagen,
        wofür genau sie das viele Geld ausgeben wollen – falsch .
        Vor diesem Hintergrund gehen wir nun in die Bera-
        tungen des vorliegenden Gesetzentwurfes und werden
        die geänderte Kostenverteilung bei der Unterhaltung von
        NATO-Hauptquartieren wohlwollend prüfen .
        Markus Grübel, Parl. Staatssekretär bei der Bun-
        desministerin der Verteidigung: Mit dem vorliegenden
        Entwurf eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 19 . Mai
        2016 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und
        dem Obersten Hauptquartier der Alliierten Mächte Eu-
        ropa (SHAPE1) zur Änderung des Abkommens vom
        13 . März 1967 zwischen der Bundesrepublik Deutsch-
        land und SHAPE über die besonderen Bedingungen für
        die Einrichtung und den Betrieb internationaler militä-
        rischer Hauptquartiere in der Bundesrepublik Deutsch-
        land, dem sogenannten Ergänzungsabkommen zum
        Hauptquartier-Protokoll, das wir heute in erster Lesung
        beraten, soll die innerstaatliche Umsetzung des Ände-
        rungsabkommens erfolgen .
        Das Änderungsabkommen verfolgt das auf politischer
        Ebene beschlossene Ziel, die Kosten der Instandset-
        zung und Instandhaltung der Infrastruktur von militäri-
        schen Hauptquartieren der NATO-Kommandostruktur
        zwischen der NATO und der Bundesrepublik Deutsch-
        land als Aufnahmestaat aufzuteilen . Die gegenwärtige
        Fassung des Ergänzungsabkommens zum Hauptquar-
        tier-Protokoll von 1967 weist diese Infrastrukturkosten
        ausschließlich der NATO zu .
        Das Änderungsabkommen geht auf den Beschluss
        des NATO-Rates zurück, den NATO-Militärhaushalt
        entsprechend der von den Staats- und Regierungschefs
        der NATO-Mitgliedstaaten veranlassten und inzwischen
        durchgeführten Reorganisation der NATO-Kommando-
        struktur zu entlasten . Hierzu ist unter anderem vorgese-
        hen, dass Aufnahmestaaten NATO-Hauptquartiere der
        NATO-Kommandostruktur, die sich in ihrem Hoheitsge-
        biet befinden, künftig in verstärktem Maße im Rahmen
        des sogenannten Host Nation Support unterstützen . In
        Deutschland betrifft dies die NATO-Hauptquartiere in
        Uedem, Wesel und Ramstein . So sollen die Kosten für
        die Instandsetzung und Instandhaltung der Liegenschaf-
        ten von NATO-Hauptquartieren nicht mehr – wie bis-
        her – ausschließlich von der NATO getragen, sondern
        zwischen der NATO und dem jeweiligen Aufnahmestaat
        hälftig aufgeteilt werden .
        Die NATO will mit der neuen Kostenregelung Ein-
        sparungen im NATO-Haushalt erreichen . Diese sollen
        sich – bezogen auf den gegenwärtigen Haushalt – auf
        rund 11,8 Millionen Euro pro Jahr belaufen . Bei ei-
        nem deutschen Finanzierungsanteil von 14,654 Prozent
        wird Deutschland entsprechend seinem Anteil mit rund
        1,72 Millionen Euro an diesen Einsparungen teilhaben .
        Diesen Einsparungen in Bezug auf den NATO-Haus-
        halt stehen gegenwärtig Mehrausgaben in Höhe von rund
        0,2 Millionen Euro für die hälftige Übernahme der Kos-
        ten für die Liegenschaftsinstandsetzung und -instandhal-
        tung der NATO-Hauptquartiere in Deutschland gegen-
        über . Zudem erfordert die Umsetzung der Regelung zur
        geänderten Kostenaufteilung zusätzliche Personalres-
        sourcen zur Erbringung liegenschaftsbezogener Leistun-
        gen für die NATO-Hauptquartiere in Deutschland . Dies
        wird im Rahmen der Trendwende Personal berücksich-
        tigt und mit Kosten in Höhe von rund 0,6 Millionen Euro
        pro Jahr zu Buche schlagen .
        Die Mehrkosten liegen damit trotz der organisatori-
        schen und personellen Anpassungen immer noch deut-
        lich unter den jährlichen Einsparungen beim deutschen
        Anteil an den im NATO-Militärhaushalt veranschlag-
        ten, von der NATO zu tragenden Infrastrukturkosten für
        NATO-Hauptquartiere insgesamt .
        Mit der Änderung des Ergänzungsabkommens leistet
        Deutschland seinen solidarischen Beitrag zur Umsetzung
        des Beschlusses des NATO-Rates, den NATO-Militär-
        haushalt deutlich zu entlasten . Die Inkraftsetzung des Än-
        derungsabkommens ist darüber hinaus für Deutschland
        finanziell von Vorteil, da die Einsparungen am deutschen
        Anteil des NATO-Militärhaushaltes die Mehrausgaben
        für die Liegenschaftsinstandsetzung und -instandhaltung
        der drei NATO-Hauptquartiere in Deutschland überwie-
        gen .
