4) Anlage 13
        Vizepräsidentin Ulla Schmidt
        (A) (C)
        (B) (D)
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 2017 21605
        Anlagen zum Stenografischen Bericht
        Anlage 1
        Liste der entschuldigten Abgeordneten
        Abgeordnete(r)
        entschuldigt bis
        einschließlich
        Barthle, Norbert CDU/CSU 26 .01 .2017
        Binder, Karin DIE LINKE 26 .01 .2017
        Bosbach, Wolfgang CDU/CSU 26 .01 .2017
        Brinkhaus, Ralph CDU/CSU 26 .01 .2017
        Bülow, Marco SPD 26 .01 .2017
        Burkert, Martin SPD 26 .01 .2017
        Dağdelen, Sevim DIE LINKE 26 .01 .2017
        Dröge, Katharina * BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        26 .01 .2017
        Eberl, Iris CDU/CSU 26 .01 .2017
        Feiler, Uwe CDU/CSU 26 .01 .2017
        Fischer (Karlsru-
        he-Land), Axel E .
        CDU/CSU 26 .01 .2017
        Gambke, Dr . Thomas BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        26 .01 .2017
        Gohlke, Nicole DIE LINKE 26 .01 .2017
        Gröhe, Hermann CDU/CSU 26 .01 .2017
        Groth, Annette DIE LINKE 26 .01 .2017
        Gunkel, Wolfgang SPD 26 .01 .2017
        Gysi, Dr . Gregor DIE LINKE 26 .01 .2017
        Henn, Heidtrud SPD 26 .01 .2017
        Hochbaum, Robert CDU/CSU 26 .01 .2017
        Hübinger, Anette CDU/CSU 26 .01 .2017
        Korte, Jan DIE LINKE 26 .01 .2017
        Krellmann, Jutta DIE LINKE 26 .01 .2017
        Kudla, Bettina CDU/CSU 26 .01 .2017
        Launert, Dr . Silke CDU/CSU 26 .01 .2017
        Abgeordnete(r)
        entschuldigt bis
        einschließlich
        Lerchenfeld, Philipp
        Graf
        CDU/CSU 26 .01 .2017
        Maizière, Dr . Thomas
        de
        CDU/CSU 26 .01 .2017
        Murmann, Dr . Philipp CDU/CSU 26 .01 .2017
        Petzold (Havelland),
        Harald
        DIE LINKE 26 .01 .2017
        Pfeiffer, Dr . Joachim CDU/CSU 26 .01 .2017
        Pronold, Florian SPD 26 .01 .2017
        Rüthrich, Susann * SPD 26 .01 .2017
        Saathoff, Johann SPD 26 .01 .2017
        Scharfenberg, Elisabeth BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        26 .01 .2017
        Schäuble, Dr . Wolfgang CDU/CSU 26 .01 .2017
        Schlecht, Michael DIE LINKE 26 .01 .2017
        Schwartze, Stefan SPD 26 .01 .2017
        Steineke, Sebastian CDU/CSU 26 .01 .2017
        Storjohann, Gero CDU/CSU 26 .01 .2017
        Strothmann, Lena CDU/CSU 26 .01 .2017
        Timmermann-Fechter,
        Astrid
        CDU/CSU 26 .01 .2017
        Tressel, Markus BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        26 .01 .2017
        Walter-Rosenheimer,
        Beate
        BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        26 .01 .2017
        Wawzyniak, Halina DIE LINKE 26 .01 .2017
        Zdebel, Hubertus DIE LINKE 26 .01 .2017
        Zeulner, Emmi * CDU/CSU 26 .01 .2017
        Zollner, Gudrun CDU/CSU 26 .01 .2017
        *aufgrund gesetzlichen Mutterschutzes
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 201721606
        (A) (C)
        (B) (D)
        Anlage 2
        Erklärungen nach § 31 GO
        zu der namentlichen Abstimmung über die Be
        schlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses
        zu dem Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung
        der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräf
        te zur Ausbildungsunterstützung der Sicherheits
        kräfte der Regierung der Region KurdistanIrak
        und der irakischen Streitkräfte (Tagesordnungs
        punkt 6)
        Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Die Bedrohung durch ISIS im Irak und Syrien ist
        unvermindert gegeben . Sie ist dank internationaler Be-
        mühungen 2016 zwar regional zurückgedrängt worden,
        aber nach wie vor in vielen Regionen äußerst massiv . Die
        abscheulichen Gräueltaten von ISIS an der Bevölkerung
        in Irak und Syrien finden weiterhin statt. Das Ende der
        Schreckensherrschaft von ISIS ist ein unverändertes Ziel
        aller Akteure in der Region . Dies muss auch mit militäri-
        schen Mitteln geschehen .
        Der Schlüssel im Kampf gegen ISIS sind die kurdi-
        schen Streitkräfte . Irakisch-kurdische Kräfte müssen wei-
        terhin unterstützt werden, dem ISIS entgegenzutreten .
        Dies gilt umso mehr, als die Türkei als Partner im Kampf
        gegen den ISIS-Terrorismus auch immer wieder eigene,
        gegen die Kurden gerichtete Ziele verfolgt . Unabhängig
        von der Luftunterstützung der USA bleibt der Kampf am
        Boden eine zentrale Aufgabe, zu der bislang überwiegend
        irakisch-kurdische Streitkräfte bereit und in der Lage sind .
        Eine internationale Unterstützung ist dafür auch durch
        Ausbildung der Streitkräfte dringend notwendig .
        Die einschlägigen UN-Entschließungen und die Er-
        klärungen der Regierung des Irak geben einen völker-
        rechtlichen Rahmen für die Ausbildungsunterstützung .
        Ich respektiere die Rechtsauffassung der Experten mei-
        ner Fraktion, die den Einsatz der Bundeswehr als völ-
        kerrechtlich nicht ausreichend abgesichert bewerten und
        deshalb kritisch beurteilen . In die Gesamtbewertung
        müssen aber auch weitere Argumente einbezogen und
        abgewogen werden .
        Die Notwendigkeit der beantragten Ausbildungsunter-
        stützung der Sicherheitskräfte der Regierung der Region
        Kurdistan-Irak und der irakischen Sicherheitskräfte ist
        durch die Erfolge im letzten Jahr bestätigt worden . Das
        deutsche Engagement ist in seiner Bedeutung aufgrund
        der veränderten Position der Türkei gegenüber den Kur-
        den noch wichtiger geworden . Deutschland muss aus
        meiner Sicht in einer weltweit veränderten Situation
        entsprechend den in der UN vereinbarten Prinzipien und
        Vereinbarungen mehr Verantwortung übernehmen .
        Diese persönliche Bewertung hat zu meiner Entschei-
        dung geführt, anders als im vorigen Jahr, in dem ich bei
        dem entsprechenden Antrag der Bundesregierung mich
        der Stimme enthalten habe, dem vorliegenden Antrag der
        Bundesregierung zur Fortsetzung der Beteiligung bewaff-
        neter deutscher Streitkräfte zur Ausbildungsunterstützung
        der Sicherheitskräfte der Regierung der Region Kurdis-
        tan-Irak und der irakischen Streitkräfte zuzustimmen .
        Dr. Hendrik Hoppenstedt (CDU/CSU): Der inter-
        nationale Kampf gegen die Terrororganisation IS zeigt
        auch dank der Lieferung militärischer Ausrüstung an
        die Peschmerga und dem Einsatz deutscher Soldatinnen
        und Soldaten zur Ausbildungsunterstützung der Sicher-
        heitskräfte der Region Kurdistan-Irak und der irakischen
        Streitkräfte Erfolge . Es ist gelungen, Flüchtlinge zu
        schützen, den IS zurückzuschlagen und Territorium zu-
        rückzugewinnen .
        Damit die erreichten Erfolge abgesichert werden und
        ein Wiedererstarken des IS verhindert wird sowie um
        eine nachhaltige Stabilisierung des Irak zu ermöglichen,
        ist weiterhin internationales Engagement erforderlich .
        Die fortgesetzte Entsendung von bis zu 150 Soldatinnen
        und Soldaten der Bundeswehr zur Ausbildungsunterstüt-
        zung soll längstens bis zum 31 . Januar 2018 in diesem
        Sinne weiterhin einen Beitrag leisten zum nachhaltigen
        Fähigkeitsaufbau der Sicherheitskräfte der Regierung der
        Region Kurdistan-Irak und der irakischen Streitkräfte .
        Ich halte die geplante Fortsetzung des Bundeswehr-
        einsatzes aufgrund humanitärer Verantwortung für die
        in der Region lebenden Menschen und Flüchtlinge, aber
        auch aus sicherheitspolitischen Gründen für sinnvoll und
        notwendig .
        Nachdem der irakische Außenminister alle Mitglied-
        staaten der Vereinten Nationen um Unterstützung im
        Kampf gegen die Terrororganisation IS auch im Wege
        militärischer Ausbildung gebeten hat, ist der Einsatz als
        sogenannte Intervention auf Einladung völkerrechtlich
        zulässig .
        Gemäß Artikel 87a Absatz 2 GG dürfen die Streitkräf-
        te außer zur Verteidigung nur eingesetzt werden, soweit
        dieses Grundgesetz es ausdrücklich zulässt . Ein Fall, in
        dem das GG den Einsatz zulässt, ist Artikel 24 Absatz 2
        GG, auf den die Bundesregierung ihren Antrag erneut
        stützt . Diese verfassungsrechtliche Begründung ist aber
        nicht überzeugend .
        Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsge-
        richts kann sich die Bundesrepublik Deutschland gemäß
        Artikel 24 Absatz 2 GG zur Friedenswahrung an Ent-
        scheidungen einer internationalen Organisation binden .
        Das umfasst auch die Übernahme der mit der Zugehörig-
        keit zu einem kollektiven Sicherheitssystem typischer-
        weise verbundenen Aufgaben und damit auch für eine
        Verwendung der Bundeswehr zu Einsätzen, die „im Rah-
        men und nach den Regeln“ dieses Systems stattfinden.
        Unzweifelhaft liegt kein spezielles Mandat des VN-Si-
        cherheitsrates vor, das ausdrücklich die Entsendung von
        Soldaten zur Friedenssicherung vorsieht und das den
        Rahmen und die Regeln des Einsatzes bestimmt .
        Aus diesem Grund bezieht sich die Bundesregierung
        in ihrem Antrag auf die beiden Sicherheitsratsresolutio-
        nen 2170 (2014) vom 15 . August 2014 und 2249 (2015)
        vom 20 . November 2015 sowie auf die Erklärung des
        Präsidenten des Sicherheitsrates vom 19 . September
        2014 .
        In der Resolution 2170 (2014) wird die Terrororgani-
        sation IS als Bedrohung für die internationale Sicherheit
        bezeichnet . Zudem werden darin die durch IS begange-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 2017 21607
        (A) (C)
        (B) (D)
        nen Menschenrechtsverletzungen verurteilt sowie Sank-
        tionen gegen einzelne Mitglieder dieser Organisation be-
        schlossen . Ein Mandat für den Einsatz von Streitkräften
        enthält diese Resolution nicht . Gleiches gilt für die Reso-
        lution 2249 (2015) .
        Auch die Erklärung des Präsidenten des Sicherheits-
        rates vom 19 . September 2014 reicht meines Erachtens
        nicht aus, weil sie im Kern lediglich den Aufruf enthält,
        den Irak zu unterstützen, und es sich dabei zudem im Er-
        gebnis um eine politische Erklärung handelt .
        Schließlich sind Ad-hoc-Koalitionen kein „System
        gegenseitiger kollektiver Sicherheit“ im Sinne von Ar-
        tikel 24 Absatz 2 GG . Selbst wenn man anerkennt, dass
        sie kollektiv vorgehen, fehlt es ihnen an der erforderli-
        chen institutionellen und vertraglich begründeten Struk-
        tur . Daher halte ich Artikel 24 Absatz 2 GG nicht für die
        richtige Rechtsgrundlage .
        Nach meiner Überzeugung findet der Einsatz der Bun-
        deswehr aber eine verfassungsmäßig tragfähige Rechts-
        grundlage in Artikel 87a Absatz 2 1 . Alternative GG . Der
        Begriff der „Verteidigung“ umfasst nach überwiegender
        Auffassung nicht nur die reine Landesverteidigung, son-
        dern auch die sogenannte Drittstaaten-Nothilfe im Sinne
        von Artikel 51 der VN-Charta . Der Bundeswehreinsatz
        ist daher als solcher verfassungsgemäß .
        Weil ich den Einsatz der Bundeswehr in dieser Aus-
        bildungsmission unabhängig von der seitens der Bundes-
        regierung gewählten verfassungsrechtlichen Begründung
        für verfassungsgemäß und politisch geboten halte, stim-
        me ich der Fortsetzung des Bundeswehreinsatzes zu .
        Anlage 3
        Zu Protokoll gegebene Rede
        zur Beratung des von der Bundesregierung ein
        gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
        Novellierung von Finanzmarktvorschriften auf
        Grund europäischer Rechtsakte (Zweites Finanz
        marktnovellierungsgesetz – 2. FiMaNoG) (Tages
        ordnungspunkt 15)
        Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Zunächst will ich auf die europäische Richtlinie Mi-
        FID II eingehen, um deren Umsetzung es mit vorliegen-
        dem Gesetzentwurf geht: Wir Grünen sind sehr zufrie-
        den, dass es nach jahrelangen Bemühungen von vielen
        Bürgerinnen und Bürgern, NGOs und uns gelungen ist,
        dass Nahrungsmittel- und Rohstoffspekulationen in der
        MiFID-II-Richtlinie durch strenge Positionslimits klare
        Grenzen gezogen wurden, die über die ursprünglichen
        Vorschläge von EU-Kommission und Europäischem Par-
        lament hinausgehen .
        Außerdem gelang es, Maßnahmen gegen den aus-
        ufernden Hochfrequenzhandel ohne realwirtschaftlichen
        Mehrwert auf den Weg zu bringen . Für Preissprünge im
        Handel ist ein „minimum tick size regime” eingeführt
        worden . Es handelt sich dabei um eine Mindestgröße,
        welche die Rendite des Hochfrequenzhandels deutlich
        verringert und ihn so unattraktiver macht . Ferner müs-
        sen alle benutzten Algorithmen getestet werden, und bei
        den Handelsplattformen wurden große Teile des intrans-
        parenten Over-the-counter-Handels durch neue, nach der
        MiFID regulierte OTF – Organized Trading Facilities –
        ersetzt .
        Trotzdem bleibt insbesondere auf dem Gebiet des Ver-
        braucherschutzes bereits in der Richtlinie manches zu
        wünschen übrig . Hinzu kommt: Manche in der Richtlinie
        verankerte Verbesserung ist von der Bundesregierung im
        Rahmen des Umsetzungsgesetzes durch die Hintertür zu-
        rückgenommen worden .
        Das Anlageverhalten von Verbrauchern in Deutsch-
        land ist gekennzeichnet von geringer Kosteneffizienz
        und geringer Rendite . Fast 80 Prozent des Geldvermö-
        gens privater Haushalte bestehen aus Bargeld, Einlagen
        oder Versicherungs- und Alterssicherungsansprüchen .
        Anlageprodukte passen nach Erhebungen des Projekts
        „Marktwächter Finanzen“ häufig nicht zum Bedarf der
        Anleger .
        Damit korrespondierend ist die Qualität der Anlage-
        beratung in Deutschland laut Stiftung Warentest auf kon-
        stant schlechtem Niveau . Nur drei Banken berieten im
        Rahmen des jüngsten Tests im vergangenen Jahr „gut“,
        dreizehn „befriedigend“, fünf „ausreichend“ und zwei
        „mangelhaft“ .
        Auch die Gründe für das schlechte Abschneiden hat
        Stiftung Warentest untersucht und festgestellt: „Grobe
        Beratungsfehler im Test sind vermutlich nur selten auf
        das Unvermögen der Berater zurückzuführen, sondern
        eher auf provisionsgetriebene Verkaufsvorgaben der In-
        stitute . Obwohl der Kundenstatus und die Risikoeinstu-
        fung des Kunden fast durchweg gut gelangen, führte das
        nicht automatisch zu passenden Produktvorschlägen .“
        Und damit sind wir in media res des Zweiten Finanz-
        marktnovellierungsgesetzes: Das Wohl des Verbrauchers
        muss bei der Anlageberatung an oberster Stelle stehen .
        Es müssen Wettbewerbsnachteile für unabhängige Ho-
        norarberater abgebaut und die Kosten einer nichtunab-
        hängigen Provisionsberatung offengelegt werden, damit
        Verbraucher alle Informationen parat haben, um eine
        mündige Anlageentscheidung treffen zu können . Die
        Vergleichbarkeit von Beratungskosten noch vor Ver-
        tragsschluss ist dafür essenziell .
        Hier verschlechtert die Bundesregierung die Ver-
        braucherposition in eklatanter Weise, wenn sie die auf
        EU-Ebene bereits verschlossene Umgehungsmöglichkeit
        der Festpreisgeschäfte im Regierungsentwurf wieder er-
        öffnet . Bei Festpreisgeschäften tritt ein Institut gegenüber
        dem Verbraucher nicht als durch eine Provision vergüte-
        ter Kommissionär auf, sondern als „Zwischenhändler“
        des Produktes, der seinen Gewinn durch die Differenz
        zwischen Einkaufs- und Verkaufspreis erzielt . Der po-
        tenzielle Interessenkonflikt ist genauso offensichtlich
        wie bei Provisionsgeschäften, doch ist diese Gestaltung
        wegen der „auf Zuwendungen von Dritten“ eingeengten
        Formulierung des § 70 Absatz 1 Seite 1 WpHG-E nicht
        offenlegungspflichtig.
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 201721608
        (A) (C)
        (B) (D)
        Auch scheinbare Petitessen wie eine nicht wettbe-
        werbsneutrale Bezeichnung der beiden Beratungsfor-
        men können die Etablierung unabhängiger Honorarbe-
        ratung erschweren . Daher sollte im Gesetzentwurf das
        Gegensatzpaar von unabhängiger Honorarberatung und
        nichtunabhängiger Provisionsberatung verankert wer-
        den .
        Für effizienten Verbraucherschutz ist es ferner wich-
        tig, dass die Kundeninformation über die Beratungsform
        sowie die Geeignetheitserklärung standardisiert werden .
        Hier muss das Bundesministerium der Finanzen von
        seinen Verordnungsermächtigungen Gebrauch machen
        und verbraucherfreundliche und wettbewerbsneutrale
        Standards setzen, auch damit der Kunde im Falle einer
        Schlecht- oder Falschberatung über eine Haftungsgrund-
        lage verfügt .
        Im Rahmen der bereits entworfenen Novellierung der
        Verordnung zur Konkretisierung der Verhaltensregeln
        und Organisationsanforderungen für Wertpapierdienst-
        leistungsunternehmen (WpDVerOV) ist bereits jetzt
        dringender Nachholbedarf gegeben . Die Verordnung
        soll regeln, wann eine Zuwendung, also auch eine Pro-
        vision, die Qualität der Dienstleistung für den Kunden
        verbessert und daher zulässig ist . Die darin aufgeführten
        Fallgruppen sind so butterweich, dass kein Institut in der
        Realität darum fürchten muss, dass Provisionsgeschäfte
        nicht de lege lata für den Kunden vorteilhaft wären . Das
        verkehrt die Untersuchungsergebnisse von Stiftung Wa-
        rentest in das Gegenteil .
        Der aufgeblähte Finanzvertrieb rechtfertigt sich aus
        Sicht der Institute durch die konstanten Einnahmen in
        einem schwierigen wirtschaftlichen Umfeld . Aus Sicht
        der Verbraucher führt er aber zu einer hohen Kostenquo-
        te und in seiner jetzigen provisionsgetriebenen Form zur
        konstanten Gefahr von Schlecht- und Falschberatung .
        Wir müssen daher jetzt das Berufsbild des unabhängi-
        gen Beraters stärken, indem wir Wettbewerbsnachteile
        abbauen, damit eine Alternative geschaffen wird sowohl
        für Verbraucher, die gut beraten anlegen wollen, als auch
        für die Arbeitnehmer, die im ständig schrumpfenden Fi-
        nanzvertrieb tätig sind .
        Anlage 4
        Erklärungen nach § 31 GO
        zu der Abstimmung über den von den Fraktionen
        der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurf
        eines Gesetzes zur Sicherung der Sozialkassen
        verfahren im Baugewerbe (Sozialkassenverfah
        rensicherungsgesetz – SoKaSiG) (Zusatztagesord
        nungspunkt 3)
        Veronika Bellmann (CDU/CSU): Am heutigen Don-
        nerstag stimmen wir in zweiter und dritter Lesung über
        das Gesetz zur Sicherung der Sozialkassenverfahren im
        Baugewerbe ab .
        Ich muss leider nach reiflicher Überlegung und insbe-
        sondere nach den beiden aktuellsten Richtersprüchen die-
        ser Woche des Bundesarbeitsgerichts zur Nichtigkeit von
        AVE bezüglich Soka-Bau auch im Plenum bei meinem
        Abstimmverhalten – Ablehnung – in der Fraktion blei-
        ben . Einer offensichtlich nachträglichen Legalisierung
        rechtswidrigen Verhaltens kann ich nicht zustimmen .
        Die Entscheidung des Deutschen Bundestages, das
        Sozialkassenverfahrenssicherungsgesetz (SokaSiG) im
        Eilverfahren in unveränderter Fassung zu beschließen,
        kann ich nicht unterstützen . Es kann nicht Aufgabe des
        Gesetzgebers sein, für die Soka-Bau unliebsame Ent-
        scheidungen eines Bundesgerichts wieder aufzuheben
        und rückwirkend Ansprüche von erfolgreichen Klägern
        per Gesetz zu revidieren . Wenn dieses Modell Schule
        macht, kann bald jedes Gerichtsurteil per Gesetz aufge-
        hoben werden, sind die Gewaltenteilung und die Unab-
        hängigkeit der Justiz in Gefahr .
        Hintergrund der Problematik sind Urteile des Bun-
        desarbeitsgerichts vom 21 . September 2016 sowie vom
        25 . Januar 2017 zur Unwirksamkeit von Allgemeinver-
        bindlichkeitserklärungen (AVE) von Tarifverträgen im
        Baugewerbe, die für viele Unternehmen des Bauneben-
        gewerbes eine Beitragspflicht an die Soka‑Bau nach sich
        ziehen . Einige Unternehmer und Verbände hatten gegen
        das Zustandekommen einiger AVEs geklagt und recht
        bekommen .
        Die Tarifvertragsparteien haben seinerzeit Vereinba-
        rungen zulasten Dritter getroffen, die durch das Minis-
        terium auf unterster Ebene durchgewunken wurden . Dies
        führt zu strafrechtlicher Verfolgung . Es ist äußerst frag-
        würdig, dass Tarifvertragsparteien neuerdings entschei-
        den, was in unserem Land strafbar ist .
        Die sich aus den Gerichtsurteilen ergebenden mögli-
        chen Rückforderungsansprüche von zu Unrecht geleis-
        teten Zahlungen sollen nun durch das Gesetz gekippt
        werden . Die Sozialkasse des Baugewerbes, welche nicht
        mit gesetzlichen Kassen wie der Rentenkasse verwech-
        selt werden darf, ist schon seit einiger Zeit durch frag-
        würdige Geschäftspraktiken in der Diskussion . Die Sta-
        tistik des Bundesarbeitsministeriums weist jährlich bis
        zu 40 000 Soka-Streitverfahren vor den Arbeitsgerichten
        Wiesbaden und Berlin auf . Unternehmer aus dem Baune-
        bengewerbe werden damit konfrontiert, für angeblich er-
        brachte Leistungen des Bauhauptgewerbes rückwirkend
        für vier Jahre etwa 20 Prozent der Lohnsumme für einen
        Mitarbeiter an die Soka-Bau abzuführen . Diese Rück-
        forderungen werden mit einem Zinssatz in Summe von
        48 Prozent, was einem Prozent pro Monat entspricht, be-
        legt . Dass diese Praktiken in vielen Betrieben, vor allen
        kleinen oder Solounternehmen des Baunebengewerbes,
        zu Recht nicht nur Unmut hervorrufen, sondern existenz-
        bedrohend sind, verwundert nicht .
        Darum wäre jetzt die jetzt die geeignete Gelegenheit
        zu einer Neuregelung gewesen , keine vier Jahre rückwir-
        kend, keine 12 Prozent Zinsen auf den höchstmöglichen
        Betrag, keine Inanspruchnahme von Soloselbstständi-
        gen, die knapp über dem Existenzminimum leben und
        auch noch Beitrag bezahlen sollen, keine Inanspruchnah-
        men von Betrieben, die andere Tarifverträge haben, und
        eine klare Definition, was Bau ist. Mit dem vorliegenden
        Gesetz zur Sicherung der Sozialkassenverfahren im Bau-
        gewerbe hat der Deutsche Bundestag die Gelegenheit zu
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 2017 21609
        (A) (C)
        (B) (D)
        einer sinnvollen, rechtlich einwandfreien Regelung nicht
        genutzt .
        Klaus Brähmig (CDU/CSU): Im Rahmen der Ab-
        stimmung am 26 . Januar 2017 werde ich den oben ge-
        nannten von den Fraktionen CDU/CSU und SPD ein-
        gebrachten Gesetzen nicht zustimmen . Lassen Sie mich
        kurz erklären, warum ich nicht zustimmen kann:
        Unternehmer aus den Baunebengewerken werden
        damit konfrontiert, für angeblich erbrachte Leistungen
        des Bauhauptgewerkes rückwirkend für vier Jahre etwa
        20 Prozent der Lohnsumme für einen Mitarbeiter an die
        Soka-Bau abzuführen . Diese Rückforderungen werden
        mit einem Zinssatz in Summe von 48 Prozent, was einem
        Prozent pro Monat entspricht, belegt . Dass diese Prakti-
        ken in vielen Betrieben des Baunebengewerkes zu Recht
        Unmut hervorrufen, verwundert nicht . Nachdem das
        Bundesarbeitsgericht diese Praxis als unwirksam erklärt
        hat, soll jetzt im Eilverfahren der Richterspruch ausgehe-
        belt werden .
        Es handelt sich hier um ein Eilgesetz angeblich zur
        Sicherung der Sozialkassen des Baugewerbes . Eilgesetze
        haben ganz selbstverständlich schon den Mangel, dass
        sie in Eile entstehen und häufig nicht klug durchdacht
        sind . Wenn die Rechtsansprüche von 50 000 Streitver-
        fahren nicht Anlass genug sind, sich vertieft mit dem
        Thema zu beschäftigen, dann wird meine Vorstellung
        von Rechtsstaatlichkeit und Gerechtigkeit konterkariert .
        Eine Ausschussanhörung, die nur auf Drängen des Wirt-
        schaftsflügels der CDU/CSU‑Fraktion zustande kam,
        war aufgrund ihrer Zusammensetzung und zeitlichen Be-
        grenzung nicht geeignet, dem Thema auch nur annähernd
        gerecht zu werden .
        Zusätzlich ist es meiner Auffassung nach nicht die
        Aufgabe des Deutschen Bundestages, unliebsame Ent-
        scheidungen eines Bundesgerichts wieder aufzuheben
        und auf diese Weise rückwirkende Ansprüche von er-
        folgreichen Klägern zunichte zu machen . Ich stimme
        hier ausdrücklich meinem Kollegen Andreas Lämmel
        MdB zu, der sagt: ,,Wenn dieses Modell Schule macht,
        kann bald jedes Gerichtsurteil per Gesetz aufgehoben
        werden .“
        Als Handwerksmeister lasse ich mich auch nicht täu-
        schen . Es geht hier um Macht und Geld und nicht um
        Arbeitnehmerrechte . Die linksliberale Süddeutsche
        Zeitung, die nicht als willenlose Vollstreckerin von Un-
        ternehmerinteressen bekannt ist, schreibt: ,,Die große
        Koalition hilft einer Institution, die in der Öffentlich-
        keit unbekannt, in der Fachöffentlichkeit indes gerade-
        zu berühmt ist . An den Arbeitsgerichten Wiesbaden und
        Berlin führt sie jedes Jahr mehr als 50 000 Verfahren . In
        Wiesbaden wenden alle 13 Kammern des Arbeitsgerichts
        die Hälfte ihrer Zeit für Soka-Bau-Verfahren auf, und die
        Meinungen gehen auseinander, wer an dieser Unmen-
        ge schuld ist: die Tarifparteien, weil sie bisher nur sehr
        ungenau festgelegt haben, was ein „Baubetrieb“ ist und
        was nicht? All die Handwerksmeister, die sich stets da-
        rauf verlassen haben, dass ihr Laden entweder nicht als
        Baubetrieb gilt, oder dass die Soka‑Bau ihn nicht findet,
        und die sich dann wundem, wenn sie eine Rechnung
        über 360 000 Euro bekommen? Die Soka-Bau selbst, der
        Anwälte eine unbarmherzige Inkassopolitik vorwerfen?
        Sie verlangt von ihren Schuldnern ein Prozent Zinsen –
        pro Monat . Und verfügt selbst über 3,7 Milliarden Euro
        liquide Mittel .“ Spätestens jetzt müsste bei kritischen
        Abgeordneten doch ein verstärktes Interesse vorhanden
        sein, dieses Thema tiefer zu durchleuchten und einer ge-
        rechten langfristigen Lösung zuzuführen . Die nachträgli-
        che Aushebelung eines Beschlusses auf höchstrichterli-
        cher Ebene durch den Bundestag ist mir zumindest nicht
        vermittelbar .
        Jens Koeppen (CDU/CSU): Ich habe heute gegen
        den Gesetzentwurf gestimmt, da er die rückwirkende
        Aufhebung bestehenden Rechts vorsieht . Es kann nicht
        und darf auch nicht Aufgabe des Gesetzgebers sein, Er-
        gebnisse von Gerichtsurteilen durch Gesetzesänderun-
        gen rückwirkend abzuändern .
        Die Gesetzesinitiative geht nicht nur einseitig zulas-
        ten des Baunebengewerbes, sondern die rückwirkende
        Schaffung von veränderten Rechtsgrundlagen erschüttert
        das Vertrauen in unseren Rechtstaat .
        Das Gesetz hilft zudem nicht, die notwendige Abgren-
        zung zwischen Bauhaupt- und Baunebengewerbe weiter
        voranzubringen . Die einseitige Gesetzesregelung zulas-
        ten der klagenden und auch der beklagten Handwerker
        des Baunebengewerbes hinterlässt einen bitteren Beige-
        schmack . Bei 40 000 anhängigen Verfahren werden wir
        in ganz Deutschland negative Arbeitsplatzeffekte zu ver-
        zeichnen haben .
        Anlage 5
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung:
        – des von der Bundesregierung eingebrachten
        Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung
        der Handlungsfähigkeit der Selbstverwaltung
        der Spitzenorganisationen in der gesetzlichen
        Krankenversicherung sowie zur Stärkung der
        über sie geführten Aufsicht (GKVSelbstver
        waltungsstärkungsgesetz)
        – der Beschlussempfehlung und des Berichts des
        Ausschusses für Gesundheit:
        – zu dem Antrag der Abgeordneten Harald
        Weinberg, Sabine Zimmermann (Zwickau),
        Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeord
        neter und der Fraktion DIE LINKE: Pati
        entenvertretung in der Gesundheitsversor
        gung stärken
        – zu dem Antrag der Abgeordneten
        Dr. Harald Terpe, Maria KleinSchmeink,
        Kordula SchulzAsche, weiterer Abgeord
        neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
        GRÜNEN: Mit Beitragsgeldern der gesetz
        lich Versicherten sorgsam umgehen – Mehr
        Transparenz und bessere Aufsicht über die
        Selbstverwaltung im Gesundheitswesen
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 201721610
        (A) (C)
        (B) (D)
        (Tagesordnungspunkt 19 a und b)
        Reiner Meier (CDU/CSU): Mark Twain hat einmal
        gesagt: „Die Nachricht von meinem Tod ist stark über-
        trieben .“ Dieser Satz ist heute Abend gleich im doppelten
        Sinne wahr: Zum einen ist die Selbstverwaltung – allen
        Unkenrufen zum Trotz – quicklebendig – und das, ob-
        wohl sie in ihren Strukturen teils auf die Lebenszeit Mark
        Twains zurückgeht . Zum anderen hat sich einmal mehr
        gezeigt, dass mancher Pressebericht vom Ende unseres
        Gesetzentwurfs vielleicht doch ein wenig verfrüht war .
        Mit dem Selbstverwaltungsstärkungsgesetz betonen
        wir tragende demokratische Grundsätze in der Selbstver-
        waltung: Transparenz und Verantwortung . Entsprechend
        haben wir die Informations- und Kontrollrechte der Ver-
        treterversammlungen und der Verwaltungsräte im Sinne
        der „checks and balances“ deutlich gestärkt .
        Das ist auch richtig so . Denn nach unserem Ver-
        ständnis ist es in erster Linie die Aufgabe der Selbst-
        verwaltung, im eigenen Haus für ordnungsgemäße und
        rechtstreue Abläufe zu sorgen .
        Zur Verantwortung gehört aber auch, dass man zu ge-
        troffenen Entscheidungen steht . Es wird deshalb klare
        und eindeutige Regelungen geben, wann es notwendig
        ist, namentlich abzustimmen . Die Entscheidungen wer-
        den damit transparent und jederzeit nachvollziehbar do-
        kumentiert .
        Subsidiär und nur für den Fall, dass diese interne
        Selbstkontrolle scheitert, stärken wir an den notwendi-
        gen Stellen die Aufsichtsinstrumente des Bundesministe-
        riums für Gesundheit . Dabei muss eines immer klar sein:
        Eine Selbstverwaltung, die ihren Namen verdient, muss
        Spielräume für ihre Entscheidungen haben . Wir haben
        uns deshalb in den parlamentarischen Beratungen eben-
        so gegen eine Fachaufsicht wie gegen allzu restriktive
        Vorgaben bei den Betriebsmittelreserven ausgesprochen .
        Auch haben wir die Tatbestandsvoraussetzungen für
        den „kleinen Staatskommissar“ klarer und konkreter ge-
        fasst . Damit bleibt der Selbstverwaltung auch in Zukunft
        ein substanzieller Spielraum, wie sie die Vorgaben des
        Gesetzgebers umsetzt . Der Maßstab bleibt auch weiter-
        hin allein die juristische Vertretbarkeit der Umsetzung .
        Wenn wir im Gesetz von Transparenz sprechen, dann
        muss sie erst recht auch im Verhältnis zum Parlament gel-
        ten . Ich freue mich deshalb ganz besonders, dass wir uns
        auf eine regelmäßige Berichtspflicht des Bundesminis-
        teriums an den Ausschuss für Gesundheit verständigen
        konnten . Damit erhält der Bundestag einen regelmäßigen
        Bericht über eingeleitete und laufende Aufsichtsverfah-
        ren in der Selbstverwaltung und kann daraus die gebote-
        nen Schlussfolgerungen ziehen .
        Es ist in den letzten Tagen viel davon gesprochen wor-
        den, dass man mit dem Gesetz die „Richtigen“ treffen
        müsse . Ich meine, unser Ziel sollte nicht sein, jemanden
        zu treffen oder zu bestrafen, sondern die Selbstverwal-
        tung als Ganzes zukunftsfest zu machen .
        Die Selbstverwaltung ist ein einzigartiges und bewähr-
        tes System, das umsichtig und mit großem Sachverstand
        zu einer hervorragenden Versorgung unserer Patientin-
        nen und Patienten beiträgt . Fehlverhalten – gleich von
        wem es ausgeht – untergräbt das Vertrauen in die Selbst-
        verwaltung als Ganzes und muss deshalb konsequent
        abgestellt und aufgearbeitet werden . Mit dem heutigen
        Gesetz wird die Selbstverwaltung transparenter, demo-
        kratischer und effektiver, und das ist eine gute Nachricht .
        Abschließend möchte ich es nicht versäumen, mich
        bei den Kolleginnen und Kollegen im Ausschuss für die
        konstruktiven Beratungen zu bedanken und auch dafür,
        dass das Gesetz gestern den Ausschuss ohne Neinstim-
        men passiert hat .
        Ich hoffe, dass diese breite Einmütigkeit heute auch
        im Plenum spürbar ist, und darf Sie deshalb um Ihre Zu-
        stimmung bitten .
        Dietrich Monstadt (CDU/CSU): Die Stärke der
        Selbstverwaltung ist eine tragende Säule des deutschen
        Sozialsystems . Die Sicherstellung einer qualitativ hoch-
        wertigen, flächendeckenden und bedarfsgerechten medi-
        zinischen Versorgung der Bevölkerung ist in besonderem
        Maße auf das Engagement und die Verantwortung der
        Selbstverwaltung im Gesundheitswesen zurückzuführen .
        An diesem erfolgreichen und bewährten System halten
        wir weiter fest . Dennoch haben Abläufe in der Vergan-
        genheit gezeigt, dass sich Partikularinteressen Einzelner
        gegenüber den Interessen des Gemeinwohls durchsetzen
        können .
        Vor dem Hintergrund der demnächst stattfindenden
        Gremienwahlen in Selbstverwaltungskörperschaften ist
        es wichtig, dass wir jetzt ein Gesetz auf den Weg bringen,
        das auf diese Sachverhalte reagiert .
        Mit dem GKV-Selbstverwaltungsstärkungsgesetz re-
        agieren wir aber nicht nur auf Fehlverhalten, sondern wir
        setzen die notwendigen Rahmenbedingungen und schaf-
        fen klare Regelungen für zukünftiges Handeln. Effizienz,
        mehr Kontrolle, stärkere Transparenz sowie schlüssige
        Vorgaben staatlicher Rechtsaufsicht sollen die Selbstver-
        waltung an den erkennbaren Schwachstellen weiterent-
        wickeln und stärken .
        Es liegt in der Natur der Sache, dass Gesetze generell
        abstrakt und nicht als Lex specialis verabschiedet wer-
        den . Deshalb regeln wir das aufsichtsrechtliche Handeln
        und die internen Strukturen der Selbstverwaltung nicht
        nur für einzelne Selbstverwaltungsbereiche, sondern
        vielmehr für den allgemeinen Bereich der Selbstverwal-
        tung, dies in einer uns möglichst einheitlichen Art und
        Weise, ohne dabei unverhältnismäßig in die internen Ge-
        staltungskompetenzen einzugreifen, wohl wissend, dass
        fast überall hervorragende Arbeit geleistet wurde und
        wird .
        Wir wollen die Funktionsfähigkeit der Selbstverwal-
        tung weiter stärken . Dafür bedarf es insbesondere stär-
        kerer Kontroll- und Informationsrechte der Mitglieder
        der Körperschaften sowie mehr Transparenz im Verwal-
        tungshandeln . Nur so können frühzeitig Fehlentwicklun-
        gen erkannt, gestoppt oder gar vermieden werden .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 2017 21611
        (A) (C)
        (B) (D)
        Wir wollen stärkere Einsichts- und Prüfrechte des
        Verwaltungsrates und der Vertreterversammlungen . Wir
        wollen präzisere Vorgaben zu Informations-, Dokumen-
        tations‑ und Berichtspflichten über die Beratungen in den
        Ausschüssen . Wir wollen eine funktionsfähige Hand-
        lungsweise durch Wahlen oder auch Abwahlen der oder
        des Vorsitzenden umsetzen und sie umgesetzt wissen .
        Auch wenn immer behauptet wird, das Gesetz greife
        zu sehr in den Verantwortungsbereich und schränke da-
        mit die nötige Handlungsfreiheit der Organe der Selbst-
        verwaltung massiv ein: Das Gegenteil ist richtig . Die
        kontrollierenden Organe der Selbstverwaltung werden
        entscheidend, bezogen auf jedes einzelne Mitglied, ge-
        stärkt . Alle Entscheidungen werden transparent .
