2) Anlage 24
        Vizepräsidentin Ulla Schmidt
        (A) (C)
        (B) (D)
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 20981
        Anlagen zum Stenografischen Bericht
        Anlage 1
        Liste der entschuldigten Abgeordneten
        Abgeordnete(r)
        entschuldigt bis
        einschließlich
        Brandt, Helmut CDU/CSU 15 .12 .2016
        Brugger, Agnieszka BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        15 .12 .2016
        Bülow, Marco SPD 15 .12 .2016
        Deligöz, Ekin BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        15 .12 .2016
        Ernstberger, Petra SPD 15 .12 .2016
        Gunkel, Wolfgang SPD 15 .12 .2016
        Gysi, Dr . Gregor DIE LINKE 15 .12 .2016
        Heck, Dr . Stefan CDU/CSU 15 .12 .2016
        Hübinger, Anette CDU/CSU 15 .12 .2016
        Ilgen, Matthias SPD 15 .12 .2016
        Kekeritz, Uwe BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        15 .12 .2016
        Lerchenfeld, Philipp
        Graf
        CDU/CSU 15 .12 .2016
        Leyen, Dr . Ursula von
        der
        CDU/CSU 15 .12 .2016
        Merkel, Dr . Angela CDU/CSU 15 .12 .2016
        Mortler, Marlene CDU/CSU 15 .12 .2016
        Müller (Chemnitz),
        Detlef
        SPD 15 .12 .2016
        Nahles, Andrea SPD 15 .12 .2016
        Scharfenberg, Elisabeth BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        15 .12 .2016
        Schäuble, Dr . Wolfgang CDU/CSU 15 .12 .2016
        Schlecht, Michael DIE LINKE 15 .12 .2016
        Schmidt (Fürth),
        Christian
        CDU/CSU 15 .12 .2016
        Schwarz, Andreas SPD 15 .12 .2016
        Abgeordnete(r)
        entschuldigt bis
        einschließlich
        Stein, Peter CDU/CSU 15 .12 .2016
        Steinbach, Erika CDU/CSU 15 .12 .2016
        Strebl, Matthäus CDU/CSU 15 .12 .2016
        Uhl, Dr . Hans-Peter CDU/CSU 15 .12 .2016
        Vries, Kees de CDU/CSU 15 .12 .2016
        Walter-Rosenheimer,
        Beate
        BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        15 .12 .2016
        Weber, Gabi SPD 15 .12 .2016
        Weinberg, Harald DIE LINKE 15 .12 .2016
        Zeulner, Emmi * CDU/CSU 15 .12 .2016
        *aufgrund gesetzlichen Mutterschutzes
        Anlage 2
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Dr. Nina Scheer, Ulrike Bahr,
        Lothar Binding (Heidelberg), Bernhard Daldrup,
        Dr. Ute Finckh-Krämer, Bettina Hagedorn, Frank
        Junge, Gabriele Katzmarek, Hiltrud Lotze,
        Dr. Matthias Miersch, Klaus Mindrup, Bettina
        Müller, Christian Petry, Susann Rüthrich, Johann
        Saathoff, Dr. Hans-Joachim Schabedoth, Ewald
        Schurer, Norbert Spinrath und Dagmar Ziegler
        (alle SPD) zu der namentlichen Abstimmung über
        den von den Fraktionen CDU/CSU, SPD und
        BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-
        wurf eines Gesetzes zur Neuordnung der Verant-
        wortung in der kerntechnischen Entsorgung (Ta-
        gesordnungspunkt 3)
        Mit der heutigen Entscheidung geht unser Parla-
        ment den historischen Schritt einer Neuordnung der
        Verantwortung und damit auch Finanzierung der Ato-
        menergie-Folgelasten . Zwar liegt im Sinne des Ver-
        ursacherprinzips die Verantwortung zur Abwicklung
        der Atomenergienutzung richtigerweise grundsätzlich
        bei den Betreibern von Atomkraftwerken und den be-
        treffenden Energiekonzernen . Letztlich wird aber die
        Allgemeinheit zur Verantwortung gezogen, wenn die
        Betreiber etwa durch Konzernaufspaltungen oder In-
        solvenzen nicht mehr zur Haftung herangezogen wer-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201620982
        (A) (C)
        (B) (D)
        den können . Zugleich muss uns bewusst sein, dass über
        Jahrzehnte unterbliebene Vorsorge nachträglich kaum
        mehr erfüllbar ist .
        Während mit dem heute zu verabschiedenden Ge-
        setz die auch ökonomische Verantwortung von Still-
        legung, Rückbau und Verpackung beim Betreiber ver-
        bleibt, geht die Verantwortung für Zwischenlagerung
        und Endlagerung auf den Staat über, insofern die hier-
        für nun gesetzlich formulierten Voraussetzungen erfüllt
        werden . Die langfristig währende Verantwortung für die
        Zwischenlagerung und Endlagerung wird dabei über ei-
        nen öffentlich-rechtlichen Fonds getragen, der vonsei-
        ten der Betreiber mit einem Vermögen von insgesamt
        23,556 Milliarden Euro auszustatten sein wird .
        Mit den Regelungen zur Nachhaftung verhindern wir
        die Enthaftung der Konzerne durch Betreiberinsolvenzen
        oder Konzernaufspaltungen . Die Verabschiedung eines
        Nachhaftungsgesetzes bereits im letzten Jahr war vonsei-
        ten unseres Koalitionspartners trotz erfolgten Kabinetts-
        beschlusses verhindert worden . Umso wichtiger ist es,
        dass eine Nachhaftungsregelung nun mitverabschiedet
        wird . Kritisch betrachten wir dabei, dass sich die Nach-
        haftung bei Konzernaufspaltung nur auf den Bereich der
        Zwischen- und Endlagerung, hingegen nicht auch auf die
        Phase der Stilllegung, des Rückbaus und der Verpackung
        bezieht . Eine umfassendere Nachhaftungsregelung konn-
        te leider nicht geeinigt werden .
        Mit den atomgesetzlichen Änderungen wird die Op-
        tion des sogenannten sicheren Einschlusses nahezu ab-
        geschafft . Die Ausschließlichkeit des Rückbaus hat die
        SPD seit langem gefordert .
        Erst in der vergangenen Woche hat das Bundesver-
        fassungsgericht den politisch in Abwägung mit Ge-
        sundheits- und Umweltschutzbedarfen entschiedenen
        Atomausstieg als im Wesentlichen verfassungskonform
        beschieden . Allein vor diesem Hintergrund erwarte ich
        von den Atomkonzernen die Rücknahme aller im Zusam-
        menhang mit Atomenergienutzung zusammenhängenden
        Klagen, auch solcher, die von den jüngsten Ankündigun-
        gen der Konzerne nicht erfasst sind . Es entspricht unse-
        rem parlamentarischen Selbstverständnis, dass im Fall
        eines Aufrechterhaltens von Klagen vonseiten der Kon-
        zerne und einer sich hierüber zulasten der Allgemeinheit
        verschlechternden Vermögenssituation eine Neuberech-
        nung der Kostenlasten vorzunehmen wäre . Es entspricht
        auch der mit einem Entschließungsantrag der Fraktionen
        CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen – Aus-
        schussdrucksache 18(9)1073 – erklärten Erwartungshal-
        tung gegenüber der Bundesregierung, die Rücknahme
        aller Klagen zu erreichen .
        Der Entschließungsantrag bringt zudem die Erwar-
        tungshaltung zum Ausdruck, dass die Geldanlage des
        einzurichtenden Fonds nachhaltig erfolgt, dass die Mittel
        nicht in Projekten oder Anlagen Verwendung finden, die
        dem übergeordneten Willen des Gesetzgebers zuwider-
        laufen, die Nutzung der Atomenergie zu beenden . Hier-
        für hatte sich die SPD-Fraktion eingesetzt . Wir bedauern,
        dass unser Koalitionspartner diesbezüglich keiner ge-
        setzlichen Regelung zustimmen wollte .
        Während des parlamentarischen Verfahrens ist es ge-
        lungen, die Beteiligung des Parlaments für den weiteren
        Prozess, etwa in der Zusammensetzung des Kuratoriums
        zur Begleitung des Fonds und dessen Einrichtung, zu ge-
        währleisten .
        In Bezug auf die Einsetzung von Kommissionen im
        Vorfeld parlamentarischer Beratungen hat sich die Kom-
        mission zur Überprüfung der Finanzierung des Kern-
        energieausstiegs (KFK) als ein hilfreiches Instrument
        erwiesen, einen Rechtsfrieden auch im Sinne anderer
        zivilgesellschaftlicher Akteure herzustellen . Zugleich
        dürfen außerparlamentarische Kommissionen nicht zur
        faktischen Eingrenzung parlamentarischer Gestaltung
        führen, wenn etwa bereits ein Regierungsentwurf von
        Bindungswirkung in Bezug auf die Einstimmigkeit ei-
        nes Kommissionsbeschlusses gekennzeichnet ist . Dies
        wird dem parlamentarischen Beratungsprozess, den hie-
        sigen öffentlichen Anhörungen, aber auch den einzelnen
        Abgeordneten nicht gerecht und gefährdet nicht zuletzt
        die Bedeutung der parlamentarisch-repräsentativen
        Demokratie . Nach unserer Überzeugung sollten Kom-
        missionen der hier eingesetzten Form nur in absoluten
        Ausnahmefällen eingesetzt werden, wenn der Fokus ein-
        zubeziehender Expertise dies über die Thematik und die
        Dauer sowie den Hergang einer öffentlichen Auseinan-
        dersetzung rechtfertigt .
        In einer Gesamtbetrachtung begrüßen wir, dass mit
        dem vorliegenden Gesetz ein Mehr an Rechtssicherheit
        für die Kostentragung im Zusammenhang der Abwick-
        lung der Atomenergienutzung geschaffen wird, und stim-
        men dem Gesetzentwurf von CDU/CSU, SPD und Bünd-
        nis 90/Die Grünen zu .
        Anlage 3
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Bärbel Höhn, Harald Ebner,
        Matthias Gastel, Oliver Krischer, Steffi Lemke und
        Tabea Rößner (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
        zu der namentlichen Abstimmung über den von
        den Fraktionen CDU/CSU, SPD und BÜNDNIS
        90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurf eines
        Gesetzes zur Neuordnung der Verantwortung in
        der kerntechnischen Entsorgung (Tagesordnungs-
        punkt 3)
        Jahrzehntelang haben die vier großen Energiekonzer-
        ne in Deutschland mit der Produktion von Atomstrom
        Milliarden verdient und gleichzeitig Unmengen an radi-
        oaktivem Müll produziert, der nachfolgende Generatio-
        nen noch lange belasten wird .
        Der Gesetzentwurf zur Umsetzung der Empfehlungen
        der Kommission zur Finanzierung des AKW-Rückbaus
        und der Atommüllendlagerung (KFK) kommt zu spät,
        und er überträgt das Risiko der letztlich unabsehba-
        ren Kostensteigerungen im weiteren Umgang mit dem
        Atommüll an die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler .
        Der Gesetzentwurf zur Umsetzung der KFK-Empfehlun-
        gen stellt aber auch sicher, dass die Atomkonzerne für
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 20983
        (A) (C)
        (B) (D)
        die Beseitigung des hochgefährlichen Atommülls zahlen .
        Für Stilllegung und Rückbau werden die Unternehmen
        bis 2040 rund 60 Milliarden Euro aufwenden müssen .
        Ihre Rückstellungen dafür werden sie künftig transparent
        mit liquiden Mitteln unterlegen müssen . Dies wird von
        Bundesregierung und Bundestag überprüft . Ihre Rück-
        stellungen von bisher gut 17 Milliarden für die Finan-
        zierung von Zwischen- und Endlagerung des Atommülls
        müssen die Konzerne an den Staat in bar übertragen .
        Hinzu kommt ein Risikoaufschlag von 35 Prozent, um
        künftige Risiken abzudecken; es wird also ein 24 Milli-
        arden Euro starker öffentlich-rechtlicher Fonds gebildet .
        Damit wird dem Risiko der Steuerzahlerinnen und Steu-
        erzahler, bei Insolvenz oder Unternehmensumbildung
        der Konzerne die gesamten anfallenden Atommüllkosten
        tragen zu müssen, begegnet .
        Im Zuge der Debatte um den Gesetzentwurf konn-
        ten die Atomkonzerne dazu bewegt werden, die meis-
        ten ihrer Klagen im Atomsektor zurückzuziehen . Die
        beiden Klagen mit dem tatsächlich relevanten Finanz-
        volumen bleiben allerdings bestehen, die Klage gegen
        die Brennelementesteuer und die Klage Vattenfalls vor
        dem Washingtoner Schiedsgericht ICSID . Sollten diese
        erfolgreich sein, könnten sich die Konzerne darüber bis
        zur Hälfte ihrer Einzahlungen in den Entsorgungsfonds
        wieder zurückholen .
        Mit dem Urteil der vergangenen Woche hat das Bun-
        desverfassungsgericht in höchstrichterlicher Instanz der
        Klage der EVU gegen den Atomausstiegsbeschluss von
        2011 eine klare Absage erteilt . Das lässt vermuten, dass
        es sich auch bei der Klage gegen die Brennelemente-
        steuer nicht dem Rechtsverständnis der Atomkonzerne
        anschließt . Wir halten aber nicht nur die bisherige Er-
        hebung der Brennelementesteuer für rechtens, sondern
        auch ihre Fortführung, solange die AKWs laufen. Die fi-
        nanzielle Beteiligung der Atomkonzerne zum Beispiel an
        den Sanierungskosten der Asse wird über die Brennele-
        mentesteuer gewährleistet, und eine solche Beteiligung
        ist absolut sachgerecht .
        Die zweite finanzrelevante Klage ist die von Vattenfall
        vor dem Internationalen Schiedsgericht ICSID . Es ist un-
        wahrscheinlich, dass sich das Schiedsgericht in Washing-
        ton die Rechtsauffassung unseres Bundesverfassungsge-
        richts zu eigen macht, gelten doch vor Schiedsgerichten
        vor allem die Interessen und Investitionen von Unterneh-
        men als Leitlinien des Rechtsempfindens. Politisch hat
        Vattenfall keinerlei Begründung mehr, Klage vor diesem
        Internationalen Schiedsgericht zu führen, das für die Fäl-
        le installiert wurde, in denen nationale Gerichte einem
        Investor keine Gerechtigkeit widerfahren lassen . Das
        BVerfG hat Vattenfall mit seinem Urteil bereits Gerech-
        tigkeit widerfahren lassen .
        Der Auftrag an die Bundesregierung mit der Verab-
        schiedung des Gesetzes zur Neuordnung der Verantwor-
        tung in der kerntechnischen Entsorgung ist also klar: Sie
        muss dafür Sorge tragen, dass auch diese Klagen zu-
        rückgenommen werden . Das ist sie dem versprochenen
        Rechtsfrieden schuldig . Dabei kann sie auf unsere Unter-
        stützung zählen .
        Gerade als grüne Abgeordnete, die immer gegen die
        unverantwortliche Nutzung der Atomkraft gekämpft ha-
        ben, stehen wir auch für das Suchen nach verantwortli-
        chen Lösungen der Probleme, die uns nach Abschalten
        der Atomkraftwerke bleiben . Dieses Gesetz ist eine Not-
        operation, weil es zu spät kommt . Es rettet, was zu retten
        ist, und schützt damit die Steuerzahlerinnen und Steuer-
        zahler vor noch größeren Risiken . Deshalb stimmen wir
        ihm zu .
        Anlage 4
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Dr. Julia Verlinden, Peter
        Meiwald und Sven-Christian Kindler (alle BÜND-
        NIS 90/DIE GRÜNEN) zu der namentlichen Ab-
        stimmung über den von den Fraktionen CDU/
        CSU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-
        brachten Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung
        der Verantwortung in der kerntechnischen Entsor-
        gung (Tagesordnungspunkt 3)
        Wir begrüßen ausdrücklich die Einrichtung eines öf-
        fentlich-rechtlichen Fonds für die Zwischen- und End-
        lagerung des Atommülls als Umsetzung des Ergebnisses
        der „Kommission zur Finanzierung des AKW-Rückbaus
        und der Atommüllendlagerung“ (KFK) . Mit dem vorlie-
        genden Gesetz werden die finanziellen Rückstellungen
        der Atomkonzerne für die Zwischen- und Endlagerung
        des Atommülls endlich in einen öffentlich-rechtlichen
        Fonds übertragen . Bei Zahlung eines Risikozuschlags
        von 35 Prozent bis spätestens 2022 entfällt die Nach-
        haftung für die Unternehmen . Durch den Fonds wird
        das Geld langfristig für die vorgesehenen Aufgaben
        gesichert und vom wirtschaftlichen Schicksal der Ener-
        gieversorgungsunternehmen (EVU) RWE, Eon, Vatten-
        fall und EnBW entkoppelt . Dieser Fonds wird zukünftig
        von einem Kuratorium mit demokratisch legitimierten
        Vertretern aus dem Bundestag kontrolliert . Das ist eine
        klare Verbesserung im Vergleich zum ersten Entwurf des
        Gesetzes .
        Für die Stilllegung und den Rückbau der Atomkraft-
        werke (AKW) und die Verpackung des Atommülls blei-
        ben die Betreiber der Atomkraftwerke weiterhin voll-
        ständig finanziell verantwortlich und haften auch dann,
        wenn die Kosten zukünftig hierfür steigen .
        Die Verursacher des Atommülls, die Energieversorger,
        saßen in der KFK mit am Tisch . Sie haben den Vorschlag
        zur Neuregelung der Finanzierung der Atomaltlasten mit
        verhandelt . Die EVU haben nun angekündigt, einen Teil
        der Klagen gegen den Staat zurückzuziehen, wenn das
        Gesetz verabschiedet wird . Dazu gehört beispielsweise
        auch die Klage gegen Zahlungsbescheide im Zusammen-
        hang mit dem Erkundungsbergwerk Gorleben . Dieser
        Klageverzicht ist wichtig, aber reicht nicht aus .
        Denn zwei zentrale Rechtsstreitigkeiten, die den fi-
        nanziellen Großteil der Klagen mit mehreren Milliarden
        Euro ausmachen, wollen die EVU aber weiterhin auf-
        rechterhalten: die Auseinandersetzung um die Brenn-
        elementesteuer und die Klage von Vattenfall vor dem
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201620984
        (A) (C)
        (B) (D)
        internationalen Schiedsgericht in Washington gegen den
        Atomausstieg – obwohl Vattenfall vom Bundesverfas-
        sungsgericht ausdrücklich Rechtsschutz gewährt wurde .
        Beides kann theoretisch zu Schadensersatzzahlungen
        führen, die die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler zu
        tragen haben, neben bereits heute entstandenen hohen
        Gerichts- und Anwaltskosten . Es zeugt aber vor allem
        davon, dass die Atomunternehmen – auch nach langer
        gesellschaftlicher Auseinandersetzung um die Atom-
        kraft – den großen gesellschaftlichen und politischen
        Willen nach Ausstieg aus dieser Hochrisikotechnologie
        und der Lastentragung nach dem Verursacherprinzip
        nicht vollständig akzeptieren wollen . Zu einem komplet-
        ten Rechtsfrieden bezüglich der Abwicklung der Atom-
        kraft ist die Atomwirtschaft nicht bereit, sondern sie will
        sich ihre Kosten über eingeklagte Schadensersatzzahlun-
        gen teilweise wieder zurückholen . Das ist für uns nicht
        akzeptabel . Zumal die Betreiber der AKW weitere Milli-
        arden Euro sparen werden, wenn die Bundesregierung an
        ihrer Positionierung festhält und die Brennelementesteu-
        er zum Ende des Jahres einfach auslaufen lässt . Die Bun-
        destagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen fordert, die
        Steuer nicht nur weiter zu erheben, bis das letzte AKW
        vom Netz geht, sondern die Steuer ab sofort auch um cir-
        ca 50 Prozent anzuheben .
        Heute kann noch niemand sagen, ob die Geldsumme,
        die in den öffentlich-rechtlichen Fonds eingezahlt wird,
        plus die angenommenen Zinsgewinne ausreichen, um den
        Atommüll eine Million Jahre sicher zu lagern . Erhebliche
        Kostensteigerungen bei einem Großprojekt aufgrund der
        außergewöhnlichen Dimensionen und der mangelnden
        konkreten Erfahrungswerte sind nicht auszuschließen .
        Nicht nur die Kosten des Baus eines Atommüllendlagers
        kann heute niemand genau berechnen . Auch bereits die
        wissenschaftliche, ergebnisoffene Standortsuche wird
        große Summen kosten, zumal die Suche nach einem si-
        cheren Endlager in Deutschland noch gar nicht richtig
        begonnen hat . Und wir brauchen unbedingt eine solche
        sorgfältige Suche . Denn sonst wird es hinterher noch
        teurer: Was es bedeutet, wenn ein ungeeigneter Standort
        für Atommüll ausgewählt wird, sehen wir in Niedersach-
        sen in der Asse, wo der schwach- und mittelradioaktive
        Atommüll nach der Havarie nun aufwendig geborgen
        werden muss: Dann kostet das Aufräumen sehr viel mehr
        als der Bau eines Endlagers .
        Die Rückstellungen plus Risikozuschlag müssen jetzt
        gesichert werden, denn wir haben angesichts des Insol-
        venzrisikos der EVU keine Zeit, abzuwarten, bis zu er-
        wartende Kosten genauer ermittelt werden können . Wir
        fordern, dass auch die Konzerne ehrlich ihre Verantwor-
        tung in dieser zentralen gesellschaftlichen Auseinander-
        setzung übernehmen – und dazu gehört die unverzügli-
        che Herstellung vollständigen Rechtsfriedens in allen
        Klageverfahren bezüglich des Atomausstiegs .
        Wir erwarten, dass die Anlagerichtlinien des Fonds en-
        keltauglich umgesetzt werden . Eine „nachhaltige Anla-
        ge“ der Gelder bedeutet für uns insbesondere, dass nicht
        nur eine Geldanlage in Unternehmen der Atomenergie
        ausgeschlossen wird, sondern auch in fossile Energie-
        träger und fossile Infrastrukturen . Denn die internatio-
        nale Divestment-Bewegung lässt annehmen, dass solche
        Geldanlagen, beispielsweise in Kohle oder Erdöl, nicht
        nur politisch kontraproduktiv wirken würden, sondern
        auch ökonomisch deutlich schneller an Wert verlieren
        werden als der Bau eines Atommülllagers in Deutschland
        dauern könnte .
        Nach Abwägung dieser Punkte werden wir nicht ge-
        gen das Gesetz stimmen, weil es einen ganz wichtigen
        Schritt, nämlich die Sicherung der Rückstellungen mit
        Risikozuschlag in einen öffentlich-rechtlichen Fonds,
        vollzieht .
        Wir können aber auch nicht für das Gesetz stimmen,
        weil die Atomunternehmen, für welche die Bundesre-
        publik Deutschland für den Bereich der Zwischen- und
        Endlagerung des Atommülls die Haftung und damit auch
        die finanziellen Risiken übernimmt, nicht zu einem voll-
        ständigen Rechtsfrieden bereit sind und Milliardenkla-
        gen gegen den Staat aufrechterhalten .
        Deswegen enthalten wir uns bei der Abstimmung .
        Anlage 5
        Erklärungen nach § 31 GO
        zu der namentlichen Abstimmung über den von
        den Fraktionen CDU/CSU, SPD und BÜND-
        NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurf ei-
        nes Gesetzes zur Neuordnung der Verantwortung
        in der kerntechnischen Entsorgung (Tagesord-
        nungspunkt 3)
        Heike Baehrens (SPD): Mit der heutigen Entschei-
        dung wird die Neuordnung der Verantwortung und Fi-
        nanzierung der Atomenergie-Folgelasten geregelt .
        Während mit dem heute zu verabschiedenden Gesetz
        die ökonomische Verantwortung von Stilllegung, Rück-
        bau und Verpackung beim Betreiber verbleibt, geht die
        Verantwortung für Zwischenlagerung und Endlagerung
        auf den Staat über, wenn die hierfür nun gesetzlich for-
        mulierten Voraussetzungen erfüllt werden . Die langfris-
        tig währende Verantwortung für die Zwischenlagerung
        und Endlagerung wird über einen öffentlich-rechtlichen
        Fonds getragen, der vonseiten der Betreiber mit einem
        Vermögen von insgesamt 23,556 Milliarden Euro auszu-
        statten ist .
        Mit den Regelungen zur Nachhaftung verhindern wir
        die Enthaftung der Konzerne durch Betreiberinsolvenzen
        oder Konzernaufspaltungen . Die Verabschiedung eines
        Nachhaftungsgesetzes bereits im letzten Jahr war vonsei-
        ten unseres Koalitionspartners trotz erfolgten Kabinetts-
        beschlusses verhindert worden . Umso wichtiger ist es,
        dass eine Nachhaftungsregelung nun mit verabschiedet
        wird . Kritisch betrachte ich dabei, dass sich die Nach-
        haftung bei Konzernaufspaltung nur auf den Bereich der
        Zwischen- und Endlagerung, hingegen nicht auch auf die
        Phase der Stilllegung, des Rückbaus und der Verpackung
        bezieht . Eine umfassendere Nachhaftungsregelung wird
        leider nicht von der CDU/CSU mitgetragen .
        Mit den atomgesetzlichen Änderungen wird die Op-
        tion des sogenannten sicheren Einschlusses nahezu ab-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 20985
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        geschafft . Die Ausschließlichkeit des Rückbaus hat die
        SPD seit langem gefordert .
        Gerade hat das Bundesverfassungsgericht den politisch
        in Abwägung mit Gesundheits- und Umweltschutzbe-
        darfen entschiedenen Atomausstieg als im Wesentlichen
        verfassungskonform beschieden . Allein vor diesem Hin-
        tergrund erwarte ich von den Atomkonzernen die Rück-
        nahme aller im Zusammenhang mit Atomenergienutzung
        zusammenhängenden Klagen, auch solcher, die von den
        jüngsten Ankündigungen der Konzerne nicht erfasst sind .
        Es entspricht meinem parlamentarischen Selbstverständ-
        nis, dass im Fall eines Aufrechterhaltens von Klagen
        vonseiten der Konzerne und einer sich hierüber zulasten
        der Allgemeinheit verschlechternden Vermögenssituati-
        on eine Neuberechnung der Kostenlasten vorzunehmen
        ist . Es entspricht auch der mit einem Entschließungsan-
        trag der Fraktionen CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die
        Grünen – Ausschussdrucksache 18(9)1073 – erklärten
        Erwartungshaltung gegenüber der Bundesregierung, die
        Rücknahme aller Klagen zu erreichen .
        Der Entschließungsantrag bringt zudem die Erwar-
        tungshaltung zum Ausdruck, dass die Geldanlage des
        einzurichtenden Fonds nachhaltig erfolgt, dass die Mittel
        nicht in Projekten oder Anlagen Verwendung finden, die
        dem übergeordneten Willen des Gesetzgebers zuwider-
        laufen, die Nutzung der Atomenergie zu beenden . Hier-
        für hatte sich die SPD-Fraktion eingesetzt . Ich bedaure,
        dass unser Koalitionspartner diesbezüglich keiner ge-
        setzlichen Regelung zustimmen wollte .
        Während des parlamentarischen Verfahrens ist es ge-
        lungen, die Beteiligung des Parlaments für den weiteren
        Prozess, etwa in der Zusammensetzung des Kuratoriums
        zur Begleitung des Fonds und dessen Einrichtung, zu ge-
        währleisten .
        In Bezug auf die Einsetzung von Kommissionen im
        Vorfeld parlamentarischer Beratungen hat sich die Kom-
        mission zur Überprüfung der Finanzierung des Kern-
        energieausstiegs (KFK) als ein hilfreiches Instrument
        erwiesen, einen Rechtsfrieden auch im Sinne anderer
        zivilgesellschaftlicher Akteure herzustellen . Zugleich
        dürfen außerparlamentarische Kommissionen nicht zur
        faktischen Eingrenzung parlamentarischer Gestaltung
        führen . Darum sehe ich die Bezugnahme im Gesetzent-
        wurf der Bundesregierung auf die Einstimmigkeit eines
        Kommissionsbeschlusses als kritisch an . Dies wird dem
        parlamentarischen Beratungsprozess, den öffentlichen
        Anhörungen, aber auch der Unabhängigkeit von uns Ab-
        geordneten nicht gerecht und gefährdet nicht zuletzt die
        Bedeutung der parlamentarisch-repräsentativen Demo-
        kratie .
        In einer Gesamtbetrachtung begrüße ich, dass mit dem
        vorliegenden Gesetz ein Mehr an Rechtssicherheit für die
        Kostentragung im Zusammenhang der Abwicklung der
        Atomenergienutzung geschaffen wird, und stimme dem
        Gesetzentwurf von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die
        Grünen zu .
        Thomas Bareiß (CDU/CSU): Ich begrüße aus-
        drücklich, dass mit dem KFK-Gesetz die operative und
        finanzielle Verantwortung für Zwischen- und Endlage-
        rung der kerntechnischen Anlagen zwischen Kernkraft-
        werksbetreibern und Bund neu geregelt wird . Wir setzen
        das Verursacherprinzip um, machen es zukunftsfest und
        schaffen Planungssicherheit . Auch das Ziel des Nach-
        haftungsgesetzes begrüße ich ausdrücklich . Energiever-
        sorger dürfen sich nicht durch Umstrukturierungen von
        der Haftung für die Kosten des Rückbaus, der Zwischen-
        und Endlagerung befreien . Allerdings erkläre ich hiermit
        ausdrücklich, dass ich die sich eventuell ergebende Haf-
        tungserweiterung im Falle der Energie Baden-Württem-
        berg AG auf die Anteilseigner, den Zweckverband Ober-
        schwäbische Elektrizitätswerke (OEW) und das Land
        Baden-Württemberg, ablehne . Ich halte diese Haftungs-
        erweiterung für nicht im Sinne des ursprünglichen Ge-
        setzesgedankens, da dadurch eine neue, bis dahin nicht
        vorhandene Haftung entsteht .
        Ich stimme deshalb mit Ja .
        Marco Bülow (SPD): Ich begrüße eine grundle-
        gende Neuregelung der Verantwortung der nuklearen
        Entsorgung . Der Übergang der Verantwortung einer so
        wichtigen, langfristigen Aufgabe von profitorientierten
        Privatunternehmen zu dem Gemeinwohl verpflichteten
        staatlichen Institutionen ist absolut nachvollziehbar . Die
        Sicherung der Rückstellungen der AKW-Betreiber für
        die Entsorgung des Atommülls ist eine Angelegenheit,
        die ich schon lange gefordert habe .
        Allerdings halte ich es im Grundsatz für falsch, das
        überhaupt noch nicht abzuschätzende finanzielle Risiko
        der Entsorgung komplett auf den Steuerzahler zu über-
        tragen und die eigentlichen Verursacher mit der einma-
        ligen Zahlung eines klar definierten Geldbetrags aus der
        Verantwortung zu entlassen – zumal der darin enthaltene
        Risikoaufschlag von 35,47 Prozent auf den Grundbetrag
        eines jeden AKW aus meiner Sicht zu gering ausfällt .
        Erfahrungen zeigen, dass die tatsächlichen Kosten bei
        Projekten im Bereich der Atomenergie vorherige Kos-
        tenabschätzungen eher um ein Vielfaches übertreffen als
        nur um ein Drittel .
        Zudem ergibt sich für die AKW-Betreiber im nächsten
        Jahr die Situation, dass die Kernbrennstoffsteuer nicht
        mehr gezahlt werden muss . Nach Schätzungen des Fo-
        rums ökologisch-soziale Marktwirtschaft (FÖS) würde
        eine Weiterführung der Steuer bis zum endgültigen Ab-
        schalten des letzten deutschen Atomkraftwerks 3,9 bis
        5,8 Milliarden Euro Einnahmen sichern . Der Wegfall der
        Steuer dagegen bringt den Betreibern 2,9 bis 4,4 Milli-
        arden Euro zusätzliche Gewinne . Das bedeutet, dass ein
        Großteil des in dem Gesetzentwurf vorgesehenen Risi-
        koaufschlags von insgesamt 6,167 Milliarden Euro durch
        den Wegfall der Kernbrennstoffsteuer gedeckt wird . Im
        Gegenzug hätte also wenigstens die Steuer verlängert
        werden müssen . Schließlich sind die Gründe, die zur
        Einführung der Steuer geführt haben, nach wie vor vor-
        handen .
        Aus meiner Sicht sind diese Entscheidungen im We-
        sentlichen dadurch motiviert, dass die betroffenen Unter-
        nehmen nicht in eine schwierigere ökonomische Situati-
        on gebracht werden sollen, durch die auch die Situation
        der Beschäftigten in Gefahr geriete . Dies ist zwar im
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201620986
        (A) (C)
        (B) (D)
        ersten Moment nachvollziehbar, macht den Staat aber
        erpressbar .
        Es ist wichtig, sich immer wieder vor Augen zu füh-
        ren, dass die Atomenergie insgesamt und somit auch ihre
        kommerzielle Nutzung über ein halbes Jahrhundert lang
        massiv staatlich gefördert wurde . Berechnungen gehen
        allein für den Zeitraum 1970 bis 2014 von über 200 Mil-
        liarden Euro aus . Durch die Vergünstigungen haben die
        AKW-Betreiber mit ihren abgeschriebenen Atomreak-
        toren circa 1 Million Euro am Tag verdient . Diese Zahl
        bestätigte Vattenfall 2009 der Süddeutschen Zeitung .
        Deutschlands größter AKW-Betreiber Eon machte 2009
        noch einen Gewinn von 5,3 Milliarden Euro . Die Ener-
        giewende haben die großen Energieversorger aber trotz
        Wissens über den Atomausstiegsbeschluss 2000 und die
        Einführung des EEG verschlafen, sodass in den letzten
        Jahren die Gewinne eingebrochen sind, zum Teil sogar
        hohe Verluste gemacht wurden . Statt rechtzeitig in er-
        neuerbare Energien zu investieren, haben die EVUs die-
        se viel zu lange bekämpft . Mangelnde Voraussicht bei
        unternehmerischen Entscheidungen hat zu der ökonomi-
        schen Lage geführt, in der sich die Unternehmen heute
        befinden. Der Staat, der den Unternehmen sehr lange er-
        möglicht hat, mit Atomenergie hohe Gewinne zu gene-
        rieren, soll aber nun das alleinige Risiko für die Folgen
        der Atomstromproduktion tragen, weil der erfolgreiche
        Fortbestand der EVUs nicht mehr gesichert sei . Dies
        kann nicht sein . Das Prinzip „Gewinne werden privati-
        siert, Verluste aber sozialisiert“ lehne ich entschieden ab .
        Akzeptabel wäre der Kompromiss aus meiner Sicht
        nur gewesen, wenn die AKW-Betreiber zuvor einen
        Rückzug ihrer Klagen versichert hätten und die Kern-
        brennstoffsteuer verlängert worden wäre .
        So kann ich diesem Gesetzentwurf leider nicht zu-
        stimmen .
        Michael Donth (CDU/CSU): Ich begrüße ausdrück-
        lich, dass mit dem KFK-Gesetz die operative und fi-
        nanzielle Verantwortung zwischen Kernkraftwerksbe-
        treibern und Bund für Zwischen- und Endlagerung der
        kerntechnischen Anlagen neu geregelt wird . Wir setzen
        das Verursacherprinzip um, machen es zukunftsfest und
        schaffen Planungssicherheit . Auch das Ziel des Nach-
        haftungsgesetzes begrüße ich ausdrücklich . Energiever-
        sorger dürfen sich nicht durch Umstrukturierungen von
        der Haftung für die Kosten des Rückbaus, der Zwischen-
        und Endlagerung befreien . Allerdings erkläre ich hier-
        mit ausdrücklich, dass ich die sich eventuell ergebende
        Haftungserweiterung im Falle der Energie Baden-Würt-
        temberg AG auf die Anteilseigner Zweckverband Ober-
        schwäbische Elektrizitätswerke (OEW) und damit zahl-
        reiche Landkreise, Städte und Gemeinden sowie das
        Land Baden-Württemberg ablehne . Ich halte diese Haf-
        tungserweiterung für nicht im Sinne des ursprünglichen
        Gesetzesgedankens, da dadurch eine neue potenzielle,
        bis dahin nicht vorhandene Haftung entsteht .
        Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Mit der heutigen Ent-
        scheidung geht unser Parlament den historischen Schritt
        einer Neuordnung der Verantwortung und damit auch
        Finanzierung der Atomenergie-Folgelasten . Zwar liegt
        im Sinne des Verursacherprinzips die Verantwortung
        zur Abwicklung der Atomenergienutzung richtigerweise
        grundsätzlich bei den Betreibern von Atomkraftwerken
        und den betreffenden Energiekonzernen . Letztlich wird
        aber die Allgemeinheit zur Verantwortung gezogen,
        wenn die Betreiber etwa durch Konzernaufspaltungen
        oder Insolvenzen nicht mehr zur Haftung herangezogen
        werden können . Zugleich muss uns bewusst sein, dass
        über Jahrzehnte unterbliebene Vorsorge nachträglich
        kaum mehr erfüllbar ist .
        Während mit dem heute zu verabschiedenden Ge-
        setz die auch ökonomische Verantwortung von Still-
        legung, Rückbau und Verpackung beim Betreiber ver-
        bleibt, geht die Verantwortung für Zwischenlagerung
        und Endlagerung auf den Staat über, insofern die hier-
        für nun gesetzlich formulierten Voraussetzungen erfüllt
        werden . Die langfristig währende Verantwortung für die
        Zwischenlagerung und Endlagerung wird dabei über ei-
        nen öffentlich-rechtlichen Fonds getragen, der vonsei-
        ten der Betreiber mit einem Vermögen von insgesamt
        23,556 Milliarden Euro auszustatten sein wird .
        Mit den Regelungen zur Nachhaftung verhindern wir
        die Enthaftung der Konzerne durch Betreiberinsolvenzen
        oder Konzernaufspaltungen . Die Verabschiedung eines
        Nachhaftungsgesetzes bereits im letzten Jahr war vonsei-
        ten unseres Koalitionspartners trotz erfolgten Kabinetts-
        beschlusses verhindert worden . Umso wichtiger ist es,
        dass eine Nachhaftungsregelung nun mit verabschiedet
        wird . Kritisch betrachte ich dabei, dass sich die Nach-
        haftung bei Konzernaufspaltung nur auf den Bereich der
        Zwischen- und Endlagerung, hingegen nicht auch auf die
        Phase der Stilllegung, des Rückbaus und der Verpackung
        bezieht . Eine umfassendere Nachhaftungsregelung konn-
        te leider mit dem Koalitionspartner nicht vereinbart wer-
        den .
        Mit den atomgesetzlichen Änderungen wird die Op-
        tion des sogenannten sicheren Einschlusses nahezu ab-
        geschafft . Die Ausschließlichkeit des Rückbaus hat die
        SPD seit langem gefordert .
        Erst in der vergangenen Woche hat das Bundesver-
        fassungsgericht den politisch in Abwägung mit Ge-
        sundheits- und Umweltschutzbedarfen entschiedenen
        Atomausstieg als im Wesentlichen verfassungskonform
        beschieden . Allein vor diesem Hintergrund erwarte ich
        von den Atomkonzernen die Rücknahme aller im Zusam-
        menhang mit Atomenergienutzung zusammenhängenden
        Klagen, auch solcher, die von den jüngsten Ankündigun-
        gen der Konzerne nicht erfasst sind . Es entspricht mei-
        nem parlamentarischen Selbstverständnis, dass im Fall
        eines Aufrechterhaltens von Klagen vonseiten der Kon-
        zerne und einer sich hierüber zulasten der Allgemeinheit
        verschlechternden Vermögenssituation eine Neuberech-
        nung der Kostenlasten vorzunehmen wäre . Es entspricht
        auch der mit einem Entschließungsantrag der Fraktionen
        CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen – Aus-
        schussdrucksache 18(9)1073 – erklärten Erwartungshal-
        tung gegenüber der Bundesregierung, die Rücknahme
        aller Klagen zu erreichen .
        Der Entschließungsantrag bringt zudem die Erwar-
        tungshaltung zum Ausdruck, dass die Geldanlage des
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 20987
        (A) (C)
        (B) (D)
        einzurichtenden Fonds nachhaltig erfolgt, dass die Mittel
        nicht in Projekten oder Anlagen Verwendung finden, die
        dem übergeordneten Willen des Gesetzgebers zuwider-
        laufen, die Nutzung der Atomenergie zu beenden . Hier-
        für hatte sich die SPD-Fraktion eingesetzt . Ich bedaure,
        dass unser Koalitionspartner diesbezüglich keiner ge-
        setzlichen Regelung zustimmen wollte .
        Während des parlamentarischen Verfahrens ist es ge-
        lungen, die Beteiligung des Parlaments für den weiteren
        Prozess, etwa in der Zusammensetzung des Kuratoriums
        zur Begleitung des Fonds und dessen Einrichtung, zu ge-
        währleisten .
        In Bezug auf die Einsetzung von Kommissionen im
        Vorfeld parlamentarischer Beratungen hat sich die Kom-
        mission zur Überprüfung der Finanzierung des Kern-
        energieausstiegs (KFK) als ein hilfreiches Instrument
        erwiesen, einen Rechtsfrieden auch im Sinne anderer
        zivilgesellschaftlicher Akteure herzustellen . Zugleich
        dürfen außerparlamentarische Kommissionen nicht zur
        faktischen Eingrenzung parlamentarischer Gestaltung
        führen, wenn etwa bereits ein Regierungsentwurf von
        Bindungswirkung in Bezug auf die Einstimmigkeit eines
        Kommissionsbeschlusses gekennzeichnet ist . Dies wird
        dem parlamentarischen Beratungsprozess, den hiesigen
        öffentlichen Anhörungen, aber auch den einzelnen Ab-
        geordneten nicht gerecht und gefährdet nicht zuletzt die
        Bedeutung der parlamentarisch-repräsentativen Demo-
        kratie . Nach meiner Überzeugung sollten Kommissionen
        der hier eingesetzten Form nur in absoluten Ausnahme-
        fällen eingesetzt werden, wenn der Fokus einzubeziehen-
        der Expertise dies über die Thematik und die Dauer so-
        wie den Hergang einer öffentlichen Auseinandersetzung
        rechtfertigt .
        In einer Gesamtbetrachtung begrüße ich, dass mit dem
        vorliegenden Gesetz ein Mehr an Rechtssicherheit für die
        Kostentragung im Zusammenhang der Abwicklung der
        Atomenergienutzung geschaffen wird, und stimme dem
        Gesetzentwurf von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die
        Grünen zu .
        Ronja Kemmer (CDU/CSU): Ich begrüße aus-
        drücklich, dass mit dem KFK-Gesetz die operative und
        finanzielle Verantwortung für Zwischen- und Endlage-
        rung der kerntechnischen Anlagen zwischen Kernkraft-
        werksbetreibern und Bund neu geregelt wird . Wir setzen
        das Verursacherprinzip um, machen es zukunftsfest und
        schaffen Planungssicherheit . Auch das Ziel des Nach-
        haftungsgesetzes begrüße ich ausdrücklich . Energiever-
        sorger dürfen sich nicht durch Umstrukturierungen von
        der Haftung für die Kosten des Rückbaus, der Zwischen-
        und Endlagerung befreien . Allerdings erkläre ich hiermit
        ausdrücklich, dass ich die sich eventuell ergebende Haf-
        tungserweiterung im Falle der Energie Baden-Württem-
        berg AG auf die Anteilseigner, den Zweckverband Ober-
        schwäbische Elektrizitätswerke (OEW) und das Land
        Baden-Württemberg, ablehne . Ich halte diese Haftungs-
        erweiterung für nicht im Sinne des ursprünglichen Ge-
        setzesgedankens, da dadurch eine neue, bis dahin nicht
        vorhandene Haftung entsteht .
        Ich stimme dem Gesetzentwurf zu .
        Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Heute
        habe ich dem „Gesetz zur Neuregelung der Verantwor-
        tung in der kerntechnischen Entsorgung“ im Bundestag
        zugestimmt .
        Dieses neue Gesetz stellt sicher, dass die Atomkonzer-
        ne für die Beseitigung des hochgefährlichen Atommülls
        auch wirklich zahlen .
        Warum war dazu ein Gesetz nötig?
        Jahrelang haben die Konzerne steuerliche Rückstel-
        lungen für die Entsorgung und Lagerung des Atommülls
        in Höhe von 17 Milliarden Euro getätigt, die aber bislang
        nur in den Bilanzen, also auf dem Papier, stehen .
        Die Veränderungen am Energiemarkt haben die Kon-
        zerne inzwischen – selbstverschuldet – so geschwächt,
        dass große Umstrukturierungen anstehen .
        Sollte es hier zu Auslagerungen oder gar Insolvenzen
        kommen, wären die rückgestellten Beträge erheblich ge-
        fährdet, und am Ende drohen die Kosten am Steuerzahler
        hängen zu bleiben .
        Die Kommission zur Überprüfung der Finanzierung
        des Kernenergieausstiegs (KFK) war sich einig, dass
        die Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Konzerne künftig
        noch in der Lage sind, die anfallenden Kosten tatsächlich
        zu tragen, bei bestenfalls 50 Prozent liegt .
        Ich bin der Meinung, dass man in so einer Situation
        handeln und das vorhandene Geld sichern muss . Das
        haben wir Grüne schon seit vielen Jahren gefordert . Tut
        man das nicht, läuft man Gefahr, das Verursacherprinzip
        dadurch auszuhebeln, dass beim Verursacher nichts mehr
        zu holen ist, weil er als juristische Person nicht mehr exis-
        tiert oder nicht mehr genug Substanz vorhanden ist . Ich
        halte deshalb den von der KFK vorgeschlagenen Weg für
        richtig, um die bisherigen Rückstellungen der Konzerne
        zu retten und unter öffentliche Kontrolle zu bringen .
        Für Stilllegung und Rückbau werden die Unterneh-
        men bis 2040 rund 60 Milliarden Euro aufwenden müs-
        sen . Ihre Rückstellungen dafür werden sie künftig trans-
        parent mit liquiden Mitteln unterlegen müssen . Dies wird
        von Bundesregierung und Bundestag überprüft .
        Ihre Rückstellungen von bisher gut 17 Milliarden für
        die Finanzierung von Zwischen- und Endlagerung des
        Atommülls müssen die Konzerne komplett an den Staat
        in bar übertragen . Dazu kommt ein zusätzlicher Risiko-
        aufschlag von 35 Prozent, um künftige Risiken abzude-
        cken . Es wird so ein fast 24 Milliarden starker öffent-
        lich-rechtlicher Fonds gebildet .
        Darüber hinaus wird eine neue gesetzliche Nach-
        haftung von herrschenden Unternehmen für von ihnen
        beherrschte Betreibergesellschaften eingeführt . Das
        bedeutet, dass hier der Mutterkonzern auch für die Ver-
        pflichtungen einer insolventen Tochterfirma haftet, was
        im deutschen Insolvenzrecht so sonst nicht vorgesehen
        ist . Das ist also ebenfalls wichtig, um das Risiko für den
        Steuerzahler möglichst gering zu halten . Diese Nachhaf-
        tung erfasst die Kosten von Stilllegung und Rückbau der
        Kernkraftwerke, die fachgerechte Verpackung der Ab-
        fälle und die Zahlungspflichten an den einzurichtenden
        Fonds .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201620988
        (A) (C)
        (B) (D)
        Dass die finanziellen Risiken im Hinblick auf die
        Entsorgung des Atommülls niemals vollständig und in
        Gänze aus dem Weg geräumt werden können, versteht
        sich bei diesem unabsehbaren Risiko von selbst . Umso
        wichtiger ist es, zu verhindern, dass sich die Verursacher
        am Ende aus dem Staub machen und die Allgemeinheit
        mit den Kosten allein lassen .
        So wie das Gesetz heute beschlossen wurde, ist es eine
        gute Grundlage, um die Finanzierung der Atommüllend-
        lagerung soweit wie möglich zu sichern .
        Im Zuge der Debatte um den Gesetzentwurf konnten
        die Atomkonzerne außerdem dazu bewegt werden, 20
        der verbliebenen 22 Klagen im Atomsektor zurückzuzie-
        hen, darunter auch die Klage gegen verschiedene Lan-
        desregierungen bezüglich des im Jahr 2011 verhängten
        Moratoriums für sechs besonders anfällige AKW .
        Über zwei verbleibende Klagen, die nicht unmittelbar
        mit der Entsorgungsfinanzierung zusammenhängen, wird
        weiter zu verhandeln sein .
        Ulli Nissen (SPD): Mit der heutigen Entscheidung
        geht unser Parlament den historischen Schritt einer Neu-
        ordnung der Verantwortung und damit auch Finanzie-
        rung der Atomenergie-Folgelasten . Zwar liegt im Sinne
        des Verursacherprinzips die Verantwortung zur Abwick-
        lung der Atomenergienutzung richtigerweise grundsätz-
        lich bei den Betreibern von Atomkraftwerken und den
        betreffenden Energiekonzernen . Letztlich wird aber die
        Allgemeinheit zur Verantwortung gezogen, wenn die
        Betreiber etwa durch Konzernaufspaltungen oder Insol-
        venzen nicht mehr zur Haftung herangezogen werden
        können . Zugleich muss uns bewusst sein, dass über Jahr-
        zehnte unterbliebene Vorsorge nachträglich kaum mehr
        erfüllbar ist .
        Während mit dem heute zu verabschiedenden Gesetz
        die ökonomische Verantwortung von Stilllegung, Rück-
        bau und Verpackung beim Betreiber verbleibt, geht die
        Verantwortung für Zwischenlagerung und Endlagerung
        auf den Staat über, insofern die hierfür nun gesetzlich for-
        mulierten Voraussetzungen erfüllt werden . Die langfris-
        tig währende Verantwortung für die Zwischenlagerung
        und Endlagerung wird dabei über einen öffentlich-recht-
        lichen Fonds getragen, der vonseiten der Betreiber mit
        einem Vermögen von insgesamt 23,556 Milliarden Euro
        auszustatten sein wird .
        Mit den Regelungen zur Nachhaftung verhindern wir
        die Enthaftung der Konzerne durch Betreiberinsolvenzen
        oder Konzernaufspaltungen . Die Verabschiedung eines
        Nachhaftungsgesetzes bereits im letzten Jahr war von-
        seiten der CDU/CSU trotz erfolgten Kabinettsbeschlus-
        ses verhindert worden . Umso wichtiger ist es, dass eine
        Nachhaftungsregelung nun mit verabschiedet wird . Kri-
        tisch betrachte ich dabei, dass sich die Nachhaftung bei
        Konzernaufspaltung nur auf den Bereich der Zwischen-
        und Endlagerung, hingegen nicht auch auf die Phase der
        Stilllegung, des Rückbaus und der Verpackung bezieht .
        Auf eine umfassendere Nachhaftungsregelung konnte
        sich leider nicht geeinigt werden .
        Mit den atomgesetzlichen Änderungen wird die Op-
        tion des sogenannten sicheren Einschlusses nahezu ab-
        geschafft . Die Ausschließlichkeit des Rückbaus hat die
        SPD seit langem gefordert .
        Erst in der vergangenen Woche hat das Bundesver-
        fassungsgericht entschieden, dass der Atomausstieg im
        Wesentlichen verfassungskonform war . Allein vor die-
        sem Hintergrund erwarte ich von den Atomkonzernen
        die Rücknahme aller im Zusammenhang mit Atomener-
        gienutzung zusammenhängenden Klagen, auch solcher,
        die von den jüngsten Ankündigungen der Konzerne nicht
        erfasst sind . Es entspricht meinem parlamentarischen
        Selbstverständnis, dass im Fall eines Aufrechterhaltens
        von Klagen vonseiten der Konzerne und einer sich hie-
        rüber zulasten der Allgemeinheit verschlechternden
        Vermögenssituation eine Neuberechnung der Kosten-
        lasten vorzunehmen wäre . Es entspricht auch der mit
        einem Entschließungsantrag der Fraktionen CDU/CSU,
        SPD und Bündnis 90/Die Grünen – Ausschussdrucksa-
        che 18(9)1073 – erklärten Erwartungshaltung gegenüber
        der Bundesregierung, die Rücknahme aller Klagen zu
        erreichen .
        Der Entschließungsantrag bringt zudem die Erwar-
        tungshaltung zum Ausdruck, dass die Geldanlage des
        einzurichtenden Fonds nachhaltig erfolgt, dass die Mittel
        nicht in Projekten oder Anlagen Verwendung finden, die
        dem übergeordneten Willen des Gesetzgebers zuwider-
        laufen, die Nutzung der Atomenergie zu beenden . Hier-
        für hatte sich die SPD-Fraktion eingesetzt . Ich bedaure,
        dass unser Koalitionspartner diesbezüglich keiner ge-
        setzlichen Regelung zustimmen wollte .
        Während des parlamentarischen Verfahrens ist es ge-
        lungen, die Beteiligung des Parlaments für den weiteren
        Prozess, etwa in der Zusammensetzung des Kuratoriums
        zur Begleitung des Fonds und dessen Einrichtung, zu ge-
        währleisten .
        In Bezug auf die Einsetzung von Kommissionen im
        Vorfeld parlamentarischer Beratungen hat sich die Kom-
        mission zur Überprüfung der Finanzierung des Kern-
        energieausstiegs (KFK) als ein hilfreiches Instrument
        erwiesen, einen Rechtsfrieden auch im Sinne anderer
        zivilgesellschaftlicher Akteure herzustellen . Zugleich
        dürfen außerparlamentarische Kommissionen nicht
        zur Eingrenzung parlamentarischer Gestaltung führen,
        wenn etwa bereits ein Regierungsentwurf von Bin-
        dungswirkung in Bezug auf die Einstimmigkeit eines
        Kommissionsbeschlusses gekennzeichnet ist . Dies wird
        dem parlamentarischen Beratungsprozess, den hiesigen
        öffentlichen Anhörungen, aber auch den einzelnen Ab-
        geordneten nicht gerecht und gefährdet nicht zuletzt die
        Bedeutung der parlamentarisch-repräsentativen Demo-
        kratie . Nach meiner Überzeugung sollten Kommissionen
        der hier eingesetzten Form nur in absoluten Ausnahme-
        fällen eingesetzt werden, wenn der Fokus einzubeziehen-
        der Expertise dies über die Thematik und die Dauer so-
        wie den Hergang einer öffentlichen Auseinandersetzung
        rechtfertigt .
        In einer Gesamtbetrachtung begrüße ich, dass mit dem
        vorliegenden Gesetz ein Mehr an Rechtssicherheit für die
        Kostentragung im Zusammenhang der Abwicklung der
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 20989
        (A) (C)
        (B) (D)
        Atomenergienutzung geschaffen wird, und stimme dem
        Gesetzentwurf von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die
        Grünen zu .
        Josef Rief (CDU/CSU): Ich begrüße ausdrücklich,
        dass mit dem KFK-Gesetz die operative und finanziel-
        le Verantwortung für Zwischen- und Endlagerung der
        kerntechnischen Anlagen zwischen Kernkraftwerksbe-
        treibern und Bund neu geregelt wird . Wir setzen das Ver-
        ursacherprinzip um, machen es zukunftsfest und schaffen
        Planungssicherheit . Auch das Ziel des Nachhaftungsge-
        setzes begrüße ich ausdrücklich . Energieversorger dürfen
        sich nicht durch Umstrukturierungen von der Haftung für
        die Kosten des Rückbaus, der Zwischen- und Endlage-
        rung befreien . Allerdings erkläre ich hiermit ausdrück-
        lich, dass ich die sich eventuell ergebende Haftungser-
        weiterung im Falle der Energie Baden-Württemberg AG
        auf die Anteilseigner Zweckverband Oberschwäbische
        Elektrizitätswerke (OEW) und das Land Baden-Würt-
        temberg ablehne . Ich halte diese Haftungserweiterung
        für nicht im Sinne des ursprünglichen Gesetzesgedan-
        kens, da dadurch eine neue, bis dahin nicht vorhandene
        Haftung entsteht .
        Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU): Ich stim-
        me dem Gesetzentwurf zu und begrüße ausdrücklich,
        dass mit dem KFK-Gesetz die operative und finanziel-
        le Verantwortung für Zwischen- und Endlagerung der
        kerntechnischen Anlagen zwischen Kernkraftwerks-
        betreibern und Bund neu geregelt wird . Wir setzen das
        Verursacherprinzip um, machen es zukunftsfest und
        schaffen Planungssicherheit . Auch das Ziel des Nach-
        haftungsgesetzes begrüße ich ausdrücklich . Energie-
        versorger dürfen sich nicht durch Umstrukturierun-
        gen von der Haftung für die Kosten des Rückbaus,
        der Zwischen- und Endlagerung befreien . Allerdings
        erkläre ich hiermit ausdrücklich, dass ich die sich
        eventuell ergebende Haftungserweiterung im Falle der
        Energie Baden-Württemberg AG auf die Anteilseig-
        ner, den Zweckverband Oberschwäbische Elektrizi-
        tätswerke (OEW) und das Land Baden-Württemberg,
        ablehne . Ich halte diese Haftungserweiterung für nicht
        im Sinne des ursprünglichen Gesetzesgedankens, da
        dadurch eine neue, bis dahin nicht vorhandene Haf-
        tung entsteht .
        Anlage 6
        Erklärung
        der Abgeordneten Dr. Petra Sitte (DIE LINKE)
        zu der Abstimmung über die Entschließung un-
        ter Buchstabe c der Beschlussempfehlung des
        Ausschusses für Wirtschaft und Energie zu dem
        von den Fraktionen CDU/CSU, SPD und BÜND-
        NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurf ei-
        nes Gesetzes zur Neuordnung der Verantwortung
        in der kerntechnischen Entsorgung (Tagesord-
        nungspunkt 3)
        Namens der Fraktion Die Linke erkläre ich: Unser
        Votum zu Buchstabe c der Beschlussempfehlung lautet
        Ablehnung .
        Anlage 7
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Dr. Frithjof Schmidt, Katja
        Dörner, Katja Keul und Claudia Roth (Augsburg)
        (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zu der nament-
        lichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung
        des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der
        Bundesregierung Fortsetzung der Beteiligung be-
        waffneter deutscher Streitkräfte am NATO-geführ-
        ten Einsatz Resolute Support für die Ausbildung,
        Beratung und Unterstützung der afghanischen na-
        tionalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (Ta-
        gesordnungspunkt 9)
        Die Entscheidung über Auslandseinsätze der Bundes-
        wehr gehört zu den schwierigsten Entscheidungen, die
        Abgeordnete des Deutschen Bundestages zu treffen ha-
        ben . Der Einsatz von Militär kann immer nur äußerstes
        Mittel zur Gewalteindämmung und Friedenssicherung
        sein . Militär kann bestenfalls ein Zeitfenster für Krisen-
        bewältigung schaffen, nicht aber den Frieden selbst .
