2) Anlage 24
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
(A) (C)
(B) (D)
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 20981
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Brandt, Helmut CDU/CSU 15 .12 .2016
Brugger, Agnieszka BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
15 .12 .2016
Bülow, Marco SPD 15 .12 .2016
Deligöz, Ekin BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
15 .12 .2016
Ernstberger, Petra SPD 15 .12 .2016
Gunkel, Wolfgang SPD 15 .12 .2016
Gysi, Dr . Gregor DIE LINKE 15 .12 .2016
Heck, Dr . Stefan CDU/CSU 15 .12 .2016
Hübinger, Anette CDU/CSU 15 .12 .2016
Ilgen, Matthias SPD 15 .12 .2016
Kekeritz, Uwe BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
15 .12 .2016
Lerchenfeld, Philipp
Graf
CDU/CSU 15 .12 .2016
Leyen, Dr . Ursula von
der
CDU/CSU 15 .12 .2016
Merkel, Dr . Angela CDU/CSU 15 .12 .2016
Mortler, Marlene CDU/CSU 15 .12 .2016
Müller (Chemnitz),
Detlef
SPD 15 .12 .2016
Nahles, Andrea SPD 15 .12 .2016
Scharfenberg, Elisabeth BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
15 .12 .2016
Schäuble, Dr . Wolfgang CDU/CSU 15 .12 .2016
Schlecht, Michael DIE LINKE 15 .12 .2016
Schmidt (Fürth),
Christian
CDU/CSU 15 .12 .2016
Schwarz, Andreas SPD 15 .12 .2016
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Stein, Peter CDU/CSU 15 .12 .2016
Steinbach, Erika CDU/CSU 15 .12 .2016
Strebl, Matthäus CDU/CSU 15 .12 .2016
Uhl, Dr . Hans-Peter CDU/CSU 15 .12 .2016
Vries, Kees de CDU/CSU 15 .12 .2016
Walter-Rosenheimer,
Beate
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
15 .12 .2016
Weber, Gabi SPD 15 .12 .2016
Weinberg, Harald DIE LINKE 15 .12 .2016
Zeulner, Emmi * CDU/CSU 15 .12 .2016
*aufgrund gesetzlichen Mutterschutzes
Anlage 2
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Dr. Nina Scheer, Ulrike Bahr,
Lothar Binding (Heidelberg), Bernhard Daldrup,
Dr. Ute Finckh-Krämer, Bettina Hagedorn, Frank
Junge, Gabriele Katzmarek, Hiltrud Lotze,
Dr. Matthias Miersch, Klaus Mindrup, Bettina
Müller, Christian Petry, Susann Rüthrich, Johann
Saathoff, Dr. Hans-Joachim Schabedoth, Ewald
Schurer, Norbert Spinrath und Dagmar Ziegler
(alle SPD) zu der namentlichen Abstimmung über
den von den Fraktionen CDU/CSU, SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-
wurf eines Gesetzes zur Neuordnung der Verant-
wortung in der kerntechnischen Entsorgung (Ta-
gesordnungspunkt 3)
Mit der heutigen Entscheidung geht unser Parla-
ment den historischen Schritt einer Neuordnung der
Verantwortung und damit auch Finanzierung der Ato-
menergie-Folgelasten . Zwar liegt im Sinne des Ver-
ursacherprinzips die Verantwortung zur Abwicklung
der Atomenergienutzung richtigerweise grundsätzlich
bei den Betreibern von Atomkraftwerken und den be-
treffenden Energiekonzernen . Letztlich wird aber die
Allgemeinheit zur Verantwortung gezogen, wenn die
Betreiber etwa durch Konzernaufspaltungen oder In-
solvenzen nicht mehr zur Haftung herangezogen wer-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201620982
(A) (C)
(B) (D)
den können . Zugleich muss uns bewusst sein, dass über
Jahrzehnte unterbliebene Vorsorge nachträglich kaum
mehr erfüllbar ist .
Während mit dem heute zu verabschiedenden Ge-
setz die auch ökonomische Verantwortung von Still-
legung, Rückbau und Verpackung beim Betreiber ver-
bleibt, geht die Verantwortung für Zwischenlagerung
und Endlagerung auf den Staat über, insofern die hier-
für nun gesetzlich formulierten Voraussetzungen erfüllt
werden . Die langfristig währende Verantwortung für die
Zwischenlagerung und Endlagerung wird dabei über ei-
nen öffentlich-rechtlichen Fonds getragen, der vonsei-
ten der Betreiber mit einem Vermögen von insgesamt
23,556 Milliarden Euro auszustatten sein wird .
Mit den Regelungen zur Nachhaftung verhindern wir
die Enthaftung der Konzerne durch Betreiberinsolvenzen
oder Konzernaufspaltungen . Die Verabschiedung eines
Nachhaftungsgesetzes bereits im letzten Jahr war vonsei-
ten unseres Koalitionspartners trotz erfolgten Kabinetts-
beschlusses verhindert worden . Umso wichtiger ist es,
dass eine Nachhaftungsregelung nun mitverabschiedet
wird . Kritisch betrachten wir dabei, dass sich die Nach-
haftung bei Konzernaufspaltung nur auf den Bereich der
Zwischen- und Endlagerung, hingegen nicht auch auf die
Phase der Stilllegung, des Rückbaus und der Verpackung
bezieht . Eine umfassendere Nachhaftungsregelung konn-
te leider nicht geeinigt werden .
Mit den atomgesetzlichen Änderungen wird die Op-
tion des sogenannten sicheren Einschlusses nahezu ab-
geschafft . Die Ausschließlichkeit des Rückbaus hat die
SPD seit langem gefordert .
Erst in der vergangenen Woche hat das Bundesver-
fassungsgericht den politisch in Abwägung mit Ge-
sundheits- und Umweltschutzbedarfen entschiedenen
Atomausstieg als im Wesentlichen verfassungskonform
beschieden . Allein vor diesem Hintergrund erwarte ich
von den Atomkonzernen die Rücknahme aller im Zusam-
menhang mit Atomenergienutzung zusammenhängenden
Klagen, auch solcher, die von den jüngsten Ankündigun-
gen der Konzerne nicht erfasst sind . Es entspricht unse-
rem parlamentarischen Selbstverständnis, dass im Fall
eines Aufrechterhaltens von Klagen vonseiten der Kon-
zerne und einer sich hierüber zulasten der Allgemeinheit
verschlechternden Vermögenssituation eine Neuberech-
nung der Kostenlasten vorzunehmen wäre . Es entspricht
auch der mit einem Entschließungsantrag der Fraktionen
CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen – Aus-
schussdrucksache 18(9)1073 – erklärten Erwartungshal-
tung gegenüber der Bundesregierung, die Rücknahme
aller Klagen zu erreichen .
Der Entschließungsantrag bringt zudem die Erwar-
tungshaltung zum Ausdruck, dass die Geldanlage des
einzurichtenden Fonds nachhaltig erfolgt, dass die Mittel
nicht in Projekten oder Anlagen Verwendung finden, die
dem übergeordneten Willen des Gesetzgebers zuwider-
laufen, die Nutzung der Atomenergie zu beenden . Hier-
für hatte sich die SPD-Fraktion eingesetzt . Wir bedauern,
dass unser Koalitionspartner diesbezüglich keiner ge-
setzlichen Regelung zustimmen wollte .
Während des parlamentarischen Verfahrens ist es ge-
lungen, die Beteiligung des Parlaments für den weiteren
Prozess, etwa in der Zusammensetzung des Kuratoriums
zur Begleitung des Fonds und dessen Einrichtung, zu ge-
währleisten .
In Bezug auf die Einsetzung von Kommissionen im
Vorfeld parlamentarischer Beratungen hat sich die Kom-
mission zur Überprüfung der Finanzierung des Kern-
energieausstiegs (KFK) als ein hilfreiches Instrument
erwiesen, einen Rechtsfrieden auch im Sinne anderer
zivilgesellschaftlicher Akteure herzustellen . Zugleich
dürfen außerparlamentarische Kommissionen nicht zur
faktischen Eingrenzung parlamentarischer Gestaltung
führen, wenn etwa bereits ein Regierungsentwurf von
Bindungswirkung in Bezug auf die Einstimmigkeit ei-
nes Kommissionsbeschlusses gekennzeichnet ist . Dies
wird dem parlamentarischen Beratungsprozess, den hie-
sigen öffentlichen Anhörungen, aber auch den einzelnen
Abgeordneten nicht gerecht und gefährdet nicht zuletzt
die Bedeutung der parlamentarisch-repräsentativen
Demokratie . Nach unserer Überzeugung sollten Kom-
missionen der hier eingesetzten Form nur in absoluten
Ausnahmefällen eingesetzt werden, wenn der Fokus ein-
zubeziehender Expertise dies über die Thematik und die
Dauer sowie den Hergang einer öffentlichen Auseinan-
dersetzung rechtfertigt .