        Größere Transparenz stärkt wiederum auch das Han-
        deln der einzelnen Mitglieder . Nur wer ausreichend und
        sachgerecht informiert ist, kann die richtigen Entschei-
        dungen treffen . Dies stärkt letztlich die Selbstverwaltung
        und ihre internen Strukturen .
        Die Frage, ob in bestimmten Fällen eine namentliche
        Abstimmung erforderlich ist, wird durchaus strittig dis-
        kutiert . Die Vergangenheit hat uns aber gezeigt, dass in
        bestimmten Fällen die Entscheidungen auch nachvoll-
        ziehbar sein müssen .
        Aber auch hier greifen wir nicht ein . Wir vertrauen
        auf die Strukturen der Selbstverwaltung in diesen ganz
        besonderen Verantwortungssituationen . Das heißt, die
        Körperschaften bestimmen in ihrer Satzung selbst, wann
        eine namentliche Abstimmung vorzusehen ist . Damit
        setzen wir auch hier ein klares Zeichen für mehr Eigen-
        verantwortung und Selbstkontrolle, da diese Regelung
        ausschließlich interne Vorgänge der Selbstverwaltungs-
        körperschaften betrifft .
        Uns ist auch wichtig, mögliches Fehlverhalten früh-
        zeitig aufzudecken . Auch hier lassen wir die Zuständig-
        keit in den jeweiligen Körperschaften .
        Zukünftig wird die Innenrevision den Selbstverwal-
        tungsgremien der Körperschaften über ggf . festgestellte
        Handlungsverstöße berichten . Dies trägt zu mehr Trans-
        parenz und Kontrolle in der hausinternen Aufarbeitung
        bei . Auch werden dadurch die Strukturen innerhalb der
        Selbstverwaltung weiter gestärkt . Kompetente, sachge-
        rechte Entscheidungsabläufe und Entscheidungen sind
        immer noch der beste Weg, hier jegliches aufsichtsrecht-
        liches Tätigwerden zu vermeiden .
        Als Ultima Ratio besteht aber nunmehr die Mög-
        lichkeit, gegebenenfalls aufsichtsrechtlich einzugreifen .
        Damit vertrauen wir grundsätzlich auf die Selbstreini-
        gungskräfte der Selbstverwaltungsinstitutionen . Klar
        muss aber sein: Sofern diese nicht funktionieren sollten,
        werden wir als Politik auch zukünftig eingreifen .
        Sollten konkrete Anhaltspunkte für Fehlverhalten vor-
        liegen, kann darüber hinaus eine Person entsandt werden,
        die beratend den Institutionen zur Seite steht, um wei-
        tere, eingreifende Maßnahmen zu verhindern . Auch mit
        dieser Regelung stärken wir gleichzeitig jedes einzelne
        Mitglied der Selbstverwaltung .
        Darüber hinaus kann das Bundesministerium für Ge-
        sundheit weitere Maßnahmen im Rahmen seiner Rechts-
        aufsicht ergreifen . Denn wir stärken auch die Rechts-
        aufsichtsstrukturen . Durch konkrete Vorgaben werden
        Rechtsverletzungen zukünftig eindeutig und konsequent
        geahndet . Diese Regelung gilt insbesondere für Betriebs-
        mittel und Rücklagen sowie für die Pflicht zur Ausschüt-
        tung von Vermögen bzw . der Senkung der Umlage, wenn
        dies nicht zur Erfüllung der gesetzlichen Aufgaben not-
        wendig ist . Wir sichern damit einen verantwortungsvol-
        len Umgang mit Beitragsgeldern .
        Zusammenfassend ist festzuhalten, dass mit dem Ge-
        setz sowohl die verwaltungsinterne Selbstkontrolle als
        auch die staatliche Aufsicht als externe Kontrolle ange-
        passt und weiterentwickelt werden .
        Befürchtungen, die Politik werde die Selbstverwal-
        tung eher schwächen als stärken, kann ich nicht teilen .
        Sogar von Entmündigung war hier teilweise die Rede .
        Im Gegenteil: Mit dem GKV-Selbstverwaltungsstär-
        kungsgesetz setzen wir ein klares Zeichen in Richtung
        einer stärkeren Selbstverwaltung und einer Aufsicht mit
        Augenmaß im Sinne der Rechtsprechung des Bundesver-
        fassungsgerichts .
        Damit leisten wir einen wichtigen Beitrag für die Sta-
        bilität unseres Gesundheitswesens für die Zukunft . Ich
        werbe deshalb um Ihre Zustimmung .
        Bärbel Bas (SPD): Wir reden derzeit viel über
        die kommende Bundestagswahl . Doch bevor wir am
        24. September den 19. Deutschen Bundestag wählen, fin-
        det noch eine andere Wahl statt . Zu Unrecht wird sie oft
        unterschätzt oder nicht richtig wahrgenommen .
        Gemessen an der Zahl der Wahlberechtigten ist es so-
        gar die wichtigste Wahl in Deutschland nach den Bun-
        destags- und Europawahlen . Es geht um die am 31 . Mai
        2017 stattfindenden Sozialwahlen.
        Bei den Sozialwahlen werden für Renten-, Unfall-,
        Pflege‑ und Krankenversicherung die ehrenamtlichen
        Vertreterversammlungen bzw . Verwaltungsräte gewählt .
        Die sogenannte Selbstverwaltung .
        Diese vermeintlich „trockene“ Selbstverwaltung birgt
        ein gewaltiges Potenzial: Sozialversicherungspflichtig
        Beschäftigte sowie Arbeitgeber finanzieren mit ihren
        Beiträgen die Solidargemeinschaft und damit die Leis-
        tungen für Rentnerinnen, Rentner und Kranke . Deshalb
        sitzen sie auch am Tisch der Entscheider .
        Die gelebte Mitbestimmung der Sozialpartner an der
        Sozialversicherung hat für uns Sozialdemokratinnen und
        Sozialdemokraten eine sehr hohe Bedeutung und ist für
        den Erfolg der Sozialversicherung unverzichtbar .
        Weil die SPD auch in Zukunft für eine starke Selbst-
        verwaltung steht, haben wir dieses Selbstverwaltungs-
        stärkungsgesetz immer kritisch begleitet .
        Der Titel des Gesetzes klingt erst einmal gut . Die Stär-
        kung der Selbstverwaltung ist auch immer eine gute Idee .
        Was Sie uns, Herr Minister, allerdings als Referen-
        tenentwurf vorlegt hatten, war das genaue Gegenteil und
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 201721612
        (A) (C)
        (B) (D)
        ein Angriff auf die gesamte Selbstverwaltung in diesem
        Land .
        Mit diesem Entwurf wäre es nicht bei einer Rechtsauf-
        sicht des Ministeriums geblieben, sondern auch zu einer
        Fachaufsicht geworden . Damit wären die Entscheidungs-
        kompetenzen der Spitzenorganisationen der GKV erheb-
        lich geschwächt geworden .
        Ich danke Ihnen heute, Herr Minister, dass Sie auf un-
        sere Kritik eingegangen sind .
        In guter Zusammenarbeit mit unserem Koalitionspart-
        ner konnten wir Sie davon überzeugen, Ihren ersten Vor-
        schlag bereits im Zuge der Erarbeitung eines Kabinetts-
        entwurfs zu entschärfen .
        Ich kann schon verstehen, warum Sie einen Gesetzent-
        wurf in dieser Schärfe formuliert haben . Sie haben damit
        auf die Verfehlungen der Kassenärztlichen Bundesverei-
        nigung reagiert . Diese hat mit einem Mix aus Korruption,
        Intrigen und Selbstbereicherung nicht nur ihren Auftrag
        zur Steuerung der ambulanten ärztlichen Versorgung in
        ganz Deutschland vergessen lassen, sondern auch das
        öffentliche Vertrauen in die Selbstverwaltung insgesamt
        erschüttert .
        Ganz klar: Die Verfehlungen innerhalb der KBV müs-
        sen restlos aufgeklärt werden . Es ist für die SPD völlig
        unstrittig, dass wir eine vollständige Transparenz und
        bessere Aufsicht über die Vorgänge in der KBV brau-
        chen . Allerdings darf man dabei nicht die gesamte Selbst-
        verwaltung beschädigen . Ich persönlich hätte mir daher
        auch eine sogenannte „Lex KBV“ vorstellen können .
        Nach intensiven Verhandlungen hat die SPD-Fraktion
        sich mit umfangreichen Änderungen beim Selbstverwal-
        tungsstärkungsgesetz durchgesetzt .
        Ich will hier nur exemplarisch die nennen, die in mei-
        nen Augen für eine starke und autonome Selbstverwal-
        tung am wichtigsten sind:
        Der Gesetzentwurf sah in § 81 Absatz 1 und § 217e
        sogenannte „Pflichtinhalte“ für die Satzungen der Kör-
        perschaften vor . Diese sind ersatzlos gestrichen worden .
        Wir haben von Anfang an gesagt, dass wir diesen Ein-
        griff in die Satzungsautonomie der Selbstverwaltungs-
        institutionen nicht mittragen . Es ist ein wesentliches
        Element der Selbstverwaltung, über die Satzungsinhalte
        selbst bestimmen zu können und auch die Verantwortung
        dafür zu übernehmen .
        Wir haben Präzisierungen bei der sogenannten ent-
        sandten Person erreicht, die das Ministerium bei Gefah-
        ren für die ordnungsgemäße Verwaltung entsenden kann .
        Dieser „kleine Staatskommissar“ dient jetzt ausschließ-
        lich der Beratung und Unterstützung der jeweiligen In-
        stitution . Wir hatten massive Bedenken, dass sich bei der
        Entsendung eines weisungsbefugten Kontrolleurs eine
        relevante Haftungsfrage ergeben kann, wenn sich dessen
        Entscheidungen als falsch herausstellen . Uns war darum
        wichtig, dass die Entscheidungen weiterhin vom Vor-
        stand getroffen und auch verantwortet werden .
        Darüber hinaus haben wir die Regelungen über die
        Prüfung der Körperschaften durch externe Wirtschafts-
        prüfungsgesellschaften gestrichen . Es bleibt damit für
        die Selbstverwaltung bei der turnusmäßigen Prüfung
        durch das Bundesversicherungsamt .
        Wir haben im parlamentarischen Verfahren immer
        wieder Zweifel daran vernommen, ob eine effiziente
        Rechtsaufsicht nicht auch auf Grundlage der bestehen-
        den gesetzlichen Regelungen hätte ausgeübt werden kön-
        nen . Darum haben wir jetzt durch einen Änderungsantrag
        dafür gesorgt, dass das Bundesgesundheitsministerium
        zukünftig jährlich zum 1 . März – erstmals 2018 – dem
        Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages über
        laufende Aufsichtsverfahren berichtet . Diese Berichts-
        pflicht wird uns Abgeordneten in Zukunft eine bessere
        Kontrolle ermöglichen, ob das Bundesgesundheitsminis-
        terium seinen aufsichtsrechtlichen Pflichten gegenüber
        den Spitzenorganisationen ordnungsgemäß nachgekom-
        men ist .
        Wir haben lange und intensiv beraten und auch in die-
        ser Woche noch hart verhandelt . Das ist nicht nur unser
        Recht als Parlamentarierinnen und Parlamentarier, das ist
        sogar unsere Pflicht.
        Am Ende ist für uns als SPD-Bundestagsfraktion klar:
        Dieses Gesetz trifft jetzt die Richtigen – ohne das Prinzip
        der Selbstverwaltung zu beschädigen . Die SPD steht für
        eine starke Selbstverwaltung auch in der Zukunft .
        Harald Weinberg (DIE LINKE): Die Organisatio-
        nen der Selbstverwaltung kritisierten den ersten Gesetz-
        entwurf scharf . Sie sah in der Bezeichnung „Selbstver-
        waltungsstärkungsgesetz“ keine Stärkung, sondern eine
        Schwächung, die Beschneidung ihrer Selbstständigkeit .
        Nun sind ihm einige der dahin gehenden „Zähne“ gezo-
        gen worden .
        Eigentlich spricht auch einiges dafür, dass die Bun-
        desregierung mit ihrem bisherigen aufsichtsrechtlichen
        Instrumentarium einige Auswüchse der Kassenärztlichen
        Bundesvereinigung (KBV), die ja Anlass für das Gesetz
        waren, hätte verhindern oder zumindest abmildern kön-
        nen, aber bewusst weggeschaut hat . Das wäre zugleich
        eine Begründung für den danach demonstrativen Hand-
        lungswillen von CDU/CSU und SPD .
        Aus unserer Sicht ist es durchaus sinnvoll, mehr Trans-
        parenz und auch mehr Kontrolle über die Selbstverwal-
        tung einzuführen . Für uns ist klar: Mehr Transparenz ist
        das A und O für das Vertrauen in die Selbstverwaltung .
        Die nun geschaffenen Eingriffsmöglichkeiten müssen ja
        auch nur genutzt werden, wenn es wirklich einen Anlass
        gibt . Sie können aber dadurch, dass sie grundsätzlich je-
        derzeit eingesetzt werden können, auch disziplinierende
        Effekte auf die Gremien haben, zu politisch tragfähigen
        Lösungen zu gelangen .
        Insofern sind viele der im Gesetzentwurf getroffenen
        Maßnahmen nicht falsch . Sie sollen ja auch nicht Verfeh-
        lungen der Vergangenheit bestrafen, sondern Verfehlun-
        gen in der Zukunft verhindern .
        Das Gesetz ist aber keine Lösung für das Grundpro-
        blem der Selbstverwaltung in einem sich immer stärker
        in Richtung Wettbewerb bewegenden Gesundheitssys-
        tem . Letztendlich versucht hier die Bundesregierung die
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 2017 21613
        (A) (C)
        (B) (D)
        Folgen ihrer eigenen Politik einzudämmen: Wer Wettbe-
        werb einfordert – und das machen in unterschiedlichem
        Maße leider alle Fraktionen außer der Linken – darf sich
        nicht wundern, dass jede und jeder vorrangig den eigenen
        Nutzen sieht und das Gemeinwohl aus dem Auge ver-
        liert . Der eigentliche Zweck der Selbstverwaltung ist, die
        Versorgung der Patientinnen und Patienten zu verbessern
        und das Gemeinwohl zu stärken . Die Selbstverwaltung
        und unser Gesundheitssystem sind kein Selbstzweck . Sie
        sind da, um eine gute Versorgung der Patientinnen und
        Patienten zu organisieren . Diese Idee wird durch Wettbe-
        werb konterkariert .
        Deshalb trifft die Selbstverwaltung nicht wenige Ver-
        einbarungen, die dem Gemeinwohl nicht entsprechen .
        Die zweifelhaften Geschäfte der KBV sind nur die Spitze
        des Eisbergs . Und diese Spitze, der Fall Köhler, der an-
        dauernde Streit der Haus- und Fachärzteschaft und die
        Immobiliengeschäfte offenbarten eine offensichtliche
        Fehlfunktion der Selbstverwaltung, sodass die Bundesre-
        gierung hier einfach nicht mehr wegschauen konnte .
        Wir wollen aber grundsätzlich an das Problem he-
        ran . Es bedarf in einem wettbewerblich ausgerichteten
        System aus unserer Sicht zumindest einer Stärkung der
        Patientenvertretung als Korrektiv . Wenn man die Selbst-
        verwaltung in einem Gesetzentwurf anpackt, ohne die
        Patientinnen und Patienten oder die Patientenvertretung
        auch nur in einem Wort zu erwähnen, dann fehlt hier
        ein ganz wesentlicher Punkt . Wir wollen die Rechte der
        Patientenvertretung stärken . Das wird mit dem jetzigen
        Gesetzentwurf von CDU/CSU und SPD überhaupt nicht
        angegangen . Deshalb werden wir uns enthalten .
        Wir schlagen vor, dass die Patientenvertreterinnen
        und Patientenvertreter an entscheidender Stelle mitbe-
        stimmen können . Sie sollen im Gemeinsamen Bundes-
        ausschuss das Zünglein an der Waage sein, wenn sich
        Kassen, Ärzte- und Zahnärzteschaft sowie Krankenhäu-
        ser nicht einigen können . Die Patientenorganisationen
        erhalten im Gemeinsamen Bundesausschuss das Recht,
        zwei der drei unparteiischen Mitglieder zu benennen . Es
        muss weitgehend ausgeschlossen werden, dass auf die
        Entscheidungen der Patientenvertretung Einfluss genom-
        men wird . Durch geeignete Verfahren muss ihre Unab-
        hängigkeit von anderen Interessengruppen sichergestellt
        werden .
        Gerade unter den Bedingungen des Kassenwettbe-
        werbs bedarf es zudem einer bundeseinheitlichen und
        wirksamen Aufsicht über alle Krankenkassen .
        Und wir schlagen vor, dass der Medizinische Dienst
        der Krankenversicherung bei Begutachtungen, die Ent-
        scheidungen über die Leistungsgewährung vorausgehen,
        schrittweise als von den Kranken‑ und Pflegekassen per-
        sonell und organisatorisch unabhängige Organisation
        ausgestaltet wird .
        Diese Vorschläge gehen deutlich über den vorliegen-
        den Gesetzentwurf hinaus .
        Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Die Selbstverwaltung ist ein wesentlicher Eckpfeiler des
        alles in allem gut funktionierenden Gesundheitssystems
        in Deutschland . Sie stellt sicher, dass fachliches Wissen
        und praktische Erfahrungen derjenigen, die im Gesund-
        heitswesen tätig sind, unmittelbar in dessen Regulierung
        einfließen.
        Umso wichtiger ist es allerdings, dass die Selbstver-
        waltung transparent und an der Sache orientiert agiert .
        Selbstverwaltung muss jedes Verdachtsmoment der
        Selbstbedienung vermeiden . Das war leider in der Ver-
        gangenheit nicht immer so klar . Die Unregelmäßigkei-
        ten um das Geschäftsgebaren bei Immobiliengeschäf-
        ten der Kassenärztlichen Bundesvereinigung haben der
        Legitimation der Selbstverwaltung einen Bärendienst
        erwiesen . Jahrelang hatte deren früherer Vorstand Gel-
        der in eine defizitäre Immobiliengesellschaft investiert,
        sich selbst und anderen überhöhte Versorgungsbezüge
        gewährt und Rücklagen in wertlosen Finanzanlagen ver-
        senkt . Dass diese Vorgänge öffentlich publik wurden,
        ebenso wie die jahrelange Untätigkeit Ihres Ministeriums
        als Aufsichtsbehörde, verdanken Sie nicht zuletzt auch
        der Beharrlichkeit unserer Fraktion .
        Es muss also zukünftig dafür Sorge getragen werden,
        dass die internen Kontrollmechanismen innerhalb der
        Spitzenverbände wie auch die aufsichtsrechtlichen Be-
        fugnisse des Bundesministeriums für Gesundheit gegen-
        über diesen Akteuren konsequent angewendet werden .
        Das ist keine Gefährdung des Prinzips der Selbstverwal-
        tung, wie oft zu hören war . Im Gegenteil: Es erhöht die
        Legitimation der Selbstverwaltung .
        Wir begrüßen, dass Sie den noch im Referentenent-
        wurf geplanten massiven Eingriff in die Richtlinienkom-
        petenz des Gemeinsamen Bundesausschusses wieder ge-
        strichen haben . Dass Sie die Geschäftsprüfungen bei den
        Spitzenverbänden nun nicht mehr an private Wirtschafts-
        prüfungsgesellschaften outsourcen, sondern beim Bun-
        desversicherungsamt belassen wollen, unterstützen wir
        ebenfalls . Allerdings erwarten wir auch, dass Sie diese
        Behörde zukünftig mit genügend Ressourcen ausstatten,
        damit sie diese Prüfungen auch sachgerecht wahrnehmen
        kann .
        Ob Ihr Gesetzentwurf allerdings einen stringenten
        Beitrag zur Stärkung der Selbstverwaltung darstellt, darf
        bezweifelt werden . Ein Beispiel: Nach Ihrem Vorschlag
        sollen Beteiligungen an Gesellschaften des Privatrechts
        zukünftig lediglich vom Lenkungsgremium der Körper-
        schaft selbst abgenickt werden . Das ist nach den Erfah-
        rungen mit der Übernahme einer faktisch insolventen
        Immobiliengesellschaft durch die Kassenärztliche Bun-
        desvereinigung nicht nachvollziehbar . Es muss für solche
        Entscheidungen mit teilweise erheblichen finanziellen
        Auswirkungen zukünftig auch eine aufsichtsrechtliche
        Kontrollmöglichkeit geben, um einer erneuten Rufschä-
        digung der Selbstverwaltung im Wiederholungsfalle
        weitgehend vorzubeugen .
        Es soll nach Ihrer Vorstellung ja keine Rahmenvorga-
        ben für Geldanlagen oder Darlehen geben, obwohl die
        KBV gerade durch solche Finanzgeschäfte erhebliche
        Beträge verloren hat . Man darf auch gespannt sein, in-
        wieweit gesetzlicher Korrekturbedarf infolge der Aus-
        einandersetzung um persönliche Haftung von Funkti-
        onsträgern vor Gericht entsteht . Unsere Forderung nach
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 201721614
        (A) (C)
        (B) (D)
        einem besseren Schutz von Whistleblowern wurde nicht
        aufgegriffen .
        Aus den genannten Gründen wird sich meine Fraktion
        bei diesem Gesetzentwurf enthalten .
        Und machen wir uns nichts vor: Ein wie auch im-
        mer geartetes Selbstverwaltungsstärkungsgesetz wird
        wenig Veränderung bringen, wenn nicht auch in den In-
        stitutionen und im Ministerium selbst ein Kulturwandel
        stattfindet. Beide haben in der Vergangenheit ihre Kon‑
        trollfunktionen und ihre Aufsichtsrechte zum Teil unter-
        lassen beziehungsweise – vorsichtig formuliert – sehr
        dezent wahrgenommen und tragen damit einen Teil der
        Verantwortung für das Ausmaß der Missstände . Ein Ge-
        setz ändert nichts, solange nicht die Bereitschaft besteht,
        Aufsichtsrechte im Ernstfall auch wahrzunehmen . Und
        genau das erwarten wir von Ihnen in Zukunft als Beitrag
        zur Stärkung der Selbstverwaltung .
        Anlage 6
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung einge
        brachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Vorschlä
        gen der Europäischen Kommission vom 7. März
        2016 für Beschlüsse des Rates zur Festlegung von
        Standpunkten der Union in den Stabilitäts und
        Assoziationsräten EU – Republik Albanien sowie
        EU – Republik Serbien im Hinblick auf die Betei
        ligung der Republik Albanien sowie der Republik
        Serbien als Beobachter an den Arbeiten der Agen
        tur der Europäischen Union für Grundrechte und
        die entsprechenden Modalitäten im Rahmen der
        Verordnung (EG) Nr. 168/2007 des Rates (Tages
        ordnungspunkt 22)
        Thorsten Frei (CDU/CSU): Albanien als Beitritts-
        kandidat der Europäischen Union und auch Serbien, mit
        dem bereits Beitrittsverhandlungen geführt werden, ha-
        ben in der Vergangenheit viele Fortschritte im Bereich
        der Grundrechte gemacht . Die Grundrechte sind in bei-
        den Ländern gesetzlich kodifiziert und entsprechen ins-
        gesamt internationalen Standards . Systematische Men-
        schenrechtsverletzungen durch Regierung oder andere
        Staatsorgane sind nicht zu beobachten . Lediglich der
        Bereich der Organisierten Kriminalität bildet in Teilen
        eine Ausnahme, etwa mit Blick auf den noch immer exis-
        tenten Menschenhandel . Insbesondere in Albanien ist das
        Zusammenleben der Religionsgemeinschaften von Mus-
        limen sowie katholischen und orthodoxen Christen von
        beispielhafter Toleranz gekennzeichnet .
        Und trotzdem erfahren bestimmte Gruppen noch im-
        mer faktische Benachteiligungen im Alltag . Hier kommen
        vor allem tradierte Wert- und Gesellschaftsvorstellungen
        zum Tragen . Insbesondere Frauen und ihre Behandlung
        unterliegen den herkömmlichen traditionellen Mustern .
        Sie sind noch immer häufig Opfer häuslicher Gewalt.
        Leider gilt das auch für Kinder . Im ländlichen Raum
        gibt es diesbezügliche Probleme deutlich häufiger als in
        den Städten . Auch daran zeigt sich, dass die Zivilgesell-
        schaften im Vergleich zum Westen noch immer äußerst
        schwach sind .
        Zu begrüßen ist, dass die albanische Regierung eine
        nationale Strategie gegen häusliche Gewalt und für
        Gleichberechtigung ausgearbeitet hat . Und Serbien hat
        im vergangenen März einen Minderheiten-Aktionsplan
        verabschiedet, der Teil der Verpflichtungen zum Ab-
        schluss der Verhandlungen zum Kapitel 23 ist . Trotzdem
        muss man objektiv feststellen, dass es in beiden Ländern
        oft an der vollständigen Implementierung der Normen
        hakt .
        Ein wesentlicher Hemmschuh sind jedoch die Justiz-
        systeme, die in Serbien und vor allem auch Albanien eine
        Dauerbaustelle sind . Die größten Herausforderungen
        sind die Steigerung der richterlichen Unabhängigkeit und
        die Effizienz der Gerichte sowie der Verwaltung und der
        oft große Verfahrensrückstau . Ein Lichtblick ist sicher-
        lich die in Albanien im vergangenen Sommer beschlos-
        sene Justizreform, die wesentlich unter Beratung der von
        einem deutschen Richter geführten EURALIUS-Mission
        vorbereitet worden war, samt des Vetting-Prozesses zur
        Überprüfung der Richter . Aber auch hier gilt: Auf dem
        Papier ist die Reform sicherlich mustergültig . Ohne Im-
        plementierung ist sie allerdings nicht das Papier wert, auf
        dem sie geschrieben steht . Das zeigt sich auch an der In-
        stitution des Ombudsmanns zur Sicherung von Minder-
        heitenrechte, der sich in beiden Ländern gleichermaßen
        nur sehr schwer Gehör und gesellschaftliche Aufmerk-
        samkeit verschaffen kann,
        Ein weiteres Problem ist die trotz großer Medienviel-
        falt bestehende Praxis der politischen Einmischung in die
        Arbeit der öffentlichen Rundfunkanstalten und zur Ein-
        schüchterung von Journalisten . Ganz wesentlich ist die
        Intransparenz der öffentliche Medienförderung . Politiker
        auf dem Balkan verstehen die Medien traditionell nicht
        als „Vierte Gewalt“ im Staat, sondern als Kanal, um Bür-
        ger zu beeinflussen. Kritische Medienberichte werden
        als feindliche Handlung angesehen . Folglich werden nur
        Zeitungen finanziell gefördert, die eine der politischen
        Führung konforme Berichterstattung bieten . Das ist na-
        türlich ein Problem, da in der Region kaum eine Firma
        oder Privatperson Werbung schaltet .
        Folglich kommt auch der jüngste Fortschrittsbericht
        der EU-Kommission zum Schluss, dass weiterhin Dis-
        kriminierungen und Feindseligkeiten gegenüber benach-
        teiligten Gruppen, unter anderem aus Gründen der sexu-
        ellen Orientierung oder der Geschlechtsidentität, auf der
        Tagesordnung stehen . Außerdem sind weitere Maßnah-
        men notwendig, um die Gleichstellung von Frauen und
        Männern zu gewährleisten, auch durch die Bekämpfung
        von häuslicher und geschlechtsspezifischer Gewalt, und
        um Chancengleichheit für Frauen herzustellen, insbeson-
        dere auf dem Arbeitsmarkt . Die Rechte der Kinder müs-
        sen gestärkt werden, unter anderem durch die Entwick-
        lung von Kinderschutzsystemen, und es bedarf vermehrt
        wirksamer Strategien zur Unterstützung von Menschen
        mit Behinderungen . Ebenso hat sich kaum etwas an der
        schwierigen Lage der Roma geändert .
        Es gibt also unverändert viel zu tun, um Albanien fit für
        die Beitrittsverhandlungen zu machen und damit Serbien
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 2017 21615
        (A) (C)
        (B) (D)
        die einschlägigen Kapitel 23 und 24 erfolgreich abschlie-
        ßen kann . Folglich ist das Ansinnen der EU-Kommission
        richtig . Die Teilnahme als Beobachter in der EU-Grund-
        rechteagentur böte einen weiteren Kanal, um am Abbau
        der Defizite zu arbeiten und die beiden Länder näher an
        die Standards der Europäischen Union heranzuführen .
        Der Dialog mit den Mitgliedern in diesem Bereich könn-
        te neue Impulse für die Stärkung der Grundrechte bieten .
        Noch viel wichtiger erscheint mir aber die Tatsache,
        dass die Teilnahme an der Grundrechteagentur und den
        damit verbundenen Mechanismen selbst im Beobachter-
        status eine weitere Form der Heranführung und Bindung
        an die EU ist . Für die Länder des westlichen Balkan sind
        solche Schritte messbar und ein unmittelbar nachvoll-
        ziehbarer Erfolg der eigenen Bemühungen . Solche Erfol-
        ge lassen sich auch gegenüber der eigenen Bevölkerung
        im Sinne der eigenen politischen Strategie gut darstellen .
        Wir müssen ihnen solche Schritte immer wieder bieten
        und ermöglichen, auch wenn klar ist, dass wir nicht von
        den geltenden Kriterien abrücken werden oder Konzessi-
        onen machen dürfen .
        Das ist gerade in der heutigen Zeit dringend geboten .
        Wir schauen auf ein Jahr der Unsicherheit in Europa .
        Das gilt nicht nur wegen des Brexits, sondern auch we-
        gen des neuen US-Präsidenten Donald Trump, der kein
        Interesse an einem starken Europa hat . Gerade für den
        westlichen Balkan könnte ein abnehmendes amerikani-
        sches Engagement fatale Folgen haben . Schon heute sind
        die Aktivitäten Russlands, Chinas und mit Blick auf die
        muslimisch geprägten Länder auch aus dem arabischen
        Raum nicht zu übersehen . Die genannten Länder warten
        nur darauf, in ein mögliches Vakuum zu stoßen und die
        noch immer nicht gefestigten Länder der Region in die
        eigene Einflusssphäre zu ziehen. Zumal die nationalis-
        tischen Gruppierungen und Parteien unverändert stark
        sind und gerade die historischen Bindungen zu Russland
        unverändert hoch im Kurs stehen . Hier sehe ich die ernst-
        hafte Gefahr, dass das ein oder andere Land trotz aller
        Beteuerungen einen Kurswechsel vollziehen könnte .
        Verschiedene Ereignisse und Spekulationen darum zei-
        gen aus meiner Sicht, dass insbesondere Russland nicht
        zimperlich ist, wenn es um die Ausnutzung möglicher
        Chancen geht .
        Ich bin zwar überzeugt, dass die Nähe zu Russland
        keine Vorteile für die Menschen bringt und die Beitritts-
        kandidaten schon heute deutliche Entwicklungsschritte
        spüren können . Aber wir leben in „postfaktischen“ Zei-
        ten, in denen Populisten mit ihrer eigenen Wahrheit viel
        Gehör in der Bevölkerung finden. Für Europa aber wären
        eine solche Abkehr und die damit verbundenen Signa-
        le fatal . Deshalb müssen wir alle Kraft aufwenden, um
        den Ländern des westlichen Balkan zu helfen und ihnen
        greifbare Perspektiven bieten . Auch für uns werden sich
        Aufwand und Mühe lohnen .
        Ursula Groden-Kranich (CDU/CSU): Ich nutze die
        Debatte zum vorliegenden Gesetzentwurf, um mich kurz
        generell mit den europäischen Agenturen zu befassen .
        Meiner Ansicht nach sollten wir dies hier im Deutschen
        Bundestag deutlich häufiger tun – nicht zuletzt vor dem
        Hintergrund, dass das Gesamtbudget aller Agenturen im
        Jahr 2014 rund 1,9 Milliarden Euro betrug und dort weit
        mehr als 6 000 Personen beschäftigt waren . Zudem ist die
        Bundesregierung im Verwaltungsrat einer jeden Agentur
        mit mindestens einem Repräsentanten vertreten . Wenn
        wir die Gewaltenteilung ernst nehmen, dann sollten wir
        uns auch mit deren Arbeit befassen . Die nächste Gele-
        genheit, sich mit dem System der dezentralen Agenturen
        zu befassen, bieten die Brexit-Verhandlungen . Denn mit
        ihnen geht die Notwendigkeit der Verlagerung zweier
        Institutionen – nämlich der Europäischen Arznei-Mittel-
        agentur sowie der Europäischen Bankenaufsicht – aus
        dem Vereinigten Königreich in einen anderen Mitglied-
        staat der EU einher .
        Agenturen sind heute fester Bestandteil der europäi-
        schen Exekutive geworden . Sie erfüllen wichtige admi-
        nistrative, operative und teilweise auch regulative Auf-
        gaben, insbesondere in Bereichen, die ein hohes Maß
        an Spezialwissen oder -fähigkeiten erfordern . Mangels
        eines einheitlichen Regelungsrahmens entstanden quer
        über Europa verteilt Agenturen mit sehr unterschiedli-
        chen Handlungsbefugnissen, internen Organisations-
        strukturen und Kontrollmechanismen . Diesen Wild-
        wuchs nahmen das Europäische Parlament, der Rat der
        EU und die Kommission zum Anlass, im Jahr 2012 eine
        gemeinsame Erklärung über die dezentralen Agenturen
        zu beschließen . Mit der Formulierung eines Fahrplans,
        einem einheitlichen Rahmenregelwerk und weiteren Ini-
        tiativen setzte die EU-Kommission diese gemeinsame
        Erklärung um . Als größter Nettozahler in der Europäi-
        schen Union hat die Bundesrepublik Deutschland ein
        besonderes Interesse daran, dass EU-Mittel sparsam und
        effizient eingesetzt werden. Daher ist es folgerichtig, die
        EU-Agenturen einer regelmäßigen Aufgabenkritik zu
        unterziehen . Auch hier gilt: Seine Daseinsberechtigung
        auf europäischer Ebene hat nur, was echten europäischen
        Mehrwert bringt .
        Gerade mit Blick auf die EU-Grundrechteagentur
        stellt sich diese Anforderung als besonders schwierig dar .
        Aus meiner Sicht nicht zu Unrecht wird von manchen
        Seiten die Kritik erhoben, mit der Grundrechteagentur
        würden Strukturen, beispielsweise des Europarates, aber
        auch der OSZE, gedoppelt . Hier kommt es darauf an, Sy-
        nergien zwischen den einzelnen Institutionen zu erken-
        nen und klug zu nutzen . Das Abkommen mit dem Eu-
        roparat aus dem Jahr 2008 ist hierfür ein gutes Beispiel .
        Auch bei den Programmplanungen sollten die einzelnen
        Akteure in regem Austausch stehen, um eine effiziente
        Arbeitsteilung gewährleisten zu können .
        Wir beraten heute den Gesetzentwurf der Bundesre-
        gierung über die Einbeziehung der Republiken Albanien
        und Serbien in die Arbeit der Agentur der Europäischen
        Union für Grundrechte . Die CDU/CSU-Bundestagsfrak-
        tion unterstützt das Ansinnen beider Länder, sich durch
        die Mitarbeit bei ausgewählten Agenturen enger an die
        Europäische Union zu binden . Gleichzeitig ist es mir
        wichtig zu betonen, dass mit der Zustimmung zu diesem
        heute vorliegenden Gesetzentwurf keine Vorfestlegung
        im Hinblick auf einen möglichen späteren Beitritt beider
        Länder zur EU getroffen wird .
        Grundlage für die Verleihung des Beobachterstatus ist
        Artikel 28 der Verordnung (EG) 168/2007 zur Errichtung
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 201721616
        (A) (C)
        (B) (D)
        der EU-Grundrechteagentur . Dieser sieht ausdrücklich
        die Möglichkeit vor, dass auch EU-Beitrittskandidaten-
        länder in die Arbeit eingebunden werden können . Die
        Grundrechteagentur soll Einrichtungen und Behörden
        der EU und ihrer Mitgliedstaaten in Grundrechtsfragen
        sowie bei der Umsetzung des Gemeinschaftsrechts un-
        terstützen . Sie stellt den europäischen Gesetzgebern bei
        der Festlegung von Maßnahmen Informationen und Ex-
        pertise zur Verfügung .
        Auch aus Sicht der Grundrechteagentur ist die Ein-
        beziehung Albaniens und Serbiens zu begrüßen, da die
        Arbeit der Agentur auf die Mitgliedstaaten der Europäi-
        schen Union sowie Beobachterländer beschränkt ist . Die
        Verleihung des Beobachterstatus sorgt folglich dafür, dass
        die Agentur ihre Arbeit auf die Republiken Albanien und
        Serbien ausweiten kann. Die notwendigen finanziellen
        Anpassungen im Haushaltsplan der Grundrechteagentur
        werden von den Bewerberländern entsprechend den Vor-
        gaben der zuvor genannten Verordnung getragen .
        Es bleibt festzuhalten, dass die Agentur der Europä-
        ischen Union für Grundrechte einen wichtigen Beitrag
        zur Wahrung und Verbreitung von Menschenrechten auf
        der Welt leistet . Sie kooperiert sehr erfolgreich mit den
        Vereinten Nationen und verfügt über ein dichtes Netz
        an Informationsstellen . Die Einbeziehung der Republik
        Albanien sowie der Republik Serbien ist nicht nur vor
        diesem Hintergrund zu unterstützen . Ich werbe daher für
        Ihre Zustimmung zum vorliegenden Gesetzentwurf .
        Norbert Spinrath (SPD): Heute beraten wir in zwei-
        ter und dritter Lesung einen Gesetzentwurf, dessen Ver-
        abschiedung es der Bundesregierung ermöglichen wird,
        der Einbeziehung Albaniens und Serbiens in die the-
        menspezifische Arbeit der EU‑Grundrechteagentur zu-
        zustimmen . Die Europäische Kommission hat einen ent-
        sprechenden Vorschlag im März letzten Jahres gemacht .
        Die SPD-Fraktion begrüßt diese Initiative ausdrücklich
        und wird daher dem Gesetzentwurf zustimmen . Es freut
        mich, dass alle Fraktionen diese Haltung teilen .
        Dafür gibt es gute Gründe . Wenn beide Länder als
        Beobachter an den Arbeiten der Grundrechteagentur
        mitwirken, ist das eine Chance . Denn die Analyse der
        Situation der Grundrechte in den beiden Beitrittskandi-
        datenländern kann deren Beachtung stärken und ihre Re-
        formagenda im Grundrechtsbereich stärken .
        Die Beteiligung an Agenturen der EU ist zwar prin-
        zipiell für Bewerberländer vorgesehen, aber durchaus
        kein Automatismus . Ich werte es als ausgesprochen gu-
        tes Zeichen, dass beide Länder eine Beteiligung an der
        Grundrechteagentur anstreben . Der mit der Erlangung
        des Beobachterstatus verbundene Schritt in Richtung
        Europäische Union ist sicher nicht der entscheidende . Er
        hat aber gleichwohl symbolische Bedeutung und fakti-
        sche Wirkung .
        Albanien trägt mit einer moderaten und manchmal
        moderierenden Außenpolitik zur Stabilität und Bere-
        chenbarkeit der Region bei . Dies gilt in Bezug auf den
        Konflikt zwischen Serbien und Kosovo wie auch auf die
        Situation in Mazedonien . Die Europäische Kommission
        hat dem Land stetige Fortschritte bei der Erfüllung poli-
        tischer Kriterien attestiert und Reformfortschritte gelobt .