        Anlage 25
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung:
        – des von der Bundesregierung eingebrachten
        Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung eines
        familiengerichtlichen Genehmigungsvorbehal-
        tes für freiheitsentziehende Maßnahmen bei
        Kindern
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22363
        (A) (C)
        (B) (D)
        –  des  von  den  Abgeordneten  Corinna  Rüffer, 
        Katja Keul, Katja Dörner, weiteren Abgeordne-
        ten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
        zur Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuchs
        zur Einführung eines gerichtlichen Genehmi-
        gungserfordernisses bei freiheitsbeschränken-
        den Maßnahmen gegenüber Kindern
        (Tagesordnungspunkt 48 a und b)
        Dr. Silke Launert (CDU/CSU): Wir beraten heute
        über ein sensibles Thema, über das keiner gerne spricht:
        Es geht um „freiheitsentziehende Maßnahmen bei Kin-
        dern“ in Heimen, Krankenhäusern und anderen Einrich-
        tungen . Leider gibt es Situationen, in denen sich aus
        Gründen des Kindeswohls die Frage nach dem Einsatz
        freiheitsentziehender Maßnahmen wie beispielsweise
        mechanische Vorrichtungen (Fixierung am Bett etc .) oder
        Medikamente stellt, weil sich das Kind sonst selbst oder
        andere gefährden würde . Leidet beispielsweise ein jun-
        ges Mädchen an einer lebensbedrohlichen Magersucht
        und wiegt nur noch 30 Kilogramm bei einer Größe von
        179 Zentimetern, so muss wahrscheinlich eine Zwangs-
        ernährung erfolgen, um das Leben des Mädchens zu ret-
        ten . Ein Junge, der mit Selbstmordgedanken in eine kin-
        der- und jugendpsychiatrische Klinik eingeliefert wird,
        muss in der Nacht an seinem Bett fixiert werden, um zu
        verhindern, dass er sich selbst verletzen kann .
        Freiheitsbeschränkende Maßnahmen sind immer ein
        sehr schwerwiegender Eingriff in die Persönlichkeits-
        und Schutzrechte eines Menschen und dürfen dement-
        sprechend nur als allerletztes Mittel der Hilfe und des
        Schutzes eingesetzt werden . In den von mir benannten
        Beispielen handelt es sich um Situationen, in denen mit
        den entsprechenden Maßnahmen wohl das letztmögliche
        Mittel zum Schutz der Kinder ausgeschöpft wurde .
        Leider gibt es aber auch Fälle, in denen freiheitsent-
        ziehende Maßnahmen zu leichtfertig angewendet wer-
        den . In jüngerer Zeit sind einige Fälle von Einrichtungen
        bekannt geworden, in denen Kinder mit geistigen und
        seelischen Behinderungen regelmäßig freiheitsbeschrän-
        kenden Maßnahmen ausgesetzt wurden, obwohl mildere
        Maßnahmen möglich gewesen wären . Hier mangelt es
        vielleicht im Einzelfall am Wissen des Personals um die
        Bedeutung der freiheitsentziehenden Maßnahme, oder
        aber es ist nicht genügend Personal vorhanden, um eine
        Freiheitsentziehung zu vermeiden .
        In Gesprächen mit Experten wurde mir zudem be-
        richtet, dass freiheitsentziehende Maßnahmen von den
        betroffenen Kindern häufig als intensivere Beeinträch-
        tigung wahrgenommen werden als die eigentliche Un-
        terbringung . Das ist für mich nachvollziehbar: Während
        sich Kinder bei einer Unterbringung frei auf der Station
        bewegen können, spüren sie bei einer Fixierung durch
        Gurte oder beim Einschluss in einen Raum unmittelbar
        die fehlende Bewegungsmöglichkeit .
        Bislang unterliegen in Deutschland nur Unterbringun-
        gen von Minderjährigen, die mit einer Freiheitsentzie-
        hung verbunden sind, einer Genehmigung des Familien-
        gerichts . Für die unterbringungsähnlichen Maßnahmen
        sieht das Gesetz dagegen anders als das Betreuungsrecht
        für volljährig Betreute keine gerichtliche Genehmi-
        gungspflicht vor. Über diese Maßnahmen entscheiden al-
        lein die Eltern im Rahmen ihrer elterlichen Sorge . Das ist
        auch grundsätzlich richtig so . Das Verfassungsrecht legt
        den Vorrang der elterlichen Verantwortung fest, weil es
        davon ausgeht, dass die Eltern selbst am besten wissen,
        was gut für das eigene Kind ist .