In einer Gesamtbetrachtung begrüßen wir, dass mit
dem vorliegenden Gesetz ein Mehr an Rechtssicherheit
für die Kostentragung im Zusammenhang der Abwick-
lung der Atomenergienutzung geschaffen wird, und stim-
men dem Gesetzentwurf von CDU/CSU, SPD und Bünd-
nis 90/Die Grünen zu .
Anlage 3
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Bärbel Höhn, Harald Ebner,
Matthias Gastel, Oliver Krischer, Steffi Lemke und
Tabea Rößner (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
zu der namentlichen Abstimmung über den von
den Fraktionen CDU/CSU, SPD und BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurf eines
Gesetzes zur Neuordnung der Verantwortung in
der kerntechnischen Entsorgung (Tagesordnungs-
punkt 3)
Jahrzehntelang haben die vier großen Energiekonzer-
ne in Deutschland mit der Produktion von Atomstrom
Milliarden verdient und gleichzeitig Unmengen an radi-
oaktivem Müll produziert, der nachfolgende Generatio-
nen noch lange belasten wird .
Der Gesetzentwurf zur Umsetzung der Empfehlungen
der Kommission zur Finanzierung des AKW-Rückbaus
und der Atommüllendlagerung (KFK) kommt zu spät,
und er überträgt das Risiko der letztlich unabsehba-
ren Kostensteigerungen im weiteren Umgang mit dem
Atommüll an die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler .
Der Gesetzentwurf zur Umsetzung der KFK-Empfehlun-
gen stellt aber auch sicher, dass die Atomkonzerne für
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 20983
(A) (C)
(B) (D)
die Beseitigung des hochgefährlichen Atommülls zahlen .
Für Stilllegung und Rückbau werden die Unternehmen
bis 2040 rund 60 Milliarden Euro aufwenden müssen .
Ihre Rückstellungen dafür werden sie künftig transparent
mit liquiden Mitteln unterlegen müssen . Dies wird von
Bundesregierung und Bundestag überprüft . Ihre Rück-
stellungen von bisher gut 17 Milliarden für die Finan-
zierung von Zwischen- und Endlagerung des Atommülls
müssen die Konzerne an den Staat in bar übertragen .
Hinzu kommt ein Risikoaufschlag von 35 Prozent, um
künftige Risiken abzudecken; es wird also ein 24 Milli-
arden Euro starker öffentlich-rechtlicher Fonds gebildet .
Damit wird dem Risiko der Steuerzahlerinnen und Steu-
erzahler, bei Insolvenz oder Unternehmensumbildung
der Konzerne die gesamten anfallenden Atommüllkosten
tragen zu müssen, begegnet .
Im Zuge der Debatte um den Gesetzentwurf konn-
ten die Atomkonzerne dazu bewegt werden, die meis-
ten ihrer Klagen im Atomsektor zurückzuziehen . Die
beiden Klagen mit dem tatsächlich relevanten Finanz-
volumen bleiben allerdings bestehen, die Klage gegen
die Brennelementesteuer und die Klage Vattenfalls vor
dem Washingtoner Schiedsgericht ICSID . Sollten diese
erfolgreich sein, könnten sich die Konzerne darüber bis
zur Hälfte ihrer Einzahlungen in den Entsorgungsfonds
wieder zurückholen .
Mit dem Urteil der vergangenen Woche hat das Bun-
desverfassungsgericht in höchstrichterlicher Instanz der
Klage der EVU gegen den Atomausstiegsbeschluss von
2011 eine klare Absage erteilt . Das lässt vermuten, dass
es sich auch bei der Klage gegen die Brennelemente-
steuer nicht dem Rechtsverständnis der Atomkonzerne
anschließt . Wir halten aber nicht nur die bisherige Er-
hebung der Brennelementesteuer für rechtens, sondern
auch ihre Fortführung, solange die AKWs laufen. Die fi-
nanzielle Beteiligung der Atomkonzerne zum Beispiel an
den Sanierungskosten der Asse wird über die Brennele-
mentesteuer gewährleistet, und eine solche Beteiligung
ist absolut sachgerecht .
Die zweite finanzrelevante Klage ist die von Vattenfall
vor dem Internationalen Schiedsgericht ICSID . Es ist un-
wahrscheinlich, dass sich das Schiedsgericht in Washing-
ton die Rechtsauffassung unseres Bundesverfassungsge-
richts zu eigen macht, gelten doch vor Schiedsgerichten
vor allem die Interessen und Investitionen von Unterneh-
men als Leitlinien des Rechtsempfindens. Politisch hat
Vattenfall keinerlei Begründung mehr, Klage vor diesem
Internationalen Schiedsgericht zu führen, das für die Fäl-
le installiert wurde, in denen nationale Gerichte einem
Investor keine Gerechtigkeit widerfahren lassen . Das
BVerfG hat Vattenfall mit seinem Urteil bereits Gerech-
tigkeit widerfahren lassen .
Der Auftrag an die Bundesregierung mit der Verab-
schiedung des Gesetzes zur Neuordnung der Verantwor-
tung in der kerntechnischen Entsorgung ist also klar: Sie
muss dafür Sorge tragen, dass auch diese Klagen zu-
rückgenommen werden . Das ist sie dem versprochenen
Rechtsfrieden schuldig . Dabei kann sie auf unsere Unter-
stützung zählen .
Gerade als grüne Abgeordnete, die immer gegen die
unverantwortliche Nutzung der Atomkraft gekämpft ha-
ben, stehen wir auch für das Suchen nach verantwortli-
chen Lösungen der Probleme, die uns nach Abschalten
der Atomkraftwerke bleiben . Dieses Gesetz ist eine Not-
operation, weil es zu spät kommt . Es rettet, was zu retten
ist, und schützt damit die Steuerzahlerinnen und Steuer-
zahler vor noch größeren Risiken . Deshalb stimmen wir
ihm zu .
Anlage 4
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Dr. Julia Verlinden, Peter
Meiwald und Sven-Christian Kindler (alle BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN) zu der namentlichen Ab-
stimmung über den von den Fraktionen CDU/
CSU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-
brachten Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung
der Verantwortung in der kerntechnischen Entsor-
gung (Tagesordnungspunkt 3)
Wir begrüßen ausdrücklich die Einrichtung eines öf-
fentlich-rechtlichen Fonds für die Zwischen- und End-
lagerung des Atommülls als Umsetzung des Ergebnisses
der „Kommission zur Finanzierung des AKW-Rückbaus
und der Atommüllendlagerung“ (KFK) . Mit dem vorlie-
genden Gesetz werden die finanziellen Rückstellungen
der Atomkonzerne für die Zwischen- und Endlagerung
des Atommülls endlich in einen öffentlich-rechtlichen
Fonds übertragen . Bei Zahlung eines Risikozuschlags
von 35 Prozent bis spätestens 2022 entfällt die Nach-
haftung für die Unternehmen . Durch den Fonds wird
das Geld langfristig für die vorgesehenen Aufgaben
gesichert und vom wirtschaftlichen Schicksal der Ener-
gieversorgungsunternehmen (EVU) RWE, Eon, Vatten-
fall und EnBW entkoppelt . Dieser Fonds wird zukünftig
von einem Kuratorium mit demokratisch legitimierten
Vertretern aus dem Bundestag kontrolliert . Das ist eine
klare Verbesserung im Vergleich zum ersten Entwurf des
Gesetzes .
Für die Stilllegung und den Rückbau der Atomkraft-
werke (AKW) und die Verpackung des Atommülls blei-
ben die Betreiber der Atomkraftwerke weiterhin voll-
ständig finanziell verantwortlich und haften auch dann,
wenn die Kosten zukünftig hierfür steigen .
Die Verursacher des Atommülls, die Energieversorger,
saßen in der KFK mit am Tisch . Sie haben den Vorschlag
zur Neuregelung der Finanzierung der Atomaltlasten mit
verhandelt . Die EVU haben nun angekündigt, einen Teil
der Klagen gegen den Staat zurückzuziehen, wenn das
Gesetz verabschiedet wird . Dazu gehört beispielsweise
auch die Klage gegen Zahlungsbescheide im Zusammen-
hang mit dem Erkundungsbergwerk Gorleben . Dieser
Klageverzicht ist wichtig, aber reicht nicht aus .