        Vorbehaltlich glaubwürdiger und konkreter Fortschritte
        bei der Umsetzung der Justizreform empfahl die Kom-
        mission im November 2016 die Eröffnung von Beitritts-
        verhandlungen .
        Der noch immer schwache Rechtsstaat muss wei-
        ter gestärkt werden, wozu der Beobachterstatus bei der
        Grundrechteagentur einen Beitrag leisten kann .
        Serbien hat Fortschritte bei der wirtschaftlichen
        Entwicklung und über längere Zeit auch im Entspan-
        nungsprozess mit dem Kosovo gemacht . Einige Kapi-
        tel konnten bereits im Beitrittsprozess geöffnet werden .
        Schwächen zeigt das Land im Annäherungsprozess an
        die EU bei der Sicherung der Grundrechte im Rechts-
        staat, wie Pressefreiheit, Korruptionsbekämpfung und
        unabhängige Justiz . Deshalb begrüßen wir, dass Serbien
        einen Beobachterstatus bei der EU-Grundrechteagentur
        haben wird .
        Beide Länder müssen die notwendigen Reformen vo-
        rantreiben und tatsächlich umsetzen . Das ist ihre Verant-
        wortung . Doch wir verfolgen die Entwicklungen in der
        Region nicht nur mit Interesse; wir sollen sie auch un-
        terstützen . Die anderen Mitgliedstaaten haben dem Vor-
        schlag bereits zugestimmt, nun sollte dies auch Deutsch-
        land tun .
        Lassen Sie mich noch ein paar Worte zum Verfahren
        selbst verlieren . Wieso brauchen wir für diesen sicher
        wichtigen, aber keineswegs bahnbrechenden Kommis-
        sionsvorschlag ein bundesdeutsches Gesetz? Die Einbe-
        ziehung von Kandidatenstaaten ist doch schon seit der
        Errichtung der Grundrechteagentur im Jahre 2007 prinzi-
        piell als Möglichkeit vorgesehen .
        Dass jetzt für die konkrete Aktivierung dieser Mög-
        lichkeit ein Zustimmungsgesetz erforderlich ist, geht
        auf das Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerich-
        tes zurück . Die Besorgnis Karlsruhes hinsichtlich einer
        Machtausweitung der EU zulasten des Bundestages ist
        jedoch unbegründet . Trotzdem bleibt das Erfordernis ei-
        nes Gesetzes sinnvoll, alleine schon wegen der diszipli-
        nierenden Vorwirkung .
        Ich ermuntere die Republiken Albanien und Serbien
        ausdrücklich dazu, den Beobachterstatus insbesondere
        zur Implementierung weiterer Fortschritte auf dem Weg
        zur Rechtstaatlichkeit nach dem EU-Standard zu nutzen .
        Dies wäre ein wichtiger Schritt für den weiteren Beitritts-
        prozess und zur europäischen Integration .
        Andrej Hunko (DIE LINKE): Bei der Einrichtung
        der Grundrechteagentur im Jahr 2007 nannte die Men-
        schenrechtsorganisation Amnesty International diese ei-
        nen „zahnlosen Tiger“ . Der Grund: Sie bringe praktisch
        keinen Nutzen bei der Wahrung der Grundrechte der
        Bürgerinnen und Bürger, ihr Mandat sei zu beschränkt,
        und es deute vieles darauf hin, dass die Struktur vor al-
        lem darauf ausgelegt ist, dass sich die Mitgliedstaaten in
        Sachen Grundrechte nicht reinreden lassen wollen . Dies
        hat sich seitdem weitgehend bestätigt . Dennoch hat die
        Agentur seit ihrer Gründung dreistellige Millionenbeträ-
        ge gekostet .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 2017 21617
        (A) (C)
        (B) (D)
        Ich möchte noch einmal an die Bundestagsdebatte
        bei der Gründung der Agentur erinnern . Damals gab es
        erstaunlich wenige Meinungsverschiedenheiten, und er-
        staunlich viele haben unsere Kritik geteilt . Denn heute
        wie damals gilt, dass die eben genannten Millionenbe-
        träge in anderen Institutionen wesentlich besser aufge-
        hoben gewesen wären . Insbesondere der Europarat bietet
        ausgereiftere, erfahrenere und effektivere Institutionen
        zum Schutz der Grundrechte . Nicht umsonst gibt es die
        Europäische Menschenrechtskonvention und den Euro-
        päischen Gerichtshof für Menschenrechte, der sie durch-
        setzen soll . Die Parlamentarische Versammlung des
        Europarates mit ihren Monitoringverfahren wacht über
        die Einhaltung der Grundrechte in den Mitgliedstaaten .
        Doch eines haben sie alle gemeinsam: Sie sind chronisch
        unterfinanziert. Es ist vor allem deshalb ein riesiges Pro-
        blem, dass der EGMR einen Rückstau von Zehntausen-
        den Verfahren bearbeiten muss .
        Doch anstatt den Europarat endlich mit mehr Mitteln
        auszustatten, gingen die Regierungen der EU-Mitglied-
        staaten in die andere Richtung . Unter Zustimmung der
        Bundesregierung setzten sie auf eine teilweise Dopplung
        der vorhandenen Strukturen – möglicherweise war dies
        auch in einer potenziellen Schwächung des Europarates
        motiviert . Denn es wurde nicht allein die Grundrech-
        teagentur als unzureichende Parallelstruktur geschaf-
        fen; auch hat die EU den vertraglich vorgeschriebenen
        Beitritt zur Menschenrechtskonvention bis heute nicht
        vollzogen . Es sind diese Vorgänge, die mich doch sehr
        am wirklichen Willen der EU für den Grundrechteschutz
        zweifeln lassen . Es drängt sich der Eindruck auf, dass
        durch die Parallelstrukturen eine Definitionsmacht über
        Menschenrechtspolitik bei der EU verankert werden soll .
        In der Konsequenz bedeutet dies, dass der Europarat mit
        seinen Strukturen weiter geschwächt wird . Dies kritisie-
        ren wir aufs Schärfste .
        Nun existiert die Grundrechteagentur aber seit knapp
        zehn Jahren; sie ist eine Realität . Heute beraten wir die
        Frage, ob der deutsche Vertreter im Rat der EU zustim-
        men darf, dass Albanien und Serbien Beobachterstatus
        in der Grundrechteagentur bekommen . Dieser Schritt
        steht selbstverständlich im Kontext eines möglichen EU-
        Beitritts der beiden Länder . Auch wenn wir aufgrund der
        neoliberalen Verfasstheit der EU und ihrer militaristi-
        schen Tendenzen einen Beitritt kritisch sehen, so ist für
        uns immer klar gewesen: Wir stellen uns einem solchen
        Schritt nicht in den Weg, wenn er von der Bevölkerung
        der betroffenen Länder gewollt ist . Dazu stehen wir .
        Wir halten auch an der grundsätzlichen Kritik an der
        Unzulänglichkeit der Grundrechteagentur fest . Doch
        scheint mir, dass die Frage des Beobachterstatus Serbi-
        ens und Albaniens nicht der Ort ist, unsere Kritik an der
        Grundrechteagentur und der EU in abweichendem Ab-
        stimmungsverhalten zu äußern . Aus diesem Grund stim-
        men wir dem vorliegenden Gesetzentwurf zu .
        Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Wir begrüßen die Verleihung des Bobachterstatus an Al-
        banien und Serbien in der Grundrechteagentur der Eu-
        ropäischen Union . Die Republik Albanien ist seit dem
        27 . Juni 2014 EU-Beitrittskandidat . Die Republik Serbi-
        en hat den Kandidatenstatus seit dem 1 . März 2012, und
        seit dem 21 . Januar 2014 werden Beitrittsverhandlungen
        mit dem Land geführt .
        Als Grüne unterstützen wir die europäische Perspek-
        tive für die Länder des westlichen Balkans . Grundvo-
        raussetzung dafür ist, wie bei allen bisherigen Beitritten,
        die Erfüllung der EU-Beitrittskriterien . Dabei legen wir
        großen Wert auf die Erfüllung der Kriterien im Bereich
        Rechtsstaatlichkeit, Justiz und Demokratie . Diese Berei-
        che werden in den Kapiteln 23 und 24 in den Beitrittsver-
        handlungen verhandelt .
        Anhand der EU-Fortschrittsberichte erhalten wir einen
        Überblick darüber, ob die Kandidatenländer Fortschritte
        oder Rückschritte in diesen Bereichen machen . Anhand
        zu erfüllender Beitrittskriterien können wir sehen, wel-
        che Bedingungen erfüllt werden müssen, um Verhand-
        lungskapitel zu öffnen .
        Die Fortschrittsberichte stellen für Serbien und Alba-
        nien weiterhin einen zu großen Einfluss der organisier-
        ten Kriminalität, Probleme bei der Unabhängigkeit der
        Justiz, Probleme mit grassierender Korruption und Ein-
        schränkungen bei der Presse- und Meinungsfreiheit fest .
        Deshalb ist es umso wichtiger, dass diese Länder bei ih-
        rer demokratischen Entwicklung und der Erfüllung der
        Beitrittskriterien unterstützt werden . Die Beteiligung an
        der Agentur für Grundrechte der EU als Beobachter wird
        den Grundrechtsschutz in beiden Ländern stärken .
        Neben der Veröffentlichung eines Jahresberichts zu
        Grundrechtsfragen und der Formulierung und Veröffent-
        lichung von Stellungnahmen für die EU-Organe und die
        Mitgliedstaaten ist es unter anderem Aufgabe der Agentur
        für Grundrechte, die Öffentlichkeit für Grundrechtsfra-
        gen zu sensibilisieren und aktiv über die eigene Tätigkeit
        zu informieren . Die Stärkung und Sensibilisierung von
        zivilgesellschaftlichen Akteuren für die Grundrechtsar-
        beit in den Ländern des westlichen Balkans hat für uns
        eine hohe Priorität, da diese die regierenden Eliten unter
        Druck setzen und rechtsstaatliche Reformen einfordern
        können .
        Auch Kroatien hat vor seinem Beitritt den Beobacht-
        erstatus in der Agentur für Grundrechte erhalten, dadurch
        konnten kroatische Zivilgesellschaftsorganisationen an
        der Grundrechteplattform der Agentur teilnehmen . Au-
        ßerdem wurde Kroatien bereits ein Jahr vor dem Beitritt
        2013 in den Jahresbericht und die LGBT-Umfrage der
        Agentur aufgenommen . Wir befürworten, dass auch
        zukünftig in Albanien und Serbien über eine verstärkte
        Zusammenarbeit mit der EU in Grundrechtsfragen der
        Rechtsstaatsdialog gestärkt wird .
        Anlage 7
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
        Jelpke, Frank Tempel, Dr. André Hahn, weite
        rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE:
        Angleichung der Entschädigungsleistungen für
        NSOpfer (Tagesordnungspunkt 20)
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 201721618
        (A) (C)
        (B) (D)
        Dr. André Berghegger (CDU/CSU): Die von deut-
        schen Staaten herbeigeführten Angriffskriege haben un-
        beschreibliches Leid über die Welt gebracht . Insbeson-
        dere das nationalsozialistische Regime hat zahlreichen
        unschuldigen Opfern alles genommen: das Leben, die
        Gesundheit, die Familie, den Besitz, die Heimat und vor
        allem die Menschenwürde . Die abscheulichen Taten sind
        mit Worten kaum zu beschreiben .
        Im Bewusstsein dieser Verantwortung hat sich
        Deutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges
        sehr um Aussöhnung mit den Opfern bemüht . Die Bun-
        desregierung hat der moralischen und finanziellen Wie-
        dergutmachung des vom NS-Regime verübten Unrechts
        von Anfang an eine besondere Priorität eingeräumt . Auch
        heute noch stellt sie sich dieser Aufgabe .
        Erlittenes Unrecht ist durch keinerlei Geldleistung
        wiedergutzumachen . Aber es ist selbstverständlich, dass
        begangenes Unrecht als solches klar benannt wird und
        die Geschädigten finanzielle Unterstützung erhalten. Sie
        sollen trotz der immensen psychischen und physischen
        Folgen ein würdiges Leben führen können .
        Insgesamt haben Bund und Länder auf dem Gebiet
        der Entschädigung für NS-Unrecht bis Ende 2015 rund
        74,5 Milliarden Euro erbracht . Diese Summe ergibt sich
        aus mehreren Regelungen und Vereinbarungen, die im
        Laufe der Jahre getroffen worden sind . Es hat dabei auch
        immer wieder Anpassungen, Klarstellungen und Erhö-
        hungen gegeben .
        Dabei ist allerdings in zwei Bereiche zu unterteilen .
        So gibt es einerseits gesetzliche Ansprüche und anderer-
        seits außergesetzliche Leistungen .
        Im Oktober 1953 ist das Bundesentschädigungsge-
        setz in Kraft getreten . Dieses sieht einen Ausgleich für
        einen näher bestimmten Schaden vor, der durch NS-Un-
        rechtsmaßnahmen entstanden ist . Das Gesetz war mit
        einer Frist bis Ende 1969 vorgesehen . Mit Ablauf die-
        ses Datums konnten keine Anträge mehr auf die gesetz-
        lichen Entschädigungsansprüche gestellt werden . Diese
        Schlussfrist ist auch durch das Bundesverfassungsgericht
        bestätigt worden .
        Für NS-Verfolgte im Sinne des § 1 Bundesentschädi-
        gungsgesetz, die keine gesetzlichen Ansprüche geltend
        machen konnten, sind in den Folgejahren außergesetz-
        liche Leistungen gewährt worden . Dazu sind eine Reihe
        außergesetzlicher Wiedergutmachungsregelungen für jü-
        dische und nicht jüdische NS-Verfolgte geschaffen wor-
        den . Die Mehrzahl der heute noch lebenden NS-Verfolg-
        ten erhält Leistungen aufgrund dieser außergesetzlichen
        Regelungen . Entsprechend bilden diese Leistungen heute
        den größten Teil der Wiedergutmachungsausgaben .
        Die gesetzlichen und außergesetzlichen Leistungen
        unterscheiden sich in ihrer Ausgestaltung . Während das
        Bundesentschädigungsgesetz einen gesetzlichen An-
        spruch auf Entschädigung für verfolgungsspezifische
        Schäden begründet, sehen die außergesetzlichen Härte-
        regelungen freiwillige Leistungen unter Beachtung des
        Gleichbehandlungsgrundsatzes des Artikels 3 Grundge-
        setz auf der Grundlage des Haushaltsgesetzes vor . Die
        gesetzlichen Ansprüche richten sich in der Höhe nach
        dem durch die Verfolgung verursachten Schaden . Die
        außergesetzlichen Leistungen hingegen sind zumeist als
        pauschale Beihilfen zum Lebensunterhalt mit geringeren
        Anforderungen für die Gewährung ausgestaltet und wer-
        den bei Vorliegen eines bestimmten Verfolgungsschick-
        sals gewährt .
        Eine Gleichbehandlung der im vorliegenden Antrag
        angesprochenen Opfergruppen muss also an den Opfer-
        gruppen ausgerichtet werden, die zwar NS-Verfolgte im
        Sinne des Bundesentschädigungsgesetz sind, aber we-
        gen der Schlussfrist keine gesetzlichen Entschädigungs-
        ansprüche geltend machen können . Es kann deshalb nur
        eine Gleichbehandlung im Rahmen dieser außergesetz-
        lichen Regelungen in Betracht kommen . Entsprechend
        verfährt die Bundesregierung .
        Mit dem Schicksal der im Antrag erwähnten „Zwangs-
        germanisierten“ hat sich der Deutsche Bundestag im
        Rahmen eines Petitionsverfahrens ausführlich befasst .
        Im Mai 2014 hat der Deutsche Bundestag der Beschluss-
        empfehlung des Petitionsausschusses zugestimmt, indivi-
        duelle Entschädigungsforderungen nicht zu unterstützen .
        Zugleich hat er angeregt, die „Zwangsgermanisierten“
        durch Projekte der Erinnerungskultur zu würdigen .
        Diese Empfehlung hat die Bundesregierung aufgegrif-
        fen . Über verschiedene Förderprogramme der Stiftung
        „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ ist im Rah-
        men von Projekten das Thema „Zwangsgermanisierung“
        behandelt worden . Die Projektarbeit durch die Stiftung
        ist derzeit bis 2018 gesichert . Insoweit besteht aus unse-
        rer Sicht kein Handlungsbedarf .
        Es ist unsere Pflicht, uns der historischen Verantwor-
        tung bewusst zu bleiben und das Gedenken an die Opfer
        wachzuhalten . Ein solches Terrorregime darf sich nicht
        wiederholen . In diesem Bewusstsein können wir als
        Deutsche die Zukunft gestalten .
        Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Die nationalsozialis-
        tische Diktatur in Deutschland fügte Millionen von Men-
        schen unendliches Leid zu . Menschen wurden aufgrund
        ihrer Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung ver-
        folgt . Politische Gegner wurden mit Gewalt bekämpft .
        Viele Opfer mussten diese Diktatur mit ihrem Leben
        bezahlen . Für andere Opfer hat diese Diktatur Wunden
        hinterlassen, die bis zum Lebensende nicht verheilen
        würden .
        Mit Gründung der Bundesrepublik Deutschland haben
        sich die jeweiligen Bundesregierungen für eine Entschä-
        digung und Rehabilitierung der Opfer des Nationalsozi-
        alismus eingesetzt . Als wesentlicher Schritt sei hier das
        Bundesentschädigungsgesetz genannt, welches im Okto-
        ber 1953 in Kraft trat . In der Folgezeit wurde ein einzel-
        fallgerechtes System aus gesetzlichen Ansprüchen nach
        dem Bundesentschädigungsgesetz und außergesetzlichen
        Leistungen nach den Härterichtlinien für Opfer von na-
        tionalsozialistischen Unrechtsmaßnahmen entwickelt .
        Für die gesetzlichen Ansprüche kommt es folgerichtig
        auf den konkreten Schaden an, der durch die Verfolgung
        erlitten wurde .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 2017 21619
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        Die Regierungskoalition hat in dieser Wahlperiode
        die Arbeit kontinuierlich fortgesetzt . Der Haushaltsaus-
        schuss des Deutschen Bundestages sprach im Mai 2015
        den sowjetischen Kriegsgefangenen Entschädigungen in
        Höhe von 10 Millionen Euro zu . Den vermutlich noch
        4 000 Überlebenden wird eine einmalige finanzielle An-
        erkennungsleistung von etwa 2 500 Euro zuteil .
        Allen Opfern des Nationalsozialismus ist jedoch ein
        Punkt gemeinsam: Das erlittene Unrecht wird in Geld
        niemals aufzuwiegen sein . Zu tief sitzen die Geschehnis-
        se aus dieser schwarzen Zeit deutscher Geschichte .
        Uns ist es daher ein großes Anliegen, dass die Op-
        fer nicht allein gelassen werden . Wir werden in diesem
        Hause auch am morgigen Tag, dem 27 . Januar, wieder
        der Opfer des Nationalsozialismus gedenken . Diese Ges-
        te sind wir den Opfern in Verantwortung der deutschen
        Geschichte schuldig .
        Ich möchte noch darauf eingehen, warum wir dennoch
        diesen Antrag ablehnen werden: Eine Gleichstellung von
        Leistungen nach dem Bundesentschädigungsgesetz und
        solchen aufgrund der Härterichtlinien für Opfer von na-
        tionalsozialistischen Unrechtsmaßnahmen würde eine
        Gleichbehandlung von ungleichen Sachverhalten bedeu-
        ten . Die gesetzlichen Ansprüche nach dem Bundesent-
        schädigungsgesetz richten sich in der Höhe nach dem
        konkreten Schaden . Die außergesetzlichen Leistungen
        werden hingegen als pauschale Beihilfen zum Lebensun-
        terhalt bei Vorliegen eines konkreten Verfolgungsschick-
        sals gewährt .
        Wir sollten vielmehr in die Zukunft investieren . Im
        Hinblick auf eine sinkende Sensibilität für das national-
        sozialistische Unrechtsregime durch gewisse politische
        Mitbewerber muss uns das entschiedene Eintreten gegen
        Hass und Hetze in unserer Gesellschaft wieder bewusst
        werden . Wir treten als aufrechte Demokraten für eine to-
        lerante Gesellschaft ein und sind uns unserer geschichtli-
        chen Verantwortung bewusst .
        Dr. Hans-Ulrich Krüger (SPD): Lassen Sie mich zu
        Beginn eines klarstellen: Das erlittene Unrecht und die
        unvorstellbaren Qualen unzähliger Menschen, die durch
        die NS-Verbrechen verursacht wurden, sind durch nichts
        wiedergutzumachen .
        Es ist für uns aber eine selbstverständliche moralische
        Verpflichtung, das erlittene Unrecht der NS‑Opfer da-
        durch anzuerkennen, dass wir nicht nur ständig an das
        begangene Unrecht erinnern und gedenken, sondern auch
        den betroffenen lebenden Menschen eine finanzielle An-
        erkennung zukommen lassen . Und hierfür ist auch be-
        reits eine Menge getan worden .
        So hat der Bundestag in den Jahren 1956 und 1957 das
        Bundesgesetz zur Entschädigung für Opfer der national-
        sozialistischen Verfolgung (BEG) sowie das Allgemeine
        Kriegsfolgengesetz (AKG) verabschiedet, zu denen in
        den folgenden Jahrzehnten auch Härtefonds und Härtere-
        gelungen eingerichtet wurden . Und gerade bei den Fonds
        und Härteregelungen können Betroffene, anders als beim
        BEG und AKG, auch heute noch Anträge stellen .
        Seit der Verabschiedung des Bundesgesetzes zur Ent-
        schädigung für Opfer der nationalsozialistischen Ver-
        folgung hat sich einiges getan . Denn im Sinne des BEG
        galten nur diejenigen als Verfolgte, die aus „rassischen“
        und religiösen und weltanschaulichen Gründen sowie
        aufgrund politischer Opposition verfolgt wurden . Bis zur
        letzten Antragsfrist im Jahr 1969 wurden nur diejenigen
        entschädigt, auf die diese strenge Definition zutraf. Alle
        anderen NS-Verfolgten, die sogenannten Opfer „sons-
        tigen Staatsunrechts“, erhielten höchstens Leistungen
        nach dem Allgemeinen Kriegsfolgengesetz .
        Heute sind die Fristen für die Antragstellung schon
        lange verstrichen . Es können also keine neuen Anträge,
        mit Ausnahme sogenannter Verschlimmerungsanträge,
        gestellt werden . Das ist beispielsweise eine Rentenneu-
        bemessung, wenn sich der Gesundheitszustand eines Be-
        troffenen verschlimmert . Da viele Antragsteller seinerzeit
        die Fristen für Entschädigungsansprüche gemäß BEG
        und AKG versäumt haben, hatte die Bundesregierung die
        Lücke geschlossen und Fonds im Sinne des § 171 BEG
        eingerichtet sowie die sogenannten AKG-Härterichtli-
        nien geschaffen, die nicht an die Einhaltung einer Frist
        gebunden sind . Das heißt, diese Personen können auch
        heute noch Anträge auf Geldleistungen stellen .
        Hierzu gibt es:
        Erstens . Härtefonds für rassisch Verfolgte nicht jüdi-
        schen Glaubens: Dieser Härtefonds wurde für NS-Ver-
        folgte eingerichtet, die aufgrund der Nürnberger Rassen-
        gesetze als Juden verfolgt wurden, obwohl sie nicht der
        jüdischen Glaubensgemeinschaft angehörten . Ich möchte
        betonen, dass dieser Fonds unter bestimmten Bedingun-
        gen auch für verfolgte Ehepartner, Kinder und Enkel von
        Juden offensteht . Er gilt zudem für Menschen, die we-
        gen ihrer Hilfeleistungen zugunsten jüdischer Verfolgter
        selbst zu NS-Verfolgten wurden .
        Zweitens . Härtefonds zugunsten Verfolgter nicht jü-
        discher Abstammung: Dieser Fonds wurde für nicht jü-
        dische NS-Verfolgte eingerichtet, die zwar Verfolgte im
        Sinne des BEG waren und aufgrund ihrer Verfolgung
        einen Gesundheitsschaden erlitten, aber aus ausschließ-
        lich formellen Gründen keinen Antrag nach BEG stellen
        konnten .
        Drittens . Härtefonds für jüdische Verfolgte: Jüdische
        Verfolgte stehen Härteleistungen nach dem Hardship
        Fund, dem Article 2 Fund mit der Jewish Claims Con-
        ference aus dem Jahr 1992 und dem Central and Eastern
        Europe Fund (CEEF) zu . Dieser Fonds wurde eingerich-
        tet, um vorliegende Härten für solche Verfolgte auszu-
        gleichen, die an der Einhaltung der Antragsfrist gehindert
        waren . Diese Fonds stehen vor allem NS-Verfolgten im
        Ausland offen, aber auch deutschen Opfern des NS-Re-
        gimes .
        Viertens . Als letzte wichtige Entschädigungsleistung
        möchte ich noch die AKG-Härterichtlinien erwähnen .
        Diese wurden erlassen, da die Bestimmungen des AKG
        nicht ausreichend waren und zahlreiche Opfer des Na-
        tionalsozialismus nicht entschädigt werden konnten .
        Hiernach können grundsätzlich alle durch den Natio-
        nalsozialismus geschädigten Personen, die aufgrund ih-
        rer körperlichen oder geistigen Verfassung oder wegen
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 201721620
        (A) (C)
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        ihres gesellschaftlichen oder persönlichen Verhaltens
        vom NS-Regime als Einzelne oder als Angehörige von
        Gruppen angefeindet und verfolgt wurden, einen Antrag
        auf Entschädigungsleistungen stellen . Hierzu zählen un-
        ter anderem auch „Euthanasieopfer“, Zwangssterilisierte
        und Homosexuelle .
        Sie sehen also, wir unterscheiden zwischen gesetzli-
        chen Ansprüchen des BEG und den außergesetzlichen
        Leistungen zum Ausgleich besonderer Härten wie die
        eben bereits erwähnte Article-2-Vereinbarung . Während
        das BEG einen gesetzlichen Anspruch auf Entschädi-
        gung für verfolgungsspezifische Schäden begründet,
        sehen die außergesetzlichen Härteregelungen freiwillige
        Leistungen unter Beachtung des Gleichbehandlungsge-
        botes des Artikels 3 Grundgesetz auf der Grundlage des
        Haushaltsgesetzes vor .
        Insgesamt ist festzustellen, dass Bundestag und
        Bundesregierung bis zum heutigen Tag ihrer morali-
        schen Verpflichtung zur Entschädigung von Opfern des
        NS-Regimes nachkommen . So sind bis zum 31 . Dezem-
        ber 2015 Mittel in Höhe von 47,755 Milliarden Euro
        für BEG-Leistungsempfänger ausgezahlt worden . In
        Durchführung der AKG-Härterichtlinien wurden bis zum
        31 . Dezember 2015 1,289 Milliarden Euro gezahlt . Hier-
        bei sind auch einmalige Leistungen aufgrund eines Er-
        lasses des BMF aus dem Jahre 1980 erfasst . Im Rahmen
        des Artikel-2-Abkommens sind im gleichen Zeitraum
        6,369 Milliarden Euro gezahlt worden .
        Auch ist es im Einklang mit den AKG-Härterichtlini-
        en nachvollziehbar und folgerichtig, dass einmalige oder
        laufende Leistungen grundsätzlich nur Menschen erhal-
        ten, die selbst unmittelbar den NS-Unrechtsmaßnahmen
        ausgesetzt waren . Die AKG-Härterichtlinien stehen
        daher im Einklang mit den entsprechenden dem BEG
        nachfolgenden Regelungen für jüdische Opfer des Natio-
        nalsozialismus . Insofern ist die in den Entschädigungsge-
        setzen festgelegte Unterscheidung zwischen mittelbarer
        und unmittelbarer Betroffenheit zutreffend .
        Nun zu Ihrem Antrag, Kolleginnen und Kollegen der
        Linken . Ich bin schon ein wenig verwundert, aber auch
        verärgert, dass Sie uns erst am Mittwoch einen Antrag für
        die Plenardebatte am Donnerstag zu dem Thema „Anglei-
        chung der Entschädigungsleistungen für NS-Opfer“ ein-
        reichen, ohne auch nur im entferntesten im Vorfeld eine
        inhaltliche Diskussion zu diesem Thema zu suchen .
        Im Rahmen der von Ihnen erhobenen Forderung, die
        „Zwangsgermanisierten“ als neue Gruppe von NS-Op-
        fern im Sinne der Härtefallrichtlinien anzuerkennen, hat
        sich der Deutsche Bundestag bereits im Mai 2014 in der
        Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ausführ-
        lich auseinandergesetzt und klargestellt, individuelle
        Entschädigungsforderungen nicht zu unterstützen . Wie
        Sie wissen müssen, hat er aber angeregt, die „Zwangs-
        germanisierten“ durch Projekte der Erinnerungskultur zu
        würdigen, welches die Stiftung „Erinnerung, Verantwor-
        tung und Zukunft“ (EVZ) auch durch viele Programme
        umfassend bis 2018 fördert .
        Zudem – und dies möchte ich abschließend noch er-
        wähnen – ist es mir völlig unerklärlich, warum Sie erst
        heute einen solchen Antrag stellen . Sie hätten Gelegen-
        heit gehabt, vor Verabschiedung des Haushalts 2017 zu
        erörtern, ob Mittel des Haushaltes zur Verfügung stehen,
        so wie wir es seinerzeit auch für die Entschädigungsleis-
        tungen für sowjetische Kriegsgefangene gemacht ha-
        ben . Nichts dergleichen ist passiert . Ich halte daher Ihre
        Vorgehensweise für unseriös und den Interessen der be-
        troffenen lebenden Menschen nicht dienlich . Aus vorge-
        nannten Gründen lehne ich daher Ihren Antrag ab .
        Ulla Jelpke (DIE LINKE): Es ist im Deutschen Bun-
        destag eine gute Tradition, dass am 27 . Januar, dem Ge-
        denktag für die Opfer der NS-Verfolgung, Vertreterinnen
        und Vertreter der verschiedenen Opfergruppen sprechen .
        In diesem Jahr wird es der Schauspieler Sebastian Ur-
        banski sein, der das Down-Syndrom hat . Er wird aus ei-
        nem Brief von Ernst Putzki lesen, der von den Nazis we-
        gen einer geistigen Behinderung ermordet worden war .
        Das sind durchaus würdige Gedenkveranstaltungen .
        Die Wahrheit ist aber auch – und darum geht es im An-
        trag der Linken –: Hätte Ernst Putzki die Nazizeit über-
        lebt, er hätte in der Bundesrepublik keine Entschädigung
        erhalten . Denn im deutschen Entschädigungsrecht gibt es
        bis heute gravierende Ungleichbehandlungen . Diese will
        unser Antrag beseitigen: Die Linke fordert, dass alle, die
        von den Nazis verfolgt worden sind, die gleichen Ent-
        schädigungsleistungen erhalten .
        Als in den 1950er- und 1960er-Jahren über die Anträ-
        ge nach dem Bundesentschädigungsgesetz entschieden
        wurde, sind etliche Opfergruppen einfach ausgeschlossen
        wurden . Für Homosexuelle, für Opfer der Wehrmachts-
        justiz, für verfolgte Sinti und Roma, für Kommunistinnen
        und Kommunisten, für sogenannte Asoziale und eben
        auch für Zwangssterilisierte und Euthanasiegeschädigte
        gab es in aller Regel keine Leistungen . Denn all diese
        Opfergruppen sind noch über Jahrzehnte hinweg stigma-
        tisiert und diskriminiert worden . Sie galten als Verrückte,
        als Schädlinge, als Verräter, denen unterstellt wurde, für
        ihr Verfolgungsschicksal selbst verantwortlich gewesen
        zu sein . Ein augenfälliges Beispiel dafür ist etwa, dass im
        Deutschen Bundestag zu einer Anhörung im Jahr 1961
        ausgerechnet drei Mediziner als Sachverständige einge-
        laden worden sind, die direkt an Verbrechen im Namen
        der „Rassenhygiene“ beteiligt waren .
        Erst in den letzten Jahren sind viele dieser Opfergrup-
        pen endlich politisch und zum Teil auch juristisch reha-
        bilitiert worden . Es wurden Denkmäler gebaut; es gibt
        nette Gedenkfeiern – aber Entschädigungsleistungen
        erhalten sie noch immer nicht . Denn Anträge nach dem
        Bundesentschädigungsgesetz können seit 1969 nicht
        mehr gestellt werden .
        Für all diese Opfergruppen, die ich eben aufgezählt
        habe, gilt also: Erst hat man ihnen die Entschädigung
        verweigert, und heute, wo sie endlich als Naziopfer aner-
        kannt sind, wird ihnen gesagt, sie hätten die Antragsfrist
        verpasst . Diese Logik ist ungeheuerlich zynisch .
        Wenn sie Glück haben, werden sie mit Einmalzahlun-
        gen nach den Härterichtlinien des Allgemeinen Kriegsfol-
        gengesetzes abgespeist . Nur eine Handvoll Opfer erhält
        monatliche Zahlungen . Das sind aber ausdrücklich nur
        Härteleistungen, die wesentlich geringer sind als Leis-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 2017 21621
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        tungen nach dem Bundesentschädigungsgesetz . Nur zum
        Vergleich: Während die durchschnittliche Rente nach
        dem Bundesentschädigungsgesetz 651 Euro beträgt, be-
        lief sich die Einmalzahlung nach den Härterichtlinien auf
        2 500 Euro . Die Entschädigung für erlittene Verfolgung,
        für die Ermordung von Angehörigen, für den Verlust von
        Lebensperspektiven oder materiellen Gütern wird diesen
        Überlebenden nach wie vor verweigert . Nachdem man
        sie jahrzehntelang nicht einmal als Opfer anerkannte,
        werden sie heute als Opfer zweiter Klasse diskriminiert .
        Wir haben die Bundesregierung in den vergangenen
        Jahren wiederholt auf diese Ungerechtigkeiten hingewie-
        sen . Wir haben gefragt: Mit welcher Begründung wer-
        den die einen NS-Opfer schlechter behandelt als andere
        NS-Opfer?
        Die Antwort der Bundesregierung war immer die
        gleiche: Die Entschädigungsfrage sei schon längst „er-
        folgreich“ gelöst . Das ist eine dreiste Lüge, mit der die
        Bundesregierung den Überlebenden direkt ins Gesicht
        schlägt . Denn die jahrzehntelange Ungleichbehandlung
        und die bis heute andauernde Ignoranz gegenüber dieser
        Problematik werden von vielen Überlebenden als weitere
        Diskriminierung, als Nichtanerkennung ihrer Verfolgung
        und des faschistischen Unrechts wahrgenommen, und
        das völlig zu Recht; auch die Linke hält diese Praxis für
        empörend .
        Überfällig ist schon längst, dass endlich die Betroffe-
        nen der sogenannten Zwangsgermanisierung entschädigt
        werden . Zehntausende von Kindern – die genaue Zahl
        ist nicht bekannt – sind aus den besetzten Gebieten ent-
        führt worden, weil die Nazis sie für ausreichend „arisch“
        hielten . Sie wurden ihren Eltern geraubt oder aus Kin-
        derheimen verschleppt und verbrachten ihre Kindheit bei
        Nazieltern oder in Heimen des Lebensborns . Etliche der
        Betroffenen berichten über erlittene Misshandlungen,
        wenn sie nicht den Vorstellungen ihrer faschistischen
        Kidnapper entsprachen: Es wurde ihnen Essen entzogen;
        sie wurden im Schnee ausgesetzt, geschlagen . Karl Vi-
        tovec de Gereben, der als Achtjähriger ins Reichsgebiet
        verschleppt worden war und mit dem ich seit Jahren in
        Verbindung stehe, berichtet, man habe ihn misshandelt,
        wenn er nicht wusste, wann Hitler Geburtstag hatte .
        Ich hoffe, alle hier im Haus haben genügend Empa-
        thie, um sich wenigstens annähernd vorzustellen, wel-
        che Traumatisierungen die Betroffenen bis heute quälen .
        Diese Menschen wurden aufgrund der rassistischen Vor-
        stellungen der Nazis entführt und misshandelt . Aber die
        Entschädigungsgesetze berücksichtigen sie nicht, und die
        Bundesregierung zuckt mit den Schultern . Darin verbirgt
        sich eine solche Kälte, eine solche Ignoranz gegenüber
        den Naziopfern, dass es einen schaudern lässt .
        Ich meine: Deutschland ist es den Naziopfern schul-
        dig, sie anständig zu behandeln – und zwar alle . Man
        kann nicht Gedenkveranstaltungen für die Toten durch-
        führen und den Überlebenden die kalte Schulter zeigen .
        Man darf auch nicht die einen Naziopfer gegen die ande-
        ren ausspielen . Deswegen beantragt die Linke, dass alle
        Naziopfer, auch die sogenannten Zwangsgermanisierten,
        genau die gleichen Entschädigungsleistungen erhalten,
        wie sie auch jenen zugestanden wurden, die Leistungen
        nach dem Bundesentschädigungsgesetz beziehen .
        Wenn sich die Regierungsfraktionen dieser morali-
        schen Pflicht entziehen, degradieren sie damit die Ge-
        denkveranstaltungen zur reinen Heuchelei .
        Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Die Geschichte der Entschädigung und Rehabilitierung
        der Opfer des Nationalsozialismus ist und war ein quä-
        lend langer Kampf um historische Wahrheit und Abmil-
        derung von Ungerechtigkeiten .
        Viele Kapitel dieses Kampfes waren alles andere als
        ein Ruhmesblatt für die deutsche Nachkriegsgeschichte:
        In einem skandalösen Urteil sagte der BGH 1956 im Na-
        men des Volkes, staatliche Verfolgungsmaßnahmen vor
        1943 seien legitim gewesen, weil sie von „Zigeunern“
        durch „eigene Asozialität, Kriminalität und Wander-
        trieb“ selbst veranlasst gewesen seien . Das Bundesver-
        fassungsgericht sprach 1957 der NS-Fassung des § 175
        StGB den nationalsozialistischen Unrechtscharakter ab .
        Mit dem KPD-Verbot verloren im Westen viele Kommu-
        nisten auch ihre Entschädigungsleistungen . Wehrmachts-
        deserteure und Homosexuelle mussten bis 2002 auf die
        Aufhebung ihrer Urteile warten . Erst 2007 ächtete der
        Bundestag das Erbgesundheitsgesetz hinsichtlich aller
        Konsequenzen für Zwangssterilisierte . Als nationalsozi-
        alistisches Unrecht hat er dies bis heute nicht anerkannt .
        Dies alles hatte nachteilige entschädigungsrechtliche
        Konsequenzen .
        Und auch die grundsätzlich nach dem BEG Berech-
        tigten waren unzähligen Beschränkungen, Fristen und
        Hürden für eine halbwegs angemessene Entschädigung
        ausgesetzt . Nach dem 31 . Dezember 1969 konnten auch
        für jüdische Holocaust-Überlebende keine neuen Anträ-
        ge mehr gestellt werden .
        Härtefonds nach BEG und AKG, Landeshärtefonds,
        Verbesserungen der Härtefondleistungen, Ghettorenten-
        gesetz und Zwangsarbeiterentschädigung folgten .
        Ja, man kann die deutsche Geschichte nicht auf zwölf
        Jahre reduzieren, das gilt leider insbesondere für die Ge-
        schichte des Unrechts gegenüber den Verfolgten . Es gab
        eine Kontinuität von Mentalitäten, die Unrecht nicht se-
        hen wollten oder es verdrängten .