        Allerdings sieht das Grundgesetz auch eine Wächter-
        funktion des Staates vor, die gerade in der vorliegenden
        Situation entscheidend ist. Die Eltern befinden sich ver-
        ständlicherweise in einer besonderen emotionalen Belas-
        tungssituation, wenn sie darüber entscheiden müssen, ob
        bei ihrem Kind freiheitsentziehende Maßnahmen ange-
        wendet werden dürfen . Nicht selten stehen sie in einem
        schwierigen Interessenkonflikt zwischen dem Schutz ih-
        res Kindes einerseits und dem Wunsch nach einer fach-
        gerechten Betreuung andererseits . In solchen Drucksitu-
        ationen werden teilweise weitreichende Einwilligungen
        erteilt und Empfehlungen von Ärzten und Pflegepersonal
        nicht immer hinterfragt . Anders als zu Hause geben die
        Eltern aber ihre Kontrollmöglichkeit an die Einrichtun-
        gen ab und müssen auf eine verhältnismäßige Anwen-
        dung durch das Personal vertrauen .
        Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wollen wir
        die Eltern deshalb bei dieser schwierigen Entscheidung
        unterstützen: Künftig sollen auch freiheitsentziehende
        Maßnahmen bei Kindern nur nach gerichtlicher Prüfung
        und Genehmigung des Familiengerichts zulässig sein .
        Dabei ist es der Union ein wichtiges Anliegen, dass wir
        das grundrechtlich geschützte Elternrecht vollumfäng-
        lich erhalten . Auch nach dem vorliegenden Gesetzent-
        wurf obliegt die Entscheidung, ob und in welcher Art und
        Weise eine freiheitsentziehende Maßnahme durchgeführt
        werden darf, daher ausschließlich den Eltern . Lehnen sie
        eine Maßnahme ab, darf diese daher auch künftig von
        dem Heim oder der Einrichtung nicht durchgeführt wer-
        den . Nur wenn die Eltern eine Maßnahme bejahen, soll
        diese zusätzlich durch das Familiengericht überprüft und
        genehmigt werden .
        Schließlich will ich noch darauf hinweisen, dass das
        Genehmigungserfordernis selbstverständlich nicht im el-
        terlichen Haushalt gilt . Ein Bedürfnis für die zusätzliche
        Überprüfung durch das Familiengericht besteht nur dann,
        wenn die Eltern ihre eigene Kontrollmöglichkeit abgege-
        ben haben, weil sich ihr Kind in einem Heim oder einer
        Einrichtung befindet.
        Zusammenfassend möchte ich sagen: Die Entschei-
        dung für oder gegen freiheitsentziehende Maßnahmen
        kann mitunter erhebliche Folgen für die Entwicklung des
        Kindes oder des Jugendlichen haben . Eltern sollten in
        dieser Situation, die in der Regel ohnehin schon äußerst
        belastend ist, nicht allein gelassen werden und sich allein
        auf die Einschätzung der Einrichtung verlassen müssen .
        Ich hoffe daher, dass wir im weiteren Verlauf des
        parlamentarischen Verfahrens zu einem guten Ergebnis
        kommen .
        Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU): Wir
        beraten heute in erster Lesung den Gesetzentwurf der
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722364
        (A) (C)
        (B) (D)
        Bundesregierung zur Einführung eines familiengericht-
        lichen Genehmigungsvorbehaltes für freiheitsentziehen-
        de Maßnahmen bei Kindern . Mit dem Gesetzentwurf
        sollen bestimmte freiheitsentziehende Maßnahmen bei
        Minderjährigen unter den Vorbehalt der Genehmigung
        des Familiengerichts gestellt werden . Derzeit besteht
        eine solche Genehmigungspflicht nur für eine freiheits-
        entziehende Unterbringung in einem Heim, nicht aber
        für sonstige freiheitsentziehende Maßnahmen wie zum
        Beispiel eine Fixierung . Im Betreuungsrecht bedürfen
        solche Maßnahmen zum Schutz der betroffenen Erwach-
        senen einer gerichtlichen Genehmigung . Im Interesse des
        Kinderschutzes sollen daher künftig auch Maßnahmen,
        mit denen Kindern und Jugendlichen über einen längeren
        Zeitraum oder regelmäßig auf nicht altersgerechte Wei-
        se die Freiheit entzogen werden soll – gemeint sind hier
        zum Beispiel Fixierungen, medikamentöse Sedierungen,
        Anbringen von Bettgittern –, nicht ohne gerichtliche
        Kontrolle zulässig sein . Das Familiengericht muss im-
        mer dann eingeschaltet werden, wenn sich das Kind in
        einem Krankenhaus, einem Heim oder einer ähnlichen
        Einrichtung befindet.
        Aus meiner Sicht ist der vorgelegte Entwurf ein wich-
        tiger Baustein für besseren Kinderschutz . Wir als CDU/
        CSU-Bundestagsfraktion haben uns mit Nachdruck für
        eine gesetzliche Regelung eingesetzt, um damit auf
        teilweise unhaltbare Zustände in Heimen und Kranken-
        häusern reagieren zu können . Als ehemaliger Familien-
        richterin bin ich davon überzeugt, dass es allen Beteilig-
        ten – den Eltern, dem Heim- oder Krankenhauspersonal,
        aber allen voran den Kindern – hilft, wenn sich ein Rich-
        ter oder eine Richterin mit juristischer Fachkunde und
        mit professioneller Distanz prüft, ob etwas so Einschnei-
        dendes wie eine Freiheitsentziehung dem Kindeswohl
        entspricht .