Denn zwei zentrale Rechtsstreitigkeiten, die den fi-
nanziellen Großteil der Klagen mit mehreren Milliarden
Euro ausmachen, wollen die EVU aber weiterhin auf-
rechterhalten: die Auseinandersetzung um die Brenn-
elementesteuer und die Klage von Vattenfall vor dem
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201620984
(A) (C)
(B) (D)
internationalen Schiedsgericht in Washington gegen den
Atomausstieg – obwohl Vattenfall vom Bundesverfas-
sungsgericht ausdrücklich Rechtsschutz gewährt wurde .
Beides kann theoretisch zu Schadensersatzzahlungen
führen, die die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler zu
tragen haben, neben bereits heute entstandenen hohen
Gerichts- und Anwaltskosten . Es zeugt aber vor allem
davon, dass die Atomunternehmen – auch nach langer
gesellschaftlicher Auseinandersetzung um die Atom-
kraft – den großen gesellschaftlichen und politischen
Willen nach Ausstieg aus dieser Hochrisikotechnologie
und der Lastentragung nach dem Verursacherprinzip
nicht vollständig akzeptieren wollen . Zu einem komplet-
ten Rechtsfrieden bezüglich der Abwicklung der Atom-
kraft ist die Atomwirtschaft nicht bereit, sondern sie will
sich ihre Kosten über eingeklagte Schadensersatzzahlun-
gen teilweise wieder zurückholen . Das ist für uns nicht
akzeptabel . Zumal die Betreiber der AKW weitere Milli-
arden Euro sparen werden, wenn die Bundesregierung an
ihrer Positionierung festhält und die Brennelementesteu-
er zum Ende des Jahres einfach auslaufen lässt . Die Bun-
destagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen fordert, die
Steuer nicht nur weiter zu erheben, bis das letzte AKW
vom Netz geht, sondern die Steuer ab sofort auch um cir-
ca 50 Prozent anzuheben .
Heute kann noch niemand sagen, ob die Geldsumme,
die in den öffentlich-rechtlichen Fonds eingezahlt wird,
plus die angenommenen Zinsgewinne ausreichen, um den
Atommüll eine Million Jahre sicher zu lagern . Erhebliche
Kostensteigerungen bei einem Großprojekt aufgrund der
außergewöhnlichen Dimensionen und der mangelnden
konkreten Erfahrungswerte sind nicht auszuschließen .
Nicht nur die Kosten des Baus eines Atommüllendlagers
kann heute niemand genau berechnen . Auch bereits die
wissenschaftliche, ergebnisoffene Standortsuche wird
große Summen kosten, zumal die Suche nach einem si-
cheren Endlager in Deutschland noch gar nicht richtig
begonnen hat . Und wir brauchen unbedingt eine solche
sorgfältige Suche . Denn sonst wird es hinterher noch
teurer: Was es bedeutet, wenn ein ungeeigneter Standort
für Atommüll ausgewählt wird, sehen wir in Niedersach-
sen in der Asse, wo der schwach- und mittelradioaktive
Atommüll nach der Havarie nun aufwendig geborgen
werden muss: Dann kostet das Aufräumen sehr viel mehr
als der Bau eines Endlagers .
Die Rückstellungen plus Risikozuschlag müssen jetzt
gesichert werden, denn wir haben angesichts des Insol-
venzrisikos der EVU keine Zeit, abzuwarten, bis zu er-
wartende Kosten genauer ermittelt werden können . Wir
fordern, dass auch die Konzerne ehrlich ihre Verantwor-
tung in dieser zentralen gesellschaftlichen Auseinander-
setzung übernehmen – und dazu gehört die unverzügli-
che Herstellung vollständigen Rechtsfriedens in allen
Klageverfahren bezüglich des Atomausstiegs .
Wir erwarten, dass die Anlagerichtlinien des Fonds en-
keltauglich umgesetzt werden . Eine „nachhaltige Anla-
ge“ der Gelder bedeutet für uns insbesondere, dass nicht
nur eine Geldanlage in Unternehmen der Atomenergie
ausgeschlossen wird, sondern auch in fossile Energie-
träger und fossile Infrastrukturen . Denn die internatio-
nale Divestment-Bewegung lässt annehmen, dass solche
Geldanlagen, beispielsweise in Kohle oder Erdöl, nicht
nur politisch kontraproduktiv wirken würden, sondern
auch ökonomisch deutlich schneller an Wert verlieren
werden als der Bau eines Atommülllagers in Deutschland
dauern könnte .
Nach Abwägung dieser Punkte werden wir nicht ge-
gen das Gesetz stimmen, weil es einen ganz wichtigen
Schritt, nämlich die Sicherung der Rückstellungen mit
Risikozuschlag in einen öffentlich-rechtlichen Fonds,
vollzieht .
Wir können aber auch nicht für das Gesetz stimmen,
weil die Atomunternehmen, für welche die Bundesre-
publik Deutschland für den Bereich der Zwischen- und
Endlagerung des Atommülls die Haftung und damit auch
die finanziellen Risiken übernimmt, nicht zu einem voll-
ständigen Rechtsfrieden bereit sind und Milliardenkla-
gen gegen den Staat aufrechterhalten .
Deswegen enthalten wir uns bei der Abstimmung .
Anlage 5
Erklärungen nach § 31 GO
zu der namentlichen Abstimmung über den von
den Fraktionen CDU/CSU, SPD und BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurf ei-
nes Gesetzes zur Neuordnung der Verantwortung
in der kerntechnischen Entsorgung (Tagesord-
nungspunkt 3)
Heike Baehrens (SPD): Mit der heutigen Entschei-
dung wird die Neuordnung der Verantwortung und Fi-
nanzierung der Atomenergie-Folgelasten geregelt .
Während mit dem heute zu verabschiedenden Gesetz
die ökonomische Verantwortung von Stilllegung, Rück-
bau und Verpackung beim Betreiber verbleibt, geht die
Verantwortung für Zwischenlagerung und Endlagerung
auf den Staat über, wenn die hierfür nun gesetzlich for-
mulierten Voraussetzungen erfüllt werden . Die langfris-
tig währende Verantwortung für die Zwischenlagerung
und Endlagerung wird über einen öffentlich-rechtlichen
Fonds getragen, der vonseiten der Betreiber mit einem
Vermögen von insgesamt 23,556 Milliarden Euro auszu-
statten ist .
Mit den Regelungen zur Nachhaftung verhindern wir
die Enthaftung der Konzerne durch Betreiberinsolvenzen
oder Konzernaufspaltungen . Die Verabschiedung eines
Nachhaftungsgesetzes bereits im letzten Jahr war vonsei-
ten unseres Koalitionspartners trotz erfolgten Kabinetts-
beschlusses verhindert worden . Umso wichtiger ist es,
dass eine Nachhaftungsregelung nun mit verabschiedet
wird . Kritisch betrachte ich dabei, dass sich die Nach-
haftung bei Konzernaufspaltung nur auf den Bereich der
Zwischen- und Endlagerung, hingegen nicht auch auf die
Phase der Stilllegung, des Rückbaus und der Verpackung
bezieht . Eine umfassendere Nachhaftungsregelung wird
leider nicht von der CDU/CSU mitgetragen .
Mit den atomgesetzlichen Änderungen wird die Op-
tion des sogenannten sicheren Einschlusses nahezu ab-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 20985
(A) (C)
(B) (D)
geschafft . Die Ausschließlichkeit des Rückbaus hat die
SPD seit langem gefordert .
Gerade hat das Bundesverfassungsgericht den politisch
in Abwägung mit Gesundheits- und Umweltschutzbe-
darfen entschiedenen Atomausstieg als im Wesentlichen
verfassungskonform beschieden . Allein vor diesem Hin-
tergrund erwarte ich von den Atomkonzernen die Rück-
nahme aller im Zusammenhang mit Atomenergienutzung
zusammenhängenden Klagen, auch solcher, die von den
jüngsten Ankündigungen der Konzerne nicht erfasst sind .
Es entspricht meinem parlamentarischen Selbstverständ-
nis, dass im Fall eines Aufrechterhaltens von Klagen
vonseiten der Konzerne und einer sich hierüber zulasten
der Allgemeinheit verschlechternden Vermögenssituati-
on eine Neuberechnung der Kostenlasten vorzunehmen
ist . Es entspricht auch der mit einem Entschließungsan-
trag der Fraktionen CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die
Grünen – Ausschussdrucksache 18(9)1073 – erklärten
Erwartungshaltung gegenüber der Bundesregierung, die
Rücknahme aller Klagen zu erreichen .