        Die Rehabilitierung und Entschädigung von Opfern
        des Nationalsozialismus ist ein zäher und von vielen Am-
        bivalenzen geprägter Prozess gewesen . Im Antrag wird
        richtig festgestellt, dass es in den letzten Jahrzehnten
        durch viele, oft auch politische Gründe Ungleichbehand-
        lungen und große Diskrepanzen in der Erarbeitung von
        Entschädigungsleistungen für verschiedene Opfergrup-
        pen gab .
        Seit den 1980er- und 1990er-Jahren wurden viele
        der offenen Fragen zur Entschädigung von NS-Opfern
        diskutiert, kritisiert und an vielen Stellen nachgebes-
        sert . Vor allem mit Blick auf die „vergessenen“ Opfer,
        die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, Sinti und
        Roma, Zwangssterilisierten oder Euthanasiegeschädig-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 201721622
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        (B) (D)
        ten, sowie die verschiedenen Verfolgungsschäden konn-
        ten Verbesserungen erreicht werden .
        Trotz aller Verbesserungen gibt es ein unübersicht-
        liches Sammelsurium an unterschiedlichen Entschädi-
        gungsleistungen, die gesetzlich und außergesetzlich ge-
        regelt sind . Dies ist aus der Perspektive der Opfer mit
        Blick auf Gleichbehandlung, Gerechtigkeit, Transparenz
        und Nachvollziehbarkeit nicht zu rechtfertigen .
        Insofern sind wir offen für die Vorschläge zu Ver-
        besserungen . Ob wir die Grundsatzfrage anpacken oder
        noch einmal Leistungsverbesserungen versuchen, sollten
        wir im Ausschuss diskutieren .
        Zumindest eine Nachvollziehbarkeit herzustellen, die
        sich nicht nur darauf beruft, dass es unterschiedliche ge-
        setzliche oder außergesetzliche Regelungen sind, die zur
        Ungleichbehandlung führen – wie die Bundesregierung
        in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage vom 16 . No-
        vember 2015 (Drucksache 18/6719) argumentiert –, wäre
        zielführend .
        Darum halte ich das Anliegen grundsätzlich für rich-
        tig, insbesondere bei Betroffenen, die bisher in ungenü-
        gender Weise – wenn auch nur symbolisch – mit ihrem
        Schicksal gewürdigt wurden, wie etwa die im Antrag ge-
        nannte Opfergruppe der „Zwangsgermanisierten“ . Diese
        „geraubten Kinder“ gehören einer Opfergruppe an, die
        im deutschen gesellschaftlichen Bewusstsein bisher so
        gut wie nicht vorkommt . Die Tatsache, dass diesen –
        damaligen – Kindern und ihren Eltern ein – wenn auch
        unblutiges – nationalsozialistisches Unrecht widerfahren
        ist, ist unbestreitbar .
        Mit der Anerkennung als Opfergruppe auch die Fra-
        ge einer finanziellen Entschädigung aufzuwerfen, ist für
        mich nachvollziehbar . Der vorliegende Antrag lässt dabei
        aber noch Fragen offen:
        Wer sind die Entschädigungsberechtigten? Die Kin-
        der, oder auch deren Eltern, denen man die Kinder ge-
        raubt hat?
        Wird ein symbolisch identisches Gesamtschicksal
        unterstellt oder nach Schwere der heutigen Folgen der
        Gewaltmaßnahme, etwa gesundheitlichen, sozialen und
        psychischen Folgen, unterschieden?
        In welcher Höhe sollten die Betroffenen im Verhält-
        nis zu anderen Opfergruppen entschädigt werden, die ein
        physisch und psychisch möglicherweise gewaltsameres
        Verbrechen zur Zeit des Nationalsozialismus erlitten ha-
        ben?
        72 Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus und
        angesichts des den Opfern zugefügten Leids sind finanzi-
        elle Entschädigungen heute vor allem eine symbolische
        Würdigung ihres Schicksals . Die meisten Opfer sind
        inzwischen von uns gegangen . Dennoch dürfen wir er-
        kannte Not und erkanntes Unrecht nicht unbeantwortet
        lassen .
        Lassen Sie uns im Ausschuss diskutieren, ob wir von
        dem Unrecht des Nationalsozialismus und der zu späten
        Aufarbeitung noch etwas abtragen können .
        Anlage 8
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Antrags der Fraktionen der
        CDU/CSU und SPD: Biodiversität schützen –
        Taxonomische Forschung ausbauen (Tagesord
        nungspunkt 23)
        Sybille Benning (CDU/CSU): „Wer zählt die Völker,
        nennt die Namen?“, heißt es in Schillers Ballade „Die
        Kraniche des Ibykus“ . Für unser Thema heute möchte ich
        sagen: „Wer zählt die Arten, nennt die Namen?“ .
        Das Entdecken, Benennen und Einordnen – das waren
        schon zu Zeiten von Carl von Linné die ersten Schritte
        der Biologie . Und das genau ist die Aufgabe der Taxono-
        men: die Beschreibung und Klassifikation der uns umge-
        benden Vielfalt der Arten .
        Dieser Forschungszweig rückt selten ins Licht der
        Öffentlichkeit . Der geneigte Leser konnte allerdings vor
        wenigen Tagen die Entdeckung einer Benennung einer
        neuen Mottenart in den Medien verfolgen . Wegen ihrer
        orangen, haartollenförmigen Kopfschuppen gab ihr der
        Entdecker den Namen: „Neopalpa donaldtrumpi“ .
        Doch die Bestimmung der Arten erfolgt heutzutage
        nicht allein aufgrund phänotypischer Merkmale . Zur-
        zeit erlebt die Taxonomie eine technologische Revoluti-
        on . Die rasche Entwicklung von molekularbiologischen
        Hochdurchsatzmethoden, den sogenannten OMICS-Me-
        thoden zur Sequenzierung und Analyse von Erbinforma-
        tion, Proteinen und Stoffwechselprodukten, eröffnet den
        Biowissenschaften völlig neue Dimensionen: Bisher un-
        bekannte Arten werden in hoher Zahl entdeckt, und der
        Artbildungsprozess kann erstmals auf der Ebene der ge-
        samten Erbinformation verfolgt werden .
        Mit diesen neuen molekularbiologischen Möglichkei-
        ten wächst auch die Bedeutung der integrativen Taxo-
        nomie erheblich . Kurz gesagt: Taxonomen laufen nicht
        mehr nur mit einem Schmetterlingsnetz durchs Feld . Sie
        nutzen Sequenzierungsmaschinen, um herauszufinden,
        ob sie eine neue Art gefunden haben und wo im Stamm-
        baum sie sich am besten einordnen lässt . Die Taxonomie
        leistet so wichtige Dienste für Lebensmitteltechnik, per-
        sonalisierte Medizin, Ökologie und Landwirtschaft .
        Problematisch scheint gerade angesichts dieser ra-
        santen Entwicklung, dass die taxonomische Ausbildung
        und Forschung an den Universitäten in den vergangenen
        Jahrzehnten immer mehr zurückgefahren wurde .
        Die Leopoldina hat darum 2014 einen Bericht mit
        Empfehlungen zur Erforschung der Biodiversität vorge-
        legt, der Deutschland als einen der führenden Standorte
        moderner integrativer taxonomischer Forschung sichern
        und in die Zukunft führen soll, die uns auch für unseren
        Antrag eine wertvolle Hilfe war .
        Die Bedeutung der Taxonomie und ihr Bedarf einer
        Förderung in Forschung und Lehre wird auch von Bun-
        desseite erkannt . Mit der „Nationalen Strategie zur bio-
        logischen Vielfalt“ (NBS) verfolgt die Bundesregierung
        das Ziel, bis zum Jahr 2020 den Rückgang der biologi-
        schen Vielfalt zu stoppen .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 2017 21623
        (A) (C)
        (B) (D)
        Im Hinblick auf Handlungsziele und konkrete Maß-
        nahmen wird darin ausdrücklich auf die Notwendigkeit
        hingewiesen, die Taxonomie zu stärken . Auch in der
        Agrobiodiversitätsstrategie wird auf die Bedeutung der
        Taxonomie verwiesen . Das Bundesministerium für Bil-
        dung und Forschung (BMBF) fördert gemeinsam mit den
        Ländern die drei großen naturkundlichen Forschungs-
        museen der Leibniz-Gemeinschaft, die Senckenberg
        Gesellschaft für Naturforschung, das Museum für Natur-
        kunde Berlin sowie das Zoologische Forschungsmuseum
        Alexander Koenig in Bonn .
        Die Sammlungen dieser drei Häuser umfassen zusam-
        men mehr als 75 Millionen Objekte . Auch die Genbanken
        werden weit überwiegend mit Bundesmitteln betrieben .
        Die Forschungsmuseen haben sich dabei der Herku-
        lesaufgabe verschrieben, ihre Objekte zu digitalisieren
        und der Forschung in aller Welt zur Verfügung zu stellen .
        Die Kenntnis klassischer Methoden zur Beschreibung
        und Klassifizierung ist dabei ebenso wichtig wie die An-
        wendungen moderner OMICS-Methoden . Ein wichtiges
        Projekt ist auch das Verbundprojekt „German Barcode of
        Life“ (GBOL) . Hier engagiert sich der Bund seit 2011
        mit einem Volumen von 11 Millionen Euro . Das Projekt
        verfolgt das Ziel, die Artenvielfalt in Deutschland an-
        hand ihres genetischen DNA-Barcodes, das heißt sozu-
        sagen ihres Fingerabdrucks, zu erfassen . Zudem beteiligt
        sich der Bund umfassend an der Finanzierung großer
        Baumaßnahmen an den Standorten der drei Forschungs-
        museen .
        Um die Expertise in der taxonomischen Forschung zu
        halten, ist es in Zukunft wichtig, eine bessere Vernetzung
        von universitärer und außeruniversitärer Forschung und
        Lehre sowie die gezielte Vermittlung und Anwendung
        von OMICS-Methoden zu erreichen . Darauf weisen wir
        in unserem Antrag hin .
        Ein guter Ansatz wären hier Schwerpunktprogramme
        für integrative Taxonomie, die zur Kooperation mit au-
        ßeruniversitären Forschungseinrichten anregen . Für die
        Forschenden und die zahlreichen ehrenamtlichen Akteu-
        re, die sich in der Taxonomie engagieren, wäre es nütz-
        lich, Kompetenznetzwerke für integrative Taxonomie zu
        unterstützen, die als Ansprechpartner dienen können .
        Während der Weltbiodiversitätsrat seit einigen Jahren
        auf internationaler Ebene erfolgreich arbeitet, gewinnen
        auch europaweite Forschungsansätze immer mehr an
        Bedeutung . Hier wäre es wünschenswert, wenn sich die
        Bundesregierung dafür einsetzt, ein Programm für die
        Erfassung der Arten des europäischen Festlands und sei-
        ner maritimen Gebiete aufzulegen .
        Wir geben in unserem Antrag notwendige Impulse für
        die Stärkung der taxonomischen Forschung und damit
        zur Biodiversitätsforschung in Deutschland . Ich würde
        mich freuen, wenn Sie unserem Antrag zustimmen .
        Dr. Philipp Lengsfeld (CDU/CSU): Da meine Kol-
        legin Frau Benning die Definition der Taxonomie und
        ihre große Bedeutung bereits hinlänglich erläutert hat,
        bedarf es keiner weiteren Erklärung der Nomenklatur
        meinerseits . Dennoch möchte auch ich Bezug nehmen
        auf das 19 . Jahrhundert, dem Zeitalter der Gründung
        vieler Forschungsmuseen, genauer gesagt auf Alexander
        von Humboldt, einem Pionier auf dem Gebiet der Taxo-
        nomie, noch vor Charles Darwin, welcher zu Lebzeiten
        große Bewunderung für Humboldt empfand . Heute ist er
        der Namenspatron einer der großen Universitäten Ber-
        lins, die es sich einst zur Aufgabe machte, sein Erbe fort-
        währen zu lassen .
        So ist es umso erstaunlicher, dass die Taxonomie und
        die Errungenschaften Humboldts keinen großen Stellen-
        wert mehr in der universitären Forschung und der Lehre
        einnehmen . Dabei reicht dieser unterschätzte und man
        möchte fast sagen vergessene Forschungszweig weit in
        eine Vielzahl an Forschungsfeldern hinein, beispiels-
        weise die Genetik oder die Medizin, um nur ein paar zu
        nennen .
        Umso trauriger ist die Entwicklung zu beobachten,
        dass sich immer weniger vor allem junge Menschen für
        Biodiversität und Taxonomie interessieren . Dieser Ten-
        denz muss entgegengewirkt werden . Bund und Länder
        müssen sich für Forschungsschwerpunkte an Universitä-
        ten und für die Kooperation mit außeruniversitären For-
        schungseinrichtungen einsetzen . Dies schließt auch den
        Ausbau und die Verbesserung der Infrastrukturen mit ein,
        um exzellente Forschung in diesem Gebiet zu gewähr-
        leisten .
        Dies gilt auch für die Naturkundemuseen, die den
        Großteil der taxonomischen Forschung leisten . Sie ar-
        chivieren, schützen und erhalten die Sammlungen; sie
        erweitern ihr Exponatrepertoire, aber vor allem vermit-
        teln sie ihr Wissen und arbeiten zusammen mit Politik,
        Gesellschaft, Wissenschaft und Lehre . Somit sind sie
        der Knotenpunkt im Bereich der Biodiversität . Es muss
        also überprüft werden, inwiefern die bereits bestehenden
        OMICS-Einrichtungen und Universitäten zugänglich ge-
        macht werden können .
        Ein gutes Beispiel für einen Auftrieb im Bereich Bio-
        diversität und taxonomische Forschung ist das Museum
        für Naturkunde Berlin, welches zu den großen drei Mu-
        seen in Deutschland zählt, die das Zentrum dieser For-
        schung bilden .
        Gemeinsam besitzen sie mehr als 75 Millionen Ob-
        jekte und werden vor allem durch das BMBF in Form
        des Verbundprojekts „German Barcode of Life“ seit 2011
        gefördert . Ziel ist es, die erste genetische „Nationalbi-
        bliothek der Artenvielfalt in Deutschland“ zu erstellen .
        Dazu trägt auch das Museum für Naturkunde in Berlin
        bei, indem es sich mit Sammlungsentwicklung und Bio-
        diversitätsentwicklung in Form von eigenen Forschungs-
        aktivitäten beschäftigt .
        Das historisch einmalige Kulturgut soll in Form eines
        intelligenten Sammlungsmanagements mit globaler In-
        frastruktur zusammengetragen werden mit dem Ziel, eine
        sogenannte „Biodiversity Heritage Library for Europe“
        (BHL-Europe) in digitalem Format für den allgemei-
        nen Zugang zur Verfügung zu stellen . Um diese Art von
        Open Access möglich zu machen, bedarf es einer Viel-
        zahl an qualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern,
        an denen es derzeit jedoch mangelt . Deshalb müssen
        „Schools of Taxonomy“ eingerichtet werden, wie schon
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 201721624
        (A) (C)
        (B) (D)
        die Leopoldina in ihrer Empfehlung schreibt . Mit Mas-
        ter- und Promotionsstudiengängen unter Einbezug von
        OMICS-Technologien kann dem Personalmangel in der
        taxonomischen Forschung und dem Desinteresse an die-
        sem Gebiet ein Ende gesetzt werden .
        Aus diesen Gründen spreche ich mich ausdrücklich für
        die Annahme dieses Antrages aus . Täglich verschwinden
        mehrere Arten auf der Welt aus der taxonomischen Land-
        karte . Nur wer die Biodiversität und ihre Funktion im
        Ökosystem kennt, kann dem Artensterben entgegenwir-
        ken und Fortschritt in diversen Bereichen anregen .
        René Röspel (SPD): Jeden Tag sterben auf unserer
        Erde nach Expertenschätzungen ungefähr 130 Arten aus,
        also fast 50 000 pro Jahr – Größenordnungen, bei denen
        mir, wie sicher vielen anderen, ganz schwindelig wird .
        Mit dem vorliegenden Antrag wollen wir einen kleinen
        Beitrag dazu leisten, auf diesen Verlust hinzuweisen und
        den Prozess vielleicht etwas zu verlangsamen . Denn wir
        sind uns sicher darin einig, dass die genetische Vielfalt,
        die Vielfalt der Arten, Ökosysteme und Lebensräume ei-
        nen großen Schatz darstellen, den es zu sichern gilt .
        Um Pflanzen, Tiere und andere Organismen wirksam
        schützen zu können, muss sichergestellt sein, dass wir
        überhaupt wissen, was für Arten es auf unserer Erde gibt .
        Bisher ist nur ein Bruchteil der geschätzten 13 Millionen
        bis 20 Millionen Arten nachgewiesen . An dieser Stel-
        le setzt die Taxonomie an: Sie ist die Wissenschaft von
        der Identifizierung, Beschreibung und Klassifizierung
        von Lebewesen . Die Taxonomie spielt damit in vielen
        Lebensbereichen eine wichtige Rolle: in der Landwirt-
        schaft, der Medizin, dem Naturschutz und eben gerade
        auch in der Erforschung der Biodiversität .
        In den letzten Jahren hat die Disziplin eine regel-
        rechte Revolution erlebt: Durch die Entwicklung von
        neuen Methoden und Automatisierungstendenzen ist
        plötzlich eine ungeahnt schnelle und vollständige Erfas-
        sung molekularbiologischer Informationen von Orga-
        nismen möglich . Dieser technologische Sprung eröffnet
        den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern völlig
        neue Dimensionen . Doch mit den neuen Methoden, die
        die Fachwelt „OMICS-Technologien“ nennt, sind auch
        veränderte Anforderungen an die Forscherinnen und
        Forscher verbunden . Das eher traditionelle Forschungs-
        umfeld in Deutschland ist diesen jedoch nur teilweise
        gewachsen . Dabei ist die Schuld jedoch keineswegs bei
        den Forschenden zu suchen, nein, vielmehr wurde die
        Disziplin in den vergangenen Jahren insbesondere im
        universitären Bereich zu stiefmütterlich behandelt und zu
        wenig gefördert . Die Forschung hat sich immer weiter in
        die großen Naturkundemuseen, Genbanken und Samm-
        lungen verlagert . Diese leisten selbstverständlich eine
        exzellente Arbeit .
        Erst kürzlich konnte ich mich von den beeindrucken-
        den Leistungen des Naturkundemuseums hier in Berlin
        überzeugen . Einen Teil der Jahresauftaktsklausurtagung
        der SPD-Bundestagsfraktion haben wir nämlich dort
        verbracht . Der Generaldirektor des Museums, Professor
        Johannes Vogel, hat uns durch die Räumlichkeiten ge-
        führt . Es handelt sich um ein integriertes Forschungs-
        museum der Leibniz-Gemeinschaft – es wird also unter
        anderem auch aus Bundesmitteln des BMBF finanziert –
        und gehört zu den weltweit bedeutendsten Forschungs-
        einrichtungen auf dem Gebiet der biologischen und erd-
        wissenschaftlichen Evolution und Biodiversität .
        Das Museum schafft es, Forschung auf Topniveau
        mit einer „Aufklärungsarbeit“ zur Bedeutung und dem
        Schutz der biologischen Vielfalt für die interessierten Be-
        sucherinnen und Besucher zu verbinden . Erklärtes Ziel
        des Museums ist es, breite Schichten von Gesellschaft,
        Wirtschaft und Politik für dieses Thema zu sensibilisie-
        ren und für dringend erforderliches Handeln zu gewin-
        nen . Ich kann Ihnen allen nur ans Herz legen, das Natur-
        kundemuseum, das ja hier ganz in der Nähe ist, einmal
        zu besuchen und auf eine eigene, ganz persönliche For-
        schungsreise zu gehen .
        Das knüpft an einen weiteren Punkt an, der die Dis-
        ziplin der Taxonomie von anderen wissenschaftlichen
        Feldern abhebt . Taxonomische Forschung stellt nämlich
        geradezu ein Paradebeispiel der in den letzten Jahren viel
        diskutierten Citizen Science dar: Unzählige ehrenamtli-
        che Artenkennerinnen und Artenkenner, Kartiererinnen
        und Kartierer leisten für die Taxonomie einen wichtigen
        Forschungsbeitrag . Dazu gehört nicht zuletzt die wich-
        tige Pionierarbeit bei der Erstellung sogenannter Roter
        Listen .
        Viele von Ihnen haben wahrscheinlich mitbekommen,
        dass der Naturschutzbund Anfang Januar die Bevölke-
        rung aufgerufen hatte, eine Stunde lang Wintervögel zu
        zählen . Diese Bestandserhebung ist ein wichtiger Beitrag
        zu Umwelt- und Naturschutz .
        Ohne all diese Engagierten wäre die Wissenschaft
        heute nicht dort, wo sie steht, und auch eine Zukunft
        ohne die Unterstützung durch Ehrenamtliche ist kaum
        denkbar . Aus diesem Grund fordern wir die Bundesregie-
        rung in unserem Antrag auf, zu prüfen, wie die bundes-
        weit tätigen Ehrenamtlichen noch besser bei ihrer Arbeit
        unterstützt werden können . Dazu gehört ebenso, dass die
        Daten, die im Rahmen taxonomischer Forschung ge-
        wonnen werden, allen in diesem Bereich Tätigen, also
        gerade auch den vielen Ehrenamtlichen, kostenlos zur
        Verfügung gestellt werden; das damit verbundene Stich-
        wort Open Access sei erwähnt . An dieser Stelle haben
        wir nicht nur in der Taxonomie, sondern in der gesamten
        Forschungslandschaft noch viel vor uns .
        Doch auch trotz der exzellenten Arbeit, die sowohl
        die Ehrenamtlichen als auch die Museen, Genbanken
        und Sammlungen jeweils verrichten, müssen die Uni-
        versitäten in Zukunft wieder stärker in die taxonomische
        Forschung eingebunden werden . Wir brauchen an geeig-
        neten Universitätsstandorten nicht zuletzt Schwerpunkt-
        programme der integrativen Taxonomie und angewand-
        ten Ökologie . Erfolgreich wird das jedoch nur sein, wenn
        wir konsequent auf eine Vernetzung mit den außeruniver-
        sitären Akteuren setzen . Die Verzahnung dieser mit dem
        Erneuerungs- und Ausbildungspotenzial der Universitä-
        ten sichert nicht nur die Zukunft der deutschen Exper-
        tise im Bereich der Taxonomie, sondern führt auch zu
        gewaltigen Synergien, die wir nicht einfach liegen lassen
        dürfen . Wenn wir das vorhandene taxonomische Poten-
        http://www.wgl.de/
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 2017 21625
        (A) (C)
        (B) (D)
        zial ausschöpfen wollen, dann müssen Universitäten mit
        außeruniversitären Instituten, Museen, Genbanken und
        Forschungssammlungen wieder stärker zusammenarbei-
        ten .
        Auch international ist eine Vernetzung der verschie-
        denen Akteure unabdingbar . Hier sollte geprüft werden,
        wie die wissenschaftliche Zusammenarbeit innerhalb Eu-
        ropas, aber zum Beispiel gerade auch mit Schwellenlän-
        dern unterstützt werden kann .
        Doch damit eine nationale wie internationale Zusam-
        menarbeit überhaupt möglich ist, muss zuvorderst das
        Fundament stimmen: Ohne eine angemessene bauliche
        und infrastrukturelle Ausstattung zur Unterbringung und
        Erforschung in den diversen relevanten Institutionen ist
        gute Forschung kaum möglich . Hieran müssen wir wei-
        terhin gemeinsam mit den Ländern arbeiten .
        Ferner sind spezielle auf die Taxonomie zugeschnit-
        tene Forschungsprogramme notwendig . Durch den Fö-
        deralismus und die daraus resultierenden unterschiedli-
        chen Ansprechpartner und Forschungsförderer wird die
        Arbeit der Taxonomen in Deutschland jedenfalls nicht
        immer erleichtert .
        Darüber hinaus fehlt es der Taxonomie überall an
        wissenschaftlichem Nachwuchs . Wir fordern die Bun-
        desregierung daher auf, solche Strukturen zu unterstüt-
        zen und gegebenenfalls aufzubauen, die den Nachwuchs
        insbesondere unter Berücksichtigung der neuen Anfor-
        derungen, die durch den Einzug der oben erwähnten
        OMICS-Technologien entstehen, fördern .
        Fakt ist, dass es sich bei der Taxonomie nicht um eine
        Nischenforschung handelt, die man sich mehr oder we-
        niger leistet, sondern um eine Basiswissenschaft, auf der
        vieles gründet, und die deshalb eine angemessene Bedeu-
        tung und Förderung haben sollte .
        Wenn wir dies beherzigen, dann leisten wir einen
        wichtigen Beitrag für den Erhalt der Biodiversität – ein
        Ziel, dem sich die Bundesrepublik Deutschland übrigens
        bereits mit Unterzeichnung des Übereinkommens über
        die biologische Vielfalt 1992 in Rio de Janeiro verpflich-
        tet hat . Da haben wir auch 25 Jahre später noch eine
        Menge Arbeit vor uns .
        Ich freue mich, dass wir dieses Thema, das mit einem
        ähnlichen Antrag in der vergangenen Legislaturperiode
        noch an der Ablehnung unseres aktuellen Koalitionspart-
        ners gescheitert ist, endlich auf den Weg bringen .
        Birgit Menz (DIE LINKE): Bereits im Jahr 2010
        gab es einen Antrag der SPD zum Thema Taxonomie
        beziehungsweise Kartografie der Biodiversität. Es wäre
        hilfreicher gewesen, hätte man diesem bereits damals
        zugestimmt . Heute, sieben Jahre später, hat das Problem
        nichts an Aktualität verloren – im Gegenteil .
        Derzeit erleben wir auf der Erde das größte Arten-
        sterben seit dem Zeitalter der Dinosaurier . Jeden Tag
        verschwinden zahlreiche Spezies unwiderruflich von
        unserem Planeten . Und als ob das nicht genug wäre,
        ist eine immer größer werdende Anzahl von Tieren und
        Pflanzen akut in ihrer Existenz gefährdet. Laut der Roten
        Liste der Weltnaturschutzunion IUCN sind derzeit etwa
        24 000 Arten nachweislich vom Aussterben bedroht .
        Für die Bekämpfung des Problems existieren bereits
        internationale sowie nationale Programme, um den Bio-
        diversitätsverlust einzudämmen . Doch wie können Pro-
        gramme und gute Absichten helfen, wenn die eigentli-
        chen Ursachen für den Artenschwund in Bereichen zu
        finden sind, die nur langsam und widerwillig einsehen,
        dass der derzeitige Umgang mit unserem Planeten nicht
        nur fatale Folgen für Umwelt, Tiere und Pflanzen, son-
        dern auch für den Menschen nach sich zieht?
        Ein Umdenken in Landwirtschaft, Verkehr sowie ein
        verantwortungsvoller Umgang beim Verbrauch von Flä-
        chen und Ressourcen ist unabdingbar, um dem globalen
        Artensterben auf ganzheitlicher Ebene zu begegnen .
        Denn beim Schutz der Biodiversität geht es auch um un-
        sere eigene Zukunft .
        Um das einmal zu verdeutlichen: Wie der Weltrat für
        Biologische Vielfalt, IPBES, vorrechnet, sind beispiels-
        weise Bestäuber und deren Leistungen für Nahrungsmit-
        tel im Wert von 213 Milliarden bis 523 Milliarden Euro
        verantwortlich . Weltweit sind jedoch Bienen, Schmetter-
        linge und zahlreiche andere Bestäuber vom Aussterben
        bedroht, was ein enormes Risiko für die globale Nah-
        rungsmittelsicherheit darstellt .
        Infolge dieser ernstzunehmenden Bedrohung schlos-
        sen sich auf der letztjährigen Biodiversitätskonferenz
        in Cancún – auch auf Initiative Deutschlands – mehrere
        Staaten mit der Absicht zusammen, Bienen und Insekten
        mit gezielten Strategien in Zukunft besser schützen zu
        wollen . 2010 hatten darüber hinaus die EU sowie 2011
        die Vertragsstaaten des Übereinkommens zur biologi-
        schen Vielfalt (CBD) im Rahmen des Nagoya-Protokolls
        bereits den Stopp des Verlustes der Artenvielfalt bis 2020
        ausgerufen . Es bleibt jedoch unklar, wie diese Vorhaben
        umgesetzt und deren Ergebnisse eigentlich überprüft
        werden können .
        Die Taxonomie ist in diesem Zusammenhang ein
        enorm wichtiger Wissenschaftszweig . Ohne die Erkennt-
        nisse dieser Disziplin wären viele Tier‑ und Pflanzen-
        arten sowie deren Leistungen bis heute unentdeckt ge-
        blieben . Und ohne das Engagement vieler ehrenamtlicher
        und hauptberuflicher Taxonomen wüssten wir auch nicht,
        welche Arten es zu schützen gilt, noch welches Ausmaß
        der Verlust von Arten in vielen Regionen eigentlich hat .
        Damit die Taxonomie ihrer verantwortungsvollen
        Rolle auch weiterhin gerecht werden kann, braucht es
        vor allem eine bessere Nachwuchsförderung . Schon
        jetzt bekommt die Disziplin die Auswirkungen fehlender
        Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissen-
        schaftler zu spüren . Der Mangel an Lehrstühlen und da-
        mit verbundene Defizite bei der Ausbildung des wissen-
        schaftlichen Nachwuchses sind ein ernsthaftes Problem .
        Politik und Wissenschaft müssen gemeinsam Lösun-
        gen finden, um den Wissenschaftszweig der Taxonomie
        stärker zu fördern und dessen Zukunftsfähigkeit zu ga-
        rantieren . Die Taxonomie ist wesentlicher Bestandteil,
        will man den Artenverlust nicht nur stoppen, sondern
        auch für dessen Erholung sorgen .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 201721626
        (A) (C)
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        Zudem müssen nationale und internationale Abkom-
        men und Strategien zum Schutz der Biodiversität kon-
        sequent umgesetzt und stärker gefördert werden . Dies
        kann jedoch nur gelingen, wenn die Fördersummen für
        Programme zum Erhalt der Artenvielfalt um ein Vielfa-
        ches gesteigert und gleichzeitig biodiversitätsschädliche
        Subventionen massiv abgebaut werden .
        Viele Spezies gehen verloren, noch bevor diese über-
        haupt bestimmt oder entdeckt werden konnten . Dabei
        liegt noch so vieles im Verborgenen . Vor allem in Regen-
        wäldern und Ozeanen gibt es Unmengen an unerforsch-
        ten und zahlreiche zu entdeckende Arten . Es ist daher
        wichtig, Arten und Bestände wissenschaftlich so gut es
        geht zu erfassen, um das unvollständige Bild allen Le-
        bens auf unserem Planeten weiter zu komplettieren .
        Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wenige
        Monate vor dem Ende dieser Wahlperiode bringen die
        Koalitionsfraktionen heute einen Antrag zum Schutz der
        Biodiversität und zum Ausbau taxonomischer Forschung
        zur erstmaligen Beratung ein .
        Mit fällt auf, dass sich dieser Antrag einreiht in eine
        Sammlung forschungspolitischer Schaufensteranträge,
        die Sie kurz vor Ende Ihrer Regierungszeit quasi an sich
        selbst richten . Es stellt sich die Frage, warum Sie diese
        Themen nicht früher angegangen sind und was Sie davon
        tatsächlich noch umsetzen können .
        Dies vorausgeschickt, kann ich mich vielen Ihrer For-
        derungen zum Schutz der biologischen Vielfalt im Allge-
        meinen und nach mehr Forscherinnen und Forschern zur
        Erfassung der Artenvielfalt im Besonderen anschließen .
        Es reicht allerdings überhaupt nicht aus, den Artenrück-
        gang nur besser erfassen zu wollen .
        Tagtäglich sterben Arten aus, tagtäglich verlieren wir
        durch Umweltzerstörung, Klimakrise und durch Eingrif-
        fe des Menschen in die Natur an Biodiversität – welt-
        weit wie hierzulande . Millionen von Arten sind noch
        unentdeckt, viele von ihnen werden ausgerottet, bevor
        sie überhaupt bekannt werden . Große Ökosysteme wie
        die Tiefsee, der Boden oder das Grundwasser sind noch
        weitgehend unerforscht . Es gilt, neben dem Ausbau der
        Forschung eine aktive und ambitionierte Umwelt- und
        Naturschutzpolitik zu betreiben, die dem Artenrückgang
        entgegenwirkt .
        In der Biodiversitätspolitik hat diese Bundesregierung
        nichts vorzuweisen, und das lässt Ihren Antrag umso
        schwächer und substanzloser erscheinen .
        Die Wichtigkeit der Taxonomie als grundlegende Wis-
        senschaft für die Lebenswissenschaften, von der Biodi-
        versitätsforschung über die Wirkstoffforschung bis hin
        zur Infektionsmedizin, die wir ja heute unter TOP 24
        ebenfalls beraten, ist unbestritten .
        Valide Forschungsdaten sind neben dem unmittel-
        baren wissenschaftlichen Nutzen auch Voraussetzung
        zukunftsorientierter Politik . Die Weiterentwicklung der
        Taxonomie in Deutschland wie auch international sollten
        wir deshalb als Teil einer auf Nachhaltigkeit setzenden
        Forschungspolitik begreifen und entsprechend fördern .
        Dies gilt auch für verwandte Forschungsbereiche: Um
        beispielsweise die Folgen der Klimakrise zu bewältigen,
        müssen Anpassungsstrategien von Ökosystemen, Le-
        bensräumen und Arten erforscht werden . Dieses trans-
        formative Wissen über Resilienz wird für politische Wei-
        chenstellungen dringend gebraucht .
        Die nachhaltige Ausrichtung unseres Forschungs- und
        Wissenschaftssystems auf die großen gesellschaftlichen
        Herausforderungen bleibt unsere zentrale Aufgabe . Das
        beginnt bei den Perspektiven des wissenschaftlichen
        Nachwuchses, der bei der Taxonomie wegzubrechen
        droht . Gerade hier lassen sich die Folgen einer einsei-
        tigen, auf kurzfristige wirtschaftliche Verwertbarkeit
        ausgerichteten Politik eindrucksvoll beobachten: Durch
        den signifikante Abbau von Lehrstühlen wurden die ent-
        sprechende Forschungslandschaft und insbesondere die
        Grundlagenforschung in Deutschland ausgetrocknet .
        Diese fatale Entwicklung gilt es umzukehren .
        Einen besonderen Schatz im Bereich der Biodiver-
        sitätsforschung stellen die Sammlungen wie auch die
        Forschungsmuseen, etwa das Naturkundemuseum „ne-
        benan“ hier in Berlin und die drei Museen der Leib-
        niz-Gemeinschaft, dar . Der Verlust von Sammlungen
        wäre ein Verlust von Wissen, da jeweils große Teile der
        Sammlungen unwiederbringlich sind . Es kommt darauf
        an, das vorhandene Wissen zu bewahren und zu erwei-
        tern .
        Wir sollten auf die lange Tradition der Naturforschung
        aufbauen und die interessierte Zivilgesellschaft daran
        systematisch beteiligen . Erinnert sei an dieser Stelle an
        die Insektenforscherin und Künstlerin Maria Sibylla Me-
        rian, die sich schon vor über 300 Jahren international und
        interdisziplinär vernetzte . Die Aufzeichnung von Natur-
        beobachtungen vor Ort wird heute auch unter dem Stich-
        wort Bürgerwissenschaften bzw . Citizen Science zusam-
        mengefasst . Ereignisse wie das Insektensterben haben
        viele private Initiativen zum Schutz der biologischen
        Vielfalt angeregt . Projekte der „Bildung für Nachhaltige
        Entwicklung“ und ökologische Freiwilligendienste set-
        zen sich für den Erhalt von natürlichen Lebensräumen
        ein – sie fehlen in Ihrem Antrag völlig . Diese Formen
        zivilgesellschaftlichen Engagements von Menschen aus
        unterschiedlichen Generationen gilt es zu würdigen und
        einzubeziehen .
        Wichtig bleibt jedoch, festzuhalten, dass weder das
        Ehrenamt noch außeruniversitäre Forschung ein regel-
        mäßiges nationales Monitoring und die integrierte For-
        schung und Ausbildung an den Universitäten ersetzen
        können . Die Hochschulen müssen in die Lage versetzt
        werden, Forschung und Lehre auf der Höhe der Zeit zu
        leisten, moderne Methoden zu nutzen und Forschungs-
        ergebnisse einer breiten Öffentlichkeit zur Verfügung zu
        stellen . Hier müssen Bund und Länder gemeinsam tätig
        werden, bevor noch mehr Wissen und Infrastrukturen
        verloren gehen .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 2017 21627
        (A) (C)
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        Anlage 9
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
        CSU und SPD: Pharmazeutische Forschung gegen
        Infektionskrankheiten stärken – Nationale Wirk
        stoffoffensive starten (Tagesordnungspunkt 24)
        Stephan Albani (CDU/CSU): Im Rückblick auf die
        vergangenen Wochen hier im Plenum und in den Dis-
        kussionen in der Öffentlichkeit bleiben mir zwei abso-
        lute Unworte des Jahres hängen: „postantibiotisch“ und
        „postfaktisch“ .
        „Postfaktisch“ ist der Abschied einer faktenbasierten,
        rationalen Entscheidungsfindung und der Rückfall in
        dogmatische Zeiten vor der Aufklärung – kurzum Mit-
        telalter .
        „Postantibiotisch“ ist die verbale Kapitulationserklä-
        rung gegenüber zunehmenden Antibiotikaresistenzen .
        Beides ist noch nicht Realität und sollte von uns durch
        wiederholtes Erwähnen auch nicht zu ebendieser ge-
        macht werden .
        In Sachen „postantibiotisch“ hier und heute eine gute
        Nachricht: Hier gibt es politische Gegenmaßnahmen . So
        wurden auf unsere Initiative hin 20 Millionen Euro im
        Haushalt für eine Förderinitiative im Bereich der Wirk-
        stoffforschung bereitgestellt .
        Wir haben hier parlamentarisch schnell gehandelt und
        die Sache in die Hand genommen . Warum haben wir dies
        getan? Lassen Sie mich kurz die aktuelle Situation an-
        hand von Fakten darstellen:
        Wir leben in einer Zeit, in der die zunehmende Ver-
        breitung von Erregern – hier reden wir über bakterielle
        Erreger –, die gegen einen oder mehrere Wirkstoffe re-
        sistent geworden sind, zunimmt . Inzwischen sterben in
        Europa 25 000 Bürger pro Jahr, weil Antibiotika durch
        Resistenzen nicht mehr oder nicht mehr ausreichend wir-
        ken (Angabe des Europäischen Parlaments) .
        Aber: Laut Zahlen der Deutschen Gesellschaft für
        Krankenhaushygiene sterben allein in Deutschland
        jährlich 30 000 Menschen an Infektionen durch Kran-
        kenhauskeime . Weltweit sterben aktuell jährlich rund
        700 000 Menschen aufgrund von Antibiotikaresistenzen;
        bei ungehinderter Weiterentwicklung der Resistenzen
        wären dies im Jahr 2050 rund 10 Millionen Todesfälle pro
        Jahr bei gleichzeitigen Kosten für das Gesundheitswesen
        von rund 100 Milliarden US-Dollar pro Jahr (Prognose
        im Auftrag der britischen Regierung, internationale Ver-
        einigung pharmazeutischer Hersteller und Verbände) .
        Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat Anfang
        des vergangenen Jahres 2016 erstmals einen Bericht über
        Antibiotikaresistenz veröffentlicht und das Problem als
        gravierend beschrieben . Und dies kann ich aus meiner
        beruflichen Erfahrung nur in aller Form unterstreichen.