        Sachverständige und Praktiker aus dem Bereich der
        Kinder- und Jugendpsychiatrie berichten uns zum Teil
        von erschreckenden Verhältnissen in einzelnen Einrich-
        tungen . Kinder würden oftmals über längere Zeit mit
        mechanischen oder medikamentösen Mitteln „ruhig ge-
        stellt“, ohne dass es dafür einen unabweisbaren Bedarf
        gebe. Die betreffenden Eltern seien schlichtweg überfor-
        dert, im Sinne ihres Kindes sachgerechte Entscheidun-
        gen zu treffen. Sie befinden sich bei der Entscheidung
        über freiheitsentziehende Maßnahmen meist in einer
        besonderen Belastungssituation; sie sehen sich in einem
        Interessenskonflikt, weil sie einerseits die Grundrech-
        te ihres Kindes schützen wollen und andererseits errei-
        chen möchten, dass ihr Kind fachgerecht behandelt wird .
        In solchen Situationen werden oftmals weitreichende
        Vollmachten an Ärzte oder Betreuungspersonal erteilt,
        die in ihren Auswirkungen von den Eltern weder kon-
        trolliert noch hinterfragt werden können . Eltern stehen
        teilweise unter solchem Druck, dass sie Einwilligungen
        in freiheitsentziehende Maßnahmen auch erteilen, wenn
        sie vermieden werden könnten . Die Sachverständigen
        berichten zudem, dass Fixierungen von den Kindern oft-
        mals als einschneidender erlebt würden als zum Beispiel
        eine Unterbringung auf einer geschlossenen Station .
        Vor dem Hintergrund solcher Schilderungen müssen
        wir als Gesetzgeber dafür sorgen, dass Eingriffe in die
        Rechte des Kindes nur dann erfolgen, wenn sie geeignet,
        erforderlich und angemessen sind . Die Überprüfung ei-
        ner solchen Maßnahme durch eine unabhängige Instanz
        entlastet zudem die Eltern und hilft ihnen dabei, die Inte-
        ressen des Kindes jeweils am besten wahrzunehmen . Die
        Schaffung eines familiengerichtlichen Genehmigungs-
        vorbehaltes ist aus meiner Sicht das gebotene Mittel .
        Zugleich muss sich dieser Genehmigungsvorbehalt auf
        das notwenige Maß beschränken . Es muss zum Beispiel
        klar sein, dass nicht das Familiengericht einzuschalten
        ist, wenn ein Kind in der Kita in einen Hochstuhl ge-
        setzt wird . Auf solche Konstellationen hin, in denen ein
        Genehmigungsvorbehalt unangebracht wäre, werden wir
        den Gesetzentwurf in den parlamentarischen Beratungen
        genau prüfen .
        Wichtig ist uns außerdem, dass das Elternrecht ge-
        wahrt bleibt . In Artikel 6 Absatz 2 des Grundgesetzes ist
        festgeschrieben: Pflege und Erziehung der Kinder sind
        das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ih-
        nen obliegende Pflicht. Dafür stehen wir als CDU und
        CSU ein – und das gilt auch bei diesem Gesetzentwurf .
        Der Entscheidungsvorrang der sorgeberechtigten Eltern
        bleibt in vollem Umfang gewahrt . Die Befugnis zur Ent-
        scheidung über den Einsatz freiheitsentziehender Maß-
        nahmen und die Art und Weise ihrer Anwendung liegen
        weiterhin bei den Eltern . Lehnen sie eine Maßnahme ab,
        darf sie nicht durchgeführt werden . Entscheiden sich die
        Eltern aber für eine freiheitsentziehende Maßnahme bei
        ihrem Kind, das sich in einem Krankenhaus, einem Heim
        oder einer anderen Einrichtung aufhält, muss das Fami-
        liengericht zustimmen, wenn die Maßnahme über einen
        längeren Zeitraum oder regelmäßig in nicht altersgerech-
        ter Weise erfolgen soll . Das entspricht der staatlichen
        Wächterfunktion, die ebenfalls in Artikel 6 Absatz 2 des
        Grundgesetzes ihre Grundlage findet. Das Familienge-
        richt hat im Verhältnis zum Elternrecht keine ersetzende,
        sondern eine unterstützende Funktion . Der neue Geneh-
        migungstatbestand soll um notwendige verfahrensrecht-
        liche Anpassungen ergänzt werden; so soll der Min-
        derjährige einen Verfahrensbeistand erhalten, um seine
        Interessen im Verfahren zur Geltung zu bringen . Zudem
        soll die Höchstdauer der freiheitsentziehenden Maßnah-
        me von bisher zwölf auf sechs Monate verkürzt werden .