Der Entschließungsantrag bringt zudem die Erwar-
tungshaltung zum Ausdruck, dass die Geldanlage des
einzurichtenden Fonds nachhaltig erfolgt, dass die Mittel
nicht in Projekten oder Anlagen Verwendung finden, die
dem übergeordneten Willen des Gesetzgebers zuwider-
laufen, die Nutzung der Atomenergie zu beenden . Hier-
für hatte sich die SPD-Fraktion eingesetzt . Ich bedaure,
dass unser Koalitionspartner diesbezüglich keiner ge-
setzlichen Regelung zustimmen wollte .
Während des parlamentarischen Verfahrens ist es ge-
lungen, die Beteiligung des Parlaments für den weiteren
Prozess, etwa in der Zusammensetzung des Kuratoriums
zur Begleitung des Fonds und dessen Einrichtung, zu ge-
währleisten .
In Bezug auf die Einsetzung von Kommissionen im
Vorfeld parlamentarischer Beratungen hat sich die Kom-
mission zur Überprüfung der Finanzierung des Kern-
energieausstiegs (KFK) als ein hilfreiches Instrument
erwiesen, einen Rechtsfrieden auch im Sinne anderer
zivilgesellschaftlicher Akteure herzustellen . Zugleich
dürfen außerparlamentarische Kommissionen nicht zur
faktischen Eingrenzung parlamentarischer Gestaltung
führen . Darum sehe ich die Bezugnahme im Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf die Einstimmigkeit eines
Kommissionsbeschlusses als kritisch an . Dies wird dem
parlamentarischen Beratungsprozess, den öffentlichen
Anhörungen, aber auch der Unabhängigkeit von uns Ab-
geordneten nicht gerecht und gefährdet nicht zuletzt die
Bedeutung der parlamentarisch-repräsentativen Demo-
kratie .
In einer Gesamtbetrachtung begrüße ich, dass mit dem
vorliegenden Gesetz ein Mehr an Rechtssicherheit für die
Kostentragung im Zusammenhang der Abwicklung der
Atomenergienutzung geschaffen wird, und stimme dem
Gesetzentwurf von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die
Grünen zu .
Thomas Bareiß (CDU/CSU): Ich begrüße aus-
drücklich, dass mit dem KFK-Gesetz die operative und
finanzielle Verantwortung für Zwischen- und Endlage-
rung der kerntechnischen Anlagen zwischen Kernkraft-
werksbetreibern und Bund neu geregelt wird . Wir setzen
das Verursacherprinzip um, machen es zukunftsfest und
schaffen Planungssicherheit . Auch das Ziel des Nach-
haftungsgesetzes begrüße ich ausdrücklich . Energiever-
sorger dürfen sich nicht durch Umstrukturierungen von
der Haftung für die Kosten des Rückbaus, der Zwischen-
und Endlagerung befreien . Allerdings erkläre ich hiermit
ausdrücklich, dass ich die sich eventuell ergebende Haf-
tungserweiterung im Falle der Energie Baden-Württem-
berg AG auf die Anteilseigner, den Zweckverband Ober-
schwäbische Elektrizitätswerke (OEW) und das Land
Baden-Württemberg, ablehne . Ich halte diese Haftungs-
erweiterung für nicht im Sinne des ursprünglichen Ge-
setzesgedankens, da dadurch eine neue, bis dahin nicht
vorhandene Haftung entsteht .
Ich stimme deshalb mit Ja .
Marco Bülow (SPD): Ich begrüße eine grundle-
gende Neuregelung der Verantwortung der nuklearen
Entsorgung . Der Übergang der Verantwortung einer so
wichtigen, langfristigen Aufgabe von profitorientierten
Privatunternehmen zu dem Gemeinwohl verpflichteten
staatlichen Institutionen ist absolut nachvollziehbar . Die
Sicherung der Rückstellungen der AKW-Betreiber für
die Entsorgung des Atommülls ist eine Angelegenheit,
die ich schon lange gefordert habe .
Allerdings halte ich es im Grundsatz für falsch, das
überhaupt noch nicht abzuschätzende finanzielle Risiko
der Entsorgung komplett auf den Steuerzahler zu über-
tragen und die eigentlichen Verursacher mit der einma-
ligen Zahlung eines klar definierten Geldbetrags aus der
Verantwortung zu entlassen – zumal der darin enthaltene
Risikoaufschlag von 35,47 Prozent auf den Grundbetrag
eines jeden AKW aus meiner Sicht zu gering ausfällt .
Erfahrungen zeigen, dass die tatsächlichen Kosten bei
Projekten im Bereich der Atomenergie vorherige Kos-
tenabschätzungen eher um ein Vielfaches übertreffen als
nur um ein Drittel .
Zudem ergibt sich für die AKW-Betreiber im nächsten
Jahr die Situation, dass die Kernbrennstoffsteuer nicht
mehr gezahlt werden muss . Nach Schätzungen des Fo-
rums ökologisch-soziale Marktwirtschaft (FÖS) würde
eine Weiterführung der Steuer bis zum endgültigen Ab-
schalten des letzten deutschen Atomkraftwerks 3,9 bis
5,8 Milliarden Euro Einnahmen sichern . Der Wegfall der
Steuer dagegen bringt den Betreibern 2,9 bis 4,4 Milli-
arden Euro zusätzliche Gewinne . Das bedeutet, dass ein
Großteil des in dem Gesetzentwurf vorgesehenen Risi-
koaufschlags von insgesamt 6,167 Milliarden Euro durch
den Wegfall der Kernbrennstoffsteuer gedeckt wird . Im
Gegenzug hätte also wenigstens die Steuer verlängert
werden müssen . Schließlich sind die Gründe, die zur
Einführung der Steuer geführt haben, nach wie vor vor-
handen .
Aus meiner Sicht sind diese Entscheidungen im We-
sentlichen dadurch motiviert, dass die betroffenen Unter-
nehmen nicht in eine schwierigere ökonomische Situati-
on gebracht werden sollen, durch die auch die Situation
der Beschäftigten in Gefahr geriete . Dies ist zwar im
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201620986
(A) (C)
(B) (D)
ersten Moment nachvollziehbar, macht den Staat aber
erpressbar .
Es ist wichtig, sich immer wieder vor Augen zu füh-
ren, dass die Atomenergie insgesamt und somit auch ihre
kommerzielle Nutzung über ein halbes Jahrhundert lang
massiv staatlich gefördert wurde . Berechnungen gehen
allein für den Zeitraum 1970 bis 2014 von über 200 Mil-
liarden Euro aus . Durch die Vergünstigungen haben die
AKW-Betreiber mit ihren abgeschriebenen Atomreak-
toren circa 1 Million Euro am Tag verdient . Diese Zahl
bestätigte Vattenfall 2009 der Süddeutschen Zeitung .
Deutschlands größter AKW-Betreiber Eon machte 2009
noch einen Gewinn von 5,3 Milliarden Euro . Die Ener-
giewende haben die großen Energieversorger aber trotz
Wissens über den Atomausstiegsbeschluss 2000 und die
Einführung des EEG verschlafen, sodass in den letzten
Jahren die Gewinne eingebrochen sind, zum Teil sogar
hohe Verluste gemacht wurden . Statt rechtzeitig in er-
neuerbare Energien zu investieren, haben die EVUs die-
se viel zu lange bekämpft . Mangelnde Voraussicht bei
unternehmerischen Entscheidungen hat zu der ökonomi-
schen Lage geführt, in der sich die Unternehmen heute
befinden. Der Staat, der den Unternehmen sehr lange er-
möglicht hat, mit Atomenergie hohe Gewinne zu gene-
rieren, soll aber nun das alleinige Risiko für die Folgen
der Atomstromproduktion tragen, weil der erfolgreiche
Fortbestand der EVUs nicht mehr gesichert sei . Dies
kann nicht sein . Das Prinzip „Gewinne werden privati-
siert, Verluste aber sozialisiert“ lehne ich entschieden ab .
Akzeptabel wäre der Kompromiss aus meiner Sicht
nur gewesen, wenn die AKW-Betreiber zuvor einen
Rückzug ihrer Klagen versichert hätten und die Kern-
brennstoffsteuer verlängert worden wäre .
So kann ich diesem Gesetzentwurf leider nicht zu-
stimmen .