        Ende des 19 . Jahrhunderts wurde durch Robert Koch
        hier in Berlin eine Ära steigender Lebenserwartungen
        mit allgemein verfügbaren Antibiotika eingeläutet . Heu-
        te jedoch laufen wir nun Gefahr, uns in einer Post-Anti-
        biotika‑Ära wiederzufinden, in der Ärzte über keine Me-
        dikamente zur Behandlung von ernsthaften Infektionen
        mehr verfügen . Dieses kann und darf nicht sein, und es
        ist auch weder notwendig noch unausweichlich .
        Zuletzt erschütterte die Nachricht über den Tod ei-
        ner 70-jährigen Patientin, die Enterobakterien – einem
        Krankenhauskeim – erlag, der gegen alle 26 verfügbaren
        Antibiotika resistent ist . Sie hatte sich mutmaßlich auf
        einer Indienreise infiziert und erlag der Erkrankung. Die
        Patientin stirbt nach erfolgloser Behandlung letztlich an
        einer Blutvergiftung .
        Vor allem in unseren Krankenhäusern sind multire-
        sistente Erreger ein großes und noch weiter wachsendes
        Problem . Wir müssen also dringend handeln, liebe Kol-
        leginnen und Kollegen .
        Es bedarf eines Strukturwandels in unserer Gesund-
        heitspolitik sowie einer besseren Vernetzung und Koor-
        dination in der Wirkstoffforschung, um hiermit dringend
        benötigte neue Heilmittel entwickeln zu können .
        Aus diesem Grund haben wir, die CDU/CSU-Fraktion
        im Deutschen Bundestag, uns im vergangenen Jahr vehe-
        ment für eine „Nationale Wirkstoffinitiative” als überge-
        ordnetes Rahmenprogramm im Bundesministerium für
        Bildung und Forschung eingesetzt und zusammen mit
        dem Koalitionspartner – hier gilt mein herzlicher Dank
        dem Kollegen Röspel und seinem Team – in einen Antrag
        gegossen .
        Warum ist diese „Nationale Wirkstoffinitiative“ not-
        wendig? Es gibt eine Vielzahl von institutionellen und
        projektbezogenen Fördermaßnahmen im Bereich der
        Wirkstoffforschung auf nationaler und internationaler
        Ebene . Aber es gibt keine erkennbare übergeordnete
        Strategie wie etwa analog zum „Aktionsplan Medizin-
        technik“, für den wir uns hier Mitte 2016 erfolgreich
        starkgemacht haben .
        Wie zuletzt im April 2016 mit Vorstellung der Ergeb-
        nisse des ressortübergreifenden Pharmadialogs will das
        BMBF die Förderung neuartiger Therapieansätze und
        Diagnostika für bakterielle Infektionen ausbauen .
        Die Forderung von „der Aufnahme einer Forschungs-
        förderung für neue Wirkstoffe“ haben wir auch schon mit
        in unseren Koalitionsvertrag 2013 verhandelt . Wir kom-
        men also quasi nun zur dringend notwendigen Umset-
        zung einer dringend notwendigen neuen Strategie .
        Koalitionsvertrag, Seite 25: „Wir werden die Wirk-
        stoffforschung stärken, um beispielsweise im Bereich
        der Antibiotika zur Bekämpfung von Multiresistenz und
        Sepsis die Entwicklung neuer Medikamente zu fördern .“
        Und genau darum geht es in unserem Antrag . Wir brau-
        chen neue Präparate, die als Reserve dienen, wenn alle
        anderen Mittel versagen .
        Die scheinbar berechtigte Kritik, dass die Pharmain-
        dustrie hier die Entwicklung neuer Antibiotika vernach-
        lässigt, ist zwar nachvollziehbar, aber nicht fair . Wir
        verlangen als Gesellschaft hier die sehr kostenintensive
        Entwicklung von neuen Medikamenten, mit der zugleich
        damit verbundenen Aussage, dies nicht oder nur sehr re-
        striktiv zum Einsatz kommen zu lassen .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 201721628
        (A) (C)
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        Wir haben insofern hier einen gesamtgesellschaftli-
        chen Auftrag, Forschung, Testung und Produktion von
        Antibiotika gemeinsam zu realisieren . Aus anderen Be-
        reichen der Gesundheitswirtschaft am Beispiel der PDPs
        (Product Development Partnerships; auch: Produktent-
        wicklungspartnerschaften) kennen wir dies bereits . Hier
        hat man alternative Methoden gefunden, um die Proble-
        matik der Wirtschaftlichkeit anzugehen .
        Weiter zeigt auch der achtbare Erfolg vom 22 . Januar
        von Minister Schmidt, beim G-20-Agrarministertreffen
        in Berlin, bei der Nutzung von Antibiotika als Wachs-
        tumsförderer in der Landwirtschaft auszusteigen . Auch
        soll die Behandlung von kranken Tieren mit Antibiotika
        verringert werden .
        Bevor hier aber voreilig Ursachen einseitig verteilt
        werden: Auch der Einsatz von Antibiotika in der Hu-
        manmedizin sollte zurückhaltender erfolgen – nämlich
        da, wo wirklich notwendig –, und die Patienten müssen
        die Schemata auch eigenverantwortlich durchgehend
        einnehmen und nicht bei Wiederlangen des Wohlgefühls
        selbstständig die Medikamente absetzen .
        Alle müssen zusammenwirken, damit der Rückfall in
        Zeiten von Pest und Co . verhindert wird . Es ist unsere
        Verantwortung, eine zukunftsweisende Politik zu gestal-
        ten .
        Mit dieser neuen „Nationalen Wirkstoffoffensive“
        haben wir nun eine Art „Schuhlöffel“ gefunden, der uns
        hier hineinhelfen soll: in einen begonnenen Prozess einer
        dringend notwendigen Weiterentwicklung der Wirkstoff-
        forschung, in einer langfristig angelegten Strategie, einer
        konzertierten Aktion aller an diesem Prozess Beteiligten
        in Forschung, Industrie und Gesellschaft .
        Und dies soll der Anfang sein .
        Patricia Lips (CDU/CSU): Die Zahlen sind alarmie-
        rend: Allein in Europa sterben rund 25 000 Menschen pro
        Jahr an Infektionskrankheiten, weil die jahrzehntelang
        verlässliche pharmazeutische Allzweckwaffe, das Anti-
        biotikum, nicht mehr hinreichend wirkt . Weltweit sollen
        es 700 000 Opfer der Antibiotikaresistenz sein, Tendenz
        stark steigend .
        Die moderne Medizin ist in allen Stufen der Bakteri-
        enbekämpfung, von der alltäglichen Atemwegsinfektion
        bis zur Hightechversorgung wie in der Transplantations-
        medizin, grundsätzlich in Gefahr, wenn Antiinfektiva
        versagen . Es ist nicht übertrieben, wenn Experten der
        WHO vor einer post-antibiotischen Ära warnen, in der
        schließlich schon eine vermeintlich harmlose Wund-
        infektion wieder lebensbedrohlich und tödlich werden
        kann .
        Diese enorme Gefahr hat damit zum einen globale
        Ausmaße erreicht, denn wir sind eine Welt und haben
        eine Welt-Gesundheit als kollektives Gut, weil Krank-
        heiten vor Grenzen nicht Halt machen .
        Gleichzeitig ist sie aber auch für jeden von uns greif-
        bar; es geht eben nicht (mehr) um Epidemien in fernen
        Ländern, wie zum Beispiel bei den sogenannten armuts-
        assoziierten Krankheiten .
        Nein, wir sind auch hier in Deutschland mit seiner
        Medizinversorgung auf höchstem flächendeckenden Ni-
        veau nicht auf der Insel der Glückseligen, sondern selbst
        direkt gefährdet . Denn auch hierzulande versagen her-
        kömmliche Antibiotika immer häufiger gegen multiresis-
        tente Keime .
        Wer von uns kennt nicht aus dem unmittelbaren Fami-
        lien- und Freundeskreis bereits die Fälle lebensbedroh-
        licher Krankenhausinfektionen mit dem Keim MRSA .
        Oder war gar selbst schon einmal durch eine Infektion
        ernsthaft oder gar lebensbedrohlich erkrankt, und die An-
        tibiotika schlugen nicht oder erst spät an? Die Gefahr ist
        also allgegenwärtig und absolut real .
        Hinzu kommt, dass die Erforschung neuer Arzneimit-
        tel teuer und riskant ist; der Antibiotikamarkt liefert nicht
        die gewünschten Erträge, ist also nicht rentabel ange-
        sichts sehr hoher Investitionen .
        Unter den deutschen Pharmakonzernen forschen gera-
        de noch zwei an neuen Antibiotika, und es werden kaum
        neue Medikamente auf den Markt gebracht; die Entwick-
        lungszeiten von der Idee bis zur Anwendung betragen für
        neue Medikamente rund 14 Jahre . Wir müssen also ein
        strukturelles Marktversagen feststellen .
        Aktuell sehr präsent ist die Diskussion nicht nur in
        der medizinischen und gesundheitswissenschaftlichen
        Fachcommunity, sondern war zum Beispiel auch The-
        ma kürzlich beim Forum Bioethik des Ethikrates und
        ist Gegenstand einer sehr grundlegenden Stellungnahme
        der Leopoldina . Der Befund ist eindeutig: Wir benötigen
        dringend neue Wirkstoffkandidaten für wirksame Antiin-
        fektiva und dazu neue innovative Wege der Arzneimittel-
        entwicklung .
        Was wurde bereits getan, und was ist weiter zu tun?
        Ressortübergreifend wurde die Deutsche Antibiotika-Re-
        sistenzstrategie entwickelt . Die Wirkstoffforschung wird
        durch mehrere Förderformate des Bundesministeriums
        für Bildung und Forschung unterstützt, die in unserem
        Antrag näher ausgeführt werden . Schließlich will das
        Bundesministerium für Bildung und Forschung als Er-
        gebnis des Pharmadialogs die Förderung neuartiger The-
        rapieansätze und Diagnostika für bakterielle Infektionen
        vorantreiben .
        Auch außenpolitisch hat die Bundesregierung ge-
        handelt und das Thema Antibiotikaresistenz zu einem
        Schwerpunkt seiner G-7-Präsidentschaft gemacht; Ak-
        tionspläne von EU und WHO zur Antibiotikaresistenz
        wurden verabschiedet .
        Ich möchte hier auch ausdrücklich unsere internatio-
        nale Verantwortung im Hinblick auf die Entwicklungs-
        zusammenarbeit betonen und nenne die Stichworte Ebo-
        laepidemie oder die vernachlässigten Tropenkrankheiten .
        Mit unserem heute vorgelegten Antrag „Pharmazeu-
        tische Forschung gegen Infektionskrankheiten stärken –
        Nationale Wirkstoffoffensive starten“ wollen wir nun
        einen weiteren notwendigen Impuls setzen und eine um-
        fassende nationale Strategie für die Wirkstoffforschung
        voranbringen .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 2017 21629
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        Die bisherigen Forschungsansätze müssen im Sinne
        einer abgestimmten Gesamtstrategie gebündelt und die
        Grundlagenforschung gestärkt werden . Neue Koopera-
        tionsformate zwischen Forschung und Industrie müssen
        besser gefördert werden . Die Forschungsanstrengungen
        zu den drei Infektionskrankheiten mit hoher Mortalität
        (Tuberkulose, HIV/Aids und Malaria) wie auch zu den
        vernachlässigten Tropenkrankheiten müssen intensiviert
        werden .
        Neben der Entwicklung neuer Medikamente und An-
        tibiotika sind als weitere Maßnahmen im Sinne einer Ge-
        samtstrategie auch eine bessere Information von Ärzten
        und Patienten über die Gefahren von Resistenzen und die
        Intensivierung von Hygiene- und Präventionsmaßnah-
        men erforderlich; ich erinnere hier an die aktuellen Ver-
        einbarungen des Pharmadialogs vom letzten Jahr .
        Wir müssen schließlich dafür Sorge tragen, dass der
        Antibiotikagebrauch in der Human- und Veterinärmedi-
        zin auf das unbedingt Erforderliche reduziert wird, damit
        das Antibiotikum weiter verlässlich Leben retten kann .
        Der vorliegende Antrag ist selbstredend nicht isoliert
        zu betrachten, sondern reiht sich ein in unsere Ziele, An-
        träge und Förderprojekte zur Verbesserung der Gesund-
        heitsforschung, insbesondere zur Beschleunigung des
        Innovationstransfers oder auch zur Forschung bei ver-
        nachlässigten, armutsassoziierten Krankheiten . Er passt
        sich ein in unser Konzept zur Förderung der Gesund-
        heitsforschung und -versorgung, lokal, national wie auch
        global . Denn unsere Gesundheit ist das höchste Gut, das
        es zu schützen gilt .
        Bei allen berechtigten Sorgen das Gute zum Schluss:
        Die Koalitionsfraktionen haben gehandelt . Ich freue
        mich, dass wir bereits in den letzten Haushaltsberatungen
        für die nächsten vier Jahre im Einzelplan 30 20 Millio-
        nen Euro für die Wirkstoffforschung im Rahmen einer
        neuen Initiative einstellen konnten . Dafür danke ich den
        Kolleginnen und Kollegen im Haushaltsausschuss und
        dem Ministerium und freue mich auf die weiteren Bera-
        tungen im Ausschuss .
        René Röspel (SPD): „Wir werden die Wirkstofffor-
        schung stärken, um beispielsweise im Bereich der Anti-
        biotika zur Bekämpfung von Multiresistenzen und Sep-
        sis die Entwicklung neuer Medikamente zu fördern .“ So
        steht es im Koalitionsvertrag, und ich freue mich, dass
        wir heute mit dem vorliegenden Antrag dieses Vorhaben
        weiter umsetzen . Ich hätte mir allerdings gewünscht,
        dass wir dieses wichtige Thema zu einer anderen Uhrzeit
        debattieren; denn es ist aktueller denn je und stellt unse-
        re Gesellschaft, aber auch die Gesundheitswirtschaft vor
        große Herausforderungen .
        Denn zurzeit stecken wir in einem Dilemma . Einer-
        seits benötigen wir im Vergleich zu früher immer mehr
        Medikamente – weil wir älter werden als noch unsere
        Vorfahren und auch Volkskrankheiten wie Herz-Kreis-
        lauf‑Erkrankungen oder Diabetes immer häufiger vor-
        kommen –; andererseits wird die Entwicklung dieser
        notwendigen Medikamente aber immer schwieriger .
        Eine dramatische Entwicklung zeigt sich gegenwär-
        tig insbesondere in der zunehmenden Antibiotikaresis-
        tenz und der schwierigen Suche nach neuen Antibiotika .
        Noch vor einigen Jahren waren Antibiotika die „Wun-
        derwaffe“ der Medizin . Jedes Antibiotikum wirkt auf ein
        mehr oder weniger breites Bakterienspektrum und tötet
        die Bakterien entweder ab oder sorgt für eine Hemmung
        des Wachstums bzw . der Vermehrung des Bakteriums . Im
        Idealfall bekämpfen Antibiotika so gefährliche Bakterien
        und können selbst schwerste Infektionen heilen . Heute
        haben sich jedoch gegen zahlreiche Antibiotika Resis-
        tenzen gebildet, wodurch auch einfache Infektionen mit
        resistenten Bakterien lebensbedrohlich werden können .
        Die Ursachen für Antibiotikaresistenzen sind vielfäl-
        tig und nicht alle Resistenzen sind von Menschenhand
        verursacht . Einige Bakterien sind bereits aufgrund ihrer
        genetischen Eigenschaften gegen Antibiotika unemp-
        findlich. Relevanter sind aber heute jene Antibiotika-
        resistenzen, die aufgrund vermehrten beziehungsweise
        massenhaften Einsatzes in der Human- und Tiermedizin
        oder fehlerhafter Anwendung entstehen und gravierende
        Folgen für unsere Gesundheit haben können .
        Neben der Sensibilisierung der Patientinnen und Pa-
        tienten für den richtigen Umgang mit Antibiotika und
        ihrem rückläufigen Einsatz in der Landwirtschaft sind
        wir insbesondere auf eine starke Wirkstoffforschung an-
        gewiesen . Die in diesem Bereich forschenden Wissen-
        schaftlerinnen und Wissenschaftler identifizieren neue
        Wirkstoffkandidaten, aus denen neue Arzneimittel zur
        Behandlung von Infektionskrankheiten und damit auch
        neue Antibiotika entwickelt werden können . Antibioti-
        karesistenzen müssen hierbei zwar einen Schwerpunkt
        bilden, aber auch im Kampf gegen die „großen Drei“ –
        Tuberkulose, Malaria und HIV/Aids – sowie die vielen
        anderen vernachlässigten und armutsbedingten Krank-
        heiten sind neue Medikamente unverzichtbar .
        Leider ist die Entwicklung von neuen Arzneimitteln
        ein langer, risikoreicher wie kostspieliger Prozess, und
        viele Wirkstoffkandidaten scheitern schon in frühen
        Entwicklungsphasen . Jahrzehntelange Forschungs- und
        Entwicklungsarbeit sowie Kosten zwischen 500 Millio-
        nen und 1 Milliarde Euro sind keine Seltenheit . Hinzu
        kommt, dass Wirkstoffe, die es bis zur Markteinführung
        schaffen, oftmals keine wirklichen „Neuheiten“ sind und
        bereits bekannten und bewährten Wirkstoffen ähneln .
        An den Universitäten, in der Hochschulmedizin, den
        Forschungseinrichtungen und in der Gesundheitswirt-
        schaft mangelt es nicht an exzellenten Forscherinnen und
        Forschern . Dennoch stockt die Arbeit an neuen Medika-
        menten . Deswegen ist es aus meiner Sicht von beson-
        derer Bedeutung, dass wir die Grundlagenforschung im
        Bereich der Wirkstoffforschung stärken . Nur so können
        wir Erkenntnisse über neue Wirkstoffkandidaten erhalten
        und innovative Wege in der Entwicklung neuer Arznei-
        mittel bestreiten .
        Aber auch die klinische Forschung muss weiter ge-
        stärkt werden . Die Wirkstoffentwicklung darf nicht aus
        Kosten- und Risikogründen vernachlässigt werden . Ich
        möchte es noch einmal betonen: Die Wirkstoffforschung
        kann nur dann erfolgreich sein, wenn wir alle Phasen
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 201721630
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        der Arzneimittelentwicklung – von der Grundlagenfor-
        schung bis zur klinischen Forschung – berücksichtigen
        und stärken und dabei die einzelnen Stärken der beteilig-
        ten Partner und vorhandene Forschungsinfrastrukturen
        für den größtmöglichen Erfolg nutzen und fördern, nicht
        nur auf nationaler Ebene, sondern auch in der europäi-
        schen und internationalen Zusammenarbeit .
        Mit verschiedenen Initiativen, Formaten und der insti-
        tutionellen Förderung der Forschungseinrichtungen för-
        dert das Bundesministerium für Bildung und Forschung,
        auch in ressortübergreifender Zusammenarbeit unter
        anderem mit dem Gesundheitsministerium, bereits die
        Wirkstoffforschung . Der dramatische Anstieg der Zahl
        der Todesopfer aufgrund von resistenten Erregern und
        die insgesamt geringe Anzahl von neuen Arzneimitteln
        zeigt aber deutlich, dass wir eine verstärkte Forschung
        benötigen, damit neue Arzneimittel entwickelt werden
        können .
        Mithilfe einer Nationalen Wirkstoffoffensive wollen
        wir sowohl die Wirkstoffforschung weiter stärken als
        auch die nationale und internationale Vernetzung von
        universitären und außeruniversitären Forschungseinrich-
        tungen sowie Unternehmen vorantreiben . Dafür stellen
        wir in den kommenden vier Jahren weitere 21 Millionen
        Euro bereit – eine Summe, bei der wir jeden Euro effizi-
        ent nutzen und schon vorhandene Maßnahmen ressort-
        übergreifend aufeinander abstimmen müssen .
        Dass wir die Gefahr erkannt haben, zeigt auch die
        Schwerpunktsetzung der deutschen G-20-Präsident-
        schaft . Die Bekämpfung von Antibiotikaresistenzen –
        auch mithilfe der Entwicklung neuer Wirkstoffe – steht
        ganz oben auf der Agenda . Mit einer starken Wirkstoff-
        forschung können wir dieses Ziel erreichen . Mit dem
        vorliegenden Antrag ebnen wir dafür den Weg .
        Kathrin Vogler (DIE LINKE): Im heute eingebrach-
        ten Antrag setzen sich die Koalitionsfraktionen mit einer
        der wichtigsten und kritischsten Fragen auseinander, mit
        der wir im Bereich der Gesundheitsforschung konfron-
        tiert sind: Antibiotika haben im 20 . Jahrhundert zweifel-
        los einen großen Beitrag zur Bekämpfung von lebens-
        bedrohlichen Infektionserkrankungen geleistet . Noch im
        19 . und frühen 20 . Jahrhundert sind die Menschen mas-
        senhaft an bakteriellen Erkrankungen wie Cholera, Ty-
        phus, Syphilis, Wundbrand oder Tuberkulose gestorben .
        Erst die Entwicklung des Penicillins, dem später weitere
        Wirkstoffe folgten, nahm dieser tödlichen Gefahr ihren
        Schrecken .
        Doch der Schrecken kehrt zurück. Immer häufiger
        infizieren sich Menschen mit Keimen, gegen die die
        gängigen Antibiotika nichts mehr ausrichten können .
        Multiresistente Erreger sind eine große und zunehmende
        Gefahr für die öffentliche Gesundheit . Schon heute ster-
        ben allein in Deutschland mehr Menschen an resistenten
        Erregern als an Verkehrsunfällen oder an Aids .
        Warum entwickeln die Arzneimittelhersteller in so ei-
        ner Situation nicht vorrangig neue Antibiotika? Auch da-
        rauf weisen die Koalitionsfraktionen in ihrem Antrag hin:
        Die Gewinnerwartung für die Unternehmen ist zu gering .
        Antibiotika haben aus Sicht der Unternehmen nämlich
        den Nachteil, dass sie nicht dauerhaft eingenommen wer-
        den dürfen . Gerade mit neuen Mitteln gegen die multire-
        sistenten Keime wird man besonders restriktiv umgehen
        müssen, um keine neuen Resistenzen zu erzeugen . Und
        die größte Krankheitslast zum Beispiel bei Tuberkulose
        tragen die Menschen in armen Ländern mit schwachen
        Gesundheitssystemen, die sich teure neue Arzneimittel
        nicht leisten können .
        Deswegen fordern Sie nun zu Recht, dass der Staat
        mehr Geld in die Hand nehmen muss, um die Erfor-
        schung und Entwicklung neuer Wirkstoffe und Arznei-
        mittel zu fördern . Doch Ihr Ansatz ist unzureichend, weil
        Sie sich nicht aus dem markt- und gewinnorientierten
        Denken lösen können .
        Was wir brauchen, ist ein grundsätzliches Umsteuern
        in der Gesundheitsforschung . Die Weltgesundheitsorga-
        nisation beschreibt den höchstmöglichen Gesundheitszu-
        stand als Menschenrecht, das jedem Menschen unabhän-
        gig von seiner Herkunft und sozialen Situation zusteht .
        Dementsprechend ist es nicht Aufgabe privatwirtschaft-
        licher Unternehmen, dieses Recht zu sichern, sondern
        Aufgabe der Staaten .
        Die Grundlagenforschung und auch die klinische
        Erprobung mit Steuergeldern zu fördern, dann aber die
        Patente und damit zukünftige Erträge in der Hand der
        Unternehmen zu lassen, ist im Kern eine Umverteilung
        aus den Taschen der Steuerzahler in die Taschen der Ak-
        tionäre von Bayer, Pfizer und Co. Wir schlagen Ihnen
        daher vor: Ändern Sie die Hochschulgesetze oder das
        Patentrecht so, dass öffentlich finanzierte Forschungser-
        gebnisse auch in staatlicher Hand bleiben! Die so entwi-
        ckelten Medikamente könnten dann in Lizenz produziert
        werden – überall auf der Welt, zu Preisen, die auch die
        Armen bezahlen können .
        Und auch die Forschungsstruktur in den deutschen
        Hochschulen wurde und wird von Ihnen nicht in Rich-
        tung Allgemeinwohl umgestaltet . Teil des Problems ist
        doch, dass die Hochschulen und Forschungseinrichtun-
        gen eben in ihrer Forschung nicht vorwiegend am All-
        gemeinwohl orientiert sind, weil sie angewiesen sind auf
        externe Zuwendungen, sogenannte Drittmittel, für jedes
        einzelne Forschungsprojekt . Auch die prekäre Situation
        der allermeisten Nachwuchsforscher, die sich von einem
        befristeten Vertrag zum nächsten hangeln, steht einer
        Kontinuität und Nachhaltigkeit in der medizinischen,
        biochemischen und pharmakologischen Forschung dia-
        metral entgegen .
        Auch hier vermisse ich Vorschläge zum Umsteuern .
        Die Entwicklung neuer Antiinfektiva ist eine gesamtge-
        sellschaftliche Aufgabe von einem Format, das mutige
        und politisch unbequeme Entscheidungen erfordert .
        Die von Ihnen geforderte Nationale Wirkstoffoffensi-
        ve wird wohl doch eher ein Offensivchen; denn Sie for-
        dern ja Mittel dafür lediglich „im Rahmen der zur Verfü-
        gung stehenden Haushaltsmittel“ . Mit den 17 Millionen
        Euro, die im Haushalt eingestellt sind, kommen Sie aber
        nicht weit . Und den Antrag der Linken zum Haushalts-
        plan über 500 Millionen Euro für nichtkommerzielle,
        industrieunabhängige Pharmaforschung haben Sie ja ab-
        gelehnt .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 2017 21631
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        Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Krank-
        heitserreger, gegen die keine Antibiotika mehr wirken,
        sind eine zunehmende Gefahr für die menschliche Ge-
        sundheit . Sie sind zugleich eine drängende Herausfor-
        derung für die Forschung . Denn Antibiotikaresistenzen
        nehmen weltweit zu, und alte Wirkstoffe stoßen an ihre
        Grenzen .
        Viele forschende Arzneimittelhersteller haben sich
        in der Vergangenheit aus der Antibiotikaforschung zu-
        rückgezogen, weil andere Bereiche lukrativer schienen .
        Dieses Marktversagen führte zu einer Forschungslücke .
        Der Nachschub an neuen Entwicklungen in der For-
        schungspipeline versiegt . Im Antrag der Koalition wird
        richtigerweise darauf hingewiesen, dass die in den letz-
        ten Jahren neu auf den Markt gekommenen Produkte
        letztlich nur „Me-Too-Präparate“ sind, also Medikamen-
        te ohne echten Zusatznutzen .
        In der Problemanalyse liegen wir also nah beieinan-
        der . Nun ist aber die Frage, was kluge Forschungsför-
        deransätze sind, die helfen, das Problem nachhaltig in
        den Griff zu bekommen . Und da ist es zu wenig, vor al-
        lem auf mehr Kooperation zwischen Unternehmen und
        öffentlich geförderten Forschungseinrichtungen zu set-
        zen und eine „Nationale Wirkstoffinitiative“ auszurufen.
        Ihre Vorschläge sind vor allem zu wenig innovativ . Sie
        ducken sich zum Beispiel weg bei der doch auf der Hand
        liegenden Frage: Was können wir eigentlich konkret ler-
        nen aus der Diskussion um das Marktversagen bei den
        „vernachlässigten Krankheiten“ für die Antibiotikafor-
        schungsförderung? Denn die Ausgangslage ist doch eine
        ähnliche: Auch der Markt der „vernachlässigten Krank-
        heiten“ ist für „Big Pharma“ zu wenig finanziell attrak-
        tiv, sodass es an Forschung und Entwicklung mangelt .
        Deshalb setzt das BMBF beispielsweise auf Produktent-
        wicklungspartnerschaften . Auch andere Instrumen-
        te wie Knowledge Sharing oder die Entkoppelung von
        Entwicklungskosten und Produktpreis werden diskutiert
        und wären lohnenswert, auf ihr Potenzial für die Antibio-
        tikaforschung übertragen zu werden . Da zeigt sich der
        Antrag aber leider ideenarm .
        Ich vermisse auch, dass ein Instrument, welches in
        der internationalen Diskussion viel debattiert wird, näm-
        lich das eines globalen Antibiotikaforschungsfonds,
        von Ihnen mit keiner Silbe erwähnt wird . Was geben
        Sie der Bundesregierung in den kommenden G-7- und
        G-20-Prozessen zu diesem Ansatz auf den Weg? Dazu
        schweigt der Antrag und vergibt hier die Chance, die De-
        batte voranzutreiben .
        Klar ist auch: Selbst wenn Maßnahmen aus dem Koa-
        litionsantrag die Pharmaindustrie beflügelten, neue Ent-
        wicklungen auf den Markt zu bringen – bis wir tatsäch-
        lich über diese neuen, dringend benötigten Medikamente
        verfügen, werden noch Jahre vergehen . Deshalb ist es
        wichtig, seitens der Forschung auch Lösungsansätze jen-
        seits der Pharmazie in den Blick zu nehmen, die schneller
        Wirkung entfalten können .
        Dazu gehört, sich anzuschauen, welche Gründe für
        die zunehmenden Antibiotikaresistenzen bestehen und
        wie Prävention möglich ist . Das baden-württembergische
        Wissenschaftsressort zum Beispiel fördert ein Verbund-
        projekt der drei Universitätsklinika Tübingen, Freiburg
        und Heidelberg, das mögliche Wege einer Übertragung
        von antibiotikaresistenten Bakterien vom Tier auf den
        Menschen untersucht, und zwar vor allem durch den Ver-
        zehr von Fleisch . Solche Fragestellungen helfen weiter,
        weil sie eines Tages Ideen zur Ursachenbekämpfung lie-
        fern können .
        Auf einigen Gebieten mangelt es allerdings gar nicht
        so sehr an Erkenntnissen, sondern wir haben es mit Um-
        setzungsdefiziten zu tun. So ist es der verbreitete Einsatz
        von Antibiotika in der Landwirtschaft, die dann über die
        Nahrungskette und nicht zuletzt über das Trinkwasser
        von uns Menschen aufgenommen werden .
        Ebenfalls wichtig sind Hygiene-Standards, übrigens
        nicht nur im Krankenhaus, sondern auch in Pflegehei-
        men oder in den Rettungswagen . Personalschlüssel an
        besonders vulnerablen Orten wie Intensivstationen oder
        Frühchenstationen oder auch das Screening von Risiko-
        patienten sind weitere wichtige Ansatzpunkte .
        Die Beispiele zeigen: Es sind nicht allein die phar-
        mazeutischen Antworten, die uns weiterbringen können .
        Vielmehr muss Gesundheitsforschung auch Perspektiven
        integrieren, die auf soziale Innovationen und transdiszi-
        plinäre Forschung abzielen, beispielsweise um Prozes-
        sabläufe in der Krankenversorgung besser zu organi-
        sieren . Bei all diesen Baustellen erwarten wir, dass die
        Koalition in und über die Wirkstoffinitiative hinaus aktiv
        wird, um Infektionskrankheiten wirksam einzudämmen .
        Anlage 10
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung ein
        gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über das
        Fahrlehrerwesen und zur Änderung anderer stra
        ßenverkehrsrechtlicher Vorschriften (Tagesord
        nungspunkt 25)
        Patrick Schnieder (CDU/CSU): Als wir im
        Jahr 2013 den Koalitionsvertrag aufgesetzt haben, haben
        sich die zukünftigen Herausforderungen des Verkehrs
        bereits am Horizont abgezeichnet . Um diese Veränderun-
        gen zu bewältigen, reicht es nicht, an der Infrastruktur zu
        arbeiten . Wir müssen an den Verkehrsteilnehmern arbei-
        ten, die am Verkehr der Zukunft teilhaben werden . Und
        wir setzen – so wie wir es damals beschlossen haben –
        bei der Fahrausbildung und den Fahrlehrern an .
        Auch wenn die Verbesserung der Qualität der ver-
        kehrspädagogischen Ausbildung das Ausgangsmotiv für
        die vorliegende Reform war, hat sich eine ganze Reihe
        von weiteren Problemen aufgetan, vor denen deutsche
        Fahrschulen heute stehen . Daher greifen wir mit dem
        vorliegenden Gesetzentwurf nicht nur das Koalitionsver-
        sprechen auf, sondern nehmen auch die hinzugetretenen
        Probleme der Gegenwart gleich mit ins Visier:
        Wir stellen fest, dass die Anzahl der Personen mit
        Fahrlehrerlaubnis kontinuierlich abnimmt . Sie ist das
        siebte Jahr in Folge gesunken, auf nun 45 238 Personen .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 201721632
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        Gleichzeitig steigt das Durchschnittsalter der Fahrlehrer
        in Deutschland seit 2006 an und liegt aktuell bei 53 Jah-
        ren . Der überwiegende Teil der Fahrlehrerlaubnisinha-
        ber (75,5 Prozent) ist im Jahr 2015 45 Jahre oder älter
        und wird sich in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren
        aus dem Beruf verabschieden . Die Altersstruktur ist ein
        großes Problem für die Branche . Daher müssen wir neue
        Wege gehen, um den Beruf attraktiver und zukunftsfähig
        zu machen .
        Auch der Frauenanteil an den Fahrlehrern sollte sich
        ändern . Frauen stellen derzeit weniger als 9 Prozent aller
        Fahrlehrer in Deutschland . Die Zeiten, in denen das Auto
        und Fahrschulen eine reine Männerdomäne sind, sollten
        jedoch längst gezählt sein .
        Und nicht zuletzt hängt der Nachwuchsmangel auch
        mit der fehlenden finanziellen Perspektive des Berufes
        zusammen . Das Gehalt der Fahrlehrer schwankt je nach
        Region und Auftragslage enorm . Im Jahr 2014 waren
        rund 10 000 Fahrschulen in Deutschland registriert .
        Die Fahrschulen erwirtschafteten im Schnitt etwas über
        42 000 Euro je beschäftigter Person . Der Sachaufwand
        und die sonstigen betrieblichen Aufwendungen verzeh-
        ren jedoch große Teile des Umsatzes . In strukturschwa-
        chen Gebieten mit wenigen Fahrschülern und niedrigen
        Fahrstundenpreisen verdienen Fahrlehrer tatsächlich oft
        nicht mehr als 1 400 Euro brutto . Nur in Ballungsgebie-
        ten mit höheren Fahrstundenpreisen und einem größeren
        Schülerpool sind höhere Verdienste möglich . Der Netto-
        lohn eines deutschen Fahrlehrers ist mehr als bescheiden;
        für viele Fahrlehrer ist es schwierig, den Lebensunterhalt
        alleine mit Fahrstunden zu bestreiten, und gänzlich un-
        möglich, etwas für das Alter zurückzulegen . Die Nach-
        wuchsprobleme kriegen wir so jedenfalls nicht in den
        Griff .
        Hinzu kommt eine sinkende Nachfrage nach Fahr-
        stunden. Der demografische Wandel macht auch vor den
        Fahrschulen nicht halt . Die Zahl der Fahrerlaubnisprü-
        fungen ist zwischen 2006 und 2013 jedes Jahr gesunken,
        erst seit 2014 steigt sie wieder leicht . Die Zahl der Fahr-
        schüler sank bundesweit zuletzt von etwa 1 Million auf
        rund 800 000, und der Wettbewerbsdruck in der Branche
        verschärft sich . Die Fahrschulen als verkehrspädagogi-
        sche Kleinbetriebe spüren die Auswirkungen der gebur-
        tenschwachen Jahrgänge mehr als deutlich .
        Neben der Alterung der Gesellschaft führen Experten
        die Zahlen auch auf den sinkenden Stellenwert des Au-
        tomobils zurück . Der öffentliche Nahverkehr ist in den
        deutschen Großstädten ausreichend attraktiv; ein Auto
        wird zunehmend überflüssig. Laut Studien gibt die ju-
        gendliche Zielgruppe ihr Geld im Zweifel eher für Reisen
        oder das neueste Smartphone als für den Führerschein
        aus . Wir beobachten, dass das Auto in den Städten zuse-
        hends vom Statussymbol zu einer Dienstleistung mutiert .
        Der Verkehr wandelt sich in einer Geschwindigkeit,
        die vor wenigen Jahren noch nicht abzusehen war . Und
        mit ihm wandeln sich die Anforderungen an die Verkehrs-
        teilnehmer . Wir sind aufgefordert, zu reagieren und bei
        der Wissensvermittlung durch die Fahrlehrer anzusetzen .
        Deren Berufsstand ist auch in Zukunft nicht in Gefahr;
        die Berufsbeschreibung dürfte sich jedoch grundlegend
        ändern . Es geht nicht länger nur um Sicherheitsabstand
        und Schulterblick . Aus Fahrlehrern werden Mobilitätsbe-
        rater und Fahrzeugsoftware-Pädagogen .
        Der Vorwurf, die deutschen Fahrschulen würden bei
        den praktischen Prüfungen hohe Durchfallquoten herbei-
        führen, um durch die zusätzlichen Fahrstunden die Ein-
        bußen durch den allgemeinen Rückgang an Fahrschülern
        zu kompensieren, kann durch einen einfachen Blick in
        die Statistik widerlegt werden . Die Durchfallquoten bei
        den praktischen Prüfungen sind seit Jahren annähernd
        identisch und liegen zwischen 25 und 26 Prozent . Die
        Durchfallquoten der Theorieprüfung steigen jedoch kon-
        tinuierlich . Hier sollte die Schuld nicht bei den Fahrleh-
        rern gesucht werden . Stattdessen müssen wir uns fragen,
        wie wir die insbesondere auf dem Land immer jünger
        werdenden Fahrschüler besser auf die theoretische Prü-
        fung vorbereiten und ihnen die Prüfungsnervosität neh-
        men .
        Es ist zu beobachten, dass Jugendliche heute mehr
        Unterricht als noch vor 20 Jahren nehmen müssen . Zu
        ständig neuen Vorschriften und Verboten kommen mit
        dem Kreisverkehr oder dem Grünpfeil auch neue Ver-
        kehrselemente hinzu . Die unaufhaltsame Automatisie-
        rung bringt beinahe monatlich neue Assistenzsysteme
        hervor, die Fahraufgaben übernehmen oder unterstützen
        können . Schon heute macht die Einweisung in Abstands-
        und Parkassistenten, elektronische Anfahrtshilfen und
        Spurhaltesysteme 5 Prozent der Fahrunterrichtszeit aus .
        Dennoch muss der Fahrzeugführer auch in absehbarer
        Zukunft zahlreiche, auch nicht-fahrbezogene Aufgaben
        weiterhin selbst erfüllen . Auch teilautomatisierte Fahr-
        zeuge müssen in einen betriebs- und verkehrssicheren
        Zustand gebracht werden; die Assistenzsysteme müssen
        kontrolliert werden .
        Die neuen Technologien sind für die Fahrlehrer selbst-
        redend auch mit höherem Sachaufwand verbunden, wenn
        bestehende Fahrzeuge nachgerüstet werden müssen .
        Damit die Anzahl der erforderlichen Fahrstunden nicht
        wesentlich steigt und der Führerscheinerwerb bezahlbar
        bleibt, muss der Fahrunterricht noch besser und effizien-
        ter werden .
        Bedauerlicherweise sind Fahranfänger weiterhin die
        am stärksten unfallgefährdete Gruppe aller Verkehrsteil-
        nehmer . Viele Fahranfänger überschätzen ihr Können .
        Dieses Gefühl falscher Souveränität ist die Ursache
        dafür, dass sie in den ersten Monaten nach der bestan-
        denen Fahrprüfung überdurchschnittlich viele schwere
        Unfälle verursachen . Erst mit steigender fahrpraktischer
        Erfahrung nimmt das Unfallrisiko merklich ab . Dies un-
        terstreicht die Bedeutung, die Aneignung von Fahrkom-
        petenz vor dem Beginn des selbstständigen Fahrens zu
        optimieren .