        Ein Wort noch zu dem Gesetzentwurf von Bünd-
        nis 90/Die Grünen, der heute ebenfalls in erster Lesung
        beraten wird: In der Zielrichtung sind wir uns mit Ihnen
        einig . Ich glaube allerdings, dass der Gesetzentwurf der
        Koalition das Problem wesentlich zielgenauer adressiert .
        Weil Sie keine Beschränkung auf nicht altersgerechte
        Maßnahmen vorsehen, müsste zum Beispiel die Kita bei
        jedem Kleinkind, das zum Mittagessen in den Hochstuhl
        gesetzt wird, zunächst das Familiengericht anrufen .
        Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Eine mit Freiheits-
        entziehung verbundene Unterbringung von Minderjähri-
        gen muss laut § 1631b Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)
        vom Familiengericht genehmigt werden . Sogenannte
        freiheitsbeschränkende oder unterbringungsähnliche
        Maßnahmen unterliegen hingegen keiner richterlichen
        Genehmigungspflicht. Für diese Maßnahmen ist eine Zu-
        stimmung der Sorgeberechtigten ausreichend .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 2017 22365
        (A) (C)
        (B) (D)
        Unabhängig von der Frage, ob solche Methoden der
        Behandlung unabdingbar sind, ist eine neben das Eltern-
        recht tretende weitere Kontrollinstanz zunächst offen-
        sichtlich zu begrüßen, zumal die Wirkung von Fixierun-
        gen oder auch Sedierung bei Kindern gravierender sein
        kann als die Unterbringung an sich .
        Während bei erwachsenen Betreuten bei solchen
        Maßnahmen eine betreuungsgerichtliche Genehmigung
        einzuholen ist, ist eine solche Genehmigungspflicht nach
        § 1906 BGB auf das Kindschaftsrecht nicht analog an-
        wendbar .
        Legt man die entsprechenden Artikel der UN-Kinder-
        rechtskonvention und die UN-Behindertenrechtskonven-
        tion zugrunde, ist die Genehmigungspflicht bei freiheits-
        beschränkenden Maßnahmen von Minderjährigen nur der
        logische Schluss . Dies würde auch, wie es die Grünen in
        ihrem Gesetzentwurf betonen, die bisher unzureichende
        gesetzliche Regelung im Sinne einer Stärkung der Rechte
        von Kindern und Jugendlichen ergänzen . Das wäre ein
        wichtiges Signal; denn „Kinder haben besondere Bedürf-
        nisse hinsichtlich ihrer Förderung, ihres Schutzes, ihrer
        Mitbestimmung und ihrer Entwicklung . Kinder und Ju-
        gendliche mit Behinderungen oder psychischen Erkran-
        kungen haben darüber hinaus mit weiteren Barrieren zu
        kämpfen und erleben häufig gesellschaftliche Diskrimi-
        nierung . Sie sind eine besonders verletzliche Gruppe, die
        durch das Recht geschützt werden muss“ .
        Allerdings wird mit der vorgeschlagenen Regelung der
        Widerspruch zwischen Elternrecht einerseits und Recht
        des Kindes andererseits nicht aufgelöst, wie es auch in
        der Beschlussempfehlung des Bundesrates aufgezeigt
        wird . Allein den Blick auf das Genehmigungsverfahren
        zu lenken und damit zu suggerieren, die Situation sei ge-
        klärt, reicht eben nicht aus .
        Viel wichtiger wäre es, die entsprechenden Fachberei-
        che und die Jugendhilfe personell so auszustatten, dass
        es möglichst nicht zu genehmigungspflichtigen Maßnah-
        men kommt . Insbesondere die vorgelagerten Systeme
        der Jugendhilfe, welche unterstützen und helfen können,
        sind hierbei besonders zu beachten und entsprechend
        auszustatten .
        Es überrascht aber nicht wenig, dass es im Vorfeld
        zu diesem Gesetzentwurf, anders als sonst üblich, keine
        Fachdebatte mit der Jugendhilfe gab . Lediglich Ärzten
        wurde die Gelegenheit zur Stellungnahme zu dem Ge-
        setzentwurf gegeben, war heute in der taz zu lesen .
        Ich möchte insoweit nur Wolfgang Hammer und
        Friedhelm Peters zitieren, welche sich wie folgt geäußert
        haben: „Was hier als Kinderschutz gedacht ist, wird zum
        Einfallstor für Freiheitsentzug als pädagogischem Mittel,
        wo immer Eltern und Einrichtungen sich überfordert se-
        hen“ bzw . „Fixierungen mit Gurten auf einer Liege sind
        ein No-Go in der Jugendhilfe“ .
        Es bleibt dabei: Bei allen guten Absichten müssen der
        Schutz und die Rechte des Kindes stets im Vordergrund
        stehen . Und es ist Aufgabe der Jugendhilfe, dies zu ge-
        währleisten . Dafür braucht sie die entsprechende per-
        sonelle, fachliche und finanzielle Ausstattung. Zwangs-
        maßnahmen sind kein Mittel der Jugendhilfe, sondern
        Vertrauen und Zuwendung .