Michael Donth (CDU/CSU): Ich begrüße ausdrück-
lich, dass mit dem KFK-Gesetz die operative und fi-
nanzielle Verantwortung zwischen Kernkraftwerksbe-
treibern und Bund für Zwischen- und Endlagerung der
kerntechnischen Anlagen neu geregelt wird . Wir setzen
das Verursacherprinzip um, machen es zukunftsfest und
schaffen Planungssicherheit . Auch das Ziel des Nach-
haftungsgesetzes begrüße ich ausdrücklich . Energiever-
sorger dürfen sich nicht durch Umstrukturierungen von
der Haftung für die Kosten des Rückbaus, der Zwischen-
und Endlagerung befreien . Allerdings erkläre ich hier-
mit ausdrücklich, dass ich die sich eventuell ergebende
Haftungserweiterung im Falle der Energie Baden-Würt-
temberg AG auf die Anteilseigner Zweckverband Ober-
schwäbische Elektrizitätswerke (OEW) und damit zahl-
reiche Landkreise, Städte und Gemeinden sowie das
Land Baden-Württemberg ablehne . Ich halte diese Haf-
tungserweiterung für nicht im Sinne des ursprünglichen
Gesetzesgedankens, da dadurch eine neue potenzielle,
bis dahin nicht vorhandene Haftung entsteht .
Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Mit der heutigen Ent-
scheidung geht unser Parlament den historischen Schritt
einer Neuordnung der Verantwortung und damit auch
Finanzierung der Atomenergie-Folgelasten . Zwar liegt
im Sinne des Verursacherprinzips die Verantwortung
zur Abwicklung der Atomenergienutzung richtigerweise
grundsätzlich bei den Betreibern von Atomkraftwerken
und den betreffenden Energiekonzernen . Letztlich wird
aber die Allgemeinheit zur Verantwortung gezogen,
wenn die Betreiber etwa durch Konzernaufspaltungen
oder Insolvenzen nicht mehr zur Haftung herangezogen
werden können . Zugleich muss uns bewusst sein, dass
über Jahrzehnte unterbliebene Vorsorge nachträglich
kaum mehr erfüllbar ist .
Während mit dem heute zu verabschiedenden Ge-
setz die auch ökonomische Verantwortung von Still-
legung, Rückbau und Verpackung beim Betreiber ver-
bleibt, geht die Verantwortung für Zwischenlagerung
und Endlagerung auf den Staat über, insofern die hier-
für nun gesetzlich formulierten Voraussetzungen erfüllt
werden . Die langfristig währende Verantwortung für die
Zwischenlagerung und Endlagerung wird dabei über ei-
nen öffentlich-rechtlichen Fonds getragen, der vonsei-
ten der Betreiber mit einem Vermögen von insgesamt
23,556 Milliarden Euro auszustatten sein wird .
Mit den Regelungen zur Nachhaftung verhindern wir
die Enthaftung der Konzerne durch Betreiberinsolvenzen
oder Konzernaufspaltungen . Die Verabschiedung eines
Nachhaftungsgesetzes bereits im letzten Jahr war vonsei-
ten unseres Koalitionspartners trotz erfolgten Kabinetts-
beschlusses verhindert worden . Umso wichtiger ist es,
dass eine Nachhaftungsregelung nun mit verabschiedet
wird . Kritisch betrachte ich dabei, dass sich die Nach-
haftung bei Konzernaufspaltung nur auf den Bereich der
Zwischen- und Endlagerung, hingegen nicht auch auf die
Phase der Stilllegung, des Rückbaus und der Verpackung
bezieht . Eine umfassendere Nachhaftungsregelung konn-
te leider mit dem Koalitionspartner nicht vereinbart wer-
den .
Mit den atomgesetzlichen Änderungen wird die Op-
tion des sogenannten sicheren Einschlusses nahezu ab-
geschafft . Die Ausschließlichkeit des Rückbaus hat die
SPD seit langem gefordert .
Erst in der vergangenen Woche hat das Bundesver-
fassungsgericht den politisch in Abwägung mit Ge-
sundheits- und Umweltschutzbedarfen entschiedenen
Atomausstieg als im Wesentlichen verfassungskonform
beschieden . Allein vor diesem Hintergrund erwarte ich
von den Atomkonzernen die Rücknahme aller im Zusam-
menhang mit Atomenergienutzung zusammenhängenden
Klagen, auch solcher, die von den jüngsten Ankündigun-
gen der Konzerne nicht erfasst sind . Es entspricht mei-
nem parlamentarischen Selbstverständnis, dass im Fall
eines Aufrechterhaltens von Klagen vonseiten der Kon-
zerne und einer sich hierüber zulasten der Allgemeinheit
verschlechternden Vermögenssituation eine Neuberech-
nung der Kostenlasten vorzunehmen wäre . Es entspricht
auch der mit einem Entschließungsantrag der Fraktionen
CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen – Aus-
schussdrucksache 18(9)1073 – erklärten Erwartungshal-
tung gegenüber der Bundesregierung, die Rücknahme
aller Klagen zu erreichen .
Der Entschließungsantrag bringt zudem die Erwar-
tungshaltung zum Ausdruck, dass die Geldanlage des
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 20987
(A) (C)
(B) (D)
einzurichtenden Fonds nachhaltig erfolgt, dass die Mittel
nicht in Projekten oder Anlagen Verwendung finden, die
dem übergeordneten Willen des Gesetzgebers zuwider-
laufen, die Nutzung der Atomenergie zu beenden . Hier-
für hatte sich die SPD-Fraktion eingesetzt . Ich bedaure,
dass unser Koalitionspartner diesbezüglich keiner ge-
setzlichen Regelung zustimmen wollte .
Während des parlamentarischen Verfahrens ist es ge-
lungen, die Beteiligung des Parlaments für den weiteren
Prozess, etwa in der Zusammensetzung des Kuratoriums
zur Begleitung des Fonds und dessen Einrichtung, zu ge-
währleisten .
In Bezug auf die Einsetzung von Kommissionen im
Vorfeld parlamentarischer Beratungen hat sich die Kom-
mission zur Überprüfung der Finanzierung des Kern-
energieausstiegs (KFK) als ein hilfreiches Instrument
erwiesen, einen Rechtsfrieden auch im Sinne anderer
zivilgesellschaftlicher Akteure herzustellen . Zugleich
dürfen außerparlamentarische Kommissionen nicht zur
faktischen Eingrenzung parlamentarischer Gestaltung
führen, wenn etwa bereits ein Regierungsentwurf von
Bindungswirkung in Bezug auf die Einstimmigkeit eines
Kommissionsbeschlusses gekennzeichnet ist . Dies wird
dem parlamentarischen Beratungsprozess, den hiesigen
öffentlichen Anhörungen, aber auch den einzelnen Ab-
geordneten nicht gerecht und gefährdet nicht zuletzt die
Bedeutung der parlamentarisch-repräsentativen Demo-
kratie . Nach meiner Überzeugung sollten Kommissionen
der hier eingesetzten Form nur in absoluten Ausnahme-
fällen eingesetzt werden, wenn der Fokus einzubeziehen-
der Expertise dies über die Thematik und die Dauer so-
wie den Hergang einer öffentlichen Auseinandersetzung
rechtfertigt .
In einer Gesamtbetrachtung begrüße ich, dass mit dem
vorliegenden Gesetz ein Mehr an Rechtssicherheit für die
Kostentragung im Zusammenhang der Abwicklung der
Atomenergienutzung geschaffen wird, und stimme dem
Gesetzentwurf von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die
Grünen zu .
Ronja Kemmer (CDU/CSU): Ich begrüße aus-
drücklich, dass mit dem KFK-Gesetz die operative und
finanzielle Verantwortung für Zwischen- und Endlage-
rung der kerntechnischen Anlagen zwischen Kernkraft-
werksbetreibern und Bund neu geregelt wird . Wir setzen
das Verursacherprinzip um, machen es zukunftsfest und
schaffen Planungssicherheit . Auch das Ziel des Nach-
haftungsgesetzes begrüße ich ausdrücklich . Energiever-
sorger dürfen sich nicht durch Umstrukturierungen von
der Haftung für die Kosten des Rückbaus, der Zwischen-
und Endlagerung befreien . Allerdings erkläre ich hiermit
ausdrücklich, dass ich die sich eventuell ergebende Haf-
tungserweiterung im Falle der Energie Baden-Württem-
berg AG auf die Anteilseigner, den Zweckverband Ober-
schwäbische Elektrizitätswerke (OEW) und das Land
Baden-Württemberg, ablehne . Ich halte diese Haftungs-
erweiterung für nicht im Sinne des ursprünglichen Ge-
setzesgedankens, da dadurch eine neue, bis dahin nicht
vorhandene Haftung entsteht .
Ich stimme dem Gesetzentwurf zu .
Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Heute
habe ich dem „Gesetz zur Neuregelung der Verantwor-
tung in der kerntechnischen Entsorgung“ im Bundestag
zugestimmt .