        In Afghanistan gab es jahrelang eine Dominanz mili-
        tärischer Zielsetzungen gegenüber zivilen Lösungsansät-
        zen und ein fehlendes entwicklungspolitisches Konzept .
        Schon seit langem war klar, dass die Strategie, vorrangig
        mit militärischen Mitteln eine Friedenslösung erzwingen
        zu wollen, gescheitert ist . Ein stabiler und dauerhafter
        Frieden kann nur über den Verhandlungsweg erreicht
        werden . Die Capture-or-Kill-Operationen und die geziel-
        ten Tötungen durch Drohnenangriffe der USA forderten
        immer wieder zivile Opfer und haben das Vertrauen der
        afghanischen Bevölkerung in die internationale Präsenz
        untergraben . Eine politische Lösung wurde dadurch in
        den letzten Jahren enorm erschwert .
        Die Bundesregierung behauptet, dass es sich bei der
        seit 2015 eingesetzten NATO-Mission Resolute Support
        nicht um einen Kampfeinsatz handele, sondern um eine
        Ausbildungs- und Trainingsmission für die afghanischen
        Sicherheitskräfte . Tatsächlich ist jedoch das Verhältnis
        zwischen Ausbildung und Training sowie einer mög-
        lichen Beteiligung an der Aufstandsbekämpfung nicht
        eindeutig geklärt . Eine Begleitung von afghanischen
        Truppen in Kampfeinsätze wird im vorgelegten Mandat
        der Bundesregierung nicht ausdrücklich ausgeschlos-
        sen . Darüber hinaus dürfen seit Juni 2016 US-Truppen
        wieder an Kampfeinsätzen zur offensiven Aufstandsbe-
        kämpfung teilnehmen . Dies hatte US-Präsident Obama
        erlaubt, nachdem er Ende 2014 zunächst alle offensiven
        US-Kampfeinsätze in Afghanistan für beendet erklärt
        hatte . Da US-Soldatinnen und -Soldaten nun zwischen
        Counter-Insurgency-Operationen und Ausbildung ein-
        fach hin- und herwechseln können, ist eine klare Ab-
        grenzung zwischen Kampfeinsatz und Ausbildung in der
        Praxis nur noch schwer möglich . Eine Verstrickung deut-
        scher Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten in Operati-
        onen offensiver Aufstandsbekämpfung, die wir grund-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201620990
        (A) (C)
        (B) (D)
        sätzlich ablehnen, kann somit nicht mehr ausgeschlossen
        werden .
        Nachdem die NATO zweimal die gesetzten Abzugs-
        termine, mit denen auch für Akzeptanz in der Bevölke-
        rung geworben wurde, nicht eingehalten hat, wurde auf
        dem NATO-Gipfel in Warschau im Juni 2016 vereinbart,
        den Afghanistan-Einsatz zeitlich nicht mehr zu befristen .
        Dadurch droht ein langjähriger, nicht absehbarer Einsatz
        in Afghanistan mit Verwicklung in Kämpfe und ohne
        eine Exit-Strategie . Ein solches zeitlich unbegrenztes
        NATO-Mandat halten wir für falsch .
        Gleichzeitig müssen aber auch die positiven Entwick-
        lungen in Afghanistan mit viel Geduld und ausreichend
        finanziellen Mitteln gesichert werden. Afghanistan wird
        auch noch in den nächsten Jahrzehnten auf internationale
        Unterstützung angewiesen sein . Deshalb dürfen wir nicht
        nachlassen, unsere humanitären und entwicklungspoliti-
        schen Verpflichtungen gegenüber Afghanistan weiter zu
        erfüllen . Darüber hinaus ist eine Fortführung der politi-
        schen Verhandlungen zwischen der afghanischen Regie-
        rung und den Taliban notwendig . Ein stabiler und dau-
        erhafter Frieden in Afghanistan kann letztlich nur über
        den Verhandlungsweg erreicht werden . Die Strategie, Af-
        ghanistan militärisch zu befrieden, ist bisher gescheitert
        und auch für die Zukunft nicht sinnvoll, sondern falsch .
        Deshalb lehnen wir dieses Mandat ab .
        Anlage 8
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Annalena Baerbock und Luise
        Amtsberg (beide BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zu
        der namentlichen Abstimmung über die Beschluss-
        empfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem
        Antrag der Bundesregierung Fortsetzung der Be-
        teiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte am
        NATO-geführten Einsatz Resolute Support für die
        Ausbildung, Beratung und Unterstützung der af-
        ghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicher-
        heitskräfte (Tagesordnungspunkt 9)
        Knapp zwei Jahre nach Abzug der ISAF-Kampftrup-
        pen gibt es in Afghanistan kein sicheres Umfeld für die
        Bevölkerung, geschweige die Regierung, ihre Bedienste-
        ten und internationale Helfer . Die Sicherheitslage in Af-
        ghanistan hat sich in den vergangenen Monaten weiter
        massiv verschlechtert . Die Taliban und andere aufstän-
        dische Gruppen verüben weiter ohne jede Rücksicht auf
        die Zivilbevölkerung grausame Attentate und Attacken .
        Im Oktober 2016 gelang es den Taliban zum dritten
        Mal innerhalb der letzten zwei Jahre, strategische Punkte
        der Provinzhauptstadt Kunduz vorübergehend zu kon-
        trollieren . Am 10 . November 2016 forderten der schreck-
        liche Sprengstoffangriff auf das deutsche Generalkonsu-
        lat und die anschließenden Kämpfe mit den Angreifern
        in Masar-i-Scharif vier Todesopfer und 128 teilweise
        schwer Verletzte . Das Konsulatspersonal wird nun im
        Camp Marmal der Bundeswehr untergebracht . Das deut-
        sche Konsulat in Masar wird nach derzeitigem Stand
        nicht wiedereröffnet werden .
        Die Opferzahlen unter Zivilpersonen und afghani-
        schen Sicherheitskräften sind so hoch wie nie seit 2001 .
        Im ersten Halbjahr 2016 erreichte die Gesamtzahl der
        Zivilopfer im Kontext des bewaffneten Konflikts mit
        5 166, davon 1 601 Tote und 3 565 Verletzte, einen neuen
        Höchstwert . Gerade die Anzahl von Kindern unter den
        Opfern steigt dramatisch an, nicht zuletzt auch durch
        komplexe und Suizidattacken – 62 Prozent davon in Ka-
        bul .
        Vor diesem Hintergrund stellt sich auch die Frage, in-
        wieweit die Aufbau- und Entwicklungsunterstützung so
        weiterlaufen kann . Wir haben uns immer klar dazu be-
        kannt, dass Deutschland langfristig in Afghanistan enga-
        giert bleiben muss . Vor allem mit ziviler Hilfe und wirt-
        schaftlichem Engagement . Wenn diese ohnehin bereits
        massiv zurückgefahrene Hilfe weitergeführt werden soll
        und die afghanischen Sicherheitskräfte den Bürgerinnen
        und Bürgern – nach dem Abzug von ISAF, der rückbli-
        ckend vor allem an den eigenen Interessen und ohne
        jede Rücksicht auf die tatsächliche Lage, auf die Afgha-
        nen, ihre Bevölkerung und Sicherheitskräfte durchführt
        würde – überhaupt Schutz geben sollen, halten wir eine
        Beendigung der Ausbildungshilfe durch die Bundeswehr
        im Rahmen der Resolute Support Mission (RSM) in der
        jetzigen Situation für den falschen Weg .
        Die Bundeswehr kämpft nach den Vorgaben des jet-
        zigen Mandates nicht, sondern berät und unterstützt, wo
        es nötig ist . Wenn die afghanischen Sicherheitskräfte den
        Bürgerinnen und Bürgern wirksamen Schutz bieten sol-
        len, dann ist mehr notwendig als der Aufbau einer zah-
        lenmäßig großen Armee in kurzer Zeit . Für den Aufbau
        effektiver und legitimer Sicherheitskräfte braucht es ei-
        nen langen Atem und einen kurzen Draht zu ihnen .
        Dabei darf man sich keine Illusionen über die unmit-
        telbaren Auswirkungen der Mission auf die Sicherheits-
        lage machen . Der Hoffnung, Resolute Support könne
        einen kleinen und notwendigen Beitrag zum Schutz der
        Zivilbevölkerung und der Aufbauhilfe leisten, stehen
        die grundsätzlichen Bedenken über die Wirkungsmög-
        lichkeit der Ausbildungsmission unter den herrschenden
        politischen Rahmenbedingungen gegenüber: Trotz lang-
        jähriger intensiver Ausbildungsbemühungen gibt es im-
        mer wieder Hinweise – und zwar nicht allzu wenige – auf
        Korruption, Desertion und Gewalt innerhalb der afghani-
        schen Sicherheitskräfte . Zudem kommt es nach wie vor
        zu gravierenden militärischen Fehlentscheidungen .
        Die politische Führung des Landes ist zerrissen und
        hat mit ihrer inneren Konsensunfähigkeit, die tribalisti-
        sche Züge hat, das Vertrauen großer Bevölkerungsteile
        verloren . Ohne die Rahmenbedingungen einer guten
        politischen Führung kann jedoch die Ausbildung von
        Sicherheitskräften genauso wenig Erfolg haben wie die
        Entwicklung des Landes . Auf dieses Problem haben der-
        zeit weder die VN noch die EU eine Antwort . Dies beein-
        trächtigt die Arbeit von Resolute Support .
        Während die Bundesregierung betont, im Rahmen von
        RSM nur Ausbildung zu betreiben, machen andere Staa-
        ten wie die USA diese Festlegung explizit nicht . Die USA
        gehen im Rahmen dieses Mandates, aber auch außerhalb
        dessen mit Drohnenangriffen und Capture-or-Kill-Ope-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 20991
        (A) (C)
        (B) (D)
        rationen weiter gegen die Taliban vor . Das deutsche En-
        gagement darf sich nicht von solchen Interpretationen
        leiten lassen .
        Nichtsdestotrotz kommen wir in der Abwägung zwi-
        schen diesen verheerenden Entwicklungen und dem Fakt,
        dass die Forderung nach dem Schutz der Zivilbevölke-
        rung, der Förderung des zivilen Aufbaus, der Unterstüt-
        zung der Zivilgesellschaft und der Frauenrechtsgruppen
        ohne Basissicherheit zum bloßen Lippenbekenntnis ver-
        kommt, zu dem Schluss, dass man die Mission nicht be-
        enden sollte .
        Allerdings können wir diesem Mandat der deutschen
        Bundesregierung zum jetzigen Zeitpunkt auch nicht ein-
        fach zustimmen . Denn die Bundesregierung formuliert
        im Rahmen ihres Mandates klar, wie schwierig und ge-
        fährlich die Lage in Afghanistan ist und dass man des-
        halb den Militäreinsatz verlängern müsse . Zeitgleich er-
        klärt dieselbe Bundesregierung jedoch, dass große Teile
        des Landes so sicher seien, dass just in diesem Moment
        Männer, Frauen und Kinder in genau dieses Land abge-
        schoben werden . Dieser Widerspruch könnte nicht grö-
        ßer sein . Eine halbe Million neuer Binnenvertriebener ist
        gerade von den Vereinten Nationen in Afghanistan regis-
        triert worden . Das zeigt die Dramatik der Lage .
        Einerseits zu Recht zu erklären, wie dramatisch die
        Lage vor Ort sei, andererseits aber Abschiebungen und
        Rückführungen zu verfolgen und das obendrein dann
        noch daran zu koppeln, dass in Zukunft Entwicklungszu-
        sammenarbeit nur gibt, wenn Afghanistan mehr Flücht-
        linge zurücknimmt, das passt für mich nicht zusammen .
        Das ist zynisch .
        Vor diesem Hintergrund enthalten wir uns bei diesem
        deutschen Mandat .
        Anlage 9
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Kerstin Griese und Ute Vogt
        (beide SPD) zu der namentlichen Abstimmung
        über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen
        Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung
        Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher
        Streitkräfte am NATO-geführten Einsatz Reso-
        lute Support für die Ausbildung, Beratung und
        Unterstützung der afghanischen nationalen Ver-
        teidigungs- und Sicherheitskräfte (Tagesordnungs-
        punkt 9)
        Den Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung
        des Bundeswehreinsatzes unterstützen wir . Gleichzeitig
        kritisieren wir die derzeit stattfindenden Abschiebungen
        von Flüchtlingen nach Afghanistan. In Afghanistan fin-
        den in einigen Landesteilen weiterhin täglich Kämpfe
        statt . Der Deutsche Bundestag beschließt eine Fortset-
        zung des Einsatzes, mit dem Bundeswehr-Soldaten in das
        Land geschickt werden, um den Frieden zu sichern . Das
        Auswärtige Amt warnt vor Reisen nach Afghanistan, da
        sich Reisende der „Gefährdung durch terroristisch oder
        kriminell motivierte Gewaltakte“ bewusst sein müssten .
        Wir halten Abschiebungen nach Afghanistan in der aktu-
        ellen Situation für gefährlich und lehnen sie ab .
        Anlage 10
        Erklärungen nach § 31 GO
        zu der namentlichen Abstimmung über die Be-
        schlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses
        zu dem Antrag der Bundesregierung Fortsetzung
        der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräf-
        te am NATO-geführten Einsatz Resolute Support
        für die Ausbildung, Beratung und Unterstützung
        der afghanischen nationalen Verteidigungs- und
        Sicherheitskräfte (Tagesordnungspunkt 9)
        Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE): Ich stimme mit
        Nein, weil der Bundeswehreinsatz in Afghanistan nicht
        zum Frieden beigetragen hat . Er hat den Terror nicht
        bekämpfen können . Das Scheitern der NATO-Politik
        schlägt sich vor allem in der militärischen Lage nieder,
        die von steigenden Opferzahlen, Anschlägen und Kämp-
        fen geprägt ist . Darum werde ich aus den genannten
        Gründen gegen diesen Einsatz stimmen .
        Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
        Bundeswehr befindet sich seit über einem Jahrzehnt im
        Einsatz in Afghanistan . So, wie sich die Lage in Afgha-
        nistan mehrfach geändert hat, hat sich auch der Charakter
        dieses Einsatzes immer wieder gewandelt . Die Beendi-
        gung des ISAF-Einsatzes und des Kampfauftrages der
        Bundeswehr in Afghanistan war daher richtig und bleibt
        ein wichtiger Schritt, um die afghanischen Sicherheits-
        kräfte selbst in Verantwortung für ihr Land zu bringen .
        Mit dem Folgemandat und dem Einsatz Resolute Support
        nimmt die Bundeswehr die Rolle einer Ausbilderin und
        Unterstützerin der afghanischen Sicherheitskräfte ein .
        Gerade weil die Sicherheitslage in Afghanistan nach
        wie vor fragil ist, erachte ich es als richtig und notwendig,
        dass eine solche Unterstützung auch weiterhin sicher-
        gestellt wird . Niemand weiß, wie sich die Situation im
        Land in den nächsten Jahren entwickeln wird und ob es
        gelingt, einen dauerhaften Frieden in Afghanistan – auch
        und gerade mit diplomatischen Mitteln – zu erreichen .
        Sollten die internationale Gemeinschaft und die Bundes-
        wehr die Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte
        jetzt beenden, würden die Chancen für ziviles Engage-
        ment und eine langfristige friedvolle Entwicklung des
        Landes genommen werden .
        Es bedarf eines langfristigen Engagements der inter-
        nationalen Gemeinschaft, vor allem mit ziviler Hilfe und
        wirtschaftlichem Engagement, damit sich Afghanistan
        weiterentwickeln kann . Dies kann jedoch nur in einem
        sicheren Umfeld stattfinden. Die afghanischen Sicher-
        heitskräfte sind noch nicht in der Lage, alleine für Si-
        cherheit zu sorgen . Dies hat der Angriff auf das deutsche
        Generalkonsulat in Masar-i-Scharif am 10 . November
        2016 erneut gezeigt .
        Mit dieser Erkenntnis schwindet leider auch die Hoff-
        nung, dass wir uns rasch aus der Beraterrolle heraus-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201620992
        (A) (C)
        (B) (D)
        ziehen und den Militäreinsatz in Afghanistan vollends
        beenden können . Ich erachte es vor diesem Hintergrund
        als wichtig, Afghanistan durch Ausbildung weiter zu un-
        terstützen . Auch wenn wir die Militärintervention in Af-
        ghanistan in Gänze äußerst kritisch betrachten, wäre es
        in der heutigen konkreten Situation Afghanistans nicht
        dienlich, die Ausbildungsmission der Bundeswehr zu be-
        enden .
        Mit meiner Zustimmung will ich zum Ausdruck brin-
        gen, dass wir den Menschen in Afghanistan zur Seite
        stehen und verlässlich Unterstützung zukommen lassen
        wollen . Perspektivisch ist es mir ein wichtiges Anliegen,
        dass die afghanischen Kräfte in eigener Verantwortung
        für Sicherheit sorgen können, sodass die afghanische Be-
        völkerung in Frieden leben kann . Viele Menschen, die
        täglich aus dem Haus gehen in der Ungewissheit, ob sie
        am Abend ihre Familien wiedersehen, diese Menschen –
        insbesondere die junge Generation – wollen ihr Land
        aufbauen und haben die Hoffnung, dass Afghanistan eine
        bessere Zukunft haben kann . Dies ist auch eine Grundvo-
        raussetzung dafür, dass Menschen in Afghanistan bleiben
        können und nicht zur Flucht gezwungen werden .
        Ich stimme daher dem Antrag der Bundesregierung
        zu .
        Anlage 11
        Erklärung nach § 31 GO
        des Abgeordneten Lothar Binding (Heidelberg)
        (SPD) zu der Abstimmung über den von der
        Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines
        Gesetzes zum Schutz vor Manipulationen an di-
        gitalen Grundaufzeichnungen (Zusatztagesord-
        nungspunkt 4 a)
        Entgegen allen Beteuerungen, Steuerbetrug in
        Deutschland bekämpfen zu wollen, wollten CDU und
        CSU zunächst kein Gesetz, jedenfalls kein Gesetz, das
        hilft, Kassenbetrug wirksam zu verhindern und zu ahn-
        den . Dabei geht es um zweistellige Milliardenbeträge
        pro Jahr, um Betrug gegenüber allen fair Steuern zah-
        lenden Bürgerinnen und Bürgern . Es waren die Finanz-
        minister der SPD-geführten Bundesländer, vornehmlich
        der Finanzminister aus NRW, Norbert Walter-Borjans,
        und Andreas Schwarz, SPD Bundestagskollege im Fi-
        nanzausschuss, die den Umsatzsteuerbetrug öffentlich
        gemacht und den Druck in Richtung Gesetzgebung stetig
        erhöht haben. Schließlich wurde im Bundesfinanzminis-
        terium (BMF) ein Referentenentwurf erarbeitet, ein Re-
        ferentenentwurf der besonderen Art: ein Gesetzentwurf
        mit leerem Anwendungsbereich, also ein Gesetzentwurf,
        der sicherstellt, dass der Betrug bis auf weiteres in al-
        tem Stil möglich ist . Obwohl es eine von der Physika-
        lisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) entwickelte Si-
        cherheitslösung (INSIKA) gibt, wurde im Gesetz – unter
        Ausschluss der existierenden Lösung – eine künftig
        noch von Unternehmen zu entwickelnde Softwarelösung
        vorgeschrieben – ohne zu wissen, bis wann die Indus-
        trie solche Lösungen entwickelt haben wird . Erst im
        Jahr 2020 besteht dann die Möglichkeit, die schon exis-
        tierende Technik einzusetzen, falls sich die Hoffnung auf
        eine künftige Lösung nicht erfüllt .
        Wie das Bundesministerium der Finanzen haben auch
        CDU/CSU die Einführung des INSIKA-Verfahrens blo-
        ckiert . Die Ablehnung des BMF konnte nicht fachlich be-
        gründet werden, sie scheint eher auf verwaltungsinternen
        Befindlichkeiten zu beruhen. So fehlt dem Gesetz nun
        ein definierter Anwendungsbereich. Das ist nicht zufrie-
        denstellend . Aus diesem Grund hat der Finanzausschuss,
        den Anregungen von Ralph Brinkhaus – stellvertretender
        Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU Bundestagsfrak-
        tion – und Andreas Schwarz als SPD-Berichterstatter
        folgend, die Ermächtigung des BMF, eine Rechtsver-
        ordnung zu erlassen, unter den Zustimmungsvorbehalt
        des Bundestages gestellt und in Artikel 1 Nummer 3 den
        §146a wie folgt geändert:
        „(2) Das Bundesministerium der Finanzen wird er-
        mächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des
        Bundestages und des Bundesrates und im Einvernehmen
        mit dem Bundesministerium des Innern und dem Bun-
        desministerium für Wirtschaft und Energie Folgendes zu
        bestimmen:
        1 . die elektronischen Aufzeichnungssysteme, die über
        eine zertifizierte technische Sicherheitseinrichtung
        verfügen müssen, und
        2 . die Anforderungen an
        a . das Sicherheitsmodul,
        b . das Speichermedium,
        c . die einheitliche digitale Schnittstelle,
        d . die elektronische Aufbewahrung der Aufzeich-
        nungen,
        e . die Protokollierung von digitalen Grundauf-
        zeichnungen zur Sicherstellung der Integrität
        und Authentizität sowie der Vollständigkeit der
        elektronischen Aufzeichnung,
        f . den Beleg,
        e. die Zertifizierung der technischen Sicherheits-
        einrichtung
        Die Erfüllung der Anforderungen nach Satz 1 Num-
        mer 2 Buchstabe a bis c ist durch eine Zertifizierung des
        Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik
        nachzuweisen, die fortlaufend aufrechtzuerhalten ist .“
        INSIKA ist die Abkürzung von „Integrierte Sicher-
        heitslösung für messwertverarbeitende Kassensysteme“ .
        Es handelt sich um ein System zum Schutz der digitalen
        Aufzeichnungen von Bargeschäften gegen Manipulatio-
        nen auf der Basis von kryptografischen Verfahren, ins-
        besondere in Registrierkassen und Taxametern . INSIKA
        wird bereits erfolgreich im Taxigewerbe in Hamburg ein-
        gesetzt, die Wettbewerbsverzerrungen durch schwarze
        Schafe unter den Hamburger Taxiunternehmen sind wei-
        testgehend aufgehoben .
        Durch die Manipulationen elektronischer Aufzeich-
        nungen in Kassensystemen erleidet der Staat jedes Jahr
        einen immensen finanziellen Schaden. Der Bundesrech-
        nungshof schätzt die jährlichen Steuerausfälle auf bis zu
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 20993
        (A) (C)
        (B) (D)
        10 Milliarden Euro . Die Deutsche Steuergewerkschaft
        (DSTG) wie auch Länderfinanzministerien halten noch
        deutlich höhere Ausfälle für möglich . Bisher besteht kein
        gesetzlicher Rahmen, der die Korrektheit und Vollstän-
        digkeit dieser Kassendaten, genauer: der digitalen Grund-
        aufzeichnungen von steuerlich relevanten Geschäftsvor-
        fällen, sicherstellt . Daher ist es dringend notwendig, ein
        solches Gesetz zu schaffen .
        Aktuell existiert in Deutschland kein Registrierkas-
        senmodell, das nicht manipulierbar ist . Mithilfe von pas-
        sender Software ist es bisher möglich, eine vorgenom-
        mene Buchung in einem Kassensystem nachträglich zu
        verändern, sie zu löschen oder ihre Aufzeichnung von
        vornherein auszuschalten . So drückt beispielsweise der
        Besitzer einer Gaststätte am Abend eine Taste mit der
        Bezeichnung „Trainee“, und alle Umsätze eines Kellners
        sind auf immer vernichtet .
        Wenn in einem Betrieb gar keine Registrierkasse
        existiert, wird für den Betrug nicht einmal eine Soft-
        ware benötigt . Der Bundesrechnungshof gibt an, dass
        bei der Besteuerung von Bargeldgeschäften inzwischen
        ein strukturelles Vollzugsdefizit existiert. So kann zurzeit
        eine gleichmäßige Besteuerung bargeldintensiver Betrie-
        be nicht sichergestellt werden .
        Das schadet nicht nur dem Staat, allen Bürgerinnen
        und Bürgern, sondern vor allem auch den vielen einzel-
        nen steuerehrlichen Unternehmern, die dadurch unter
        massiven Wettbewerbsverzerrungen zu leiden haben .
        Gleichzeitig leiden steuerehrliche Unternehmen in bar-
        geldintensiven Branchen unter einem Generalverdacht,
        weil die Möglichkeiten der Finanzverwaltung, Betrug
        bei Bargeschäften aufzudecken, begrenzt sind und Prü-
        fungen deswegen lange dauern . Das führt zusätzlich zu
        einem hohen Bürokratieaufwand .
        Auch aus diesem Grund ist die Bundesregierung tätig
        geworden . Der vorliegende Gesetzentwurf ist dabei ein
        Schritt in die richtige Richtung . Er lässt jedoch weiter-
        hin Steuerschlupflöcher zu, weil sich unser Koalitions-
        partner CDU/CSU in den Verhandlungen gegen deren
        Schließung verwehrt hat . Das ist sehr ärgerlich, ist aber
        auch ein Beleg dafür, wie ernst es CDU und CSU mit der
        Bekämpfung von Kassenbetrug ist .
        Um den Steuerbetrug durch Kassenmanipulation ef-
        fektiv bekämpfen zu können, wäre ein wirksames Ge-
        samtkonzept notwendig, das die Finanzverwaltung in
        die Lage versetzte, Kassennachschauen und Prüfungen
        ohne großen Aufwand durchführen zu können . Dabei
        müssen die Bürokratiekosten für Unternehmen und Steu-
        erverwaltung niedrig gehalten werden . Deshalb hat die
        SPD-Fraktion folgende zusätzlichen Anforderungen an
        den Gesetzentwurf gestellt:
        Die Einführung einer Belegausgabepflicht, damit das
        Finanzamt schnell und einfach prüfen kann, ob Umsätze
        korrekt erfasst sind .
        Die Verwendung des sogenannten INSIKA-Verfah-
        rens als technische Lösung, da es bereits vorhanden, er-
        probt, sicher und kostengünstig ist .
        Die Einführung einer zentralen Kassenregistrierung,
        um das Risiko der Manipulation durch Zweitkassen zu
        minimieren .
        Die Einführung einer Kassenpflicht, mit Ausnahmen
        unter anderem für Kleinunternehmer, Sportfeste und Wo-
        chenmärkte .
        Und warum stimmen wir unter diesen Bedingungen
        zu? Weil es eine Belegausgabepflicht für elektronische
        Kassen ab dem Jahr 2020 – wichtig für die Gauner: nicht
        ab 2019, nicht ab 2018 und nicht ab 2017 – geben wird .
        Damit wird künftig ein wichtiges Instrument geschaffen,
        um Druck auf Steuerbetrüger aufzubauen . Das Entde-
        ckungsrisiko für den Betrüger erhöht sich . Ebenso wird
        es künftig möglich sein, elektronische Kassensysteme
        eindeutig zuordnen und mithilfe von Kassennachschauen
        oder Prüfungen Zweitkassen zu entdecken . Den Finanz-
        ämtern wird es ab 2018 möglich sein, unangemeldet Kas-
        sen zu prüfen – und damit immerhin zwei Jahre früher,
        als es im Gesetzentwurf des BMF vorgesehen war . Selbst
        hier war es nicht möglich, die unangemeldete Kassen-
        nachschau ab 2017 einzuführen .
        Auch die Einführung einer Kassenpflicht war leider
        aufgrund des Widerstands von CDU/CSU noch nicht
        möglich. Das hinterlässt ein Steuerschlupfloch. Die Ar-
        gumentation unseres Koalitionspartners, damit alle Un-
        ternehmer in bargeldintensiven Branchen unter Gene-
        ralverdacht zu stellen, ist falsch. Eine Kassenpflicht ist
        vielmehr ein Beitrag zur Unterstützung des ehrlichen Un-
        ternehmers, der aufgrund von betrügenden Konkurrenten
        Wettbewerbsnachteile erfährt . Ich verdächtige nur den
        Betrüger – der Ehrliche ist frei von Verdacht .
        Mit dem geplanten Gesetz gehen wir einen ersten
        und wichtigen Schritt und damit gegen Steuerbetrug bei
        Kassensystemen vor . Deshalb stimme ich dem Gesetz-
        entwurf zu . Ich möchte aber sehr deutlich machen, dass
        dieses Gesetz weiterentwickelt werden muss, damit die
        Steuerschlupflöcher, die nun offen bleiben, ebenfalls ge-
        schlossen werden können .
        Anlage 12
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Antrags der Abgeordneten
        Wolfgang Gehrcke, Dr. Alexander S. Neu, Andrej
        Hunko, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
        DIE LINKE: Weichen für eine Europäische Union
        der Abrüstung und des Friedens stellen (Tagesord-
        nungspunkt 18)
        Robert Hochbaum (CDU/CSU): Deutschland hat es
        sich zur Aufgabe gemacht, international für den Frieden
        und die Menschenrechte einzustehen und gemeinsam
        mit unseren europäischen Partnern Verantwortung zu
        übernehmen . Dieser Kurs ist nicht nur das Produkt von
        Koalitionsverhandlungen . Denn auch in unserem Land
        mussten bereits andere Nationen für den Schutz unse-
        rer freiheitlichen, demokratischen Werte einstehen . Die
        jüngere Geschichte zeigt uns, dass der Friede in Euro-
        pa untrennbar mit einer vernünftigen Sicherheitspolitik
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201620994
        (A) (C)
        (B) (D)
        verbunden ist . CDU und CSU werden die Sicherheit der
        deutschen Bevölkerung und jene unserer Partnerländer
        nicht auf Kosten einer bedingungslosen Friedenspolitik
        preisgeben .
        Unsere geltenden Rüstungskontrollverträge stehen
        natürlich nicht auf dem erträumten Fundament einer waf-
        fenfreien Welt, sondern basieren auf langjährigem zwi-
        schenstaatlichen Vertrauen .
        Mit Blick auf Russland muss ich sagen, dass dieses
        Vertrauen auf eine sehr harte Probe gestellt wird . Von
        rückwärtsgewandten Schuldzuweisungen profitiert je-
        doch keine Seite . Der stetige Dialog, das unermüdliche
        Ringen um den Konsens am Verhandlungstisch sind un-
        sere erklärten Ziele . Dem gehen wir seit geraumer Zeit
        in verschiedenen Gremien entschlossen nach, allen voran
        unsere Bundeskanzlerin und unser Außenminister .
        Als Unterausschussvorsitzender kann ich Ihnen aus
        eigener Erfahrung berichten, dass man Bestrebungen zu
        umfangreicher Abrüstung und Rüstungskontrolle von
        russischer Seite derzeit abwartend gegenübersteht, auf
        keinen Fall jedoch ablehnend . Das lässt hoffen . Im Inte-
        resse des Friedens bleibt auch allen Parteien keine andere
        Wahl .
        Die bestehenden Rüstungskontrollverträge zu sichern,
        ist nur ein Teil unserer Aufgabe . Langfristig müssen wir
        im Rahmen der OSZE-Verhandlungen ein wirksames
        Derivat zum KSE-Vertrag finden, eines, das die souverä-
        nen Interessen aller OSZE-Mitglieder auf einen gemein-
        samen Nenner bringt . Bundesaußenminister Steinmeier
        hat mit seiner Rüstungskontrollinitiative einen wichtigen
        Schritt unternommen . Niemand am Verhandlungstisch
        hat die Absicht, die Situation weiter zu verschärfen . Ge-
        nau diesen erkennbaren Willen gilt es aufzugreifen . Er
        ist zugleich die Chance auf den Erfolg des Minsker Ab-
        kommens und die notwendige Erneuerung des Wiener
        Dokuments . Mit der OSZE haben wir das geeignete Fo-
        rum, um die Gespräche zu vertiefen und an Lösungen zu
        arbeiten . Die Verhandlungen werden uns allerdings einen
        langen Atem abverlangen .
        Meine Damen und Herren, eines gilt es hervorzuhe-
        ben: Es sind die internationalen Teams der OSZE, die in
        den Krisengebieten, insbesondere als Teil der Sonder-
        mission im Donbass, oft unter Lebensgefahr wichtige
        Arbeit für die Friedensbemühungen leisten . Ihnen gilt
        unser Dank, denn sie stützen damit, Tag für Tag, aktiv
        den Frieden in Europa .
        Unser Minister Frank-Walter Steinmeier hat natürlich
        recht, wenn er beim Ministerrat in Hamburg die zahlrei-
        chen neuen Gefahren nennt, auf die sich die OSZE-Län-
        der einstellen müssen . Cyberkrieg, hybride Kriegs-
        führung, politische und religiöse Radikalisierung – die
        globalen Bedrohungen entwickeln sich weiter . Wir müs-
        sen uns darauf einstellen .
        Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, jetzt vor-
        schnell überzogene Forderungen zu stellen nach einem
        Stopp der zwingend notwendigen Rüstungsmodernisie-
        rungen in Deutschland bzw . Europa, fördert in keiner
        Weise all unsere diplomatischen Bemühungen . Wir müs-
        sen beharrlich an realistischen Lösungen arbeiten . Frie-
        den und Sicherheitspolitik gehen dabei Hand in Hand .
        Gerade der gegenseitige, partnerschaftliche Schutz ist es
        doch, der zur Vertrauensbildung und Gemeinschaft in-
        nerhalb Europas ganz maßgeblich beiträgt .
        Deutschland wird auch weiterhin diesen Beitrag leis-
        ten . Die gemeinsame europäische Sicherheitspolitik ist
        es, die es vermag, der Friedenspolitik in Europa eine star-
        ke Stimme zu verleihen . Sie verhindert übrigens auch,
        dass einzelne Länder unserer Gemeinschaft zum militäri-
        schen Spielball der geostrategischen Interessen einer an-
        deren Nation werden . Wer wären wir denn, würden wir
        unsere kleineren und schwächeren Partner dem preisge-
        ben? – Insofern muss man sich auch für eine intensivere
        europäische Verteidigungskooperation aussprechen .
        Die Hand nach Russland bleibt jedoch immer ausge-
        streckt . Dabei wird eine wertegebundene Außen- und Si-
        cherheitspolitik unser Handeln in den kommenden Jah-
        ren weiterhin prägen .
        Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU): Die Unionsfrakti-
        on begrüßt, dass uns die Fraktion Die Linke Gelegenheit
        gibt, im Advent über den Frieden zu sprechen . In der
        Bibel, die ich in dieser Adventszeit besonders unbefan-
        gen zitieren darf, wird immer wieder die Hoffnung auf
        Frieden angesprochen, oft in Verbindung mit anderen ho-
        hen Begriffen: „Liebet Wahrheit und Frieden“ (Sachar-
        ja 8, 19), „Dein Name wird genannt werden Friede der
        Gerechtigkeit“ (Baruch 5, 4), „Lerne, wo es Glück und
        Frieden gibt“ (Baruch 3, 14) .
        Wir wissen – und Die Linke weiß dies aus ihrer Ge-
        schichte besonders gut –, dass Begriffe wie Frieden,
        Wahrheit, Gerechtigkeit und Glück im Leben der Men-
        schen und vor allem im Bereich der Politik immer be-
        sonders missbrauchsanfällig sind . Erinnern wir uns, dass
        die Deutsche Demokratische Republik ihre Mauer als
        „Friedenswall“ bezeichnete . In minder schweren Fällen
        wird der Sehnsuchtsbegriff Friede nicht zur Täuschung,
        sondern nur für Oberflächlichkeiten genutzt, wie im vor-
        liegenden Antrag . Wir alle wissen doch, dass nicht Waf-
        fen Krieg führen, sondern Menschen . Und wir wissen vor
        allem, um mit den Worten des Dalai Lamas zu sprechen:
        „Äußerer Frieden ist nur durch inneren Frieden möglich .
        Innerer Frieden ist der Schlüssel .“ Wenn ich mich aber
        auf die Argumentationsebene des Antrages einlasse, will
        ich Folgendes sagen:
        Erstens . Hätte sich die Fraktion Die Linke an ihr dia-
        lektisches Grundwissen erinnert, wäre ihr Folgendes klar
        gewesen: „Frieden schaffen ohne Waffen“ und „Frieden
        schaffen durch immer bessere Waffen“ – für beide Aus-
        sagen gibt es in der Geschichte gute Beispiele, für den
        zweiten Satz etwa das Ende der waffenstarrenden Kon-
        frontation zweier Staaten auf deutschem Boden, ja das
        Ende des Kalten Krieges insgesamt und auch kurz da-
        rauf die deutsche Wiedervereinigung . Letztlich war die
        Rüstungspolitik des amerikanischen Präsidenten Reagan
        dafür kausal . So erstaunlich ist das mit der Rüstung und
        dem Frieden . Aber wir wissen doch: „Einfache Dinge
        sind polar, höhere ambivalent und die höchsten paradox“ .
        Zweitens . Was uns auch nicht weiterführt, ist die
        selektive Wahrnehmung der Wirklichkeit, die diesen An-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 20995
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        trag kennzeichnet . Während bei NATO und EU nur Sä-
        belrasseln und Kriegsgeheul gesehen wird, ist die Proble-
        matik Ukraine/Krim/Russland keiner Erwähnung wert .
        Auch das Sicherheitsbedürfnis vieler Staaten des ehema-
        ligen sowjetischen Einflussgebietes wie etwa Polen und
        des sowjetisch okkupierten Baltikums, ein Sicherheitsbe-
        dürfnis nach Jahren der Unterdrückung und Unfreiheit,
        kann von den Antragstellern offensichtlich nicht gesehen
        werden .
        Drittens . Wir wissen nicht, in welchem Umfang sich
        die Vereinigten Staaten von Amerika künftig für die Si-
        cherheit Europas finanziell engagieren werden. Ebenso
        wissen wir nicht, ob ein gewaltbereiter Islamismus ein
        Problem der inneren Sicherheit bleibt oder auch noch
        zu einem Problem der äußeren Sicherheit wird . In einer
        solchen Lage ist es geboten, dass die Europäer innerhalb
        und außerhalb der EU verteidigungspolitisch enger zu-
        sammenrücken und auch im Bereich der Bewaffnung ar-
        beitsteiliger zusammenarbeiten .
        Abschließend will ich bemerken: Wir haben den Ver-
        fassungsauftrag, die Sicherheit unserer Bürger zu ge-
        währleisten . Die anstehenden Gespräche und Entschei-
        dungen im Europäischen Rat am heutigen 15 . Dezember
        helfen uns bei der Erfüllung dieses Auftrages . Für den
        Versuch des Antrages, dieses gemeinsame Bemühen in
        die Nähe der Kriegstreiberei zu rücken, fehlt mir jedes
        Verständnis . Es fällt mir auch nicht ganz leicht, bei al-
        ledem den inneren Frieden zu bewahren . Gerne will ich
        es aber versuchen . Der Fraktion der Linken rufe ich den
        Satz Mahatma Ghandis zu: „Sei selbst, was du ersehnst .“
        Dr. Ute Finckh-Krämer (SPD): Unsere heutige De-
        batte befasst sich mit einer möglichen Friedensrolle der
        Europäischen Union . Ich halte dies für ein äußerst wich-
        tiges Thema und bin der Fraktion Die Linke daher dank-
        bar, dass sie den Punkt auf die Tagesordnung des Deut-
        schen Bundestages gesetzt hat . Ich kann verstehen, dass
        Sie das Thema nach den Beschlüssen von NATO und EU
        in der Tagesordnung diskutieren wollen .
        Umso mehr bedauere ich, dass wir nicht die Möglich-
        keit haben, über dieses wichtige Thema wirklich zu de-
        battieren, sondern nun unsere Reden zu Protokoll geben .
        Ich halte es für einen Vorteil der Europäischen Union,
        dass sie sich in der internationalen Politik vornehmlich
        zivil engagiert . Der Ausdruck „Zivilmacht Europa“ ist ja
        nicht zufällig entstanden . Mein Eindruck ist, dass sich
        eher eine Art Arbeitsteilung zwischen der Europäischen
        Union und der NATO entwickelt . Die NATO übernimmt
        militärische Einsätze, die EU sieht ihre Schwerpunkte in
        der zivilen Konfliktbearbeitung. Das Bild von der Euro-
        päischen Union, das die Kolleginnen und Kollegen von
        der Linken zeichnen, halte daher für überzogen, die Be-
        fürchtungen für alarmistisch .
        Die EU ist seit Jahren im zivilen Krisenmanagement
        aktiv . Sie verfügt über eine Reihe von Kapazitäten, die
        auch zum Einsatz kommen: Dazu gehören Polizei, Un-
        terstützung von Rechtsstaatlichkeit und Verwaltung und
        Monitoring . Sicher ist das alles ausbaufähig, aber das
        muss man dann auch konkret einfordern . Genau darüber
        hätten wir debattieren können .
        Beispiele für die zivile Arbeit der EU sind die Poli-
        zei- und Justizmission im Kosovo und die European Uni-
        on Border Assistance Mission to Moldova and Ukraine
        (EUBAM) . EUBAM ist auch ein Beispiel für die Ko-
        operation mit der OSZE . Manchmal gibt die Arbeit der
        EU sogar Anstöße für zivilgesellschaftliche Projekte und
        Initiativen . Es ist sicher kein Zufall, dass der ehemali-
        ge Hohe Repräsentant der EU in Bosnien-Herzegowina,
        Christian Schwarz-Schilling, nachdem er aus dem Amt
        ausgeschieden war, die Mediationsorganisation CSSP,
        Berlin Center for Integrative Mediation, gegründet hat .
        Das Instrument für Stabilität und Frieden der EU (ISF)
        wurde eingerichtet, um kurzfristiges Krisenmanagement
        mit langfristigen Maßnahmen der Friedensförderung
        besser miteinander verknüpfen zu können . Das ISF führt
        Projekte mit zivilgesellschaftlichen Partnern und interna-
        tionalen Organisationen in den Bereichen Vertrauensbil-
        dung, Mediation, Sicherheitssektorreform durch, um nur
        einige Beispiele zu nennen .
        Die EU gehört auch zu den Förderern des European
        Peacebuilding Liaison Office (EPLO), einem Netzwerk
        von zivilgesellschaftlichen friedenspolitischen Organisa-
        tionen . Dabei möchte ich aber betonen, dass EPLO und
        seine Mitglieder darauf achten, dass ihre Unabhängigkeit
        gewahrt bleibt . Die EU hat auch schon Projekte der Non-
        violent Peaceforce gefördert .
        Die EU hat 2011 mit dem Programm Europe’s New
        Training Initiative for Civilian Crisis Management
        (ENTRi) begonnen, das nach bisherigem Stand bis 2019
        laufen soll . Das Zentrum für Internationale Friedensein-
        sätze – ZIF – leitet das Programm . Neben verschiedenen
        Mitgliedstaaten der Europäischen Union beteiligt sich
        auch die Schweiz daran . ENTRi arbeitet mit elf Partner-
        institutionen und der OSZE zusammen . Das Ziel ist die
        Ausbildung von Zivilistinnen und Zivilisten, die bereits
        in Krisenmanagementmissionen tätig sind oder in solche
        entsandt werden sollen . An ENTRi kann man sehen, dass
        die EU ihre Kapazitäten weiterentwickelt .
        Dieser kurze Überblick zeigt, dass die EU in der zivi-
        len Konfliktbearbeitung sehr aktiv ist. Die Fokussierung
        auf die rein militärischen Aspekte in dem Antrag kann ich
        daher nicht nachvollziehen . Mein Plädoyer ist, dafür zu
        streiten, dass die zivilen Instrumente ausgebaut werden .
        Sie fordern eine Rüstungskontrollinitiative unter dem
        Dach der OSZE . Diese Initiative gibt es seit einigen Mo-
        naten, und Außenminister Steinmeier hat uns gestern
        im Unterausschuss „Abrüstung, Rüstungskontrolle und
        Nichtverbreitung“ über den aktuellen Stand informiert .
        Der Vorschlag von Frank-Walter Steinmeier, der Öf-
        fentlichkeit am 26 . August 2016 in der Frankfurter Allge-
        meinen Zeitung vorgestellt, beinhaltet folgende Punkte:
        Notwendig sind Vereinbarungen über regionale Ober-
        grenzen, Mindestabstände und Transparenzmaßnah-
        men – insbesondere in militärisch sensiblen Regionen,
        zum Beispiel im Baltikum –, die neuen militärischen Fä-
        higkeiten und Strategien Rechnung tragen – wir reden
        heute weniger von klassischen, schweren Armeen, son-
        dern mehr von kleineren, mobilen Einheiten, also sollten
        wir zum Beispiel Transportfähigkeit mitbeachten –, die
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201620996
        (A) (C)
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        neue Waffensysteme einbeziehen – zum Beispiel Droh-
        nen –, die echte Verifikation erlauben – rasch einsetzbar,
        flexibel und in Krisenzeiten unabhängig, zum Beispiel
        durch die OSZE –, die auch in Gebieten anwendbar sind,
        deren territorialer Status umstritten ist .
        Bereits im November hat sich eine Freundesgruppe
        dieser Initiative gebildet, der 14 Staaten angehören . Die
        Liste der 14 Staaten ist deswegen erfreulich, weil es sich
        um Staaten mit unterschiedlichen Interessen und Positio-
        nen handelt: Neben Deutschland gehören Belgien, Finn-
        land, Frankreich, Italien, die Niederlande, Norwegen,
        Österreich, Rumänien, Schweden, die Schweiz, die Slo-
        wakei, Spanien und die Tschechische Republik dazu . Die
        OSZE will nach der Außenministerkonferenz in der ver-
        gangenen Woche in Hamburg hierzu einen strukturierten
        Dialog entwickeln .
        Bei einigen Punkten rennen Sie offene Türen ein . Wir
        setzen uns bereits dafür ein, dass die Europäische Union
        unsere Dialogpolitik, die sich an dem Konzept der Ent-
        spannungspolitik anlehnt, unterstützt . Aber sollen wir
        warten, bis wir alle EU-Mitglieder überzeugt haben?
        Man könnte sicher noch mehr tun, um die zivilen Fä-
        higkeiten der EU zu stärken . Nicht nur technische Fähig-
        keiten müssen verstärkt werden . Auch die Bereitschaft,
        ein strategisches Potenzial für Krisenprävention und
        Konfliktbearbeitung zu entwickeln, ist nicht ausreichend.
        Darüber ist in Ihrem Antrag leider sehr wenig zu lesen .
        Andrej Hunko (DIE LINKE): Die Welt scheint aus
        den Fugen geraten, und auch die Europäische Union be-
        findet sich in einer tiefgreifenden Krise. Die schwelende
        Euro-Krise wurde nicht gelöst, sondern durch die maß-
        geblich durch die Bundesregierung erzwungene Auste-
        ritätspolitik verschärft – mit verheerenden unsozialen
        Folgen vor allem im Süden Europas .
        In vielen Mitgliedstaaten der EU haben rechte Partei-
        en und Bewegungen Zulauf . In Großbritannien hat sich
        eine Mehrheit der Menschen dafür entschieden, der EU
        den Rücken zu kehren, und auch sonst wächst die Skep-
        sis gegenüber dem europäischen Integrationsprozess .
        Zuletzt hat der Sieg von Donald Trump bei den Präsi-
        dentschaftswahlen in den USA für Aufsehen gesorgt .
        Die Reaktion in der EU auf diese Entwicklungen
        könnte falscher nicht sein . Ein Weiter-so in wirtschafts-
        und sozialpolitischen Fragen soll nun ergänzt werden
        durch einen Militarisierungsschub in allen Mitgliedstaa-
        ten und auf EU-Ebene . Ich habe doch sehr den Eindruck,
        dass hier einige den Knall nicht gehört haben . Sie wol-
        len doch nicht ernsthaft Aufrüstung und Militarisierung
        als Kitt für die, wie es Kommissionspräsident Juncker
        genannt hat, „Polykrise“ der EU verwenden? Das wird
        nicht nur nicht funktionieren; es ist auch brandgefährlich .
        Seit dem Fall der Mauer war die Gefahr einer mili-
        tärischen Konfrontation mit Russland nicht so groß wie
        heute . Das ist zweifelsohne nicht die alleinige Verant-
        wortung der EU . Aber es war insbesondere der Erwei-
        terungsprozess von NATO und EU nach Osten, der die
        historische Chance der Neunzigerjahre zunichte gemacht
        hat, eine friedliche Neuordnung Europas nach dem Ende
        der Sowjetunion zu erreichen . Heute rüstet die NATO
        an den Grenzen zur Russischen Föderation auf, und
        auch Russland beteiligt sich an der Eskalationsspirale .
        Es scheint, als hätten einige aus den Verwüstungen des
        20 . Jahrhunderts nichts gelernt .
        Nun soll im Rahmen der EU-Globalstrategie und der
        misslicherweise „Verteidigungsunion“ genannten Milita-
        risierungspläne die EU noch weiter für die Sicherheits-,
        Militär- und Rüstungspolitik eingespannt werden . Schon
        der Lissabon-Vertrag verpflichtet die Mitgliedstaaten be-
        kanntlich zur Aufrüstung . Doch was uns nun erwartet,
        stellt alles Dagewesene in den Schatten .
        Unter offenem Bruch von Artikel 41 des EU-Vertra-
        ges sollen nun sogar EU-Haushaltsmittel für die An-
        schaffung von Waffen und vor allem Drohnen verwendet
        werden . Ein Verteidigungsfonds soll weitere Milliarden
        für die Rüstungsindustrie mobilisieren, und der Aufbau
        einer EU-Armee soll den imperialen Anspruch der EU
        als „global Player“ untermauern . Durch das Zwei-Pro-
        zent-Ziel der NATO würden sich die Rüstungsausgaben
        in Deutschland nahezu verdoppeln .
        Ist das ernsthaft Ihre Antwort auf Trump, Brexit und
        Le Pen? Nicht nur werden diese Milliardensummen an
        allen Ecken und Enden für wesentlich sinnvollere Pro-
        jekte gebraucht – beispielsweise für ein so dringend
        nötiges sozial-ökologisches Investitionsprogramm zur
        Überwindung der Wirtschaftskrise in Europa . Sie spielen
        zugleich außenpolitisch mit dem Feuer .
        Wir brauchen eine grundlegend andere Antwort auf
        die Krisen unserer Zeit . Angesichts des Scherbenhaufens,
        den die Politik der Östlichen Partnerschaft in Osteuropa
        hinterlassen hat, ist eine neue Entspannungspolitik uner-
        lässlich . Die Frage von Krieg und Frieden ist nach Eu-
        ropa zurückgekehrt, und die falschen Weichenstellungen
        können fatale Folgen haben . Nutzen wir den Moment der
        Krise jedoch richtig, so können wir heute den Weg für
        eine friedliche und soziale Entwicklung ebnen .
        Wir brauchen ein Europa des Friedens und der Abrüs-
        tung, der Entspannung und der Kooperation . Die Alter-
        native dazu bekommen wir derzeit vorgeführt .
        Dr. Franziska Brantner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Wir beraten heute einen durchaus wichtigen An-
        trag: „Weichen für eine Europäische Union der Abrüs-
        tung und des Friedens stellen“ . Wer wäre mit diesem
        Vorsatz nicht einverstanden? Mit ihrem Antrag greift Die
        Linke einige richtige Punkte auf und stellt auch manch
        berechtigte Forderung . Aber da gibt es auch vieles, wo
        wir nicht mitgehen können .
        In Brüssel werden heute und morgen erstmals auf
        Ebene der Staats- und Regierungschefs weitreichende
        Vorschläge für einen EU-Verteidigungsfonds diskutiert .
        Darüber zu reden, ist nicht grundsätzlich verkehrt; denn
        ein Weiter-so – will heißen: jeder macht sein Ding, und
        „Europa“ setzt anschließend, wenn es gut läuft, oben
        noch was drauf – kann auch nicht die Lösung sein . Wir
        brauchen angesichts ja nicht abnehmender Krisen, die
        uns alle betreffen, eine gemeinsame Antwort . Allerdings
        gilt es jetzt, nicht die falschen Weichen zu stellen .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 20997
        (A) (C)
        (B) (D)
        Vor sechs Monaten hat die EU-Außenbeauftragte
        Mogherini ihren Vorschlag einer „global strategy“ der
        Union in der Außen- und Sicherheitspolitik vorgelegt .
        Verglichen mit der Verve, mit der jetzt einige Staaten –
        allen voran Deutschland und Frankreich – die Verteidi-
        gungs- und Rüstungsaspekte pushen, fand diese Strategie
        recht wenig Beachtung . Schade! Denn in diesem Papier
        wurden wichtige Punkte aufgegriffen . So ist es gut, dass
        die Strategie zum ersten Mal den Begriff des „Präven-
        tivfriedens“ einführt . Es ist gut, dass lokale Akteure,
        gerade auch Frauen, ausdrücklich als wichtige Akteure
        der Konfliktbeilegung genannt werden, dass die Notwen-
        digkeit eines ganzheitlichen, langfristigen Engagements
        für den Frieden betont wird . Leider sind diese positiven
        Elemente der Strategie offenbar der Linken nicht aufge-
        fallen .
        Was heute in Brüssel auf dem Verhandlungstisch liegt,
        müssen wir viel kritischer bewerten als einige Kapitel des
        Mogherini-Vorstoßes . Zwar ist es richtig, sich Gedanken
        über einen echten europäischen Rüstungsmarkt zu ma-
        chen; denn die Kommission räumt ja selbst ein, dass die
        EU als Ganzes locker zwischen 25 und 100 Milliarden
        einsparen könnte, wenn man klare Regeln und eine inten-
        sivere Zusammenarbeit hätte . Aber anstatt sich Gedan-
        ken über naheliegende und kostensparende Synergien zu
        machen, wollen die Befürworter des Verteidigungsfonds
        nun finanziell so richtig zulangen: 5 Milliarden Euro
        jährlich sollen die Mitgliedstaaten für die Beschaffung
        von Militärgerät bereitstellen – ohne dass klar ist, welche
        Fähigkeiten überhaupt benötigt werden . Und diese In-
        vestitionen sollen womöglich auch noch nicht als Schul-
        den im Sinne der Maastricht-Kriterien bewertet werden!
        2020 sollen dann pro Jahr 500 Millionen Euro aus dem
        EU-Haushalt für gemeinsame Rüstungsforschung ausge-
        geben werden . Wo bleibt da die schwarze Null, frage ich
        mich!
        Aber das ist nicht alles . Auch der Europäische Fonds
        für Strategische Investitionen, EFSI, soll zur Finanzie-
        rung von Rüstungsprojekten eingespannt werden . Un-
        fassbar! Und die Bundesregierung? Die zeigte sich in
        einer Antwort an meinen Kollegen Manuel Sarrazin,
        „aufgeschlossen“, den EFSI für „Projekte im Bereich des
        Sicherheits- und Verteidigungssektors“ zu öffnen . Noch
        so ein Tabubruch: Die Europäische Investitionsbank soll
        nach den Vorstellungen der Kommission Kredite für Rüs-
        tungsunternehmen ausgeben . Und dann gab es ja auch
        noch den Vorstoß vom vergangenen Sommer, EU-Gelder
        des Friedens- und Stabilitätsinstruments zur Anschaffung
        von Militärgütern einzusetzen – eine Zweckentfremdung
        von Mitteln in Milliardenhöhe, die zum Beispiel Ent-
        wicklungsprojekten in Afrika vorenthalten würden .
        Ja, mehr Gemeinsamkeit ist nötig und machbar . Was
        Rüstung betrifft, mangelt es uns nicht an Geld, wohl aber
        an Ideen, es vernünftig auszugeben . Wir brauchen kei-
        nen Transporthubschrauber, von dem es 27 verschiedene
        Versionen gibt . Es gäbe Hunderte sogar von den nationa-
        len Militärchefs schon identifizierte sogenannte Pooling-
        und Sharing-Projekte, die man nur umsetzen müsste .
        Lassen Sie mich kurz noch weiter auf den Antrag der
        Linken eingehen . Sie schreiben, „die Frage von Krieg
        und Frieden (sei) auf den europäischen Kontinent zu-
        rückgekehrt“ . Sie erwähnen die völkerrechtswidrige
        Annexion der Krim mit keinem Wort, plädieren aber für
        eine Aufhebung der Sanktionen gegen Russland . Damit
        machen Sie es sich doch etwas zu einfach .
        Anlage 13
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
        brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesse-
        rung des Schutzes gegen Nachstellungen (Zusatz-
        tagesordnungspunkt 6)
        Kathrin Rösel (CDU/CSU): Der Verehrer steht re-
        gelmäßig vor dem Fenster und spielt seiner Angebeteten
        ein Lied auf der Geige: In Filmen und Büchern wirkt
        das romantisch . Stellen wir uns die Situation im echten
        Leben vor, wirkt sie eher angsteinflößend, im Gegenteil:
        Stalker machen ihren Opfern oft das Leben zur Hölle .
        Nicht nur die Zahlen sprechen für sich: Mehr als
        20 000 Anzeigen gehen jährlich bei den Polizeibehörden
        ein und nur ein, Bruchteil davon führt zu einer Anklage,
        in weniger als einem Prozent kommt es zur Verurteilung .
        Mit dem Nachstellungsgesetz 2007 hat der Deutsche
        Bundestag bereits ein Gesetz erlassen, das den Opfern
        verschiedenster Form der Nachstellung besseren Schutz
        bietet . Allerdings wurde damals die Messlatte sehr hoch
        gehängt: Erst wenn die Lebensgestaltung des Opfers
        „schwerwiegend beeinträchtigt“ war, konnte der Täter
        verurteilt werden . Klar, dass hier dringend Handlungs-
        bedarf bestand!
        Menschen, die gestalkt werden, erleben innere Unru-
        he, Ängste, viele entwickeln Schlafstörungen oder De-
        pressionen – je nach psychischer Stabilität des Opfers in
        unterschiedlicher Ausprägung . Die einen, die besonders
        taff damit umgehen (vielleicht auch nur nach außen),
        ziehen nicht gleich um oder wechseln den Arbeitsplatz .
        Andere wiederum können sich es finanziell schlichtweg
        nicht leisten oder die persönlichen oder familiären Le-
        bensumstände lassen es einfach nicht zu . Und überhaupt:
        Wieso muss bitteschön erst das Opfer seine Lebenssitua-
        tion ändern, bevor der Täter strafrechtlich verfolgt wird?
        Das hat doch zur Konsequenz, dass das Strafrecht in der
        heutigen Fassung bewirkt, was dem Täter nicht gelungen
        ist: nämlich den Willen des Opfers zu beugen . Für uns,
        für die Union, ein unhaltbarer Zustand!