        Vor dem Hintergrund dieser Herausforderungen ist es
        wichtig und notwendig, dass wir als Gesetzgeber reagie-
        ren . Die zentrale Frage ist: Wie können wir die Qualität
        der Fahrausbildung erhöhen, die Nachwuchsprobleme
        der Fahrlehrerbranche beheben und die Einnahmensi-
        tuation der Fahrschulen verbessern, ohne dass sich die
        Kosten für die Fahrschüler weiter erhöhen?
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 2017 21633
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        Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf präsentieren wir
        vier Instrumente, mit denen wir die Probleme angehen .
        Erstens . In Zeiten von Nachwuchsmangel ist es die
        richtige Entscheidung, den Zugang zum Beruf des Fahr-
        lehrers durchlässiger und flexibler zu gestalten. Wir
        senken das Mindestalter auf 21 Jahre ebenso ab wie die
        horrenden Gebühren, die bislang bei den für die Prü-
        fungsabnahme zuständigen technischen Prüfstellen fällig
        werden . Die grundsätzliche Eignung wollen wir nicht
        aufweichen . Der Fahrlehrbewerber muss in Zukunft min-
        destens eine abgeschlossene Berufsausbildung in einem
        anerkannten Lehrberuf oder eine gleichwertige Vorbil-
        dung besitzen . Aber auch hier sollen Ausnahmen mög-
        lich werden und für mehr Flexibilität sorgen .
        Zweitens . Die Fahrlehreraus- und -weiterbildung wird
        dem Verkehr von heute und der Realität von morgen an-
        gepasst . Hierfür haben wir die Inhalte, Methoden und
        organisatorischen Abläufe der Fahrschulausbildung in
        Deutschland einer kritischen Betrachtung unterzogen .
        Innovationen wie Elektromobilität und Teilautomati-
        sierung halten ebenso Einzug in den Lehrplan wie die
        Schärfung der Vermittlung verkehrspädagogischer Kom-
        petenzen, die Verkehrswahrnehmung und die Gefahren-
        vermeidung in der Praxis . Das selbstständige Theorieler-
        nen der Fahrschüler soll besser vorbereitet werden, auch
        mithilfe der Implementierung von Smartphone-Apps und
        interaktiven Lernformen . Gleichzeitig erhält die Ausbil-
        dung der Fahrlehrer eine optimierte zeitliche Abfolge,
        und die Anforderungen an Ausbildungsfahrschulen und
        die Fahrlehrerfortbildung werden präzisiert .
        Drittens . Um die Einhaltung der Vorschriften zu ga-
        rantieren, schaffen wir den Rahmen für eine bundesein-
        heitliche Überwachung der Fahrschulen . Die Vorgaben
        für das Fahrlehrerpersonal werden ebenso präzisiert wie
        die Maßnahmen, die bei einer Feststellung von Mängeln
        ergriffen werden . Auch die Schulung des mit der päda-
        gogischen Überwachung betrauten Personals wird klar
        geregelt . Die Überwachungsfristen bleiben unverändert .
        Die Länder erhalten großzügige Übergangsregelungen
        und können die Details auch danach in eigener Zustän-
        digkeit ausgestalten .
        Viertens . Besonders problematisch ist die Frage, wie
        man die Einnahmensituation der Fahrschulen verbessern
        kann, ohne dass die Preise für Fahrstunden erhöht wer-
        den . Bereits heute werden für theoretische und praktische
        Prüfung zusammen bis zu 1 900 Euro fällig . Für die Füh-
        rerscheinaspiranten, die durch eine Prüfung fallen, wird
        es noch teurer . Ich möchte aber unter keinen Umständen
        sehen, dass der Führerschein, der ja auch für nicht weni-
        ge Stellen ein Einstellungskriterium ist, zu einem Privi-
        leg von Kindern besserverdienender Familien wird . Da-
        her verfolgen wir einen anderen Ansatz .
        Die Kostenstrukturerhebungen deutscher Fahrschulen
        zeigen, dass die Bruttogehälter und Sozialaufwendungen
        im Jahr 2014 nur 39 Prozent der Ausgaben deutscher
        Fahrschulen umfassten . In der Konsequenz sind 61 Pro-
        zent der Ausgaben sachgebunden und durch Synergieef-
        fekte potenziell absenkbar . Daher setzen wir auf Entbü-
        rokratisierung und Kooperation .
        Indem wir die Anforderungen an Unterrichtsräume
        vereinfachen, arbeitsrechtliche Spezialvorgaben strei-
        chen und nicht mehr zeitgemäße Nachweispflichten weg-
        fallen, werden die Fahrschulen um mehr als 84 Millionen
        Euro pro Jahr entlastet . Die Fahrschulen sollen weniger
        Zeit mit Formalien verbringen müssen und mehr Zeit für
        ihre Schüler erhalten .
        Gleichzeitig wollen wir den Fahrschulen die Tür für
        Kooperationen öffnen, um Sachkosten aufteilen zu kön-
        nen . Neu werden Gemeinschaftsfahrschulen auch für
        Fahrschulinhaber unterschiedlicher Klassen möglich .
        Außerdem wird Fahrschulen die Möglichkeit gegeben,
        dort, wo es Sinn macht, einzelne Ausbildungsteile an
        eine kooperierende Fahrschule zu übertragen . Auch die
        bestehende Beschränkung der maximal möglichen An-
        zahl von Zweigstellen soll entfallen . Gleichzeitig erwar-
        ten wir, dass die Kooperationsmöglichkeiten nicht dazu
        führen, dass pädagogische Verantwortungen verwischt
        werden . Es wird daher festgelegt, dass der Auftraggeber
        eines Ausbildungsteils die Gesamtverantwortung trägt,
        während die kooperierende Fahrschule die übernom-
        mene Teilausbildung verantwortet . Um dies zuverlässig
        überprüfen zu können, sind auch die kooperierenden
        Fahrschulen aufgefordert, Dokumentationen und Auf-
        zeichnungen bereitzuhalten .
        Es gibt jedoch einen Punkt, den ich kritisch sehe, und
        das ist der im Entwurf vorgesehene Ausschluss von Be-
        schäftigungsverhältnissen mit freien Mitarbeitern . Ich
        kann nicht nachvollziehen, aus welchem Grund Fahr-
        schulen – insbesondere auch in Zeiten schwankender
        Auftragslagen – auf einen Zugang zu freischaffenden
        Fahrlehrern verzichten sollten . Die Beschäftigungs-
        statistik verrät, dass freiberufliche Fahrlehrer heute die
        Ausnahme sind . Gleichzeitig nimmt die Zahl der sozi-
        alversicherungspflichtig und geringfügig beschäftigten
        Fahrlehrer kontinuierlich zu: allein seit 2012 um 13 Pro-
        zent. Die Fahrschulbranche befindet sich bereits inmitten
        eines Strukturwandels . Ich verstehe nicht, weshalb man
        den Fahrschulen an dieser Stelle Flexibilität nehmen soll-
        te .
        Eine Senkung der allgemeinen Gebührenlast würde
        uns hingegen nicht weiterbringen . Die deutschen Fahr-
        schulen führen bereits heute weniger als 1 Prozent ihres
        Umsatzes als Steuern und öffentliche Abgaben ab .
        Der vorliegende Gesetzentwurf versucht viel, und
        ihm gelingt viel . Wir bereiten unsere Fahrschüler nicht
        nur auf die Herausforderungen von morgen vor, sondern
        senden über die Reform auch wichtige Entwicklungsim-
        pulse an die Fahrschulbranche . Den Fahrlehrern wird ein
        ausreichender Spielraum eröffnet, den für die Kompe-
        tenzvermittlung erforderlichen Ausgleich zwischen der
        Einhaltung vorgeschriebener Ausbildungsstandards und
        einer pädagogischen Individualisierung der Lehrinhalte
        herbeizuführen .
        Stefan Zierke (SPD): Das Fahrlehrergesetz ist in
        der jetzigen Form nicht mehr auf dem aktuellen Stand .
        Mehrfach sind Fahrschulverbände an uns herangetreten .
        Eigentlich wird eine Reform schon seit Jahren gefordert
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 201721634
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        und ist auch meiner Einschätzung nach seit Jahren über-
        fällig .
        Sowohl die Ausbildung der Fahrschüler als auch der
        Fahrlehrer ist – insbesondere unter pädagogischen Ge-
        sichtspunkten – nicht mehr zeitgemäß . Rahmenbedin-
        gungen und Anforderungen ändern sich, und dann müs-
        sen wir auch die gesetzlichen Gegebenheiten anpassen .
        Schon heute sind zum Beispiel Fahrsimulatoren mög-
        lich . Diese können Situationen simulieren, die schlecht in
        realen Situationen darstellbar sind, aber als Übung eine
        gute Grundlage für sicheres und kontrolliertes Fahren
        bilden . Dies ist jetzt nur ein Beispiel, dass der aktuelle
        Gesetzesrahmen nicht mehr den tatsächlichen und tech-
        nischen Voraussetzungen entspricht und daher Bedarf
        besteht, das Gesetz zu modernisieren .
        Dies hat die Koalition im Koalitionsvertrag aufge-
        nommen und der Bundesregierung ins Stammbuch ge-
        schrieben . Es gilt, die Ausbildung der Fahranfänger zu
        verbessern und die Qualität der pädagogischen Ausbil-
        dung der Fahrlehrer zu erhöhen .
        Mit dem nun vorliegenden Gesetzentwurf werden da-
        her einige Punkte aufgenommen, die ich kurz aufzählen
        und erläutern möchte:
        Erstens: Die Kooperationsmöglichkeiten der Fahr-
        schulen sollen verbessert werden . Dabei ist es wichtig,
        die entsprechenden Aufsichtsmöglichkeiten entspre-
        chend zu berücksichtigen .
        Zweitens: Die Zugangsvoraussetzungen zum Fahrleh-
        rerberuf müssen reformiert werden . Hier gibt es unter-
        schiedliche Auffassungen, ob man diese eher enger oder
        weiter fassen solle . Nun liegt der Entwurf vor, und wir
        werden uns nun auch mit diesem Punkt noch einmal be-
        schäftigen und hier mit Blick auf die Praktiker, also die-
        jenigen, die es später betrifft, behutsam agieren .
        Drittens: Es soll eine Modernisierung der Fahrlehrer-
        aus- und -weiterbildung erfolgen . Hier geht es um die
        Lehrpläne und das Verfahren der Aus- und Weiterbil-
        dung . Das muss nun auch angegangen werden, damit die
        Modernisierung nun endlich auf den Weg gebracht wird .
        Viertens: Es soll eine Entbürokratisierung stattfinden.
        Hier werden wir in den nun zu führenden Diskussionen
        einen Mittelweg zwischen Reduzierung von Verwal-
        tungsaufwand und notwendiger Kontrolle gehen müs-
        sen . Ja, der Verwaltungsaufwand muss reduziert werden .
        Aber wir brauchen auch nachvollziehbare Kontrollmög-
        lichkeiten .
        Fünftens: Die Fahrschulüberwachung soll einheitli-
        cher – als dies bisher der Fall ist – stattfinden. Auch hier
        müssen wir eventuell noch einmal genauer in das Gesetz
        schauen und entsprechende Diskussion im nun anlaufen-
        den parlamentarischen Verfahren finden.
        Wir werden in den anstehenden Beratungen als
        SPD-Bundestagsfraktion darauf hinwirken, dass wir so-
        wohl die Interessen der Fahrlehrerinnen und Fahrlehrer,
        als auch die Interessen der Fahrschülerinnen und Fahr-
        schüler sinnvoll miteinander verbinden .
        Es ist ein hohes Gut, ortsnahe und kompetente Fahr-
        schulen in ganz Deutschland zu haben . Von der Ucker-
        mark bis in den hintersten Bayerischen Wald wollen wir
        die Fahrschullandschaft stabilisieren und modernisieren,
        damit junge Menschen sicher und verantwortungsvoll
        auf unseren Straßen Auto und Motorrad fahren können .
        Thomas Lutze (DIE LINKE): Die Linksfraktion be-
        grüßt, dass die Koalition doch noch die Vereinbarung des
        Koalitionsvertrages umsetzen will, die Ausbildung der
        Fahranfänger zu verbessern und auch die pädagogische
        Ausbildung der Fahrlehrer zu erhöhen . Dies wurde aller-
        höchste Zeit; schließlich hatte die Verkehrsministerkon-
        ferenz bereits im April 2012 das Verkehrsministerium
        aufgefordert, eine umfassende Reform des Fahrlehrer-
        rechts in Angriff zu nehmen, das seit 1969 kaum ange-
        passt wurde . Inzwischen steht das Projekt schon in der
        dritten Legislatur auf der Agenda . Es ist begrüßenswert,
        dass der Gesetzentwurf weitestgehend dem Eckpunkte-
        papier der Länder folgt, in dem zahlreiche sinnvolle Vor-
        schläge gemacht wurden .
        Es wurde dringend Zeit, die Fahrlehrerausbildung,
        aber auch gerade die Weiterbildung anzupacken – junge
        Fahranfänger sind im Straßenverkehr besonders gefähr-
        det . Fahranfänger verursachen immer noch überdurch-
        schnittlich viele Unfälle . Aufgrund der fehlenden prakti-
        schen Erfahrung im Straßenverkehr wird es sich hierbei
        immer um eine Risikogruppe handeln . Doch Verbesse-
        rungen in der Fahrausbildung sind ein wichtiger Beitrag
        für die Erhöhung der Verkehrssicherheit .
        Dass der Besitz der Führerscheine A und C als zwin-
        gende Voraussetzung für den Erwerb der Fahrlehrerlaub-
        nisklasse BE wegfallen soll, ist erst einmal begrüßens-
        wert . Oft wird der Lkw- und Motorradführerschein von
        den Fahrlehrern nicht gebraucht . Durch diese Änderung
        wird der Zeitaufwand reduziert, und es sinken vor allem
        auch die Kosten für die Ausbildung . Die ohnehin schon
        zu geringe Zahl an Fahrlehreranwärtern würde in der Zu-
        kunft ansonsten weiter sinken . Dennoch sollten wir die
        Folgeentwicklung dieser Änderung im Auge behalten .
        Gegebenenfalls müssen hier in der Zukunft doch noch
        einmal Anpassungen vorgenommen werden: Schließ-
        lich verschwindet ja nicht der Bedarf nach Kompetenz
        für diese Fahrzeuge . Machen wir uns nichts vor: Die
        Lockerung von Zugangsmöglichkeiten ist oft eine Grat-
        wanderung . Wir müssen also darauf achten, dass bei der
        Erhöhung der Quantität die Qualität nicht auf der Strecke
        bleibt .
        Besonders wichtig ist uns, dass mit der Reform der
        Fahrlehrerausbildung künftig der Pädagogik mehr Ge-
        wicht beigemessen wird . Dass sich hierbei die Ausbil-
        dungszeit nur gering, um zwei Monate, verlängert, ist
        ebenfalls begrüßenswert . Fahrlehrer, die ihre Ausbildung
        vor 30 oder 40 Jahren gemacht haben, kamen zu einem
        nicht geringen Teil vom Militär . Man muss kein Linker
        sein, um einzusehen, dass die Pädagogik, die als Fahrleh-
        rer nötig ist, bei der Bundeswehr sicherlich nicht vermit-
        telt wurde . Das soll nicht heißen, dass diese Fahrlehrer
        keinen guten Job machen . Doch in der heutigen Aus-
        bildung müssen wir Anpassungen vornehmen . Fahrleh-
        rer müssen heute auch auf die veränderte Altersstruktur
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 2017 21635
        (A) (C)
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        vorbereitet werden . Neben 18- oder 17-Jährigen sitzen
        zunehmend Menschen mittleren Alters in der Fahrschu-
        le . Soll sich auf unterschiedliche Bedürfnisse eingelassen
        werden, ist pädagogisches Geschick notwendig . Daher
        ist es auf der einen Seite richtig, Ausbildungsinhalte zu
        straffen und von überflüssigem Ballast zu befreien; auf
        der anderen Seite muss der Kompetenzvermittlung der
        Raum gegeben werden, den eine gute Ausbildung ver-
        langt .
        Damit der Fahrlehrerberuf attraktiver wird, müssen
        in erster Linie aber vor allem vernünftige Arbeitsbedin-
        gungen und eine Verbesserung der Angestelltenkultur
        und der Verdienstmöglichkeiten erzielt werden . Hier gibt
        es großen Veränderungsbedarf . Der Fahrlehrermangel
        ist einerseits darauf zurückzuführen, dass die Politik zu
        lange nicht mit geeigneten Maßnahmen gegengesteuert
        hat; anderseits sind manche Probleme auch hausgemacht .
        Wer sich einmal in der Branche umgehört hat, wird fest-
        stellen, dass Arbeitsverträge ohne Arbeitszeitkonto, ohne
        Festgehalt und ohne bezahlte Fortbildung nicht selten
        sind . Zudem kommt es immer wieder vor, dass arbeits-
        rechtliche Bestimmungen nicht eingehalten werden: Fei-
        ertage und Urlaub werden nicht bezahlt, oder es gibt kei-
        ne Gehaltsfortzahlung im Krankheitsfall . Hier hat aber
        auch die Politik zu lange weggeschaut .
        In Zukunft muss es daher auch heißen, bei den Bran-
        chenmindestlöhnen für Fahrschulen genauer hinzuschau-
        en: Erbringt eine Fahrschule Leistungen im Bereich der
        Aus- und Weiterbildung, gilt nämlich ein Mindestlohn
        von 12,50 Euro bzw . 13,35 Euro . Das muss in der Praxis
        aber auch tatsächlich eingehalten werden . Dies gilt gera-
        de auch für diejenigen, die bisher arbeitslos waren und
        im Auftrag der Jobcenter oder der Agentur für Arbeit nun
        einer Fahrschulausbildung nachgehen: Auch hier gelten
        die Branchenstundenlöhne .
        Außerdem müssen grundlegende strukturelle Verän-
        derungen vorgenommen werden . Was in anderen Bran-
        chen bereits lange möglich ist, gilt bisher nicht so für die
        Fahrschulen . Die Linksfraktion unterstützt, dass künftig
        Kooperationen möglich sein sollen, wie dies in ande-
        ren Branchen längst üblich ist . Fahrschulunternehmen
        können sich so besser spezialisieren und den Kunden
        dennoch ein Komplettangebot anbieten . Dies ist insbe-
        sondere vor dem Hintergrund begrüßenswert, dass die
        Ausstattung von Unterrichtsräumen mit moderner Tech-
        nik sehr teuer ist . In Netzwerkstrukturen ist dies eindeu-
        tig besser zu stemmen .
        Stephan Kühn (Dresden) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Der vorliegende Gesetzentwurf hat eine lange
        Vorgeschichte . Ich verweise in diesem Zusammenhang
        auf die Einsetzung der Bund-Länder-Arbeitsgruppe im
        Jahr 2011, den Beschluss der Verkehrsministerkonferenz
        im Frühjahr des darauffolgenden Jahres und die Befas-
        sung des Deutschen Verkehrsgerichtstags mit dem The-
        ma als wichtige Meilensteine auf dem Weg zu dem heute
        vorliegenden Gesetzentwurf .
        Der Entwurf ist vor allem auch das Ergebnis inten-
        siver Vorarbeiten durch die Länder . An dieser Stelle ist
        besonders das Engagement des Landes Baden-Württem-
        berg hervorzuheben . Dem grün regierten Baden-Würt-
        temberg war die Reform des Fahrlehrerrechts immer ein
        besonderes Anliegen, und so hat es sich in der Bund-Län-
        der-Arbeitsgruppe auch entsprechend stark eingebracht .
        Weitgehende Einigkeit bestand fraktionsübergreifend
        über die wesentlichen Inhalte bei der Reform des Fahr-
        lehrerrechts: von der Neuregelung der Zugangsvoraus-
        setzungen zum Fahrlehrerberuf, der Modernisierung der
        Fahrlehreraus- und -weiterbildung, der Verbesserung der
        Kooperationsmöglichkeiten von Fahrschulen, der Fahr-
        schulüberwachung bis hin zur Entbürokratisierung – in
        allen Punkten bringt der Entwurf nach langem Ringen
        hinter den Kulissen greifbare Fortschritte .
        Vor allem die Fahrlehreraus- und -weiterbildung
        macht einen wichtigen Schritt nach vorne . Neue Inhalte,
        die auf den Erwerb verkehrspädagogischer Kompeten-
        zen abzielen, halten endlich Einzug in die Fahrschulpra-
        xis . Dabei sollen auch schnell neue Entwicklungen, wie
        beispielsweise die Elektromobilität und automatisiertes
        Fahren, thematisch behandelt werden . Dass auf aktuelle
        Erkenntnisse aus der Lehr- und Lernforschung zurück-
        gegriffen wird sowie E-Learning und Blended Learning
        berücksichtigt werden, begrüßen wir ausdrücklich .
        Auch die Anforderungen an Ausbildungsfahrschulen
        und -lehrer sollen weiterentwickelt werden . Neu aufge-
        nommen wurde eine Fortbildungspflicht. Der Verbesse-
        rung der pädagogischen Qualität dient die Ausbildung in
        den sogenannten Erweiterungsklassen .
        Dabei kommt uns allerdings die themenspezifische
        Weiterbildung in den Klassen C und D zu kurz, denn sie
        ist schlicht nicht verpflichtend. Die Teilnahme an den
        Fortbildungsmodulen C und D sollten zudem berufsbe-
        gleitend möglich sein . Hier muss nachgebessert werden .
        Auch an anderen Stellen gilt für meine Fraktion: Das
        Bessere ist der Feind des Guten . Und deshalb werbe ich
        an dieser Stelle für notwendige Veränderungen, über die
        wir in den anstehenden Ausschussberatungen noch dis-
        kutieren sollten .
        Nicht nachvollziehbar ist für uns, warum die Rege-
        lungen zum Betreiben von Zweigstellen und zu den Ko-
        operationen von Fahrschulen erst ab dem 1 . Juli 2019
        gelten sollen . Die wirtschaftliche Situation vieler klei-
        nerer Fahrschulen ist angespannt . Das ist ablesbar am
        Umsatz je Unternehmen, der beispielsweise bei Fahr-
        schulen in Ostdeutschland gerade um die 100 000 Euro
        im Jahr liegt . Im Fahrschulwesen läuft daher schon seit
        längerer Zeit ein stetiger Konzentrationsprozess hin zu
        wirtschaftlich tragfähigen und auskömmlichen Betriebs-
        größen . Dieser Prozess sollte durch die Reform eigent-
        lich unterstützt werden . Die Verschiebung macht daher
        keinen Sinn, da die Branche lange genug wartet, sich neu
        aufstellen und organisieren zu können . Wichtig ist in die-
        sem Zusammenhang nach unserer Auffassung, dass die
        Anzahl der Kooperationen limitiert wird .
        Schließlich stellt sich für meine Fraktion noch die Fra-
        ge der Überwachungsvorschriften und Kontrollen für die
        Fahrschulen und Fahrlehrerausbildungsstätten . Wichtig
        ist in diesem Zusammenhang, dass die dazu notwendigen
        Regelungen bundesweit einheitlich umgesetzt werden .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 201721636
        (A) (C)
        (B) (D)
        Die vorgesehene „Soll-Bestimmung“ ist daher durch eine
        „Muss-Bestimmung“ zu ersetzen .
        Dorothee Bär, Parl. Staatssekretärin beim Bundes-
        minister für Verkehr und digitale Infrastruktur: Mit dem
        vorliegenden Gesetzentwurf zur Änderung des Gesetzes
        über das Fahrlehrerwesen und zur Änderung anderer
        straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften biegt die Reform
        des Fahrlehrerrechts auf die Zielgerade ein . Heute liegt
        das Ergebnis von vier Jahren Arbeit auf dem Tisch .
        Wir haben mit Ländern und Verbänden viel und in-
        tensiv diskutiert und um Lösungen gerungen . Nach-
        wuchsmangel und das hohe Durchschnittsalter der Fahr-
        lehrerschaft erforderten attraktive und zukunftsfähige
        Zugangsregelungen .
        Zukünftige Fahrlehrerinnen und Fahrlehrer müssen
        „mindestens eine abgeschlossene Berufsausbildung in
        einem anerkannten Lehrberuf oder eine gleichwertige
        Vorbildung“ vorweisen . Auch Quereinsteiger erhalten
        zukünftig eine Chance, den Beruf des Fahrlehrers zu er-
        greifen .
        Ferner soll der Besitz der Motorrad- und Lkw-Klas-
        sen als Voraussetzung für den Pkw-Fahrlehrer wegfallen,
        was die Ausbildung kostengünstiger macht . Bisher über
        den Besitz der Lkw-Fahrerlaubnis abgedeckte Eignungs-
        überprüfungen werden direkt im Fahrlehrerrecht gere-
        gelt .
        Verbessert wurden auch die Dauer der Ausbildung so-
        wie das Zusammenwirken von Ausbildungsstätten und
        Ausbildungsfahrschulen . Wir erhöhen den Ausbildungs-
        umfang von derzeit 577,5 Stunden auf dann 750 Stun-
        den: eine Erhöhung um rund 30 Prozent . Wir stärken päd-
        agogische Inhalte und verstärken den Kompetenzerwerb
        im Bereich der Fahrerassistenzsysteme und des automa-
        tisierten Fahrens . Das ist die Zukunft .
        Einschließlich Praxis wird die neue Ausbildung
        künftig mindestens zwölf Monate dauern . Auch für die
        Fahrschulen wird es Veränderungen geben: hinsichtlich
        Rechtsform, Kooperationen und Verantwortlichkeiten .
        Besonders wichtig sind uns auch dringend notwendige
        Entlastungen bei den Bürokratiekosten durch Vereinfa-
        chung und Digitalisierung der Dokumentation .
        Völlig neu wird die Fahrschulüberwachung aufge-
        stellt .
        Zwar hätten wir uns einen höheren Grad an Einheit-
        lichkeit für das gesamte Bundesgebiet gewünscht, aber
        regionale Besonderheiten wurden auf ausdrücklichen
        Wunsch einiger Bundesländer beibehalten . Wir haben
        viele Details verbessert und wesentliche Beschlüsse der
        Verkehrsministerkonferenz zum Eckpunktepapier umge-
        setzt .
        Die Anforderungen an die Fahrlehrerinnen und Fahr-
        lehrer sind hoch und werden es auch weiterhin bleiben .
        Mit der Digitalisierung des Verkehrs kommen neue He-
        rausforderungen hinzu . Insofern wird der Berufsstand
        weiterhin ein unverzichtbarer Teil unserer Mobilität und
        der Verkehrserziehung bleiben .
        Aus meiner Sicht hat der Beruf der Fahrlehrerin und
        des Fahrlehrers noch eine große Zukunft .
        Anlage 11
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung ein
        gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände
        rung des Güterkraftverkehrsgesetzes, des Fahr
        personalgesetzes, des Gesetzes zur Regelung der
        Arbeitszeit von selbständigen Kraftfahrern, des
        Straßenverkehrsgesetzes und des Gesetzes über
        die Errichtung eines KraftfahrtBundesamtes (Ta
        gesordnungspunkt 26)
        Oliver Wittke (CDU/CSU): Mit unserer heutigen
        Debatte leiten wir nicht nur eine Änderung des Güter-
        kraftverkehrsgesetzes, des Fahrpersonalgesetzes, des
        Gesetzes zur Regelung der Arbeitszeit von selbständigen
        Kraftfahrern, des Straßenverkehrsgesetzes und des Ge-
        setzes über die Errichtung eines Kraftfahrt-Bundesamtes
        ein, sondern wir schließen heute auch und vor allem an
        eine Debatte vor gut zwei Jahren an, in der wir uns zu-
        letzt mit dem Fahrpersonalgesetz befasst haben .
        Bereits in dieser Debatte am 18 . Dezember 2014 haben
        wir deutlich gemacht, dass wir eine europaweit einheitli-
        che Praxis bei der Umsetzung der Lenk- und Ruhezeiten
        anstreben, wonach regelmäßige wöchentliche Ruhezei-
        ten nicht in der Fahrerkabine eines Lkws verbracht wer-
        den dürfen . Nach nationalen Alleingängen von Belgien
        und Frankreich kommt es vermehrt zu Ausweichverkeh-
        ren, die aufgrund einer hohen Zahl mehrtägig an ihrem
        Lkw campierenden Fahrer zu teils menschenunwürdigen
        Szenen auf völlig überfüllten Parkplätzen auf der deut-
        schen Seite geführt haben .
        Mit Verweis auf Gespräche, die die Bundesregierung
        dann im Jahr 2015 auf europäischer Ebene geführt hat,
        haben wir zu diesem Zeitpunkt zunächst auf eine eigene
        nationale Regelung verzichtet . Leider haben diese Ge-
        spräche nicht zu dem erhofften Erfolg geführt .
        Die Koalitionsfraktionen stehen zu ihrem Wort . Nach-
        dem sich die EU-Mitgliedstaaten nicht auf eine gemein-
        same Praxis bei der Umsetzung und Anwendung oder
        einer Klarstellung der Verordnung (EG) Nr . 561/2006
        des Rates zur Harmonisierung bestimmter Sozialvor-
        schriften im Straßenverkehr einigen konnten, werden wir
        einen Änderungsantrag zu diesem Gesetz einbringen, der
        sich dieser Problematik annimmt . Wir folgen damit dem
        Beispiel Belgiens und Frankreichs und geben auch der
        Bundesregierung die nötige rechtliche Grundlage an die
        Hand, um gegen Verstöße bei der Verbringung der vor-
        geschriebenen Lenk- und Ruhezeiten konsequent vorzu-
        gehen .
        Darüber hinaus werden wir das Gesetzespaket zum
        Anlass nehmen, das Thema des Sozialdumpings in der
        Transport- und Logistikbranche zu thematisieren . Wir
        stehen zum Europäischen Binnenmarkt und zu mehr
        Wettbewerb . Doch dieser ist auf faire Arbeits- und Wett-
        bewerbsbedingungen angewiesen . Wettbewerb, der von
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 2017 21637
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        Unternehmen ausgeht, die dauerhaft ihre Leistungen in
        Deutschland anbieten, aber niedrigeren Sozialstandards
        unterliegen, ist nicht fair . Hier gilt es zu prüfen, in wel-
        chen Bereichen wir die Spielräume auf nationaler und
        den deutschen Einfluss auf europäischer Ebene besser
        ausnutzen können .
        Teile des vorliegenden Gesetzentwurfes tragen dieser
        Forderung bereits Rechnung . Die Einrichtung eines elek-
        tronischen Registers, in der auch Daten über Verstöße,
        die Unternehmer und Verkehrsleiter im Rahmen ihrer
        Gewerbeausübung begangen haben, gesammelt werden,
        und die Verlängerung der Aufbewahrungsfrist für Auf-
        zeichnungen über Lenk- und Ruhezeiten, sofern diese
        für die Erfüllung der Aufbewahrungspflichten nach dem
        Mindestlohngesetz benötigt werden, sind ein weiterer
        Schritt in die richtige Richtung . Sie helfen, die Einhal-
        tung nationaler und europäischer Vorschriften auch bei
        zu ausländischen Fuhrparks gehörenden Lkw besser kon-
        trollieren zu können .
        Die Koalitionsfraktionen werden die angesprochenen
        Themen in den kommenden Wochen intensiv beraten
        und entsprechende Anträge in den Verkehrsausschuss
        einbringen .
        Udo Schiefner (SPD): Güterkraftverkehr und Fahr-
        personal: Darüber können wir heute nicht sprechen,
        ohne über faire Arbeits- und Wettbewerbsbedingungen
        zu sprechen . Auf deutschen Autobahnen sollte beides
        selbstverständlich sein . Doch die Realität sieht anders
        aus – erschreckend anders . Große Teile des deutschen
        Transportlogistikgewerbes sind akuten Wettbewerbsver-
        zerrungen ausgesetzt . Ehrliche Logistik- und Transport-
        unternehmen, die ihre Mitarbeiter fair bezahlen und sozi-
        ale Standards einhalten, verlieren zunehmend Aufträge .
        Ihre Existenz ist bedroht . Die Spediteure und vor allem
        ihre Fahrerinnen und Fahrer, die Menschen am Steuer
        der Lkw, fahren am Limit . Sie leiden darunter, dass auf
        deutschen Autobahnen zu viele schwarze Schafe zu un-
        scharfe Regeln ausnutzen können .
        Gleichzeitig erwarten wir als Kunden, Verbraucher,
        Internetbesteller von denen, die tagtäglich unsere Waren
        transportieren, dass sie schnell, effizient und zuverlässig
        und vor allem preiswert liefern . Unser Wohlergehen ist
        untrennbar mit der Misere derer verknüpft, die uns ver-
        sorgen . Das gilt auf vielen Ebenen, wenn man sich die
        weltwirtschaftlichen Zusammenhänge anschaut . Aber
        nur selten ist es so offensichtlich und liegt sprichwörtlich
        vor unserer Haustür wie beim Güterkraftverkehr .
        Transport und Logistik bilden das Rückgrat unserer
        Wirtschaft und unseres täglichen Lebens . Unser Wirt-
        schaftsstandort Deutschland hängt in hohem Maße von
        leistungsfähiger Logistik ab . Die Fahrerinnen und Fah-
        rer der Lastkraftwagen sind wesentliche Stützpfeiler des
        wirtschaftlichen Erfolges in Deutschland . Anerkennung
        und Wertschätzung erhalten sie dafür kaum . Im Gegen-
        teil, die Arbeit der Berufskraftfahrer hat unberechtigt ein
        schlechtes Ansehen . Vor allem sind sie oft die ersten und
        einzigen, die zur Rechenschaft gezogen werden, wenn
        sie gegen Regeln verstoßen . Doch sie verstoßen gegen
        Regeln, weil sie den straffen Anforderungen ihrer Arbeit-
        geber und Auftraggeber gerecht werden müssen .
        Für viele Berufskraftfahrer, oft im Auftrag auslän-
        discher Unternehmen auf den Autobahnen unterwegs,
        kommt hinzu, dass sie unter unwürdigen Bedingungen
        arbeiten und leben müssen . Bis zu drei Monate leben
        und arbeiten sie außerhalb ihres Heimatlandes im Lkw .
        Sie sind dabei dubiosen Beschäftigungssystemen unter-
        worfen . Ihnen wird oft der Zugang zu sozialen Rechten
        und Arbeitnehmerrechten verwehrt . Sie verbringen da-
        bei all ihre Nächte und Wochenenden in ihrem Lkw auf
        den Rastplätzen, und sie fahren für Dumpinglöhne quer
        durch Europa .
        Für Fahrzeuge und Fahrerinnen und Fahrer, die ihre
        Heimatstandorte nur noch gelegentlich sehen, ist deren
        Einsatz aber keineswegs durch die europäische Dienst-
        leistungsfreiheit gedeckt . Im Moment jedoch können
        sich die Flottenbetreiber den Fiskal- und Sozialstandards
        der jeweiligen Länder entziehen, in denen sie sich über-
        wiegend betätigen . Diesem Nomadentum auf den Rast-
        plätzen Europas müssen wir ein Ende bereiten .
        Ein Angriffspunkt – nur einer von vielen, aber ein
        wichtiger – ist dabei die regelmäßige wöchentliche
        Ruhezeit . Mit Artikel 8 Nummer 8 der EU-Verord-
        nung 561/2006 ist die Voraussetzung gegeben, um zu
        unterbinden, dass die regelmäßige wöchentliche Ruhe-
        zeit im Fahrzeug verbracht wird . Die EU-Verordnung
        sagt: In zwei jeweils aufeinanderfolgenden Wochen hat
        der Fahrer mindestens zwei regelmäßige wöchentliche
        Ruhezeiten oder eine regelmäßige wöchentliche Ruhe-
        zeit und eine reduzierte Wochenruhezeit von mindestens
        24 Stunden einzuhalten . Wichtig sind hier die zu unter-
        scheidenden Begriffe „regelmäßige“ und „reduzierte“
        wöchentliche Ruhezeit . Weiter heißt es nämlich, dass
        nicht am Standort eingelegte tägliche Ruhezeiten und re-
        duzierte wöchentliche Ruhezeiten im Fahrzeug verbracht
        werden können . Regelmäßige wöchentliche Ruhezeiten
        im Fahrzeug werden in dieser Ausnahme explizit nicht
        benannt . Dem EU-Recht folgend können und müssen wir
        das Verbringen der regelmäßigen wöchentlichen Ruhe-
        zeit im Fahrzeug verbieten und ahnden .
        Mit unserem Koalitionspartner sind wir uns bezüglich
        dieses Ziels einig . Wir werden unser parlamentarisches
        Recht nutzen und die von der Bundesregierung einge-
        brachten Gesetzesänderungen durch einen eigenen Än-
        derungsantrag ergänzen . So sorgen wir für Klarheit im
        Fahrpersonalgesetz .
        Deutsche Kontrollbeamte werden bald, wie ihre Kol-
        leginnen und Kollegen in unseren westlichen Nachbar-
        staaten, dem Verbot des Verbringens der regelmäßigen
        wöchentlichen Ruhezeit im Lkw Geltung verschaffen
        können .
        Vor mehr als zwei Jahren hätten wir eine entsprechen-
        de Regelung treffen sollen . Bereits damals gab es dazu
        Forderungen aus dem Bundesrat . Die Bundesregierung
        hatte im Dezember 2014 aber noch den Wunsch geäu-
        ßert, sich dem Thema zunächst im Sinne einer europäi-
        schen Lösung zu nähern . Die dazu im Verkehrsausschuss
        gemachte Zusage des Ministeriums, das Thema im Ja-
        nuar 2015 mit den europäischen Partnern anzugehen,
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 201721638
        (A) (C)
        (B) (D)
        hatte ich begrüßt . Ebenso freute ich mich über die klar
        formulierte Aussage zum weiteren Vorgehen: „Sollte ab-
        sehbar nicht bis Juli 2015 eine Lösung erkennbar wer-
        den, werden wir den Weg der nationalen Gesetzgebung
        beschreiten“ .
        In der grundsätzlichen Beurteilung des Nomadentums
        auf den europäischen Rastplätzen gab es über Fraktions-
        grenzen hinweg zu keinem Zeitpunkt Dissens . Ich hatte
        damals erwartet, dass uns 2015 ein Regelungsvorschlag
        vorliegt . Dieser blieb aus .
        So ist nicht überraschend, dass ich mich sehr darauf
        freue, unter dieses unselige Kapitel am Ende der jetzi-
        gen Beratungen im März endlich einen Strich ziehen zu
        können . Doch es wird kein Schlussstrich sein . Es ist eine
        Sache, endlich klarzustellen, dass das Verbot des Ver-
        bringens der Wochenruhezeit mit einem Bußgeld bestraft
        werden kann . Eine andere, schwierige Sache wird es
        sein, das Verbot auch durchzusetzen .
        Ich erwarte, dass das Ministerium und die Kontroll-
        behörden, also vor allem das BAG und die Polizeien,
        zügig die notwendigen Handlungsanweisungen und
        Kontrollvorgaben erstellen . Insbesondere müssen die
        Beamten vor Ort das Handwerkszeug mitbekommen,
        um die Fahrt- und Ruhezeiten effektiv kontrollieren zu
        können . Dazu gehört es auch, über die zahlreichen und
        nicht selten genutzten Betrugsmöglichkeiten sehr gut in-
        formiert zu sein .