Dieses neue Gesetz stellt sicher, dass die Atomkonzer-
ne für die Beseitigung des hochgefährlichen Atommülls
auch wirklich zahlen .
Warum war dazu ein Gesetz nötig?
Jahrelang haben die Konzerne steuerliche Rückstel-
lungen für die Entsorgung und Lagerung des Atommülls
in Höhe von 17 Milliarden Euro getätigt, die aber bislang
nur in den Bilanzen, also auf dem Papier, stehen .
Die Veränderungen am Energiemarkt haben die Kon-
zerne inzwischen – selbstverschuldet – so geschwächt,
dass große Umstrukturierungen anstehen .
Sollte es hier zu Auslagerungen oder gar Insolvenzen
kommen, wären die rückgestellten Beträge erheblich ge-
fährdet, und am Ende drohen die Kosten am Steuerzahler
hängen zu bleiben .
Die Kommission zur Überprüfung der Finanzierung
des Kernenergieausstiegs (KFK) war sich einig, dass
die Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Konzerne künftig
noch in der Lage sind, die anfallenden Kosten tatsächlich
zu tragen, bei bestenfalls 50 Prozent liegt .
Ich bin der Meinung, dass man in so einer Situation
handeln und das vorhandene Geld sichern muss . Das
haben wir Grüne schon seit vielen Jahren gefordert . Tut
man das nicht, läuft man Gefahr, das Verursacherprinzip
dadurch auszuhebeln, dass beim Verursacher nichts mehr
zu holen ist, weil er als juristische Person nicht mehr exis-
tiert oder nicht mehr genug Substanz vorhanden ist . Ich
halte deshalb den von der KFK vorgeschlagenen Weg für
richtig, um die bisherigen Rückstellungen der Konzerne
zu retten und unter öffentliche Kontrolle zu bringen .
Für Stilllegung und Rückbau werden die Unterneh-
men bis 2040 rund 60 Milliarden Euro aufwenden müs-
sen . Ihre Rückstellungen dafür werden sie künftig trans-
parent mit liquiden Mitteln unterlegen müssen . Dies wird
von Bundesregierung und Bundestag überprüft .
Ihre Rückstellungen von bisher gut 17 Milliarden für
die Finanzierung von Zwischen- und Endlagerung des
Atommülls müssen die Konzerne komplett an den Staat
in bar übertragen . Dazu kommt ein zusätzlicher Risiko-
aufschlag von 35 Prozent, um künftige Risiken abzude-
cken . Es wird so ein fast 24 Milliarden starker öffent-
lich-rechtlicher Fonds gebildet .
Darüber hinaus wird eine neue gesetzliche Nach-
haftung von herrschenden Unternehmen für von ihnen
beherrschte Betreibergesellschaften eingeführt . Das
bedeutet, dass hier der Mutterkonzern auch für die Ver-
pflichtungen einer insolventen Tochterfirma haftet, was
im deutschen Insolvenzrecht so sonst nicht vorgesehen
ist . Das ist also ebenfalls wichtig, um das Risiko für den
Steuerzahler möglichst gering zu halten . Diese Nachhaf-
tung erfasst die Kosten von Stilllegung und Rückbau der
Kernkraftwerke, die fachgerechte Verpackung der Ab-
fälle und die Zahlungspflichten an den einzurichtenden
Fonds .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201620988
(A) (C)
(B) (D)
Dass die finanziellen Risiken im Hinblick auf die
Entsorgung des Atommülls niemals vollständig und in
Gänze aus dem Weg geräumt werden können, versteht
sich bei diesem unabsehbaren Risiko von selbst . Umso
wichtiger ist es, zu verhindern, dass sich die Verursacher
am Ende aus dem Staub machen und die Allgemeinheit
mit den Kosten allein lassen .
So wie das Gesetz heute beschlossen wurde, ist es eine
gute Grundlage, um die Finanzierung der Atommüllend-
lagerung soweit wie möglich zu sichern .
Im Zuge der Debatte um den Gesetzentwurf konnten
die Atomkonzerne außerdem dazu bewegt werden, 20
der verbliebenen 22 Klagen im Atomsektor zurückzuzie-
hen, darunter auch die Klage gegen verschiedene Lan-
desregierungen bezüglich des im Jahr 2011 verhängten
Moratoriums für sechs besonders anfällige AKW .
Über zwei verbleibende Klagen, die nicht unmittelbar
mit der Entsorgungsfinanzierung zusammenhängen, wird
weiter zu verhandeln sein .
Ulli Nissen (SPD): Mit der heutigen Entscheidung
geht unser Parlament den historischen Schritt einer Neu-
ordnung der Verantwortung und damit auch Finanzie-
rung der Atomenergie-Folgelasten . Zwar liegt im Sinne
des Verursacherprinzips die Verantwortung zur Abwick-
lung der Atomenergienutzung richtigerweise grundsätz-
lich bei den Betreibern von Atomkraftwerken und den
betreffenden Energiekonzernen . Letztlich wird aber die
Allgemeinheit zur Verantwortung gezogen, wenn die
Betreiber etwa durch Konzernaufspaltungen oder Insol-
venzen nicht mehr zur Haftung herangezogen werden
können . Zugleich muss uns bewusst sein, dass über Jahr-
zehnte unterbliebene Vorsorge nachträglich kaum mehr
erfüllbar ist .
Während mit dem heute zu verabschiedenden Gesetz
die ökonomische Verantwortung von Stilllegung, Rück-
bau und Verpackung beim Betreiber verbleibt, geht die
Verantwortung für Zwischenlagerung und Endlagerung
auf den Staat über, insofern die hierfür nun gesetzlich for-
mulierten Voraussetzungen erfüllt werden . Die langfris-
tig währende Verantwortung für die Zwischenlagerung
und Endlagerung wird dabei über einen öffentlich-recht-
lichen Fonds getragen, der vonseiten der Betreiber mit
einem Vermögen von insgesamt 23,556 Milliarden Euro
auszustatten sein wird .
Mit den Regelungen zur Nachhaftung verhindern wir
die Enthaftung der Konzerne durch Betreiberinsolvenzen
oder Konzernaufspaltungen . Die Verabschiedung eines
Nachhaftungsgesetzes bereits im letzten Jahr war von-
seiten der CDU/CSU trotz erfolgten Kabinettsbeschlus-
ses verhindert worden . Umso wichtiger ist es, dass eine
Nachhaftungsregelung nun mit verabschiedet wird . Kri-
tisch betrachte ich dabei, dass sich die Nachhaftung bei
Konzernaufspaltung nur auf den Bereich der Zwischen-
und Endlagerung, hingegen nicht auch auf die Phase der
Stilllegung, des Rückbaus und der Verpackung bezieht .
Auf eine umfassendere Nachhaftungsregelung konnte
sich leider nicht geeinigt werden .
Mit den atomgesetzlichen Änderungen wird die Op-
tion des sogenannten sicheren Einschlusses nahezu ab-
geschafft . Die Ausschließlichkeit des Rückbaus hat die
SPD seit langem gefordert .
Erst in der vergangenen Woche hat das Bundesver-
fassungsgericht entschieden, dass der Atomausstieg im
Wesentlichen verfassungskonform war . Allein vor die-
sem Hintergrund erwarte ich von den Atomkonzernen
die Rücknahme aller im Zusammenhang mit Atomener-
gienutzung zusammenhängenden Klagen, auch solcher,
die von den jüngsten Ankündigungen der Konzerne nicht
erfasst sind . Es entspricht meinem parlamentarischen
Selbstverständnis, dass im Fall eines Aufrechterhaltens
von Klagen vonseiten der Konzerne und einer sich hie-
rüber zulasten der Allgemeinheit verschlechternden
Vermögenssituation eine Neuberechnung der Kosten-
lasten vorzunehmen wäre . Es entspricht auch der mit
einem Entschließungsantrag der Fraktionen CDU/CSU,
SPD und Bündnis 90/Die Grünen – Ausschussdrucksa-
che 18(9)1073 – erklärten Erwartungshaltung gegenüber
der Bundesregierung, die Rücknahme aller Klagen zu
erreichen .
Der Entschließungsantrag bringt zudem die Erwar-
tungshaltung zum Ausdruck, dass die Geldanlage des
einzurichtenden Fonds nachhaltig erfolgt, dass die Mittel
nicht in Projekten oder Anlagen Verwendung finden, die
dem übergeordneten Willen des Gesetzgebers zuwider-
laufen, die Nutzung der Atomenergie zu beenden . Hier-
für hatte sich die SPD-Fraktion eingesetzt . Ich bedaure,
dass unser Koalitionspartner diesbezüglich keiner ge-
setzlichen Regelung zustimmen wollte .