        Wir können es nicht hinnehmen, wenn Recht und Ge-
        setz nicht den bestmöglichen Schutz für die Opfer bie-
        ten. Daher haben wir die Forderung nach Modifizierung
        des § 238 Strafgesetzbuch bereits im Koalitionsvertrag
        verankert . Stalking in jeder erdenklichen Form muss von
        einem Erfolgsdelikt zu einem Gefährdungsdelikt umge-
        wandelt werden . Und es bedurfte erst nachdrücklicher
        Forderungen der unionsgeführten Länder wie Bayern,
        Hessen und Sachsen, um das Haus von Justizminister
        Maas dazu zu bewegen, jetzt endlich den Gesetzentwurf
        vorzulegen .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201620998
        (A) (C)
        (B) (D)
        Aber, was uns jetzt vorliegt, kann ich zu hundert Pro-
        zent unterschreiben . Nicht nur, dass künftig die Hand-
        lung des Täters objektiv dazu geeignet sein muss, um zur
        Anklage oder Verurteilung zu führen . Nein, wir gehen
        sogar darüber hinaus: Wir streichen nun auch den Nach-
        stellungsparagrafen aus den Privatklagedelikten heraus .
        Wir verhindern damit, dass Stalking als ein leichteres
        Vergehen gilt, und ersparen es den Opfern, nach einem
        manchmal über Monate und Jahre dauernden Martyrium
        selbst den Strafanspruch durchzusetzen . Auch hier wird
        deutlich: Die Union stärkt die Opfer und das ist nur ge-
        recht .
        Stalking ist äußerst diffizil. Neben den Formen wie
        Auflauern, Belästigen durch SMS oder Telefonterror gibt
        es noch unzählige Möglichkeiten, dem Opfer das Leben
        zur Hölle zu machen . Daher ist es unmöglich, sämtliche
        Formen von Nachstellung abschließend im Gesetzestext
        aufzuführen . Justizminister Maas beabsichtigte, die in
        § 238 aufgeführte Generalklausel abzuschaffen . Aber
        wer weiß denn, was sich Täter so alles ausdenken, um
        ihr Opfer zu quälen? Glücklicherweise konnte sich auch
        hier die Union durchsetzen, und diese Streichung wieder
        zurücknehmen .
        Sie, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Oppo-
        sition, stehen auf dem Standpunkt, dass die Neufassung
        des Nachstellungsparagrafen zu weit geht . Dann verra-
        ten Sie mir einmal bitte, wie Sie es den zahlreichen Op-
        fern dieser Straftat erklären wollen, dass diese weiterhin
        kaum eine Möglichkeit haben, zu einem normalen Leben
        zurückzukehren, ohne, dass sie, also die Opfer, dem Tä-
        ter nachgeben. Mir jedenfalls fiele an Ihrer Stelle kein
        einziges Argument ein .
        Ich bitte um Zustimmung zu unserer Gesetzesvorlage .
        Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Wir beschließen heu-
        te ein Gesetz, in das Stalkingopfer große Hoffnung set-
        zen . Leidtragende sind überwiegend Frauen . Zu 80 Pro-
        zent sind sie es, die ein anderer durch Telefonterror und
        Auflauern am Arbeitsplatz belästigt, die es mit der Angst
        zu tun bekommen, sich nicht mehr vor die Tür trauen
        und kaum mehr schlafen können, weil ihr Leben zu ei-
        nem Alptraum geworden ist . Übles Nachstellen kann so
        schwerwiegende Folgen wie Verbrennungen oder Kno-
        chenbrüche haben und im schlimmsten Fall zum Tod füh-
        ren . Es verstößt auf üble Weise gegen geltendes Recht .
        Das ändern wir .
        Stalking ist eine Straftat . Zu Recht wurde diese Lü-
        cke im Jahr 2007 im deutschen Strafrecht geschlossen .
        Vorher waren nur schwerwiegende Nachstellungen wie
        Hausfriedensbruch, Körperverletzung und sexuelle Nö-
        tigung strafbar . Allerdings fällt die Bilanz nach fast zehn
        Jahren nicht rosig aus: Anzeigen und Verurteilungen ste-
        hen in einem eklatanten Missverhältnis . In der Polizeili-
        chen Kriminalstatistik wurden zwischen 2008 und 2014
        jährlich zwischen 205 und 561 Verurteilungen wegen
        Nachstellung erfasst . Diesen stehen bis zu 23 296 Straf-
        anzeigen wegen übler Nachstellung gegenüber . Hinzu
        kommt eine noch viel größere Dunkelziffer, weil Opfer
        aus Angst und Scham gar nicht erst Anzeige erstatten,
        oft auch mangels Aussicht auf Erfolg, dass der Täter
        auch tatsächlich zur Rechenschaft gezogen wird . Diese
        niedrige Quote ist auch dem Umstand geschuldet, dass
        bislang eine Verurteilung nicht vom Verhalten des Täters
        abhing, sondern das Opfer eine schwerwiegende Beein-
        trächtigung seiner Lebensweise etwa durch einen Umzug
        oder Arbeitsplatzwechsel vor Gericht nachweisen muss-
        te . Vom Opfer wird ein Verhalten verlangt, das ihm nicht
        länger zugemutet werden kann . Es soll gezwungen wer-
        den, sein Leben zu ändern, damit der Täter strafrechtlich
        verfolgt werden kann .
        Die aktuelle Gesetzeslage schützt Stalkingopfer un-
        zureichend . Deshalb brauchen wir Verbesserungen . Wir
        bauen den strafrechtlichen Schutz vor Stalking aus und
        senken die Hürden für eine Verurteilung . Wir wollen
        für einen besseren Schutz von Menschen sorgen, die
        unter üblen Nachstellungen von Expartnern oder Exge-
        liebten leiden . Das war auch Tenor einer öffentlichen
        Expertenanhörung im Bundestag . Es ist richtig, dass
        der Gesetzgeber nach fast zehn Jahren die Wirkung des
        Tatbestands der Nachstellung in § 238 Strafgesetzbuch
        überprüft hat . Die Reform des § 238 StGB ist notwen-
        dig . Lücken im Strafrecht müssen endlich geschlossen
        werden . Mit diesem Gesetz müssen Opfer nicht länger
        nachweisen, dass sie der Stalker durch sein Verhalten zu
        einem anderen Lebenswandel gezwungen hat . Das Opfer
        muss seine Telefonnummer nicht mehr wechseln oder in
        eine andere Stadt ziehen . Künftig ist der Straftatbestand
        des Stalkings erfüllt, wenn der Täter die Lebensgestal-
        tung des Opfers schwerwiegend beeinträchtigt . Diese
        Änderung im Strafrecht soll dafür sorgen, dass Täter
        leichter verurteilt werden . Aus einem Erfolgsdelikt wird
        ein Eignungsdelikt, weil bereits die Handlung, die ge-
        eignet ist, eine schwere Störung der Lebensverhältnisse
        herbeizuführen, die Strafbarkeit in sich trägt . Durch den
        Charakter des Eignungsdelikts können wir Opfer besser
        schützen .
        Außerdem haben wir zum Schutz der Opfer erreicht,
        dass die Generalklausel im Gesetz stehen bleibt . Bun-
        desjustizminister Heiko Maas wollte sie, für uns un-
        verständlich, ursprünglich rückgängig machen . Diese
        brauchen wir aber, damit künftig auch derjenige zu einer
        Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren verurteilt werden kann,
        der falsche Todes- oder Heiratsanzeigen aufgibt, soziale
        Medien manipuliert, indem er unter dem Namen des Op-
        fers auftritt, oder dem Opfer tote Tiere vor die Tür legt
        und Ekel erregt . Auch nachhaltige Lärmbeschallung und
        eine Überwachung des Familien- und Bekanntenkreises
        kann unter Strafe gestellt werden . All diese Handlungen
        können auch weiterhin als Stalking strafrechtlich ver-
        folgt werden . Das stärkt die Opfer noch einmal mehr .
        Der CDU/CSU-Bundestagsfraktion war der Erhalt der
        Generalklausel besonders wichtig . Opferschutz hat für
        die Union Vorrang .
        Eine weitere gute Nachricht ist: Der Privatklageweg
        bei Nachstellungen hat ein Ende . Momentan werden
        Verfahren oft eingestellt, und Staatsanwälte verweisen
        auf Privatklagen . Jedoch darf unser Rechtsstaat keinem
        Opfer länger zumuten, selbst vor Gericht seine Rechte
        einfordern und auch noch das Risiko für die Kosten des
        Verfahrens tragen zu müssen . Die Situation wäre zu be-
        lastend: Auf dem Privatklageweg müsste das Opfer selbst
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 20999
        (A) (C)
        (B) (D)
        prozessieren und dem Täter vor Gericht möglicherweise
        begegnen . Der Privatklageweg schützt die Opfer nicht .
        Seine Streichung ist richtig . Stalking ist eine schwerwie-
        gende Straftat, deren Akten beim Staatsanwalt landen
        müssen . Einstellungen von Verfahren bei Nachstellungen
        sind Vergangenheit .
        Die Reformen, die wir heute verabschieden, helfen
        den Opfern, weil sie besser geschützt werden . Mit dem
        Gesetz können wir bewirken, dass mehr Täter verurteilt
        werden und die Opfer zu einem normalen Leben zurück-
        finden können, in dem nicht jeder Schritt von Angst be-
        gleitet wird . Diese Hoffnung von circa 20 000 Stalking-
        opfern pro Jahr allein in Deutschland dürfen wir nicht
        enttäuschen . Für uns ist klar: Nicht das Opfer muss sein
        Verhalten ändern, sondern der Täter muss für sein Ver-
        halten zur Rechenschaft gezogen werden .
        Dirk Wiese (SPD): Heute ist wieder einmal ein guter
        Tag für den Opferschutz . Ich sage bewusst „wieder ein-
        mal“, denn der vorliegende Gesetzentwurf reiht sich ein
        in verschiedene Vorhaben dieser Legislaturperiode aus
        dem Hause von Bundesminister Maas, die allesamt eint,
        Opfer von Straftaten besser zu schützen: sei es durch die
        Reform des Sexualstrafrechts, die Einführung der bun-
        desweiten psychosozialen Prozessbegleitung oder durch
        das Opferrechtsreformgesetz . Kurzum: Wir Sozialdemo-
        kraten bewegen etwas, wir nehmen die Sorgen und Nöte
        der Menschen ernst und treffen die notwendigen gesetz-
        geberischen Konsequenzen .
        So auch hier; denn der Straftatbestand des Stalkings
        war bis jetzt durch verschiedene Regelungslücken ein
        recht stumpfes Schwert der Justiz . Obgleich die Fälle für
        den objektiven Betrachter oft eindeutig waren, waren die
        Hürden für eine Verurteilung der Täter viel zu hoch . Ich
        habe diese bereits in der ersten Lesung ausführlich dar-
        gestellt . Deshalb jetzt in aller Kürze die drei Kernpunkte
        der Reform:
        Erstens entfiel bis heute eine Bestrafung, wenn das
        Opfer dem enormen Druck nicht nachgab, sich nicht be-
        irren ließ, indem es den Wohnort wechselte und wegzog
        oder den Beruf aufgab . Ich möchte zu dieser Konstella-
        tion auch heute an den Fall aus meinem Wahlkreis erin-
        nern, wo ein Geistlicher seit nunmehr 15 Jahren gestalkt
        wird und eine Bestrafung der Täterin mangels schwer-
        wiegender Beeinträchtigung bei dem Pfarrer bislang aus-
        schied . Um solche nicht hinnehmbaren Missstände künf-
        tig zu beseitigen, wird der Straftatbestand des Stalkings
        deshalb nun als Eignungsdelikt ausgestaltet . Zukünftig
        reicht es völlig aus, wenn sich das Verhalten des Stalkers
        eignet, eine schwerwiegende Beeinträchtigung wie Job-
        verlust, Umzug oder eine schwere Erkrankung bei sei-
        nem Opfer herbeizuführen .
        Zweitens wird der Straftatbestand der Nachstellung
        aus dem Katalog der Privatklagedelikte gestrichen . Denn
        dieser erwies sich oftmals als eine weitere Hürde auf dem
        Weg zu einer Strafbarkeit, weil den meisten Klägern das
        Kostenrisiko des Prozesses, dass sie bei einer Privatklage
        tragen müssen, schlicht zu hoch war .
        Als dritten Punkt haben wir die effektive Durchset-
        zung von Vergleichen in Gewaltschutzverfahren ver-
        bessert . Zukünftig wird auch der Verstoß gegen eine in
        einem gerichtlichen Vergleich übernommene Verpflich-
        tung strafbar sein . Damit schließen wir eine weitere Re-
        gelungslücke .
        Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen sie mich kurz
        auf die wichtigste Änderung eingehen, die wir im par-
        lamentarischen Verfahren nach der Anhörung getroffen
        haben . Der Gesetzentwurf sah in seiner ursprünglichen
        Fassung vor, die Generalklausel des Absatzes 1 zu strei-
        chen, mit der auch „eine andere vergleichbare Handlung“
        des Täters, die im Tatbestand nicht ausdrücklich aufge-
        führt wird, strafbar ist . Begründet wurde dies mit verfas-
        sungsrechtlichen Bedenken hinsichtlich des Bestimmt-
        heitsgebotes . Die Anhörung hat aber genau das Gegenteil
        gezeigt . Fünf von sieben Sachverständigen sprachen sich
        für eine Beibehaltung der Generalklausel aus . Ich habe
        es noch einmal nachgeschaut, weil Sie, Frau Kollegin
        Keul, gestern im Rechtsausschuss sagten, dass die Mehr-
        heit gegen eine Beibehaltung der Klausel sei . Das ist also
        falsch . Die Mehrheit war ganz klar für eine Beibehaltung
        der Generalklausel . Vielleicht liegt Ihr Irrtum in der Sa-
        che aber auch daran, dass Sie, Frau Kollegin Keul, in der
        Anhörung gar nicht zugegen waren .
        Wo wir gerade bei der Sitzung des Ausschusses sind .
        Der Kollege Wunderlich ist auch vehement für eine
        Abschaffung der Generalklausel eingetreten . Auch hier
        muss ich sagen, dass ich mich sehr wundere . Denn Ihre
        Sachverständige, Frau Köhler, hat in der Anhörung doch
        deutlich dargelegt, dass dadurch die Opfer von Stalking
        wesentlich schlechter geschützt wären, und ist deshalb
        für eine Beibehaltung der Klausel eingetreten .
        Überhaupt wundert mich die Einstellung der Op-
        position in dieser Sache . Denn würde man die Klausel
        streichen, wären Frauen, die am häufigsten Opfer von
        Stalking werden, deutlich schlechter geschützt . Denn
        Personen würden dann zukünftig straffrei handeln,
        wenn sie beispielsweise unrichtige Todes- oder Hei-
        ratsanzeigen aufgeben, Manipulationen in den sozialen
        Netzwerken vornehmen oder ekelerregende Sachen wie
        tote Tiere vor die Tür des Opfers legen . Eine solche Re-
        gelungslücke zu schaffen, wäre fatal, ja, sie würde den
        Sinn konterkarieren, dass wir mit der Reform des Stal-
        kingtatbestands alle Regelungslücken schließen wollen .
        Und deshalb haben wir uns auch dafür entschieden, die
        Generalklausel beizubehalten . Denn das war die einzig
        richtige Entscheidung, um Opfer von Stalking umfassend
        zu schützen .
        Es geht eben nicht, diese Regelungslücken über die
        Ausformulierung weiterer Nachstellungsvarianten zu
        schließen . Jeder kann sich sicher vorstellen, dass dies
        aufgrund der Kreativität, mit der die Täter oft zugange
        sind, schlichtweg unmöglich ist und es immer wieder
        Fäll gäbe, die deshalb straflos wären, obwohl ein jeder
        erkennt, dass es sich um Stalking handelt .
        Sie sehen, wir haben als Koalitionsfraktionen gute Ar-
        beit gemacht . Das Struck’sche Gesetz kam wieder ein-
        mal zu Anwendung . Wir liefern ein effektives Mittel, um
        Stalking-Opfer besser zu schützen und eine Verurteilung
        der Täter zu erleichtern . An die Opposition möchte ich
        appellieren: Stimmen Sie unserem Gesetzentwurf heute
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201621000
        (A) (C)
        (B) (D)
        hier zu . Dann können auch Sie sagen, dass Sie zu einem
        besseren Opferschutz beigetragen haben .
        Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Der Gesetzentwurf
        will den strafrechtlichen Schutz gegen Nachstellung ge-
        mäß § 238 StGB ausbauen . Der 2007 eingeführte Para-
        graf, wird danach dem Anspruch eines besseren Opfer-
        schutzes nur eingeschränkt gerecht . Als problematisch
        wird dabei in erster Linie angesehen, dass die Strafbarkeit
        von der Reaktion des Opfers abhängt . Sofern das Opfer
        mit besonnener Selbstbehauptung auftritt und nichts an
        seinen Lebensumständen ändert, entfällt auch eine Straf-
        barkeit des Täters gemäß § 238 StGB . Dies soll dadurch
        geändert werden dass das Delikt von einem Erfolgs- zu
        einem Eignungs- und Gefährdungsdelikt umgewandelt
        wird . Ein Erfolgseintritt ist damit nicht mehr nötig .
        Daneben soll die Einstufung als Privatklagedelikt ab-
        geschafft werden, damit das strafwürdige Verhalten auch
        immer zur Aburteilung gelangt .
        Nach § 4 Gewaltschutzgesetz – GewSchG – ist nur der
        Verstoß gegen eine gerichtliche Schutzanordnung nach
        § 1 GewSchG strafbewehrt, nicht aber der Verstoß gegen
        eine entsprechende Verpflichtung, die der Täter in einem
        Vergleich übernommen hat . Diese Strafbarkeitslücke soll
        geschlossen werden, und zwar durch die Einführung der
        gerichtlichen Bestätigung von in Gewaltschutzverfahren
        geschlossenen Vergleichen sowie durch die Erweiterung
        des § 4 GewSchG auf Verstöße gegen Verpflichtungen
        aus einem gerichtlich bestätigten Vergleich .
        Stalkingopfer müssen besser geschützt werden . In die-
        sem Punkt besteht Einigkeit . Jedoch ist der hier einge-
        schlagene Weg einer Verschärfung und Vorverlagerung
        der Strafbarkeit nicht der richtige . Problem dabei war
        offenbar, dass in so manchen Fällen von mutmaßlichem
        Stalking die Verfahren eingestellt worden sind, da der er-
        forderliche Erfolg, nämlich die Lebensgestaltung schwer
        beeinträchtigt zu haben, noch nicht eingetreten ist .
        Dies soll nun dadurch behoben werden, dass anstelle
        des eingetretenen Erfolges die Geeignetheit der Hand-
        lung unter Strafe gestellt werden soll . Die Strafbarkeit
        soll damit vorverlagert werden .
        Zu der Schwere des Eingriffs hat meine Kollegin
        Wawzyniak bereits in der ersten Lesung unter Bezugnah-
        me auf das entsprechende BGH-Urteil ausgeführt .
        Nach wie vor bleibt fraglich, wer die Geeignetheit
        der Handlung, welche zu der schweren Beeinträchtigung
        führen kann, feststellt . So wie nach geltender Rechtslage
        der Erfolg festgestellt werden muss, muss nun die Geeig-
        netheit festgestellt werden . Ob dies tatsächlich zu einem
        besseren Opferschutz führt, wurde auch in der Anhörung
        unterschiedlich gesehen . Ich persönlich vermag dies aus
        Sicht eines ehemaligen Staatsanwalts und Richters a . D .
        nicht zu bejahen .
        Um dennoch mehr Fälle zu erfassen, wäre es sinnvol-
        ler gewesen, das Wort „schwerwiegend“ in dem Tatbe-
        stand zu streichen . Doch dazu konnte sich die Koalition
        nicht hinreißen lassen . Warum einfach, wenn es auch
        kompliziert, schwieriger und wenig zielführend geht?
        Denn die Umwandlung des Straftatbestandes des Stal-
        king von einem Erfolgsdelikt zu einem Eignungs- und
        Gefährdungsdelikt, ist aus grundsätzlichen rechtsstaat-
        lichen Erwägungen heraus kritisch zu betrachten . Das
        geschützte Rechtsgut, den individuellen Lebensbereich
        in Form der Handlungs- und Entschließungsfreiheit zu
        schützen, muss unter Beachtung des Ultima-Ratio-Prin-
        zips des Strafrechts eine tatsächliche Beeinträchtigung
        derselben mit sich bringen .
        Dagegen wäre die zunächst geplante Streichung
        der Generalklausel im derzeitigen Stalkingparagrafen
        § 238 StGB konsequent und richtig gewesen . Sie stand
        zu Recht im Hinblick auf das Bestimmtheitsgebot in der
        Kritik .
        Die Generalklausel des § 238 Absatz 1 Nummer 5
        StGB ist nun doch durch den Änderungsantrag der Ko-
        alition wieder eingeführt worden . Die Streichung wegen
        Verstoßes gegen das Bestimmtheitsgebot wäre aber sinn-
        voll gewesen .
        Einzig die Änderungen des Gewaltschutzgesetzes sind
        sinnvoll, da über diese tatsächlich ein wirksamer Schutz
        der Betroffenen erzielt werden kann .
        Zu Streichung des Privatklagedelikts muss ich noch
        Folgendes anmerken . Es besteht kein Handlungsbedarf,
        da die Staatsanwaltschaft nach Nummer 86 Absatz 2
        RiStBV – Richtlinien des Straf- und Bußgeldverfahrens –
        das Verfahren nicht einstellen darf, wenn dem Verletzten
        die Privatklage wegen seiner Beziehung zum Täter nicht
        zugemutet werden kann . Diese Richtlinien sind zwar
        nicht Gesetz, aber gleichsam die Bibel des Staatsanwalts,
        wie es jeder Praktiker weiß . Von daher war ein Hand-
        lungsbedarf nicht gegeben, zumal ich davon ausgehen
        kann, dass die Staatsanwaltschaft als objektivste Behörde
        der Welt mit derartigen Einstellungen unter Verweisung
        auf den Privatklageweg sorgsam umgeht .
        Abschließend bleibt festzustellen, dass die Meinun-
        gen in der Anhörung zum Wandel vom Erfolgsdelikt zum
        Eignungs- und Gefährdungsdelikt wie auch die Erforder-
        lichkeit im Gewaltschutzgesetz unterschiedlich waren,
        jedoch die herrschende Meinung oftmals die Meinung
        der Herrschenden ist .
        Aus rechtsstaatlicher Sicht insbesondere wegen der
        nach wie vor vorhandenen Generalklausel und der damit
        einhergehenden Unbestimmtheit kann dem Gesetz alles
        in allem aus Sicht der Linken nicht zugestimmt werden .
        Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Für Opfer
        von Nachstellungen ist es häufig schwierig, wirkungsvol-
        len gerichtlichen Schutz zu erlangen . Ziel dieser Geset-
        zesänderung soll es sein – wie der Name des Gesetzes es
        schon sagt –, die Verbesserung des Schutzes gegen Nach-
        stellungen zu bewirken und den derzeitigen Missstand zu
        beenden . Diesem Ziel wird der vorliegende Gesetzent-
        wurf aber nicht gerecht .
        Den positiven Punkt, die Änderungen in § 4 Gewalt-
        schutzgesetz, habe ich ja bereits in der ersten Lesung
        genannt . Endlich ist auch der Verstoß gegen einen ge-
        richtlich bestätigten Vergleich strafbewehrt . Das ist eine
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 21001
        (A) (C)
        (B) (D)
        wichtige Verbesserung, denn die meisten Gewaltschutz-
        verfahren werden in der Praxis durch Vergleich beendet .
        Bedauerlicherweise haben Sie den anderen positi-
        ven Punkt mit Ihrem Änderungsantrag aber auch schon
        wieder revidiert . Die Handlungsgeneralklausel in § 238
        Absatz 1 Nummer 5 StGB, deren Streichung wir schon
        2006 gefordert haben, wurde im Gesetzentwurf zunächst
        gestrichen, durch den Änderungsantrag aber wieder in
        den Gesetzestext eingefügt . Der ursprüngliche Gesetz-
        entwurf wird damit verschlimmbessert . Jetzt haben wir
        tatsächlich die Strafbarkeit bei einer „vergleichbaren
        Handlung“, die „geeignet ist“, die Lebensgestaltung des
        Opfers zu beeinträchtigen . Noch unbestimmter ging es
        wohl nicht . Die verfassungsrechtlichen Bedenken, die
        bei der bisherigen Fassung schon bestanden haben wer-
        den durch die Wiedereinfügung der Handlungsgeneral-
        klausel nochmals erheblich ausgeweitet .
        Dabei war auch in der Anhörung der Bedarf nach einer
        Handlungsgeneralklausel ein umstrittener Punkt . Entge-
        gen der Begründung des Änderungsantrags war es nicht
        einhellige Meinung, dass sich durch eine Streichung des
        § 238 Absatz 1 Nummer 5 StGB Schutzlücken ergeben .
        Nach Ansicht der Sachverständigen mit Bezug zur Justiz
        wurde ein Bedürfnis nach einer solchen Generalklausel
        nicht gesehen . Vielmehr gaben die Praktiker an, dass die
        Generalklausel bislang in so gut wie keinem Fall zur An-
        wendung gekommen sei und die Nummern 1 bis 4 in der
        staatsanwaltlichen und justiziellen Praxis ausreichend
        seien . Die Beibehaltung der Nummer 5 ist weder zwin-
        gend noch nützlich . Im Strafrecht gilt eben nicht „Viel
        hilft viel“!
        Dabei war alleine schon der ursprüngliche Gesetz-
        entwurf, der die Eignung zu einer schwerwiegenden Le-
        bensbeeinträchtigung vorsah, bereits Grund genug, die-
        sen abzulehnen . Die Umgestaltung des Tatbestandes des
        § 238 StGB von einem Erfolgs- in ein abstraktes Gefähr-
        dungsdelikt halte ich für ungeeignet, den Stalkingopfern
        künftig effektiveren Rechtsschutz zu ermöglichen . Ich
        brauche es nicht im Detail zu wiederholen . Aber jegliche
        Objektivierung der Geeignetheit als Tatbestandsmerkmal
        ist schwierig . Deshalb wird die Geeignetheit einer Hand-
        lung voraussichtlich weiterhin anhand derselben Anfor-
        derungen gemessen wie bisher . Das Opfer muss eine
        nach außen hin wahrnehmbare Reaktion in irgendeiner
        Weise gezeigt haben . Im Ergebnis wird das Ziel, die Op-
        fer besser gegen Stalker zu schützen, verfehlt .
        Unsere alternativen Vorschläge zum Gesetzentwurf
        haben Sie leider auch nicht berücksichtigt . Dabei wäre
        gerade die Erfassung der psychischen Belastung als
        schwerwiegende Beeinträchtigung geeigneter gewesen,
        die Nachweisprobleme zu beseitigen .
        Der Vorschlag, den § 1 Gewaltschutzgesetz zu erwei-
        tern, um weitere Erscheinungsformen des Stalkings zu
        erfassen, wurde ebenfalls nicht in Betracht gezogen . Nun
        werden Sie argumentieren, dass Sie jeder noch so „kre-
        ativen“ Idee eines Stalkers durch die Generalklausel in
        Nummer 5 des StGB bereits begegnen . Dieses Ergebnis
        ließe sich aber viel besser durch eine Handlungsgeneral-
        klausel im Gewaltschutzgesetz realisieren . Der entschei-
        dende Vorteil wäre, dass wir nicht befürchten müssten,
        dass das Gesetz dem strafrechtlichen Bestimmtheits-
        grundsatz aus Artikel 103 Absatz 2 GG nicht genügt und
        damit verfassungswidrig ist .
        Opferschutz ist eben etwas anderes als symbolhafte
        Verschärfungen von Straftatbeständen, die am Ende nie-
        mandem – insbesondere den betroffenen Opfern – etwas
        bringen .
        Anlage 14
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
        gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
        rung der Bestimmungen zur Stromerzeugung aus
        Kraft-Wärme-Kopplung und zur Eigenversorgung
        (Zusatztagesordnungspunkt 7)
        Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): Der Leitgedanke
        der Energiewende muss sein: Mehr Markt, mehr Wett-
        bewerb, mehr Europa . Der Umbau der Energieversor-
        gung ist kein Sprint, sondern ein Marathon . Der schnelle
        Ausbau der erneuerbaren Energien ist ein wichtiger Bau-
        stein . Neben den erneuerbaren Energien gilt es jedoch,
        auch andere Handlungsfelder zu berücksichtigen . Die
        Energiewende muss technologieoffen ausgestaltet wer-
        den. Insbesondere die Steigerung der Energieeffizienz
        ist der Königsweg in der Energiepolitik . Sie schafft eine
        Win-win-Situation: Effizienzvorteile für die Verbraucher
        in Haushalten, Gewerbe und Industrie und gleichzei-
        tig Reduzierung des Energieverbrauchs und damit von
        CO2-Emissionen . Die beste Energie ist immer noch ein-
        gesparte Energie .
        Die Kraft-Wärme-Kopplung ist eine seit Jahrzehnten
        erfolgreiche Technologie zur Steigerung der Energieef-
        fizienz und ein zentraler Baustein für eine nachhaltige
        Energiepolitik . Durch die gekoppelte Erzeugung von
        Wärme und Strom werden erhebliche Mengen an Pri-
        märenergie und damit CO2 eingespart . Gegenüber unge-
        koppelten Systemen sind das derzeit 56 Millionen Ton-
        nen CO2 im Jahr . Fernwärme durch KWK kann allein in
        Großstädten wie Berlin, Hamburg, Köln und weiteren
        bis zu 20 Millionen Tonnen CO2 einsparen . Ein Block-
        heizkraftwerk mit Erdgas und KWK verursacht nur
        120 Gramm CO2 pro Kilowattstunde . Ein herkömmli-
        ches Gaskraftwerk produziert dagegen das Dreifache an
        CO2 pro Kilowattstunde .
        Das Ausbaupotenzial für KWK wird auf zwischen
        170 Terawattstunden pro Jahr und 240 Terawattstunden
        pro Jahr geschätzt . Davon liegt der Hauptteil mit rund
        110 beziehungsweise 180 Terawattstunden im Bereich
        der Fernwärme und damit in der allgemeinen Versor-
        gung . Hinzu kommen 38 bis 59 Terawattstunden im In-
        dustriebereich .
        Die CDU/CSU bekennt sich zum Ausbau der KWK als
        einem zentralen Ziel der Energiewende . Mit der Novelle
        des Kraft-Wärme-Kopplungsgesetzes von 2015 sollte die
        geltende Förderung der hocheffizienten und klimafreund-
        lichen KWK-Anlagen an die aktuellen Erfordernisse des
        Umbaus der Energieversorgung angepasst werden . Die
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201621002
        (A) (C)
        (B) (D)
        CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat seinerzeit im Gesetz-
        gebungsprozess einige wichtige Änderungen des Gesetz-
        entwurfs des Bundeswirtschaftsministeriums durchge-
        setzt .
        Das Ausbauziel für KWK wurde von 108 Terawatt-
        stunden auf 120 Terawattstunden für das Jahr 2025 an-
        gehoben . Im Jahr 2017 soll entsprechend dem Grundsatz
        der Technologieoffenheit auch die Wirtschaftlichkeit der
        Kohle-KWK evaluiert werden . Zudem kann per Ver-
        ordnung eine Förderung von hocheffizienten und sonst
        unwirtschaftlich werdenden Kohle-KWKs eingeführt
        werden .
        Die Gesetzesnovelle des Jahres 2015 stand bisher
        unter dem Vorbehalt einer beihilferechtlichen Genehmi-
        gung durch die EU-Kommission . Im August 2016 hat die
        Bundesregierung unter Federführung des Bundeskanz-
        leramtes hierzu eine Einigung mit der Kommission er-
        reicht . Der heute zu beschließende Gesetzentwurf setzt
        diese Einigung um . Er schafft damit Planungssicherheit
        für viele private, gewerbliche und industrielle Anlagen-
        betreiber .
        Mit der Einführung einer Ausschreibung für
        KWK-Anlagen von 1 bis 50 Megawatt setzen wir auch
        bei der KWK-Förderung zukünftig auf mehr Wettbe-
        werb . Ebenso wie bei den erneuerbaren Energien gilt
        für KWK, dass in der Perspektive die Subventionierung
        auslaufen und die Technologie auf eigenen Füßen stehen
        sollte . Nur so können weiter steigende Energiepreise ver-
        mieden und die Akzeptanz für die Energiewende erhalten
        werden . Zusätzlich schließen die neuen Ausschreibungen
        auch innovative KWK-Systeme ein .
        Die Ausschreibungen für KWK-Anlagen von 1 bis
        50 MW können zukünftig per Verordnung auch für In-
        dustrieprojekte geöffnet werden . Auch wurde die Vor-
        schrift aus dem Gesetzentwurf gestrichen, dass Anlagen,
        die an der Ausschreibung teilnehmen, eine technische
        Mindesterzeugung von null erreichen müssen . Das wäre
        für viele Industrieprojekte nicht erreichbar gewesen .
        Bei dem wichtigen Thema Bestandschutz für Eigen-
        stromerzeugungsanlagen haben wir ebenfalls Verbes-
        serungen erreicht . Eigenstrombestandsanlagen werden
        von der EEG-Umlage auch weiterhin dauerhaft entlas-
        tet . Bei bestehenden Anlagen wird dieses sogenannte
        Eigenstromprivileg zukünftig zudem „vererbbar“, bei-
        spielsweise für eine Biogasanlage auf einem Bauernhof .
        Im Falle von Umstrukturierungen und Rechtsnachfol-
        gen bis Ende 2016 kann das Eigenstromprivileg auf den
        Rechtsnachfolger übergehen . Bestandsschutz gilt auch
        für bestehende Eigenstrommodelle mit mehreren Kraft-
        werksschreiben . Im Speicherbereich wurde die geplante
        vierjährige Befristung der Umlagebefreiung ebenfalls
        gestrichen .
        Die CDU/CSU hat im Gesetzgebungsverfahren insbe-
        sondere darauf geachtet, dass keine neuen oder zumin-
        dest keine zu hohen Zusatzbelastungen für die Industrie
        entstehen . Denn die Energiewende wird nur dann zum
        Erfolg, wenn es gelingt, die Wettbewerbsfähigkeit des
        Industriestandortes zu sichern .
        Von zentraler Bedeutung ist insbesondere die Entlas-
        tung der energieintensiven Industrie von der KWK-Um-
        lage . Trotz intensiver Verhandlungen mit der EU-Kom-
        mission haben wir leider nicht alles erreicht, was wir
        wollten .
        Mit dem neuen Gesetz wird die Entlastungsregelung
        im KWKG an die besondere Ausgleichsregelung im
        EEG angepasst . Dies sichert die Wettbewerbsfähigkeit
        besonders der hoch energieintensiven Unternehmen .
        Wir als CDU/CSU haben uns darüber hinaus für eine
        Härtefallregelung im weitmöglichsten Umfang ausge-
        sprochen, und zwar für alle Unternehmen, die wegen
        der beihilferechtlichen Restriktionen die bisherigen Ent-
        lastungsregelungen des KWKG nicht mehr in Anspruch
        nehmen können . Nach intensiven Diskussionen mit dem
        Bundeswirtschaftsministerium und der Kommission
        wurde klar, dass hierfür beihilferechtlich kein Spielraum
        besteht . Daher wird es leider für viele Unternehmen
        zukünftig zu Mehrbelastungen kommen . Die Kommis-
        sion hat diese Mehrbelastungen überwiegend als nicht
        so weitgehend eingestuft, dass sie eine unbillige Härte
        darstellen .
        Ich halte das für unbefriedigend . Schon heute ist die
        Wettbewerbssituation der energieintensiven Industrie in
        Deutschland äußerst schwierig . Dies zeigt sich schon
        daran, dass in diesem Sektor nur 70 bis 80 Prozent der
        Abschreibungen noch reinvestiert werden . Die Strom-
        preise für große Industrieunternehmen in Deutschland
        liegen bei rund 15 ct/kWh, davon sind im Durchschnitt
        fast 50 Prozent Steuern und Abgaben . Der Großteil der
        Abgaben ist auf die EEG-Umlage zurückzuführen .
        Die energieintensive Industrie bildet jedoch die Basis
        der industriellen Wertschöpfungskette und gibt Hundert-
        tausenden Menschen in unserem Land Lohn und Brot .
        Die CDU/CSU kämpft um den Erhalt dieser Arbeitsplät-
        ze – leider oft allein auf weiter Flur .
        Im Ergebnis gilt es nun, die Auswirkungen der neuen
        Regelung auf die Industrie genau evaluieren . Gegebe-
        nenfalls werden wir in ein bis zwei Jahren einen neuen
        Anlauf bei der Kommission nehmen, um weitergehende
        Entlastungen für die Industrie zu erreichen .
        Es gilt, Deutschland als Industriestandort zu erhalten,
        denn dies ist die Garantie für Wohlstand und sozialen
        Frieden in unserem Land auch in den kommenden Jahr-
        zehnten .
        Florian Post (SPD): Wie schon im letzten Jahr ha-
        ben die Verhandlungen um das KWKG und Eigenver-
        sorgung erst kurz vor der jetzt anstehenden Abstimmung
        über das Gesetz ihren Abschluss gefunden . Das war nicht
        geplant, um Ihnen, geehrte Kolleginnen und Kollegen
        von der Opposition, die Arbeit zu erschweren, sondern
        der Tatsache geschuldet, dass wir den EU-Bescheid erst
        im November erhielten und noch bis zum Schluss eine
        gute Lösung ausgehandelt haben . Meiner Meinung nach
        haben wir mit dem vorliegenden Artikelgesetz eine gute
        Grundlage geschaffen, um der KWK weiterhin eine si-
        chere Perspektive im deutschen Stromerzeugungsmix zu
        geben .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 21003
        (A) (C)
        (B) (D)
        Ich bin froh, dass es gelungen ist, den doch recht am-
        bitionierten Zeitplan einzuhalten, um das Gesetz noch in
        diesem Jahr zu verabschieden . Durch das heute im Bun-
        destag zu beschließende Gesetz schaffen wir zudem die
        Voraussetzungen, dass das KWKG von der EU-Kommis-
        sion beihilferechtlich genehmigt wird und somit im neu-
        en Jahr umfassend in Kraft treten kann .
        In Übereinstimmung mit den Zielen der EU Kom-
        mission werden künftig KWK-Anlagen zwischen 1 und
        50 Megawatt gefördert, wenn sie erfolgreich an einer
        Ausschreibung teilnehmen . Damit wird die Förderhöhe
        auch für KWK-Anlagen – wie im EEG – über Ausschrei-
        bungen ermittelt . Dies ermöglicht eine bessere Mengen-
        steuerung, bedeutet Planbarkeit für alle Marktakteure
        und erhöht die Kosteneffizienz in der Förderung.
        Mit dem KWK-Gesetz hat die SPD sichergestellt,
        dass bei der KWK-Förderung der Fokus weiterhin auf
        der öffentlichen Versorgung liegt . Damit schaffen wir die
        gesetzliche Grundlage, weiter intensiv am Ausbau der
        KWK und am Klimaschutz in den Städten und Gemein-
        den zu arbeiten .
        Die KWK-Förderung kann zudem für Anlagen geöff-
        net werden, die ihren Strom in ein geschlossenes Ver-
        teilernetz einspeisen . Voraussetzung dafür ist aber, dass
        der in solchen Netzen verbrauchte Strom im Hinblick
        auf Umlagen, Entgelte und Abgaben genauso gestellt
        ist wie Strom im Netz der allgemeinen Versorgung . Mit
        diesem Kriterium stellen wir sicher, dass Anlagen in ei-
        nem geschlossenen Netz andere Anlagen, also vor allem
        KWK-Anlagen von Stadtwerken, nicht aus dem Markt
        drängen können .
        Gleichzeitig haben wir im KWKG auch für Strom-
        speicher eine gute Lösung gefunden, indem wir die
        Bestimmung zur Begrenzung der KWKG-Umlage bei
        Stromspeichern dahin gehend angepasst haben, dass die
        KWK Umlage entsprechend dem§ 61 k EEG 2017 erho-
        ben wird . Damit wird eine Doppelbelastung von Strom-
        speichern – wie etwa Pumpspeicherkraftwerken – bei der
        Erhebung der KWKG-Umlage ausgeschlossen .
        Mit diesen Regelungen fördern wir die dringend not-
        wendigen Flexibilisierungs- und Speichermöglichkeiten .
        Mit dem Gesetz sind wir insgesamt auf einem guten
        Weg, die Sektorkoppelung und Aufnahmefähigkeit für
        erneuerbare Energien auszubauen, und sorgen zudem da-
        für, dass das Ausbauziel von 110 TWh Strom aus KWK
        Anlagen bis 2020 erreicht werden kann .
        Johann Saathoff (SPD): Vor gut einem Jahr, am
        3 . Dezember, haben wir hier das KWKG 2015 beschlos-
        sen . Richtig abschließen können wir dieses Gesetzesvor-
        haben eigentlich aber erst heute . Warum ist das so?
        Lange haben wir alle auf die Notifizierung des KWKG
        gewartet . Sehr spät, am 24 . Oktober dieses Jahres, hat die
        Europäische Kommission das Gesetz endlich notifiziert;
        leider aber unter Auflagen. Und diesen Auflagen kom-
        men wir nun mit der erneuten KWK-Änderung nach .
        Bei den Privilegierungen bei der KWK-Umlage hat
        das BMWi hart mit der Kommission gerungen und sich
        letztlich darauf geeinigt, dass künftig ein Begrenzungs-
        bescheid bei der Besonderen Ausgleichsregelung nach
        dem EEG auch für die Privilegierung bei der KWK-Um-
        lage maßgebend ist . Das ist ein gutes Ergebnis, denn an-
        fangs sah es danach aus, dass Unternehmen in Zukunft
        die volle Umlage zahlen müssen, was ganz sicher einige
        Härten zur Folge gehabt hätte, was, denke ich, niemand
        von uns gewollt hat – zumindest nicht mit Blick auf die
        damit verbundenen Arbeitsplätze .
        Dieses Gesetzespaket trägt aber nicht nur den notwen-
        digen Änderungen beim KWKG Rechnung . Gleichzeitig
        setzen wir auch ein für den Industriestandort Deutsch-
        land extrem wichtiges Anliegen aus dem Koalitionsver-
        trag um . Ich meine die Regelung zur Eigenstromerzeu-
        gung, über der ja bislang immer das Damoklesschwert
        der Befristung bis Ende nächsten Jahres schwebte . Im
        Koalitionsvertrag steht, dass alle neuen Eigenstromer-
        zeuger mit einer Mindestumlage zur Finanzierung des
        EEG-Kontos beitragen sollen und dass für bestehende
        Eigenerzeugung Vertrauensschutz gewährleistet werden
        soll . Und genauso steht es nun auch in dem Gesetz, das
        wir heute hier beschließen . Bestehende Eigenversor-
        gungsmodelle zahlen weiterhin null Prozent EEG-Um-
        lage . Das gilt solange, bis das Kraftwerk modernisiert
        wird, wobei es bei der Modernisierung nur um den Ge-
        nerator geht . Danach müssen auch sie einen Beitrag in
        Höhe von 20 Prozent zum EEG-Konto leisten . Neue Ei-
        genstromerzeugungsmodelle zahlen nunmehr 40 Prozent
        EEG-Umlage . Damit gelingt uns ein guter Kompromiss,
        um auch die Industrie angemessen an der Finanzierung
        des EEG zu beteiligen und gleichzeitig den Wirtschafts-
        standort Deutschland nicht zu schwächen und Carbon
        Leakage zu vermeiden .
        Darüber hinaus haben wir im EEG einige Punkte, die
        wir bereits vor der Sommerpause beschlossen haben,
        etwas nachgeschärft, zum Beispiel bei den Bürgerener-
        giegenossenschaften . Als wir die Sonderregeln für die
        Bürgerenergie beschlossen haben, habe ich mir nicht
        vorstellen können, welches Missbrauchspotenzial diese
        Regelungen in sich tragen könnten . Viel haben wir in
        den vergangenen zwei Monaten über Strohmann-Gesell-
        schaften gesprochen . Und da wir natürlich keinerlei Inte-
        resse daran haben, dass diese gut gemeinten Regelungen
        unterlaufen werden, haben wir nun bestimmte Hürden
        eingezogen, die dieses Unterlaufen unmöglich machen
        sollen . Diese Hürden machen den Missbrauch der be-
        vorzugten Regelungen für die Bürgerenergie unmöglich,
        behindern aber nicht die echte Bürgerenergie .
        Gleichzeitig haben wir bei der Offshorewindkraft da-
        für gesorgt, dass wir in den nächsten Jahrzehnten viel
        Geld sparen können . Genehmigungen für Offshorewind-
        kraftanlagen werden künftig für 25 Jahre erteilt . Dadurch
        wird es zu günstigeren Ergebnissen in den Ausschreibun-
        gen kommen, was das EEG-Konto entlasten wird . In den
        vergangenen Wochen haben wir in Dänemark und den
        Niederlanden erstaunlich günstige Gebotszuschläge für
        Offshorewindparks gesehen . Die Bedingungen lassen
        sich nicht ganz mit den Bedingungen in Deutschland ver-
        gleichen . Aber ich gehe trotzdem davon aus, dass wir in
        der ersten Ausschreibungsrunde für Offshorewindparks
        im kommenden Jahr Ergebnisse sehen werden, die wir
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201621004
        (A) (C)
        (B) (D)
        alle der Branche kaum zugetraut haben . Auf jeden Fall
        sollten wir in naher Zukunft unsere Beschlüsse zu den
        Ausbaumengen bei der Offshorewindkraft noch mal
        überdenken, denn hier liegt nach wie vor großes Potenzi-
        al – sowohl gesamtdeutsch industriepolitisch als auch als
        günstige, fast grundlastfähige erneuerbare Energiequelle .
        Insgesamt war es ein von großer Zeitnot geprägtes
        Verfahren, weil wir ja unbedingt noch in dieser Woche
        beschließen müssen . Ich möchte mich deshalb ganz
        besonders bei den Kolleginnen und Kollegen aus dem
        BMWi bedanken, die quasi Tag und Nacht durchgearbei-
        tet haben . In Ostfriesland würde man sagen: „wi hebben
        heel moi tausamen arbeid“ .
        Und nun wünsche ich Ihnen ein besinnliches Weih-
        nachtsfest und einen guten Rutsch ins neue Jahr .
        Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Damit die
        EU-Kommission bei den deutschen Industrieprivilegi-
        en zwei Augen zudrückt, verlangt sie, die KWK künf-
        tig über Ausschreibungen zu fördern . Das ist kompletter
        Unsinn, es gibt sachlich keinen Zusammenhang . Dies ist
        ein klassischer Deal, der nicht sachgemäß ist und der die
        ohnehin schon komplizierte Materie noch komplizierter
        macht . Wir halten es für verantwortungslos, nun auch die
        Förderhöhe der KWK über Ausschreibungen zu ermit-
        teln, nach dem Motto: billig gewinnt . Bei Photovoltaik
        und Windkraft haben wir das Instrument Ausschreibun-
        gen abgelehnt, weil es Bürgerenergie trotz Nachteils-
        ausgleich Steine in den Weg legt und voraussichtlich zu
        Marktkonzentration einiger weniger Projektierer führen
        wird .
        Bei der Kraft-Wärme-Kopplung haben wir für unse-
        re Ablehnung der Ausschreibungen, wie sie nun für An-
        lagen zwischen 1 und 50 Megawatt eingeführt werden,
        etwas andere Gründe: KWK-Anlagen sind sehr unter-
        schiedlich, und die Wirtschaftlichkeit einer Anlage ist
        abhängig von verschiedenen Größen, nicht nur auf der
        Stromseite, sondern auch bei der Wärmeproduktion . In
        dieser uneinheitlichen Welt sind Ausschreibungen wirk-
        lich widersinnig und schädlich für den weiteren Ausbau .
        Viele KWK-Anlagen produzieren auch Strom für den
        eigenen Verbrauch, sei es im Gebäudekomplex oder in
        einer Industrieanlage . Das sollen sie aber nicht mehr
        dürfen, wenn sie an Ausschreibungen teilnehmen . Ge-
        fördert werden dann nur noch Anlagen, die vollständig
        ins öffentliche Netz einspeisen. Auch das finden wir nicht
        sachgerecht . Es gibt zudem keinerlei Erfahrungen mit
        KWK-Ausschreibungen – weder hierzulande noch im
        Ausland, es existieren etliche offene Fragen .
        Aber wie genau die Bundesregierung dies nun gestal-
        ten will, denkt sie sich ja selbst erst aus . Hier gibt das
        Parlament ihr heute wieder einen Freifahrtschein über
        eine Verordnungsermächtigung . Wir bezweifeln, dass
        sich in dem Bereich von Anlagen zwischen 1 und 50 Me-
        gawatt eine faire Ausschreibungspraxis bewerkstelligen
        lässt . Betroffen sind hier vor allem Stadtwerke und In-
        dustrieanlagen, die effizienter werden sollen – deren Pla-
        nung wird aber unsicherer und verteuert . Wer vorhat, in
        die hocheffiziente KWK zu investieren, wird künftig ins
        kalte Wasser geworfen . Da überlegt man es sich zweimal,
        und dies, obwohl die Ausbauzahlen ohnehin hinter den
        Erwartungen zurückbleiben . Aufgrund der Umstellung
        des Fördersystems wird es vermutlich auch zu einem
        Fadenriss bei den Investitionen kommen . So warnten
        jedenfalls die Experten in der Anhörung . Es droht eine
        Investitionslücke von zwei Jahren .
        Mit dem Gesetzentwurf werden ferner Industrieprivi-
        legien im EEG und im KWK-G verlängert . Bravo, kann
        ich da nur sagen . Jedes Jahr werden der Industrie beim
        Eigenverbrauch Umlagen in Höhe von etwa 2 Milliar-
        den Euro erlassen . Dass dies bei Bestandsanlagen auch
        weiterhin so sein wird und diese Kosten letztlich auf die
        Stromrechnung der privaten Haushalte draufgeschlagen
        werden – das beschließen Sie heute . Das kann man auch
        nicht mit „Bestandsschutz“ begründen, denn der Gewinn
        aus dem Eigenstromprivileg wächst automatisch mit je-
        dem Anstieg der Preise für den Fremdstrombezug aus
        dem Netz . Hier wird unkontrolliert Geld verschenkt .
        Einige meinen, ohne diese Privilegien würden etliche
        KWK-Anlagen unwirtschaftlich . Wir halten dem entge-
        gen: Dann sollte man besser auskömmliche KWK-Zu-
        schläge zahlen, anstatt über das Eigenstromprivileg
        zweite Kassen aufzumachen, deren Füllung und Berech-
        tigung von niemanden mehr kontrolliert werden kann .
        Noch ein Wort zu den EEG-Regelungen aus dem
        Sommer, die heute bei der Bürgerenergie geheilt werden
        sollen . Wir als Linke hatten ja die Missbrauchsmöglich-
        keiten bei der Bürgerenergie thematisiert . Ich erkenne
        an, dass die Koalition nun eine Formulierung ins Gesetz
        aufnimmt, die versucht, Projekten, die nur unter dem
        Deckmantel Bürgerenergie auftreten und dann nach kur-
        zer Zeit verkauft werden sollen, einen Strich durch die
        Rechnung zu machen . Ich bin nicht sicher, ob das Erfolg
        hat, aber zunächst erscheint es mir stimmig .
        Nur damit hier keine Missverständnisse aufkommen,
        muss ich allerdings nochmal klarstellen: Das eigentliche
        Problem ist nicht der Nachteilsausgleich im EEG bei der
        Bürgerenergie . Das eigentliche Problem liegt in der Ein-
        führung von Ausschreibungen, die systematisch große
        finanzstarke Investoren bevorteilen, mittelfristig zu einer
        Marktkonzentration von wenigen Investoren führen und
        gegen den Charakter einer dezentralen Energiewende
        wirken . Dieses Problem wird grundsätzlich nicht geheilt,
        und ich kann nur hoffen, dass die Bürgerenergie sich
        nicht entmutigen lässt . Die Linke setzt sich weiterhin für
        eine dezentrale Energiewende in Bürgerhand ein .
        Dr. Julia Verlinden (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Nun wissen wir ganz offiziell, dass die Bundesregierung
        ihre selbst gesteckten Klimaziele bis 2020 nicht errei-
        chen wird . Das sagt der Klimaschutzbericht 2016, den
        das Kabinett gestern beschlossen hat . Doch statt den
        Bericht als Ansporn zu nehmen und jetzt in allen Berei-
        chen nachzulegen, legt die Große Koalition die Hände
        in den Schoß . Oder noch schlimmer: Sie bremst die Kli-
        maschutzanstrengungen noch weiter aus . So wie bei der
        Kraft-Wärme-Kopplung, über die wir heute abstimmen .
        Mit dem jetzt vorgelegten Gesetz schafft die Regie-
        rung durch höchst bürokratische Ausschreibungsverfah-
        ren neue Hindernisse für die KWK, statt sie zu stärken .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 21005
        (A) (C)
        (B) (D)
        Wenn Sie jetzt sagen: „Das stimmt doch gar nicht“, darf
        ich Ihnen ein Zitat aus der Antwort der Bundesregierung
        auf unsere Kleine Anfrage zur Zukunft der KWK vorle-
        sen: „Grundsätzlich kann nicht ausgeschlossen werden,
        dass sich insbesondere in den ersten Ausschreibungsrun-
        den der administrative Aufwand oder die Risikotragung
        leicht erhöhen .“ Zitat Ende .
        Nach der zweijährigen Hängepartie, die Sie der
        KWK-Branche bereits bis heute zugemutet haben,
        kommen nun also weitere Verzögerungen, Hürden und
        Hindernisse dazu . So werden Sie Ihr Ausbauziel für die
        effiziente Kraft-Wärme-Kopplung und den Klimaschutz-
        beitrag durch KWK ganz sicher nicht erreichen . Davon
        gehen auch die Sachverständigen aus, die in unserer An-
        hörung im Wirtschaftsausschuss dazu Stellung genom-
        men haben .
        Und es wäre ja noch nicht zu spät gewesen, wenigs-
        tens einige Verbesserungsvorschläge aufzugreifen, wie
        sie beispielsweise in der Anhörung thematisiert wurden
        oder die die Bundesländer gemacht haben . Ich nenne Ih-
        nen einige Beispiele:
        Erstens . Angesichts der neuen Hindernisse für die
        Errichtung von KWK-Anlagen und der ohnehin schon
        erfolgten Stilllegung vieler Anlagen hätten Sie wenigs-
        tens die Ausschreibungsmengen erhöhen müssen . Damit
        bestünde die Chance, die negative Entwicklung bei der
        KWK ein wenig zu kompensieren . Aber davon sehe ich
        in Ihrem Änderungsantrag nichts!
        Zweitens . Für die Energiewende im Wärmebereich
        brauchen wir auch die kleine und mittlere KWK in der
        dezentralen Versorgung . Daher hätten Sie unbedingt die
        KWK zur Versorgung von Mietshäusern stärken müssen .
        Doch von einer Ausdehnung der Verordnungsermächti-
        gung im EEG zur Förderung von Mieterstrommodellen
        auf KWK sehe ich ebenfalls nichts!
        Drittens . Besonders wichtig sind im Sinne des Klima-
        schutzes der schnellere Umstieg von Kohle auf erneu-
        erbare Energien oder die Nutzung von Abwärme auch
        in der Kraft-Wärme-Kopplung. Denn auch diese effizi-
        ente Technik soll perspektivisch vollständig klimaneu-
        tral betrieben werden . Doch auch hier haben Sie keine
        Verbesserungen geschaffen . So bleiben beispielsweise
        in den Ausschreibungen für innovative KWK-Anlagen
        ORC-Prozesse oder die Nutzung von Abwärme weiter-
        hin außen vor .
        Viertens . Und noch ein letzter Punkt, den ich für zen-
        tral halte: Nachdem seit Oktober endlich die Anträge
        bearbeitet werden, die seit Januar vorlagen, müssen alle
        Investoren für KWK-Anlagen in einer Größe von 1 bis
        50 MW nun noch bis Herbst nächsten Jahres warten;
        denn vorher wird Ihre Verordnung für die neuen Aus-
        schreibungen nicht in Kraft treten . Planungssicherheit ist
        was anderes! Die Branche befürchtet eine große Investi-
        tionslücke .
        Ich habe schon bei der Einbringung des Gesetzent-
        wurfs davor gewarnt, dass die vorgesehenen Änderun-
        gen am Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz den Ausbau der
        KWK weiter erschweren werden und dass die Bundes-
        regierung ihre Klimaziele so nicht erreichen wird . Statt
        diese Warnung ernst zu nehmen, ignorieren Sie weiterhin
        die großen Probleme beim Ausbau der KWK und legen
        den Klimaschutz ad acta . Das ist der falsche Weg in der
        Energie- und Klimapolitik!
        Anlage 15
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Barbara Lanzinger (CDU/CSU)
        zu der Abstimmung über den von der Bundesre-
        gierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
        Änderung der Bestimmungen zur Stromerzeugung
        aus Kraft-Wärme-Kopplung und zur Eigenversor-
        gung (Zusatztagesordnungspunkt 7)
        Aus den hier aufgeführten Gründen stimme ich heute
        gegen das oben genannte Gesetz .
        Das liegt nicht daran, dass ich mich gegen Kraft-Wär-
        me-Kopplung (KWK) ausspreche . Ganz im Gegenteil:
        KWK ist eine allseits anerkannte, hoch effiziente und
        klimafreundliche Technologie . KWK ist ein wichtiger
        Baustein der Energiewende und von herausragender Be-
        deutung für die Erreichung unserer Klimaziele .
        Aus diesem Grund haben wir bereits Ende 2015 das
        KWK-Gesetz im Bundestag und Bundesrat verabschie-
        det, mit dem Ziel, diese Technologie zu befördern . Da-
        mals signalisierte das Bundesministerium für Wirtschaft
        und Energie (BMWi), dass das im Deutschen Bundestag
        ausverhandelte Gesetz vonseiten der Europäischen Kom-
        mission zwar noch beihilferechtlich genehmigt werden
        müsse, jedoch keine beihilferechtlichen Bedenken her-
        vorrufe . Zu Beginn 2016 wurde uns mitgeteilt, dass es
        doch massive Bedenken gebe – und zwar gegen zentrale
        Punkte des Gesetzes .
        Nach Aussage des BMWi musste daher in 2016 in-
        tensiv zwischen BMWi und Europäischer Kommission
        nachverhandelt werden . Das Ergebnis, das uns im Rah-
        men eines Kabinettentwurfs am 19 . Oktober 2016 vor-
        gelegt wurde, entspricht in vielen Punkten nicht mehr
        den politischen Abstimmungsergebnissen des Deutschen
        Bundestages von Dezember 2015 .
        In den vergangenen Wochen mussten erneut intensive
        parlamentarische Beratungen zu dem eingangs genann-
        ten Änderungsgesetz stattfinden, um die vom BMWi an-
        geführten beihilferechtlichen Bedenken umzusetzen . Bei
        den parlamentarischen Verhandlungen hat das BMWi
        enormen zeitlichen Druck aufgebaut, obwohl das BMWi
        selber lange gebraucht hat, um ein bereits abgeschlos-
        senes Gesetz neu mit der Europäischen Kommission zu
        verhandeln .