        Uns hier im Bundestag und in den Parteien bleibt das
        Thema Lohn- und Sozialdumping auf den Autobahnen
        jedoch in jedem Fall erhalten . Es gibt zahlreiche weitere
        Hausaufgaben, die wir und die Bundesregierung in ih-
        ren Ministerien längst hätten erledigen müssen . Wir wer-
        den einen Entschließungsantrag einbringen, der einige
        der wichtigsten Aspekte aufgreift . Für die betroffenen
        Unternehmerinnen und Unternehmer und Fahrerinnen
        und Fahrer hätte ich mir gewünscht, dass dies in dieser
        Legislaturperiode nicht mehr nötig gewesen wäre . Nun,
        im Januar 2017, kann ich ernüchtert feststellen, dass uns
        die prekäre Situation der Transport- und Logistikbranche
        auch in der 19 . Legislaturperiode beschäftigen wird .
        Herbert Behrens (DIE LINKE): Dieser Gesetzent-
        wurf hat im Wesentlichen den Charakter eines Rechtsbe-
        reinigungsgesetzes . Mit anderen Worten: es werden fast
        ausschließlich redaktionelle Anpassungen vorgenom-
        men, einiges wird an EU-Recht angepasst und der Rest
        geht über Änderungen bei Aufbewahrungsfristen nicht
        hinaus . So weit, so unspannend .
        Die Relevanz erhält der heute debattierte Entwurf
        durch das, was nicht enthalten ist, aber ohne Probleme
        hätte aufgenommen werden können – ich meine, sogar
        hätte aufgenommen werden müssen . Gemeint ist hier
        eine simple Vorschrift, die in anderen Ländern der Eu-
        ropäischen Union längst erlassen wurde, nämlich das
        Gebot, dass Lkw-Fahrerinnen und Lkw-Fahrer ihre wö-
        chentliche Ruhezeit nicht im Fahrzeug verbringen dürfen .
        Das wäre ein kleiner Schritt für den Gesetzgeber, aber ein
        sehr großer für zigtausend europäische Berufskraftfahre-
        rinnen und Berufskraftfahrer sowie deren Familien .
        Jeder wird sich vorstellen können, dass Lkw-Fah-
        rerinnen- und Fahrer einen harten Job haben . Ich habe
        mich selbst einmal davon überzeugt und bin einen Tag
        als Beifahrer im Brummi quer durch Deutschland gefah-
        ren . Durch engen Kontakt zu Beschäftigten und Gewerk-
        schaften weiß ich auch, dass sich die Arbeitsbedingun-
        gen in der Lkw-Branche gravierend verschlechtert haben
        und der Abwärtstrend anhält . Immer mehr Druck, immer
        schlechtere Bezahlung und Arbeitszeiten prägen das Le-
        ben von zigtausend europäischen Berufskraftfahrerinnen
        und Berufskraftfahrern sowie deren Familien .
        Aber um die Brisanz der Situation zu verdeutlichen:
        Artikel 31 der Grundrechtecharta der EU besagt, dass
        jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer das Recht
        auf gesunde, sichere und würdige Arbeitsbedingungen
        hat . Das europäische Straßentransportgewerbe hat sich
        inzwischen zu einer Branche entwickelt, in der Men-
        schenwürde nicht viel zählt, von Sicherheit und Gesund-
        heitsschutz ganz zu schweigen . So hart muss man das
        sagen, und nicht umsonst spricht die europäische Trans-
        portgewerkschaft ETF von moderner Sklaverei .
        Die ETF hat Hunderte Fahrerinnen und Fahrer zu ih-
        ren Arbeitsbedingungen befragt, und die Ergebnisse sind
        wirklich erschütternd . Zwei Drittel der Befragten sind
        durchgängig zwischen drei und zwölf Wochen von ihrem
        Zuhause entfernt . 80 Prozent gaben an, unter Erschöp-
        fung zu leiden und dies aus Angst vor dem Verlust des
        Arbeitsplatzes nicht zu melden . Ein Viertel der Befrag-
        ten hat weniger als drei warme Mahlzeiten in der Woche,
        und 95 Prozent gaben an, alle Ruhezeiten im Fahrzeug
        zu verbringen .
        Ich will es nicht ertragen, dass Menschen – vornehm-
        lich aus Osteuropa oder Anrainerstaaten der EU – bis zu
        drei Monaten am Stück ihr Leben in der Fahrerkabine
        fristen müssen, bei schlechter Ernährung und zudem oft-
        mals ohne Zugang zu sanitären Einrichtungen – und das
        vor unser aller Augen .
        Es ist klar, dass man im Rahmen dieses Gesetzge-
        bungsverfahrens diese Zustände nicht vollends aufheben
        können wird . Diese Zustände basieren auf einem gren-
        züberschreitenden System aus Briefkastenfirmen, Toch-
        tergesellschaften und Arbeitsvermittlungsagenturen mit
        Sitzen in jeweils anderen Ländern, welches vor allem
        seit der EU‑Osterweiterung floriert und als organisierte
        Ausbeutung bezeichnet werden muss .
        Aber den schlimmsten Auswüchsen können wir
        Einhalt gebieten, indem wir ein für alle Mal verbieten,
        dass die wöchentlichen Ruhezeiten in der Fahrerkabi-
        ne verbracht werden dürfen, und dies dann konsequent
        durchsetzen . Damit würde nämlich das weit verbreitete
        erzwungene Nomadentum der Fahrerinnen und Fahrer
        erheblich eingeschränkt werden . Die Beschäftigten brau-
        chen einen grundlegenden Wandel der Arbeitsverhältnis-
        se in der Branche, und dieser erste Schritt kann sofort
        gemacht werden .
        Ich finde es ziemlich bigott, wenn die Bundesregie-
        rung in Brüssel für eine europäische Lösung bei den wö-
        chentlichen Ruhezeiten eintritt, sich aber stets weigert,
        per Bundesgesetz mit gutem Beispiel voranzugehen bzw .
        Frankreich und Belgien zu folgen .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 2017 21639
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        Wenn es um die Interessen von Unternehmen geht,
        kommt die Bundesregierung der EU gerne zuvor, um
        schon einmal ein paar Pflöcke einzuschlagen. Bestes Bei-
        spiel ist die Drohnenverordnung, die das Verkehrsminis-
        terium schnell noch durchpeitschen will, obwohl Brüssel
        bald einen europäischen Rechtsrahmen setzen wird . Nie-
        mand wird also behaupten können, dass man hier nicht
        handeln kann .
        Ich hoffe daher sehr, dass die Bundesregierung nach
        der bereits angekündigten Prüfung noch die Kurve kriegt
        und eine harte Regelung zu den Ruhezeiten nachlegt .
        Dann könnte die Linke dem Gesetzentwurf sogar zustim-
        men .
        Stephan Kühn (Dresden) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Interessant an dem Gesetzentwurf zum Fahrper-
        sonalgesetz ist nicht das, was drinsteht, sondern vielmehr
        das, was nicht enthalten ist: Es fehlt eine Bestimmung
        zum Vorgehen gegen das Verbringen der regelmäßigen
        wöchentlichen Ruhezeit in der Fahrerkabine . Wie zu
        erfahren war, hat man im Bundesverkehrsministerium
        entsprechende Regelungen aus früheren Arbeitsentwür-
        fen nach Intervention von Branchenverbänden einfach
        gestrichen . Das ist völlig inakzeptabel – wir dürfen eine
        Lösung des Problems und die Bekämpfung von Sozial-
        dumping im Straßengüterverkehr nicht weiter vertagen .
        Ich erinnere in diesem Zusammenhang noch einmal
        daran, dass es im Verkehrsausschuss eine breite Zustim-
        mung dafür gibt, Sozialdumping im Transport- und Spe-
        ditionsgewerbe zu bekämpfen .
        Der Petitionsausschuss hat im November 2015 vier
        Petitionen mit der Forderung nach einer bußgeldbewehr-
        ten Verbotsregelung einstimmig mit dem zweithöchsten
        Votum „zur Erwägung“ an das Bundesverkehrsministeri-
        um und das Europäische Parlament überwiesen .
        Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich
        noch einmal die unhaltbaren Zustände auf den Rastanla-
        gen und Lkw-Stellplätzen entlang des Autobahnnetzes in
        Erinnerung rufen .
        In Artikel 31 der Charta der Grundrechte der Europä-
        ischen Union heißt es: „Jede Arbeitnehmerin und jeder
        Arbeitnehmer hat das Recht auf gesunde, sichere und
        würdige Arbeitsbedingungen .“ Das ist der Maßstab, den
        wir auch an die Arbeitsbedingungen im europäischen
        Transport- und Speditionsgewerbe anlegen müssen . Und
        der Weg, der zurückzulegen ist, um dies zu erreichen, ist
        noch weit . Die Europäische Transportarbeiter-Föderati-
        on – eine gesamteuropäische Gewerkschaftsorganisati-
        on – kam bereits in einer Studie von 2013 zu dem Ergeb-
        nis, dass über 90 Prozent der Fernfahrer ihr Wochenende
        regelmäßig im Fahrzeug verbringen . Viele Lkw-Fahrer
        führen praktisch ein Leben auf der Straße: Die Fahrer-
        kabine ist Arbeitsplatz, Schlafzimmer, Wohnzimmer und
        Küche in einem . Vom Arbeitgeber gibt es keine Mittel
        für Übernachtungen in festen Unterkünften . Insbesonde-
        re für Fahrer aus Osteuropa sieht für Wochen oder oft
        sogar Monate so der Lebensalltag aus . Die Europäische
        Transportarbeiter-Föderation nennt dies zutreffend „mo-
        derne Sklaverei“, die abgeschafft gehöre .
        Übrigens: Dies sind nicht nur aus sozialen Gründen
        unhaltbare Zustände . Auch verkehrspolitisch gerät da-
        durch einiges aus dem Lot . Durch Sozialdumping im
        Straßengüterverkehr wird auch der Wettbewerb zwischen
        den Verkehrsträgern verzerrt und der Lkw-Verkehr auf
        Kosten der Allgemeinheit bzw . auf dem Rücken der Be-
        schäftigten verbilligt .
        Weiterhin geraten auch deutsche Speditionsunterneh-
        men durch Dumpingpreise unter Druck und verlieren im
        Wettbewerb .
        Natürlich wäre eine einheitliche Lösung in der Euro-
        päischen Union, wie vonseiten der Branchenverbände
        gefordert, der Königsweg . Aber zu einer realistischen
        Einschätzung der Lage gehört eben auch die Erkenntnis,
        dass es diese europaweite Lösung allenfalls langfristig
        geben wird, da die Fronten in dieser Frage besonders ver-
        härtet sind . Deshalb bleibt uns als Zwischenlösung nur
        die „Krücke“ einer nationalen Lösung, so wie es Frank-
        reich und Belgien schon vorgemacht haben . Wir müssen
        also zweigleisig fahren: In Brüssel für eine EU-Lösung
        streiten und solange die nicht greifbar ist, eine Regelung
        im nationalen Recht erlassen .
        Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme zum Fahr-
        personalgesetz deutlich gemacht, wie eine solche natio-
        nale Regelung aussehen könnte . Die Voraussetzungen für
        vernünftige Bedingungen zum Verbringen der Wochen-
        ruhezeit muss demnach der Unternehmer schaffen . Au-
        ßerdem ist eine Bußgeldbewährung für Verstöße vorge-
        sehen . Dazu gehört nach meiner Überzeugung auch eine
        Personalaufstockung beim Bundesamt für Güterverkehr,
        damit wir überhaupt in die Lage kommen, entsprechende
        Regelungen auch wirksam zu kontrollieren .
        Wir haben wohlwollend zur Kenntnis genommen, dass
        die Bundesregierung sich immerhin der Zielsetzung der
        Bundesratsstellungnahme nicht völlig verschließt und ei-
        nen Regelungsbedarf anerkennt . Umso unverständlicher
        erscheint die Tatsache, dass die Bundesregierung nicht in
        der Lage war, eine entsprechende gesetzliche Regelung
        von Beginn an in den Entwurf des Fahrpersonalgesetzes
        aufzunehmen .
        Insofern sind wir auf das weitere parlamentarische
        Verfahren gespannt . Eine wirksame Bekämpfung von
        Sozialdumping im Straßengüterverkehr wird meine
        Fraktion jedenfalls nach Kräften unterstützen .
        Dorothee Bär, Parl. Staatssekretärin beim Bundes-
        minister für Verkehr und digitale Infrastruktur: Der Ih-
        nen vorliegende Änderungsentwurf dient dazu, in diesen
        Gesetzen an mehreren Stellen redaktionelle Anpassun-
        gen und Klarstellungen vorzunehmen .
        Im Güterkraftverkehrsgesetz geht es uns um die nati-
        onale Erlaubnis, mit der der Unternehmer die Zulassung
        zur Ausübung des Berufs erhält . Bisher wird sie nach
        Ablauf der bis zu zehnjährigen Geltungsdauer zeitlich
        unbefristet erteilt, sofern der Unternehmer die Berufszu-
        gangsvoraussetzungen nach wie vor erfüllt .
        Diese Regelung passen wir nun an geltendes europäi-
        sches Recht an, da die nach EU-Recht zum selben Zweck
        zu erteilende sogenannte EU-Lizenz im Verlängerungs-
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        fall nur für erneut zehn Jahre erteilt wird . Die Möglich-
        keit der unbefristeten Verlängerung für die nationale Er-
        laubnis wird daher gestrichen .
        Im Fahrpersonalgesetz schaffen wir die Möglichkeit,
        Aufzeichnungen über Lenk- und Ruhezeiten über die
        bisher geltende Dauer hinaus aufzubewahren . Damit
        erreichen wir, dass erweiterte Aufbewahrungspflichten
        eingeführt werden, die zum Beispiel für die Erfüllung
        der Aufbewahrungsfristen nach dem Mindestlohngesetz
        benötigt werden . Das war keine von uns geschätzte Maß-
        nahme, da wir die Unternehmen eigentlich von Bürokra-
        tie entlasten wollen .
        Die übrigen Änderungen dienen ebenfalls der Umset-
        zung europarechtlicher Vorgaben . Dies gilt insbesondere
        für die Schaffung einer Ermächtigungsgrundlage für die
        Speicherung von Verstößen des Unternehmers und des
        Verkehrsleiters und diverse redaktionelle Änderungen
        aufgrund veränderten EU-Rechts .
        Der Bundesrat hat aufgrund entsprechender Vorschlä-
        ge aus seinen Ausschüssen die Aufnahme eines neuen
        § 3a in das Fahrpersonalgesetz vorgeschlagen . Haupt-
        ziel dieses Vorschlags ist die Aufnahme eines Verbotes,
        die regelmäßige wöchentliche Ruhezeit, deren Dauer
        45 Stunden beträgt, im Fahrzeug zu verbringen .
        Dementsprechend soll der Unternehmer verpflichtet
        werden, die Arbeit des Fahrers so zu organisieren, dass
        er die regelmäßige wöchentliche Ruhezeit am Wohnort,
        am Unternehmenssitz oder in einer festen Unterkunft
        mit geeigneten Sanitäreinrichtungen und ausreichenden
        Versorgungsmöglichkeiten verbringen kann . Ziel des
        Vorschlages ist die Beendigung des Nomadentums ins-
        besondere mittel- und osteuropäischer Fahrer vor allem
        übrigens auf deutschen Parkplätzen .
        Im Ziel stimmt die Bundesregierung mit dem Bundes-
        rat überein . Wir haben kein Interesse daran, dass Fahrer
        wochen-, manchmal monatelang im Fahrzeug leben und
        sich einen vollständigen Haushalt im Fahrzeug einrich-
        ten müssen .
        Deutschland ist ein wichtiges Transitland im Herzen
        Europas . Wir wollen eine Regelung, die die Interessen
        der Fahrerinnen und Fahrer mit den Interessen der Lo-
        gistikunternehmen in Ausgleich bringt . Mein Dank an
        dieser Stelle gilt den Berichterstattern im Verkehrsaus-
        schuss, die sich in dieser Angelegenheit mit vollem Ein-
        satz einbringen .
        Beim Güterkraftverkehrsgesetz schließlich geht es um
        eine weitere Befreiung nach § 2 Absatz 1 Nr . 7 GüKG
        für sogenannte Lohnunternehmer . Sie sollen unter be-
        stimmten Bedingungen von den Verpflichtungen dieses
        Gesetzes gänzlich ausgenommen werden, obwohl sie in
        vielen Situationen in Konkurrenz zum gewerblichen Gü-
        terkraftverkehr treten .
        Hier wartet die Bundesregierung natürlich den weite-
        ren Verlauf der Beratungen in den Ausschüssen ab . Ich
        sage Ihnen aber selbstverständlich auch hier eine sorgfäl-
        tige Prüfung Ihrer Vorschläge zu .
        Mit den Anträgen der Fraktionen, den Gesetzentwurf
        an die Ausschüsse zu überweisen, ist die Bundesregie-
        rung selbstverständlich einverstanden .
        Anlage 12
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung einge
        brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisie
        rung der epidemiologischen Überwachung über
        tragbarer Krankheiten (Tagesordnungspunkt 27)
        Rudolf Henke (CDU/CSU): Mit dem von der Bun-
        desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Moder-
        nisierung der epidemiologischen Überwachung über-
        tragbarer Krankheiten beraten wir über die nächsten
        notwendigen Schritte hin zu einem besser koordinierten
        und strukturierten Schutz vor Infektionskrankheiten .
        Hauptziel des Gesetzes soll die Etablierung eines elek-
        tronischen Melde- und Informationssystems sein, mit
        dem spätestens ab dem Jahr 2021 der Infektionsschutz
        in unserem Land volldigitalisiert und datenschutzrechts-
        konform umgesetzt werden soll .
        Es ist gut und richtig, dass wir die mit der epidemio-
        logischen Überwachung von Infektionskrankheiten ver-
        bundenen Gesetze an die wissenschaftliche Entwicklung
        und auch an die Erfahrungen der Beteiligten auf Bundes-,
        Länder-, und Kommunalebene anpassen und damit dem
        eigentlichen Anliegen einer bestmöglichen Eindämmung
        von Infektionskrankheiten durch eine schnelle Lokalisie-
        rung und bestmögliche Isolierung des Gefahrenherdes
        Stück für Stück näher kommen .
        Hinzu kommt, dass sich Deutschland auf internationa-
        ler Ebene seiner Verantwortung stellt und wir uns aktiv
        an einer erfolgreichen Umsetzung der Strategie der Welt-
        gesundheitsorganisation zur vollständigen Ausrottung
        von Polioviren beteiligen . Dafür bedarf es an der einen
        oder anderen Stelle zusätzlicher Rechtsgrundlagen und
        Präzisierungen, damit wir unseren eigenen Verpflichtun-
        gen nachkommen können .
        Ein weiterer Aspekt mit internationaler Note ist die
        Anpassung des Infektionsschutzgesetzes an globale He-
        rausforderungen, wie wir sie bei der verheerenden Ebo-
        laepidemie in Westafrika im Jahr 2015 erleben mussten,
        sowie die Umsetzung von Vorschriften, die uns die Euro-
        päische Union auferlegt .
        All das ist in seiner Zielsetzung sinnvoll und wird von
        allen Betroffenen grundsätzlich begrüßt . Es ist auch po-
        sitiv hervorzuheben, dass zwischen Referentenentwurf
        und Kabinettsentwurf augenscheinlich ein konstruktiver
        Dialog stattgefunden hat, der zu überwiegend klugen Än-
        derungen geführt hat .
        Anpassungen, Umstellungen und die Etablierung völ-
        lig neuer Systeme, sei es zur Bewältigung der gleichen
        Aufgaben, sind nicht selten mit einem zumindest kurz-
        fristigen Mehraufwand verbunden . Ich glaube, das kennt
        jeder von uns; damit wurde jeder in seinem beruflichen
        Alltag schon einmal konfrontiert .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 2017 21641
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        Aufgabenerweiterungen hingegen sind nur begrenzt
        mit dem gleichen Arbeitsaufwand zu erledigen . Zieht
        man nun in Betracht, dass die Gesundheitsämter vor
        Ort – sprich: in den Kommunen und mittlerweile immer
        öfter auch in den Ländern – personell und strukturell
        schlichtweg nicht angemessen ausgestattet sind, komme
        ich schnell zu dem Schluss, dass wir auch im Kontext
        dieses Gesetzes über die Personalausstattung unserer Ge-
        sundheitsdienste sprechen müssen .
        Die Ressourcenausstattung ist eine immer wiederkeh-
        rende und scheinbar nicht zufriedenstellend lösbare Aus-
        einandersetzung, die immer wieder dann aufkeimt, wenn
        wir Gesetze beschließen, die den Gesundheitsdienst mit
        immer neuen und komplexeren Aufgaben betrauen . Ich
        weiß nicht, wie oft ich schon im Plenum oder im Aus-
        schuss diese in meinen Augen unhaltbaren Umstände be-
        mängelt und an das Pflichtgefühl der Länder appelliert
        habe .
        Beinahe Jahr für Jahr werden auf der Gesundheitsmi-
        nisterkonferenz Beschlüsse gefasst, die den Öffentlichen
        Gesundheitsdienst betreffen, so auch im vergangenen
        Jahr . Man kann nicht bestreiten, dass die Gesundheits-
        minister die Arbeit des Gesundheitsdienstes schätzen . So
        heißt es im gefassten Beschluss:
        „Die GMK betont die unverzichtbare Rolle des ÖGD
        im Gesundheitswesen, die sich vom Gesundheitsschutz
        der Bevölkerung, der Gesundheitsförderung und Ge-
        sundheitsvorsorge bis zur Mitgestaltung und Mitwirkung
        bei der Gesundheitsversorgung erstreckt .“
        Und weiter heißt es: „Die Herausforderungen für die
        Gesunderhaltung der Bevölkerung und damit für die
        Aufgabenwahrnehmung durch den ÖGD werden ange-
        sichts von Globalisierung, demografischem Wandel und
        nicht zuletzt durch die Flüchtlingsbewegungen komple-
        xer . Deshalb sieht die GMK die Notwendigkeit, die Per-
        spektiven für den ÖGD neu zu bestimmen und auf allen
        politischen Ebenen die Grundlagen für die Gewinnung
        qualifizierter, motivierter Fachkräfte zu verbessern.“
        Die Landesgesundheitsminister gehen im weiteren
        Wortlaut auch auf die mangelnden Ressourcen ein, mit
        denen sich der ÖGD konfrontiert sieht . Das begrüße ich
        ausdrücklich, stelle mir, ehrlich gesagt, aber die Frage,
        wann sich bei den Gesundheitsdiensten vor Ort an den
        weiterhin schlechten Bedingungen etwas ändern wird,
        wenn er als unverzichtbar eingestuft wird und auch aner-
        kannt wird, dass sich seine Aufgabenwahrnehmung im-
        mer komplexer gestaltet .
        Im vorliegenden Gesetzentwurf berechnet die Bun-
        desregierung etwa für das Robert-Koch-Institut einen
        zusätzlichen Personalbedarf im Umfang von mindestens
        fünf Stellen . Das ist sinnvoll; das ist gut . Doch werden
        wir im parlamentarischen Verfahren darüber zu reden ha-
        ben, warum die Bundesregierung davon ausgeht, dass für
        andere Betroffene kein Erfüllungsaufwand entsteht . Da
        erwarte ich eine ergebnisoffene Auseinandersetzung .
        Wir werden sicherlich an der einen oder anderen Stel-
        le noch über Anpassungsbedarf reden müssen; ich denke
        etwa an die Vollständigkeit der Aufzählung meldepflich-
        tiger Krankheitserreger oder die Sicherstellung eines si-
        cheren, kompatiblen elektronischen Erfassungssystems
        für alle Beteiligten .
        Alles in allem bin ich zuversichtlich, dass mit dem
        vorliegenden Gesetzentwurf eine gute Basis geschaffen
        wurde und wir am Ende des parlamentarischen Verfah-
        rens ein Gesetz verabschieden werden, das unsere Bür-
        gerinnen und Bürger besser vor Infektionen schützt und
        dabei auch die Personen nicht aus den Augen verliert,
        die tagtäglich durch ihren Einsatz genau dafür Sorge tra-
        gen – das sollte uns Gesundheit wert sein .
        Sabine Dittmar (SPD): Wir sprechen heute über
        einen Gesetzentwurf, der mit dem Titel „Gesetz zur
        Modernisierung der epidemiologischen Überwachung
        übertragbarer Krankheiten“ nicht sehr verständlich und
        eher sperrig daherkommt . Der Gesetzentwurf ist aber ob
        seines Zieles, die epidemiologische Überwachung von
        übertragbaren Krankheiten zu modernisieren und zu ver-
        bessern, notwendig und zu begrüßen .
        Bei Epidemien und übertragbaren Krankheiten denkt
        man gemeinhin wohl eher an so verheerende Ereignisse
        wie den Ebolaausbruch in Westafrika . Der Blick auf den
        aktuellen Krankenstand bei grippalen Infekten und den
        heftigen Noroinfektionen oder die im vergangenen Jahr
        in Teilen Deutschlands grassierende Masernwelle zeigen
        uns allerdings, dass wir selbst in unserem so gut funk-
        tionierenden Gesundheitssystem vor dem Ausbruch von
        ansteckenden Krankheiten bei weitem nicht gefeit sind .
        Belege dafür, dass wir unsere Meldewege und die
        Überwachung von ansteckenden Krankheiten verbessern
        sollten, gab und gibt es viele . Erinnern wir uns an das
        Jahr 2011: Die Ehecepidemie mit über 4 000 Erkran-
        kungsfällen, davon über 700 Patienten mit dem lebens-
        bedrohenden hämolytisch-urämischen Syndrom (HUS),
        und 50 Todesfällen . Das hat uns damals eindrücklich vor
        Augen geführt, dass die Meldekette und der Informati-
        onsaustausch zwischen den Bundesländern ausbaufähig
        sind . Der heute in erster Lesung eingebrachte Gesetzent-
        wurf nimmt sich dieser Problematik an .
        Mit der Weiterentwicklung des DEMIS, dem Deut-
        schen Elektronischen Meldesystem für Infektionsschutz,
        wollen wir die notwendigen Rechtsgrundlagen schaffen
        für ein schnelles und effektives elektronisches Melde-
        und Informationssystem für übertragbare Krankheiten .
        Der schnelle Datentransfer ist zweifelsohne essenziell,
        um Infektionsrisiken und Hinweise auf Epidemien früh-
        zeitig zu erkennen, die notwendigen Schutzmaßnahmen
        ergreifen zu können und Krankheitsausbrüche einzudäm-
        men .
        Von einigen Fachverbänden wird allerdings die Frage
        aufgeworfen, ob die vorgesehenen Änderungen dem Ziel
        gerecht werden, die Effizienz bei der Prävention und der
        Bekämpfung von übertragbaren Erkrankungen zu stei-
        gern, und ob sie den Aufwand bei der Datenaufbereitung
        tatsächlich reduzieren .
        Natürlich wird sich vieles davon erst in der Praxis
        unter Beweis stellen und oft auch erst dann, wenn eine
        Krisensituation wie beispielsweise der bereits erwähnte
        Ehecausbruch mit unbekanntem und nur schwer zu ermit-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 201721642
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        telndem Infektionsursprung auftritt . Es ist aber wichtig,
        dass jetzt gesetzlich klargestellt und geregelt wird, wer
        in welchen Einrichtungen bei welchen Infektionskrank-
        heiten zur Meldung verpflichtet ist und welche Melde-
        fristen, Meldeinhalte und Meldewege einzuhalten sind .
        Dass es durch die geringfügige Ausweitung von zu
        meldenden Infektionskrankheiten und die höhere Anzahl
        von Meldenden eine größere Datendichte geben wird, die
        es dann zu bearbeiten gilt, ist unbestritten . Inwieweit die
        Tatsache, dass die Informationsweitergabe künftig auf
        dem elektronischen Weg geschehen soll, zu einer Effizi-
        enzsteigerung und Vereinfachung führen wird, bleibt je-
        doch abzuwarten . Schließlich sollen am Ende tatsächlich
        alle Ärzte, Einrichtungsleiter, Krankenhäuser, stationäre
        Einrichtungen der Pflege, Einrichtungen für ambulantes
        Operieren, Labore und Gesundheitsbehörden auf allen
        Ebenen eingebunden sein, damit wir in der Endstufe ein
        lückenloses Informationsnetz mit rund 400 000 Nutzern
        erhalten .
        Entscheidend ist auf jeden Fall, dass die beteiligten
        Stellen und insbesondere der Öffentliche Gesundheits-
        dienst (ÖGD) personell und organisatorisch in der Lage
        sind, auf die größeren Datenströme reagieren zu können .
        Auch wenn der Öffentliche Gesundheitsdienst Länder-
        sache ist, möchte ich dennoch den dort immer wieder
        beklagten Personalmangel nochmals aufgreifen . Die
        Gesundheitsministerkonferenz hat sich im vergangenen
        Jahr in der 89 . Sitzung intensiv damit beschäftigt und den
        Beschluss „Perspektiven zur Stärkung des ÖGD“ gefasst .
        Dem Beschluss müssen nun Taten folgen, damit die Prä-
        vention und Bekämpfung von ansteckenden Krankheiten
        effizienter gelingen kann.
        Zudem müssen wir bei den sensiblen Daten, die künf-
        tig in ein elektronisches Melde- und Informationssystem
        einfließen und online übermittelt werden sollen, der Fra-
        ge der Datensicherheit große Aufmerksamkeit schenken .
        Das Ganze wird durch den Erlass einer Rechtsverord-
        nung geregelt . Hier werden das Bundesamt für Sicherheit
        in der Informationstechnik und die Bundesbeauftragte
        für den Datenschutz sicherlich den entsprechenden Input
        liefern .
        Ein weiterer wichtiger Punkt des vorliegenden Ge-
        setzentwurfes ist die Umsetzung der Laborcontain-
        ment-Vorgaben der Globalen Polioeradikationsinitiative .
        Stufenweise sollen Poliowildviren, Polioimpfviren und
        Materialien, die Polioviren enthalten könnten, erfasst,
        zentralisiert und schließlich vernichtet werden .
        Polio ist ein gutes Beispiel dafür, was mit nationalen
        und internationalen Vorgaben und Bemühungen erreicht
        werden kann, um Krankheiten einzudämmen und auszu-
        rotten . Ich wünsche mir sehr, dass wir das in naher Zu-
        kunft auch über Masern und Röteln sagen können . Hier
        sind wir noch weit vom Ziel entfernt .
        Viel zu viele Kinder verfügen über keinen altersge-
        rechten Impfschutz, und die Impflücken bei Jugendlichen
        und jungen Erwachsenen sind eklatant . Ich hoffe sehr,
        dass uns der Aktionsplan 2015–2020 zur Elimination
        von Masern und Röteln ein großes Stück weiterbringt .
        Deshalb nutze ich die heutige Debatte auch, um dazu
        aufzurufen, die von der STIKO empfohlenen Schutzimp-
        fungen ernst zu nehmen . Lassen Sie Ihren Impfstatus
        überprüfen, auffrischen und ergänzen . Schützen Sie sich
        selbst und andere durch einen kleinen Piks!
        Der heute eingebrachte Gesetzentwurf beinhaltet vie-
        le wichtige Punkte, die zu einem besseren Gesundheits-
        schutz beitragen werden . Wir werden in der nächsten
        Sitzungswoche die Gelegenheit haben, die derzeit noch
        offenen Detailfragen in einer öffentlichen Anhörung
        des Gesundheitsausschusses zu vertiefen und zu klären .
        Schon jetzt ist aber klar, dass der Gesetzentwurf die Mel-
        dekette und die Information über Übertragungswege von
        ansteckenden Krankheiten verbessern wird . Er ist not-
        wendig und deshalb zu begrüßen .
        Birgit Wöllert (DIE LINKE): Unter dem sperrigen
        Titel „Modernisierung der epidemiologischen Überwa-
        chung übertragbarer Krankheiten“ diskutieren wir heu-
        te, wie die Verhinderung der Verbreitung übertragbarer
        Krankheiten in Deutschland weiter verbessert und ihre
        Bekämpfung an neue Entwicklungen angepasst werden
        kann . Mit dem Gesetzentwurf sollen Änderungen an ei-
        nigen bestehenden Gesetzen, darunter – um nur einige zu
        nennen – das Infektionsschutzgesetz (IfSG), die Trink-
        wasserverordnung, das Gesetz zur Durchführung der
        Internationalen Gesundheitsvorschriften und das Auslän-
        derzentralregistergesetz, vorgenommen werden .
        Die Bekämpfung ansteckender Krankheiten ist für
        meine Fraktion Die Linke ein wesentliches gesundheits-
        politisches Ziel . Neben gesundheitsfördernden und prä-
        ventiven Maßnahmen stellen auch die Konkretisierungen
        und Erweiterungen der Meldepflicht sowie insbesondere
        die Einführung eines elektronischen Melde- und Infor-
        mationssystems für übertragbare Krankheiten (DEMIS)
        ein Instrument zur rascheren Bekämpfung und Verhütung
        von Infektionskrankheiten dar . Durch den verbesserten
        Informationsaustausch infolge einer elektronischen Ver-
        arbeitung der Informationen wird der Aufwand der Da-
        tenaufbereitung für die Veröffentlichung in Form von
        Berichten und online zugänglichen öffentlichen interak-
        tiven Datenabfragen reduziert . Automatisierte Abfragen
        und Auswertungen werden so ermöglicht .
        Seit 1997 nimmt Deutschland an der 1988 ins Leben
        gerufenen globalen Initiative zur Ausrottung der Kin-
        derlähmung teil, der sogenannten Globalen Polioeradi-
        kationsinitiative (GPEI) . Damit die Bundesrepublik sich
        weiter an ihr beteiligen kann, sind einige gesetzliche An-
        passungen nötig . Auch diese werden von uns unterstützt .
        § 23 des Infektionsschutzgesetzes regelt die Maß-
        nahmen zur Sicherstellung der Verhütung zur Weiter-
        verbreitung von Krankheitserregern . Hier wurden die in
        Absatz 4 benannten Leiter von Krankenhäusern und Ein-
        richtungen für ambulantes Operieren um die Leiter von
        Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen ergänzt .
        Auch das ist richtig, geht es doch um die Vermeidung
        von Keimen, die im Zusammenhang mit medizinischen
        Behandlungen erworben werden können, und um den
        Nachweis, welche Antibiotika in welcher Dosis einge-
        setzt wurden . Das ist deshalb wichtig, weil immer mehr
        Menschen im Laufe ihres Lebens gegen immer mehr An-
        tibiotika resistent werden .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 2017 21643
        (A) (C)
        (B) (D)
        Lassen Sie mich einige Ausführungen zu § 36 und sei-
        nen recht umfangreichen Ergänzungen und Änderungen
        am IfSG machen .
        Die Klarstellung bei der Aufzählung der Einrichtun-
        gen, die in Hygieneplänen innerbetriebliche Verfahrens-
        weisen zur Infektionshygiene festlegen müssen und der
        infektionshygienischen Überwachung durch das Gesund-
        heitsamt unterliegen, ist sinnvoll, ebenso die Ergänzung
        der Liste der Einrichtungen um ambulante Pflegedienste
        und Unternehmen, die Altenheimen oder Pflegeheimen
        vergleichbar sind .
        Zu diskutieren dagegen ist die Sinnhaftigkeit der Än-
        derung im Ausländerzentralregistergesetz . Wenn eine
        Gesundheitsuntersuchung von Ausländerinnen und Aus-
        ländern keine medizinischen Bedenken gegen eine ge-
        meinschaftliche Unterbringung der betreffenden Person
        erbracht hat, soll dies künftig zentral im Ausländerzen-
        tralregister gespeichert werden .
        Problematisch ist aus unserer Sicht die Änderung, die
        mit der Einschränkung von Grundrechten einhergeht . In
        Absatz 6 des § 36 IfSG wird auf die Einschränkung des
        Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit in Artikel 2
        Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes verwiesen . Hier geht
        es um Menschen, die in gemeinschaftlichen Einrichtun-
        gen von Asylbewerbern, vollziehbar Ausreisepflichtigen,
        Flüchtlingen und Spätaussiedlern untergebracht sind .
        Sie sind verpflichtet, unter bestimmten Bedingun-
        gen eine ärztliche Untersuchung auf Ausschluss einer
        ansteckenden Lungentuberkulose einschließlich einer
        Röntgenaufnahme der Atmungsorgane zu dulden . Auch
        Personen, die in eine Justizvollzugsanstalt aufgenommen
        werden, sind verpflichtet, eine ärztliche Untersuchung
        auf übertragbare Krankheiten einschließlich einer Rönt-
        genaufnahme der Lunge zu dulden .
        Bei der Einschränkung von Grundrechten muss immer
        gefragt werden: Gibt es Alternativen – in diesem Falle di-
        agnostische Alternativen –, die sicherstellen, dass ande-
        ren Menschen in Gemeinschaftsunterkünften kein Scha-
        den durch die Ansteckung mit einer Infektionskrankheit
        entsteht, wenn solche Untersuchungen unterbleiben? Da-
        rüber wird im Gesetzgebungsverfahren und in der Anhö-
        rung zu reden sein .
        Worüber sich meine Fraktion allerdings schon heute
        klar ist: Wir stimmen keinem Gesetz zu, das in diesem
        sensiblen Bereich der Landesgesetzgebung die Mög-
        lichkeit einräumt, solche Pflichtuntersuchungen weiter
        auszudehnen . Hier sind bundeseinheitliche Regelungen
        nach unserer Überzeugung dringend notwendig .
        Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Der Ehecausbruch ist heute noch vielen Menschen
        im Gedächtnis . Der Ausbruch mit fast 4 000 Erkrankun-
        gen und 53 Verstorbenen infolge der schweren Infektion
        hat die Gesundheitsbehörden von Bund und Ländern und
        das medizinische Versorgungssystem vor außerordentli-
        che Herausforderungen gestellt . Der regionalübergreifen-
        de Ausbruch hat uns vergegenwärtigt, dass auch seltene,
        aggressive Krankheitserreger nicht vor Landesgrenzen
        haltmachen . Im Nachgang der Ehec-Krise hat sich vor
        allem auch die Gesundheitsministerkonferenz (GMK)
        mit den Lehren aus den Vorfällen beschäftigt . Dabei war
        ein wesentlicher Punkt, dass es eines schnellen Informa-
        tionsflusses im Ausbruchsfall bedarf, um übertragbaren
        Infektionskrankheiten rasch zu begegnen . Deshalb wur-
        de zu Recht gefordert, dass zukünftig die Übermittlung
        von Falldaten beschleunigt und auch die Verzahnung der
        Arbeit von Bund und Ländern verbessert werden muss .
        Auch wenn der Bund zur Bekämpfung von übertragba-
        ren Krankheiten das Infektionsschutzgesetz erlassen hat,
        fällt die Aufgabe der Seuchenbekämpfung vor Ort in die
        Zuständigkeiten der Länder und Kommunen .
        Der nun vorliegende Gesetzentwurf „zur Modernisie-
        rung der epidemiologischen Überwachung übertragbarer
        Krankheiten“ ist nun der Versuch, die Prävention und
        Bekämpfung übertragbarer Krankheiten effizienter zu
        gestalten . Die Übermittlung von Falldaten soll aufgrund
        einer einheitlichen elektronischen Basis beschleunigt
        und somit das Meldesystem verbessert, die Meldepflich-
        ten ausgeweitet und zusätzliche Bestimmungen in Ge-
        meinschaftsunterkünften ergänzt werden . Allerdings ent-
        hält der Gesetzentwurf zahlreiche Erneuerungen, deren
        Tragweite und konkrete Ausführung noch viele Fragen
        offenlässt .