Während des parlamentarischen Verfahrens ist es ge-
lungen, die Beteiligung des Parlaments für den weiteren
Prozess, etwa in der Zusammensetzung des Kuratoriums
zur Begleitung des Fonds und dessen Einrichtung, zu ge-
währleisten .
In Bezug auf die Einsetzung von Kommissionen im
Vorfeld parlamentarischer Beratungen hat sich die Kom-
mission zur Überprüfung der Finanzierung des Kern-
energieausstiegs (KFK) als ein hilfreiches Instrument
erwiesen, einen Rechtsfrieden auch im Sinne anderer
zivilgesellschaftlicher Akteure herzustellen . Zugleich
dürfen außerparlamentarische Kommissionen nicht
zur Eingrenzung parlamentarischer Gestaltung führen,
wenn etwa bereits ein Regierungsentwurf von Bin-
dungswirkung in Bezug auf die Einstimmigkeit eines
Kommissionsbeschlusses gekennzeichnet ist . Dies wird
dem parlamentarischen Beratungsprozess, den hiesigen
öffentlichen Anhörungen, aber auch den einzelnen Ab-
geordneten nicht gerecht und gefährdet nicht zuletzt die
Bedeutung der parlamentarisch-repräsentativen Demo-
kratie . Nach meiner Überzeugung sollten Kommissionen
der hier eingesetzten Form nur in absoluten Ausnahme-
fällen eingesetzt werden, wenn der Fokus einzubeziehen-
der Expertise dies über die Thematik und die Dauer so-
wie den Hergang einer öffentlichen Auseinandersetzung
rechtfertigt .
In einer Gesamtbetrachtung begrüße ich, dass mit dem
vorliegenden Gesetz ein Mehr an Rechtssicherheit für die
Kostentragung im Zusammenhang der Abwicklung der
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 20989
(A) (C)
(B) (D)
Atomenergienutzung geschaffen wird, und stimme dem
Gesetzentwurf von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die
Grünen zu .
Josef Rief (CDU/CSU): Ich begrüße ausdrücklich,
dass mit dem KFK-Gesetz die operative und finanziel-
le Verantwortung für Zwischen- und Endlagerung der
kerntechnischen Anlagen zwischen Kernkraftwerksbe-
treibern und Bund neu geregelt wird . Wir setzen das Ver-
ursacherprinzip um, machen es zukunftsfest und schaffen
Planungssicherheit . Auch das Ziel des Nachhaftungsge-
setzes begrüße ich ausdrücklich . Energieversorger dürfen
sich nicht durch Umstrukturierungen von der Haftung für
die Kosten des Rückbaus, der Zwischen- und Endlage-
rung befreien . Allerdings erkläre ich hiermit ausdrück-
lich, dass ich die sich eventuell ergebende Haftungser-
weiterung im Falle der Energie Baden-Württemberg AG
auf die Anteilseigner Zweckverband Oberschwäbische
Elektrizitätswerke (OEW) und das Land Baden-Würt-
temberg ablehne . Ich halte diese Haftungserweiterung
für nicht im Sinne des ursprünglichen Gesetzesgedan-
kens, da dadurch eine neue, bis dahin nicht vorhandene
Haftung entsteht .
Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU): Ich stim-
me dem Gesetzentwurf zu und begrüße ausdrücklich,
dass mit dem KFK-Gesetz die operative und finanziel-
le Verantwortung für Zwischen- und Endlagerung der
kerntechnischen Anlagen zwischen Kernkraftwerks-
betreibern und Bund neu geregelt wird . Wir setzen das
Verursacherprinzip um, machen es zukunftsfest und
schaffen Planungssicherheit . Auch das Ziel des Nach-
haftungsgesetzes begrüße ich ausdrücklich . Energie-
versorger dürfen sich nicht durch Umstrukturierun-
gen von der Haftung für die Kosten des Rückbaus,
der Zwischen- und Endlagerung befreien . Allerdings
erkläre ich hiermit ausdrücklich, dass ich die sich
eventuell ergebende Haftungserweiterung im Falle der
Energie Baden-Württemberg AG auf die Anteilseig-
ner, den Zweckverband Oberschwäbische Elektrizi-
tätswerke (OEW) und das Land Baden-Württemberg,
ablehne . Ich halte diese Haftungserweiterung für nicht
im Sinne des ursprünglichen Gesetzesgedankens, da
dadurch eine neue, bis dahin nicht vorhandene Haf-
tung entsteht .
Anlage 6
Erklärung
der Abgeordneten Dr. Petra Sitte (DIE LINKE)
zu der Abstimmung über die Entschließung un-
ter Buchstabe c der Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Wirtschaft und Energie zu dem
von den Fraktionen CDU/CSU, SPD und BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurf ei-
nes Gesetzes zur Neuordnung der Verantwortung
in der kerntechnischen Entsorgung (Tagesord-
nungspunkt 3)
Namens der Fraktion Die Linke erkläre ich: Unser
Votum zu Buchstabe c der Beschlussempfehlung lautet
Ablehnung .
Anlage 7
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Dr. Frithjof Schmidt, Katja
Dörner, Katja Keul und Claudia Roth (Augsburg)
(alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zu der nament-
lichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung
des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der
Bundesregierung Fortsetzung der Beteiligung be-
waffneter deutscher Streitkräfte am NATO-geführ-
ten Einsatz Resolute Support für die Ausbildung,
Beratung und Unterstützung der afghanischen na-
tionalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (Ta-
gesordnungspunkt 9)
Die Entscheidung über Auslandseinsätze der Bundes-
wehr gehört zu den schwierigsten Entscheidungen, die
Abgeordnete des Deutschen Bundestages zu treffen ha-
ben . Der Einsatz von Militär kann immer nur äußerstes
Mittel zur Gewalteindämmung und Friedenssicherung
sein . Militär kann bestenfalls ein Zeitfenster für Krisen-
bewältigung schaffen, nicht aber den Frieden selbst .
In Afghanistan gab es jahrelang eine Dominanz mili-
tärischer Zielsetzungen gegenüber zivilen Lösungsansät-
zen und ein fehlendes entwicklungspolitisches Konzept .
Schon seit langem war klar, dass die Strategie, vorrangig
mit militärischen Mitteln eine Friedenslösung erzwingen
zu wollen, gescheitert ist . Ein stabiler und dauerhafter
Frieden kann nur über den Verhandlungsweg erreicht
werden . Die Capture-or-Kill-Operationen und die geziel-
ten Tötungen durch Drohnenangriffe der USA forderten
immer wieder zivile Opfer und haben das Vertrauen der
afghanischen Bevölkerung in die internationale Präsenz
untergraben . Eine politische Lösung wurde dadurch in
den letzten Jahren enorm erschwert .
Die Bundesregierung behauptet, dass es sich bei der
seit 2015 eingesetzten NATO-Mission Resolute Support
nicht um einen Kampfeinsatz handele, sondern um eine
Ausbildungs- und Trainingsmission für die afghanischen
Sicherheitskräfte . Tatsächlich ist jedoch das Verhältnis
zwischen Ausbildung und Training sowie einer mög-
lichen Beteiligung an der Aufstandsbekämpfung nicht
eindeutig geklärt . Eine Begleitung von afghanischen
Truppen in Kampfeinsätze wird im vorgelegten Mandat
der Bundesregierung nicht ausdrücklich ausgeschlos-
sen . Darüber hinaus dürfen seit Juni 2016 US-Truppen
wieder an Kampfeinsätzen zur offensiven Aufstandsbe-
kämpfung teilnehmen . Dies hatte US-Präsident Obama
erlaubt, nachdem er Ende 2014 zunächst alle offensiven
US-Kampfeinsätze in Afghanistan für beendet erklärt
hatte . Da US-Soldatinnen und -Soldaten nun zwischen
Counter-Insurgency-Operationen und Ausbildung ein-
fach hin- und herwechseln können, ist eine klare Ab-
grenzung zwischen Kampfeinsatz und Ausbildung in der
Praxis nur noch schwer möglich . Eine Verstrickung deut-
scher Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten in Operati-
onen offensiver Aufstandsbekämpfung, die wir grund-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201620990
(A) (C)
(B) (D)
sätzlich ablehnen, kann somit nicht mehr ausgeschlossen
werden .
Nachdem die NATO zweimal die gesetzten Abzugs-
termine, mit denen auch für Akzeptanz in der Bevölke-
rung geworben wurde, nicht eingehalten hat, wurde auf
dem NATO-Gipfel in Warschau im Juni 2016 vereinbart,
den Afghanistan-Einsatz zeitlich nicht mehr zu befristen .