        Mit diesem Prozedere bin ich als Abgeordnete des
        Deutschen Bundestages nicht einverstanden . Verhand-
        lungen dieser regulatorischen und technischen Kom-
        plexität brauchen Zeit, um vom Parlament tiefgehend
        geprüft werden zu können . Das gilt vor allem im Sinne
        der KWK und dementsprechend der KWK-Anlagenbe-
        treiber, die nachhaltig Rechtssicherheit für Investitionen
        und den Anlagebetrieb benötigen . Nur so kann auch der
        wiederholte Eindruck widerlegt werden, dass das BMWi
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201621006
        (A) (C)
        (B) (D)
        versuche, unter scheinbarem Bezug zum Beihilferecht
        der Europäischen Kommission, eigene politische An-
        sichten in der Energiepolitik durchzusetzen .
        Anlage 16
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
        brachten Entwurfs eines Sechzehnten Gesetzes zur
        Änderung des Soldatengesetzes (Tagesordnungs-
        punkt 17)
        Julia Obermeier (CDU/CSU): Wir alle haben die
        Pariser Terrornacht vom 13 . November 2015 in Erinne-
        rung . 130 Menschen starben und 350 wurden zum Teil
        schwer verletzt . Diese schrecklichen Anschläge – verübt
        mit Sprengsätzen, Sturmgewehren und Handgranaten –
        trafen uns im Herzen Europas und offenbarten eine neue
        Dimension des Terrors .
        Auch Deutschland steht im Fadenkreuz des Terroris-
        mus: Dies zeigen die Anschläge von Ansbach, Würzburg,
        Essen und Hannover . Der islamistische Terrorismus be-
        droht unsere freie Gesellschaft .
        In islamistischen Kreisen gilt die professionelle mi-
        litärische Schieß- und Gefechtsausbildung der Bundes-
        wehr als besonders attraktiv, nicht nur für die Vorbe-
        reitung terroristischer Anschläge, sondern auch für den
        menschenverachtenden Dschihad in den von der IS-Ter-
        rormiliz kontrollierten Gebieten .
        Dass die Bundeswehr für gewaltbereite Extremisten
        attraktiv ist, belegen Zahlen des Militärischen Abschirm-
        dienstes, MAD: 30 ehemalige Soldaten sind nach Syrien
        oder in den Irak ausgereist . Es liegt nahe, dass sie sich
        dem IS angeschlossen haben und sich an barbarischen
        Gräueltaten beteiligen .
        Zudem wurden 20 Islamisten in der Bundeswehr vom
        MAD enttarnt, und aktuell werden mindestens 60 weite-
        re Verdachtsfälle verfolgt .
        Dies zeigt uns deutlich: Wir müssen die Gefahr des
        Missbrauchs der militärischen Bundeswehrausbildung
        eindämmen . Die bisherigen Maßnahmen reichen ange-
        sichts der Bedrohungslage nicht aus .
        Bislang müssen Bewerberinnen und Bewerber, die
        sich für den Soldatenberuf entschieden haben, ein poli-
        zeiliches Führungszeugnis vorlegen . Zudem werden sie
        über das Grundgesetz belehrt und müssen sich schriftlich
        zu Verfassungstreue und zur freiheitlichen demokrati-
        schen Grundordnung bekennen .
        Es wurde bisher nicht umfassend geprüft, ob ein Be-
        werber an anderer Stelle bereits als Extremist oder Ge-
        walttäter bekannt ist .
        Der vorliegende Gesetzentwurf soll dies nun ändern .
        Hat ein Bewerber das Auswahlverfahren erfolgreich
        durchlaufen, wird er einer einfachen Sicherheitsüberprü-
        fung unterzogen .
        Dieses bewährte Verfahren wird bereits bei anderen
        sicherheitsempfindlichen Tätigkeiten innerhalb der Bun-
        deswehr angewendet – sowie auch im Luftverkehr oder
        hier im Bundestag . Hierzu werden insbesondere Infor-
        mationen der Polizei- und Sicherheitsbehörden sowie des
        Bundeszentralregisters eingeholt und geprüft .
        Bevor also jemand in der militärischen Grundausbil-
        dung lernen kann, wie man Kriegswaffen, zum Beispiel
        Sturmgewehre und Pistolen, gebraucht, schaut nun der
        MAD genau hin . Das ist wichtig und notwendig .
        Zukünftig müssen etwa 20 000 Sicherheitsüberprü-
        fungen zusätzlich durchgeführt werden . Um diese Arbeit
        stemmen zu können, brauchen der MAD und die ande-
        ren betroffenen Behörden mehr Personal . Das wird uns
        8,2 Millionen Euro kosten . Doch das Geld ist eine klu-
        ge Investition . Potenzielle Terroristen und gewaltbereite
        Extremisten, egal welcher Prägung, haben keinen Platz
        in der Bundeswehr . Sie dürfen die Bundeswehr nicht als
        Ausbildungseinrichtung für ihre üblen Zwecke missbrau-
        chen .
        Bisher hat es in Deutschland noch keinen Anschlag
        gegeben, bei dem ein Terrorist den Umgang mit seiner
        Waffe in unseren Streitkräften erlernt und erprobt hat .
        Dies soll auch zukünftig so bleiben . Durch die Gesetzes-
        änderung tun wir unser Möglichstes, dies zu verhindern .
        Daher bitte ich Sie um Ihre Zustimmung .
        Bernd Siebert (CDU/CSU): Der Deutsche Bun-
        destag hat in seiner 199 . Sitzung am Donnerstag, dem
        10 . November 2016, in erster Lesung über einen Ge-
        setzentwurf zur Änderung des Soldatengesetzes beraten .
        Dieser wurde in der Folge zur weiteren Beratung in den
        Verteidigungsausschuss überwiesen .
        Am 30 . November hat schließlich der Verteidigungs-
        ausschuss über die wichtige Thematik beraten und mit
        den Stimmen der Koalition aus CDU/CSU und SPD dem
        vorliegenden Gesetzentwurf zugestimmt . Die Fraktion
        von Bündnis 90/Die Grünen hat sich enthalten, die Frak-
        tion Die Linke hat mit Nein gestimmt .
        Angesichts der im Verteidigungsausschuss geführ-
        ten Debatte möchte ich auch hier im Deutschen Bun-
        destag den Geheimdiensten und Sicherheitsbehörden
        der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere dem
        Militärischen Abschirmdienst, für ihren wertvollen und
        wichtigen Einsatz danken . Ohne die Arbeit des Militäri-
        schen Abschirmdienstes wäre manch radikalisierter Isla-
        mist noch unentdeckt und möglicherweise in der Lage,
        innerhalb unserer Streitkräfte oder an anderer Stelle
        Schlimmstes anzurichten . Es ist immer wieder in Erinne-
        rung zu rufen: 24 Islamisten wurden in der Bundeswehr
        enttarnt . 60 weitere Verdachtsfälle werden verfolgt .
        Wir hören, dass der Militärische Abschirmdienst der-
        zeit eine dreistellige Zahl extremistischer Verdachtsfälle
        überprüft . Darunter leider Rechts- und Linksextremisten
        sowie die genannten islamischen Extremisten . Von der
        Dunkelziffer ganz zu schweigen . Aus diesem Grund ist
        es folglich unerlässlich, eine gesetzliche Regelung her-
        beizuführen, die es erlaubt, Extremisten, Terroristen und
        weitere Kriminelle frühzeitig zu erkennen – idealerweise
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 21007
        (A) (C)
        (B) (D)
        natürlich, bevor sie in unsere Streitkräfte aufgenommen
        werden .
        Klar ist, dass angesichts der veränderten Sicherheits-
        lage auch das Sicherheitsbedürfnis der Bundeswehr und
        ihrer Angehörigen ein völliges anderes ist . Dem muss
        selbstverständlich Rechnung getragen werden . Somit
        beschreitet der vorliegende Gesetzentwurf den richtigen
        Weg .
        Danken möchte ich auch dem Wehrbeauftragten des
        Deutschen Bundestages, der zu Recht darauf hingewie-
        sen hat, dass Extremisten und Islamisten die Bundeswehr
        nicht zur Ausbildung für den Dschihad missbrauchen
        dürfen . Diese reale Gefahr muss man ernst nehmen .
        Aus diesem Grund möchte ich mich mit aller Ent-
        schiedenheit den Vorwürfen gegen die Bundesregierung
        verwehren, hier werde nur billiger Aktionismus betrie-
        ben . Im Gegenteil: Der Zeitpunkt zur Verabschiedung
        der Gesetzesänderung ist hochaktuell . Insofern spreche
        ich der Bundesregierung und hier insbesondere Bundes-
        verteidigungsministerin Ursula von der Leyen für die
        Initiative zur Änderung des Soldatengesetzes mein aus-
        drückliches Lob aus .
        Zugleich ist dies auch keine Maßnahme zur Darstel-
        lung der Existenzberechtigung des Militärischen Ab-
        schirmdienstes . Die Notwendigkeit des Dienstes ergibt
        sich ohne jeden Zweifel aus den eben geschilderten Ent-
        tarnungserfolgen . Wer das in Zweifel zieht, legt Hand an
        die Sicherheit der Soldatinnen und Soldaten der Bundes-
        wehr und damit an die Bündnis-, Verteidigungs- und Ein-
        satzfähigkeit Deutschlands .
        Lassen Sie mich in Erinnerung rufen, worum es ei-
        gentlich geht: Die Gesetzesänderung sieht vor, dass
        sich Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr zukünf-
        tig vor dem Eintritt in die Streitkräfte einer einfachen
        Sicherheitsüberprüfung unterziehen sollen, und zwar
        Berufs- und Zeitsoldaten ebenso wie auch freiwillig
        Wehrdienstleistende . Bisher ist dies in der Regel nur bei
        Verwendungen in sicherheitsrelevanten Bereichen der
        Fall . Darüber hinaus wird von angehenden Soldaten le-
        diglich ein Führungszeugnis oder eine Auskunft aus dem
        Bundeszentralregister eingeholt sowie ein Bekenntnis
        zur freiheitlich demokratischen Grundordnung eingefor-
        dert .
        Staatssekretär Markus Grübel hat in erster Lesung
        korrekterweise darauf hingewiesen, dass alle Soldatin-
        nen und Soldaten im Rahmen der Grundausbildung in
        der Handhabung und dem Gebrauch von Kriegswaffen
        ausgebildet werden . Solch eine qualitativ hochwertige
        Ausbildung sei daher auch bei Menschen begehrt, die
        besser niemals lernen dürften, wie man ein Sturmgewehr
        bediene . Er wies sinnbildlich darauf hin, dass diese Men-
        schen ihre feindseligen Absichten eben nicht offen er-
        kennbar auf der Stirn tragen . Diese Menschen wird man
        nur leider kaum identifizieren können, wenn man ihnen
        ein Führungszeugnis sowie das Bekenntnis zur freiheit-
        lich demokratischen Grundordnung einfordert .
        Das wäre nicht mehr den heutigen Bedrohungsszena-
        rien entsprechend, und ich möchte mir darüber hinaus
        kein Anschlagsszenario vorstellen, in dessen Nachberei-
        tung sich herausstellt, dass der oder die Attentäter ihre
        Schusswaffenausbildung bei einer Einheit der Bundes-
        wehr erhalten haben .
        Somit kann es aus meiner Sicht nur einen Weg ge-
        ben, nämlich die nun vorgeschlagenen Maßnahmen so
        bald wie möglich umzusetzen . Ich bin der festen Über-
        zeugung, dass Extremisten, Terroristen und Kriminelle
        keinen Platz in der Bundeswehr haben dürfen . Deren
        frühzeitige Erkennung ist daher unumgänglich . Der vor-
        liegende Gesetzentwurf trägt dazu bei, die Bundeswehr
        und damit auch die Bundesrepublik Deutschland sicherer
        zu machen .
        Dr. Fritz Felgentreu (SPD): Dass das vorliegende
        Änderungsgesetz ausschließlich in Form von zu Proto-
        koll gegebenen Reden im Plenum des Deutschen Bun-
        destages „beraten“ wird, ist ein unsinniger Vorgang . Ent-
        weder es besteht Beratungsbedarf; dann müssen wir auch
        den Raum für den parlamentarischen Schlagabtausch
        schaffen . Oder es besteht keiner; dann brauchen wir auch
        keine Besinnungsaufsätze zum Inhalt der Gesetze in den
        Parlamentsprotokollen zu beerdigen, sondern sollten es
        mit der Abstimmung bewenden lassen .
        Da es aber nun einmal so beschlossen ist, gehe ich
        kurz auf die Argumente der Grünen und der Linken ein,
        die dem Protokoll der ersten Lesung zu entnehmen sind .
        Inhalt des Gesetzes ist die Ausweitung der Befugnisse
        des MAD . Wir schaffen eine Rechtsgrundlage dafür, dass
        der MAD schon vor der Einstellung eine Sicherheits-
        überprüfung der Bewerberinnen und Bewerber bei der
        Bundeswehr durchführen kann . Ziel ist es, zu verhin-
        dern, dass Extremisten eine militärische Ausbildung für
        ihre möglicherweise terroristischen Absichten erhalten .
        Notwendig erscheint die Gesetzesänderung, nachdem
        der MAD in einem Zeitraum von zehn Jahren insgesamt
        24 dschihadistische Extremisten unter den aktiven Sol-
        daten enttarnt hat .
        Für die Linken kritisiert Inge Höger pauschal, dass
        Soldatinnen und Soldaten überhaupt eine militärische
        Ausbildung erhalten, die auch andere als dschihadis-
        tische Extremisten und Söldner für ihre verwerflichen
        Ziele nutzen könnten und nachweislich bereits genutzt
        hätten . Da die SPD-Fraktion die Existenz leistungsfähi-
        ger Streitkräfte für notwendig hält, um die Sicherheit des
        Landes zu gewährleisten, können wir diese Kritik nur als
        im Ansatz verfehlt zurückweisen .
        Für Bündnis 90/Die Grünen zieht Agnieszka Brugger
        nicht das Schutzziel der Gesetzgebung an sich in Zwei-
        fel, sondern beanstandet die damit verbundene Stärkung
        des MAD, einer Behörde, die die Grünen für überflüssig
        halten, weil ihre Aufgaben auch von anderen Einrichtun-
        gen wahrgenommen werden könnten . Die SPD-Fraktion
        betrachtet es angesichts der zu lösenden Aufgabe – Ex-
        tremismusprävention in den Streitkräften – als nicht
        zielführend, bei dieser Gelegenheit eine grundsätzliche
        Strukturdebatte zu führen, zumal auch die Grünen nicht
        infrage stellen, dass die Aufgaben des MAD, unabhängig
        von der damit beauftragten Behörde, bestehen bleiben .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201621008
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        Das Gesetz trägt dazu bei, eine objektiv bestehende
        Sicherheitslücke zu schließen . Die SPD-Fraktion stimmt
        daher zu .
        Dr. André Hahn (DIE LINKE): Die Bürgerinnen und
        Bürger in unserem Land haben zu Recht einen Anspruch
        darauf, dass der Staat sie bestmöglich vor Angriffen auf
        ihre körperliche Unversehrtheit und ihr Leben schützt .
        Dazu gehört auch, dass Personen, die in sicherheitsre-
        levanten Bereichen arbeiten, vor der Einstellung und
        gegebenenfalls auch während der Ausübung ihrer Tätig-
        keit auf ihre Zuverlässigkeit angemessen und auch re-
        gelmäßig überprüft werden . Das gilt beispielsweise für
        das Personal von Atomkraftwerken oder an Flughäfen .
        Zu diesen sicherheitsrelevanten Bereichen gehören aber
        auch Beschäftigte bei der Polizei, beim Zoll, bei den Ge-
        heimdiensten – solange es sie noch gibt – und andere Per-
        sonen, die an Waffen ausgebildet werden und regelmäßig
        Zugang zu Waffen haben, also letztlich auch Bewerberin-
        nen und Bewerber bei der Bundeswehr .
        Im vorliegenden Gesetzentwurf geht es nun auch aus-
        schließlich um die Sicherheitsüberprüfung von künftigen
        Soldatinnen und Soldaten . Dagegen lässt sich grundsätz-
        lich kaum etwas einwenden . Gleichwohl werden wir als
        Linke diesem Gesetz nicht zustimmen können, und zwar
        im Wesentlichen aus zwei Gründen .
        Ein Grund liegt in der wirklich mehr als einseitigen
        Begründung mit möglichen islamistischen Bedrohungen .
        In den vergangenen zehn Jahren wurden nach Berichten
        des Tagesspiegels insgesamt 24 Soldaten als Islamisten
        eingestuft . Aktuell werden wohl weitere circa 60 Ver-
        dachtsfälle durch den Militärischen Abschirmdienst
        überprüft . Dem gegenüber stehen allein die aktuell über
        250 Verdachtsfälle, in denen sich Rechtsextremisten in
        die Truppe eingeschlichen haben sollen . Hier liegt das
        wirkliche Problem innerhalb der Bundeswehr, über das
        aber offenbar nicht so gern gesprochen wird .
        Gleichwohl wird im Gesetzentwurf der Bundesregie-
        rung zuallererst auf die Gefahren durch islamistischen
        Terror hingewiesen, bevor eher beiläufig auf die unrühm-
        liche Rolle der Bundeswehr und insbesondere des MAD
        im Zusammenhang mit dem rechtsterroristischen NSU
        eingegangen wird . Nur am Rande sei bemerkt, dass der
        MAD damals einige Rechtsterroristen sehr wohl kannte,
        immerhin sollte Uwe Mundlos sogar als V-Mann ange-
        heuert werden .
        Doch nicht die Neonazis, nicht die mögliche Unter-
        wanderung der Bundeswehr durch Rechtsextremisten,
        sondern erst die islamistisch motivierten Attentate in Pa-
        ris, Kopenhagen und Brüssel ließen bei der Bundesregie-
        rung die Idee keimen, man sollte vielleicht doch vorher
        mal genauer nachsehen, wen man da an Kriegswaffen
        ausbilden will .
        Mit dem vorliegenden Gesetz soll nun der lange beste-
        hende Wertungswiderspruch aufgelöst werden, wonach
        für Tätigkeiten in allen möglichen sicherheitsempfindli-
        chen Bereichen wie eben im Atombereich oder an Flug-
        häfen eine Sicherheitsüberprüfung notwendig ist, nicht
        aber für die Ausbildung an Kriegswaffen . Dass dies nun
        korrigiert werden soll, ist deshalb nachvollziehbar und
        begrüßenswert, wenngleich die Gesetzesbegründung,
        wie eben schon erwähnt, an der Realität vorbeigeht .
        Es gibt aber noch einen zweiten und für uns noch
        wichtigeren Grund, weshalb wir als Linke dem Gesetz-
        entwurf nicht zustimmen können, nämlich die Frage, wer
        denn diese Sicherheitsüberprüfungen künftig durchfüh-
        ren soll .
        Aus unserer Sicht sind weder der Militärische Ab-
        schirmdienst noch eventuell das Bundesamt für Verfas-
        sungsschutz dafür geeignet . Es ist ja bekannt, dass wir als
        Linke den Geheimdiensten aus guten Gründen und nach
        jahrelangen Erfahrungen mit Pannen und Skandalen sehr
        skeptisch gegenüberstehen und deren Agieren parlamen-
        tarisch sehr kritisch begleiten .
        Für uns ist es daher auch nicht akzeptabel, dass die
        beabsichtigten Sicherheitsüberprüfungen wieder durch
        einen Nachrichtendienst erfolgen sollen . Wir wollen die
        Geheimdienste perspektivisch überwinden und ihnen
        nicht noch immer neue Aufgaben übertragen .
        Wir meinen, es ist allerhöchste Zeit, das System der
        Sicherheitsüberprüfungen endlich mal grundlegend zu
        überdenken . Anstatt diese Aufgabe dem Verfassungs-
        schutz oder wie im vorliegenden Gesetzentwurf dem
        MAD zu übertragen, sollte geprüft werden, welche even-
        tuell bereits existierenden oder neu zu schaffenden In-
        stitutionen oder Behörden ohne nachrichtendienstlichen
        Hintergrund diese Aufgabe übernehmen und vielleicht
        sogar auch besser erfüllen könnten .
        Dass selbst eine bestandene Sicherheitsüberprüfung
        der Stufe 3, immerhin die höchste, die man im öffent-
        lichen Dienst erlangen kann, noch lange keine Garantie
        ist, zeigte nicht zuletzt der erst kürzlich aufgedeckte Fall
        eines Islamisten im Bundesamt für Verfassungsschutz .
        Und schließlich will ich auch noch mal darauf verwei-
        sen, was meine Kollegin Höger hier in der ersten Lesung
        zu Recht erwähnte: Eine der größten Radikalisierungsge-
        fahren für Soldatinnen und Soldaten ist der Kriegseinsatz
        selbst, weil es dabei oder danach allzu oft zu schweren
        Traumata kommt . Auch deshalb sollten wir deutsche Sol-
        datinnen und Soldaten nicht länger in immer neue und
        immer größere Kriege in die Krisenregionen dieser Welt
        schicken .
        Schlussendlich komme ich zu dem Ergebnis, dass es
        zwar sinnvoll erscheint, zu prüfen, wer zukünftig an Waf-
        fen ausgebildet wird . Keinesfalls sinnvoll ist es jedoch,
        diese Aufgabe einem Geheimdienst zu übertragen und
        hierfür dort über 40 neue Stellen zu schaffen .
        Problematisch ist zudem, dass die Koalition im Aus-
        schuss noch völlig sachfremde Punkte in das Gesetz auf-
        genommen und einfach mal so nebenbei eine Erhöhung
        der Reservistenbezüge für militärische Übungstage be-
        schlossen hat, die wir als Linke nicht mittragen können .
        Aus den genannten Gründen wird meine Fraktion den
        vorliegenden Gesetzentwurf ablehnen .
        Doris Wagner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich
        glaube, ich trete niemandem hier zu nahe, wenn ich sage:
        Wir alle sind sehr beunruhigt . Anfang November wur-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 21009
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        de bekannt, dass Menschen mit einer islamistischen Ge-
        sinnung in jüngster Zeit verstärkt versucht haben, in die
        Bundeswehr einzutreten . Ihr Ziel war dabei ganz offen-
        sichtlich, sich durch eine Ausbildung an der Waffe auf
        einen Kampfeinsatz im Nahen Osten vorzubereiten . Die
        Vorstellung, dass dieser Plan aufgehen könnte, ist natür-
        lich völlig unerträglich . Niemand, egal welcher extremis-
        tischen Gesinnung er oder sie auch sein mag, darf in der
        Bundeswehr an der Waffe ausgebildet werden!
        Die Frage ist nur, wie wir diesem Schreckensszenario
        vorbeugen können . Mit welchen Instrumenten können
        wir verhindern, dass Islamisten, Antisemiten, Links-
        oder Rechtsextreme in die Bundeswehr gelangen? Die
        Bundesregierung setzt mit der Änderung des Soldatenge-
        setzes auf eine Ausweitung der Überprüfung durch den
        Militärischen Abschirmdienst . Doch ich bin überzeugt:
        Das ist ganz definitiv der falsche Weg!
        Denn wenn wir uns einmal anschauen, was der MAD
        in den letzten Jahren und Jahrzehnten tatsächlich zustan-
        de gebracht hat, kann das Ergebnis nur lauten: nicht viel
        bis gar nichts .
        Der MAD wusste bereits in den 90er-Jahren von der
        rechten Gesinnung des späteren NSU-Protagonisten Uwe
        Mundlos . Ja, der Geheimdienst wollte Mundlos sogar als
        Informanten aus der rechten Szene anwerben . Welche
        Konsequenzen diese Erkenntnisse des MAD hatten, wis-
        sen wir alle: keine . Mundlos konnte im Verein mit den
        anderen Mitgliedern des NSU jahrelang völlig unbehel-
        ligt morden .
        Skandalös ist in diesem Zusammenhang auch die Art
        und Weise, in der der MAD mit den parlamentarischen
        Kontrollgremien zusammengearbeitet hat . So bedurfte es
        erst einer ganz gezielten Anfrage aus dem NSU-Untersu-
        chungsausschuss, bevor man sich beim MAD bequemte,
        überhaupt einmal im Archiv nach einer Akte Mundlos zu
        forschen! Eine derartige Geringschätzung der parlamen-
        tarischen Gremien darf ein demokratischer Rechtsstaat
        einfach nicht hinnehmen .
        Dass der MAD keinen guten Job macht – zu diesem
        Ergebnis kommt schließlich auch ein Bericht, den der
        Bundesrechnungshof 2014 veröffentlicht hat: Demnach
        spioniert der MAD ohne gesetzliche Grundlage auch in
        solchen Bereichen herum, die eigentlich dem BND zu-
        gewiesen sind . Das ist nicht nur gesetzeswidrig, sondern
        durch die entstehenden Doppelstrukturen auch unnötig
        teuer .
        Aus all dem kann es doch nur eine vernünftige Schluss-
        folgerung geben: Wir müssen unser gesamtes Geheim-
        dienstwesen auf den Prüfstand stellen und es neu orga-
        nisieren . Wir brauchen andere Strukturen – und für mich
        steht dabei fest: Der MAD kann dabei getrost in anderen
        Organisationsbereichen aufgehen . Wir brauchen keinen
        spezifisch militärischen Dienst. Was wir brauchen, sind
        professionell arbeitende, demokratisch kontrollierte und
        kosteneffiziente Strukturen. Solche Strukturen werden
        auch in der Lage sein, die Bundeswehr frei von Extre-
        misten aller Couleur zu halten .
        Leider hat die Bundesregierung die Chance zu einer
        solchen grundlegenden Reform der Geheimdienste Ende
        Oktober wieder einmal ungenutzt verstreichen lassen .
        Die Änderung des Soldatengesetzes, die die Bundes-
        regierung hier heute vorschlägt, fügt dem überteuerten
        Wirrwarr der Spionagedienste nur einen weiteren Knoten
        hinzu .
        Und deshalb wird meine Fraktion diesem Gesetz nicht
        zustimmen .
        Anlage 17
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
        brachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Än-
        derung des Bundeswaldgesetzes (Tagesordnungs-
        punkt 19)
        Cajus Caesar (CDU/CSU): Wald, das ist für uns die
        Luft zum Atmen, also eine wichtige Lebensgrundlage .
        Der Wald filtert Luft und Wasser. Er produziert Sauer-
        stoff, schützt uns vor Lärm und gibt uns Platz für unsere
        Erholungsfunktion .
        Wald, das bedeutet Artenvielfalt, und dies vor allem
        im nachhaltig bewirtschafteten Wald und nicht im still-
        gelegten Wald .
        Wald bedeutet aber auch insbesondere Arbeitsplätze
        für den ländlichen Raum . In der Forst- und Holzindus-
        trie, mit einem Umsatz von über 180 Milliarden Euro,
        arbeiten nämlich mehr Beschäftigte als etwa in der Auto-
        mobilindustrie . Die rund 2 Millionen Waldbesitzer sowie
        die gesamte Wertschöpfungskette Wald und Holz halten
        unseren ländlichen Raum im Wesentlichen lebenswert
        und auch wirtschaftlich attraktiv .
        Deshalb wollen wir als Union alles dafür tun, um
        Wirtschaftskraft, Umwelt und Erholungsfunktion zu er-
        halten . Dies ist unser Anliegen . Dies ist ein wichtiges An-
        liegen der Union . Deshalb setzen wir uns mit aller Kraft
        dafür ein .
        Mit dem heute vorgelegten Entwurf zur Änderung des
        Bundeswaldgesetzes soll dem Rechnung getragen wer-
        den . So hat das Kartellamt festgelegt, die Vermarktung
        des Holzes, die derzeit auch vom Staatswald und von den
        Landesbetrieben mit dem Privatwald erfolgt, aus wettbe-
        werbsrechtlichen Gründen zu öffnen . Dies ist aus mei-
        ner Sicht richtig . Dies darf aber nicht dazu führen, dass
        Kleinprivatwaldbesitzer im Stich gelassen werden . Der
        Waldbesitzer muss das Recht erhalten, Wahlfreiheit zu
        haben – bei fairen und vergleichbaren Angeboten .
        Die jetzige Änderung des Bundeswaldgesetzes wird
        über Freistellung im § 2 des Gesetzes gegen Wettbe-
        werbsbeschränkungen erreichen, dass im vorgelagerten
        Bereich waldbauliche Maßnahmen vom Kartellrecht
        freigestellt werden . Dies sind Maßnahmen bei der Pla-
        nung und Ausführung, insbesondere waldbauliche Maß-
        nahmen, und dies soll auch für die Vorbereitung der Ernte
        gelten, etwa durch das Auszeichnen von zu entnehmen-
        den Bäumen .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201621010
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        Waldbauliche Maßnahmen dienen der Pflege und der
        Gesunderhaltung des Waldes und sind deshalb, auch vor
        dem Hintergrund der Anforderungen unserer Gesell-
        schaft an einen gesunden, nachhaltig bewirtschafteten
        Wald, wichtig und sinnvoll .
        Da wir es in Deutschland in weiten Bereichen mit ei-
        nem ausgesprochen Kleinstprivatwaldbesitz zu tun ha-
        ben, sollen die Klein- und Kleinstwaldbesitzer nicht im
        Stich gelassen werden, sondern durch die Änderung des
        Bundeswaldgesetzes Beratung und Anleitung für diese
        Maßnahmen durch ausgebildetes Forstpersonal erhal-
        ten – und dies zu Preisen, die nicht einer Enteignung
        gleichkommen .
        Uns, der Union, ist es wichtig, diesen Kleinprivatwald
        nicht im Stich zu lassen und gleichfalls für eine ordnungs-
        gemäße, nachhaltige und gleichzeitig naturnahe Bewirt-
        schaftung zu sorgen . Wir wollen den engen Kontakt mit
        den Waldbesitzern pflegen. Wir wollen auch den Schutz
        des Eigentums, und wir wollen den umweltfreundlich er-
        zeugten Rohstoff weiterhin durch Nutzen schützen .
        Nun finden wir sehr unterschiedliche Strukturen in
        den deutschen Wäldern vor . Wir haben es zu tun mit pro-
        fessionell organisierten Forstbetriebsgemeinschaften im
        Privatwald, die durch eigenes ausgebildetes Forstperso-
        nal die Bewirtschaftung vornehmen oder Dienstleister in
        Anspruch nehmen . Wir haben es aber auch zu tun mit
        Kleinstwaldbesitz, der auf die Hilfe von außen angewie-
        sen ist . Ansonsten wird der Wald eben nicht mehr ord-
        nungsgemäß gepflegt und bewirtschaftet. Ich denke, es
        ist auch unser gemeinsames Anliegen, dass wir nicht zu
        mehr Stilllegungen von Waldflächen kommen. Dies wür-
        de der Bedeutung der umweltfreundlichen und nachhal-
        tig erzeugten Ressource Holz nicht gerecht . Es würde auf
        Dauer das Eigentum infrage gestellt .
        Der Deutsche Forstwirtschaftsrat (DFWR) unter
        Präsident Georg Schirmbeck hat die unterschiedlichen
        Waldbesitzerarten an einen Tisch geholt . Diese haben
        uns empfohlen, die jetzt vorgeschlagene Änderung des
        Bundeswaldgesetzes vorzunehmen .
        Wir als Union beziehen also die Waldbesitzer mit ein .
        Dies ist uns wichtig . Nicht Gesetze im stillen Kämmer-
        lein beraten, sondern mit den Betreffenden auf den Weg
        bringen . Das ist unsere Politik . Das ist die richtige Vor-
        gehensweise .
        Auf meine Frage zur Vereinbarkeit der Gesetzesän-
        derung mit europäischem Recht haben sich sowohl das
        Forstministerium als auch das Wirtschaftsministerium,
        insbesondere auch das Justizministerium, dahin gehend
        eingelassen und geantwortet: „Die Vereinbarkeit mit dem
        Recht der Europäischen Union und völkerrechtlichen
        Verträge wurde geprüft und ist gegeben .“
        Wir als Union wollen durch unser Handeln der großen
        Bedeutung des Waldes auch für den Klimaschutz gerecht
        werden . So entlasten 126 Millionen Tonnen CO2, die
        durch den deutschen Wald gebunden werden, und seine
        nachhaltige Bewirtschaftung sowie die Verwendung von
        Holzprodukten die Atmosphäre . Die Bindungswirkung,
        die Substitutionswirkung des Waldes ist auch vor dem
        Hintergrund des Klimaschutzes von immenser Bedeu-
        tung .
        Wir haben es mit einem Rohstoff zu tun, der umwelt-
        freundlich erzeugt wird und von dem uns durch einen
        nachhaltigen Holzzuwachs von je 11,2 Kubikmeter pro
        Hektar 120 Millionen Kubikmeter jährlich wieder natür-
        lich zuwachsen . Dieses Umwelt- und Wirtschaftspoten-
        zial zu verschenken, wäre töricht .
        Deshalb haben wir als Union enorme Anstrengun-
        gen unternommen . Wir haben die nationale nachhaltige
        Waldwirtschaft durch die Förderung von bedeutsamen
        Projekten und die Bereitstellung entsprechender finanzi-
        eller und personeller Ressourcen in dieser Wahlperiode
        enorm gestärkt .
        Wir als Union wollen nachhaltig bewirtschafteten
        Wald, der gesund ist, der stabil ist, der artenreich ist und
        der produktiv ist . Wir als Union danken den Waldbesit-
        zern, den Forstleuten und den Verbänden sowie der Holz-
        industrie dafür, dass sie durch eine umweltfreundliche
        Vorgehensweise auf über einem Drittel unserer Landes-
        fläche so viel Umweltschutz und Artenreichtum ermög-
        lichen .
        Wir als Union wollen die Rahmenbedingungen für die
        Waldbesitzer richtig setzen und den Wald durch Nutzen
        schützen .
        Bereits frühzeitig hat die Union das Gespräch mit dem
        Waldbesitz, den Forst- und Holzverbänden wie auch mit
        den Vertretern aus der Wirtschaft gesucht, um gemein-
        sam Lösungen zu finden.
        Abschließend möchte ich mich noch bei allen Mit-
        wirkenden für das Zustandekommen dieser Gesetzes-
        änderung bedanken . Besonders hervorheben möchte
        ich hier unseren forstpolitischen Sprecher Alois Gerig,
        den Parlamentarischen Staatssekretär im Bundesminis-
        terium für Ernährung und Landwirtschaft Peter Bleser,
        meinen Förster- und Abgeordnetenkollegen Josef Göppel
        und Franz-Josef Holzenkamp, Vorsitzenden der CDU/
        CSU-Arbeitsgruppe „Ernährung und Landwirtschaft“ .
        Ein weiterer Dank gilt den Mitarbeitern der Ministe-
        rien, vornehmlich im Bundesministerium für Ernährung
        und Landwirtschaft, welches sich stets kompetent, neu-
        tral, aber mit großem Einsatz für das Bundeswald- und
        Bundesjagdgesetz engagiert hat .
        Alois Gerig (CDU/CSU): Lange und kontrovers
        wurde über die Änderung des Bundeswaldgesetzes dis-
        kutiert – endlich liegt uns heute ein Gesetzentwurf zur
        finalen Abstimmung vor. Die Gesetzesänderung dient ei-
        nem wichtigen Ziel: Wir wollen ein breites Angebot an
        Forstdienstleistungen in Deutschland erhalten .
        Grund für das Gesetzgebungsverfahren ist, dass das
        Bundeskartellamt die gemeinsame Holzvermarktung aus
        dem Landes-, Kommunal- und Privatwald kritisch unter
        die Lupe nimmt . Das Bundeskartellamt sieht durch die
        Bündelung des Holzangebots den Markt beeinträchtigt
        und ist entschlossen, die Praxis der gemeinsamen Holz-
        vermarktung nicht länger zu dulden . Das Kartellverfah-
        ren gegen das Land Baden-Württemberg gibt Anlass zur
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 21011
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        Sorge, dass die Landesforstverwaltungen forstwirtschaft-
        liche Dienstleistungen nicht mehr oder nur eingeschränkt
        anbieten dürfen .
        Aus Sicht des Bundeskartellamtes gehören zur Holz-
        vermarktung nicht nur der Holzverkauf, sondern auch
        weitere Forstdienstleistungen – beispielsweise Wald-
        bau, Holzauszeichnung und die Betreuung der Holzern-
        te . Untersagt das Bundeskartellamt den Forstbehörden
        der Länder die Holzvermarktung, entfallen auch diese
        Dienstleistungsangebote . Leidtragende wären kommu-
        nale und private Waldbesitzer, die durch Beratungs- und
        Betreuungsleistungen der Forstämter Zugang zum Holz-
        markt erhalten .
        Das Bundeskartellamt setzt sich gemäß seinem ge-
        setzlichen Auftrag für einen funktionierenden Wettbe-
        werb ein – das verdient grundsätzlich Respekt und An-
        erkennung . Parlament und Regierung steht es gleichwohl
        frei, die Auswirkungen von Kartellamtsentscheidungen
        zu prüfen und zu überlegen, ob gesetzliche Neuregelun-
        gen angebracht sind .
        Weniger Dienstleistungsangebote für Waldbesitzer
        sind meines Erachtens nicht akzeptabel . Die Bundesre-
        gierung schlägt in ihrem Gesetzentwurf eine vernünfti-
        ge Lösung vor: Planung und Ausführung waldbaulicher
        Maßnahmen sowie Markierung, Ernte, Bereitstellung
        und Registrierung von Rohholz werden vom Kartellrecht
        ausgenommen . Die Länder erhalten so die Möglichkeit,
        dass ihre Forstämter auch in Zukunft wichtige Forst-
        dienstleistungen anbieten dürfen – ohne mit dem Kartell-
        recht zu kollidieren .
        Die Neuregelung kommt besonders Kleinwaldbesit-
        zern zugute: Die Forstämter sollen auch in Zukunft durch
        ihre fachkundigen Beratungs- und Betreuungsangebote
        dafür sorgen, dass auch der Kleinprivatwald gemäß dem
        Grundsatz „Schützen durch Nützen“ bewirtschaftet und
        gepflegt wird. Viele Kleinwaldbesitzer sind weder mit
        der Waldbewirtschaftung noch mit der genauen Lage ih-
        rer Parzelle im Wald vertraut – deshalb ist es so wichtig,
        dass sich ein Förster vor Ort kümmert .
        Bürgernahe Forstdienstleistungen tragen dem Um-
        stand Rechnung, dass in vielen Regionen Deutschlands
        Waldeigentum breit gestreut ist – das sollte auch so blei-
        ben und durch den Erhalt bewährter Dienstleistungsange-
        bote der Forstämter flankiert werden. Ein enger Kontakt
        zwischen Forstamt und Waldbesitzern bietet zudem am
        ehesten Gewähr dafür, dass in Bundesländern mit klein-
        strukturierten Waldbesitzverhältnissen der Wald flächen-
        deckend bewirtschaftet und die vorhandenen Holzvorräte
        nutzbar gemacht werden . Holzmobilisierung ist wichtig,
        damit die Holzwirtschaft – eine bedeutende Branche im
        ländlichen Raum – mit ihrem nachwachsenden und kli-
        mafreundlichen Rohstoff aus heimischen Wäldern ver-
        sorgt wird .
        Natürlich dient der Wald nicht allein der Holzproduk-
        tion . Die vielfältigen Wälder in Deutschland haben eine
        überragende ökologische Bedeutung und sind auch für
        Erholungssuchende unverzichtbar . Forstdienstleistungen
        stellen sicher, dass der Wald auch seine ökologischen und
        sozialen Funktionen erfüllen kann . Da Forstdienstleis-
        tungen nicht nur wirtschaftlichen Zwecken dienen, halte
        ich es für gerechtfertigt, diese Dienstleistungen vom Kar-
        tellrecht freizustellen .
        Der Gemeinwohlnutzen unserer Wälder rechtfertigt es
        darüber hinaus, dass die Länder ihr Angebot an Forst-
        dienstleistungen aufrechterhalten . Der bei den Forstäm-
        tern gebündelte Sachverstand ist ganz sicher hilfreich,
        künftige Herausforderungen der Waldbewirtschaftung zu
        meistern – Beispiele hierfür sind der Klimawandel und
        der Artenschutz .
        Zum Abschluss möchte ich betonen: Wir in der CDU/
        CSU sind nach wie vor der Auffassung, dass der Staat
        nicht für alles zuständig ist und alles besser kann . Das
        gilt auch für die Forstwirtschaft . Private Anbieter von
        Forstdienstleistungen gewährleisten ebenso eine natur-
        nahe und nachhaltige Waldbewirtschaftung wie staat-
        liche . Dies belegen die Bundesländer eindrucksvoll, in
        denen die Forstverwaltungen keine Dienstleistungen an-
        bieten und sich auf ihre hoheitlichen Aufgaben konzen-
        trieren. Die Verpflichtung staatlicher Forstdienstleister,
        ihre Leistungen zu marktkonformen Preisen zu erbrin-
        gen, wird mit diesem Gesetz nicht berührt .
        Mit dieser Bundeswaldgesetzänderung wird mitnich-
        ten eine staatliche Waldbewirtschaftung eingeführt . Die
        Inanspruchnahme staatlicher Forstdienstleistungen ist
        und bleibt fakultativ . Die Wahlfreiheit der Waldbesitzer,
        Forstarbeiten selbst vorzunehmen, sich in Forstbetriebs-
        gemeinschaften zusammenzuschließen oder private An-
        bieter zu beauftragen, wird durch die Gesetzesänderung
        in keiner Weise beeinträchtigt .
        Die marktwirtschaftliche Ausrichtung der Gesetzesän-
        derung wird auch an einer weiteren Tatsache deutlich: In-
        dem wir Forstdienstleistungen, die der Holzvermarktung
        vorgelagert sind, vom Kartellrecht ausnehmen, bekräfti-
        gen wir, dass die eigentliche Holzvermarktung voll und
        ganz dem Kartellrecht unterliegt . Marktbeherrschende
        Stellungen der Landesforstverwaltungen beim Holzver-
        kauf müssen der Vergangenheit angehören!
        Ich bin überzeugt, dass wir mit der Bundeswaldgeset-
        zänderung Erfolg haben werden: Der Wettbewerb bei der
        Holzvermarktung wird gestärkt und ein breites Angebot
        an Forstdienstleistungen für alle Waldbesitzer gesichert .
        Deshalb bitte ich Sie, dem Gesetzentwurf zuzustimmen .
        Der Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft hat
        gestern einstimmig für die Änderung des Bundeswald-
        gesetzes votiert . Auch im Bundesrat zeichnet sich ab,
        dass der Gesetzentwurf große Zustimmung findet.
        Petra Crone (SPD): Die Fraktion der SPD stimmt
        dem Gesetzentwurf trotz vorhandener Bedenken zu . So
        weit das Ergebnis, heute gleich zu Beginn .
        Die forstlichen Akteure und auch die Kolleginnen und
        Kollegen Forstpolitiker in den Ländern und im Bund
        kennen meine Position . Schon im März 2015, vor knapp
        zwei Jahren, habe ich an gleicher Stelle gesagt, dass sich
        unsere Fraktion nicht gegen eine Änderung des Bundes-
        waldgesetzes stellt . Voraussetzung: ein fachlich gutes
        und EU-rechtskonformes Gesetz . Das jahrelange Hin
        und Her, mit denen das BMEL versuchte, diesem ja doch
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201621012
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        recht selbstverständlichen Anspruch gerecht zu werden,
        zeigt: So einfach war und ist es nicht!
        Ich habe – und das wird sicherlich nicht überraschen –
        weiterhin erhebliche Zweifel, ob diese Voraussetzungen
        mit der Novelle erfüllt sind . Die Änderung im BWaldG
        kann zwar die Anwendung des nationalen Wettbe-
        werbsrechts ausschließen . Dies gilt jedoch nicht für das
        EU-Kartellrecht . Wir hätten es daher für legitimer und
        besser befunden, wenn das vor dem OLG Düsseldorf an-
        hängige Beschwerdeverfahren von Baden-Württemberg
        gegen den Beschluss des Bundeskartellamts abgewartet
        worden wäre . Das Urteil wird Ende Januar 2017 erwartet .
        Unstrittig ist ja, dass der Holzverkauf eine wirtschaft-
        liche Tätigkeit ist . Das Gericht wird klären, ob die vorge-
        lagerten Tätigkeiten, die Dienstleistungen im Wald, ho-
        heitlichen oder wirtschaftlichen Charakter besitzen . Das
        ist eine offene Frage in der Rechtsprechung, und sie ist
        richtungsweisend für alle Bundesländer . Das hätten wir
        abwarten können, ja müssen . So bleibt ein Gschmäckle!
        Und ein Wagnis ist es obendrein! Gleichwohl benötigen
        einige wenige Bundesländer offensichtlich unsere gesetz-
        geberische Hilfe, um kartellrechtskonforme Forststruktu-
        ren aufstellen zu können . Diesen Wünschen konnten wir
        uns als SPD-Fraktion nicht verschließen .
        Zwei Fakten möchte ich betonen, die ich enorm wich-
        tig finde, um die Debatte zu verstehen:
        Erstens. Die Erhaltung und Pflege des Waldes hat im
        Interesse von heutigen und kommenden Generationen
        eine eigene Bedeutung – unabhängig von der Holzver-
        marktung . Und wir haben gute und sehr gute Landes-
        waldgesetze, die Pflichten beim Handeln mit Wald defi-
        nieren und diese überwachen .
        Zweitens . Die Holzvermarktung passiert wiederum
        nicht im Kielwasser von Erhaltung und Pflege, quasi so
        nebenbei, als Teil der Daseinsvorsorge im Wald . Diese
        Sichtweise ist doch mit dem besten Willen nicht zu hal-
        ten: Welchen Baum pflanze ich, welchen entnehme ich?
        Das sind doch nicht allein ökologisch-soziale Entschei-
        dungen! Schauen Sie sich doch bloß die enorme und be-
        eindruckende Leistungsfähigkeit der Holzwirtschaft in
        Deutschland an .
        Wer Holz verkauft, ist also Marktteilnehmer, so auch
        der Staat, und er kann keine Sonderrechte für sich in An-
        spruch nehmen . Im Koalitionsvertrag von Grün-Schwarz
        in Baden-Württemberg steht: „Wir schützen die Freiheit
        aller, die als Anbieter oder Nachfrager am Markt teilneh-
        men, und sorgen für faire Wettbewerbsbedingungen .“
        Fairer Wettbewerb von Beginn an, das bedeutet dreier-
        lei: keine Verzerrung des Marktes durch staatliche, nicht
        kostendeckende Angebote, Marktzugang für private An-
        bieter ermöglichen, und eine direkte Förderung durch
        den Staat ist besser als eine indirekte . Und ich sehe, dass
        ebensolche Lösungen vor der Haustür liegen . Es braucht
        sicherlich Zeit, wettbewerbsrechtliche Strukturen im
        Forst herzustellen . Diese Zeit geben wir den betroffenen
        Bundesländern nun .
        Ich verbinde damit aber auch meinen herzlichen Ap-
        pell, dass die Länder ihre vielfältigen Gestaltungsmög-
        lichkeiten auf der Länderebene nutzen und verstanden
        wird, dass eine Neuaufstellung der Forststruktur durch-
        aus selbstbewusst angegangen werden kann .
        Keiner muss sich hier hinter rechtlich nicht tragfä-
        higen Strukturen verstecken, eben weil in den Forst-
        verwaltungen der Länder Forstwirte und Waldarbei-
        ter beschäftigt sind, die genau die guten Standards der
        Waldbewirtschaftung realisieren, Menschen, die vernetzt
        und ausgleichend denken. Die finden wir aber genauso
        in den forstwirtschaftlichen Zusammenschlüssen, ihren
        Vermarktungsorganisationen und im Privatwald . Und zu-
        dem: Junge Leute in den grünen Berufen brauchen auch
        jenseits staatlicher Strukturen Berufschancen . Ein Mono-
        pol auf Bequemlichkeit gibt es nicht!
        Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): In den Zen-
        tren deutscher Großstädte vergisst wohl der eine oder die
        andere, dass die Holzproduktion weder im Labor noch
        in Fabriken stattfindet, sondern immer noch im Wald,
        und der ist gleichzeitig Erholungs- und Lebensraum
        für Mensch und Tier sowie für den Klimaschutz mit-
        verantwortlich . Deshalb ist Holzproduktion eben keine
        Schraubenproduktion, wie der Bund Deutscher Forstleu-
        te vollkommen richtig sagt . Das sehen auch breite Teile
        der Gesellschaft so . Gerade aus Sicht einer nachhaltigen
        Waldbewirtschaftung macht die Auffassung des Bun-
        deskartellamtes wenig Sinn, das Wettbewerbsrecht nicht
        nur auf die Vermarktung von Holz anzuwenden, sondern
        auch auf die waldbaulichen und pflegerischen Maß-
        nahmen auszuweiten . Damit würde Besitzerinnen und
        Besitzern von Klein- und Kleinstwäldern gleichzeitig
        die Möglichkeit genommen, Betreuungsaufgaben auch
        staatlichen Forstämtern zu übertragen, weil dies dann als
        Wettbewerbsvorteil gegenüber den privaten Forstdienst-
        leitern ausgelegt werden könnte .
        Der Sicht der Wettbewerbskontrolleure steht ein
        breites Bündnis gegenüber, dem die Sicherung des Ge-
        meinwohls bei der Waldnutzung wichtig ist und das den
        gesellschaftlichen Konsens für eine nachhaltige Forst-
        wirtschaft und den Erhalt einer breiten Eigentumsstreu-
        ung verteidigt . Viele Waldbesitzerinnen und -besitzer,
        Forstleute und deren Interessensvertretungen sowie alle
        Bundestagsfraktionen sind dabei . Und auch wenn die
        SPD-Fraktion sich weniger enthusiastisch einreiht, eint
        uns doch die Überzeugung, dass wir als Gesellschaft eine
        besondere Verantwortung für den Wald haben, die die
        staatlichen Forstbehörden umsetzen .
        Und weil die Holzproduktion im Ökosystem Wald
        stattfindet, ist sie von natürlichen Prozessen und Wachs-
        tumszyklen abhängig . Wettbewerbshüter sind aus Sicht
        der Linken deshalb frühestens dann gefragt, wenn das
        Holz den Wald verlassen hat . Und so wichtig die Kartell-
        behörde auch für uns im Grundsatz ist: In ihrer jetzigen
        Verfassung kann sie leider viele Erwartungen gar nicht
        erfüllen, weil wichtige gesellschaftliche Anforderungen
        wie Daseinsvorsorge oder Gemeinwohlorientierung bis-
        lang nicht zu ihren Prüfkriterien gehören . Wenn wir also
        das Kartellrecht stärken wollen – was die Linke seit Jah-
        ren fordert –, geht es um mehr als Kapazitätsaus- und
        Personalaufbau, sondern um eine Erweiterung der Kri-
        terien, anhand derer „Wettbewerb“ geregelt wird . Hier
        müssen noch dicke Bretter gebohrt werden, bis reale
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 21013
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        Marktübermacht und unfaire Marktpraktiken wirklich
        wirksam verhindert werden können .
        Doch zurück zum Wald . Was nach den jahrelangen
        Diskussionen kaum mehr jemand für möglich gehalten
        hat, wird zumindest beim Bundeswaldgesetz doch noch
        wahr: Pünktlich zum Schmücken der Weihnachtsbäume
        kommt doch noch die lange angekündigte Bescherung .
        In der Novelle zum Bundeswaldgesetz wird nun unmiss-
        verständlich der gesetzgeberische Wille klargestellt, dass
        die Landesforstbetriebe auch weiterhin als Dienstleister
        für die Planung und Ausführung waldbaulicher Maßnah-
        men bis hin zur Bereitstellung des Rohholzes einschließ-
        lich seiner Registrierung vom Gesetz gegen Wettbe-
        werbsbeschränkungen freigestellt werden . Falls es daran
        jemals ernsthaften Zweifel gegeben haben sollte, werden
        sie heute mit den Stimmen aller Fraktionen beantwortet .
        Ich denke, damit muss man nicht auf ein Urteil vor dem
        Oberlandesgericht Düsseldorf warten . Das sind wir übri-
        gens auch den Forstleuten schuldig, denn damit nehmen
        wir das Damoklesschwert weg, das nun einige Jahre über
        ihnen schwebte .
        Als Linke verweise ich aber auch auf ein besonders
        wichtiges Argument: Wir wollen, dass niemand seinen
        oder ihren Klein- oder Kleinstprivatwald verkaufen
        muss, weil eine forstliche Betreuung nicht verfüg- oder
        nicht bezahlbar ist . Und wir wollen eine Wahlfreiheit
        zwischen öffentlicher Betreuung und privaten Dienstleis-
        tern, die ja beide dazu beitragen, dass Holzreserven im
        Klein- und Kleinstprivatwald mobilisiert werden, was ja
        wichtig ist .
        Aber es geht nicht, die Kosten für hoheitliche Aufga-
        ben der öffentlichen Hand zu übertragen und die Einnah-
        men aus Betreuungsaufgaben ausschließlich zu privati-
        sieren . Deshalb stimmt die Linke dem Gesetzentwurf zu .
        Harald Ebner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Nach
        zweieinhalb Jahren Hängepartie schafft es die Bundes-
        regierung jetzt doch noch, ein Bäumchen auf den Ga-
        bentisch zu legen . Das Kartellamt hat dagegen den Wald
        vor lauter Bäumen oder „Holzwachstumselementen“ gar
        nicht mehr gesehen .
        Hoffen wir, dass die heutige längst überfällige recht-
        liche Klarstellung den Blick aufs Wesentliche und das
        große Ganze schärft: den Wald als Ökosystem und Wirt-
        schaftsraum . Denn unsere Wälder sind keine Holzlager
        oder Plantagen, die nur der Produktion von Holz dienen,
        wie es offensichtlich das Bundeskartellamt sieht .
        Der Wald hat viele weitere Funktionen für das Ge-
        meinwohl – vom Artenerhalt über Luftreinhaltung bis
        hin zur Naherholung . Wir müssen unsere Wälder wider-
        standsfähiger gegen die Folgen des Klimawandels ma-
        chen . Die Markierung und Auszeichnung der Bäume ist
        zentraler Bestandteil des ökologischen Waldumbaus und
        damit Kernaufgabe der Forstämter . Die Auffassung, die
        Baumauszeichnung sei Teil der Holzvermarktung, geht
        an der Praxis der nachhaltigen Waldbewirtschaftung völ-
        lig vorbei . Das Bundeskartellamt hat einen Scheuklap-
        penblick eingenommen, der allein auf die maximale
        Holz ausbeute zielt und unvereinbar mit einer nachhal-
        tigen und gemeinwohlorientierten Waldbewirtschaftung
        ist . Dieser realitätsfremde Ansatz und zugleich die starr-
        köpfige Haltung der Wettbewerbsbehörde haben jeden
        Kompromiss mit dem Land Baden-Württemberg unmög-
        lich gemacht und zu einem unnötigen Gerichtsverfahren
        geführt .
        Die heutige Änderung des Bundeswaldgesetzes ist
        überfällig und wurde von vielen Akteuren der Holzwirt-
        schaft aus Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Nord-
        rhein-Westfalen, Hessen und anderen Bundesländern
        lange angemahnt und erwartet: Die Mitarbeiter der Forst-
        verwaltungen, waldbesitzende Kommunen, Menschen
        mit Kleinprivatbesitz, Umweltverbände, sie alle erwar-
        ten Planungssicherheit und dass bewährte Strukturen
        und Dienstleistungsangebote nicht ohne Not zerschlagen
        werden . Auch die Sägeindustrie hat ihre Mäkelei bereut
        und sich am Ende auf die Vorteile dieses Systems beson-
        nen, weil es eine effektive Holzmobilisierung auch aus
        dem Privat- und Kommunalwald sicherstellt . Nun hat die
        Zeit der Ungewissheit hoffentlich ein Ende .
        Wir alle mussten sehr lange auf die Lösung dieses Pro-
        blems warten . Bereits vor zwei Jahren lagen ein Gesetz-
        entwurf des Bundeslandwirtschaftsministeriums und ein
        Antrag meiner Fraktion zur Änderung des Bundeswald-
        gesetzes vor . Bei der Beratung unseres Antrages im Ple-
        num im März 2015 wurde seitens der Union so getan, als
        sei das Problem schon so gut wie gelöst, da man längst
        an der Gesetzesänderung arbeite und über konkrete For-
        mulierungsvorschläge dafür verfüge . Alle Informationen
        unseres Antrages seien bereits bekannt und „umfassend
        diskutiert“ worden . Unser Antrag sei daher „absolut
        überflüssig“, so Kollege Alois Rainer.
        Kollegin Kordula Kovac behauptete sogar, unser An-
        trag käme zu spät und man bräuchte keine „Nachhilfe
        von der Opposition“ . Jedes noch so schwache Argument
        war der Union damals recht, um trotz völliger inhaltli-
        cher Übereinstimmung in der Sache unseren Antrag ab-
        zulehnen . Die Verschleppung des Problems über zwei
        Jahre durch die Bundesregierung zeigt jedoch, wie ge-
        rechtfertigt unser Antrag war .
        Warum die Ressorteinigung so lange gedauert hat, ist
        weder für mich noch für die vielen Betroffenen nachvoll-
        ziehbar . Gerade bei der SPD-Kollegin Crone erstaunt
        mich doch, wie stark sie in dieser Frage immer wieder
        kartellrechtliche Bedenken betont hat, während SPD-Vi-
        zekanzler Gabriel sich bei seiner Ministererlaubnis für
        die Fusion von Edeka mit Kaiser’s Tengelmann ohne
        Skrupel über die Position der Kartellrechtsbehörden hin-
        weggesetzt hat und dies mit Arbeitsplatzsicherung be-
        gründet hat .
        Jeder Tag der letzten zwei Jahre, an dem nichts pas-
        siert ist, war ein verlorener Tag für die Wälder Deutsch-
        lands . Jetzt immerhin erfolgt die überfällige, notwen-
        dige und auch plausible rechtliche Klarstellung, dass
        die Entscheidung über die Struktur unserer Wälder, die
        Baumartzusammensetzung, Naturnähe und ökologische
        Funktion nicht der Holzvermarktung zugerechnet wer-
        den kann und sich daher kartellrechtlichen Erwägungen
        künftig entzieht .
        Leider gilt für die heute beschlossene Form der Geset-
        zesänderung noch nicht einmal der Spruch „Was lange
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201621014
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        währt, wird endlich gut!“, denn es sind zwei Schwach-
        stellen in das Gesetz eingebaut . Erstens ist regelmäßige
        Überprüfung vorgeschrieben, welche die Berechtigung
        des Gesetzes alle paar Jahre neu in Zweifel zieht . Zwei-
        tens wird das Gesetz in Zukunft abhängig von der Gnade
        des Bundeswirtschaftsministeriums sein . Das heißt: Die
        heutige Änderung steht regelmäßig wieder auf der Kip-
        pe . Für eine Branche, die für ihre Ziele, Maßnahmen und
        Entscheidungen in Generationen statt Dreijahreszyklen
        denkt, sind das keine beruhigenden Aussichten . Echte
        Planungssicherheit sieht anders aus . Daher sollten wir
        die Überprüfung alle drei Jahre wieder aus dem Gesetz
        streichen .