        Ich denke, in diesem hochsensiblen Bereich werden
        die Beratungen intensiv und tiefgründig unter Beteili-
        gung der Jugendhilfe verlaufen .
        Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Gut,
        dass wir die bestehende gesetzliche Lücke beim Schutz
        von Kindern und Jugendlichen endlich schließen . Gut,
        dass wir uns an dieser Stelle einig sind und nach uns nun
        auch die Bundesregierung einen Gesetzentwurf vorgelegt
        hat . Der Bundesgerichtshof hat bereits 2013 den Gesetz-
        geber aufgefordert, zu prüfen, ob eine familiengerichtli-
        che Genehmigung bei freiheitsentziehenden Maßnahmen
        eingeführt werden sollte .
        Zwei Jahre später hat der UN-Fachausschuss für die
        Rechte von Menschen mit Behinderungen in seinem
        Staatenbericht die Anwendung von Zwang und unfrei-
        williger Behandlung gegenüber Menschen mit Behinde-
        rungen in Deutschland gerügt – auch die Tatsache, dass
        nirgends dokumentiert wird, inwieweit Zwangsmaßnah-
        men angewendet werden . Wir haben für alle möglichen
        Dinge Statistiken, aber wir wissen nicht einmal, wo und
        wie oft Zwangsmaßnahmen stattfinden. Die gesetzli-
        che Neuregelung kommt also ziemlich spät und ist das
        Mindeste, was wir machen müssen, um Kinder besser zu
        schützen .
        Zimmereinschlüsse, das oftmals stundenlange Ver-
        weilen in Time-Out-Räumen, Fixierungen am Bett oder
        Spezialbetten, in denen Kinder gefangen sind – all diese
        Maßnahmen finden Anwendung in Einrichtungen der Be-
        hindertenhilfe, der Kinder- und Jugendhilfe oder in Kin-
        der- und Jugendpsychiatrien . Die Recherchen des Baye-
        rischen Rundfunks, die dann im vergangenen Jahr in dem
        erschütternden Beitrag Blackbox Heim veröffentlicht wur-
        den, haben diese Missstände sehr eindrücklich gezeigt .
        Anders als bei Erwachsenen, die unter Betreuung ste-
        hen, muss derzeit bei Kindern kein Gericht solche freiheit-
        beschränkenden Maßnahmen genehmigen . Das ist völlig
        inakzeptabel und wird schon lange von vielen Expertin-
        nen und Experten kritisiert . Kinder müssen mindestens
        den gleichen Schutz erwarten können wie Erwachsene!
        Das verlangen auch die UN-Behindertenrechtskonven-
        tion und die UN-Kinderrechtskonvention: Keinem Kind
        darf die Freiheit entzogen werden, und bei allen Maßnah-
        men muss das Wohl des Kindes Vorrang haben .
        Da derzeit die Zustimmung der Sorgeberechtigten
        ausreicht, um freiheitsbeschränkende Maßnahmen anzu-
        wenden, können Eltern unter immensen Druck geraten,
        wenn sie ihr Kind aus Mangel an ambulanten Hilfen in
        einer heilpädagogischen Einrichtung unterbringen müs-
        sen . Eine solche Entscheidung ist für Eltern ohnehin
        schon sehr schwerwiegend . Noch viel schmerzvoller
        wird sie, wenn die Einrichtung von den Eltern vorab
        eine pauschale Zustimmung zu freiheitsbeschränkenden
        Maßnahmen verlangt . Ohne Unterschrift kein Heim-
        platz; das kommt nicht selten vor . Eine solche Blanko-
        vollmacht reicht künftig nicht mehr aus . Mit der neuen
        gesetzlichen Regelung stärken wir also auch die Position
        der Eltern gegenüber den Einrichtungen . Deshalb bin ich
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 221 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 9 . März 201722366
        (A) (C)
        (B) (D)
        Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
        Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de
        Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
        erleichtert, dass wir diese Schutzlücke nun im Sinne von
        Kindern und ihren Eltern schließen .
        Auch wenn wir grundsätzlich den Gesetzentwurf der
        Bundesregierung begrüßen, gibt es Kritik . Der Gesetz-
        entwurf sieht vor, dass im Genehmigungsverfahren frei-
        heitsbeschränkender Maßnahmen ein ärztliches Zeugnis
        ausreichend ist . Wie mehrere Fachverbände festgestellt
        haben, ist ein solches ärztliches Zeugnis anstelle eines
        Sachverständigengutachtens nicht ausreichend und birgt
        das Risiko, dass die gesetzliche Neuregelung ins Leere
        läuft . An dieser Stelle muss nachgebessert werden .