        Erstens, ÖDG: Die Bedeutung ist im Gesetzentwurf
        nicht ausreichend abgedeckt . Das Infektionsschutzgesetz
        (IfSG) zur Gefahrenabwehr von Infektionskrankheiten
        ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, weshalb die
        Kosten nicht allein den Kommunen auferlegt werden
        dürfen . Die Bedeutung der kommunalen Strukturen des
        Öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD) wird im Ge-
        setzentwurf der Bundesregierung nicht ausreichend be-
        rücksichtigt . So blauäugig wie die Bundesregierung ist,
        berücksichtigt sie nicht, dass die Einführung des DEMIS
        Mehrarbeit für den Öffentlichen Gesundheitsdienst dar-
        stellt, und versäumt es dadurch, die Mehraufgaben finan-
        ziell abzubilden . Das Robert-Koch-Institut (RKI) etwa
        erfährt mit der Novelle eine Stärkung; die Basis bleibt
        weiterhin geschwächt . Deshalb fordern wir Nachbesse-
        rungen gerade hinsichtlich der personellen Notwendig-
        keiten, die sich nicht nur am RKI, sondern auch beim
        kommunal getragenen Teil des ÖGDs ergeben .
        Zweitens, DEMIS: Mehr- oder Minderaufwand? Die
        Einführung des DEMIS begrüßen wir . Viele Meldun-
        gen erfolgen nach wie vor per Fax an das zuständige
        Gesundheitsamt . Dieser Weg ist sehr fehleranfällig und
        zudem aufwendig, da erst im Gesundheitsamt eine ma-
        nuelle Eingabe der per Fax übermittelten Daten erfolgt .
        Die Bundesregierung geht deshalb davon aus, dass es
        durch die Einführung von DEMIS zu einer Entlastung
        der Gesundheitsämter kommen wird . Im Gegensatz dazu
        sprechen der Bundesverband der Ärztinnen und Ärzte
        des Öffentlichen Gesundheitsdienstes, die kommunalen
        Spitzenverbände sowie die Bundesärztekammer davon,
        dass durch die Einführung des DEMIS wesentlich höhere
        Meldezahlen generiert werden und dadurch ein erhöhter
        Recherchebedarf und Ermittlungsaufwand aufseiten der
        Gesundheitsämter entstehen wird .
        Die Bundesregierung täte gut daran, die Arbeit der Ge-
        sundheitsämter nicht nur auf die bloße Datensammlung
        zu reduzieren; denn sie sind auch für die Auswertung und
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 201721644
        (A) (C)
        (B) (D)
        letztendlich für die Eindämmung der Infektionskrankhei-
        ten zuständig . Auch die Antworten auf die wesentlichen
        Fragen der Datenqualität und die Herausforderungen an
        die Qualifikationen von Mitarbeiterinnen und Mitarbei-
        tern im Bereich des Datenhandlings und -monitorings
        werden im vorliegenden Gesetzentwurf nicht abgebildet .
        Drittens, Änderungen bei Gemeinschaftseinrichtun-
        gen und Gemeinschaftsunterkünften mit Maß? Dass
        Röteln in die Liste der Erkrankungen aufgenommen
        werden, die zu einem Tätigkeits- bzw . Betretungsverbot
        führen, ist aus epidemiologischer Sicht begrüßenswert .
        Die erst bei der letzten IfSG-Novelle (im Rahmen des
        Präventionsgesetzes) eingeführte Änderung, die die Vor-
        lage einer Impfberatung bei Aufnahme in die Einrichtung
        fordert, wird mit diesem Gesetzentwurf verschärft .
        Die Kindergartenleitung soll nun verpflichtet wer-
        den, das Gesundheitsamt, sofern der Nachweis über eine
        Impfberatung nicht vorgelegt wird, zu benachrichtigen .
        Sowohl aus datenschutzrechtlichen Gründen als auch aus
        Präventionssicht ist diese Anpassung abzulehnen .
        Die Richtung des Gesetzes ist begrüßenswert . Doch
        insgesamt werden in dem Entwurf zahlreiche Änderun-
        gen vorgesehen, deren Tragweite und konkrete Ausfüh-
        rung noch viele Fragen offen lassen . Dies gilt nicht nur
        für DEMIS, sondern zum Beispiel auch für die Unter-
        richtungspflichten und andere Neuerungen.
        Annette Widmann-Mauz, Parl. Staatssekretärin
        beim Bundesminister für Gesundheit: Mit dem Infek-
        tionsschutzgesetz wurden im Jahr 2001 bereits gute
        Grundlagen für die epidemiologische Überwachung
        übertragbarer Krankheiten in Deutschland geschaffen .
        Der vorliegende Gesetzentwurf soll den Infektionsschutz
        und den damit befassten Öffentlichen Gesundheitsdienst
        nun in das digitale Zeitalter befördern .
        Die Möglichkeiten moderner Informationstechnologie
        sollen verstärkt genutzt werden, um die Effizienz des In-
        fektionsschutzes zu steigern . Dazu soll ein einheitliches
        elektronisches Melde- und Informationssystem geschaf-
        fen werden, mit dem Meldedaten automatisiert verarbei-
        tet werden können .
        Das System soll bereits bei den meldepflichtigen La-
        boren, Ärztinnen und Ärzten und Krankenhäusern anset-
        zen . Es soll diese automatisiert auf das Bestehen einer
        Meldepflicht aufmerksam machen und sie beim Erstellen
        der Meldung unterstützen . Die Software des elektroni-
        schen Meldesystems soll dazu in die bereits eingesetzten
        Praxissoftwaresysteme integriert werden können .
        Durch das elektronische System können die Gesund-
        heitsämter und das Robert-Koch-Institut Daten über das
        Auftreten von übertragbaren Krankheiten schneller, voll-
        ständiger und in besserer Qualität erhalten . Die Gesund-
        heitsämter werden von bürokratischem Aufwand entlas-
        tet . Daten aus eingegangenen Meldungen müssen nicht
        mehr von Hand in den Computer übertragen werden .
        Zahlreiche weitere Datenverarbeitungsschritte sollen
        automatisiert erfolgen können, etwa die Erkennung von
        Krankheitshäufungen oder von Doppelmeldungen . Für
        die Datensicherheit und den Datenschutz wird das Sys-
        tem höchste Standards gewährleisten .
        Ziel ist es, das System so auszugestalten, dass es mit-
        telfristig auch als mögliche Anwendung der Telematik-
        infrastruktur des Gesundheitswesens infrage kommt .
        Das RKI soll ein entsprechendes System errichten . Da-
        für wird gegenwärtig ein Zeitraum von etwa fünf Jahren
        veranschlagt . Ein gemeinsamer Planungsrat soll sicher-
        stellen, dass Bund und Länder sich hier eng miteinander
        abstimmen .
        Mit dem Gesetzentwurf werden darüber hinaus eine
        Reihe von weiteren Verbesserungen im Infektionsschutz
        vorgenommen . Beispielhaft nenne ich folgende Punkte:
        Damit das Gesundheitsamt bei einer Häufung von
        Krankenhausinfektionen ein umfassenderes Lagebild er-
        hält, werden die Angaben, die bei einer entsprechenden
        Meldung zu machen sind, erweitert .
        Damit das Gesundheitsamt frühzeitiger vom Auftre-
        ten von Skabies in Gemeinschaftsunterkünften wie zum
        Beispiel stationären Pflegeinrichtungen erfährt und ein-
        schreiten kann, wird eine entsprechende Benachrichti-
        gungspflicht geregelt.
        Das RKI nimmt im Bereich des internationalen Ge-
        sundheitsschutzes in zunehmendem Maße Verantwortung
        auch durch Einsätze im Ausland wahr . Dieses Engage-
        ment wird nun gesetzlich verankert . Damit wird – nicht
        zuletzt aufgrund der Erfahrungen aus dem Ebolaausbruch
        in Westafrika im Jahr 2014 – der gestiegenen Bedeutung
        von globalem Gesundheitsschutz Rechnung getragen .
        Der Gesetzentwurf betrifft auch die Beteiligung
        Deutschlands an der weltweiten Strategie der WHO zur
        Ausrottung der Kinderlähmung .
        Um die großen Erfolge der weltweiten Impfprogram-
        me dauerhaft abzusichern, sieht der Gesetzentwurf ent-
        sprechend der Polioeradikationsstrategie Maßnahmen
        zur Erhöhung der Laborsicherheit und zur schrittweisen
        Vernichtung aller Poliovirenbestände vor . Der Gesetz-
        entwurf bringt damit viele große und kleine Schritte zur
        Verbesserung des Infektionsschutzes – für Deutschland
        und darüber hinaus .
        Anlage 13
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung einge
        brachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Wirt
        schaftspartnerschaftsabkommen vom 15. Oktober
        2008 zwischen den CARIFORUMStaaten einer
        seits und der Europäischen Gemeinschaft und ih
        ren Mitgliedstaaten andererseits (Zusatztagesord
        nungspunkt 4)
        Dr. Georg Kippels (CDU/CSU): Wirtschaft, Han-
        del und Beschäftigung sind zentral für die erfolgreiche
        Entwicklung eines Landes . Für die Staaten des CARI-
        FORUM ist die EU der zweitwichtigste Handelspartner
        weltweit . Damit eröffnet das Wirtschaftspartnerschafts-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 2017 21645
        (A) (C)
        (B) (D)
        abkommen vom 15 . Oktober 2008 zwischen den CA-
        RIFORUM-Staaten einerseits und der Europäischen
        Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits
        verbesserte wirtschaftliche Möglichkeiten .
        Durch das Wirtschaftspartnerschaftsabkommen wer-
        den Handelshemmnisse schrittweise und WTO-konform
        abgebaut und die Handels- und Entwicklungszusammen-
        arbeit gestärkt . Das Abkommen trat zwar bereits 2008
        in Kraft, allerdings nur vorläufig. Jetzt wird es durch
        Deutschland ratifiziert. Dies ist ein wichtiger Schritt im
        Bestreben, weiter den wirtschaftlichen Aufschwung der
        Partnerstaaten zu verbessern . Ich begrüße es dabei sehr,
        dass die EU den CARIFORUM-Staaten nahezu vollstän-
        digen Marktzugang einräumt, während die Handelslibe-
        ralisierung aufseiten der CARIFORUM-Staaten weniger
        weitreichend ausfällt und stufenweise erfolgt .
        Weiter sind die vereinbarten Schutzklauseln ein wich-
        tiges Instrument, um den CARIFORUM-Staaten die
        Möglichkeit zu geben, Schutzmaßnahmen zu ergreifen,
        wenn durch EU-Importe eine Schädigung der heimi-
        schen Wirtschaft droht . Zudem muss man betonen, dass
        das EPA mit einem regionalen Staatenblock geschlossen
        wurde . Hiermit sollen die regionale Integration vorange-
        trieben werden und damit auch nachhaltige und arbeits-
        teilige Wertschöpfungsprozesse etabliert werden .
        Lassen Sie mich ein Beispiel dafür nennen, wie das
        Wirtschaftspartnerschaftsabkommen im Zusammenspiel
        mit europäischer Entwicklungshilfe zur nachhaltigen
        Entwicklung der Region beitragen kann: das Regulie-
        rungsprojekt des Caribbean Regional Fisheries Mecha-
        nism (CRFM) zur Verbesserung der Sicherheit von Fisch
        und Fischereierzeugnissen für Verbraucher in nationalen
        und Exportmärkten mit dem Inter-American Institute for
        Cooperation on Agriculture . Hierbei handelt es sich um
        ein Projekt, das vom 10th European Development Fund –
        Sanitary and Phyto-Sanitary Measures – der EU geför-
        dert wurde .
        Im Rahmen des Projekts wurden sechs neue Hand-
        bücher für die Inspektion von Fischereifahrzeugen, Ver-
        arbeitungsbetrieben und Aquakulturanlagen erarbeitet
        sowie zwei Handbücher zur Prüfung der Fischereier-
        zeugnisse . Die Handbücher sind in den Sprachen Spa-
        nisch, Französisch und Niederländisch verfügbar . Damit
        werden internationale Normen für die Sicherheit von Fi-
        schereierzeugnissen erreicht, die das volle Ausschöpfen
        des wirtschaftlichen Nutzens für die Fischereisektoren in
        den CARIFORUM-Staaten, insbesondere im Export, in
        der Zukunft ermöglichen .
        Dieses Zusammenspiel von Entwicklungsprogram-
        men, die die Länder fit für den Weltmarkt machen, und
        Wirtschaftspartnerschaften, die den Ländern den Zugang
        zum europäischen Markt ermöglichen, sind für mich
        die Zukunft . Durch diese Herangehensweise wird die
        von den SDGs geforderte Zusammenarbeit auf Augen-
        höhe gefördert und der nachhaltige wirtschaftliche Auf-
        schwung ermöglicht .
        Entscheidend wird aber auch sein, die Handelsab-
        kommen nicht nur stereotyp fortzuführen, sondern auch
        auf die Veränderungen aus Globalisierung und Digita-
        lisierung anzupassen und fortzuschreiben . Gerade bei
        kleineren Handelspartnern mit keinen oder nur gerin-
        gen Rohstoffvorräten kann durch Veränderungen in der
        Produktionsstruktur eine andere und nachhaltige Wert-
        schöpfungskette aufgebaut werden . Wissenstransfer als
        Wirtschaftsgut wird dabei in Zukunft eine größere Rol-
        le einnehmen und bietet Expansionsmöglichkeiten, die
        nichts mit der geografischen Lage oder sonstigen harten
        Produktionsfaktoren zu tun haben .
        Bei der Anwendung und Umsetzung der Abkommen
        wird aber auch umso mehr der Auftrag aus der Agen-
        da 2030 in den Vordergrund rücken, und wir werden die
        globale Verantwortung intensiver beachten und überneh-
        men müssen .
        Welche gesellschaftspolitischen Auswirkungen und
        Diskussionen von Handelsabkommen und Verhandlun-
        gen um diese ausgehen können, erlebten wir in diesen
        Tagen bei CETA und TTIP, wobei es weniger auf die
        Dimension als vielmehr auf die Philosophie und gesell-
        schaftliche Akzeptanz ankommen wird .
        Das CARIFORUM-Abkommen ist deshalb heute
        wesentlich mehr als eine unbedeutende Fußnote in den
        Geschichtsbüchern, nämlich ein neues Kapitel in einer
        fairen Globalisierung .
        Dr. Sascha Raabe (SPD): Manchmal mahlen die
        europäischen und nationalen Mühlen wirklich lang-
        sam . Man muss sich das einmal vor Augen führen: Das,
        worüber wir hier und heute im Deutschen Bundestag
        abschließend beraten, das Wirtschaftspartnerschafts-
        abkommen der EU mit den karibischen Staaten – kurz
        CARIFORUM –, ist bereits seit 2008 vorläufig in Kraft.
        Neun Jahre später haben wir als deutsche Abgeordnete
        im Rahmen des Ratifikationsprozesses nun die Chance
        mitzuentscheiden . Dass wir, wenn auch spät, diese Chan-
        ce zur Beteiligung bei einem Handelsabkommen der
        EU überhaupt haben, ist keineswegs selbstverständlich .
        Lange habe ich mit Unterstützung unseres Bundestags-
        präsidenten erfolgreich dafür gekämpft, dass der Deut-
        sche Bundestag bei allen jetzt noch ausstehenden Wirt-
        schaftspartnerschaftsabkommen (Economic Partnership
        Agreement – EPA) mit den afrikanischen, karibischen
        und pazifischen Staaten zu beteiligen ist. Nein, ich denke,
        wir sollten sehr selbstbewusst auf unseren Beteiligungs-
        rechten bei all diesen Abkommen bestehen . Insofern ist
        das heute ein guter Tag für den Parlamentarismus .
        Und wir nehmen unsere Kontrollfunktion ernst . Das
        haben wir beim vorliegenden CARIFORUM-Abkom-
        men bewiesen, und das werden wir ebenso bei den an-
        stehenden Abkommen mit den afrikanischen Regionen
        beweisen . Ich hatte bereits anlässlich der ersten Lesung
        im vergangenen September angekündigt, dass wir uns
        im Ausschuss noch einmal intensiv mit dem Abkommen
        befassen würden . Welche Auswirkungen hat es? Hat es
        sein Ziel, eine entwicklungsfördernde und armutsredu-
        zierende Wirkung in den karibischen Partnerländern zu
        entfalten, erfüllt? Das CARIFORUM-Abkommen bietet
        sich ja nun wirklich an, sich mit seinen Auswirkungen
        auseinanderzusetzen, weil es, wie beschrieben, schon ei-
        nige Zeit in Kraft ist . Wir haben ein Fachgespräch mit
        Experten zu dieser Frage durchgeführt . Das Ergebnis:
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 201721646
        (A) (C)
        (B) (D)
        Bei diesem EPA sind bislang kaum nennenswerte wirt-
        schaftliche oder soziale Folgen festzustellen, weder po-
        sitiv noch negativ .
        Ist CARIFORUM also kalter Kaffee? Ich denke, nicht,
        und ich glaube, wir sollten diesem Abkommen eine
        Chance geben . Wir würden unsere Partner in der Kari-
        bik vor den Kopf stoßen, würden wir jetzt das Abkom-
        men noch stoppen . Allein die Tatsache, dass ein solches
        Partnerschaftsabkommen vereinbart wurde, wird in den
        Ländern der karibischen Region durchaus positiv gese-
        hen . Diese Signalfunktion für den Willen zur Zusammen-
        arbeit darf man nicht unterschätzen . An mich jedenfalls
        ist bisher aus den Partnerländern der karibischen Regi-
        on noch keine Bitte herangetragen worden, dem Vertrag
        nicht zuzustimmen – weder von staatlicher Seite noch
        etwa von Gewerkschaftsseite . Ich kann und will zwar an
        dieser Stelle nicht verhehlen, dass ich an einigen Stellen
        Bedenken habe und vieles an dem Abkommen kritisch
        sehe. Dennoch habe ich mich nach reifliche Überlegung
        letztlich entschlossen, als zuständiger Berichterstatter
        meiner Fraktion die Zustimmung zu empfehlen .
        Ausschlaggebend hierfür ist, dass ich das Nach-
        haltigkeitskapitel des CARIFORUM-Abkommens für
        vergleichsweise fortschrittlich halte . Dort sind die öko-
        logischen, menschenrechtlichen und sozialen Mindest-
        standards in einer Art und Weise verankert, wie man
        es sich auch bei anderen Abkommen wünschen würde .
        Und anders als in alle bisherigen Handelsabkommen der
        EU sind sie mit Sanktionsmechanismen ausgestattet, die
        ich für gerade noch ausreichend erachte . Ich habe mich
        hierzu in den letzten Wochen intensiv mit der EU-Kom-
        mission beraten, weil es in dieser Frage doch einige Un-
        klarheiten gab . Mir ist es wichtig, dass wir hier keinen
        zahnlosen Tiger vereinbaren, sondern dass schwere Ver-
        stöße etwa gegen ILO-Kernarbeitsnormen auch wirksam
        geahndet werden können . Das ist bei genauer Betrach-
        tung bei CARIFORUM der Fall . Mehr Klarheit im Ver-
        trag wäre sicher wünschenswert, aber letztlich zählt die
        faktisch bestehende Möglichkeit zur Sanktion . Für CA-
        RIFORUM kann ich daher den Weg mitgehen .
        Ich möchte an dieser Stelle aber auch ganz deutlich sa-
        gen: Die Zustimmung zu CARIFORUM ist kein Präjudiz
        für die Abkommen mit den afrikanischen Regionen . Die
        Abkommen mit der Westafrikanischen Wirtschaftsge-
        meinschaft (ECOWAS), der Ostafrikanischen Gemein-
        schaft (EAC) sowie der Südafrikanischen Entwicklungs-
        gemeinschaft (SADC), die allesamt noch dem Bundestag
        vorgelegt werden müssen, sind wesentlich kritischer zu
        sehen und meiner Auffassung nach nicht zustimmungs-
        fähig . Und sie werden – und das ist ein wesentlicher Un-
        terschied zu CARIFORUM – auch in den Partnerländern
        kritischer bewertet . Mehrere afrikanische Länder haben
        noch nicht unterzeichnet, und die Stimmen nach Neuver-
        handlungen werden immer lauter .
        Wir sollten diese Stimmen hören und ernst nehmen .
        Die Märkte in den afrikanischen Ländern sind in der
        Regel sehr viel anfälliger als die der Partnerstaaten in
        der karibischen Region . Die mit den Wirtschaftspartner-
        schaftsabkommen angestrebte Marktöffnung braucht hier
        noch sehr viel mehr ein hohes Maß an Zurückhaltung und
        Schutzmöglichkeiten . In den afrikanischen Ländern sind
        die möglichen negativen Auswirkungen der Wirtschafts-
        partnerschaftsabkommen, die eben nicht immer den von
        der EU-Kommission so gepriesenen Geist der Partner-
        schaft verströmen, wesentlich durchschlagender, als dies
        für die CARIFORUM-Staaten der Fall ist . Viele Kritiker
        dieser Abkommen befürchten wohl zu Recht erhebli-
        che negative Konsequenzen für die wirtschaftliche Ent-
        wicklung der Partnerländer: Lokale Märkte werden für
        bestimmte Produkte durch Dumpingimporte aus der EU
        zerstört, Wertschöpfung in den Ländern selber wird be-
        hindert . Das alles ist kein Horrorszenario irgendwelcher
        verblendeten Globalisierungskritiker, sondern könnte bei
        Umsetzung der Abkommen sehr schnell Realität werden .
        Ich finde es vor diesem Hintergrund sehr bedauerlich,
        dass – wenn ich richtig informiert bin – die EU-Handels-
        kommissarin Cecilia Malmström erst in dieser Woche
        die afrikanische Forderung nach Neuverhandlungen bei
        einer Veranstaltung Brüssel kategorisch ausgeschlossen
        hat . Diese sture Haltung, dieses „Friss oder stirb“, hilft
        niemandem weiter, und ich glaube nicht, dass Europa
        sich diese Arroganz leisten sollte .
        Genau genommen ist die Forderung, die Abkommen
        neu zu verhandeln, nämlich sogar völlig richtig . Das
        Rahmenabkommen, auf dem die EPAs gründen, also das
        Cotonou-Abkommen aus dem Jahr 2000, läuft 2020 aus .
        Es laufen bereits die Überlegungen, wie ein Post-Coto-
        nou-Vertrag aussehen könnte . Schon im zweiten Halb-
        jahr 2017 soll das Verhandlungsmandat der Kommissi-
        on vorliegen, im kommenden Jahr die Verhandlungen
        aufgenommen werden . Welchen Sinn macht es da, jetzt
        noch EPAs auf der Grundlage des alten Rahmenabkom-
        mens zu verabschieden? Die EPAs mit den afrikanischen
        Regionen sind veraltet, bevor sie in Kraft treten können .
        Ein konsequenter Schlussstrich jetzt und dann ein Neu-
        start auf einer neuen Grundlage mit Verhandlungen, die
        wirklich auf Augenhöhe geführt werden müssen, wären
        sicher besser .
        Dann hätten wir auch die Chance, echte Nachhaltig-
        keitskapitel durchzusetzen, die diesen Namen auch ver-
        dienen und mehr sind als ein moralisches Feigenblatt . Wir
        brauchen verbindlich verankerte ökologische, menschen-
        rechtliche und soziale Mindeststandards mit wirksamen
        Überprüfungs- und Sanktionsmechanismen . Gute Arbeit
        statt Ausbeutung und Kinderarbeit . Davon sind die af-
        rikanischen Abkommen derzeit noch weit entfernt . Das
        aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, sollte unser Ziel
        sein: gute Abkommen, mit denen wir den Menschen in
        Afrika eine Perspektive bieten können . Denn wer verhin-
        dern will, dass sich immer mehr Menschen auf der Flucht
        vor Armut auf den gefährlichen Weg über das Mittelmeer
        nach Europa aufmachen, der muss die Globalisierung
        gerecht gestalten . Fairhandel statt Freihandel – eine
        gerechte Welthandelsordnung und fair gestaltete Han-
        delsverträge sind ein zentraler Baustein, um die (Über-)
        Lebensperspektiven von Menschen in Entwicklungslän-
        dern zu verbessern . Nur dort, wo es eine wirtschaftliche
        Perspektive und gute Jobs mit anständigen Löhnen gibt,
        lassen sich Fluchtursachen eindämmen . Mit fairen Wirt-
        schaftspartnerschaftsabkommen könnten wir einen wich-
        tigen Schritt dahin machen . Bis dahin aber liegt auch für
        uns hier Bundestag noch viel Arbeit vor uns .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 2017 21647
        (A) (C)
        (B) (D)
        Heike Hänsel (DIE LINKE): Fast neun Jahre sind nun
        seit der Unterzeichnung des CARIFORUM-Abkommens
        ins Land gezogen; heute will es die Bundesregierung ra-
        tifizieren. Wir werden wieder, wie bei allen EPAs, dage-
        gen stimmen, weil wir glauben, dass sie die Entwicklung
        Afrikas und der Karibik behindern, statt sie zu fördern .
        In all den Jahren, die dieses EPA nun schon vorläufig
        angewendet wird – an den Parlamenten vorbei übrigens,
        nicht gerade demokratisch – gibt es selbst laut der re-
        gierungsnahen Stiftung Wissenschaft und Politik „bes-
        tenfalls anekdotische Evidenz“ für Handelsvorteile für
        die Karibik . Das heißt auf gut Deutsch: Die CARIFO-
        RUM-Staaten haben bisher gar nichts von dem Abkom-
        men .
        Was ist aus den Exportchancen geworden, die die EU
        den Inselstaaten versprochen hatte? Im Gegenteil: Das
        Handelsdefizit der Karibik mit der EU war 2015 drei-
        mal so groß wie noch zehn Jahre zuvor . So funktioniert
        Freihandel zwischen ungleichen Wirtschaftsräumen: Mit
        den hochspezialisierten und -technisierten EU-Konzer-
        nen können die Exporteure der Karibik nicht konkurrie-
        ren . So werden Rohstoffe, Bananen und Zucker expor-
        tiert und europäische Autos und Maschinen importiert .
        Dabei steht das Größte noch bevor: Die CARIFO-
        RUM-Staaten müssen nämlich ihre Handelsschranken
        erst schrittweise abbauen . Momentan sind wir bei 61 Pro-
        zent der Schutzzölle; in 15 Jahren sollen es 90 Prozent
        sein . Wir können uns nur ausmalen, wie die Handelsbi-
        lanz dann aussieht und was das für Auswirkungen auf die
        Wirtschaft in der Karibik haben wird . EPAs stärken eben
        nicht die regionale Wertschöpfung, sondern verhindern
        sie .
        Trotz alledem will uns die Bundesregierung ja weis-
        machen, die EPAs seien gar keine Freihandels-, sondern
        „Entwicklungsabkommen“ . Auf allen Werbeveranstal-
        tungen haben Regierungsvertreter deshalb die Entwick-
        lungs-, Umwelt- und Sozialstandards gepriesen . Das ist
        zynisch: Ein bisschen Entwicklungshilfe („Aid for Tra-
        de“) soll die Schäden, die der Freihandel der Wirtschaft
        zufügt, ausbügeln . Die gelobten Sozialstandards in Ka-
        pitel 4 und 5 gelten außerdem nicht für diejenigen, die
        am meisten von dem Abkommen profitieren: die europä-
        ischen Großkonzerne .
        Kein Arbeitnehmer in der Karibik, dessen Menschen-
        und Arbeitsrechte von den EU-Multis verletzt werden,
        kann dagegen vor einem europäischen Gericht klagen .
        Das ginge nur über ein verbindliches Menschenrechts-
        abkommen, den derzeit geplanten UN-Treaty . Aber den
        blockiert die Bundesregierung auf UN-Ebene . Machen
        wir uns bei all den edlen Worten über die EPAs als „Ent-
        wicklungsabkommen“ nichts vor; der EU geht es um die
        Profitmaximierung ihrer Großkonzerne und nicht darum,
        die Lebensbedingungen der Menschen in Afrika und der
        Karibik zu verbessern .
        Was wir dabei nicht vergessen dürfen: Die Staaten
        Afrikas und der Karibik haben alle eine koloniale Ver-
        gangenheit; sie alle wurden jahrhundertelang von den
        europäischen Großmächten, ihren Konzernen und Han-
        delsdynastien ausgebeutet . Die Folgen sind noch heute
        spürbar, in der extremen wirtschaftlichen Ungleichheit
        zwischen Norden und Süden . Zu Zeiten des Lomé-Ab-
        kommens war sich die EU scheinbar noch dieses koloni-
        alen Vermächtnisses bewusst: Die ehemaligen Kolonien
        hatten zollfreien Zugang zum EU-Markt, um ihre Pro-
        dukte hier verkaufen zu können .
        Mit den EPAs hat sich das Blatt gewendet . Nun sind es
        die CARIFORUM-Staaten, die nach und nach ihre Zoll-
        schranken für die Billigimporte aus Europa öffnen müs-
        sen . Sogar der Dienstleistungs- und Investitionssektor
        muss liberalisiert werden . Klar ist: Lokale Produzenten
        werden das Nachsehen haben, eigenständige Entwick-
        lungen gehemmt . Wie soll ein CARIFORUM-Land in-
        nerhalb einer Schonfrist von nur zehn Jahren eine eigen-
        ständige, wettbewerbsfähige Industrie aufbauen?
        Wie lange hat im Vergleich die Industrialisierung in
        Europa gedauert? Ermöglicht hat die ja auch erst die ko-
        loniale Expansion der Großmächte . Die EU und alle, die
        diesem Abkommen zustimmen, haben die Verheerungen
        des Kolonialismus und die entsprechende historische
        Verantwortung offenbar vergessen . Unverständlich bleibt
        mir, warum sich die Grünen, die uns in vielen dieser
        Punkte sicher zustimmen, heute nur enthalten .
        Natürlich gab es in der Karibik Protest gegen die
        EPAs . Der jamaikanische Wirtschaftsprofessor Norman
        Girvan sagte, das CARIFORUM-EPA habe das Projekt
        der karibischen Staaten, einen eigenen Wirtschaftsraum
        (CARICOM) aufzubauen, „praktisch getötet“ . Statt regi-
        onaler Integration und mehr Handel zwischen den Inseln
        bringen die EPAs die Ausrichtung auf den Handel mit
        der EU . Laut Professor Girvan wird das Abkommen zu
        völligen Fehlentwicklungen führen: Europäische Firmen
        bekommen Zugang zu Rohstoffen, primären Nahrungs-
        mitteln und unterbezahlten Arbeitskräften . Nachhaltige
        Entwicklung sieht anders aus, da werden Sie mir alle zu-
        stimmen .
        Auf einen letzten Aspekt möchte ich noch hinweisen,
        nämlich die Länder der Karibik, die die EPAs nicht unter-
        schrieben oder ratifiziert haben. Da ist zum einen Haiti.
        Haiti gehört als einziges Land Lateinamerikas zur Grup-
        pe der Least Developed Countries, der am wenigsten ent-
        wickelten Staaten, und konnte deswegen nicht mit dem
        Verlust der EU-Handelsprivilegien unter Druck gesetzt
        werden . In Haiti ist klar, dass das EPA nur Nachteile brin-
        gen würde; daher hat es auch nicht ratifiziert.
        Und dann wäre da als einziges karibisches Land, das
        gar nicht im CARIFORUM ist, Kuba . In Kuba legt man
        keinen Wert auf Freihandelsabkommen, die nur den Star-
        ken nützen . Wenn ausländische Firmen Zugang zum ku-
        banischen Markt bekommen wollen, müssen sie bewei-
        sen, dass ihre Geschäfte dem Land und der Bevölkerung
        wirklich nützen . Zum Beispiel indem sie eine Fabrik auf
        Kuba bauen, gut bezahlte Arbeitsplätze schaffen und
        Steuern zahlen . Von denen können dann kostenlose Bil-
        dung und Gesundheit für alle finanziert werden. Solche
        Entwicklungsmodelle halten wir für weit sinnvoller als
        die neoliberale Freihandelsdoktrin .
        Die EPAs werden die soziale Schere auf der Welt nicht
        schließen, sondern weiter öffnen . Die EPAs sind TTIP
        und CETA für den Süden; deshalb lehnen wir sie kom-
        plett ab .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 215 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 26 . Januar 201721648
        (A) (C)
        (B) (D)
        Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
        Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de
        Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
        Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir
        stehen hier heute vor der Entscheidung, über ein Abkom-
        men abzustimmen, welches bereits seit acht Jahren vor-
        läufig angewendet wird. Deshalb können wir an dieser
        Stelle auch sagen, dass das Abkommen zwischen den
        Karibikstaaten und der Europäischen Union nicht Wort
        gehalten hat . Das Entwicklungsversprechen wurde nicht
        eingelöst . Eine nachhaltige Entwicklung wurde durch
        das Partnerschaftsabkommen nicht befördert . Vielmehr
        enthält es Bestimmungen, die eine entwicklungsfreundli-
        che Industriepolitik konterkarieren könnten .
        Mit dem Verbot von Exportsteuern wird einem schäd-
        lichen Extraktivismus Vorschub geleistet, statt Wert-
        schöpfung vor Ort zu fördern . Auch ist es naiv zu glau-
        ben, dass die Klauseln zum Schutz junger Industrien nur
        ansatzweise ausreichend wären . Der Aufbau junger In-
        dustrien bedarf weit mehr als acht Jahre . Deutschland hat
        jahrzehntelang seinen Markt geschützt und nur so eine
        robuste Wirtschaft aufbauen können .
        Nun dürfen die karibischen Inselstaaten mit dem voll-
        ständigen Inkrafttreten des Abkommens, innerhalb der
        ersten zehn Jahre gerade einmal acht Jahre lang ausge-
        wählte Industrien schützen . Das schafft keinerlei Spiel-
        raum für eine gute Industriepolitik . Das ist alles andere
        als nachhaltig, geschweige denn entwicklungsfreundlich .
        Trotz all dieser Kritikpunkte gibt es aber auch positive
        Ansätze . Hier unterscheidet sich das CARIFORUM-EPA
        auch deutlichen von den afrikanischen EPAs . Die Be-
        stimmungen zu Nachhaltigkeit und Menschenrechten
        sind im Vergleich zu den anderen Abkommen deutlich
        umfassender und expliziter .
        Ein entscheidender Unterschied ist auch, dass das
        Nachhaltigkeitskapitel an das Streitschlichtungsverfah-
        ren angeschlossen ist . Im Streitfall ist der Entzug von
        Zollpräferenzen allerdings nicht vorgesehen, sondern le-
        diglich der Entzug nicht-tarifärer Präferenzen oder etwa
        der Entzug von Entwicklungsgeldern erlaubt . Dabei
        würde gerade letztere Maßnahme die ärmsten Menschen
        treffen und nicht diejenigen, die im Zweifel Menschen-
        rechts- oder Nachhaltigkeitsstandards verletzen . Hier
        hätten wir uns zwar mehr gewünscht, aber immerhin ist
        das Nachhaltigkeitskapitel überhaupt sanktionsbewehrt .
        Das ist ein großer Fortschritt .
        Im Vergleich zu den afrikanischen EPAs enthält das
        Abkommen auch keine Rendezvous-Klauseln, die die
        Länder verpflichten würden, in Zukunft über höchst um-
        strittene Investitionsschutzbestimmungen zu verhandeln .
        Damit ist schon viel gewonnen und den Sonderrechten
        für private Investoren ein Riegel vorgeschoben .
        Noch laufen die Übergangsfristen; am Ende werden
        die Karibikstaaten ihren Markt aber zu fast 90 Prozent li-
        beralisiert haben . Statt diese Staaten zu so weitgehenden
        Marktöffnungen zu zwingen, müsste die EU vielmehr ihr
        Allgemeines Präferenzsystem wieder so ausweiten, dass
        ärmere Länder wie etwa Jamaika oder Dominica erneut
        in den Genuss von unilateralen Handelspräferenzen kä-
        men, ohne die dringend benötigten eigenen Politikspiel-
        räume aufgeben zu müssen .
        Fairer Handel sieht anders aus, insbesondere für die
        afrikanischen Staaten . Minister Müller hätte es in der
        Hand, für einen echten Politikwechsel einzutreten . Der
        Minister schreibt aber lieber öffentlichkeitswirksame
        Hochglanzbroschüren, anstatt sich mit den tatsächlichen
        Herausforderungen zu befassen .
        Wir werden auch deshalb die Wirtschaftspartner-
        schaftsabkommen mit den afrikanischen Staaten ent-
        schieden ablehnen, gleichwohl uns bei dieser Gesetz-
        vorlage zum Abkommen mit den Karibikstaaten aber
        enthalten .
        Die Karibikstaaten selbst haben dem Vertrag nicht
        nur zugestimmt, sondern sie wollen ihn auch . Sie wur-
        den nicht wie die afrikanischen Länder unter Druck
        gesetzt oder erpresst . Das allein ist für uns noch kein
        Argument, dies ebenfalls zu tun oder uns zu enthalten .
        Allerdings sind die karibischen Inseln wirtschaftlich in
        einer deutlich besseren Lage, als es beispielsweise die
        afrikanischen Länder sind . Sie haben größtenteils keine
        Möglichkeit mehr, in den Genuss des Allgemeinen Präfe-
        renzsystems zu kommen . Ohne dieses Abkommen wären
        ihnen somit jeglicher vergünstigter Zollzugang verwehrt .
        Ihnen jetzt den Status quo abzuerkennen hätte gegebe-
        nenfalls wirtschaftlich negative Folgen . Dies zeigt auch,
        dass die Methode der vorläufigen Anwendung von Han-
        delsverträgen höchst problematisch ist, da diese Fakten
        schafft, die schon nach wenigen Jahren ohne schmerz-
        hafte Einschnitte kaum mehr revidierbar sind .
        215. Sitzung
        Inhaltsverzeichnis
        TOP 3 Regierungserklärung: Inklusives Wachstum
        TOP 4 Finanzaufsichtsrechtergänzungsgesetz
        TOP 5 Zukunftsfähige Unternehmensverantwortung
        TOP 33, ZP 1 Überweisungen im vereinfachten Verfahren
        TOP 34, 21 Abschließende Beratungen ohne Aussprache
        TOP 7 Bundeswehreinsatz in Mali (MINUSMA)
        TOP 6 Ausbildungsunterstützung der Bundeswehr im Irak
        TOP 8 Bundeseinheitliche Netzentgelte für Strom
        TOP 9 Änderung der Sportanlagenlärmschutzverordnung
        ZP 2 Gentechnisch veränderte Maislinien
        TOP 11 Nachtragshaushaltsgesetz 2016
        TOP 12 Terrorbekämpfung in Irak, Afghanistan, Pakistan
        TOP 15 Zweites Finanzmarktnovellierungsgesetz
        TOP 14 Bundesweite Statistik über Wohnungslosigkeit
        ZP 3 Fortbestand der Sozialkassenverfahren des Baugewerbes
        TOP 16 Patientenberatung
        TOP 19 GKV-Selbstverwaltungsstärkungsgesetz
        TOP 18 Ausbildung und Arbeit in der Pflege
        TOP 22 Albanien, Serbien - EU-Agentur für Grundrechte
        TOP 20 Entschädigungsleistungen für NS-Opfer
        TOP 23 Schutz der Biodiversität
        TOP 24 Forschung gegen Infektionskrankheiten
        TOP 25 Gesetz über das Fahrlehrerwesen
        TOP 26 Änderungen im Straßenverkehrsrecht
        TOP 27 Überwachung übertragbarer Krankheiten
        ZP 4 Partnerschaftsabkommen mit CARIFORUM-Staaten
        Anlagen
        Anlage 1
        Anlage 2
        Anlage 4
        Anlage 5
        Anlage 6
        Anlage 7
        Anlage 8
        Anlage 9
        Anlage 10
        Anlage 11
        Anlage 12
        Anlage 13