        Unser Wald steht vor großen Herausforderungen: Die
        Klimakrise bringt mehr Trockenheit und neue Schädlin-
        ge . Stickstoffemissionen überdüngen nach wie vor den
        Waldboden . Der gestiegene Holzbedarf und zukünftig
        steigende Anforderungen für die stoffliche und energeti-
        sche Holznutzung bergen die Gefahr einer Übernutzung
        des Waldes – umso mehr, als Kriterien für eine gute fach-
        liche Praxis im Waldgesetz immer noch fehlen .
        Zugleich gibt es nur wenige Waldflächen mit sehr al-
        ten Bäumen und Totholzstämmen, auf die viele stark be-
        drohte heimische Tierarten zum Überleben angewiesen
        sind . Oft zu hohe Rotwildbestände verursachen starken
        Wildverbiss an Jungbäumen und gefährden den notwen-
        digen Waldumbau .
        Es warten also noch viele Baustellen auf eine Lösung .
        Daher sollten wir uns mittelfristig nicht mit der heutigen
        Miniänderung des Waldgesetzes zufriedengeben .
        Anlage 18
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
        gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
        Änderung des Kreislaufwirtschaftsgesetzes (Tages-
        ordnungspunkt 20)
        Dr. Thomas Gebhart (CDU/CSU): Wir beraten heu-
        te abschließend das Zweite Gesetz zur Änderung des
        Kreislaufwirtschaftsgesetzes . Zum wesentlichen Inhalt:
        Bei der Änderung des Kreislaufwirtschaftsgesetzes geht
        es um die Streichung der sogenannten Heizwertklausel
        aus dem Gesetz . Was hat es mit dieser Klausel auf sich?
        Sie besagt, dass die Verbrennung eines Abfalles gleich-
        wertig mit seiner stofflichen Verwertung ist, wenn er ei-
        nen relativ hohen Heizwert hat, in dem Fall von mindes-
        tens 11 000 Kilojoule pro Kilo Abfall . Diese Klausel war
        bereits zu Beginn ihrer Einführung in das Kreislaufwirt-
        schaftsgesetz im Juli 2012 als Übergangslösung gedacht .
        Bis Ende 2016 sollte es eine Überprüfung geben . Hinter-
        grund dafür ist die im Gesetz formulierte EU-rechtlich
        vorgegebene Abfallhierarchie aus fünf Stufen . Darin ist
        geregelt, wie mit Abfällen grundsätzlich umgegangen
        werden soll, also von oben nach unten: Vermeidung,
        Wiederverwendung, Recycling usw .
        Zum Umsetzungskonzept der fünfstufigen Abfallhie-
        rarchie gehörte damals als Auffangregelung die Heizwert-
        klausel . Nach der Prüfung von Bundesumweltministe-
        rium und Umweltbundesamt ist klar: Der Heizwert ist
        nicht länger erforderlich für die effiziente Umsetzung der
        Abfallhierarchie . Um diese ordnungsgemäß umzusetzen,
        wird nun die Heizwertklausel aus dem Kreislaufwirt-
        schaftsgesetz gestrichen .
        Abschließend zu diesem Punkt möchte ich sagen:
        Mit der Streichung der Heizwertklausel setzen wir eine
        EU-Vorgabe um . Mit dem geänderten Kreislaufwirt-
        schaftsgesetz wird die fünfstufige Abfallhierarchie in
        Gang gesetzt und kann ihre Wirkung entfalten . Sie ist ein
        wesentlicher Baustein für einen gestärkten Kreislaufwirt-
        schaftsgedanken und für mehr Effizienz beim Ressour-
        cenverbrauch .
        Zum anderen beraten wir heute eine Änderung des
        Elektro- und Elektronikgerätegesetzes . Wir wollen, dass
        möglichst viele Elektrogeräte, die nicht mehr gebraucht
        werden, getrennt gesammelt, wieder zurückgenommen
        und möglichst recycelt werden . Damit wollen wir errei-
        chen, dass möglichst viele Rohstoffe zurückgewonnen
        werden und Stoffkreisläufe geschlossen werden .
        Das Elektrogesetz regelt bestimmte Rücknahme-
        pflichten von alten Elektrogeräten für Händler. Seit Juli
        gilt: Es gibt eine Rücknahmepflicht von Händlern mit
        einer Verkaufsfläche von mehr als 400 Quadratmetern.
        Kauft jemand ein neues Gerät, kann er im Gegenzug sein
        altes artgleiches Gerät im Geschäft zurückgeben . Kleine
        Altgeräte mit weniger als 25 Zentimetern Kantenlänge
        müssen auch dann zurückgenommen werden, wenn kein
        neues Gerät gekauft wird, und zwar unabhängig davon,
        ob das entsprechende Gerät bei diesem Händler gekauft
        wurde . Ihren alten Toaster oder ihr altes Telefon, von dem
        Sie vielleicht gar nicht mehr wissen, wann und wo Sie es
        gekauft haben, können Sie also bei Saturn, Karstadt und
        anderen größeren Geschäften abgeben . Die Rücknahme-
        pflicht gilt auch für Versandhändler wie Amazon und Co.
        und auch Händler, die zusätzlich zum Ladengeschäft ei-
        nen Onlineversand betreiben wie Cyberport usw .
        Wir wollen heute bei diesem Gesetz nachjustieren,
        und zwar vor allem mit Blick auf den Vollzug des Ge-
        setzes . Wir wollen zum einen Klarheit . Im Sinne der
        Gerechtigkeit wird ein Ordnungswidrigkeitentatbestand
        aufgenommen . Ein Bußgeld soll all diejenigen Händ-
        ler schützen, die sich rechtstreu verhalten . Wir wollen
        vorbeugen, dass einige Marktteilnehmer benachteiligt
        werden, weil andere sich einen unrechtmäßigen Wettbe-
        werbsvorteil verschaffen . Es geht um faire Bedingungen
        im Wettbewerb .
        Zum anderen geht es darum, die Rücknahmepflicht zu
        konkretisieren . Künftig ist die Rücknahme in den Fällen,
        in denen kein neues Gerät gekauft wird, auf fünf Altge-
        räte pro Geräteart beschränkt . Dies soll die Umsetzung
        erleichtern und Rechtssicherheit schaffen .
        Am Ende soll das Elektrogesetz seine Wirkung voll
        entfalten können mit dem Ziel, mehr Elektroaltgeräte
        dem Recycling zuzuführen, ganz im Sinne einer gestärk-
        ten Kreislaufwirtschaft .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 21015
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        Michael Thews (SPD): Zentrales Anliegen unserer
        Abfallpolitik ist es, Abfälle zu vermeiden, wiederzuver-
        wenden oder optimal zu verwerten, um unsere natürli-
        chen Ressourcen zu schonen. Dabei ist die fünfstufige
        Abfallhierarchie, das Kernelement der europäischen
        Abfallrahmenrichtlinie, einzuhalten, die der stofflichen
        grundsätzlichen Vorrang vor der energetischen Verwer-
        tung gibt . Nach bisherigem deutschem Recht galt je-
        doch für bestimmte Abfälle eine Gleichrangigkeit von
        stofflicher und energetischer Verwertung, und zwar bei
        einem Heizwert des Abfalls von 11 000 Kilojoule pro
        Kilogramm . Diese sogenannte Heizwertklausel wird
        nun durch das Zweite Gesetz zur Änderung des Kreis-
        laufwirtschaftsgesetzes, das wir hier abschließend be-
        raten, gestrichen . Diese Klausel war von Anfang an ein
        deutscher Sonderweg, und sie war immer nur als Über-
        gangslösung gedacht . Es war also absehbar, dass eine
        Änderung des Gesetzes notwendig wird, zumal auch die
        Europäische Kommission in der Heizwertklausel eine
        nicht hinreichende Umsetzung der Abfallhierarchie kri-
        tisiert hat . Durch den Wegfall der Heizwertklausel wird
        die Kreislaufwirtschaft noch konsequenter auf das Recy-
        cling ausgerichtet .
        Die SPD hat sich immer für diesen Vorrang der stoffli-
        chen Verwertung ausgesprochen . Denn wir wissen, dass
        die Ressourcen auf unserer Erde begrenzt sind und ge-
        schützt werden müssen . Da jedoch auch die energetische
        Verwertung ihre Daseinsberechtigung hat, haben wir uns
        in Deutschland auch auf die technische Verbesserung
        moderner Anlagen mit einer leistungsfähigen Rauchgas-
        reinigung und Wärmenutzung konzentriert . Ich sage das
        deshalb, weil es immer noch viele Länder in Europa gibt,
        die weder energetisch noch stofflich verwerten, sondern
        einen großen Teil ihrer Abfälle deponieren . Das ist in je-
        dem Fall der schlechtere Weg .
        Auch wenn die Umsetzung des Gesetzes einen Um-
        stellungsaufwand verursacht, halte ich sie für unum-
        gänglich für die Umwelt, den Ressourcenschutz und die
        Konkurrenzfähigkeit unserer Recyclingwirtschaft . Neue
        Anforderungen an die Abfallwirtschaft führen nämlich
        auch zu technologischem Fortschritt, und das ist wichtig;
        denn wir wollen Technologieführer in der Kreislaufwirt-
        schaft bleiben .
        Wir nutzen die Änderung des Kreislaufwirtschaftsge-
        setzes außerdem für eine Nachschärfung des Elektroalt-
        gerätegesetzes, das wir 2015 novelliert haben . Seit dem
        Sommer dieses Jahres ist der Handel in bestimmten Fäl-
        len verpflichtet, Elektroaltgeräte von Verbraucherinnen
        und Verbrauchern zurückzunehmen . Damit haben wir
        die Rückgabe für die Verbraucherinnen und Verbraucher
        erleichtert und erhoffen uns zugleich, dass so auch die
        Rückgabequoten steigen . Denn wir haben in den nächs-
        ten Jahren hier ambitionierte Recyclingquoten zu erfül-
        len .
        Leider hat sich in den letzten Monaten gezeigt, dass
        einige Unternehmen ihrer Pflicht nicht nachgekommen
        sind . Um schwarzen Schafen, die sich dieser verbrau-
        cherfreundlichen und bürgernahen Lösung entziehen und
        sich dadurch womöglich noch einen Wettbewerbsvorteil
        verschaffen, beikommen zu können, haben die Koaliti-
        onsfraktionen einen entsprechenden Bußgeldtatbestand
        in das Gesetz aufgenommen .
        Die Streichung der Heizwertklausel und die Aufnah-
        me eines Bußgeldtatbestandes sind vielleicht nur kleine
        Bausteine im großen Themenbereich Abfallpolitik . Aber
        sie sind bedeutsam, um die unnötige Inanspruchnahme
        von Rohstoffen zu verringern und die Kreislaufwirtschaft
        immer effizienter zu machen.
        Ralph Lenkert (DIE LINKE): Durch die sogenannte
        Heizwertklausel des Kreislaufwirtschaftsgesetzes konn-
        ten über Jahre hinweg hunderttausende Tonnen von Wert-
        stoffen verbrannt werden, die man viel besser stofflich
        recycelt hätte . Alles, was wir verbrennen, ist unwiderruf-
        lich als Stoff verloren und muss neu gefördert und herge-
        stellt werden . Lange war es zwar nicht möglich, Kunst-
        stoffe sinnvoll stofflich zu verwerten, aber die Technik
        hat da wesentliche Verbesserungen gemacht . Im Interes-
        se der Ressourceneffizienz stimmen wir deshalb diesem
        Gesetzentwurf zu, für den es – wieder einmal – erst eines
        Vertragsverletzungsverfahrens der EU bedurfte .
        Was die Bundesregierung leider weiterhin mit diesem
        Gesetzentwurf nicht bearbeitet, ist die Frage der Mit-
        verbrennung . Anders als bei Müllverbrennungsanlagen
        und trotz der Verlautbarungen der Anlagenbetreiber über
        größte Sicherheit bei hohen Verbrennungstemperaturen,
        langer Verweildauer der Abfälle in der Verbrennung und
        Ausfiltern von Schwermetallen und toxischen Gasen gibt
        es dafür keine Überwachung . Bei der Mitverbrennung
        werden die Temperaturen nicht verpflichtend überwacht,
        und ebenso fehlt es an Schadstoffüberwachungen . Das
        hätte man im Zuge der Gesetzesänderung gleich mit re-
        geln können . Dass das nicht gemacht wurde, ist schade .
        Da hier mit dem Gesetzentwurf aber zumindest keine
        Verschlechterung eintreten wird, stimmen wir trotzdem
        zu .
        Mit dem Änderungsantrag der Koalition soll nunmehr
        festgelegt werden, was eine haushaltsübliche Menge ist .
        Eine „haushaltsübliche Menge“ bei der Rücknahme von
        Elektrogeräten bis 25 Zentimetern in Einzelhandelsge-
        schäften ist demnach also konkret fünf Stück . Auch diese
        Klarstellung begrüßen wir wie die Einstufung einer nicht
        ordentlich durchgeführten Rücknahme als Ordnungswid-
        rigkeitstatbestand . Es gibt jedoch sicherlich eine Vielzahl
        elektrischer Geräte, die deutlich größer als 25 Zentimeter
        sind; viele Tablets haben beispielsweise längere Aus-
        maße als diese 25 Zentimeter, weshalb uns diese Rege-
        lung auch heute noch ein wenig willkürlich daherkommt .
        Gänzlich unbeantwortet bleibt dabei auch die Frage, ob
        die Längenangabe nun mit eingerolltem oder mit ausge-
        rolltem Kabel erfolgt . Die Linke hätte es als sinnvoller
        erachtet, hier Produktgruppen zu definieren. Im Übrigen
        könnte man sich derartige Konkretisierungen, auch die
        der haushaltsüblichen Mengen, sparen, wenn man ein
        vernünftiges Pfandsystem für Elektrogeräte etablieren
        würde, wie es Die Linke seit Jahren vorschlägt . Das wür-
        de dann in der Praxis nicht dazu führen, dass sich die
        elektrischen Altgeräte in den Haushalten stapeln, auch
        weil eines davon vielleicht 25,5 Zentimeter groß ist und
        zum Wertstoffhof anstatt ins Geschäft gebracht werden
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201621016
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        muss, sondern dass die Geräte zeitnah dem Ressourcen-
        kreislauf zurückgeführt werden können .
        Sie sehen, dass das Elektrogerätegesetz weiter eine
        Baustelle ist, und wenn man dann schon einmal dabei ist,
        könnte man das Verbot von festverbauten Akkus gleich
        wieder in das ElektroG schreiben, wie es dort einmal
        drinstand, bevor es von der Koalition herausnovelliert
        wurde . Damit würden Bundesregierung und Koalition
        einen Schritt gegen vorzeitigen Geräteverschleiß gehen,
        und es fallen weniger Geräte an, die mit einem Maßband
        beim Händler auf Rücknahmepflicht geprüft werden
        müssen . Die Baustelle ElektroG bietet viel Potenzial für
        weitere, direkte Gesetzesinitiativen anstatt – wie jetzt – in
        Form eines Änderungsantrages kurz vor der Ausschuss-
        sitzung als Anhängsel an ein völlig anderes Gesetz . Die
        Linke unterstützt Sie dabei gern .
        Peter Meiwald (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
        mit dem vorgelegten Gesetzentwurf angestrebten Än-
        derungen hinsichtlich der Heizwertklausel begrüße ich
        ausdrücklich . Angesichts des Trauerspiels um das Ver-
        packungsgesetz müssen wir ja froh sein, dass überhaupt
        noch Regierungshandeln im Bereich Abfallpolitik statt-
        findet.
        Denn bei der Umsetzung des Kreislaufwirtschaftsge-
        setzes in einem Wertstoffgesetz ist diese Bundesregie-
        rung krachend gescheitert . Nun soll es ein verballhorntes
        Verpackungsgesetz geben, das aber auch immer noch
        nicht vorliegt . Doch die Kritik an den Entwürfen kommt
        aus allen Ecken . Sogar das Bundeskartellamt teilt zum
        Beispiel unsere Position hinsichtlich der Zentralen Stel-
        le . So hat sich Kartellamtspräsident Andreas Mundt deut-
        lich gegen eine privatrechtliche Organisation und für ein
        staatliches Kontrollorgan ausgesprochen . Dies sollte der
        Bundesregierung zu denken geben .
        Man kann die Bundesregierung nur auffordern, endlich
        ihre eigenen Gesetze ernst zu nehmen, die Abfallhierar-
        chie zu befolgen und in den Entwurf für ein Verpackungs-
        gesetz auch die Mehrwegquote wieder aufzunehmen, die
        sie selbst ohne Not gestrichen hat . Ich fordere Sie auf,
        diesen Bärendienst für die Umwelt und die Kapitulation
        vor der Einweglobby rückgängig zu machen . Entwickeln
        Sie das Einwegpfand zu einer ökologischen Lenkungs-
        abgabe auf Einwegverpackungen weiter . Weiten Sie
        die Pfandpflicht auf die Getränkesegmente Fruchtsäfte,
        Fruchtnektare, Gemüsesäfte und Gemüsenektare aus . Le-
        gen Sie gesetzlich eine klare Unterscheidung von „Ein-
        weg“ und „Mehrweg“ auf der Getränkeverpackung fest .
        Handeln Sie im Sinne der Umwelt und der Verbraucher .
        Trotz der vorweihnachtlichen Stimmung in dieser Jahres-
        zeit: Verteilen sie keine Geschenke an die Einweglobby .
        Doch zurück zum Kreislaufwirtschaftsgesetz . Ich
        kann nur sagen, dass der vorliegende Entwurf mehr als
        überfällig ist, gerade auch vor dem Hintergrund, dass
        die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen
        bereits bei der Einführung des Kreislaufwirtschaftsge-
        setzes 2012 auf die nicht europarechtskonforme Kon-
        struktion bezüglich der sogenannten Heizwertklausel
        hingewiesen hat . Denn die damals im Kreislaufwirt-
        schaftsgesetz festgelegte Gleichrangigkeit von energe-
        tischer Verwertung und stofflichem Recycling steht der
        fünfstufigen Abfallhierarchie der Abfallrahmenrichtlinie
        der EU entgegen . Abfallvermeidung, Wiederverwendung
        und stoffliches Recycling sind der energetischen Verwer-
        tung mit gutem Grund vorgelagert . Dies sollte sich auch
        im Kreislaufwirtschaftsgesetz deutlich widerspiegeln .
        Ich begrüße daher die jetzt erfolgende rechtliche Klar-
        stellung .
        Auch der Änderungsantrag zum ElektroG, die Rück-
        nahme von alten Elektrogeräten nicht an den Kauf eines
        neuen Gerätes zu knüpfen, dient der rechtlichen Klarstel-
        lung . Leider legt der Wortlaut „auf Verlangen des Endnut-
        zers“ nahe, dass es für den Handel keine Verantwortung
        gibt, offensiv auf das Rücknahmeangebot hinzuweisen .
        Allerdings würden leicht sichtbare Informationen im
        Markt und auf der Website es den Kunden erleichtern,
        den Service der Rücknahme anzunehmen . Den Handel
        zu einem proaktiveren Verhalten anzuregen, wäre wün-
        schenswert gewesen .
        Dass manche Marktteilnehmer die im ElektroG fest-
        gelegte Rücknahme von Elektronikaltgeräten verweigern
        oder diese nur bei Kauf von Neuware zurücknehmen, ist
        nicht hinnehmbar und widerspricht der Kreislaufwirt-
        schaft und dem Konzept der Nachhaltigkeit .
        Auch macht die Art und Weise, wie bestimmte Markt-
        teilnehmer agieren, leider ein erhebliches Ordnungsgeld
        notwendig . Wir hätten uns gewünscht, dass dies nicht
        notwendig gewesen wäre .
        Dennoch stimmen wir dem Gesetzentwurf zu .
        Florian Pronold, Parl . Staatssekretär bei der Bun-
        desministerin für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-
        sicherheit: Der Ihnen vorliegende Entwurf des Zweiten
        Gesetzes zur Änderung des Kreislaufwirtschaftsgesetzes
        betrifft die Aufhebung der Heizwertregelung und damit
        das Verhältnis zwischen der stofflichen und der energe-
        tischen Verwertung von Abfällen . Zwar enthält das Än-
        derungsgesetz nur eine einzige Regelung, deren Wirkung
        ist jedoch weitreichend .
        Mit dem Kreislaufwirtschaftsgesetz von 2012 und der
        Einführung der fünfstufigen Abfallhierarchie ist uns der
        Einstieg in eine stärker auf den Ressourcenschutz zuge-
        schnittene Kreislaufwirtschaft gelungen . Die bis dahin
        geltende Drei-Stufen-Hierarchie „Vermeiden, Verwerten
        und Beseitigen“ wurde auf der Stufe der Verwertung wei-
        ter ausdifferenziert. Die stoffliche Verwertung, insbeson-
        dere das Recycling, hat nun grundsätzlich Vorrang vor
        der bis dahin gleichrangigen energetischen Verwertung .
        Gerade hierdurch konnte die neue Abfallhierarchie wich-
        tige und nachhaltige Impulse für die Kreislaufwirtschaft
        setzen .
        Allerdings war eine solch weitreichende Umstellung
        der Abfallwirtschaft nicht ohne Übergangsregelungen
        zu erreichen . Dabei waren auch neue bürokratische
        Belastungen der Abfallerzeuger und Behörden zu be-
        achten . Hierfür bot die Heizwertregelung eine praktika-
        ble Übergangslösung . Sie legt für den Fall, dass keine
        verordnungsrechtliche Regelung existiert, fest, dass die
        energetische Verwertung als gleichrangig zur stofflichen
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 21017
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        Verwertung anzusehen ist, wenn der Heizwert des ein-
        zelnen Abfalls besonders hoch ist, nämlich mindestens
        11 000 Kilojoule pro Kilogramm beträgt .
        Die Bundesregierung hatte bis Ende dieses Jahres zu
        untersuchen, ob diese Übergangsregelung ökologisch
        und ökonomisch noch erforderlich ist . Wie Sie dem Ge-
        setzentwurf entnehmen können, ist die Bundesregierung
        auf der Grundlage eines breit angelegten Forschungs-
        vorhabens zu dem Ergebnis gekommen, dass die Auf-
        hebung der Heizwertreglung sachgerecht ist . Nach dem
        Forschungsvorhaben hat die Aufhebung der Heizwertre-
        gelung für 13 der 19 untersuchten Abfallströme keine
        Auswirkungen . Bei den übrigen sechs Abfallströmen,
        namentlich den Gewerbeabfällen, dem Sperrmüll, dem
        Klärschlamm, den Altreifen, den nicht mineralischen
        Bau- und Abbruchabfällen und den gefährlichen Abfäl-
        len aus der chemischen Industrie, werden Auswirkungen
        erwartet, die im Gesetzentwurf detailliert beschrieben
        sind .
        Bei den genannten Stoffströmen ist allerdings zu be-
        rücksichtigen, dass bereits im Rechtssetzungsverfahren
        befindliche Spezialverordnungen, wie die heute eben-
        falls zu beratende Gewerbeabfallverordnung oder die im
        nächsten Jahr zu verabschiedende Klärschlammverord-
        nung, die Vorgaben der Abfallhierarchie so konkretisie-
        ren, dass die Heizwertregelung ohnehin verdrängt würde .
        Zum anderen wird der Wegfall der Heizwertregelung in
        vielen Fällen, etwa bei Altreifen oder Sperrmüll, auch zur
        intendierten, stärkeren Lenkung der Abfälle in Richtung
        Recycling führen .
        Besonders betroffen von der Aufhebung der Heizwert-
        regelung ist allerdings die chemische Industrie mit ihren
        sehr heterogen gefährlichen Abfällen . Aufgrund der ho-
        hen Schadstoffrisiken gibt es bei Anwendung der Abfall-
        hierarchie jedoch wichtige ökologische Gründe, die die
        energetische Verwertung dieser Abfälle mit Blick auf den
        Schutz von Mensch und Umwelt weiterhin rechtfertigen .
        Die Umsetzung der Abfallhierarchie stellt alle Betrof-
        fenen vor große Herausforderungen . Wir werden daher
        gemeinsam mit den Ländern für die Anwendung der Ab-
        fallhierarchie, insbesondere für den Bereich der gefährli-
        chen Abfälle, Vollzugshinweise entwickeln . Die Arbeiten
        hierzu sind im Bundesumweltministerium bereits ange-
        laufen und werden rechtzeitig zum Inkrafttreten des Ge-
        setzes Mitte nächsten Jahres abgeschlossen sein .
        Lassen Sie mich abschließend noch ein Wort zu dem
        im Rahmen der Ausschussberatungen eingebrachten
        Änderungsantrag sagen . Dieser betrifft das Elektro- und
        Elektronikgerätegesetz und wird von der Bundesregie-
        rung unterstützt . Ziel des Änderungsantrages ist es, einen
        Bußgeldtatbestand gegen sich bei der Rücknahme von
        Elektroaltgeräten rechtswidrig verhaltende Vertreiber
        einzuführen . Damit sollen die Schaffung eines dichten
        Sammelnetzes vorangebracht und die sich rechtskonform
        verhaltenden Vertreiber geschützt werden .
        Die vorgelegte Novelle und auch der Änderungsan-
        trag zum ElektroG werden die ressourcenschutzorien-
        tierte Kreislaufwirtschaft weiter voranbringen . Ich bitte
        daher um Ihre Zustimmung zum Gesetzentwurf der Bun-
        desregierung in der vom Umweltausschuss geänderten
        Fassung .
        Anlage 19
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
        Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz,
        Bau und Reaktorsicherheit zu der Verordnung der
        Bundesregierung: Verordnung über die Bewirt-
        schaftung von gewerblichen Siedlungsabfällen
        und von bestimmten Bau- und Abbruchabfällen
        (Gewerbeabfallverordnung – GewAbfV) (Tages-
        ordnungspunkt 21)
        Artur Auernhammer (CDU/CSU): „Müll bleibt
        Müll, auch wenn man ihm immer wieder eine Abfuhr er-
        teilt . Es bleibt ein menschliches Problem“, erklärte schon
        der Anthropologe Aurelius de Montblanc . Man muss
        nicht Landwirt sein, um zu wissen, dass die Müllproduk-
        tion eine menschliche Erfindung ist. In Flora und Fauna
        gibt es diese Form des unbrauchbaren, unverwertbaren
        und zweckfreien Abfalls nicht . Dort herrscht ein perfekt
        geschlossener Kreislauf . Diesen Kreislauf haben wir in
        Deutschland – in beispielhafter Weise – für unseren an-
        fallenden Abfall versucht zu adaptieren . Abfalltrennung,
        Sortenreinheit, Recycling, Wiederverwertung, all das
        sind Begriffe, die das uns bekannte Abfallsystem prägen
        und über unseren reinen Sprachgebrauch in neue Verhal-
        tensweisen mündeten .
        Wie selbstverständlich wachsen heute unsere Kin-
        der auf und achten auf eine wertstoffgerechte Trennung
        des Abfalls . Doch das war – wir können uns alle daran
        erinnern – nicht immer der Fall . Recycling war einmal
        unpopulär . Heute ist es unspektakuläre Routine unseres
        Alltags . Viele Menschen aller Generationen in unserem
        Land leben den bekannten Grundsatz „Vermeidung vor
        Verwertung vor Beseitigung“, wobei immer der umwelt-
        verträglicheren Möglichkeit der Vorzug gegeben wird .
        Unser deutsches Abfallrecht normierte bislang einen
        relativen Gleichrang der stofflichen und energetischen
        Verwertung; dies ist nunmehr weggefallen . Inzwischen
        haben wir alle erkannt, dass Müll eben auch nicht nur
        eine energetische Komponente aufweist und die ökono-
        mische Bedeutung durch den zu erzielenden Heizwert
        bemessen wird . Abfälle sind längst von unbrauchbaren
        Stoffen oder Gegenständen, derer sich ihr Besitzer ent-
        ledigt, entledigen will oder entledigen muss – Abfall-Le-
        gal-Definition nach § 3 Kreislaufwirtschaftsgesetz –, zu
        einem „Wert-Stoff“ aufgewertet worden . Die Zukunft
        wird zeigen, dass zum Beispiel die erfolgreichen bayeri-
        schen Wertstoffhöfe und die vielerorts gelungenen kom-
        munal organisierten Abfallentsorgungssysteme die Roh-
        stoffquellen unseres Landes im 21 . Jahrhundert werden .
        Ich begrüße daher die gesellschaftlichen Zielvereinba-
        rungen im Umgang mit dem Abfall, die jüngst durch die
        neuere EU-Richtlinie 2008/98/EG modernisiert wurden,
        in dem sie den bekannten Dreiklang „Vermeidung vor
        Verwertung vor Beseitigung“ erweitert und präzisiert .
        https://de.wikipedia.org/wiki/Richtlinie_(EU)
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201621018
        (A) (C)
        (B) (D)
        An erster Stelle der nunmehr fünfstufigen Abfallhierar-
        chie bleibt die Abfallvermeidung als rohstoffschonendste
        Form bestehen, gefolgt von der Vorbereitung zur Wieder-
        verwendung, dem Recycling und der sonstigen Verwer-
        tung, die in stofflicher und energetischer Form erfolgen
        kann . An letzter Stelle steht weiterhin die – in unserem
        Land im geringen Maße erforderliche, aber mitunter teil-
        weise unabweisliche – Abfallbeseitigung .
        Ein deutscher Durchschnittsbürger verursachte im
        Jahre 2014 618 Kilogramm Müll . Angesichts dieser im-
        mensen Masse ist es erfreulich, dass wir das Augenmerk
        auf Müllvermeidung lenken . Müllvermeidung ist die Kö-
        nigsdisziplin . Dazu gehört auch, dass wir uns neben der
        angemessenen Verpackungsart und Verpackungsgröße
        mit wichtigen Fragen der Haltbarkeit und Langlebigkeit
        von Gebrauchsgütern befassen . Ich will Ihnen das ganz
        einfach vorrechnen: Wenn ein Toaster nicht bereits nach
        fünf Jahren defekt geht, sondern erst nach 20 Jahren sei-
        ne Funktion einstellt, „entziehen“ wir dem Abfallkreis-
        lauf – in positiver Weise – Müll, weil es ihn nicht gibt,
        weil er nicht entsteht .
        Es gibt technische Grenzen der Haltbarkeit, und es
        gibt Gründe, die für eine Begrenzung der Funktionsdauer
        sprechen . Dafür kann man Verständnis aufbringen . Res-
        sourcenschonend ist es aber gerade nicht, wenn Geräte
        mit einer Software ausgestattet werden, welche die Le-
        bensdauer von – zumeist elektronischen – Geräten nach
        einer bestimmten Dauer automatisch und unbegründet
        ablaufen lassen . Das klassische Beispiel kennen Sie viel-
        leicht sogar aus eigenem Erleben – ein Drucker . Viele
        Drucker haben ein verstecktes Zählwerk eingebaut, das
        dem Gerät nach Druck einer bestimmten Anzahl von
        Blättern signalisiert, dauerhaft abzuschalten . Der Kunde
        erkennt dies am Display oftmals durch eine nicht über-
        windbare Error-Anzeige .
        Sie erkennen, dass dieser Weg der umfassenderen
        Müllvermeidung nicht ohne Industrie wird erfolgen kön-
        nen . Und es ist zu vermuten, dass wir auf lange Sicht ein-
        sehen, dass an dieser Stelle eine freiwillige Verpflichtung
        nicht ausreichen wird . Denn solange die Verpackungs-
        größen in keinem angemessenen Verhältnis zum befüll-
        ten Inhalt der Verpackung stehen und ausschließlich dem
        Marketinggedanken und der Umsatzzahlenoptimierung
        unterliegen, statt dem Umweltschutz durch Abfallver-
        meidung den Vorzug zu gegeben, entzieht sich ein großes
        Potenzial zur Müllvermeidung dem Einflussbereich der
        Verbraucherinnen und Verbraucher . Hier müssen Indus-
        trie und Handel mitarbeiten .
        Ein Beitrag, den die Verbraucher jedoch leisten kön-
        nen, ist die Reduzierung von Lebensmittelabfällen, in-
        dem zum einen bewusster eingekauft wird, zum anderen
        das Mindesthaltbarkeitsdatum als ein solches und nicht
        als Verfallsdatum verstanden wird . Auf Initiative der da-
        maligen Bundesministerin Ilse Aigner ist die Kampagne
        „Zu gut für die Tonne“ gestartet, die genau für diesen
        Aspekt wirbt . Es ist auch nötig; denn über 12 Prozent der
        von uns täglich, wöchentlich gekauften Lebensmittel lan-
        den immer noch im Müll . Hier kann Vermeidung Abhilfe
        leisten . Das oberste Ziel ist die Müllvermeidung .
        Doch der Müll, der nicht vermieden wurde, bedarf
        einer Trennung und Sortierung . Mit 47 Prozent weist
        Deutschland die höchste Recyclingquote aller EU-Mit-
        gliedstaaten auf; der EU-Durchschnitt liegt vergleichs-
        weise bei 28 Prozent . In Anerkennung dieses Erfolges
        gebührt vor allem den kommunalen Abfallwirtschaftsbe-
        trieben unser Dank . Sie sind es, die zuverlässig die Vo-
        raussetzungen für hochwertiges Recycling schaffen und
        unsere wertvollen Rohstoffe bergen .
        Die Lebenswirklichkeit der eben angerissenen Er-
        folgsgeschichte des Entsorgungswegs des Abfalls lässt
        uns aber wissen, dass im Bereich der Beseitigung nicht
        privater Siedlungsabfälle und von bestimmten Bau- und
        Abbruchabfällen nicht alle Entsorgungswege als ord-
        nungsgemäß eingestuft werden können; einige sind ge-
        meinwohlunverträglich und schadhaft . Ursächlich sind
        nicht die Entsorger, sondern die Abfallerzeuger . Das
        Problem ist, dass eine nicht bekannte Anzahl stofflich
        oder energetisch verwertbarer Abfälle und zu beseiti-
        gender Abfälle – Deponierung – in unzulässiger Weise
        entweder nicht getrennt oder nicht vollständig getrennt
        gelagert werden und im Ergebnis diese „gemischten Ab-
        fälle“ als „zur Verwertung“ deklarierte Abfälle dem Ent-
        sorgungskreislauf – energetische Verwertung oder Sor-
        tieranlage – zugeführt werden . Da landet Bauschutt mit
        Eisenträgern und Kunststoffpanelen in einem Container,
        wenngleich die Abfallerfassung getrennt erfolgte . Diese
        Vermischung der verwertbaren Materialien mit Störstof-
        fen schließt von vornherein eine hochwertige Verwertung
        aus . Die Sortieranlage kann dann nur in einem sehr ge-
        ringen Prozentsatz die Stoffe verwerten, und muss den
        größeren – ursprünglich zu beseitigenden Abfall – einer
        Deponie zuführen . Dies beeinträchtigt öffentlich-rechtli-
        che Entsorgungsträger .
        Diese sogenannte Scheinverwertung will die uns heu-
        te vorliegende Verordnung der Bundesregierung unter-
        binden . Ziel ist eine schadlose und umweltverträgliche
        Verwertung der gewerblichen Siedlungsabfälle und von
        bestimmten Bau- und Abbruchabfällen . Die Verordnung
        konkretisiert die Anforderungen für die Getrennthaltung
        von Abfällen, deren Vorbehandlung und die erforderliche
        Kontrolle . Gerade Letzteres ist eine gleichsam erforder-
        liche wie zu begrüßende Nachbesserung dieser Verord-
        nung. Wer gegen Umsetzungsdefizite vorgehen will –
        das gilt im Umweltbereich genauso wie in jeder anderen
        Branche –, ohne eine erhöhte Kontrolldichte festzulegen,
        kann sich nicht eines Erfolges sicher sein . Aber genau
        das ist unser Ziel .
        Das Kontrollnetz sieht neben einem zu führenden Be-
        triebstagebuch die behördliche Fremdkontrolle vor . Da-
        bei werden die Betriebsaufzeichnungen geprüft . Halb-
        jährlich erfolgt zudem die Kontrolle der Einhaltung der
        rechtlich normierten Verfahrensschritte, die unter ande-
        rem eine getrennte Störstofferfassung vorsieht . Im ersten
        Schritt werden auch regelmäßige Eigenkontrollen gefor-
        dert, deren Ergebnisse dokumentiert und behördlich kon-
        trolliert werden . Die Abfallerzeuger und Abfallbesitzer
        müssen künftig auch durch Maßnahmen für eine höhere
        Sortenreinheit im getrennten Erfassen sorgen . Dies ist zu
        begrüßen, da es die Recyclingquote steigert und die Ver-
        wertbarkeit erhöht .
        https://de.wikipedia.org/wiki/Abfallvermeidung
        https://de.wikipedia.org/wiki/Wiederverwendung
        https://de.wikipedia.org/wiki/Wiederverwendung
        https://de.wikipedia.org/wiki/Recycling
        https://de.wikipedia.org/wiki/Verwertung
        https://de.wikipedia.org/wiki/Verwertung
        https://de.wikipedia.org/wiki/Abfallbeseitigung
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 21019
        (A) (C)
        (B) (D)
        Die Verordnung wird insgesamt der steigenden Be-
        deutung von metallischen und mineralischen Abfällen
        und Abfällen aus Glas gerecht . Die Einbringung in die
        energetische Verwertung von gemischten gewerblichen
        Siedlungsabfällen, die diese Stoffe enthalten, ist för-
        derhin unzulässig . Zukünftig werden auch im Bau- und
        Abbruchgewerbe getrennt anfallende Abfälle getrennt
        gesammelt und gelagert . Besonders die Fraktionen Glas,
        Kunststoffe, Beton und Metalle sollen hierbei erfasst
        werden . Genau mit diesen Maßnahmen schützen wir un-
        sere „heimischen Rohstoffe“ und werden einen immer
        spürbarer werdenden Beitrag für die Rohstoffverfügbar-
        keit in unserem Land leisten .
        Ein wichtiger Punkt für mich setzt jedoch weit vor der
        erforderlichen Kontrollinstanz an . Denn Kontrollen wer-
        den erst ab dem Punkt notwendig, an dem Müll entsteht
        und dem Recyclingverfahren zugeführt werden muss .
        Der erste und bedeutendste Punkt bleibt auch bei nicht
        privaten (Sieglungs-)Abfällen die Müllvermeidung . So
        wichtig überprüfbare und gut durchdachte Mechanismen
        für die getrennte Erfassung von Materialen an den Ab-
        fall-Anfallstellen sind: Die Reduzierung des anfallenden
        gewerblichen Siedlungsmülls und von bestimmten Bau-
        und Abbruchabfällen muss oberstes Ziel sein . Es sind die
        Abfallerzeuger, die ich in der Plicht sehe, alle Maßnah-
        men, die ihnen zur Verfügung stehen, zu ergreifen, zur
        aktiven Abfallvermeidung beizutragen . Denn besser als
        gut getrennter und recycelter Abfall ist kein Abfall – das
        fordert uns Verbraucher wie die Industrie gleichermaßen .
        Diese Verordnung ist ein weiterer guter Schritt in der
        Erfolgsgeschichte der deutschen Abfallwirtschaft . Diese
        dient dem Abfall, der Kreislaufwirtschaft der Rohstoffe,
        uns Bürgern und der Umwelt .
        Dr. Thomas Gebhart (CDU/CSU): Wir beraten heu-
        te eine Novelle zur Gewerbeabfallverordnung . Worum
        geht es? Wie der Name bereits andeutet, geht es um alle
        Abfälle, die im Gewerbe anfallen und entsorgt werden
        müssen . Wir reden von großen Abfallmengen . Insofern
        ist es bemerkenswert, dass in den letzten Monaten in der
        Debatte die Gewerbeabfallverordnung eine vergleichs-
        weise geringe Rolle gespielt hat, obwohl es sich um
        große Abfallströme handelt . Hingegen gab es intensivste
        Debatten über ein Wertstoff- bzw . Verpackungsgesetz,
        obwohl die Abfallmengen, um die es dabei ging, wesent-
        lich geringer sind .
        Wir reden allein über 6 Millionen Tonnen gemischte
        gewerbliche Siedlungsabfälle, die jedes Jahr anfallen,
        und wir reden beispielsweise über 51 Millionen Tonnen
        Bauschutt . Die Herausforderung ist: Von diesen erhebli-
        chen Mengen könnten deutlich mehr stofflich wiederver-
        wertet, also recycelt werden . Beim gemischten Gewer-
        beabfall geht heute der größte Teil mehr oder weniger
        direkt in die Verbrennung . Anteilsmäßig sind das nach
        aktuelleren Untersuchungen rund 90 Prozent . Nur rund
        7 Prozent wurden „stofflich verwertet“, also recycelt.
        Auch bei den Bau- und Abbruchabfällen, also den Bau-
        stellenabfällen, bestehen Potenziale .
        Wir wollen, dass möglichst viele Abfälle stofflich
        verwertet werden . Unser Ziel ist es, die Stoffkreisläufe
        zu schließen und die Kreislaufwirtschaft weiter voran-
        zubringen . Die Wertstoffe, die in den großen Mengen
        des Gewerbeabfalls liegen, müssen herausgetrennt und
        recycelt werden . Um diese Ziele zu erreichen, werden für
        das Gewerbe Regelungen zur Abfalltrennung geschaffen .
        Für die gemischten Abfälle gibt es eine Vorbehandlungs-
        pflicht. Dazu kommen anspruchsvollere Quoten bei der
        Vorbehandlung für Sortierung und Recycling . Bei den
        gewerblichen Siedlungsabfällen sieht das in der Praxis
        so aus, dass jeder Gewerbetreibende grundsätzlich ver-
        pflichtet ist, seinen Abfall zu trennen und einer Aufbe-
        reitung bzw . dem Recycling zuzuführen . Die Abfall-
        trennung betrifft zusätzlich zu Papier und Pappe, Glas,
        Kunststoffe und Metall im Wesentlichen nun auch Holz,
        Textilien sowie Bioabfälle .
        Klar ist, dass nicht jedes Unternehmen in der Lage
        ist, in so viele Fraktionen zu trennen . Darum begrüße ich
        sehr, dass gerade für Kleinunternehmen Ausnahmen ge-
        schaffen wurden . Wem es technisch nicht möglich oder
        wem es wirtschaftlich nicht zumutbar ist, seinen Abfall
        wie dargestellt zu trennen, der ist von der Trennpflicht
        befreit . Ähnliches gilt für den Architekten oder den
        Rechtsanwalt . Hier gilt eine entsprechende Kleinmen-
        genregelung, die ihn vom Trennen seiner Abfälle befreit .
        Gleichwohl: Auch der Kleinunternehmer und jeder, der
        nicht trennen muss, muss seinen Abfall grundsätzlich ei-
        ner Vorbehandlungsanlage zuführen . Ich begrüße zudem
        die Regelung, wonach einem Unternehmen mit einer
        Trennung von 90 Prozent seines Abfalls die Vorbehand-
        lungspflicht für die restlichen 10 Prozent erlassen wird.
        Mit der vorgelegten Novelle zur Gewerbeabfallver-
        ordnung machen wir einen wesentlichen Schritt in Rich-
        tung Nachhaltigkeit . Weniger Abfälle als bisher werden
        verbrannt, mehr Abfälle als bisher werden recycelt . Mehr
        Wertstoffe als bisher werden den Abfällen entnommen,
        mehr Ressourcen werden geschont . Stoffkreisläufe wer-
        den geschlossen . Unser Ziel war es, eine Gewerbeabfall-
        verordnung auf den Weg zu bringen, die aus Umwelt-
        schutzgesichtspunkten genauso wie aus ökonomischen
        Gesichtspunkten Sinn macht . Uns war es besonders
        wichtig, möglichst unbürokratische und praxisnahe Lö-
        sungen zu finden. Ich denke, dass uns dies gelungen ist.
        Michael Thews (SPD): Für die meisten Akteure der
        Kreislaufwirtschaft, auch für uns Berichterstatter, lag das
        Hauptaugenmerk in dieser Legislaturperiode auf der Ein-
        führung eines Wertstoffgesetzes . Um dieses Gesetz wur-
        de ausgesprochen kontrovers diskutiert, insbesondere um
        die Frage der Organisationsverantwortung . Letztlich ist
        es an der Unvereinbarkeit der Positionen gescheitert .
        Laut Gutachten für das Planspiel zur Einführung einer
        Wertstofftonne sollten durch eine gemeinsame Wertstoff-
        sammlung in den privaten Haushalten 570 000 Tonnen
        Abfall pro Jahr mehr gesammelt werden . Schaut man
        sich dagegen die weitaus größeren Sammelmengen aus
        gemischten gewerblichen Siedlungs- sowie Bau- und
        Abbruchabfällen an, wundert man sich etwas, dass dieser
        Abfallstrom und die dazugehörige Gewerbeabfallverord-
        nung bisher vergleichsweise leise in der Öffentlichkeit
        behandelt worden ist .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201621020
        (A) (C)
        (B) (D)
        In Deutschland fallen jährlich rund 6 Millionen Ton-
        nen gemischte Gewerbeabfälle an, und zwar in einem
        breiten Spektrum an Betrieben; denn die kleine Kneipe
        in der Altstadt ist von der Verordnung genauso betroffen
        wie der Industriebetrieb mit einer eigenen Stabsstelle für
        Abfall und 1 000 Mitarbeitern . Die Verordnung wird cir-
        ca 3,6 Millionen Betriebe in Deutschland betreffen, da-
        von 3,5 Millionen Klein- und Kleinstbetriebe .
        Die Erfolge der bisherigen Trennungs- und Recy-
        clingpraxis sind trotz jetzt schon geltendem Getrennthal-
        tungsgebot allerdings eher mau . Es wurden nur 45 Pro-
        zent der gemischten gewerblichen Siedlungsabfälle in
        Sortieranlagen aufbereitet; 50 Prozent gingen direkt in
        die Verbrennung . Andere Studien kommen in ihren Be-
        rechnungen sogar dazu, dass insgesamt 90 Prozent des
        gemischten gewerblichen Siedlungsabfalles entweder
        direkt oder nach Sortierung verbrannt bzw . energetisch
        verwertet werden . Letztendlich wurden nur rund 7 Pro-
        zent der insgesamt anfallenden gemischten Gewerbeab-
        fälle stofflich verwertet. Dieses brachliegende Potenzial
        müssen wir dringend nutzen!
        Angesichts endlicher natürlicher Rohstoffe können
        wir es uns als Gesellschaft nicht leisten, auf diese gro-
        ßen Mengen an Sekundärrohstoffen zu verzichten . Durch
        das Recycling von Abfällen lassen sich im Vergleich zur
        Gewinnung von primären Rohstoffen große Mengen an
        Energie, CO2 und Rohstoffen einsparen – besonders be-
        deutsam ist hier das Recycling von Metallen wie etwa
        Stahl oder Kupfer . Dazu kommt, dass die Gewinnung
        von Primärrohstoffen oft mit schwerwiegenden ökolo-
        gischen und manchmal auch sozialen Folgen verbunden
        ist . Darüber hinaus müssen wir uns als rohstoffarmes
        Land unabhängiger von Rohstoffimporten machen. Die
        Stärkung und der Ausbau der Kreislaufwirtschaft, um
        die Wirtschafts- und Produktionsweisen in Deutschland
        schrittweise von Primärrohstoffen unabhängiger zu ma-
        chen, finden sich auch als eine von vier Leitideen im
        Deutschen Ressourceneffizienzprogramm „ProgRess II“
        wieder . Auch dürfen wir die Kreislaufwirtschaft als Job-
        motor nicht unterschätzen . Neue Arbeitsplätze entstehen
        in den Unternehmen der Kreislaufwirtschaft selbst, aber
        auch im deutschen Maschinenbau .
        Deutschland ist Vorreiter bei der Abfalltrennung und
        beim Recycling . Dies zeigt sich jährlich auf der welt-
        weit größten Messe für Kreislaufwirtschaft und Entsor-
        gung, der IFAT, in München . Deutschland ist aber auch
        Technologieführer bei den Verfahren für Trennung und
        Recycling. Wenn wir mehr stoffliches Recycling wollen,
        müssen wir auch sicherstellen, dass in entsprechende
        moderne Anlagentechnik investiert wird . Weltweit tun
        das inzwischen viele Länder; sie steigen aktiver in diese
        Bereiche ein, schauen nach Deutschland und orientieren
        sich an uns . Schon allein deswegen müssen wir hier vo-
        rangehen und dürfen uns nicht auf unseren Lorbeeren
        ausruhen . Ich bin überzeugt, dass die in dieser Novelle
        vorgegebene Recyclingquote für Betreiber von Vorbe-
        handlungsanlagen von mindestens 30 Masseprozent bei
        den Gemischen, die in einer Vorbehandlungsanlage an-
        kommen, realistisch ist und gleichzeitig für einen Inves-
        titionsschub sorgen wird . Diese Quote wird spätestens
        Ende 2020 evaluiert und gegebenenfalls an den bis dahin
        weiterentwickelten Stand der Technik angepasst .
        Es geht bei der Gewerbeabfallverordnung nicht nur
        um die zu geringe Nutzung des Potenzials dieses gro-
        ßen Stoffstroms. Ausgehend von der fünfstufigen Ab-
        fallhierarchie der europäischen Abfallrahmenrichtlinie
        sind Änderungen des untergesetzlichen Regelwerks in
        Deutschland notwendig . Nach bisherigem Recht sollte
        vor allem die Ablagerung gemischter gewerblicher Sied-
        lungsabfälle sowie gemischter Bau- und Abbruchabfälle
        auf „Billigdeponien“ beendet und „Scheinverwertung“
        verhindert werden . Die noch geltende Gewerbeabfall-
        verordnung aus dem Jahr 2002 ging noch von einem
        grundsätzlichen Gleichrang zwischen stofflicher und
        energetischer Verwertung aus . Ein großer Teil der ge-
        mischten Gewerbeabfälle und auch bestimmter Bau- und
        Abbruchabfälle ging, wie erwähnt, direkt – ohne Vorbe-
        handlung – in die energetische Verwertung . Vollzugs-
        probleme und ein hoher Kontrollaufwand bremsten die
        Verordnung bisher aus . Deshalb setzt die Novelle auch
        an der Vollziehbarkeit an . Sie sieht für die Gewerbebe-
        triebe vor, dass diese die Einhaltung ihrer Pflichten oder
        die Gründe für Ausnahmeregelungen dokumentieren und
        auf Verlangen der Behörde auch nachweisen müssen . Sie
        setzt aber gleichzeitig auf einen Anreiz für die Gewer-
        bebetriebe . Erfüllt ein Abfallerzeuger in einem Jahr eine
        Getrenntsammelquote von mindestens 90 Prozent, dann
        ist er im darauffolgenden Jahr von der Pflicht zur Vorbe-
        handlung seiner Gemische befreit . Eine aus meiner Sicht
        sehr sinnvolle Neuerung!
        Ich begrüße die neue Gewerbeabfallverordnung aus-
        drücklich . Scheinbar geht es vielen so; denn Kritik gab
        und gibt es zwar bei einzelnen Punkten, grundsätzliche
        Ablehnung jedoch nicht . Unsere Hauptforderungen nach
        Umsetzung der fünfstufigen Abfallhierarchie und der
        Beibehaltung der kommunalen Restmülltonne wurden
        erfüllt . Durch anspruchsvollere Vorgaben zur Sortierung
        und höhere Recyclingquoten können künftig deutlich
        mehr Abfälle dem Recycling zugeführt werden .
        Dass die Novelle zur Gewerbeabfallverordnung so
        breite Zustimmung findet, liegt sicherlich auch daran,
        dass das Bundesministerium für Umwelt und Bau bereits
        vor Kabinettsbefassung mit allen Beteiligten intensiv dis-
        kutiert und viele der Vorschläge und Änderungswünsche
        übernommen hat . So wurden zum Beispiel auf Anregung
        der Entsorgungswirtschaft die Mindestanforderungen an
        die Vorbehandlungsanlagen gesenkt . Des Weiteren wur-
        den Anregungen der Bauwirtschaft zur Getrennthaltung
        von Bauabfällen und der Bundesländer zur Präzisierung
        von Definitionen wie „technische Unmöglichkeit“ und
        „wirtschaftliche Unzumutbarkeit“, berücksichtigt .
        Sicherlich werden wir zukünftig prüfen müssen, ob
        wir noch mehr erreichen können . Ich bin aber davon
        überzeugt, dass die Novelle das Recycling im gewerbli-
        chen Bereich stärkt, somit die Kreislaufwirtschaft fördert
        und die Belange von Gewerbe und Industrie mit den Be-
        langen des Umwelt- und Ressourcenschutzes zu einem
        sachgerechten Ausgleich bringt .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 21021
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        Ralph Lenkert (DIE LINKE): Fast 6 Millionen Ton-
        nen sogenannte gemischt anfallende – sprich: unsortier-
        te – Gewerbeabfälle werden jedes Jahr einfach verbrannt,
        obwohl in ihnen jede Menge recycelbare Wertstoffe ste-
        cken . Alles, was nicht recycelt wird, muss über den Pri-
        märrohstoffmarkt energie- und ressourcenaufwendig neu
        geschaffen werden .
        Zusätzlich zu den 6 Millionen Tonnen Gewerbeab-
        fällen kommen jährlich etwa 200 Millionen Tonnen
        Bau- und Abbruchabfälle . Ein Viertel davon, also rund
        50 Millionen Tonnen, ist Bauschutt . Würde man diesen
        vernünftig recyceln, könnte er fast komplett für neue
        Bauten verwendet werden .
        Müll zu sortieren, ist die Grundlage für Recycling .
        Wir freuen uns, dass die Bundesregierung das nun auch
        erkannt hat und nach 13 Jahren endlich die Gewerbeab-
        fallverordnung überarbeitet . Leider tut sie das nur halb-
        herzig . Müllsortierung beginnt beim Müllerzeuger, dem
        nunmehr zwar vorgeschrieben werden soll, dass er Müll
        zu trennen hat . Leider verpasst es die Bundesregierung,
        konkrete Quoten festzulegen . Beim normalen Haushalts-
        müll gibt es diese Quoten . Warum macht die Bundesre-
        gierung beim Gewerbemüll wieder nur halbe Sachen?
        Des Weiteren gibt es deutlich zu viele Ausnahmen von
        der Sortierpflicht. Die Erklärungen zu genutzten Ausnah-
        men sind nicht einmal verpflichtend vorzulegen, sondern
        nur auf Nachfrage der Behörde . Wir alle kennen die De-
        fizite im Vollzug des Umweltrechts, wegen des Personal-
        mangels . Die vielgepriesene schwarze Haushaltsnull hat
        über die Jahre dafür gesorgt, dass Vollzugsbehörden im
        Umweltrecht oft zu wenig Personal haben, um den Ge-
        setzesvollzug gewährleisten zu können . Die Linke for-
        dert deshalb, dass zu jeder Änderung im Umweltrecht ein
        Konzept vorgelegt wird, wie dies in der Praxis auch um-
        gesetzt und kontrolliert wird . Sonst ist Missbrauch Tür
        und Tor geöffnet . Wir fordern: Wenn ein Unternehmen
        Abfallfraktionen nicht getrennt sammeln kann, sind die
        Unterlagen der Behörde unaufgefordert vorzulegen .
        Die Verordnung war eine Chance, das aktuelle Pro-
        blem bei HBCD-haltigen Dämmstoffen bundeseinheit-
        lich zu lösen .
        Seitdem die mit dem Brandhemmer Hexabromcy-
        clododecan (HBCD) versehenen Dämmstoffplatten als
        Sondermüll deklariert wurden, stapeln sie sich in Zwi-
        schenlagern bei den Abfallentsorgern oder bei den Ab-
        bruchfirmen. Es gibt nur sehr wenige Verbrennungs-
        anlagen, in denen die Platten als reine Abfallfraktion
        verbrannt werden können . Die Sortierung ist aufwendig
        und der Transport teuer . Anstatt die Platten sortenrein von
        den gemischten Bauabfällen zu trennen und dann einen
        quasi nicht existierenden Entsorgungspfad zu wählen,
        sollten sie gemischten Bauabfällen einfach wie bisher
        beigemischt werden . Denn als Beimischung ist die Ver-
        brennung unproblematisch . So würde einerseits das ent-
        haltene HBCD unschädlich gemacht und außerdem we-
        niger Zusatzverbrennung nötig werden . Das thüringische
        Umweltministerium beispielsweise hat das erkannt und
        deswegen vorgeschlagen, alles beim Alten zu lassen . Die
        Bundesregierung hätte hier schleunigst Rechtssicherheit
        schaffen können . Mit einem Ausnahmetatbestand in der
        Gewerbeabfallverordnung wäre das möglich gewesen .
        Diese Chance hat die Bundesregierung in ihrem Entwurf
        leider verpasst .
        Die Linke regt an, den vorliegenden Verordnungsent-
        wurf weiter zu qualifizieren. Er geht zwar grundsätzlich
        in die richtige Richtung, bleibt aber hinter seinen Mög-
        lichkeiten zurück . Das ist schade, denn bei aller guten In-
        tention zur Einhaltung der europäischen Abfallhierarchie
        erwarten wir wesentlich mehr Konsequenz und vor allem
        mehr Kompetenz für die Vollzugsbehörden, ansonsten
        wird sich in puncto Ressourcenschutz in der Praxis nicht
        viel verändern .
        Peter Meiwald (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
        bestehende Gewerbeabfallverordnung ist mittlerweile
        hoffnungslos veraltet und berücksichtigt kaum ökologi-
        sche Ziele . Mit der Einführung der Abfallrahmenrichtlinie
        und der Umsetzung im Kreislaufwirtschaftsgesetz 2012
        entspricht die gültige Gewerbeabfallverordnung auch nur
        noch sehr bedingt der übergeordneten Rechtslage und der
        darin enthaltenen Abfallhierarchie . Die bisherige Gewer-
        beabfallverordnung lässt minderwertige Verwertung,
        also Verbrennung und Verfüllung, zu .
        So war es den Betrieben – anders als den Bürgerinnen
        und Bürgern in Privathaushalten – noch erlaubt, nicht
        getrennt zu sammeln, obwohl das die Voraussetzung für
        jegliche hochwertige werkstoffliche Verwertung ist. Die
        Rechtslage führt dazu, dass von den jährlich anfallenden
        gemischten Gewerbeabfällen mehr als 90 Prozent ver-
        brannt und nur knapp 7 Prozent werkstofflich recycelt
        werden . Mit der Verbrennung von Altpapier, Kunststof-
        fen und anderen werthaltigen Abfällen als Ersatzbrenn-
        stoff gehen wertvolle Ressourcen verloren, die an anderer
        Stelle aufwendig erzeugt werden müssen . Diese Situati-
        on widerspricht grundlegend dem Gedanken der Nach-
        haltigkeit und dem Konzept des Ressourcenschutzes .
        Laut einer Studie des Umweltbundesamtes fallen in
        Deutschland im Gewerbesektor pro Jahr 3,45 Millionen
        Tonnen gemischte gewerbliche Siedlungsabfälle und
        rund 2,39 Millionen Tonnen Verpackungsgemische an .