        Außerdem schlagen wir in unserem Gesetzentwurf
        vor, dass die Einrichtungen über die Anwendung von
        Zwangsmaßnahmen Bericht erstatten müssen . Neben den
        Familiengerichten können auch die Eltern einen solchen
        Bericht anfordern . Eine solche Dokumentation der kon-
        kreten Maßnahmen mit genauer Datums- und Zeitangabe
        sowie einer Erläuterung zur Funktion und Erforderlich-
        keit der Maßnahmen hat eine wichtige Kontrollfunktion .
        Die grundsätzliche Frage, die wir uns stellen müssen,
        ist jedoch: Wie lassen sich Zwangsmaßnahmen, die ja im-
        mer auch eine Form von Gewalt sind, die oft demütigend
        und erniedrigend sind, vermeiden? Es gibt ja zahlreiche
        alternative Ansätze und Methoden, die auf Deeskalation
        statt Gewalt setzen . Es ist extrem wichtig, das Mitarbei-
        terinnen und Mitarbeiter in Einrichtungen diese Ansätze
        kennen und anwenden können . Gewaltfreie Konzepte
        müssen in der Ausbildung vermittelt werden, und wäh-
        rend der Berufslaufbahn müssen regelmäßig entspre-
        chende Fortbildungen und Schulungen stattfinden.
        Außerdem müssen wir uns fragen, ob die bisherige
        Kontrolle von Einrichtungen durch Heimaufsichten aus-
        reichend ist und wie die Länder an dieser Stelle mög-
        licherweise unterstützt werden können . Auch für die
        Kontrolle ist gut geschultes und qualifiziertes Personal
        nötig – aber auch eine ausreichende finanzielle Ausstat-
        tung der zuständigen Behörden .
        Auf bundesrechtlicher Ebene sind wir beim Schutz
        von Kindern und Jugendlichen einen kleinen Schritt wei-
        ter . Aber die Diskussion darf an dieser Stelle auf keinen
        Fall enden .
        Christian Lange, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
        minister der Justiz und für Verbraucherschutz: Wir bera-
        ten heute über den Entwurf eines Gesetzes zur Einführung
        eines familiengerichtlichen Genehmigungsvorbehalts für
        freiheitsentziehende Maßnahmen bei Kindern .
        Der Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht vor,
        freiheitsentziehende Maßnahmen bei Minderjährigen zu-
        künftig unter den Vorbehalt einer Genehmigung durch das
        Familiengericht zu stellen . Freiheitsentziehende Maß-
        nahmen sind Maßnahmen, die dem Betroffenen medika-
        mentös oder mechanisch – etwa durch Bettgitter, Gurte,
        Schutzanzüge oder sogenannte Time-Out-Räume – die
        Bewegungsfreiheit entziehen . Solche Maßnahmen wer-
        den in kinder- und jugendpsychiatrischen Kliniken sowie
        in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und der
        Behindertenhilfe bisher ohne familiengerichtliche Ge-
        nehmigung eingesetzt, sofern die Eltern einwilligen . Bis-
        lang bedarf nur die Unterbringung eines Minderjährigen
        durch die Eltern, die mit Freiheitsentziehung verbunden
        ist, einer Genehmigung des Familiengerichts . Sollen an
        einem Minderjährigen dagegen weitere freiheitsentzie-
        hende Maßnahmen angewandt werden, genügt hierfür
        die Einwilligung der Eltern allein .
        Der Bundesgerichtshof hat in einer grundlegenden Ent-
        scheidung vom 7 . August 2013 klargestellt, dass die Rege-
        lung des Betreuungsrechts für Erwachsene, die eine solche
        Genehmigungspflicht vorsieht, mangels Regelungslücke
        auf Minderjährige nicht entsprechend angewandt werden
        kann . Er hat es dem Gesetzgeber überlassen, eine Rege-
        lung zu treffen, wenn er sie für erforderlich hält.
        Die Einführung der vorgesehenen Genehmigungs-
        pflicht ist nach Auffassung der Experten aus folgenden
        Gründen dringend erforderlich:
        Erstens werden freiheitsentziehende Maßnahmen von
        den Betroffenen häufig als besonders gravierend erlebt.
        Gerade Kinder, die häufig noch einen ausgeprägten Be-
        wegungsdrang haben, kommen besser damit klar, auf
        einer vielleicht weitläufigen geschlossenen Station unter-
        gebracht zu sein und sich wenigstens innerhalb derselben
        frei bewegen zu können, als zum Beispiel damit, fixiert
        zu sein . Und zweitens entlastet es auch die Eltern, wenn
        eine unabhängige Instanz die Verantwortung für derart
        einschneidende Eingriffe in das Freiheitsgrundrecht des
        Kindes bzw . Jugendlichen mitträgt . Denn gerade die
        Eltern befinden sich in einer besonderen Belastungssi-
        tuation, wenn sie bezüglich ihres Kindes vor die Frage
        gestellt sind, ob freiheitsentziehende Maßnahmen ange-
        wandt werden sollen .
        Die Einführung der Genehmigungspflicht ist in der
        Fachliteratur und von Verbänden schon seit längerer Zeit
        gefordert worden . Dementsprechend positiv wurde der
        Gesetzentwurf aufgenommen . Auch der Bundesrat hat
        den Gesetzentwurf begrüßt .