        Wir sprechen also über rund 6 Millionen Tonnen Gewer-
        beabfälle . Angesichts dieser Menge an Gewerbeabfällen
        ist es höchste Zeit, dass die Gewerbeabfallverordnung
        novelliert und den ökologischen Herausforderungen an-
        gepasst wird .
        Was bei den Bürgerinnen und Bürgern hinsichtlich
        Getrennthaltung und Sortierung seit Jahren üblich ist,
        kann doch für das Gewerbe nicht unmöglich sein . Es
        besteht kein logischer Grund, warum Gewerbebetriebe
        Bioabfälle, Plastik, Glas, Papier und Pappe, um nur ei-
        nige wenige Abfallfraktionen zu nennen, nicht getrennt
        sammeln könnten .
        Die Kreislaufwirtschaft ist daher auch im Bereich
        der Gewerbeabfälle weiterzuentwickeln und muss dazu
        das zusätzliche Recyclingpotenzial von 2,4 Millionen
        Tonnen pro Jahr aus den Gewerbeabfallsammlungen für
        werkstoffliches Recycling erschließen.
        Unserer Auffassung nach geht der Entwurf für die
        neue Gewerbeabfallverordnung zwar in die richtige
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201621022
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        Richtung, allerdings fehlen in der Verordnung Aussagen,
        die der Vorbereitung zur Wiederverwendung und dem
        werkstofflichen Recycling einen deutlichen Vorrang ge-
        genüber der energetischen Verwertung einräumen . Zu-
        mindest die Ausnahmen bezüglich der Sortierquote hät-
        ten abgebaut und die Unterschreitung der Sortierquote
        auf bis zu 10 Prozent auf bis zu zwei Monaten des Kalen-
        derjahres beschränkt werden müssen . Auch eigenständi-
        ge und deutlich ambitioniertere Recyclingquoten für die
        verschiedenen Abfallfraktionen wären wünschenswert
        gewesen .
        Am besten wäre schon heute festzulegen, dass spätes-
        tens ab 2025 dynamische und selbstlernende Recycling-
        quoten gelten . Dann würde sich die Höhe der zu erfül-
        lenden Recyclingquoten für die Folgejahre automatisch
        an den besten Recyclingergebnissen der Vorjahre orien-
        tieren – Top-Runner-Mechanismus . Ohne politische In-
        tervention würden sich die Quoten selbstständig an den
        technischen Fortschritt in der Recyclingbranche anpas-
        sen und so noch zusätzlich als ein Förderprogramm für
        weitere Innovationen in der Recyclingbranche wirken .
        Zu all diesen konkreten Verbesserungsvorschlägen
        haben wir Grüne einen Entschließungsantrag in den Um-
        weltausschuss eingebracht, um aus einer notwendigen
        eine gute, angemessene Gewerbeabfallverordnung zu
        machen . Diesen Anspruch müssen wir als Parlamentarier
        an uns selber schon haben . Deswegen werden wir uns
        heute hier zu dem vorliegenden Entwurf enthalten .
        Anlage 20
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Antrags der Fraktionen der
        CDU/CSU und SPD: Trilaterale Partnerschaften
        in der ASEAN-Region stärken – Deutsches Know-
        how nutzen (Tagesordnungspunkt 22)
        Jürgen Klimke (CDU/CSU): Die hohen Flüchtlings-
        zahlen in Europa, unter anderem ausgelöst durch den
        syrischen Bürgerkrieg und den Migrationsdruck in vie-
        len afrikanischen Staaten, erfordern von der deutschen
        Entwicklungspolitik große Anstrengungen und gezieltes
        Handeln . Auch im Jahr 2017 wird das Bundesministe-
        rium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-
        lung (BMZ) einen starken Fokus auf unseren Nachbar-
        kontinent Afrika legen . Bundesentwicklungsminister
        Dr . Gerd Müller sprach in diesem Zusammenhang bereits
        von einem „Marshallplan für Afrika“ .
        Der heute in erster Lesung vorliegende Antrag „Tri-
        laterale Partnerschaften in der ASEAN-Region stärken“
        hat – wie man erkennen kann – mit Asien einen anderen
        regionalen Schwerpunkt . Dies ist kein Widerspruch zur
        aktuellen Strategie der Bundesregierung, sondern wie im
        Matthäus-Evangelium, Kapitel 23, Vers 23, ganzheitlich
        gedacht: „Man muss das eine tun, ohne das andere zu
        lassen .“
        Die ASEAN-Region mit ihren zehn Mitgliedstaaten
        Brunei, Kambodscha, Indonesien, Laos, Malaysia, Myan-
        mar, Philippinen, Singapur, Thailand und Vietnam ist ein
        sehr heterogenes Gebilde mit großen Entwicklungsunter-
        schieden . Über 600 Millionen Menschen leben in diesen
        Ländern, die mehrheitlich Partnerländer der bilateralen
        deutschen Entwicklungszusammenarbeit sind .
        Damit Deutschland auch in den kommenden Jahren
        als entwicklungspolitischer Akteur in der ASEAN-Regi-
        on präsent sein kann – denn, wie eingangs von mir aus-
        geführt, wird der Fokus deutscher Entwicklungspolitik
        stärker auf dem Nahen Osten und auf Afrika liegen müs-
        sen –, ist es notwendig, dass wir unser Engagement in
        der ASEAN-Region auf ein breiteres Fundament stellen .
        Eine Möglichkeit, dieses Ziel zu verfolgen, ist der Aus-
        bau von Dreieckskooperationen . Lassen Sie mich dieses
        Entwicklungsmodell kurz einordnen:
        Trilaterale Kooperationen werden in der internationa-
        len Entwicklungszusammenarbeit als ein Bindeglied zwi-
        schen Entwicklungsländern, Schwellenländern und ent-
        wickelten Ländern genutzt . Sie eignen sich insbesondere
        für die projektbezogene Zusammenarbeit mehrerer Ak-
        teure . Die Evaluierung von Dreieckskooperationen zeigt
        aber auch, dass trilaterale Kooperationen in Abstimmung
        einen hohen Verwaltungsaufwand verursachen können .
        Dies sollte vor Nutzung des Instruments in die Erwägung
        Eingang finden. Bei der Situation in Südostasien, die der
        Antrag in erster Linie anspricht, liegen jedoch günstige
        Voraussetzungen für trilaterale Kooperation vor .
        Deutschland hat aktuell mit Thailand, Malaysia und
        Indonesien trilaterale Kooperationen vereinbart, die je-
        weils einen weiteren regionalen Partner einbeziehen .
        Diese Maßnahmen fördern nicht nur lokale Entwicklun-
        gen, sondern tragen auch zum Harmonisierungs- und In-
        tegrationsprozess innerhalb der ASEAN-Region bei .
        Und die Grundlagen für den Ausbau dieses Entwick-
        lungsmodells sind vorhanden; denn viele ASEAN-Staa-
        ten verfügen über entwicklungspolitische Institutionen,
        die sich im Wesentlichen auf die ärmeren Nachbarn aus-
        richten .
        Doch obwohl Dreieckskooperationen für alle Partner
        Vorteile hätten, wird dieses Instrument in der Praxis bis-
        her nur wenig eingesetzt . Mit dem vorliegenden Antrag
        wollen die Entwicklungspolitiker der Koalition darauf
        hinwirken, dass die richtigen entwicklungspolitischen
        Weichenstellungen vorgenommen werden .
        Von den positiven Effekten trilateraler Kooperationen
        konnte ich mich auf meinen Besuchen entwicklungspo-
        litischer Projekte in der ASEAN-Region mehrfach selbst
        überzeugen . Ich habe nach Gesprächen mit lokalen Pro-
        jektverantwortlichen den Eindruck mitgenommen, dass
        Schwellenländer sehr am Know-how über die Förderung
        von Grenzregionen interessiert sind .
        Das Beispiel Thailand zeigt: Mit Thailands wirtschaft-
        licher und gesellschaftlicher Entwicklung der vergange-
        nen Jahrzehnte wandelte es sich zu einem Schwellenland
        und damit auch die Zusammenarbeit mit Deutschland .
        Aus der bilateralen Zusammenarbeit entwickelten sich
        seit 2009 trilaterale Kooperationen, in denen Thailand
        und Deutschland in dritten Ländern Südostasiens ge-
        meinsam Projekte in der Entwicklungszusammenarbeit
        umsetzen . Dazu gehören Initiativen im Grenzgebiet zu
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 21023
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        Laos oder Kambodscha, die positive Auswirkungen auf
        den Lebensstandard der Menschen vor Ort haben .
        Wünschenswert wäre es, wenn diese Erfolge zukünf-
        tig auch auf Regionen in der ASEAN-Region ausstrahlen
        könnten, die bisher noch nicht in trilateralen Projekten
        berücksichtigt sind . So sehe ich beispielsweise ähnliche
        Entwicklungsherausforderungen in der Grenzregion zwi-
        schen Thailand und Myanmar . Diese Region war lange
        Zeit stark vom Drogenanbau betroffen . Durch einen in-
        tensiven Strukturwandel konnte die Region in jüngerer
        Vergangenheit zu einem Teeanbaugebiet entwickelt und
        einige nachhaltige Ansätze im Bereich Tourismus etab-
        liert werden . Aber: Die Reduzierung des Drogenanbaus
        in den letzten Jahren konnte nicht verhindern, dass sich
        die Region in jüngerer Vergangenheit zu einem großen
        Handelsplatz für synthetische Drogen entwickelt hat, die
        von dort in ganz Südostasien verbreitet werden . Dies hat
        auch Auswirkungen auf die Drogenmärkte in Europa und
        Nordamerika . Neue trilaterale Projekte in dieser Region
        könnten aus meiner Sicht ein Beitrag Deutschlands sein,
        lokale und bilateral erzielte Verbesserungen aufzugreifen
        und mithilfe eines breiteren Bündnisses fortzuführen .
        Der Blick auf die Zahlen verdeutlicht es: Trilatera-
        le Kooperationen im Gebiet der ASEAN-Staaten sind
        durchaus ausbaufähig . Das vereinbarte Gesamtauftrags-
        volumen dieser Projekte zwischen Deutschland und
        Thailand beträgt 8,3 Millionen Euro und läuft bis De-
        zember 2017 . Thailand ist damit der wichtigste Partner
        bei dieser Art Umsetzungsvorhaben . Zum Vergleich:
        Mit Malaysia ist ein Gesamtvolumen von rund 3 Milli-
        onen Euro vereinbart, mit Indonesien ein Volumen von
        700 000 Euro .
        Lassen Sie mich deshalb nochmals eine Lanze für die-
        ses Modell der Entwicklungszusammenarbeit brechen:
        Dreieckskooperationen sind in vielen Sektoren realisier-
        bar und stellen das deutsche Entwicklungsengagement
        auf ein breiteres Fundament . Der vorliegende Antrag soll
        dieses Ansinnen unterstützen und Deutschland in einer
        der dynamischsten Wirtschaftsregionen der Welt am Ball
        halten . Deshalb sollen folgende Aspekte im Fokus des
        politischen Handelns stehen:
        – Die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten von trilateralen
        Kooperation in der ASEAN-Region sollen geprüft und
        die Effizienz zukünftiger Maßnahmen gesteigert wer-
        den .
        – Bestehende Dreieckskooperationen sollen fortgesetzt
        werden, wenn dadurch Synergieeffekte zu erzielen
        sind .
        – Dreieckskooperationen sollen verstärkt als Instrument
        genutzt werden, um international anerkannte Stan-
        dards in Projekten der Entwicklungszusammenarbeit
        einzuhalten .
        – Neue Felder für trilaterale Kooperation sollen gefun-
        den werden, die insbesondere im Hinblick auf die Um-
        setzung der UN-Nachhaltigkeitsziele (SDG) sinnvoll
        sind .
        – Die Privatwirtschaft soll bei zukünftigen Dreiecks-
        kooperationen verstärkt miteinbezogen werden .
        – Es sollen gezielt nachhaltige Projekte initiiert werden,
        die in Sektoren liegen, die bisher noch nicht im Be-
        reich der Dreieckskooperationen vertreten sind .
        Und:
        – Das gewonnene Fachwissen aus Dreieckskooperation
        soll für Dritte nutzbar und zugänglich sein . Das heißt:
        Evaluierung durch das DEval soll ein höherer Stellen-
        wert zukommen .
        Mit dem heute vorliegenden Antrag greift die Koaliti-
        on das 2015 vorgestellte Asien-Papier des BMZ auf und
        geht den darin vorgezeichneten Weg konsequent weiter .
        In dem Positionspapier mit dem Titel „Asiens Dynamik
        nutzen“ heißt es:
        Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit mit
        Asien wird in den kommenden Jahren mit den Part-
        nerländern, in multilateralen Organisationen wie
        der Weltbank, der asiatischen Entwicklungsbank
        (ADB), der Europäischen Union … in der Zusam-
        menarbeit mit regionalen Zusammenschlüssen wie
        der … ASEAN … die folgenden Chancen und He-
        rausforderungen adressieren:
        den verstärkten Dialog mit den globalen Entwicklungs-
        partnern, die soziale und ökologische Gestaltung der asi-
        atischen Marktwirtschaften, den Schutz von Klima und
        Biodiversität sowie die Bekämpfung von Konflikt- und
        Fluchtursachen .
        Deshalb lassen Sie uns durch die Nutzung deutschen
        Know-hows bei der Umsetzung trilateraler Partnerschaf-
        ten die Vorhaben unserer Entwicklungszusammenarbeit
        in der ASEAN-Region zu einem Erfolg machen .
        Tobias Zech (CDU/CSU): Über die Länder der
        ASEAN-Region – Brunei, Indonesien, Kambodscha,
        Laos, Malaysia, Myanmar, Philippinen, Singapur, Thai-
        land und Vietnam – hören wir nicht jeden Tag in den Me-
        dien . Obwohl die Mitgliedstaaten seit der Gründung der
        ASEAN-Wirtschaftsgemeinschaft im Dezember 2015
        starke wirtschaftliche und politische Partner der EU –
        und damit auch Deutschlands – sind .
        Zwar befindet sich die Region nicht in unserer direk-
        ten Nachbarschaft, trotzdem dürfen wir sie nicht ver-
        nachlässigen und ihre Rolle unterschätzen .
        Wir kümmern uns um die Auseinandersetzungen im
        Nahen Osten – das ist gut so –, aber gleichzeitig müssen
        wir in der Lage sein, andere Weltregionen nicht aus den
        Augen zu verlieren . Wir müssen alle größeren Krisen un-
        ter Beobachtung halten . Die Bemühungen der Bundesre-
        gierung in den letzten Jahren zeigen den politischen Wil-
        len zu einem verantwortungsvollen Krisenmanagement .
        Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit ist auf der
        ganzen Welt mittlerweile ein Begriff, eine Marke, gewor-
        den . Wir haben in den vergangenen Jahrzehnten gezeigt,
        was deutsches Engagement bewirken kann .
        Das Instrument, das wir in unserem Antrag fordern,
        ist in der Entwicklungszusammenarbeit bereits seit den
        1980er-Jahren bekannt . Die trilaterale Kooperation ist
        eine erfolgreiche und nachhaltige Methode, um Hilfe zur
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201621024
        (A) (C)
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        Selbsthilfe zu fördern, in Bereichen wie der beruflichen
        Bildung, dem Klimaschutz, der ländlichen Entwicklung,
        der Corporate Social Responsibility – generell zur Unter-
        stützung der auf Hilfe angewiesenen Länder .
        Deutschland unterstützt zusammen mit einem wirt-
        schaftlich stärkeren Land in der Region einen Staat, der
        wirtschaftlich schwächer ist . Diese Zusammenarbeit
        beschleunigt zeitgleich die wirtschaftliche Entwicklung
        und die Integration in der Region . Die wirtschaftliche und
        politische Stabilität nutzt nicht nur den fortgeschrittenen
        Ländern der ASEAN-Region, sondern auch Europa .
        Es gibt bereits gute Beispiele der Kooperation die-
        ser Art: Deutschland und Malaysia führen seit 2011 mit
        Kambodscha und Timor-Leste gemeinsame Maßnahmen
        durch . Aber auch die indonesisch-deutsche trilaterale Zu-
        sammenarbeit mit Myanmar zeigte gute Ergebnisse .
        Die derzeitige Unsicherheit bezüglich des Transpa-
        zifischen Handelsabkommens (TPP) seitens der Verei-
        nigten Staaten schafft ein Vakuum, von dem vor allem
        China profitiert. Das Land nutzt die aktuelle Situation,
        sein Einfluss wird immer größer. Für fast alle Länder der
        ASEAN-Region ist China der wichtigste Handelspartner .
        Eine andere Partnerschaft, das Regional Compre-
        hensive Economic Partnership (RCEP), rückt so in den
        Vordergrund . Auch im Hinblick auf den Streit um Inseln
        im Südchinesischen Meer droht eine Eskalation mit Rüs-
        tungswettlauf und Veränderung des Status quo . Infolge
        dieser Ereignisse fürchtet die Mehrheit der asiatischen
        Länder ein zunehmendes strategisches Ungleichgewicht
        in der Region .
        Die Europäische Union muss sich ihrer Rolle bewusst
        sein . Sie muss sich mit den zur Verfügung stehenden Mit-
        teln dafür einsetzen, in der Region weiterhin präsent zu
        bleiben . Die Stabilität muss sichergestellt werden – wir
        können die Länder nicht in Unsicherheit lassen . Wir müs-
        sen sie unterstützen, damit sie sich selbst helfen können .
        Deutschland geht mit den Dreieckskooperationen mit
        einem guten Beispiel voran . Wir übernehmen mehr Ver-
        antwortung in der Welt . Aber wir müssen auch die ande-
        ren Mitgliedstaaten der EU einbeziehen .
        Die Europäische Union braucht eine gemeinsame Vi-
        sion, wir müssen uns neu aufstellen . Auf neue Herausfor-
        derungen müssen wir neue Antworten geben .
        Unsere gemeinsame Außenpolitik muss unter den
        Mitgliedsländern der EU abgestimmt werden . Wir dür-
        fen nicht so lange warten, bis in dem Vakuum, das die
        Vereinigten Staaten mit ihrer Außenpolitik in der Region
        hinterlassen, kein Platz mehr für Europa, für Deutschland
        bleibt . Wenn wir uns jetzt zurückziehen und die schwä-
        cheren Länder der Region nicht unterstützen, werden wir
        später nicht mehr die Möglichkeit haben, dies nachzu-
        holen .
        Die Entwicklung der Region muss vorangetrieben
        werden . Die strategische Partnerschaft mit den Ländern
        muss gewährleistet werden .
        Um nachhaltige Ergebnisse zu erreichen, lehrt diese
        Konstellation die Länder, eigene Verantwortung zu über-
        nehmen und ihr Schicksaal selber in die Hand zu nehmen .
        Deutschland leistet eine hervorragende Arbeit; die
        muss zukünftig unterstützt werden .
        Stefan Rebmann (SPD): Im vergangenen Jahr wur-
        de die Wirtschaftsgemeinschaft ASEAN Economic Com-
        munity (AEC) gegründet . Rund 630 Millionen Menschen
        leben in den Mitgliedstaaten der Association of South-
        East Asian Nations (ASEAN) . Mit rund 2,3 Billionen
        US-Dollar an erwirtschaftetem Bruttoinlandsprodukt
        (BIP) pro Jahr reichen die ASEAN-Mitgliedstaaten fast
        an die Wirtschaftsleistung Großbritanniens, der sechst-
        größten Volkswirtschaft der Welt, heran . Prognosen ge-
        hen davon aus, dass sich das Wirtschaftswachstum der
        ASEAN bis 2030 auf 10 Billionen US-Dollar vergrößert .
        Aber nicht nur das beeindruckende Wirtschaftswachs-
        tum macht die ASEAN zu einer wichtigen Partnerin im
        asiatischen Raum . Als Staatenbündnis hat sie sich den
        Menschenrechten sowie den Grundsätzen von Demo-
        kratie und Rechtsstaatlichkeit verschrieben (ASEAN
        Charta 2007) . Auch wenn sich die Integrationsprozesse
        sehr unterscheiden, wird die ASEAN oft mit der Europä-
        ischen Union verglichen .
        Unter ihrem Dach haben sich Staaten unterschiedli-
        cher Kulturen, Religionen und Sprachen, unterschiedli-
        cher Regierungsformen und unterschiedlicher Entwick-
        lungen zusammengeschlossen . Während beispielsweise
        Singapur im Index der menschlichen Entwicklung (HDI)
        auf Platz 11 liegt, liegt Kambodscha auf Platz 143 von
        188 . Oder einfacher gesagt: Während Singapur boomt,
        leben beispielsweise in Laos immer noch 23,3 Prozent
        der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze .
        Die ASEAN-Mitgliedstaaten haben ein großes Interesse,
        dieses Development Gap zu schließen, und sind daher an
        deutschen Erfahrungen in der Entwicklungszusammen-
        arbeit interessiert . Vermehrte trilaterale Kooperationen
        im südostasiatischen Raum können ein Mittel sein, Ent-
        wicklung zu fördern und die Unterschiede zwischen den
        Staaten zu verringern .
        Eine trilaterale Partnerschaft besteht aus einem tradi-
        tionellen Geberland, einem Schwellenland als weiterem
        Geberland und einem Entwicklungsland als Nehmerland .
        Aus dieser Konstellation ergibt sich eine besondere Form
        des Wissenstransfers, und zwar für alle Beteiligten . Die
        trilaterale Partnerschaft bricht somit die traditionellen
        Geber-Nehmer-Strukturen auf und ermöglicht ein ge-
        meinschaftliches Arbeiten auf Augenhöhe . Das Instru-
        ment wird in der deutschen Entwicklungszusammenar-
        beit bereits seit circa 30 Jahren eingesetzt und hat sich
        bewährt . Deshalb ist es wünschenswert, dass bestehen-
        de Dreieckskooperationen mit ASEAN-Mitgliedstaaten
        weiter ausgebaut werden und, wo noch nicht vorhanden,
        neue Kooperationen aufgebaut werden .
        Eine besondere Herausforderung, die unter anderem
        aufgrund der großen wirtschaftlichen Unterschiede zwi-
        schen den ASEAN-Mitgliedstaaten besteht, sind men-
        schenunwürdige Arbeitsbedingungen und Menschen-
        rechtsverletzungen . So werden immer wieder Fälle von
        Zwangsarbeit auf thailändischen Fischfangkuttern be-
        kannt . Daher ist bei Maßnahmen der trilateralen Partner-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 21025
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        schaft darauf zu achten, dass Menschenrechts-, Sozial-
        und Umweltstandards eingehalten und gefördert werden .
        Durch den Ausbau der trilateralen Partnerschaften im
        südostasiatischen Raum werden Strukturen im Sinne des
        UN-Nachhaltigkeitsziels 17 – „global partnerships for
        sustainable development“ – geschaffen, die eine Ent-
        wicklungszusammenarbeit auf Augenhöhe fördern und
        die Nord-Süd- und Süd-Süd-Bindung stärken . Dieser
        Antrag ist ein erster Schritt dazu .
        Niema Movassat (DIE LINKE): In der deutschen
        Entwicklungszusammenarbeit finden trilaterale Partner-
        schaften bis heute zu wenig Beachtung . Dabei birgt die
        gezielte Zusammenarbeit zwischen einem etablierten Ge-
        berland, einem Schwellen- und einem Entwicklungsland
        großes Potenzial . Länder wie Indien oder China kämpfen
        bis heute trotz großer Entwicklungsschritte vor allem in
        ländlichen Regionen immer noch mit mangelnder Basis-
        infrastruktur . Oft fehlt es großen Teilen der Bevölkerung
        an Zugang zu Strom, fließendem Wasser und Verkehrs-
        wegen, aber auch zu Schulen und Krankenhäusern .
        Wo es im globalen Sünden am Gemeinwohl der ei-
        genen Bevölkerung interessierte Regierungen gibt,
        sammelt man die besten Erfahrungen in konkreter Ent-
        wicklungspolitik . In den Industriestaaten ausgebildete
        Top-Experten mögen hochqualifizierte Studienabschlüs-
        se vorweisen – haben aber in der Geschichte der Entwick-
        lungszusammenarbeit in zahllosen Projekten bewiesen,
        dass ihre Konzepte den harten Praxistest im Alltag vieler
        Entwicklungsländer nicht bestehen . Mit Entwicklungs-
        und Schwellenländern gemeinsam geplante, finanzierte
        und implementierte Kooperationsprojekte hingegen ha-
        ben den Vorteil, sich meist bereits in der Realität bewährt
        zu haben . Deshalb sind sie unter Umständen nicht nur
        wirkungsvoller als herkömmliche Entwicklungspartner-
        schaften, sondern tragen auch in besonderem Maße zu
        mehr „Augenhöhe“ in der Entwicklungspolitik bei, weil
        sie die eigenen Erfahrungen der Länder des Südens be-
        sonders berücksichtigen .
        Es ist deshalb richtig, dass der vorliegende Antrag
        der Regierungskoalition eine Evaluierung der bisheri-
        gen Dreieckskooperationen mit deutscher Beteiligung
        fordert . Es ist ebenso richtig, zu fordern, neue trilate-
        rale Partnerschaften in strategisch wichtigen Bereichen
        aufzunehmen, wenn sich dadurch entwicklungspoliti-
        sche Synergieeffekte erzielen lassen . Insgesamt wirkt
        der Antrag jedoch seltsam unausgegoren und beliebig
        zusammengestückelt . Der Abschnitt über Drogenanbau
        im Grenzgebiet zwischen Thailand, Laos und Myanmar
        etwa fügt sich nicht in den restlichen Text ein und lässt
        den Leser ratlos zurück, auch weil sich dieser Aspekt im
        Forderungsteil nirgends wiederfindet.
        Die ASEAN-Gruppe besteht heute aus Thailand, In-
        donesien, Malaysia, den Philippinen, Singapur, Brunei,
        Vietnam, Myanmar, Laos sowie Kambodscha und um-
        fasst rund 600 Millionen Einwohner . Ohne Zweifel sind
        die Unterschiede bei den Lebensbedingungen zwischen
        etwa Malaysia und Myanmar gewaltig, und das prädesti-
        niert die Region für trilaterale Partnerschaften . Dennoch
        stellt sich sehr die Frage, warum der vorliegende Antrag
        in weiten Teilen ausschließlich auf die ASEAN-Staaten
        fokussiert . Trilaterale Entwicklungszusammenarbeit
        kann auch in anderen Weltregionen sinnvoll sein .
        Besonders großes Potenzial hätte zum Beispiel ein
        trilaterales Abkommen im Gesundheitsbereich zwischen
        der Bundesrepublik, Kuba und den von Ebola heimge-
        suchten Ländern Afrikas . Die Notwendigkeit des Auf-
        baus kostenloser Basisgesundheitssysteme ist nach ein-
        helliger Expertenmeinung eine der Hauptlehren aus der
        Krise . Kein anderes Land weltweit hat größere Erfah-
        rungen darin, mit sehr bescheidenen finanziellen Mitteln
        so große gesundheitspolitische Erfolge zu erreichen, wie
        Kuba . 2015 erklärte die Weltgesundheitsorganisation
        (WHO) Kuba zum ersten Land der Welt, in dem es keine
        Übertragungen von HI- und Syphilisviren von Müttern
        auf Kinder mehr gibt . „Der Stopp der Übertragung ei-
        nes Virus ist einer der größten Schritte im Gesundheits-
        bereich“, erklärte WHO-Chefin Margaret Chan damals.
        Die Kindersterblichkeitsrate ist in Kuba niedriger, die
        Lebenserwartung höher als in den USA – obwohl in
        den Vereinigten Staaten pro Kopf im Durchschnitt rund
        46-mal so hohe Gesundheitskosten entstehen wie auf der
        Karibikinsel . Kubanische Ärzte helfen bereits heute in
        aller Welt und sind besonders in Entwicklungsländern
        sehr erfolgreich . Angesichts der großen gesundheits-
        politischen Ziele der SDG-Agenda und der veränder-
        ten politischen Gesamtlage sollte die Bundesregierung
        dringend auf Kuba zugehen und die Möglichkeiten einer
        Dreieckskooperation mit Ländern ohne funktionierendes
        Basisgesundheitssystem eruieren . Kein anderes Land der
        Welt hat größere Erfahrung als Kuba darin, mit geringen
        finanziellen Mitteln für möglichst viele Menschen das
        Grundrecht auf Gesundheit zu realisieren . Es wird Zeit,
        dieses Potenzial auch anderen Ländern zur Verfügung
        zu stellen – Deutschland könnte hier eine internationa-
        le Vorreiterrolle einnehmen, was vorbildliche trilaterale
        Partnerschaften angeht .
        Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Wenn ich heute als Vorsitzender der ASEAN-Par-
        lamentariergruppe in die Debatte eingreifen darf, freut
        mich das besonders . Denn ich sehe es als meine vor-
        nehmste Aufgabe an, die traditionell guten Beziehungen
        zwischen Deutschland und den ASEAN-Staaten weiter
        zu fördern . Der vorliegende Entschließungsantrag „Tri-
        laterale Partnerschaften in der ASEAN-Region stärken –
        Deutsches Know-how nutzen“ dient diesem Ziel. Er fin-
        det deshalb die volle Unterstützung meiner Fraktion und
        auch durch mich persönlich .
        Der Antrag fordert die Bundesregierung auf, insbe-
        sondere durch trilaterale Partnerschaften das Entwick-
        lungsgefälle zwischen den weniger und den höher entwi-
        ckelten ASEAN-Mitgliedstaaten zu verringern . Sie soll
        dabei auf die guten und vertrauensvollen Beziehungen zu
        den einzelnen Partnerstaaten aufbauen .
        Dieses geschieht vor dem Hintergrund sehr enger und
        vertrauensvoller Beziehungen der Bundesregierung und
        vor allem der Deutschen Gesellschaft für Internationa-
        le Zusammenarbeit (GIZ) GmbH zu den Ländern der
        ASEAN-Region . Aber auch zu anderen Ländern der Re-
        gion und dortigen Institutionen wie zum Beispiel der Asi-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201621026
        (A) (C)
        (B) (D)
        an Development Bank (ADB) und der Asian Investment
        Infrastructure Bank (AIIB) bestehen gute Beziehungen .
        Erst gestern hatten wir einen der Direktoren der AIIB im
        Finanzausschuss . Er berichtete uns vom Fortschritt bzw .
        von dem Aufbau dieser noch sehr jungen Entwicklungs-
        bank . Mit Genugtuung haben wir zur Kenntnis genom-
        men, dass der Aufbau dieser Bank zu einer unabhängigen
        und souverän agierenden Förderbank planmäßig voran-
        schreitet und die chinesische Staatsführung die Unabhän-
        gigkeit dieser Bank respektiert . Damit ist die Vorausset-
        zung geschaffen, um mit einem weiteren unabhängigen
        und an westlichen Standards ausgerichteten Akteur die
        wichtige Finanzierung von Projekten in der Region zu
        stützen .
        Der Antrag fordert, Partnerschaften zwischen den
        ASEAN-Staaten zu initiieren und zu fördern . Zweifellos
        eine wichtige Aufgabe . Die Umsetzung muss dabei in die
        Initiativen und Maßnahmen der ASEAN Economic Com-
        munity (AEC) eingebettet werden, einer Initiative, die
        zwar mit viel Elan gestartet war, um einen gemeinsamen
        Binnenmarkt zu schaffen, aber in der Umsetzung doch
        noch sehr zögerlich voranschreitet . Eine Zusammenar-
        beit unter den ASEAN-Staaten kann nur dann erfolgen,
        wenn sehr pragmatisch gemeinsame Interessen herausge-
        arbeitet werden können . Das Ziel muss sein, sektorbezo-
        gen eine intensivere strategische und partnerschaftliche
        Zusammenarbeit zwischen einzelnen ASEAN-Staaten
        und Deutschland, aber auch mit Drittländern aus der Re-
        gion wie Japan, Australien oder auch Taiwan – es würde
        den Rahmen dieser Debatte sprengen, auf die Stellung
        Taiwans zwischen den beiden Großmächten USA und
        China einzugehen – zu organisieren . Es ist kritisch ange-
        merkt worden, dass Zusammenarbeit im Sinne von „joint
        programming“ nicht unbedingt die Stärke bisheriger von
        Deutschland getragener Projekte sei – umso mehr ist der
        vorliegende Antrag zu unterstützen .
        In der partnerschaftlichen Zusammenarbeit macht es
        Sinn, sich zu konzentrieren, Schwerpunkte zu setzen . Ich
        will hier drei Themen ansprechen, die besondere Auf-
        merksamkeit verdienen:
        Erstens . Bezüglich Rechtsstaatlichkeit muss und soll
        sich Deutschland eindeutig verhalten: Menschenrechts-
        verletzungen und fehlende Rechtsstaatlichkeit müssen
        klar benannt werden . Ob bei Menschenrechtsverletzun-
        gen gegenüber den Rohingha in Myanmar, der fehlenden
        Rechtsstaatlichkeit der Militärregierung in Thailand, der
        autoritären Führung durch Hun Sen in Kambodscha, der
        Korruption bis hin in die Regierungsspitze in Malaysia,
        der fehlenden Rechtstaatlichkeit des unsäglichen „war
        against drugs“ des Präsidenten Duterte in den Philippi-
        nen oder der nicht geregelten Anwendung der Scharia in
        der Region Aceh in Indonesien – diese Vorgänge müssen
        in den Gesprächen und in der Öffentlichkeit offen ange-
        sprochen werden . Dabei muss dies nicht mit der Drohung
        der Sanktionen verbunden werden, vielmehr muss den
        Regierenden in den einzelnen Staaten vermittelt werden,
        dass nur eine stabile, demokratische und von der Person
        unabhängige rechtsstaatliche Ordnung eine mittel- und
        langfristige Stabilität versprechen, die eine notwendige
        Basis für die Zusammenarbeit und am Ende auch für In-
        vestoren die entscheidende Voraussetzung für eine positi-
        ve Investitionsentscheidung ist . Die Bundesregierung ist
        aufgefordert, geeignete Projektangebote zur Förderung
        von Rechtsstaatlichkeit und Bekämpfung von Korrupti-
        on weiter zu entwickeln . Diese Angebote müssen sowohl
        Justiz, Behörden und Verwaltung, aber auch die Zivilge-
        sellschaft einbinden .
        Zweitens . Mit der Förderung von Bildung rennen
        wir mit Sicherheit offene Türen in allen Staaten der
        ASEAN-Region ein . Hier wird es nach meiner Einschät-
        zung auf drei Schwerpunkte ankommen: erstens die För-
        derung einer breiten schulischen Bildung in den am we-
        nigsten entwickelten Ländern . Das bedeutet schlicht eine
        Verbesserung der Einkommenssituation der Lehrer – und
        dazu bedarf es aber stabiler Einnahmen des Staates, also
        eine umfassende Aufgabe . Zweitens: die Förderung von
        beruflicher Bildung und da ganz besonders die Übertra-
        gung des entscheidenden Elementes der deutschen du-
        alen Ausbildung – daher ja der Name –: der parallelen
        Ausbildung in Schule und Unternehmen/Verwaltung .
        Drittens: der Studentenaustausch in der Region, das
        heißt nicht Förderung der akademischen Ausbildung in
        den westlichen Hochschulen, sondern Austausch unter-
        einander – also: indonesischer Student in Bangkok oder
        vietnamesischer Student in Manila usw . Das europäische
        ERASMUS-Programm liefert hier ein respektables Vor-
        bildprojekt .
        Drittens . Zentrales Entwicklungsthema ist eine ver-
        lässliche und klimaschonende Energieversorgung . Dabei
        ist entscheidend, die Nutzung fossiler Energieträger zu
        begrenzen . Der Öl- und Kohlereichtum der Region hat
        dazu geführt, dass fossile Energieträger nicht nur heu-
        te, sondern auch in den Planungen für die Zukunft eine
        bedeutende Rolle spielen . Weit mehr als 50 Prozent der
        Primärenergie stammt aus diesen Energieträgern, gera-
        de bei der Kohle mit einem erschreckenden Wachstum .
        Vor dem Hintergrund der Prognosen, dass die Erderwär-
        mung gerade in den ASEAN-Ländern verheerende Aus-
        wirkungen haben wird – ich erinnere an die schlimmen
        Folgen des El Niño in Indonesien im letzten Jahr –, ist
        dies ein fataler Irrweg . In Südostasien wird möglicher-
        weise das erste Mal ein „Kippmomentum“ eintreten, wie
        die Klimaforscher das nennen, mit nicht vorhersehbaren
        Auswirkungen: Für Indonesien wird ein vollkommen
        verändertes, trockenes Klima vorhergesagt – so wie es
        2015 geschehen ist und zu dramatischen Ernteeinbußen
        geführt hat . Auch wenn man argumentieren kann, dass
        die Menschen in der Region sich darauf einstellen wer-
        den (müssen), so wird dies aber mit sehr hohen Kosten
        verbunden sein . Umso mehr muss es darauf ankommen,
        die in Paris beschlossenen Maßnahmen zur Reduktion
        von fossilen Energieträgern gerade auch in der Region
        der ASEAN-Staaten umzusetzen . Vor dem Hintergrund
        der weitgehend ungenutzten erneuerbaren Energiequel-
        len in der Region, sei es Windenergie, Sonnenenergie,
        Biomasse oder geothermische Energie, sollte ein umfas-
        sendes Programm „Renewable Energy for ASEAN“ auf-
        gelegt werden . Dies muss sowohl die Finanzierungsfrage
        als auch Anlagenbau, Fachausbildung und Infrastruktur
        umfassen . In vielen und regelmäßigen Gesprächen mit
        Vertretern aus der Region der ASEAN-Staaten ist deut-
        lich geworden, dass bei den erneuerbaren Energien hohe
        Erwartungen an Deutschland gestellt werden . Auch wenn
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 21027
        (A) (C)
        (B) (D)
        wir Grüne die schleppende und unambitionierte Umset-
        zung der Energiewende in Deutschland aus guten Grün-
        den kritisieren – wir haben immer noch einen hohen Ver-
        trauensvorschuss gerade auch der ASEAN-Staaten . Eine
        deutsche Unterstützung wird deshalb geradezu erwartet .
        Erfreulicherweise nehmen einzelne Akteure wie die AIIB
        die von allen Fraktionen des Deutschen Bundestages
        vorgetragene Forderung nach Nichtförderung fossiler
        und nuklearer Energieträger ernst . Dies ist aber nicht bei
        allen Akteuren der Fall – wie ich als Vorsitzender der
        ASEAN-Parlamentariergruppe bei Gesprächen in Indo-
        nesien noch in diesem Oktober erfahren konnte . Hier ist
        ein Umdenken erforderlich . Eine veränderte Strategie
        mit einem dezentralen Ausbau der Energieversorgung
        auf der Basis erneuerbarer Energien würde im Übrigen
        Chancen für den deutschen Mittelstand eröffnen . Dieser
        ist aber in der Energiebranche in der Region noch nicht
        wirklich vertreten . Damit ließe sich noch deutlich stärker
        „deutsches Know-how nutzen“, wie es der Antrag der
        Koalition fordert . Hier noch stärker zu fördern, wird eine
        wichtige Aufgabe auch der deutschen Entwicklungszu-
        sammenarbeit sein .
        Ich würde mich freuen, wenn es der Bundesregierung
        gelingt, mit einer konzertierten Aktion bei den „erneuer-
        bare Energien für ASEAN“ in der Zusammenarbeit der
        Staaten und mit den entsprechenden Institutionen we-
        sentliche Entwicklungsimpulse in den ASEAN-Staaten
        zu setzten . Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wird
        entsprechende Maßnahmen weiterhin mit voller Kraft
        und Überzeugung unterstützen .
        Anlage 21
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Antrags der Fraktionen der
        CDU/CSU und SPD: Wissenschaftskooperation
        mit Partnern in Subsahara-Afrika stärken (Tages-
        ordnungspunkt 23)
        Dr. Thomas Feist (CDU/CSU): Wenn heute im
        allgemeinen Sprachgebrauch von Europa die Rede ist,
        hat dies unter anderem damit zu tun, dass wir trotz al-
        ler Unterschiede und obwohl wir teilweise nicht in allen
        Belangen mit einer Stimme sprechen, in wirtschaftli-
        chen, politischen, rechtlichen und zunehmend auch ge-
        sellschaftlich-sozialen Bereichen die Einheit in Vielfalt
        leben . Die sprichwörtliche Vielfalt und die nationalen
        Eigenheiten sind dabei ein konstitutives Kontinuum un-
        seres Erfolges .
        Kommt die Rede hingegen auf Afrika, entsteht ge-
        danklich jedoch leider oft ein monolithischer Block, in
        dem nationale, regionale und auch kulturelle Besonder-
        heiten unterzugehen drohen . Dass wir im heute debattier-
        ten Antrag dagegen von „Partnern in Subsahara-Afrika“
        sprechen, zeigt, dass wir uns beim Ausbau der Wissen-
        schaftskooperationen dieser Unterschiede durchaus be-
        wusst sind und individuelle Ansätze je nach den im je-
        weiligen Land vorzufindenden Bedingungen anwenden.
        Allein die Vielzahl der Ressorts, Akteure und Mittler-
        organisationen, die in die Umsetzung von Afrika-zent-
        rierten Strategien eingebunden sind, zeugt von unserem
        multidimensionalen und Multi-Ebenen-Ansatz . Hier gilt
        es, zukünftig die Aktivitäten von BMBF, BMZ, AA und
        BMEL sowie weiterer Ministerien auf der einen und die
        Programme und Projekte der Mittlerorganisationen wie
        dem Deutschen Akademischen Austauschdienst, der
        Alexander-von-Humboldt-Stiftung, der Deutschen For-
        schungsgemeinschaft, der Max-Planck-Gesellschaft, der
        Helmholtz-Gemeinschaft, der Leibniz-Gemeinschaft und
        der Fraunhofer-Gesellschaft noch stärker aufeinander
        und auf die Voraussetzungen vor Ort abzustimmen .
        Mit besonderem Nachdruck möchte ich einen Passus
        betonen, der für unsere gesamte auswärtige Bildungspo-
        litik gelten sollte: „Es geht dabei nicht um einen Nord-
        Süd-Transfer von wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern
        darum, einen guten Rahmen für das gemeinsame Erar-
        beiten von Lösungen zu finden.“ Erfolgreiche Koopera-
        tionen, ob sie nun in der Wissenschaft, in der Wirtschaft
        oder auf gesellschafts- und entwicklungspolitischer
        Ebene stattfinden, müssen sich immer an der Realität
        orientieren . Diese von Deutschland und von Europa aus
        an Annahmen entlang zu entwerfen, ist ein Ansatz, den
        wir vor dem Ziel einer guten partnerschaftlichen Koope-
        ration nicht mehr leisten können, aber auch nicht mehr
        leisten wollen .
        Die Beispiele der erfolgreichen Fachzentren Afrika,
        die Kooperationen zwischen deutschen und Hochschulen
        unter anderem in Südafrika, Ghana, Namibia, Tansania
        und Kongo fördern, zeigen, dass Bereiche wie Mikro-
        finanzen, Ressourcenmanagement, Bildungsforschung
        und weitere aus den jeweiligen Gegebenheiten vor Ort
        anders gedacht werden müssen, ohne dabei überkomme-
        nen europäischen Entwicklungspfaden zu folgen .
        Von besonderer Bedeutung auch für die Nachhaltig-
        keit der entstandenen Kooperationen ist zudem der Trans-
        fer wissenschaftlicher Ergebnisse in die Praxis, also der
        Aufbau funktionierender Cluster aus Hochschulen, Wirt-
        schaft und gesellschaftlichen Akteuren . Auf Grundlage
        der Ergebnisse der afrikazentrierten Bildungsforschung
        kann beispielsweise mit wesentlich höherer Wahrschein-
        lichkeit entlang der Bedarfe der Bevölkerung und der
        Wirtschaft vor Ort an selbsttragenden Systemen guter
        beruflicher Bildung gebaut werden, als dies nur auf Basis
        europäischer Forschungsergebnisse möglich wäre .
        Ich begrüße es ausdrücklich, dass bereits 2013 eine
        Absichtserklärung zwischen BMBF und dem südafri-
        kanischen Ministerium für Hochschulwesen und Aus-
        bildung (DHET) zur Kooperation in der Berufsbildung
        unterzeichnet wurde, deren Ziel es unter anderem ist,
        die Ausbildung dort praxisnäher zu gestalten und in den
        kommenden Jahren mit dem South African Institute
        for Vocational and Continuing Education and Training
        (SAIVCET) ein Berufsbildungsinstitut aufzubauen .
        In diesem Rahmen ist es unumgänglich, mit allen na-
        tionalen und regionalen Partnern südlich der Sahara die
        Voraussetzungen für allgemeine, berufliche und hoch-
        schulische Bildung zu verbessern, um der wachsenden
        jungen Bevölkerungsschicht die Möglichkeit zu eröff-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201621028
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        nen, die oft beschworenen Potenziale des Kontinents der
        Chancen auch wahrzunehmen .
        Letztlich können auch wir in Europa, in unserer ge-
        meinsamen Vielfalt aus den wissenschaftlichen Erkennt-
        nissen in und aus Afrika lernen – angefangen bei einer
        sinnvollen und nachhaltigen Ressourcennutzung bis hin
        zum gesellschaftlichen und politischen Umgang mit
        Transformationsprozessen .
        Dr. Claudia Lücking-Michel (CDU/CSU): Es wird
        oft gesagt, dass wir als Europäer und Deutsche ein sehr
        einseitiges Bild von Afrika pflegen. Erst einmal täuscht
        natürlich dieser Begriff „Afrika“, der eine solche Viel-
        zahl an Sprachen, Religionen und Kulturen dieses großen
        Kontinents in eins fasst, über die vielfältige Wirklichkeit
        hinweg . Und dann überwiegen doch in unserer Wahr-
        nehmung die Krisenmeldungen, die uns von dort errei-
        chen . Oft zitiert wird Henning Mankell: „Wenn wir uns
        am Bild der Massenmedien orientieren, lernen wir heute
        alles darüber, wie Afrikaner sterben, aber nichts darüber,
        wie sie leben .“ Das stimmt . Ich meine, wir sollten uns
        die Mühe machen, auch aus einer anderen Perspektive
        auf diesen Kontinent zu blicken . Ich will einige Versuche
        dazu machen, ein anderes Bild von Afrika zu zeigen .
        Erstens . Als Bildungspolitikerin sehe ich es natürlich
        so: Das größte Potenzial, das Afrika zu bieten hat, ist
        seine junge Generation . Schon heute ist die Hälfte der
        afrikanischen Bevölkerung jünger als 18 Jahre, und bis
        zum Jahr 2050 wird sich die Bevölkerung verdoppeln
        auf dann über 2 Milliarden Menschen . Sie alle brauchen
        eine gute Bildung als Voraussetzung, um dieses Potenzi-
        al auch zu entfalten . Das Hochschul- und Wissenschafts-
        system spielt dabei eine entscheidende Rolle: für Leh-
        rerbildung und damit für qualitätsvolle Schulbildung, für
        Hochschullehrernachwuchs und damit relevante Studien-
        angebote, die arbeitsmarktorientiert ausbilden und For-
        schungsleistungen ermöglichen, die neue Lösungen für
        die wirtschaftliche, aber auch die gesellschaftliche Ent-
        wicklung bringen . Außerdem bieten Hochschulen auch
        wissensbasierte Beratung für Politik und Verwaltung an .
        Zweitens . Als Forschungspolitikerin bin ich beein-
        druckt von Innovationen, die in Afrika erdacht wurden:
        zum Beispiel die Erfindung aus Kenia, „m-Pesa“, was
        auf Suaheli „mobiles Geld“ bedeutet . Per SMS können
        afrikanische Mobilfunkkunden – und ein Handy besit-
        zen die allermeisten Menschen dort – Geld überweisen,
        auch wenn sie kein Bankkonto besitzen . Das war die
        Ursprungsidee . Über die letzten Jahre wurde dies immer
        praktischer: Man kann im Supermarkt per Handy be-
        zahlen, seine Stromrechnung begleichen, sogar günstige
        Kleinkredite bei Banken anfragen . Oder eine Idee, die
        zurzeit in Ruanda erprobt wird: Um Medikamente und
        Blutkonserven trotz mangelnder Infrastrukturen dorthin
        zu bringen, wo sie gebraucht werden, verschickt man sie
        hier mit Drohnen .
        Da finden technologische Sprünge statt, in denen Zwi-
        schentechnologien, wie wir sie nutzen, einfach ausgelas-
        sen werden . Darüber sollten wir auch einmal reden, wenn
        wir von Afrika sprechen! Es zeigt ein anderes Bild von
        Afrika!
        Ich bin überzeugt, dass wir die Herausforderungen der
        Zukunft nur gemeinsam als Partner lösen können: aus
        dem globalen Norden und Süden, mit den jeweiligen He-
        rangehensweisen und Ideen . Spitzenforschung lebt vom
        Austausch der Ideen, von verschiedenen Blickwinkeln .
        Wissenschaft bietet sich hervorragend dazu an, gemein-
        same Lösungen zu finden für die großen globalen He-
        rausforderungen . Ob es um Folgen des Klimawandels
        oder die Behandlung global bedrohlicher Krankheiten
        geht – wir benötigen gemeinsam erarbeiteten Erkenntnis-
        gewinn . So hilft Wissenschaft, etwas zu tun, das von der
        Politik oft gefordert wird: nämlich, die Globalisierung
        aktiv und positiv zu gestalten . Darum fördert die Bun-
        desregierung internationale Kooperationen in Forschung
        und Wissenschaft .
        In unserem Antrag heute nehmen wir Subsahara-Af-
        rika in den Blick, eine Region, die uns nicht unbedingt
        einfällt, wenn wir an Spitzenforschung oder erstklassige
        Hochschulausbildung denken . Gemeint sind alle afrika-
        nischen Staaten außer den fünf arabisch geprägten Län-
        dern am Mittelmeer . Und es stimmt schon: Die Hoch-
        schulen dort, die Bildungs- und Wissenschaftssysteme
        sind an vielen Stellen dringend ausbaubedürftig . Ein
        Beispiel, wo wir bereits unterstützen: Mit 1 000 Stipen-
        dien fördern wir die qualitätsvolle Ausbildung von Hoch-
        schullehrern . Künftig wollen wir die Lehrqualität auch
        steigern, indem wir afrikanische Wissenschaftlerinnen
        und Wissenschaftler, die in aller Welt arbeiten, als soge-
        nannte „flying faculties“ für kurzzeitige Lehraufträge an
        Hochschulen in ihren Heimatländern gewinnen .
        Es gibt aber auch jetzt schon eine Reihe von erfolg-
        reichen Kooperationen deutscher Institutionen mit Part-
        nern aus Subsahara, auch in der Forschung . Zum Beispiel
        die Klimakompetenzzentren in West- und dem südlichen
        Afrika . Dort wird erforscht, wie die Landnutzung den
        Folgen des Klimawandels so angepasst werden kann,
        dass es trotz zunehmender Dürren noch Ernten geben
        kann und Artenvielfalt möglichst erhalten wird . Das
        Besondere ist, dass die Erkenntnisse der Wissenschaft
        gleich an die ansässigen Bauern und lokalen Verwaltun-
        gen so weitergegeben werden, dass sie sie nutzen kön-
        nen . Da entsteht Expertise bei afrikanischen Forschern,
        die von der lokalen Gesellschaft gleich angewandt wird .
        Und zum Schluss ein kühner Blick in die Zukunft:
        Stellen Sie sich vor, der nächste Einstein käme zum Bei-
        spiel aus dem Senegal . Es gibt schon eine Initiative, die
        mathematische Forschung in Subsahara-Afrika stärken
        will . Wir fördern den Aufbau neuer Lehrstühle, und viel-
        leicht studiert oder forscht der nächste Einstein bereits
        dort . Wir halten dieses Ziel für durchaus realistisch . Das
        eröffnet doch ein ganz anderes Bild von Afrika!
        Dr. Daniela De Ridder (SPD): Mit dem heute vorlie-
        genden Antrag zur Stärkung der Wissenschaftskoopera-
        tionen in Subsahara-Afrika bringen wir eine außen- und
        bildungspolitische Initiative voran und leisten einen ele-
        mentaren Beitrag zur Bekämpfung von Fluchtursachen .
        Wie unser Außenminister Dr . Frank-Walter Steinmeier
        stets betont, ist die Welt auf immer deutlichere und spür-
        bare Weise aus den Fugen geraten . Wer Krisen bewäl-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 21029
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        tigen, Konflikte lösen und Frieden herstellen oder bei-
        behalten will, muss auf einen Soft-Power-Ansatz bauen .
        Internationale Solidarität und Zusammenarbeit, die durch
        militärische Bedrohungen, ökonomische Zwänge verhin-
        dert werden, lassen sich – so hat es der Politikwissen-
        schaftler Joseph Nye immer wieder betont – eben doch
        nur durch kulturelle und bildungspolitische Zusammen-
        arbeit herstellen oder erhalten . Dann bedarf es politischer
        Werte und einer intelligenten auswärtigen Politik, wie sie
        das Auswärtige Amt, AA, – allen Horrorszenarien zum
        Trotz – aktuell mit Bravour betreibt .
        Da steht es der Großen Koalition gut zu Gesicht, sich
        im Interesse der Friedenssicherung in den unterschiedli-
        chen Politikfeldern stärker zu vernetzen . Wissenschafts-,
        Bildungs- und Hochschulpolitik müssen in Anbetracht
        der weltweiten Verantwortung immer auch Wirtschafts-,
        Entwicklungs- und Außenpolitik in den Blick nehmen .
        Unser ressortübergreifender Antrag wird genau dieses
        Anliegen stärken . Mit diesem weit über die Bildungspo-
        litik hinausreichenden Bestreben wollen wir gerade die
        armen Länder stärken und ihnen durch Bildungs-, For-
        schungs- und Hochschulpolitik neue Chancen eröffnen .
        Das Auswärtige Amt, das Bundesministerium für Bil-
        dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung, BMBF,
        und das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusam-
        menarbeit und Entwicklung, BMZ, sowie die weiteren
        Ressorts stehen zu ihrer Verantwortung . Dazu gehört
        auch die Erkenntnis, dass wir für eine verantwortungs-
        volle Außen- und Entwicklungspolitik mehr tun müssen,
        als ausschließlich auf Sicherheitskooperationen zu set-
        zen . Daher haben wir uns in der Großen Koalition ver-
        tiefend der Frage gewidmet, was wir für eine effektive
        Stabilisierung von Ländern und Regionen in Afrika tun
        können .
        Dieser Antrag macht unsere zukunftsweisenden Ant-
        worten deutlich: Eine nachhaltige und zugleich globale
        Strategie für die Schaffung von Versorgungssicherheit,
        ein funktionierendes Sozialsystem, eine starke Wirt-
        schaft und demokratische Strukturen müssen auf Bildung
        fußen . Reiche Länder wie Deutschland müssen ein Fun-
        dament schaffen und damit die Hilfe zur Selbsthilfe in
        den Ländern des Südens stärken . Daher setzen wir neben
        dem Austausch von Nachwuchskräften in Bildung, Wis-
        senschaft und Wirtschaft vor allem auf den institutionel-
        len Aufbau von internationalen Bildungsstrukturen .
        Der Deutsche Akademische Austauschdienst, DAAD,
        die Alexander-von-Humboldt-Stiftung, AvH, sowie die
        Deutsche Forschungsgemeinschaft, DFG, sind wichtige
        Mittler- und Partnerorganisationen für eine grenzüber-
        schreitende Bildungs- und Wissenschaftspolitik . Sie un-
        terstützen bereits seit längerem den Austausch von Wis-
        senschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die Stärkung
        von Forschung und Entwicklungsvorhaben sowie den
        Aufbau von Strukturen . Ihr Beitrag ist besonders wert-
        voll .
        Lassen Sie mich betonen, dass wir eine starke und
        ressortübergreifende Strategie für die Stärkung des Aus-
        tausches der zukünftigen Generationen durch den Auf-
        bau von transnationalen Bildungskooperationen auf den
        Weg gebracht haben . Dies wollen wir nun maßgeblich
        erweitern .
        Die Vereinten Nationen verfolgen mit der Umsetzung
        der Sustainable Development Goals, SDGs, einen ganz-
        heitlichen Ansatz für eine stabile und friedenspolitisch
        höchst wertvolle Zukunft auf unserem Planeten . Bildung
        nimmt dabei die zentrale Rolle ein, da nur sie zur Au-
        tonomie und Prosperität und damit zum Empowerment
        befähigen und es konsolidieren kann . Daher müssen zwei
        Aspekte besonders berücksichtigt werden:
        Erstens gilt es, die Abwanderung qualifizierten Perso-
        nals aus den Staaten der Subsahara zu vermeiden . Ein
        „Braindrain“ muss unbedingt vermieden werden . Daher
        gilt es, auf die richtigen Anreize für einen Verbleib von
        qualifizierten Fachkräften sowie Wissenschaftlerinnen
        und Wissenschaftlern zum Aufbau lokaler Strukturen zu
        setzen . Fachkräfte müssen in den Ländern Subsaharas
        qualifiziert und mit Arbeitsplätzen in ihren Heimatlän-
        dern versorgt werden .
        Zweitens müssen sich transnationale Bildungskoope-
        rationen an den konkreten Bedarfen der heimischen Ge-
        sellschaften orientieren . Im hochschulischen Bereich
        ist es daher existenziell, dass das Augenmerk auf das
        Modell der angewandten Forschung und Lehre gelegt
        werden muss, wie es etwa unsere Fachhochschulen und
        Hochschulen für angewandte Wissenschaften auch in
        Kooperation mit den Ländern Afrikas anbieten können .
        Wenn es uns gelingt, neben den Institutionen und
        den Chancen zum Austausch die nötigen Rahmenbedin-
        gungen für eine nachhaltige Entwicklung zu etablieren,
        können wir eine stabile, friedliche und sozial gerechte
        Zukunft auch international verwirklichen . Für die Grund-
        lage einer auf Bildung und Wissenschaft aufbauenden
        Entwicklungspartnerschaft wollen wir daher ganz kon-
        krete Anliegen umsetzen . So heißt die primäre Devise:
        Erstens bestehende Stipendienprogramme weiterfüh-
        ren und ausbauen . Wir fördern bereits mit 1 000 zusätz-
        lichen Stipendien für angehende Hochschullehrerinnen
        und -lehrer die hochschulischen Bildungsstrukturen und
        schaffen mit den Programmen von DAAD und AvH die
        Chancen zum personellen Austausch . Mit unserem An-
        trag leiten wir den Ausbau und die Erweiterung der Pro-
        gramme ein .
        Zweitens wollen wir institutionelle Förderung nicht
        nur über die hervorragende Arbeit der Grünen Innova-
        tions- sowie Fachzentren in Afrika weiter voranbringen,
        sondern darüber hinaus eine Hochschule für angewand-
        te Wissenschaften in Kenia nach dem Beispiel der Ger-
        man-Jordanian-University etablieren . In diesem Sinne
        gilt es, akademische Bildung entlang der Bedarfe der
        Gesellschaft im Subsahara-Raum zu kreieren .