        Ich bitte Sie daher, den vorliegenden Gesetzentwurf
        zu unterstützen und damit den Kindesschutz weiter zu
        verbessern .
        Anlage 26
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Astrid Grotelüschen (CDU/
        CSU) zu der namentlichen Abstimmung über den
        von den Abgeordneten Christian Kühn (Tübin-
        gen), Renate Künast, Luise Amtsberg, weiteren
        Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
        GRÜNEN eingebrachten Entwurf eines Gesetzes
        zur Dämpfung des Mietanstiegs auf angespannten
        Wohnungsmärkten bei umfassenden Modernisie-
        rungen (Drucksache 18/8856) (Zusatztagesord-
        nungspunkt 4)
        Astrid Grotelüschen (CDU/CSU): In der Ergebnis-
        liste zu der namentlichen Abstimmung ist meine Abstim-
        mung nicht enthalten .
        Mein Votum lautet: Nein .
        221. Sitzung
        Inhaltsverzeichnis
        TOP 3 Regierungserklärung zum Europäischen Rat
        TOP 4, ZP 3 u. 4 Kündigungsschutz für Mieter und Mietpreisbremse
        TOP 5 Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen
        TOP 56, ZP 5 Überweisungen im vereinfachten Verfahren
        TOP 57 Abschließende Beratungen ohne Aussprache
        TOP 6 Wahl: Stiftung Fonds kerntechnische Entsorgung
        TOP 7 Effektivere und praxistauglichere Strafverfahren
        ZP 6 - 8 Frauen- und Gleichstellungspolitik
        TOP 9 Stärkung der Arzneimittelversorgung in der GKV
        TOP 10, ZP 9 Personalbemessung in der Altenpflege
        TOP 11 Datenschutzrecht
        TOP 8 Öffentliches Vermögen
        TOP 13 Einführung eines Anspruchs auf Hinterbliebenengeld
        TOP 14 Novellierung des Berufsbildungsgesetzes
        TOP 15 Bundeswehreinsatz EUTM Somalia
        TOP 12 Globale Investitionen
        TOP 17 Gesetz zu Regelungen der Gesichtsverhüllung
        TOP 18 Evaluierung der Staatsleistungen an Kirchen
        TOP 19 Umsetzung einer EU-Richtlinie im Städtebaurecht
        TOP 16 Zeit- und Kostenrahmen bei Großprojekten des Bundes
        TOP 20, ZP 10 Wachstumschancen der kollaborativen Wirtschaft
        TOP 21 Änderungen im Straßenverkehrsrecht
        TOP 22 Neuordnung der Klärschlammverwertung
        TOP 23 Carsharinggesetz
        TOP 24 Änderungen im Straf- und Strafprozessrecht
        TOP 25 Änderung des Sicherheitsüberprüfungsgesetzes
        TOP 26 EU-Regelungen über Dienstleistungen
        TOP 27 EU-Richtlinie zu Netz- und Informationssystemen
        TOP 28 Förderung des elektronischen Identitätsnachweises
        TOP 30 Erhöhung der Sicherheit durch Videotechnologie
        TOP 31, ZP 11 Staatliche Kommunikationsinfrastruktur
        TOP 32 Umsetzung von EU-Richtlinien zur Arbeitsmigration
        TOP 33 Schädliche Steuerpraktiken bei Rechteüberlassungen
        TOP 34 Änderung des Kraftfahrzeugsteuergesetzes
        TOP 35 Recht auf Kenntnis der Abstammung bei Samenspende
        TOP 36 Änderung raumordnungsrechtlicher Vorschriften
        TOP 37 Änderung des Binnenschifffahrtsaufgabengesetzes
        TOP 38 Ärztliche Zwangsbehandlung bei Betreuten
        TOP 39 Reform des Bauvertragsrechts
        TOP 40 Strafbarkeit von Sportwettbetrug
        TOP 41 CSR-Richtlinie-Umsetzungsgesetz
        TOP 42 Europäische Patentreform
        TOP 43 Bewältigung von Konzerninsolvenzen
        TOP 44 Bekämpfung der organisierten Kriminalität
        TOP 46 Trilaterale Partnerschaften in der ASEAN-Region
        TOP 47 Abkommen zu militärischen Hauptquartieren
        TOP 48 Freiheitsbeschränkende Maßnahmen gegenüber Kindern
        Anlagen
        Anlage 1
        Anlage 2
        Anlage 3
        Anlage 4
        Anlage 5
        Anlage 6
        Anlage 7
        Anlage 8
        Anlage 9
        Anlage 10
        Anlage 11
        Anlage 12
        Anlage 13
        Anlage 14
        Anlage 15
        Anlage 16
        Anlage 17
        Anlage 18
        Anlage 19
        Anlage 20
        Anlage 21
        Anlage 22
        Anlage 23
        Anlage 24
        Anlage 25
        Anlage 26