        Drittens bekennen wir uns zur Stärkung und Ent-
        wicklung von Partner- und Forschungsnetzwerken in
        Subsahara-Afrika und setzen auf einen transnationa-
        len Ansatz . Hierbei gilt es, verstärkt die Mittlerorgani-
        sationen wie DFG, Max-Planck-Gesellschaft, MPG,
        Helmholtz-Gemeinschaft, HGF, Leibniz-Gemeinschaft,
        Fraunhofer-Gesellschaft, FhG, sowie DAAD und AvH
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        mit einzubeziehen und eine kohärente ressortübergrei-
        fende Politik abzustimmen .
        Mit dem vorliegenden Antrag nehmen wir unsere
        Verantwortung wahr, eine Entwicklungspartnerschaft
        auf Augenhöhe weiterzuentwickeln und zu stärken . Wir
        kommen damit unserer globalen Verantwortung nach,
        einen nachhaltigen Beitrag für die Bekämpfung von
        Fluchtursachen zu leisten, auch wenn der vor uns liegen-
        de Weg noch sehr steinig sein mag .
        Ich bin guten Mutes, dass wir auch in Zeiten schwe-
        lender Krisen und unmenschlicher Kriege unserer Ver-
        antwortung gerecht werden können . Daher möchte ich
        mich bei allen beteiligten Kolleginnen und Kollegen
        und insbesondere bei der Kollegin Dr . Claudia Lücking-
        Michel sowie bei meinem Kollegen Dr . Karamba Diaby
        herzlich für die geleistete Arbeit bedanken und wünsche
        Ihnen eine friedvolle Weihnachtszeit, damit wir im kom-
        menden Jahr unsere wichtigen Aufgaben mit Bravour
        meistern können .
        Nicole Gohlke (DIE LINKE): Die Koalition hat hier
        einen ausführlichen Antrag zur Wissenschaftskooperati-
        on mit Partnern in Subsahara-Afrika vorgelegt, der lei-
        der einer ernsthaften Beschäftigung mit den Problemen
        dieser ärmsten Region der Welt überhaupt nicht gerecht
        wird: Im dritten Satz Ihres Antrages schreiben Sie: „Leis-
        tungsfähige Hochschulsysteme sind wesentliche Grund-
        lage für die Generierung von Wissen und Innovation .“
        Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD,
        mit solchen Feststellungen zeigen Sie entweder Ignoranz
        gegenüber den grundlegenden Problemen in Südsaha-
        ra-Afrika oder völlige Unkenntnis .
        Die Realität ist, dass in Afrika südlich der Sahara die
        Zahl der Kinder ohne Grundschulzugang teilweise wie-
        der stark ansteigt . Die Alphabetisierungsrate in der De-
        mokratischen Republik Kongo liegt beispielsweise bei
        gerade einmal zwei Drittel und ist über die letzten Jahr-
        zehnte rückläufig. Infolge des Krieges ging der Anteil der
        kongolesischen Kinder, die eine Schule besuchen, von
        rund 70 Prozent auf nunmehr etwa 40 Prozent zurück .
        Die meisten Schulen erhalten keine staatliche Unterstüt-
        zung, sondern die Eltern müssen die Lehrer und Lehre-
        rinnen direkt bezahlen, was viele nicht können .
        Auf eine schriftliche Frage des Kollegen Movassat
        musste die Bundesregierung 2014 erklären, dass nur
        2,25 Prozent der Gelder für die bilaterale Entwicklungs-
        zusammenarbeit in Grundbildung gehen . Das ist viel zu
        wenig . Auch die 7 Millionen Euro jährlich an die Globale
        Bildungspartnerschaft GPE sind viel zu wenig . Die Lin-
        ke forderte für den Haushalt 2017 einen Aufwuchs auf
        mindestens 40 Millionen Euro .
        Selbstverständlich unterstützt die Linke internationale
        Wissenschafts- und Forschungskooperation, insbesonde-
        re auch zu Fragen des Klimawandels und seinen Folgen
        in den verschiedenen Regionen . Aber die Bundesregie-
        rung hat wirklich kein Recht dazu, sich als Förderin von
        Bildung und Entwicklung in den ärmsten Ländern der
        Welt darzustellen . Mit Elite-Stipendienprogrammen, Ex-
        zellenzzentren und Leuchtturmprojekten leisten Sie eben
        keinen Beitrag dafür, das Bildungsniveau für die breite
        Mehrheit zu heben oder die Massenarbeitslosigkeit und
        die furchtbare Armut in der Region zu bekämpfen .
        Und natürlich ist auch an dieser Stelle die Verantwor-
        tung Deutschlands für die Kriege und Konflikte in der
        Region zu betonen: Als drittgrößter Waffenexporteur der
        Welt tragen Sie einen großen Teil der Verantwortung da-
        für, wenn die von deutschen Unternehmen produzierten
        Waffen im südlichen Afrika eingesetzt werden . Südaf-
        rika, einer der größten Abnehmer deutscher Waffen, ist
        nach Beendigung der Apartheid zum Dreh- und Angel-
        punkt des Waffenhandels avanciert .
        Wie gesagt, die Linke unterstützt selbstverständlich
        internationale Wissenschafts- und Forschungszusam-
        menarbeit . Aber den Problemen in Subsahara-Afrika
        werden Sie mit diesem Vorgehen in keinster Weise ge-
        recht .
        Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es
        keimt Hoffnung auf dem afrikanischen Kontinent . In
        vielen Ländern wächst die Wirtschaft – allerdings aus-
        gehend von einem niedrigen Niveau . Deshalb hat Afrika
        noch einen langen Weg vor sich, um zu anderen Regio-
        nen der Welt aufzuschließen . Die Risiken sind nach wie
        vor groß: Einzelnen Ländern und Regionen mangelt es
        an politischer Stabilität und Good Governance, rechts-
        staatlichen und demokratischen Strukturen sowie der
        tatsächlichen Sicherung von Grund- und Freiheitsrechten
        aller Menschen .
        Konflikte sind eine der Hauptbedrohungen für das
        Wirtschaftswachstum Afrikas . Afrika hat viele kluge
        Köpfe und Talente, immenses kulturelles und kreatives
        Potenzial. Zugleich fehlen aber qualifizierte Fachkräf-
        te, mit denen der wirtschaftliche Erfolg verstetigt und
        gesteigert werden kann . Deutschland muss aus meiner
        Sicht alles dafür tun, dass aus Hoffnung eine robuste Ent-
        wicklung zum Wohle aller Menschen auf dem afrikani-
        schen Kontinent wird .
        Deutschland muss ein verlässlicher Partner afrikani-
        scher Länder sein . Diese Absicht sehe ich auch bei der
        Bundesregierung und auch in dem Antrag „Wissen-
        schaftskooperation mit Partnern in Subsahara-Afrika
        stärken“ der Fraktionen von Union und SPD, den wir hier
        heute in erster Lesung diskutieren . Der Antrag ist stark
        in der gebündelten Leistungsschau bestehender Koope-
        rationen . Er fällt deutlich ab, wenn es um Ideen für die
        künftige Entwicklung nachhaltiger wissenschaftlicher
        Zusammenarbeit geht . Es hätte gutgetan, den Antrag mit
        der Expertise aller Bundestagsfraktionen zu erarbeiten .
        Diese Chance haben Union und SPD verpasst .
        Wissenschaft, Forschung und Innovation können
        wichtige Beiträge zur nachhaltigen, gesellschaftlichen,
        ökologischen und ökonomischen Entwicklung leisten .
        Aber es muss auch die Basis stimmen – also die Grund-
        bildung .
        Erfreulich ist, dass es neben Wirtschaftswachstum
        auch teilweise entwicklungspolitische Fortschritte im
        Sinne der Millennium Development Goals gibt . Acht von
        zehn Kindern aus Ländern Subsahara-Afrikas besuchten
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 21031
        (A) (C)
        (B) (D)
        2015 eine Grundschule . 2000 waren es nur 60 Prozent .
        Das zeigt, dass das Entwicklungsziel 100 Prozent noch
        nicht erreicht ist und weitere Anstrengungen notwendig
        sind . Zugleich sagt die Beschulungsquote wenig aus über
        die Bildungsqualität . Das Bekenntnis zu Alphabetisie-
        rung, Bildung und Qualifizierung als Grundlage gesell-
        schaftlichen Erfolgs und wissenschaftlichen Fortschritts
        fehlt dem Antrag der Koalition leider .
        Durch den vermehrten Schulbesuch wächst die Zahl
        der Schülerinnen und Schüler in Ländern südlich der
        Sahara, die die Schule abschließen, exponentiell . Die
        Wirtschaft der Länder hat wachsenden Bedarf an Fach-
        kräften . Beides zieht neue Anforderungen und Heraus-
        forderungen für die afrikanische Hochschullandschaft
        und des Ausbildungssystems nach sich . Dafür sind aber
        nur wenige Staaten der Region gerüstet, zumal die Hoch-
        schulen in vielen Subsahara-Staaten geprägt sind von
        jahrzehntelanger Unterfinanzierung, maroder Infrastruk-
        tur, fehlendem wissenschaftlichen Nachwuchs oder auch
        der Zerstörung durch kriegerische Auseinandersetzun-
        gen . Allein schon, um die grundsätzlichen Voraussetzun-
        gen für Studieren, Lehren und Forschen zu schaffen, ist
        deutsche Unterstützung gefragt .
        Deutsche Investitionen in leistungsfähigere Hoch-
        schulen vor Ort sind sinnvoll, sofern politische Stabilität
        gegeben ist und ein Land nicht in bürgerkriegsähnliche
        Zustände abzusinken droht. Wissen schafft Konfliktprä-
        vention, Frieden, Freiheit und Sicherheit .
        Es fällt auf, dass sich das deutsche Engagement für
        engere Wissenschaftskooperation auf dem afrikanischen
        Kontinent auf einzelne Länder fokussiert, und – umge-
        kehrt – um einzelne andere einen Bogen macht . Sich
        „blinden Flecken“ zuzuwenden, halte ich für wichtig, um
        gleichwertige Lebensverhältnisse anzupeilen und herzu-
        stellen .
        Die Chancen, die sich aus Hochschulbildung und For-
        schung ergeben, werden von afrikanischer Seite wieder
        stärker hervorgehoben . Auch von deutscher Seite ist das
        Interesse an Kooperation traditionell hoch und weiter ge-
        wachsen . Schon jetzt bestehen laut Hochschulrektoren-
        konferenz über 400 offizielle Partnerschaften zwischen
        deutschen und afrikanischen Hochschulen . Über diese
        Partnerschaften sollte es gelingen, mehr Studierende,
        Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Ländern
        Subsahara-Afrikas für einen zeitweisen Aufenthalt in
        Deutschland zu gewinnen – im Sinne einer Brain Cir-
        culation bzw . zirkulären Migration statt Braindrain und
        Abwerbung .
        Natürlich müssen die deutschen Hochschulen besser
        auf die afrikanischen Studierenden vorbereitet sein, da-
        mit studieren und echter Austausch gelingt . Wichtig ist
        mir aber auch, dass wir mehr Deutsche ermuntern, in
        Afrika zu forschen, zu lehren oder zu studieren . Konkre-
        te Ziele oder zukunftsgerechte Meilensteine vermisse ich
        dazu im Antrag der Regierungsfraktionen .
        Das Interesse an Wissenschaftskooperation ist groß,
        sowohl in Deutschland als auch in den Ländern südlich
        der Sahara . Darauf gilt es aufzubauen . Hinzu kommt,
        dass Deutschland ein angesehener Partner ist, weil es
        sich bemüht, so zu kooperieren, dass für alle Seiten
        Win-win-Situationen entstehen . Wissenschaftsfreiheit,
        kreatives neugiergetriebenes Forschen, herausragende
        Lehre sowie wissenschaftliche Lösungen für die großen
        gesellschaftlichen Herausforderungen sind von beidseiti-
        gem elementaren Interesse . Diese günstige Konstellation
        sollten wir gemeinsam nutzen .
        Anlage 22
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung:
        – des von der Bundesregierung eingebrachten
        Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung
        der Handlungsfähigkeit der Selbstverwaltung
        der Spitzenorganisationen in der gesetzlichen
        Krankenversicherung sowie zur Stärkung der
        über sie geführten Aufsicht (GKV-Selbstver-
        waltungsstärkungsgesetz)
        – des Antrags der Abgeordneten Harald
        Weinberg, Sabine Zimmermann (Zwickau),
        Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter
        und der Fraktion DIE LINKE: Patientenvertre-
        tung in der Gesundheitsversorgung stärken
        (Tagesordnungspunkt 24 a und b)
        Reiner Meier (CDU/CSU): Schon im 19 . Jahrhundert
        hat die katholische Soziallehre den Grundsatz der Sub-
        sidiarität formuliert . Kerngedanke ist, dass die jeweils
        sachnähere Ebene alle Entscheidungen treffen sollte, die
        nicht unbedingt von einer höheren Ebene getroffen wer-
        den müssen . Das ist eine gute Maxime für die Aufteilung
        von Kompetenzen im Staatsaufbau und sorgt für praxis-
        nahe Entscheidungen .
        Nach diesem Prinzip der Subsidiarität funktioniert
        auch die Selbstverwaltung in Deutschland, die sich bei
        den Kommunen, an den Hochschulen und auch im Ge-
        sundheitswesen seit vielen Jahren bewährt hat .
        Klar ist, dass die Strukturen der Selbstverwaltung mit
        ihren wachsenden Aufgaben und ihrer Verantwortung
        gegenüber ihren Mitgliedern Schritt halten müssen . Dies
        gilt umso mehr, als ihr im Gesundheitswesen die Verwal-
        tung von Beitragsmitteln in erheblichem Umfang anver-
        traut ist .
        Wir haben das Gesetz deshalb das „Selbstverwal-
        tungsstärkungsgesetz“ getauft; denn das zeigt ganz ein-
        deutig die Richtung:
        Es geht primär darum, die Strukturen innerhalb der
        Selbstverwaltung im Sinne einer Good Governance zu
        optimieren und weiterzuentwickeln . Dazu stärken wir
        die Transparenz im Verwaltungshandeln und bauen die
        Informations- und Kontrollrechte der Vertreterversamm-
        lungen gegenüber den Vorständen deutlich aus .
        Etwaige Fehlentwicklungen können so frühzeitig
        erkannt, abgestellt und künftig vermieden werden . Im
        äußersten Falle erhalten die Vertreterversammlungen
        beziehungsweise die Verwaltungsräte das ausdrückliche
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201621032
        (A) (C)
        (B) (D)
        Recht, den Vorstand mithilfe eines konstruktiven Miss-
        trauensvotums abzuberufen .
        All dies sind wohlgemerkt interne Vorgänge der je-
        weiligen Selbstverwaltungskörperschaft . Das zeigt: Wir
        betonen mit diesem Gesetz das Prinzip der Eigenverant-
        wortung und der Selbstkontrolle .
        Ergänzend zur Selbstkontrolle werden wir aber auch
        die Befugnisse des Bundesministeriums für Gesundheit
        im Rahmen der Rechtsaufsicht weiterentwickeln . Hier
        haben wir uns aus guten Gründen gegen eine Fachauf-
        sicht ausgesprochen . Bei einer Fachaufsicht könnte letzt-
        lich in jede Einzelentscheidung hineinregiert werden .
        Das halte ich für unvereinbar mit dem Grundgedanken
        der Selbstverwaltung . Die Rechtsaufsicht bleibt deshalb
        der richtige Maßstab . Dabei muss jedoch eines ganz
        unmissverständlich klar sein: Verstöße gegen geltendes
        Recht werden auch im Rahmen der Rechtsaufsicht ge-
        ahndet . Die Selbstverwaltung ist Teil der mittelbaren
        Staatsverwaltung und damit gemäß Artikel 1 Absatz 3
        des Grundgesetzes ausdrücklich an Recht und Gesetz
        gebunden!
        Ich will nicht verhehlen, dass ich vor diesem Hinter-
        grund manche Verhaltensweisen der vergangenen Jahre –
        sowohl aufseiten der Kostenträger wie auch aufseiten der
        Leistungserbringer – mit größtem Befremden zur Kennt-
        nis genommen habe .
        Wenn wir heute die parlamentarischen Beratungen des
        Selbstverwaltungsstärkungsgesetzes beginnen, dann tun
        wir das in dem Bewusstsein, dass die Selbstverwaltung
        als Institution ganz gewiss schon bessere Tage erlebt hat .
        Wir sollten uns aber auch den Wert eines Systems vor
        Augen halten, das über die Jahre immer wieder dazu bei-
        getragen hat, Sachverstand und Eigenverantwortung in
        der Krankenversicherung zu stärken, ein System, das die
        oft abstrakten Vorgaben des Gesetzgebers in eine voll-
        ziehbare Form konkretisiert und dabei insgesamt eine
        breite Akzeptanz der gefundenen Regelungen gewähr-
        leistet .
        In diesem Sinne glaube ich, dass der Gesetzentwurf
        eine gute Grundlage bietet, um die Selbstverwaltung für
        die nächsten Jahre fit zu machen, und ich freue mich auf
        gute Beratungen im Ausschuss .
        Hilde Mattheis (SPD): Wie beraten hier heute Abend
        in erster Lesung einen Gesetzentwurf der Bundesregie-
        rung, der sich mit nichts weniger als einem zentralen
        Gestaltungsmerkmal der gesetzlichen Krankenversi-
        cherungen befasst . Deshalb möchte ich zunächst einige
        grundsätzliche Bemerkungen machen, was uns Sozial-
        demokraten im Zusammenhang mit Selbstverwaltung
        bewegt .
        Selbstverwaltung hat in all ihren Ausprägungen
        maßgeblich zur Erfolgsgeschichte solidarischer Versi-
        cherungssysteme beigetragen . Dafür ist die gesetzliche
        Krankenversicherung nur ein Beispiel unter vielen . Be-
        reits mit der kaiserlichen Botschaft von 1881 wurde sie
        als tragendes Prinzip verankert und ausgenommen die
        Zeit des Nationalsozialismus war sie stets eine gestalte-
        rische Kraft, ohne die die Bundesrepublik heute völlig
        anderes aussähe .
        Und es ist auch nicht übertrieben, zu sagen, dass man
        uns für diese Institution international beneidet .
        Zwei Dinge sind für uns im Zusammenhang mit
        Selbstverwaltung entscheidend:
        Mitbestimmung und staatsferne Organisation in eige-
        ner Sache . Nun muss ich Ihnen unsere Leidenschaft und
        Überzeugung zur Frage der Mitbestimmung sicher nicht
        mehr erläutern . Deshalb will ich kurz darauf eingehen,
        welche Bedeutung der eigenverantwortlichen Organi-
        sation zukommt . Denn eigenverantwortliches Handeln
        von Akteuren im Rahmen der Selbstverwaltung bietet
        viele Vorteile . Auf der einen Seite werden sachdienliche
        Entscheidungen getroffen, die ohne das Wissen und die
        Kompetenz in der Sache nie zustande kämen . Gleichzei-
        tig binden diese eigenverantwortlichen Entscheidungen
        zu Detailfragen wiederum die Entscheidungsträger und
        machen sie zu einer aktiven gesellschaftlichen Kraft . Der
        Gewinn für uns alle in der Gesellschaft ist daher nicht zu
        unterschätzen .
        Und ein weiterer Punkt ist bedeutend . Denn für uns
        als Politik tragen diese Entscheidungen erheblich zur
        Entlastung staatlichen Handelns bei . Gute politische Ar-
        beit – und das betone ich ausdrücklich – wäre aus unserer
        Sicht ohne diesen Entlastungseffekt bei weitem nicht so
        effektiv möglich .
        Ich hebe das deshalb hervor, weil beide Aspekte für
        die hier zu führende Diskussion um die betroffenen Spit-
        zenorganisationen der gesetzlichen Krankenversiche-
        rung von zentraler Bedeutung sind . Und ich rede dabei
        nicht nur von historisch gewachsenen Charakteristika
        einer Institution . Vielmehr verknüpfen sich für uns Sozi-
        aldemokraten hiermit schon angedeutete normative wie
        funktionale Ansprüche, an denen sich jeder ordnungspo-
        litische Eingriff in Formen der Selbstverwaltung messen
        lassen muss .
        Demnach sind zwei Fragen von Bedeutung . Erstens:
        Welche Auswirkungen hat das hier vorliegende Gesetz
        auf die Formen der Mitbestimmung? Und zweitens: Ist
        in den betroffenen Organisationen auch zukünftig die
        staatsferne Organisation und mit ihr die Handlungsfähig-
        keit – natürlich unter staatlicher Aufsicht – sichergestellt?
        Würden wir uns diese Fragen nicht stellen, so würden
        wir schlicht der Bedeutung der Selbstverwaltung für die
        GKV nicht gerecht . Und hier ist es zunächst einmal egal,
        ob es sich um Organisationen mit sozialpartnerschaft-
        licher Struktur oder um Organisation mit berufsständi-
        scher Ausrichtung handelt .
        So viel zur grundsätzlichen Einordnung .
        Ich weise an dieser Stelle noch einmal darauf hin, dass
        es sich bei dem hier vorliegenden Gesetzentwurf explizit
        um einen Entwurf der Bundesregierung handelt . Trotz
        des ambitionierten Zeitplans wurde das Gesetz nicht pa-
        rallel durch die Fraktionen eingebracht, um das Gesetz-
        gebungsverfahren zu beschleunigen . Dies ist zwar durch-
        aus nichts Außergewöhnliches, nur ist es mir an dieser
        Stelle wichtig, dies zu betonen . Denn gerade beim hier
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 21033
        (A) (C)
        (B) (D)
        vorliegenden Gesetz sollten wir uns auch die Zeit neh-
        men und in Ruhe abwägen .
        Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle wissen, wa-
        rum wir uns heute hiermit befassen .
        Ich will es uns allen aber gern noch einmal kurz in
        Erinnerung rufen . Die Vorgänge in der Kassenärztlichen
        Bundesvereinigung lassen mich persönlich – vielleicht
        spreche ich ja sogar für uns alle – nur mit dem Kopf
        schütteln . Lassen Sie mich eines klarstellen: Die Vorwür-
        fe müssen restlos aufgeklärt werden .
        Ich kann für die Fraktion der SPD sagen, dass wir den
        Aufarbeitungsprozess sehr genau beobachten, und wir
        werden dies auch weiterhin tun . Eines ist jetzt schon klar,
        einige wenige in der KBV haben dem Ansehen der Kas-
        senärzte enorm geschadet .
        Wer Mitgliedsbeiträge für eine Organisation zahlt,
        muss sich darauf verlassen können, dass die Mittel auch
        sachgerecht und regelkonform verwendet werden . Da
        kommt es auf die Vertrauenswürdigkeit des Hauptamtes
        genauso an wie darauf, dass die Aufsicht gegebenenfalls
        auftretende Unregelmäßigkeiten erkennt und sofort un-
        terbindet .
        Daher erwarte ich insbesondere vom im Frühjahr neu
        zu wählenden Vorstand der KBV nichts weniger als einen
        Wandel der Kultur . Denn – und das ist entscheidend –
        nicht nur die Kassenärzte leiden unter Ansehensverlust,
        sondern die Selbstverwaltung insgesamt . Das kann und
        werden wir Sozialdemokaten nicht akzeptieren .
        Nun dürfte meine Auffassung zur Sache kein Geheim-
        nis sein .
        Ich will es noch einmal so formulieren: „Du kannst
        nicht alle schlagen, wenn du einen treffen willst .“ Das
        ist für mich schlicht einen Frage guter und letztlich auch
        glaubwürdiger politischer Arbeit .
        Und das ist neben dem generellen Wert von Selbstver-
        waltung auch der Grund, dass explizit wir als SPD-Bun-
        destagfraktion bereits beim Zustandekommen des Ge-
        setzentwurfs der Bundesregierung für Korrekturen des
        politischen Vorhabens – insbesondere in Sachen der Auf-
        sicht – gesorgt haben . Nur ein paar Stichworte:
        Genehmigung des Haushalts, raus .
        Vorgaben der Aufsicht zu unbestimmten Rechtsbegrif-
        fen ohne Klagemöglichkeit ist raus .
        Eingriffe in Richtlinien des G-BA, auch raus .
        Unterm Strich bleibt es bei der Rechtsaufsicht des
        BMG über die Spitzenorganisationen der GKV . Einer
        Fachaufsicht erkläre ich hier erneut eine klare Absage .
        Ich muss allerdings an dieser Stelle auch einen Dank
        an die Union richten, ohne die das in einer Koalition
        bekanntlich nicht möglich gewesen wäre . Ich will nur
        sagen: Die Koalition hat in diesem Fall schon vor dem
        Beginn des eigentlichen Gesetzgebungsverfahrens gut
        zusammengearbeitet . Dank dafür!
        Nun wird es für uns als SPD im parlamentarischen
        Verfahren darauf ankommen, dass die Detailregelun-
        gen im Gesetz mit den Prinzipien und der Bedeutung
        der Selbstverwaltung vereinbar sind . Nur eine wirkliche
        Stärkung der Selbstverwaltung mit Blick auf Mitbestim-
        mung und Handlungsfähigkeit wird auch die Unterstüt-
        zung bei den Akteuren finden, die wir brauchen, um die
        Institution insgesamt zukunftsfähig zu machen .
        Denn wir brauchen uns keinen Illusionen hinzugeben .
        Ein solches Gesetz hat mit seinen Details auch immer
        eine gewisse Strahlkraft in andere Bereiche und die Zu-
        kunft . Das gilt besonders für die Selbstverwaltung .
        Klar ist, wir Sozialdemokraten halten an der Selbst-
        verwaltung fest und wollen und werden sie stärken . Eine
        Einschränkung oder gar eine Abwicklung ist mit uns
        nicht zu machen . Dafür ist sie zu essenziell für das Funk-
        tionieren unseres Gemeinwesens .
        Harald Weinberg (DIE LINKE): Wie so oft in der
        jüngeren Vergangenheit will die Bundesregierung et-
        was stärken . Neben dem sogenannten Arzneimittel-Ver-
        sorgungsstärkungsgesetz, dem Pflegestärkungsgesetz,
        dem Versorgungsstärkungsgesetz kommt nun also das
        GKV-Selbstverwaltungsstärkungsgesetz .
        Bei dem Thema bleibt festzuhalten: Die Menschen in
        Deutschland haben nicht das beste Bild von der Selbst-
        verwaltung im Gesundheitssystem . Schaut man ein we-
        nig hinter die Kulissen, muss man auch sagen: In der
        Selbstverwaltung liegt einiges im Argen:
        Krankenkassen verweigern unberechtigt Leistungen,
        Ärztinnen und Ärzte klagen darüber, dass wegen des
        Budgets Leistungen nicht verordnet werden können, ein
        aus Beitragsgeldern sehr gut bezahltes Spitzenpersonal
        der Kassenärztlichen Bundesvereinigung betreibt zwei-
        felhafte Geschäfte, die Aufsicht schaut dem viel zu lange
        zu, der Zahnarzt empfiehlt eine Leistung als notwendig,
        will aber privat abrechnen, Krankenkassen machen mit
        Ärzten gemeinsame Tricksereien bei Diagnosen, um
        möglichst viel Geld aus dem Gesundheitsfonds zu erhal-
        ten; die Liste lässt sich fortsetzen . Die wenigsten können
        das komplexe System auch nur teilweise durchschauen,
        die meisten müssen jedoch mit den Ergebnissen leben .
        Und am wenigsten haben die einen Nutzen, um die es
        eigentlich gehen sollte, die Patienten .
        Es ist die eigentliche Aufgabe der Selbstverwaltung,
        das Gemeinwohl zu stärken und die Versorgung der Pa-
        tientinnen und Patienten zu verbessern . Das ist eine gute
        Idee, die dem Wettbewerb geopfert wird . Seit Jahren wird
        das Gesundheitssystem immer weiter kommerzialisiert .
        Krankenkassen, Krankenhäuser, Arztpraxen, Apotheken
        werden einem immer stärkeren Wettbewerb ausgesetzt .
        Wer wie die Bundesregierung die Marktorientierung
        will, der darf sich dann nicht wundern, wenn jede und je-
        der nur ihren/seinen Nutzern sieht und eine gemeinsame
        Kooperation zum Nutzen aller weiter auf dem Rückzug
        ist . Das Eigeninteresse wird durchgesetzt, ein Ausgleich
        findet kaum noch statt. Mal wieder versucht die Bun-
        desregierung, die Konsequenzen ihrer eigenen Politik
        schönzureden, indem dann Gesetzesnamen wie eben das
        Selbstverwaltungsstärkungsgesetz kreiert werden . Die
        Marktorientierung zerfrisst die Kultur des Helfens, die
        medizinische Ethik und ersetzt sie durch Monetik . Das
        ist etwas, das wir nicht zulassen dürfen und unter dem
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201621034
        (A) (C)
        (B) (D)
        viele Beschäftigte, denen die Ethik noch nicht abhanden-
        gekommen ist, leiden .
        Da sich die negativen Auswirkungen des Wettbewerbs
        auf die Kultur im Gesundheitssystem kurz- oder mittel-
        fristig nicht ändern lassen, brauchen wir Veränderungen
        in der Selbstverwaltung . Patientenvertreterinnen und
        -vertreter müssen an entscheidender Stelle mitbestimmen
        können . Sie sollen Sitze und Stimmrecht in den Verwal-
        tungsräten der Kassen erhalten und auch im Gemeinsa-
        men Bundesausschuss das Zünglein an der Waage sein,
        wenn sich Kassen, Ärzte- und Zahnärzteschaft sowie
        Krankenhäuser nicht einigen können .
        Dem Grunde nach ist es richtig, die operative Steu-
        erung und Ausgestaltung des Versorgungssystems einer
        Selbstverwaltung zu überantworten . Diese muss dann
        aber auch im Sinne der Patienten allgemeinwohlorien-
        tiert funktionieren . Dazu bedarf es einer juristischen und
        einer fachlichen Aufsicht, die auch greift . In diesem Sin-
        ne befürworten wir eine bundeseinheitliche Aufsicht der
        Kassen .
        Die Selbstverwaltung muss wieder zurück zu ih-
        rem eigentlichen Ziel, der Stärkung des Gemeinwohls .
        Selbstverwaltung muss den Patientinnen und Patienten
        nutzen und darf nicht zweifelhaften betriebswirtschaft-
        lichen Benchmarks oder gar persönlichen Reichtumszie-
        len dienen .
        Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Die Selbstverwaltung im Gesundheitswesen ist eigent-
        lich ein bewährtes Prinzip, weil es sicherstellt, dass fach-
        liches Wissen und praktische Erfahrung derjenigen, die
        im Gesundheitswesen tätig sind, unmittelbar in die Re-
        gulierung dieses Bereiches einfließen. Umso wichtiger
        ist es allerdings, dass dies transparent und an der Sache
        orientiert geschieht . Alles andere gefährdet die Legitima-
        tion der Selbstverwaltung .
        Der von der Bundesregierung vorgelegte Gesetzent-
        wurf zur Reform der Selbstverwaltung ist direkte Folge
        der Skandale um die Kassenärztliche Bundesvereini-
        gung, die uns in den letzten Jahren erschüttert haben .
        Jahrelang hatte deren früherer Vorstand an den gesetz-
        lichen und internen Vorgaben vorbei Gelder in eine defi-
        zitäre Immobiliengesellschaft investiert, sich selbst und
        anderen hohe Versorgungsbezüge gewährt und Rückla-
        gen in isländischen Schrottpapieren versenkt . Und das
        Bundesministerium für Gesundheit als Aufsichtsbehörde
        hat tatenlos zugesehen . Vermutlich läge auch dieser Ge-
        setzentwurf heute nicht vor, wenn wir Sie nicht mit unse-
        ren Nachfragen zum Handeln gezwungen hätten .
        Eines muss man Ihnen allerdings zugestehen: Im Hin-
        blick auf diese Vorgänge ist Ihr Vorschlag konsequent
        und größtenteils sinnvoll . Interne Kontrollmechanismen
        innerhalb der Spitzenverbände wie auch die aufsichts-
        rechtlichen Befugnisse des Bundesministeriums für
        Gesundheit (BMG) gegenüber diesen Körperschaften
        werden verschärft oder präzisiert . Den Vorschlag, den
        Vorstand der KBV zukünftig mit drei Mitgliedern zu be-
        setzen, begrüßen wir ausdrücklich – verbunden mit der
        Hoffnung, dass die im März 2017 anstehende Neuwahl
        des Vorstandes zu einem Neuanfang und Kulturwandel
        in dieser Institution führt .
        Auch Ihre Entscheidung, den noch im Referentenent-
        wurf geplanten massiven Eingriff in die Kompetenzen
        des Gemeinsamen Bundesausschusses wieder zu strei-
        chen, ist gut . Die ursprünglich vom Ministerium vorgese-
        hene Möglichkeit, in die Richtlinienkompetenz des GBA
        einzugreifen, hätte die Rechtsaufsicht nicht verbessert,
        sondern eine Politisierung von fachlichen Entscheidun-
        gen über GKV-Leistungen zur Folge gehabt, die keiner
        von uns will .
        Der Gesetzentwurf zeigt also einige richtige Ansätze .
        In anderen Bereichen allerdings bleibt er merkwürdig
        lückenhaft und deutlich hinter dem zurück, was unsere
        Fraktion bereits vor Monaten an Reformvorschlägen vor-
        gelegt hat . Beispielsweise sollen in Ihrem Entwurf Be-
        teiligungen an Gesellschaften des Privatrechts zukünftig
        lediglich vom Lenkungsgremium der Körperschaft selbst
        abgenickt werden, nicht jedoch von der Aufsichtsbehör-
        de . Die noch im Referentenentwurf geplante ministeri-
        elle Aufsicht über diese Gesellschaften findet sich im
        Kabinettsentwurf ebenfalls nicht mehr . Das ist nach den
        Erfahrungen mit der Übernahme einer faktisch insolven-
        ten Immobiliengesellschaft durch die Kassenärztliche
        Bundesvereinigung nicht nachvollziehbar .
        Gleichzeitig wollen Sie die Geschäfts- und Rech-
        nungsprüfung der Körperschaften durch das Ministeri-
        um zugunsten einer selbst beauftragten Betriebsprüfung
        durch private Anbieter ersetzen . Auch wenn das Ministe-
        rium diese Prüfung in den letzten Jahren häufig einfach
        unterlassen hat und so einen Teil Mitverantwortung an
        den Entwicklungen bei der KBV trägt, sollten Sie jetzt
        zumindest sicherstellen, dass der Prüfbericht anschlie-
        ßend dem Ministerium vorgelegt werden muss . Aber
        auch hier: Fehlanzeige .
        Und es gibt weitere Lücken: Es soll keine Vorabkon-
        trolle der Haushaltspläne durch das BMG geben, so wie
        dies ursprünglich einmal selbst vom Ministerium ange-
        dacht war . Es soll keine Genehmigung für Geldanlagen
        oder Darlehen geben, obwohl die Kassenärztliche Bun-
        desvereinigung gerade durch solche Finanzgeschäfte er-
        hebliche Beträge vernichtet hat, die ursprünglich mal für
        die ärztliche Versorgung im Land gedacht waren . Es feh-
        len jegliche Regelungen zur Präzisierung der persönli-
        chen Haftung von Funktionären bei Pflichtverletzungen,
        obwohl gerade darüber momentan heftig vor Gericht
        gestritten wird . Die Offenlegung von Nebentätigkeiten
        der Vorstände bleibt auch zukünftig auf ein Minimum
        beschränkt, was eine echte Transparenz von Interessens-
        konflikten unmöglich macht. Außerdem gibt es weiterhin
        keine aufsichtsrechtliche Möglichkeit, diese Nebentätig-
        keiten im Bedarfsfall zu untersagen . Auch unsere Forde-
        rung nach einem besseren Schutz von Whistleblowern,
        beispielsweise durch eine Ombudsperson, wurde nicht
        aufgegriffen .
        Warum diese Zurückhaltung? Vielleicht weil man
        hofft, dass es sich bei den Vorgängen um die KBV um
        einmalige Ausfälle der Vergangenheit handelte? Sollte
        die Bundesregierung dies je geglaubt haben, wurden wir
        alle vor kurzem durch die Presseberichte über die Be-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 21035
        (A) (C)
        (B) (D)
        auftragung einer Politikberatungsagentur eines Besse-
        ren belehrt . Das Bundesministerium für Gesundheit als
        Aufsichtsbehörde sieht sich auf Anfrage allerdings noch
        nicht mal in der Lage, eine rechtliche Bewertung dieser
        Vorgänge abzugeben . Dies zeigt auch: Das beste Selbst-
        verwaltungsstärkungsgesetz wird wenig bringen, wenn
        nicht auch im Ministerium selbst ein Kulturwandel statt-
        findet. Eine Stärkung der Aufsichtsrechte auf dem Papier
        ändert nichts, solange nicht die Bereitschaft besteht, die-
        se Rechte im Ernstfall auch wahrzunehmen . Dies müssen
        Sie zukünftig beweisen .
        Annette Widmann-Mauz, Parl . Staatssekretärin
        beim Bundesminister für Gesundheit: Ich beginne mit
        einer guten Nachricht: Die Selbstverwaltungsgremien
        in unserem Gesundheitswesen ziehen wieder an einem
        Strang . Geeint rufen sie dazu auf, den vorliegenden Ge-
        setzentwurf zurückzunehmen .
        Dies wird unser Haus, das Bundesministerium für Ge-
        sundheit, BMG, jedoch nicht tun . Herr Bundesminister
        Hermann Gröhe wird an diesem Gesetzentwurf festhal-
        ten, gerade weil er – wie auch ich – ein Befürworter der
        Selbstverwaltung ist und weil wir auch künftig eine star-
        ke und unabhängige Selbstverwaltung für unser Gesund-
        heitswesen erhalten möchten .
        Schließlich ist die hohe Qualität der medizinischen
        Versorgung in unserem Gesundheitssystem untrennbar
        mit dem Engagement der Selbstverwaltung verbunden .
        Sie hat eine herausragende Rolle bei der Sicherstellung
        einer qualitativ hochwertigen Versorgung . Und gerade
        deshalb werden wir an dem Prinzip der Selbstverwaltung
        auch nicht rütteln . Es ist ein modernes und zukunftswei-
        sendes Prinzip .
        Die Selbstverwaltung im Gesundheitswesen hat ins-
        gesamt eine Vielzahl von verantwortungsvollen Aufga-
        ben zu erfüllen, um eine gute Gesundheitsversorgung für
        die Patientinnen und Patienten sicherzustellen . Auf diese
        Organisationsform, die sich von vielen rein staatlichen
        oder privaten Organisationsformen in anderen Staaten
        abhebt, sind wir in Deutschland zu Recht stolz . Sie hat
        sich bewährt .
        Die Vorfälle bei der Kassenärztlichen Bundesverei-
        nigung, KBV, die uns über Monate beschäftigt haben,
        haben aber auch gezeigt, dass es klarer Rahmenbedin-
        gungen für die Selbstverwaltung bedarf . Hier brauchen
        wir sowohl mehr Transparenz als auch strengere interne
        Kontrollmechanismen .
        Mit diesem Gesetzentwurf wollen wir dafür sorgen,
        dass die Spitzenorganisationen der Selbstverwaltung sich
        künftig stärker ihrer Eigenverantwortung bewusst wer-
        den und zugleich vor Selbstblockaden geschützt sind .
        Bei allem inhaltlichen und mitunter auch persönlichen
        Streit darf in diesen Organisationen nicht vergessen wer-
        den, dass sie letztlich dem Zweck dienen sollen, die gute
        gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung zu sichern .
        Deshalb umfasst der Gesetzentwurf beispielsweise
        schlüssige Vorgaben für die staatliche Rechtsaufsicht,
        klare Vorgaben für die Haushalts- und Vermögensver-
        waltung sowie eine Stärkung der internen Transparenz-
        pflichten und Kontrollmechanismen.
        Auch die Sorgen, die Rechtsaufsicht könnte überdehnt
        werden, haben wir sehr ernst genommen . Daher bleibt
        unsere Rechtsaufsicht eine Rechtsaufsicht und wird nicht
        zur Fachaufsicht werden .
        Weiter bleiben auch die Gestaltungsspielräume der
        Partner in der Selbstverwaltung erhalten . Denn nur so
        können wir weiterhin auf praxisnahe und eigenverant-
        wortliche Entscheidungen bauen .
        Aber das setzt auch voraus, dass Körperschaften, die
        der Aufsicht unterliegen, intern transparente Strukturen
        haben und die hohen Standards einer Verwaltungsorga-
        nisation erfüllen .
        Aus diesem Grund brauchen wir klare Befugnisse der
        Rechtsaufsicht, um Rechtsverletzungen eindeutig und
        konsequent entgegentreten zu können .
        Diese Grundsätze gelten für alle Körperschaften glei-
        chermaßen – für die ärztliche Selbstverwaltung wie auch
        die Selbstverwaltung in der gesetzlichen Krankenversi-
        cherung . Ziel ist es daher, ein für alle diese Spitzenver-
        bände weitestgehend einheitliches Recht zu schaffen .
        Einzelne dieser Regelungen werden auch auf den Ge-
        meinsamen Bundesausschuss, G-BA, übertragen . Den
        Besonderheiten des G-BA aufgrund seiner Aufgabenstel-
        lung im Rahmen der Normsetzung und seiner von den
        anderen Selbstverwaltungskörperschaften abweichenden
        Organisationsstruktur wurde dabei Rechnung getragen .
        Der Gesetzentwurf sieht zur Stärkung der Kontroll-
        rechte der Mitglieder der Selbstverwaltungsorgane und
        zur Herstellung von mehr Transparenz im Verwaltungs-
        handeln der Institutionen folgende Maßnahmen vor .
        Dazu gehören die Stärkung der Einsichts- und Prüfrechte
        der Mitglieder der Selbstverwaltungsorgane, Vorgaben
        zu Informations-, Berichts- und Dokumentationspflich-
        ten über die Beratungen in Ausschüssen der Selbstver-
        waltungsorgane, die Präzisierung der Berichtspflichten
        des Vorstands sowie Regelungen zur Abwahlmöglichkeit
        der oder des Vorsitzenden der Selbstverwaltungsorgane .
        Bei der KBV bedarf es zudem struktureller Verände-
        rungen bei den Regelungen zum Vorstand:
        Es wird verpflichtend ein Vorstand mit drei Mitglie-
        dern geregelt, dessen Vorstandsvorsitzende bzw . -vorsit-
        zender mit einer qualifizierten Mehrheit gewählt werden
        muss . Nur für den Fall, dass ein letzter nach der Satzung
        vorgesehener Wahlgang erforderlich wird, soll die ein-
        fache Mehrheit der abgegebenen Stimmen ausreichend
        sein . Ein Mitglied des Vorstands darf weder dem haus-
        ärztlichen noch dem fachärztlichen Versorgungsbereich
        angehören . Mit diesen Vorgaben wird die notwendige
        versorgungsbereichsübergreifende Interessenvertretung
        im Vorstand sichergestellt sowie die Akzeptanz der oder
        des Vorsitzenden gestärkt .
        Wichtig ist dabei: Die Vorstände werden für die Dau-
        er von sechs Jahren gewählt . Im März 2017 stehen die
        Neuwahlen bei der KBV an . Mit den vorgesehenen struk-
        turellen Änderungen sollen die in der KBV bestehenden
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201621036
        (A) (C)
        (B) (D)
        Konflikte zwischen den Versorgungsbereichen und die
        damit einhergehenden Blockaden aufgehoben werden .
        Mit dem Gesetz wird insgesamt die staatliche Aufsicht
        als externe Kontrolle gestärkt . Die gesetzlichen Vorgaben
        zum Verwaltungshandeln werden klarer gefasst, damit
        ein rechtssicherer und eindeutiger Anknüpfungspunkt
        für das aufsichtsrechtliche Handeln besteht . Dies betrifft
        einheitliche und präzisere Vorgaben zu Rücklagen und
        Betriebsmitteln sowie die Pflicht zur Ausschüttung von
        Vermögen bzw . der Senkung der Umlage, soweit vor-
        handenes Vermögen nicht zur Erfüllung der gesetzlichen
        Aufgaben erforderlich ist, die Erweiterung der Prüfungs-
        und Mitteilungspflichten in Bezug auf Beteiligungen an
        und die Gründung von Einrichtungen, die Etablierung
        einer regelmäßigen externen Prüfung der Geschäfts-,
        Rechnungs- und Betriebsführung anstelle der bisherigen
        Prüfung durch das Bundesministerium für Gesundheit
        bzw. das Bundesversicherungsamt und die Verpflichtung
        zur Einrichtung interner Kontrollmechanismen, insbe-
        sondere einer Innenrevision, die festgestellte Verstöße
        auch an die Aufsichtsbehörde zu berichten hat .
        Der Gesetzentwurf wird insgesamt dazu beitragen, die
        Selbstverwaltung in vielen wichtigen Punkten zu stärken .
        Eine so gestärkte Selbstverwaltung wird auch zukünftig
        ihren Teil dazu beitragen, im gewohnten Maße eine hohe
        Qualität der medizinischen Versorgung sicherzustellen .
        Und dieser Zirkelschluss lässt sich nur auf eine Art
        und Weise zusammenfassen: Er ist das richtige Ergebnis .
        Anlage 23
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
        brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erweiterung
        der Medienöffentlichkeit in Gerichtsverfahren und
        zur Verbesserung der Kommunikationshilfen für
        Menschen mit Sprach- und Hörbehinderungen
        (Gesetz über die Erweiterung der Medienöffent-
        lichkeit in Gerichtsverfahren – EMöGG) (Tages-
        ordnungspunkt 25)
        Detlef Seif (CDU/CSU): Über den Gesetzentwurf zur
        Erweiterung der Medienöffentlichkeit in Gerichtsver-
        fahren und zur Verbesserung der Kommunikationshilfen
        für Menschen mit Sprach- und Hörbehinderungen, den
        wir heute in erster Lesung beraten, war schon vor dem
        Beginn des parlamentarischen Verfahrens in den Medien
        zu lesen . Von „Gerichts-TVs“, „Recht im Zirkus“ oder
        sogar der „Revolution im Gerichtssaal“ war in diesem
        Zusammenhang die Rede . Schon der damalige Referent-
        enentwurf des Bundesjustizministeriums löste eine Welle
        des Protests aus, nicht nur bei Juristen und Journalisten,
        sondern auch und vor allem bei den Präsidentinnen und
        Präsidenten der obersten Bundesgerichte, die von den
        geplanten Neuregelungen in besonderem Maße betroffen
        sind .
        Mit dem Gesetzentwurf sollen zunächst die Leistun-
        gen hör- und sprachbehinderter Menschen im Hinblick
        auf die Beteiligung von Gebärdensprachdolmetschern
        und anderen geeigneten Kommunikationshilfen in ge-
        richtlichen Verfahren erweitert werden . Hör- und sprach-
        behinderte Menschen können nach geltendem Recht
        Gebärdensprachdolmetscher zwar im gesamten Strafver-
        fahren, in allen anderen Verfahren aber nur im Rahmen
        der mündlichen Verhandlung in Anspruch nehmen . Die
        Beiordnung einer Sprach- oder Übersetzungshilfe soll
        zukünftig im gesamten gerichtlichen Verfahren mög-
        lich sein . Die Änderung bewirkt, dass die Kosten für die
        Kommunikationshilfe in Zukunft nicht mehr nur für die
        mündliche Verhandlung erstattet werden, sondern alle
        Übersetzungsleistungen zu erstatten sind, die im Zusam-
        menhang mit dem gerichtlichen Verfahren stehen . Einzel-
        heiten, wie etwa der Umfang des Anspruchs, sollen durch
        Rechtsverordnung geregelt werden . Der Regelungsvor-
        schlag dürfte fraktionsübergreifend Zustimmung finden,
        da er den barrierefreien Zugang zu Gerichtsverfahren
        weiter verbessert .
        Im Gegensatz dazu sorgte aber die Absicht des Justiz-
        ministeriums, das seit 1964 geltende strikte gesetzliche
        Verbot von Bild- und Tonübertragungen in Gerichtsver-
        fahren zu lockern, schon im Vorfeld für Unmut . Das Jus-
        tizministerium begründet diesen Schritt damit, dass das
        generelle Übertragungsverbot angesichts der bisherigen
        technischen und gesellschaftlichen Entwicklungen ins-
        besondere in der Medienlandschaft infrage zu stellen sei .
        Aktuell sind Ton- und Fernsehrundfunkaufnahmen
        sowie Ton- und Filmaufnahmen zum Zwecke der öffent-
        lichen Vorführung oder Veröffentlichung ihres Inhalts
        unzulässig . Das Verbot gilt während der gesamten Dauer
        der Hauptverhandlung einschließlich Entscheidungsver-
        kündung und steht nicht zur Disposition der Beteiligten .
        Es dient dem Schutz des allgemeinen Persönlichkeits-
        rechts aller Prozessbeteiligten und der Sicherung der
        Wahrheitsfindung im Prozess. Konkret geht es um den
        Schutz des Rechts am eigenen Bild und gesprochenen
        Wort, das es dem Einzelnen überlässt, selbst und eigen-
        ständig über die Darstellung der eigenen Person anderen
        gegenüber und über die Aufnahme und das Abspielen der
        eigenen Stimme mittels eines Tonträgers zu bestimmen .
        Es geht daneben aber auch um das Recht auf ein faires
        Verfahren und um den Schutz einer geordneten Rechts-
        pflege.
        Nach den Plänen des Bundesjustizministers, die auf die
        Forderungen der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur „zeit-
        gemäßen Neufassung des § 169 Gerichtsverfassungsge-
        setz“ zurückgehen, soll zunächst die Tonübertragung der
        mündlichen Verhandlung sowie der Urteilsverkündung in
        einen Arbeitsraum für Medienvertreter gestattet werden .
        Medienvertreter sollen so die Möglichkeit erhalten, die
        mündliche Verhandlung im Sitzungssaal akustisch mit-
        zuverfolgen . Es handelt sich um eine Ermessensentschei-
        dung des zuständigen Gerichts, das die Tonübertragung
        zur Wahrung schutzwürdiger Interessen der Beteiligten
        oder Dritter oder zur Wahrung eines ordnungsgemäßen
        Verfahrensablaufs teilweise auch untersagen kann . Der
        Regelungsvorschlag ist nachvollziehbar und grundsätz-
        lich sinnvoll, weil – wie das Beispiel des NSU-Prozesses
        seit dem Jahr 2013 zeigt – es durchaus Gerichtsverfahren
        gibt, an denen Pressevertreter und Öffentlichkeit ein ge-
        steigertes Informationsinteresse haben, das Platzangebot
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 21037
        (A) (C)
        (B) (D)
        im Gerichtssaal im Vergleich zur Nachfrage aber nur auf
        einige wenige Zuschauer beschränkt ist .
        Unabhängig von grundsätzlichen Erwägungen erge-
        ben sich für mich aus einer Tonübertragung in einen Ne-
        benraum ganz praktische Probleme . Dem Vorsitzenden
        Richter obliegen die sitzungspolizeilichen Befugnisse,
        d . h . er muss Sorge dafür tragen, dass in der Sitzung die
        notwendige Ordnung herrscht . Diese Aufgabe hätte der
        Vorsitzende Richter nach einer Reform nicht nur in Be-
        zug auf die Saalöffentlichkeit im Gerichtssaal, sondern
        auch in Bezug auf die Öffentlichkeit im Nebenraum . Ist
        es aber einem einzelnen Menschen zumutbar, neben dem
        laufenden Verfahren, in dem auch zum Teil recht umfang-
        reiche Beweisaufnahmen durchzuführen und zu erfassen
        sind, und der Sitzungspolizei im Gerichtssaal auch noch
        die Geschehnisse im Medienarbeitsraum zu überblicken?
        Diese Frage lasse ich hier einmal im Raum stehen .
        Die Bereitstellung eines Medienarbeitsraumes wird
        notwendigerweise zu einer zusätzlichen Arbeitsbelas-
        tung der Gerichte führen, dessen sollten wir uns bereits
        jetzt bewusst sein . So muss ein Raum gefunden wer-
        den, der technisch entsprechend auszustatten ist, und es
        muss auch weiteres Personal bereitgestellt werden, das
        die zusätzlich anfallenden Aufgaben erledigt . Es muss
        insbesondere durch gründliche Personenkontrollen ge-
        währleistet sein, dass unbefugten Dritten der Zutritt zum
        Medienarbeitsraum untersagt wird, um zu verhindern,
        dass etwa Zeugen, die im Verfahren noch nicht ausge-
        sagt haben, sich vorab über das Geschehen informieren .
        Es muss darüber hinaus auch sitzungspolizeilich ge-
        währleistet sein, dass die Zuhörer im Nebenraum keine
        unbefugten Tonaufnahmen von der Hauptverhandlung
        fertigen . Der Gesetzentwurf schweigt leider zu diesen
        praktischen Punkten . Es ist aber notwendig, dass wir uns
        jetzt im parlamentarischen Verfahren auch über diese As-
        pekte Gedanken machen . Man könnte überlegen, neben
        den bereits bestehenden sitzungspolizeilichen Befugnis-
        sen des Vorsitzenden Richters eventuell einen Straf- oder
        Ordnungswidrigkeitentatbestand zu schaffen, der den
        unerlaubten Zutritt zum Medienarbeitsraum und auch et-
        waige unbefugte Mitschnitte von der Hauptverhandlung
        im Arbeitsraum unter Strafe stellt .
        Darüber hinaus soll nach dem Gesetzentwurf in Zu-
        kunft die Aufnahme und Übertragung der Entscheidungs-
        verkündung der obersten Bundesgerichte zum Zwecke
        öffentlicher Vorführung oder der Veröffentlichung ihres
        Inhaltes in Form von Ton- und Fernsehrundfunkaufnah-
        men sowie Ton- und Filmaufnahmen ermöglicht werden .
        Stehen dem wichtige Gründe entgegen, wie etwa die
        Wahrung schutzwürdiger Interessen der Verfahrensbetei-
        ligten oder Dritter, kann die Aufnahme oder Übertragung
        teilweise untersagt oder von Auflagen abhängig gemacht
        werden . Eine ähnliche Regelung existiert bereits für das
        Bundesverfassungsgericht . Das Bundesverfassungsge-
        richtsgesetz regelt seit 1998, dass entsprechende Aufnah-
        men in der mündlichen Verhandlung bis zur Feststellung
        der Anwesenheit der Beteiligten durch das Bundesver-
        fassungsgericht und bei der öffentlichen Verkündung
        der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu-
        lässig sind . Insoweit stehe ich dem Regelungsvorschlag
        des Ministeriums durchaus offen gegenüber, wenngleich
        eine entsprechende Regelung für die obersten Bundes-
        gerichte nach meiner Einschätzung nicht zwingend not-
        wendig erscheint, jedenfalls nicht, wenn man sich einmal
        die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts an-
        sieht, das das generelle Übertragungsverbot in Gerichts-
        verfahren aus gewichtigen Gründen nach wie vor für
        verfassungsgemäß hält . Bei einer Öffnung des Übertra-
        gungsverbots auch im Bereich der obersten Bundesge-
        richte muss sichergestellt sein, dass bei der Aufnahme
        allein das Gericht bei der Verkündung der Entscheidung
        sichtbar ist und dass die Medienöffentlichkeit dann be-
        schränkt wird, wenn das oberste Bundesgericht Bezug
        nimmt auf Feststellungen der Vorinstanzen, für die das
        Übertragungsverbot nach wie vor gilt .
        Schließlich soll es nach dem Gesetzentwurf künftig
        möglich sein, Ton- und Filmaufnahmen von der Ver-
        handlung einschließlich der Entscheidungsverkündung
        zu wissenschaftlichen und historischen Zwecken bei Ver-
        fahren von herausragender zeitgeschichtlicher Bedeu-
        tung für die Bundesrepublik Deutschland anzufertigen .
        Die Archivaufnahmen dürfen nicht zur Akte genommen
        werden, sie dürfen darüber hinaus auch nicht herausge-
        geben oder zu Verfahrenszwecken genutzt werden . Die
        Aufnahmen müssen nach Verfahrensabschluss dem zu-
        ständigen Bundes- oder Landesarchiv zur Übernahme
        angeboten werden . Dieses entscheidet, ob den Aufnah-
        men ein bleibender Wert zukommt oder sie vom Gericht
        zu löschen sind . Ich spreche mich bereits jetzt entschie-
        den gegen diesen Vorschlag aus . Er muss in jedem Fall
        im Gesetzentwurf gestrichen werden . Allein die Tatsa-
        che, dass die gesamte Verhandlung aufgezeichnet und
        damit für die Nachwelt festgehalten wird, würde dazu
        führen, dass künftig vor allem die Parteien, die Zeugen
        und auch die Sachverständigen ihr Verhalten oder ihre
        Aussagen wegen dieser Umstände ändern oder zumin-
        dest überdenken . Auch das Verhalten der Richter kann
        sich bei laufender Kamera verändern . Im Übrigen darf
        es nicht sein, dass politisch motivierte Kriminelle sich
        vor der Kamera inszenieren und die Gelegenheit nutzen,
        um ihre schrägen Botschaften zu verbreiten . Derartige
        Archiv aufnahmen würden Tat und Täter aufwerten .
        Hinweisen möchte ich in diesem Zusammenhang auch
        darauf, dass das Missbrauchspotential für Archivauf-
        nahmen sehr hoch ist, weil diese angesichts ihres Spei-
        chermediums abhandenkommen und verbreitet werden
        könnten . Entsprechende gesetzliche Vorgaben könnten
        dieses hohe Risiko allenfalls minimieren, nicht jedoch
        ausschließen .
        Unabhängig von diesen grundsätzlichen Erwägun-
        gen ist auch völlig unklar, nach welchen Kriterien das
        Gericht die herausragende zeitgeschichtliche Bedeutung
        des jeweiligen Verfahrens beurteilen soll . Regelbeispie-
        le sind im Gesetzentwurf nicht enthalten, und auch im
        Begründungsteil des Entwurfes fehlen jegliche Anhalts-
        punkte für die Entscheidung, die im Ermessen des Ge-
        richts steht .
        Zur Sicherung eines fairen Verfahrens und zur unge-
        störten Wahrheits- und Rechtsfindung sollten den Betei-
        ligten, insbesondere den Richtern, alle über die Prozess-
        situation hinausgehenden Belastungen und Ablenkungen
        erspart bleiben .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201621038
        (A) (C)
        (B) (D)
        Unsere Maßgabe im nun beginnenden parlamentari-
        schen Verfahren muss es sein, praktikable gesetzliche
        Vorgaben für die Gerichte zu schaffen, die einerseits
        die schutzwürdigen Interessen der Verfahrensbeteiligten
        und Dritter wahren und einen ordnungsgemäßen Verfah-
        rensablauf sicherstellen, andererseits den zusätzlichen
        technischen, organisatorischen und personellen Aufwand
        bei den Gerichten möglichst gering halten, damit diese
        sich weiterhin auf ihre Kernaufgabe, Recht zu sprechen,
        konzentrieren können . An diesem Maßstab sollte jeder
        der Regelungsvorschläge des Bundesjustizministeriums
        gemessen werden .
        Erlauben Sie mir abschließend noch die Bemerkung,
        dass sich nicht die Gerichte an die veränderten Medien-
        gewohnheiten der Gesellschaft anpassen müssen, son-
        dern vielmehr die Medien auf die prozessualen Beson-
        derheiten im Gerichtsverfahren Rücksicht zu nehmen
        haben . Im Mittelpunkt steht auch zukünftig nicht das
        technisch Machbare, sondern die professionelle Arbeit
        der Gerichte .
        Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Wir diskutieren
        heute den von der Bundesregierung eingebrachten Ge-
        setzentwurf zur Erweiterung der Medienöffentlichkeit in
        Gerichtsverfahren und zur Verbesserung von Kommuni-
        kationshilfen für Menschen mit Sprach- und Hörbehin-
        derungen .
        In Zeiten von enormen technischen und gesellschaft-
        lichen Veränderungen und in der Verbreitung von Nach-
        richten in den Medien müssen wir hinterfragen, ob das
        bisherige strikte gesetzliche Verbot von Bild- und Ton-
        übertragungen insgesamt noch zeitgemäß ist .
        Der Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht eine
        moderate Lockerung vom Verbot von Ton- und Fern-
        sehrundfunkaufnahmen aus Gerichtsverhandlungen vor .
        Es ist darauf hinzuweisen, dass es im Grundsatz bei der
        Unzulässigkeit verbleibt . § 169 Satz 2 GVG wird ge-
        rade nicht gestrichen . Nach dem Zweck des Gesetzes
        werden einmalige und punktuelle Ausnahmeregelungen
        geschaffen . Es ist keinesfalls Ziel, Gerichtsverfahren zu
        kommerzialisieren . Einer unbegrenzten audio-visuellen
        Medienöffentlichkeit wird eine klare Absage erteilt .
        Im Mittelpunkt des Gesetzentwurfs steht das Span-
        nungsverhältnis zwischen dem Zugang von Medienver-
        tretern zu Gerichtsverhandlungen und den Persönlich-
        keitsrechten der Verfahrensbeteiligten . Der Angeklagte
        darf in keinem Fall zum Schauobjekt degradiert werden .
        Die Personenwürde des Angeklagten ist stets zu achten .
        Der Gesetzentwurf der Bundesregierung beinhaltet
        nun die Möglichkeit der Übertragung der mündlichen
        Verhandlung und der Urteilsverkündung in einen Ar-
        beitsraum für Medienvertreter (§ 169 Absatz 1 Satz 3-5
        GVG-E) . Geplant sind hier ausschließlich Tonübertra-
        gungen . Ferner beinhaltet ist die Möglichkeit der au-
        dio-visuellen Dokumentation von Gerichtsverfahren von
        herausragender zeitgeschichtlicher Bedeutung (§ 169
        Absatz 2 GVG-E) . Die Aufnahmen werden nicht Be-
        standteil der Gerichtsakte . Nach Abschluss des Verfah-
        rens sollen sie dem Bundes-/Landesarchiv zur Über-
        nahme angeboten werden . Beinhaltet ist außerdem die
        Übertragung von Verkündungen von Entscheidungen der
        Obersten Gerichtshöfe des Bundes in den Medien (§ 169
        Absatz 3 GVG-E bzw . ArbGG) .
        Ein weiteres wichtiges Kernelement des Gesetzent-
        wurfes liegt in der Verbesserung für Menschen mit Hör-
        und Sprachbehinderungen zum barrierefreien Zugang im
        Gerichtsverfahren . Eine Kostenübernahme für die Ver-
        dolmetschung des gesamten gerichtlichen Verfahrens ist
        bisher nur für die Hauptverhandlung gegeben und bedarf
        einer Erweiterung . Hier setzen wir an . Die bestehende
        Regelungslücke hinsichtlich des Tragens dieser Kosten
        für das gerichtliche Verfahren außerhalb der mündlichen
        Verhandlung soll geschlossen werden . Dies hat Auswir-
        kungen darauf, wer die Kosten für eine Inanspruchnah-
        me außerhalb der mündlichen Verhandlung zu tragen
        hat . Für die Betroffenen treten Entlastungen in Höhe von
        97 500 Euro ein, da die Kosten der Übersetzungsleistun-
        gen nunmehr von den Gerichten und nicht mehr von den
        betroffenen Personen selbst zu tragen sind . Dies ist ein
        gutes und richtiges Signal .
        Natürlich muss stets die Verhältnismäßigkeit zwischen
        dem Interesse der Öffentlichkeit und den Persönlich-
        keitsrechten der Verfahrensbeteiligten gewahrt werden .
        Der Gesetzentwurf plant moderate Lockerungen der be-
        stehenden Gesetzgebung, die das gerichtliche Verfahren
        nicht schwerwiegend beeinflussen und gleichzeitig einen
        gesetzlichen Rahmen für eine angemessene Medienöf-
        fentlichkeit schaffen .
        Dr. Matthias Bartke (SPD): Die Szenen aus Ge-
        richtsserien haben das Bild vieler Fernsehzuschauer von
        Gerichtsverhandlungen geprägt . Die Realität kann nur
        wenig dagegensetzen; denn Aufnahmen realer Gerichts-
        verhandlungen gibt es im Fernsehen keine zu sehen .
        Grund dafür ist das Verbot aus dem Jahr 1964 . Die-
        ses Verbot erklärt Ton-, Fernseh- und Rundfunkaufnah-
        men von Verhandlungen und Urteilsverkündungen zum
        Zweck der Veröffentlichung für unzulässig . Damit ist
        alles, was wir zu sehen bekommen: Angeklagte, Anwäl-
        te und Richter, die den Gerichtssaal betreten, sich setzen
        und wieder aufstehen . Die wirkliche Welt der Gerichts-
        verhandlungen bleibt damit für die meisten Fernsehzu-
        schauer verborgen .
        Das Verbot der Tonaufnahmen hat aber noch eine
        ganz andere Dimension . Es verhindert nämlich, dass die
        Gerichtsverhandlung in einen anderen Raum übertragen
        werden kann . Das hatte beim NSU-Prozessbeginn für
        riesige Probleme gesorgt .
        Zunächst sollte für die Vergabe der Plätze die Reihen-
        folge der Anmeldung entscheidend sein . Dabei kamen
        aber die türkischen Medien zu kurz . Das Bundesverfas-
        sungsgericht ordnete daher an, dass mindestens drei Plät-
        ze für ausländische Medien reserviert werden müssten .
        Der Senat entschied sich dann für eine komplette Neu-
        vergabe per Los .
        Nach der Auslosung der Presseplätze kam es zu einem
        neuen Sturm der Entrüstung . Während große Medien wie
        die FAZ, Die Zeit oder Die Welt kein Losglück hatten,
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 21039
        (A) (C)
        (B) (D)
        sollten kleine Regionalsender wie Radio LOTTE Weimar
        über den Prozess berichten .
        Die Gerichte entscheiden im Namen des Volkes . Was
        sie an Recht sprechen, wirkt sich auf unser aller Zusam-
        menleben aus . Es gibt daher ein berechtigtes Interesse
        daran, dass über einen Prozess entsprechend seiner Be-
        deutung berichtet werden kann . Wir wollen das Verbot
        von Ton- und Fernsehaufnahmen in Gerichten daher lo-
        ckern .
        In den vergangenen Monaten ist dieses Ansinnen be-
        reits verschiedentlich auf Kritik gestoßen . Wir nehmen
        diese Einwände sehr ernst . Durch die Lockerung des Ver-
        bots dürfen weder Persönlichkeitsrechte verletzt noch die
        Wahrheitsfindung im Strafverfahren gefährdet werden.
        Der vorliegende Gesetzentwurf ist daher ein sehr
        bedachter und abwägender Gesetzentwurf . Er baut die
        Brücke zwischen dem Informationsbedürfnis der Allge-
        meinheit und den Rahmenbedingungen für ein faires Ver-
        fahren und eine funktionstüchtige Rechtspflege.
        Entscheidungsverkündungen oberster Gerichtshöfe
        des Bundes sollen zukünftig grundsätzlich von Medien
        übertragen werden können . Für Fälle wie das NSU-Ver-
        fahren soll die Einrichtung von Arbeitsräumen für Me-
        dienvertreterinnen und -vertreter mit Tonübertragung
        ermöglicht werden . Darüber hinaus sehen wir für Ge-
        richtsverfahren von herausragender zeitgeschichtlicher
        Bedeutung eine audio-visuelle Dokumentation vor .
        Die Voraussetzungen für alle drei Möglichkeiten sind
        aber eng gesetzt . Zwischen Verhandlungen und Entschei-
        dungsverkündungen, zwischen Ton- und Videoaufnah-
        men wird wohlweislich unterschieden . Übertragungen
        und Aufzeichnungen liegen stets im Ermessen des Ge-
        richts .
        Von TV-Schlachten, Showbühnen und Satirebeiträgen
        sind wir damit weit entfernt . Zu Recht .
        Harald Petzold (Havelland) (DIE LINKE): Der uns
        vorliegende Gesetzentwurf sieht vor, dass das seit 1964
        bestehende Verbot von Ton-, Fernseh- und Rundfunkauf-
        nahmen zum Zwecke der öffentlichen Vorführung oder
        Veröffentlichung moderat gelockert werden soll . Damit
        trägt der uns vorliegende Gesetzentwurf den gesell-
        schaftlichen und technischen Entwicklungen in Bezug
        auf moderne Kommunikationsmittel in der Gesellschaft
        Rechnung, der sich die Justiz nicht verschließen sollte .
        Nun steht zu befürchten, dass die von Justizminister
        Heiko Maas geplante Änderung des § 169 GVG dazu
        führt, dass der Gerichtssaal zur Showbühne verwandelt
        und die Unabhängigkeit der Justiz durch einen erhöh-
        ten medialen Druck gefährdet wird . Für meine Fraktion
        bleibt es ein Grundprinzip, dass Gerichtsverfahren IN der
        Öffentlichkeit, aber nicht FÜR die Öffentlichkeit stattfin-
        den . Die geplanten Änderungen des § 169 GVG tragen
        dem nach Auffassung meiner Fraktion Rechnung . Sie
        sind moderat und verfolgen lediglich das Ziel, die Ge-
        richtsverfahren IN der Öffentlichkeit besser wahrnehm-
        bar zu machen . Einer medialen Massenverwertung wird
        durch die geplanten Änderungen des § 169 GVG nicht
        Tür und Tor geöffnet .
        Der Regierungsentwurf des Gesetzes zur Erweiterung
        der Medienöffentlichkeit in Gerichtsverfahren und zur
        Verbesserung der Kommunikationshilfen für Menschen
        mit Sprach- und Hörbehinderungen – EMöGG – beinhal-
        tet im Wesentlichen Folgendes:
        Erstens Medienübertragung: Entscheidungsverkün-
        dungen oberster Bundesgerichte sollen grundsätzlich von
        Medien übertragen werden können .
        Zweitens gerichtsinterne Übertragung: Die Einrich-
        tung von Arbeitsräumen für Medienvertreterinnen und
        -vertreter mit Tonübertragung soll für Verfahren mit ei-
        nem erheblichen Medieninteresse gesetzlich geregelt
        werden .
        Drittens Verfahren von herausragender zeitgeschicht-
        licher Bedeutung: Eine audio-visuelle Dokumentation
        von Gerichtsverfahren, die eine herausragende zeitge-
        schichtliche Bedeutung besitzen, soll bei näherer Be-
        stimmung der Voraussetzungen und der Festlegung von
        Regelungen für eine begrenzte Verwendung ermöglicht
        werden .
        Gegen eine ausschließliche Übertragung von Urtei-
        len oberster Bundesgerichte durch die Medien ist aus
        Sicht meiner Fraktion Die Linke nichts einzuwenden . So
        werden auch Entscheidungen des Bundesverfassungsge-
        richts bereits jetzt von den Medien übertragen, ohne dass
        dies die Unabhängigkeit des Bundesverfassungsgerichts
        bislang gefährdet hätte oder das Bundesverfassungsge-
        richt zu einer Showbühne verkommen wäre . Eine Über-
        tragung von Entscheidungen oberster Bundesgerichte ist
        auch deshalb gerechtfertigt, weil derartige Entscheidun-
        gen nur einen Bruchteil aller Gerichtsentscheidungen
        ausmachen, sie jedoch meist eine hohe gesellschaftliche
        Bedeutung haben und dadurch auf ein öffentliches Inte-
        resse stoßen . Die Übertragung von Entscheidungsver-
        kündungen oberster Bundesgerichte von den Medien
        stellt auch keinen erheblichen Eingriff in die Funktions-
        fähigkeit der Rechtspflege dar. Denn die eigentliche Ge-
        richtsverhandlung findet nach wie vor unter Ausschluss
        von Bild- und Tonaufnahmen statt . Ebenso sind nach wie
        vor keine Bild- und Tonaufzeichnungen für Gerichtsver-
        fahren unterhalb der Bundesgerichte vorgesehen . Sollte
        es die Bundesregierung zukünftig anstreben, eine Me-
        dienübertragung auf andere Gerichte oder das Gerichts-
        verfahren vor der Urteilsverkündung auszudehnen, wird
        sich meine Fraktion klar dagegen aussprechen .
        Auch gegen eine gerichtsinterne Übertragung von Ge-
        richtsverhandlungen bei erheblichem Medieninteresse,
        das heißt eine Einrichtung von Arbeitsräumen für Me-
        dienvertreterinnen und -vertreter in demselben Gerichts-
        gebäude, ist aus Sicht meiner Fraktion Die Linke nichts
        einzuwenden . Der NSU-Prozess in München hat ein-
        drucksvoll aufgezeigt, dass das Medieninteresse durch-
        aus – und berechtigterweise – beträchtlich sein kann . Um
        zu vermeiden, dass Teile der interessierten Öffentlichkeit
        ausgeschlossen werden – zum Beispiel bei Losverfahren,
        wie sie beim Landgericht München im NSU-Prozess
        praktiziert wurden –, ist die gerichtsinterne Übertragung
        von Gerichtsverhandlungen bei erheblichem Medienin-
        teresse ein legitimer Weg .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201621040
        (A) (C)
        (B) (D)
        Der Ermöglichung von audiovisuellen Dokumenta-
        tionen von Gerichtsverfahren, die eine herausragende
        zeitgeschichtliche Bedeutung besitzen, kann aus Sicht
        meiner Fraktion Die Linke nur dann zugestimmt werden,
        wenn dies in engen Grenzen erfolgt . Denn eine audio-
        visuelle Aufzeichnung des gesamten Prozessverlaufes
        kann durchaus Auswirkungen auf das prozessuale Ver-
        halten von Verfahrensbeteiligten haben . Daher ist es
        unabdingbar, genau zu definieren, wann eine „herausra-
        gende geschichtliche Bedeutung“ zu bejahen ist und von
        wem sowie wofür genau die Aufzeichnungen verwendet
        werden dürfen .
        Meine Fraktion begrüßt, dass mit den geplanten Än-
        derungen und Ergänzungen ein wichtiger Schritt zur Um-
        setzung von Artikel 13 Absatz 1 UN-Behindertenrechts-
        konvention unternommen wird, was insbesondere durch
        die geplante Übernahme der Übersetzungskosten für das
        gesamte Verfahren – und nicht nur, wie bisher, für die
        Hauptverhandlung – zum Ausdruck kommt . Nichtsdesto-
        trotz sind die geplanten Regelungen im Hinblick auf hör-
        und sprachbehinderte Personen nicht weitreichend genug
        und hinsichtlich anderer Behinderungsarten lückenhaft .
        Das beabsichtigte Gesetz muss dazu genutzt werden,
        über die Kommunikationshilfen hinaus grundsätzlich
        Barrierefreiheit im Rahmen eines Gerichtsverfahrens
        stärker zu verankern . Nur so kann gewährleistet werden,
        dass Menschen mit Behinderungen einen gleichberech-
        tigten und wirksamen Zugang zur Justiz haben werden .
        Nach Auffassung meiner Fraktion kann trotz der ge-
        planten Änderungen des § 169 Absatz 2 GVG jeder Bür-
        ger darauf vertrauen, dass seine Angelegenheit in einer
        von störenden äußeren Einflüssen unbeeinträchtigten
        mündlichen Verhandlung sorgfältig und unvoreingenom-
        men erörtert wird . Sofern es Bestrebungen geben soll-
        te, § 169 GVG noch weiter zu lockern, wird sich meine
        Fraktion allerdings dagegen aussprechen .
        Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der Ge-
        setzentwurf, den wir hier heute diskutieren, zielt darauf,
        Gerichtsverfahren transparent zu machen und moderne
        Kommunikationsformen einzuführen . Diesen Ansatz un-
        terstützen wir grundsätzlich .
        Zukünftig sollen Medien einen besseren Zugang zu
        den für ihre Berichterstattung notwendigen Informatio-
        nen bekommen, Urteile oberster Bundesgerichte sollen
        in Bild und Ton medial verkündet und historisch wichti-
        ge Prozesse dokumentiert werden – als Zeitzeugnis und
        um den Verlauf solcher Prozesse später aus erster Hand
        nachvollziehen zu können . Außerdem sollen die Kom-
        munikationshilfen für hör- und sprachbehinderte Perso-
        nen verbessert werden .
        Der Ansatz, den dieser Gesetzentwurf verfolgt, ist
        grundsätzlich richtig und sinnvoll . Justiz soll schließlich
        nicht hinter verschlossenen Türen stattfinden. Die Men-
        schen sollen die Möglichkeit haben, sich über die Verfah-
        ren und die Arbeit der Justiz zu informieren .
        Wenn Medienvertreter zukünftig einen gleichberech-
        tigten Zugang zu Prozessinformationen haben, dann
        kann das dazu dienen, dass die Berichterstattung über
        Gerichtsverfahren künftig noch vielfältiger und objekti-
        ver wird . Es kann auch dazu führen, dass die Öffentlich-
        keit mehr Interesse an oder Verständnis für die Arbeit der
        Justiz und für die Rechtsprechung entwickelt . Das ist erst
        einmal positiv zu werten .
        Eines muss in diesem Zusammenhang natürlich klar
        sein: Die Grenze von Transparenz und Medienöffentlich-
        keit muss immer dort gezogen werden, wo eine Beein-
        trächtigung der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege und
        der Rechte der Beteiligten droht! Das gilt insbesondere
        für Strafverfahren, in denen es um sensible Sachverhalte
        und den Schutz der Privatsphäre von Angeklagten oder
        Opferzeugen geht . Hier sollte niemand vorgeführt oder
        gar in seinen Verfahrensrechten beeinträchtigt werden .
        Niemand sollte sich unter Druck gesetzt fühlen .
        Ich halte es insofern für sinnvoll, dass die Entschei-
        dung über die Dokumentation des Verfahrens grundsätz-
        lich beim Gericht liegt . Denn das Gericht hat die Verfah-
        renshoheit und ist vertraut mit dem jeweiligen konkreten
        Fall . Da sich auch während des laufenden Verfahrens
        immer neue Umstände und Schutzinteressen ergeben
        können, ist es ausdrücklich zu begrüßen, dass dem Ge-
        richt zukünftig auch die Möglichkeit eingeräumt werden
        soll, Aufnahmen oder Tonübertragungen teilweise zu
        untersagen . So kann zu jedem Zeitpunkt des Verfahrens
        sichergestellt werden, dass die Rechte der Verfahrensbe-
        teiligten und der ordnungsgemäße Ablauf des Verfahrens
        gewahrt werden .
        Ein paar kleine Kritikpunkte gibt es dann aber doch
        noch:
        Bei Film- und Fernsehaufnahmen zu Dokumentati-
        onszwecken wäre es zur Wahrung der schutzwürdigen
        Belange der Verfahrensbeteiligten wünschenswert, wenn
        das Gericht die Verteidigung bzw . Angeklagte und Zeu-
        gen in seine Entscheidung einbeziehen würde . Dies gilt
        vor allem vor dem Hintergrund, dass die Beschlüsse
        des Gerichts nach § 169 GVG über die Zulassung von
        Ton- und Filmaufnahmen bzw . von Tonübertragungen
        unanfechtbar sein sollen . Den Prozessparteien sollte es
        jedenfalls in irgendeiner Form möglich sein, auf die Ent-
        scheidung des Gerichts über die Medienöffnung des Ver-
        fahrens mit Einfluss zu nehmen.
        Und selbst, wenn ich in den im Gesetzentwurf vor-
        gesehenen Maßnahmen nicht per se eine Gefahr für die
        Funktionsfähigkeit der Rechtspflege und die Beteiligten-
        rechte sehe, stellt sich hier die Frage: Wie sinnvoll und
        praktikabel sind diese Vorschläge eigentlich?
        Ich sehe zum Beispiel nicht den konkreten Mehrwert
        davon, Entscheidungen von obersten Bundesgerichten in
        den Medien zu übertragen . Diese Gerichte leisten näm-
        lich schon jetzt eine gute Pressearbeit . Entscheidungen
        werden zeitnah für eine mediale Verwertung aufgearbei-
        tet, entsprechende Presseerklärungen werden unmittelbar
        ins Netz gestellt und von den Medien aufgegriffen . Es
        wird also kein Mehr an Information geben . Es handelt
        sich bei dieser Art der Verkündung über Funk und Fern-
        sehen lediglich um eine öffentlichkeitswirksamere Dar-
        stellungsform .
        Auch wenn es durchaus sinnvoll ist, bedeutende Ver-
        fahren für die Öffentlichkeit zu dokumentieren, so fehlt
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 21041
        (A) (C)
        (B) (D)
        es noch an einer Klarstellung, was unter einer „herausra-
        genden zeitgeschichtlichen Bedeutung“ genau zu verste-
        hen ist und wann Gerichtsverfahren diese Voraussetzung
        erfüllen .
        Insgesamt stehen wir aus den eingangs genannten
        Gründen den Neuerungen jedoch offen gegenüber und
        warten mit Interesse das weitere Verfahren ab .
        Christian Lange, Parl . Staatssekretär beim Bundes-
        minister der Justiz und für Verbraucherschutz: Heute be-
        fassen wir uns in erster Lesung mit dem Entwurf eines
        Gesetzes zur Erweiterung der Medienöffentlichkeit in
        Gerichtsverfahren und zur Verbesserung der Kommuni-
        kationshilfen für Menschen mit Sprach- und Hörbehin-
        derungen – oder auch kurz EMöGG .
        Der Gesetzentwurf besteht aus zwei Teilen . Der erste
        befasst sich mit der Medienöffentlichkeit in Gerichtsver-
        fahren .
        Dieser Teil wurde in einer gemeinsamen Arbeitsgrup-
        pe meines Hauses und der Länder umfassend vorbereitet .
        Die Justizministerinnen und Justizminister der Länder
        haben dann das Bundesministerium der Justiz und für
        Verbraucherschutz und das Bundesministerium für Ar-
        beit und Soziales gebeten, auf der Grundlage der Ergeb-
        nisse der Arbeitsgruppe einen Gesetzentwurf vorzulegen .
        Das Verbot von Ton- und Bild- sowie Rundfunk- und
        Fernsehaufnahmen aus der öffentlichen mündlichen
        Verhandlung vor den Gerichten gilt seit 1964 . Es wurde
        damals eingeführt, weil man der Ansicht war, dass bei-
        spielsweise noch nicht verurteilte Angeklagte durch an-
        wesende Filmkameras in einer oft unerträglichen Weise
        in das Scheinwerferlicht einer weiten Öffentlichkeit ge-
        zerrt würden .
        Seither hat sich viel geändert . Damals konnte man we-
        der die gerichtsinterne Übertragung in Echtzeit noch die
        zahlreichen Kommunikationswege im Bereich der mo-
        dernen Medien, wie sie sich seither entwickelt haben, im
        Blick haben . Das gewandelte Medienverständnis und der
        Umgang mit modernen Kommunikationsformen lassen
        ein generelles Verbot nicht mehr zeitgemäß erscheinen .
        Auch von der Justiz wird eine moderne Kommunikati-
        on erwartet . Durch die Gesetzesänderung erhält sie die-
        se Möglichkeit . Dort, wo der Verfahrensablauf und die
        Rechte der Beteiligten nicht in Mitleidenschaft gezogen
        werden, sollen moderne Medien stärker einbezogen wer-
        den können als bisher .
        So sieht der Entwurf vor, die Übertragung der Verkün-
        dung von Entscheidungen der Obersten Gerichtshöfe des
        Bundes in besonderen Fällen den Medien zu ermöglichen .
        Das Gericht soll die Übertragung zulassen können . Dabei
        muss es noch darüber entscheiden, in welcher Form und
        unter welchen Auflagen diese Übertragung stattzufinden
        hat . Die Zulassung ist nicht als Regelfall ausgestaltet,
        sondern in das Ermessen des Gerichts gestellt .
        Gerade zu dieser Regelung – das möchte ich hier
        nicht verbergen – habe ich im Laufe der Arbeiten an
        dem Gesetzentwurf viele Argumente gehört, weshalb
        diese Erweiterung nicht vorgenommen werden sollte .
        Sie vermögen mich allerdings nicht zu überzeugen . Per-
        sönlichkeitsrechte und die Wahrheitsfindung stehen bei
        der vorgeschlagenen Regelung ganz deutlich im Vorder-
        grund . Ein wie auch immer geartetes „Court TV“ wird
        nicht erlaubt und auch nicht für die Zukunft angestrebt .
        Bereits heute können die Pressevertreter an den Urteils-
        verkündungen der Gerichte teilnehmen und wörtlich mit-
        schreiben . Das gebietet der Grundsatz der Öffentlichkeit .
        Die Urteilsverkündungen der Obersten Bundesgerichte
        künftig von den Medien übertragen zu lassen, stellt nur
        eine kleine Erweiterung dar, die aber für die Wahrneh-
        mung der Justiz in der heutigen Medienlandschaft große
        Bedeutung hat .
        Ferner sieht der Entwurf vor, die audiovisuelle Do-
        kumentation von Gerichtsverfahren von herausragender
        zeitgeschichtlicher Bedeutung für die Bundesrepublik
        Deutschland zu ermöglichen . Das Gericht kann künftig
        entscheiden, dass – bei Vorliegen dieser Voraussetzun-
        gen – die gesamte Gerichtsverhandlung in Ton und Bild
        aufgezeichnet werden soll . Diese Aufzeichnung darf al-
        lerdings nicht für Verfahrenszwecke verwendet werden,
        wie im Gesetz noch einmal ausdrücklich klargestellt
        wird . Die Aufnahmen sind vielmehr nach Abschluss des
        Verfahrens dem zuständigen Bundes- oder Landesarchiv
        anzubieten, um für wissenschaftliche Zwecke zur Verfü-
        gung zu stehen . Lehnt das Archiv die Annahme ab, sind
        die Aufnahmen zu löschen . Persönlichkeitsrechte der Be-
        troffenen hat das Gericht selbstverständlich zu wahren .
        Wir alle kennen historische Aufzeichnungen aus be-
        deutenden Verfahren aus der Zeit von vor dem Jahr 1964 .
        So wurde die mündliche Verhandlung im Frankfurter
        Auschwitz-Prozess Anfang der 60er-Jahre auf Tonträger
        aufgezeichnet . Für uns sind diese Aufzeichnungen heute
        gerade wegen der vielen Zeugenaussagen von unschätz-
        barem Wert . Nur für solche zeithistorisch herausragen-
        den Verfahren sollen Aufzeichnungen nach dem Entwurf
        wieder möglich werden .
        Schließlich soll künftig die Übertragung der mündli-
        chen Verhandlung und der Urteilsverkündung in einen
        Arbeitsraum für Medienvertreter durch das Gericht ange-
        ordnet werden können . Anlass für diese Regelung waren
        die Probleme bei der Sitzplatzvergabe für Pressevertreter
        am Anfang des Strafverfahrens gegen Mitglieder des so-
        genannten NSU .
        In einem zweiten Teil enthält der Gesetzentwurf Ver-
        besserungen für Menschen mit Hör- und Sprachbehin-
        derungen . Vorgesehen sind Erweiterungen hinsichtlich
        der Beteiligung von Gebärdendolmetschern und anderer
        Kommunikationshilfen für hör- und sprachbehinderte
        Personen . Sie sollen künftig die Kosten für die Verdol-
        metschung am gesamten gerichtlichen Verfahren nicht
        selbst tragen müssen . Das ist eine Verbesserung, die
        längst überfällig ist .
        Anlage 24
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von den Fraktionen der CDU/
        CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Ge-
        setzes zur Sicherung der Sozialkassenverfahren im
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201621042
        (A) (C)
        (B) (D)
        Baugewerbe (Sozialkassenverfahrensicherungsge-
        setz – SokaSiG) (Tagesordnungspunkt 26)
        Wilfried Oellers (CDU/CSU): Wir beraten heute den
        Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der
        SPD zur Sicherung der Sozialkassenverfahren im Bau-
        gewerbe (SOKASiG) . Dieser Entwurf aus der Mitte des
        Parlaments beschäftigt uns, nachdem das Bundesarbeits-
        gericht am 21 . September 2016 in zwei Urteilen über die
        Unwirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärungen
        des Tarifvertrages über das Sozialkassenverfahren im
        Bauhauptgewerbe der Jahre 2008, 2010 und 2014 be-
        schlossen hat .
        Die Rechtslage stellt sich wie folgt dar: Mangels
        Vorliegens der gesetzlichen Voraussetzungen, wie des
        sogenannten 50-Prozent-Quorums, und der persönli-
        chen Befassung der zuständigen Ministerin bzw . des
        zuständigen Ministers sind die vorher genannten Allge-
        meinverbindlicherklärungen unwirksam . Der Antrag auf
        Unwirksamkeit ist von Arbeitgebern gestellt worden, die
        nicht Mitglied einer Arbeitgebervereinigung sind, je-
        doch aufgrund der Allgemeinverbindlicherklärungen zu
        Beitragszahlungen an die Sozialkasse des Baugewerbes,
        die SOKA-BAU, verpflichtet sind bzw. waren. Unter-
        stützung fanden diese Klagen auch von Betrieben, die
        sowohl bauliche als auch nichtbauliche Dienstleistungen
        erbringen . Hier besteht stets die Streitfrage, ob sie unter
        die hier in Rede stehende AVE fallen .
        Beklagt wurde die Sozialkasse der Bauwirtschaft, die
        sogenannte SOKA-BAU, eine gemeinsame Einrichtung
        der drei Tarifvertragsparteien der Bauwirtschaft, der
        Deutschen Bauindustrie, des Deutschen Baugewerbes
        und der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt .
        Diese blickt auf eine lange Tradition zurück, da sie schon
        1949 als Urlaubskasse gegründet wurde . Im Jahr 1957
        wurde sie um eine Zusatzversorgungskasse erweitert,
        später noch um die überbetriebliche Ausbildungskas-
        se . Ziel und Aufgaben der SOKA-BAU sind seit ihren
        Anfängen, Nachteile für die Beschäftigten der Bauwirt-
        schaft in den Bereichen Urlaub, Berufsausbildung und
        Altersversorgung auszugleichen .
        Nun ergibt sich nach den Beschlüssen des Bundesar-
        beitsgerichts eine für die SOKA-BAU unerwartete Situ-
        ation mit der Sorge um den weiteren Bestand der Sozi-
        alkassenverfahren des Baugewerbes und eine eventuell
        drohende Insolvenz . Dazu kommt auch die Unklarheit
        darüber, wie die Rechtsfolgen der gerichtlichen Feststel-
        lung einer Unwirksamkeit von Allgemeinverbindlicher-
        klärungen geregelt sind . Ohne Allgemeinverbindlicher-
        klärungen können gemeinsame Einrichtungen wie die
        SOKA-BAU nicht existieren. Die finanzielle Stabilität
        könnte aufgrund der ausstehenden Sozialkassenbeiträge
        sowie Rückforderungen ins Wanken geraten und die fi-
        nanzielle Tragfähigkeit der SOKA-BAU in Zukunft nicht
        mehr sicher sein .
        Unter den Betrieben des Baunebengewerbes wird die-
        se neue Situation etwas anders betrachtet . Dies ist in den
        Zuschriften, die mich und unsere Fraktion in den letzten
        Tagen erreichen, klar zu begreifen . Denn viele Betrof-
        fene, wie zum Beispiel Elektrohandwerk, Tischler und
        Schreiner, die nur bedingt mit baulichen Dienstleistun-
        gen zu tun haben, sahen sich in der Vergangenheit und
        sehen sich auch aktuell immer stärker im umfassenden
        Anspruch der SOKA-BAU aufgenommen . Sie möch-
        ten nicht in den stark ausgeweiteten Geltungsbereich
        der Sozialkasse einbezogen werden und verlangen eine
        deutlichere Abgrenzung der fachlichen und tariflichen
        Zuständigkeiten zwischen dem Baunebengewerbe und
        dem -hauptgewerbe . Die baugewerblichen Handwerke
        müssen, auch wenn sie tarifungebunden sind, wegen der
        Allgemeinverbindlichkeit in die Sozialkasse einzahlen .
        Die baunebengewerblichen Gewerke und ein Großteil
        der Mischbetriebe sehen dafür aber kein Bedürfnis und
        fordern schon lange, dass die SOKA-BAU sich auf deren
        Zuständigkeiten im Bauhauptgewerbe beschränkt . Wenn
        aber der Tarifvertrag nicht mehr für allgemeinverbindlich
        erklärt werden darf, müssen tarifungebundene Arbeitge-
        ber sowie Baunebengewerbe und Mischbetriebe keine
        Beiträge mehr einzahlen .
        Wir als Koalitionsfraktion erkennen die besondere
        Leistung der Sozialkassenverfahren im Baugewerbe an
        mit den spezifischen Lösungen, die den Beschäftigten
        der Baubranche mit der Gewährleistung einer Altersver-
        sorgung, dem Anspruch auf einen vollen Jahresurlaub
        und die Finanzierung der überbetrieblichen Ausbildung
        zugutekommen . Daher verstehen wir die Befürchtungen
        der SOKA-BAU, mit unzählbaren Rückforderungszah-
        lungen in Milliardenhöhe sowie mit dem Ausfall der
        laufenden Einzahlungen konfrontiert zu werden . Dass
        die SOKA-BAU jetzt nach den Beschlüssen des Bundes-
        arbeitsgerichtes Sorge vor Überschuldung hat und nach
        einer Klärung der Rechtsfolgen ruft, können wir nach-
        vollziehen .
        Zur Beseitigung dieser Rechtsunsicherheit, aber auch
        aufgrund des Wegfalls der Rechtsgrundlage durch die
        Unwirksamkeitserklärung der AVEs, wird nun eine Kor-
        rektur durch den Gesetzgeber gefordert .
        Wir müssen uns die Frage stellen, ob eine gesetzli-
        che Regelung hier angebracht ist, und dies mit äußerster
        Vorsicht angehen . Als Gesetzgeber müssen wir zunächst
        sorgfältig prüfen, ob die Sachlage und ihre Rechtsfolgen
        tatsächlich nach einer verbindlich durch ein Gesetz ange-
        ordneten Lösung rufen .
        Erforderlich erscheint mir daher, das Augenmerk auf
        die weiteren Betroffenen zu lenken, nämlich die Betriebe
        des baunahen Gewerbes und die Mischbetriebe . Für die
        tarifgebundenen Betriebe des Baugewerbes ändert sich
        nichts . Für die OT-Betriebe im Baugewerbe ändert sich
        jetzt zwar etwas, aber hier könnte man es noch am ehes-
        ten vertreten, dass sie dem Tarifvertrag zur SOKA-BAU
        zuzurechnen sind . Bei den baunahen Gewerken und bei
        den Mischbetrieben ist das jedoch eine äußerst kritische
        Frage . Die Loslösung von der SOKA-BAU war ja gerade
        das Ziel baunaher Gewerke und der Mischbetriebe, die
        sie mit den gerichtlichen Verfahren verfolgt haben . Hier
        nun als Gesetzgeber hinzugehen und diese gerichtlichen
        Entscheidungen, die aufgrund der bisherigen Rechtslage
        ergangen sind, nun rückwirkend für die Vergangenheit
        wieder aufzuheben und die Situation der Vergangenheit
        nachträglich als rechtens zu bewerten, erscheint mir äu-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 21043
        (A) (C)
        (B) (D)
        ßerst fraglich . Dies muss einer intensiven verfassungs-
        rechtlichen Prüfung unterzogen werden .
        Es ist für mich nachvollziehbar, dass alle durch das
        Urteil des Bundesarbeitsgerichts positiv betroffenen Un-
        ternehmen, Branchen und Bereiche eine nüchterne Wahr-
        nehmung der tariflichen Zuständigkeitsbereiche verlan-
        gen . Dies ist in meinen Augen auch ihr gutes Recht .
        In diesem Zusammenhang muss auch die vom BAG
        angesprochene „große Einschränkungsklausel“ in die
        Überlegungen einbezogen werden .
        Die im Moment befürchtete finanzielle Schieflage der
        SOKA-BAU bis hin zur befürchteten Insolvenz ist bisher
        noch nicht nachvollziehbar belegt . Daher muss auch dies
        auf den Prüfstand gestellt werden, da dies auch gerade als
        Grund eines gesetzgeberischen Handelns angeführt wird .
        Hier spielen gewiss auch die möglichen Rückforde-
        rungen eine große Rolle . Natürlich müssen wir diese im
        Rahmen des gesetzgeberischen Handelns berücksichti-
        gen, da wir grundsätzlich ein Interesse an dem Fortbe-
        stand der SOKA-BAU haben .
        Allerdings muss man dann redlicherweise auch die
        Frage stellen und beantworten, was mit möglichen Nach-
        zahlungen geschehen soll, die die SOKA-BAU aufgrund
        eines vom Gesetzgeber erlassenen Rettungsgesetzes ein-
        fordern könnte, die aber nach dem Urteil des Bundesar-
        beitsgerichtes nun nicht zu zahlen wären . Auch hier stel-
        len sich verfassungsrechtliche Fragen .
        Mit dieser Aufzählung von Fragen sollen nur einige
        aufgeworfen werden, obwohl noch weitere aufgeworfen
        werden müssen . Diese sind im Rahmen des weiteren Ge-
        setzgebungsverfahrens zu stellen und zu beantworten .
        Diese müssen zuerst vollumfänglich beantwortet wer-
        den, bevor das Verfahren beendet werden kann .
        Vor Beendigung des Verfahrens muss in meinen Au-
        gen auch geklärt sein, welche Betriebe zur SOKA-BAU
        zahlen müssen und welche nicht . Bevor dies nicht ge-
        klärt ist, ist eine Beendigung des Verfahrens schwierig .
        Schließlich wurde die Nichtzahlung durch das BAG
        bestätigt . Bevor diese Entscheidung quasi aufgehoben
        wird, müssen alle Beteiligten diese Frage geklärt und be-
        antwortet haben .
        Tobias Zech (CDU/CSU): Von den Leistungen der
        SOKA-BAU profitieren laut eigenen Auskünften mehr
        als 145 000 Betriebe, über 330 Millionen Euro gehen
        jedes Jahr an rund 370 000 Rentner, und für mehr als
        35 000 Auszubildende werden Leistungen in Höhe von
        300 Millionen Euro aufgebracht . Nicht zuletzt ist die zur
        SOKA-BAU gehörende ZVK-BAU AG (Zusatzversor-
        gungskasse des Baugewerbes AG) die größte Pensions-
        kasse Deutschlands .
        Die Zahlen sprechen für sich: Die Sicherung der Sozi-
        alkassenverfahren im Baugewerbe ist ein Thematik von
        nicht zu unterschätzender Bedeutung .
        Die SOKA-BAU ermöglicht Flexibilität und Si-
        cherheit in einer Branche, die ständig vor vielfältigen
        Herausforderungen steht . Von der Abhängigkeit von
        Witterungsbedingungen, einer großen Häufigkeit von Ar-
        beitgeberwechseln bis hin zu kleingewerblichen Unter-
        nehmsstrukturen . Die SOKA-BAU sorgt also dafür, dass
        trotz dieser schwierigen Verhältnisse für die Arbeitneh-
        mer keine Nachteile bei Rente, Urlaub und Ausbildung
        entstehen und gewährleistet darüber hinaus die Einhal-
        tung des branchenweiten Mindestlohns von Unterneh-
        men aus dem In- und Ausland .
        Diese wichtigen Leistungen verdanken wir in erster
        Linie der im Baugewerbe bestehenden Tarifpartner-
        schaft – wie sie natürlich in vielen anderen Branchen
        durch Tarifpartnerschaften ebenso ermöglicht wird . Die-
        ses System ist eine der Stützen unserer deutschen Wirt-
        schaftskraft . Es gilt, sie zu schützen .
        Und ich sage ganz deutlich: Für mich bedeutet der
        Schutz der Tarifpartnerschaft auch immer so wenig staat-
        licher Eingriff wie möglich . Wir haben ja auch nicht
        grundlos die Tarifautonomie in unserem Grundgesetz
        verankert .
        Trotzdem ist es unsere Aufgabe, sicherzustellen, dass
        eine, wie in diesem Fall seit 1949 funktionierende sozial-
        partnerschaftliche Stütze, die Vorteile sowohl für Arbeit-
        nehmer als auch für Arbeitgeber bietet, nicht ins Wanken
        gerät – vorausgesetzt, sie erfüllt die geltenden Regeln,
        und in diesem Einzelfall habe ich, ehrlich gesagt, noch
        viele offene Fragen . Ganz zu schweigen von der offenen
        Frage der juristischen Auswirkungen der Unwirksamkeit
        der Allgemeinverbindlicherklärungen .
        Die Sicherung der Sozialkassenverfahren im Bauge-
        werbe ist ein komplexes Unterfangen . Schließlich geht es
        hier nicht nur um die SOKA-BAU, sondern vielmehr um
        eine Handvoll verschiedener Akteure beziehungsweise
        Faktoren, die offenbar zum Teil sehr verschiedene Inte-
        ressen und auch Einschätzungen der Situation vertreten
        bzw . nahelegen:
        Da wäre zum einen das Bundesarbeitsgericht, das im
        September einige Allgemeinverbindlicherklärungen un-
        ter anderem aufgrund der fehlenden Ministererklärung
        sowie in Teilen wegen der 50-Prozent-Quote für unwirk-
        sam erklärt hat – der Grund weshalb wir heute überhaupt
        über die SOKA-BAU sprechen .
        Des Weiteren ist da natürlich noch die SOKA-BAU,
        deren Zahlungsfähigkeit hier zur Debatte steht und die
        den vorliegenden Gesetzentwurf unterstützt .
        Der Gesetzentwurf, der die Allgemeinverbindlichkeit
        rückwirkend vorschreibt, ist ebenfalls ausgiebige Dis-
        kussionen wert .
        Und es gibt verschiedene Stimmen, die die Allge-
        meinverbindlicherklärung anzweifeln und/oder denen
        die fachlichen und tariflichen Zuständigkeitsbereiche
        nicht ausreichend definiert sind.
        Wie man sieht, ist bei diesem Gesetzesvorhaben also
        ein besonders kritischer Blick geboten . Bei diesem kriti-
        schen Blick bitte ich um Unterstützung der Kolleginnen
        und Kollegen . Ich bin gespannt auf die Ergebnisse der
        kommenden Debatten .
        Bernd Rützel (SPD): Die zusätzlichen Sozialkassen
        in der Bauwirtschaft leisten einen wichtigen Beitrag zur
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201621044
        (A) (C)
        (B) (D)
        Absicherung der Beschäftigten im Bauhauptgewerbe .
        Die gemeinsamen Einrichtungen der Tarifvertragspar-
        teien schaffen einen Ausgleich für die strukturbeding-
        ten Nachteile der Bauarbeitnehmer . Sie haben eine lan-
        ge Tradition . Seit Jahrzehnten erbringen sie verlässlich
        Leistungen .
        Hiervon profitieren nicht nur Arbeitnehmerinnen und
        Arbeitnehmer, Auszubildende sowie Rentnerinnen und
        Rentner, sondern letztlich das gesamte Bauhauptgewer-
        be . Bauarbeitnehmer erhalten oft eine gesetzliche Rente,
        die nur knapp über der Grundsicherung liegt . Eine be-
        triebliche Altersversorgung gibt es – auch infolge häufi-
        ger Arbeitgeberwechsel – selten . Über die SOKA-BAU
        erhalten Bauarbeitnehmer Rentenbeihilfe .
        Das Ausbildungskassenverfahren garantiert eine qua-
        litativ hochwertige, überbetriebliche Berufsausbildung .
        Im Baugewerbe gibt es große saisonale Schwankungen
        und häufige Arbeitgeberwechsel. Daher gibt es häufig
        Probleme für Bauarbeitnehmer, ihren Urlaub zu nehmen .
        Im Urlaubskassenverfahren werden die Urlaubsansprü-
        che der Bauarbeitnehmer gesichert .
        Die SOKA-BAU organisiert für die Agentur für Ar-
        beit den Beitragseinzug im Rahmen der Winterbauför-
        derung . Die staatliche Winterbauförderung stellt sicher,
        dass Bauarbeitnehmer in der Schlechtwetterzeit nicht
        von Beschäftigungsverlusten bedroht werden .
        Von den Leistungen der Sozialkassen des Bauhaupt-
        gewerbes profitieren derzeit etwa 700 000 Bau-Arbeit-
        nehmer, 35 000 Auszubildende sowie 370 000 Rentner .
        Diese Menschen und ihre Ansprüche müssen wir schüt-
        zen . Auch das Bundesarbeitsgericht bestreitet nicht das
        öffentliche Interesse an den Sozialkassen des Bauhaupt-
        gewerbes .
        Daher ist es gut und wichtig, dass wir jetzt schnell
        handeln . Die besondere sozialpolitische Bedeutung der
        Sozialkassen haben wir hier im Haus zuletzt im Rahmen
        der AVE-Reform im Jahr 2014 ausdrücklich anerkannt .
        Wir können deshalb nicht zulassen, dass diesem wichti-
        gen Instrument durch die Entscheidungen des Bundesar-
        beitsgerichts nachträglich der Boden entzogen wird . Vor
        diesem Hintergrund steht außer Frage, dass wir zeitnah
        handeln müssen .
        Wir wollen im Verbund mit dem Bausozialpartnern
        und der SOKA-BAU eine gesetzliche Lösung, mit der
        die Verbindlichkeit der Sozialkassenverfahren für alle
        Arbeitgeber im Bauhauptgewerbe sichergestellt wird . In
        dem Gesetz sollen die bislang für allgemeinverbindlich
        erklärten Sozialkassentarifverträge für alle Arbeitgeber
        verbindlich angeordnet werden . Wir klären damit beste-
        hende Unklarheiten . Nur mit einem Gesetz kann rechts-
        sicher und belastbar den Bedenken des Bundesarbeitsge-
        richts entgegengetreten werden .
        Nur mit unserem Gesetz können wir garantieren, dass
        die Leistungen der SOKA-BAU von allen Arbeitgebern
        gemeinsam getragen werden . Dem entspricht, dass auch
        alle Arbeitnehmer – unabhängig von der Tarifbindung ih-
        rer Arbeitgeber – Anteil an den Leistungen haben sollen .
        Das Gesetz gilt für alle gleichermaßen: für im Ausland
        ansässige Arbeitgeber und ihre nach Deutschland ent-
        sandten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer genauso
        wie für im Inland ansässige Arbeitgeber und deren Be-
        schäftigte . So sorgt die SOKA-BAU zudem für einen fai-
        ren Wettbewerb in der Branche . Damit sie branchenspe-
        zifische Nachteile weiterhin ausgleichen kann, müssen
        wir jetzt tätig werden .
        Jutta Krellmann (DIE LINKE): Den ersten großen
        politischen Konflikt, den ich Mitte der Siebzigerjahre
        als Jugend- und Auszubildendenvertreterin in meinem
        Betrieb erlebt habe, war die aufkommende Jugendar-
        beitslosigkeit . Damals war unsere Forderung: Wer nicht
        ausbildet, muss zahlen! Wenn Betriebe selbst nicht für
        Nachwuchs sorgen, müssen sie zumindest die Betriebe
        mitfinanzieren, die es tun. Diese Ausbildungsumlage
        ist bis heute leider nur in wenigen Branchen zu finden.
        Eine davon ist die Bauwirtschaft, und verwaltet wird die
        Umlage durch die Sozialkassen der Bauwirtschaft, die
        SOKA-BAU . Einst vor 68 Jahren als Urlaubs- und Lohn-
        ausgleichskasse der Bauwirtschaft gegründet, übernimmt
        sie heute weitere wichtige Aufgaben, wie die Sicherung
        von Arbeitszeitkonten, tariflichen Zusatzrenten oder
        eben die Ausbildungsumlage .
        Damit die SOKA-BAU diese Aufgaben erfüllen kann
        und alle Beschäftigten in der Branche von der sozialen
        Absicherung profitieren können, sind über die Allge-
        meinverbindlichkeitserklärung von geltenden Tarifver-
        träge der Bauwirtschaft und Baunebenbranchen alle Be-
        teiligten mit einbezogen – ob sie einen Tarifvertrag haben
        oder nicht, ob sie Arbeitgeber sind oder Arbeitnehmer .
        Dass da einige Arbeitgeber rumjammern, ist nicht ver-
        wunderlich . Dass sie sich mit ihrer Klage vor dem Bun-
        desarbeitsgericht gegenüber diesem System aber entso-
        lidarisiert haben, hat mich persönlich sehr empört . Die
        unabsehbaren Folgen des Urteils hat die SOKA-BAU
        in die Insolvenzberatung getrieben, und daher findet
        der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Verhinde-
        rung einer Pleite unsere volle Zustimmung . Der radikale
        Schritt, den Frau Nahles mit diesem Gesetzentwurf zur
        Rettung der SOKA-BAU geht, wäre aber gar nicht nötig
        gewesen . Und ich erkläre Ihnen auch, warum .
        Es wäre jetzt nicht nötig, das Regierungshandeln seit
        2006 nachträglich zu legitimieren, wenn die Bundesre-
        gierungen der vergangenen zwei Jahrzehnte die Tarifbin-
        dung nicht derart massiv geschwächt hätten – ich nenne
        hier nur einmal die kalte Aussperrung oder die Duldung
        der OT-Mitgliedschaften von Arbeitgebern als zwei von
        vielen Angriffen auf die Tarifbindung . Das Wirken von
        Franz Müntefering über Franz Josef Jung bis hin zu
        Ursula von der Leyen im Bundesarbeitsministerium lässt
        sich auch an der Statistik ablesen: Laut WSI waren 1998
        über die Hälfte der Betriebe nicht tarifgebunden, sieb-
        zehn Jahre später waren es schon über 70 Prozent . Diese
        massive Tarifflucht wäre ohne das staatliche Eingreifen
        in die Tarifautonomie nie möglich gewesen . Und ohne
        diese aktive Parteinahme zugunsten von Arbeitgebern,
        das gehört auch zur Wahrheit, wäre die Situation bei den
        Sozialkassen der Bauwirtschaft heute sicher eine andere .
        Frau Nahles, Sie müssen hier den Mist aufräumen, den
        Ihre Vorgänger hinterlassen haben, und diesmal haben
        Sie auch unsere volle Unterstützung, weil es uns um die
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 21045
        (A) (C)
        (B) (D)
        Beschäftigten geht . Auch Ihr Anliegen, die Tarifbindung
        staatlich wieder zu stärken, trifft auf meine Zustimmung .
        Ich kann Ihnen aber nur davon abraten, Tarifbindung mit-
        tels tariflicher Öffnungsklauseln oder „Experimentier-
        klauseln“, wie jetzt beim Arbeitszeitgesetz, in erster Linie
        nur wieder attraktiv für Arbeitgeber zu machen . Damit
        tun Sie weder Ihren Gewerkschaftsfreunden noch dem
        Handlungsspielraum Ihres eigenen Ministeriums einen
        Gefallen . Denn damit hintertreiben Sie die Kernfunktion
        von Tarifbindung und der ihr zugrundliegenden Tarifver-
        träge und hinterlassen Ihrem Nachfolger wiederum einen
        Misthaufen, den er oder sie dann künftig beseitigten darf .
        Die Situation der SOKA-BAU sollte uns allen eine
        Lehre sein, so schnell wie möglich mit dem konsequenten
        Wiederaufbau der Tarifbindung im Sinne der Beschäftig-
        ten zu beginnen . Ein sofortiges Verbot von OT-Mitglied-
        schaften wäre da ein guter Anfang .
        Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Die Sozialkasse im Baugewerbe existiert seit über
        60 Jahren . Sie vereint die Urlaubs- und Lohnausgleichs-
        kasse der Bauwirtschaft sowie die Zusatzversorgungs-
        kasse des Baugewerbes . Sie hat große Verdienste um
        bessere Arbeitsbedingungen in dieser Branche . Das ist
        auch dringend nötig, denn diese Branche ist, wie kaum
        eine andere, von wechselnden Beschäftigungen und sai-
        sonalen Schwankungen geprägt .
        Die Basis dieser Sozialkasse ist ein Tarifvertrag der
        Sozialpartner in der Baubranche . Dieser Tarifvertrag gilt
        für alle in der Branche, also auch für nichttarifgebundene
        Betriebe, und das ist im Fall einer solchen gemeinsamen
        Einrichtung eine absolute Notwendigkeit . Entsprechend
        war die Allgemeinverbindlichkeit der entsprechenden
        Tarifverträge in den letzten Jahrzehnten eine Selbstver-
        ständlichkeit .
        Jetzt hat das Bundesarbeitsgericht entschieden, dass
        die Allgemeinverbindlichkeit dieses Tarifvertrags durch
        das Bundesarbeitsministerium seit 2006 unwirksam ist .
        Die Gründe sind vor allem formaler Natur . Zum einen
        fehlt die Unterschrift von den damaligen Arbeitsministern
        Olaf Scholz und Ursula von der Leyen . Zum anderen war
        das damals gesetzlich notwendige 50-Prozent-Quorum
        der Beschäftigten in tarifgebundenen Betrieben aus Sicht
        des Gerichts verfehlt .
        Ich halte das Urteil für bedauerlich und kann auch
        kaum nachvollziehen, dass eine bewährte und allgemein
        anerkannte Institution wie die SOKA-BAU auf dieser
        Grundlage in Existenznot gebracht wird . Immerhin erhal-
        ten mehr als 145 000 Betriebe für ihre gezahlten Beiträge
        Leistungen und Service von der SOKA-BAU . Mehr als
        370 000 Rentnerinnen und Rentner erhalten Leistungen .
        Mehr als 825 000 Anwärtern werden jährlich Beiträge
        für die Altersversorgung gutgeschrieben . Und mehr als
        35 000 Auszubildende profitieren von den Ausbildungs-
        betrieben und überbetrieblichen Ausbildungszentren .
        Zumindest hätte ich erwartet, dass das Gericht bei einer
        solchen Entscheidung in Erwägung zieht, dass die über-
        wiegende Zahl der Unternehmen und Beschäftigten seit
        Jahren auf den Bestand der Kasse vertraut haben . Zwei-
        fellos hat sich aber auch das Bundesarbeitsministerium
        nicht mit Ruhm bekleckert, denn es hat zugelassen, dass
        diese Allgemeinverbindlichkeit so angreifbar ist .
        Nun ist der Schaden da, und wir brauchen eine gute
        Lösung . Allerdings muss die Lösung juristisch sauber
        sein und den Unternehmen und Beschäftigten endlich
        Rechtssicherheit bringen .
        Ob der Gesetzentwurf der Bundesregierung – insbe-
        sondere die Auswirkung auf die Jahre ab 2006 – diesen
        Ansprüchen genügt, werden wir genau prüfen . Notwen-
        dig sind aus unserer Sicht eine absolute Transparenz des
        Verfahrens und ein offener Umgang mit den Argumen-
        ten, die dafür und dagegen sprechen . Wenn es gangbare
        Alternativen gibt, gehören sie auf den Tisch .
        Seien Sie versichert, wir werden den Prozess kon-
        struktiv begleiten . Denn für uns Grüne ist klar: Die
        SOKA-BAU ist wichtig, und ihre Existenz muss unbe-
        dingt gesichert werden .
        Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
        Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de
        Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
        209. Sitzung
        Inhaltsverzeichnis
        TOP 3 Verantwortung in der kerntechnischen Entsorgung
        TOP 4 Schutz von Kindern und Familien vor Armut
        TOP 5 Bundeswehreinsatz in Südsudan (UNMISS)
        TOP 6 Bundeswehreinsatz in Darfur (UNAMID)
        TOP 33 Überweisungen im vereinfachten Verfahren
        TOP 34, ZP 2 Abschließende Beratungen ohne Aussprache
        ZP 3 Aktuelle Stunde zur Beteiligung am US-Drohnenkrieg über die Relaisstation Ramstein
        TOP 7 Änderung des Conterganstiftungsgesetzes
        TOP 8 Schutz der Pressefreiheit
        TOP 9 Bundeswehreinsatz in Afghanistan
        TOP 10 Personalbemessung in der Altenpflege
        TOP 11 Bekämpfung der Schwarzarbeit
        TOP 12 Einflussmöglichkeiten auf politische Willensbildung
        TOP 13 Nachtragshaushaltsgesetz 2016
        TOP 14 Lebensdauer technischer Geräte
        ZP 4 Manipulation an digitalen Grundaufzeichnungen
        TOP 16 Schutz zahlungsunfähiger Staaten vor Spekulanten
        ZP 5 Vergütungsanspruch von Urhebern und Künstlern
        TOP 18 Frieden und Abrüstung in Europa
        ZP 6 Verbesserung des Schutzes gegen Nachstellungen
        ZP 7 Stromerzeugung aus Kraft-Wärme-Kopplung
        TOP 17 Änderung des Soldatengesetzes
        TOP 19 Änderung des Bundeswaldgesetzes
        TOP 20 Änderung des Kreislaufwirtschaftsgesetzes
        TOP 21 Gewerbeabfallverordnung
        TOP 22 Trilaterale Partnerschaften in der ASEAN-Region
        TOP 23 Wissenschaftskooperation in Subsahara-Afrika
        TOP 24 GKV-Selbstverwaltungsstärkungsgesetz
        TOP 25 Medienöffentlichkeit in Gerichtsverfahren
        TOP 26 Fortbestand der Sozialkassen im Bauhauptgewerbe
        Anlagen
        Anlage 1
        Anlage 2
        Anlage 3
        Anlage 4
        Anlage 5
        Anlage 6
        Anlage 7
        Anlage 8
        Anlage 9
        Anlage 10
        Anlage 11
        Anlage 12
        Anlage 13
        Anlage 14
        Anlage 15
        Anlage 16
        Anlage 17
        Anlage 18
        Anlage 19
        Anlage 20
        Anlage 21
        Anlage 22
        Anlage 23
        Anlage 24