Dadurch droht ein langjähriger, nicht absehbarer Einsatz
in Afghanistan mit Verwicklung in Kämpfe und ohne
eine Exit-Strategie . Ein solches zeitlich unbegrenztes
NATO-Mandat halten wir für falsch .
Gleichzeitig müssen aber auch die positiven Entwick-
lungen in Afghanistan mit viel Geduld und ausreichend
finanziellen Mitteln gesichert werden. Afghanistan wird
auch noch in den nächsten Jahrzehnten auf internationale
Unterstützung angewiesen sein . Deshalb dürfen wir nicht
nachlassen, unsere humanitären und entwicklungspoliti-
schen Verpflichtungen gegenüber Afghanistan weiter zu
erfüllen . Darüber hinaus ist eine Fortführung der politi-
schen Verhandlungen zwischen der afghanischen Regie-
rung und den Taliban notwendig . Ein stabiler und dau-
erhafter Frieden in Afghanistan kann letztlich nur über
den Verhandlungsweg erreicht werden . Die Strategie, Af-
ghanistan militärisch zu befrieden, ist bisher gescheitert
und auch für die Zukunft nicht sinnvoll, sondern falsch .
Deshalb lehnen wir dieses Mandat ab .
Anlage 8
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Annalena Baerbock und Luise
Amtsberg (beide BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zu
der namentlichen Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem
Antrag der Bundesregierung Fortsetzung der Be-
teiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte am
NATO-geführten Einsatz Resolute Support für die
Ausbildung, Beratung und Unterstützung der af-
ghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicher-
heitskräfte (Tagesordnungspunkt 9)
Knapp zwei Jahre nach Abzug der ISAF-Kampftrup-
pen gibt es in Afghanistan kein sicheres Umfeld für die
Bevölkerung, geschweige die Regierung, ihre Bedienste-
ten und internationale Helfer . Die Sicherheitslage in Af-
ghanistan hat sich in den vergangenen Monaten weiter
massiv verschlechtert . Die Taliban und andere aufstän-
dische Gruppen verüben weiter ohne jede Rücksicht auf
die Zivilbevölkerung grausame Attentate und Attacken .
Im Oktober 2016 gelang es den Taliban zum dritten
Mal innerhalb der letzten zwei Jahre, strategische Punkte
der Provinzhauptstadt Kunduz vorübergehend zu kon-
trollieren . Am 10 . November 2016 forderten der schreck-
liche Sprengstoffangriff auf das deutsche Generalkonsu-
lat und die anschließenden Kämpfe mit den Angreifern
in Masar-i-Scharif vier Todesopfer und 128 teilweise
schwer Verletzte . Das Konsulatspersonal wird nun im
Camp Marmal der Bundeswehr untergebracht . Das deut-
sche Konsulat in Masar wird nach derzeitigem Stand
nicht wiedereröffnet werden .
Die Opferzahlen unter Zivilpersonen und afghani-
schen Sicherheitskräften sind so hoch wie nie seit 2001 .
Im ersten Halbjahr 2016 erreichte die Gesamtzahl der
Zivilopfer im Kontext des bewaffneten Konflikts mit
5 166, davon 1 601 Tote und 3 565 Verletzte, einen neuen
Höchstwert . Gerade die Anzahl von Kindern unter den
Opfern steigt dramatisch an, nicht zuletzt auch durch
komplexe und Suizidattacken – 62 Prozent davon in Ka-
bul .
Vor diesem Hintergrund stellt sich auch die Frage, in-
wieweit die Aufbau- und Entwicklungsunterstützung so
weiterlaufen kann . Wir haben uns immer klar dazu be-
kannt, dass Deutschland langfristig in Afghanistan enga-
giert bleiben muss . Vor allem mit ziviler Hilfe und wirt-
schaftlichem Engagement . Wenn diese ohnehin bereits
massiv zurückgefahrene Hilfe weitergeführt werden soll
und die afghanischen Sicherheitskräfte den Bürgerinnen
und Bürgern – nach dem Abzug von ISAF, der rückbli-
ckend vor allem an den eigenen Interessen und ohne
jede Rücksicht auf die tatsächliche Lage, auf die Afgha-
nen, ihre Bevölkerung und Sicherheitskräfte durchführt
würde – überhaupt Schutz geben sollen, halten wir eine
Beendigung der Ausbildungshilfe durch die Bundeswehr
im Rahmen der Resolute Support Mission (RSM) in der
jetzigen Situation für den falschen Weg .
Die Bundeswehr kämpft nach den Vorgaben des jet-
zigen Mandates nicht, sondern berät und unterstützt, wo
es nötig ist . Wenn die afghanischen Sicherheitskräfte den
Bürgerinnen und Bürgern wirksamen Schutz bieten sol-
len, dann ist mehr notwendig als der Aufbau einer zah-
lenmäßig großen Armee in kurzer Zeit . Für den Aufbau
effektiver und legitimer Sicherheitskräfte braucht es ei-
nen langen Atem und einen kurzen Draht zu ihnen .
Dabei darf man sich keine Illusionen über die unmit-
telbaren Auswirkungen der Mission auf die Sicherheits-
lage machen . Der Hoffnung, Resolute Support könne
einen kleinen und notwendigen Beitrag zum Schutz der
Zivilbevölkerung und der Aufbauhilfe leisten, stehen
die grundsätzlichen Bedenken über die Wirkungsmög-
lichkeit der Ausbildungsmission unter den herrschenden
politischen Rahmenbedingungen gegenüber: Trotz lang-
jähriger intensiver Ausbildungsbemühungen gibt es im-
mer wieder Hinweise – und zwar nicht allzu wenige – auf
Korruption, Desertion und Gewalt innerhalb der afghani-
schen Sicherheitskräfte . Zudem kommt es nach wie vor
zu gravierenden militärischen Fehlentscheidungen .
Die politische Führung des Landes ist zerrissen und
hat mit ihrer inneren Konsensunfähigkeit, die tribalisti-
sche Züge hat, das Vertrauen großer Bevölkerungsteile
verloren . Ohne die Rahmenbedingungen einer guten
politischen Führung kann jedoch die Ausbildung von
Sicherheitskräften genauso wenig Erfolg haben wie die
Entwicklung des Landes . Auf dieses Problem haben der-
zeit weder die VN noch die EU eine Antwort . Dies beein-
trächtigt die Arbeit von Resolute Support .
Während die Bundesregierung betont, im Rahmen von
RSM nur Ausbildung zu betreiben, machen andere Staa-
ten wie die USA diese Festlegung explizit nicht . Die USA
gehen im Rahmen dieses Mandates, aber auch außerhalb
dessen mit Drohnenangriffen und Capture-or-Kill-Ope-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 20991
(A) (C)
(B) (D)
rationen weiter gegen die Taliban vor . Das deutsche En-
gagement darf sich nicht von solchen Interpretationen
leiten lassen .
Nichtsdestotrotz kommen wir in der Abwägung zwi-
schen diesen verheerenden Entwicklungen und dem Fakt,
dass die Forderung nach dem Schutz der Zivilbevölke-
rung, der Förderung des zivilen Aufbaus, der Unterstüt-
zung der Zivilgesellschaft und der Frauenrechtsgruppen
ohne Basissicherheit zum bloßen Lippenbekenntnis ver-
kommt, zu dem Schluss, dass man die Mission nicht be-
enden sollte .
Allerdings können wir diesem Mandat der deutschen
Bundesregierung zum jetzigen Zeitpunkt auch nicht ein-
fach zustimmen . Denn die Bundesregierung formuliert
im Rahmen ihres Mandates klar, wie schwierig und ge-
fährlich die Lage in Afghanistan ist und dass man des-
halb den Militäreinsatz verlängern müsse . Zeitgleich er-
klärt dieselbe Bundesregierung jedoch, dass große Teile
des Landes so sicher seien, dass just in diesem Moment
Männer, Frauen und Kinder in genau dieses Land abge-
schoben werden . Dieser Widerspruch könnte nicht grö-
ßer sein . Eine halbe Million neuer Binnenvertriebener ist
gerade von den Vereinten Nationen in Afghanistan regis-
triert worden . Das zeigt die Dramatik der Lage .
Einerseits zu Recht zu erklären, wie dramatisch die
Lage vor Ort sei, andererseits aber Abschiebungen und
Rückführungen zu verfolgen und das obendrein dann
noch daran zu koppeln, dass in Zukunft Entwicklungszu-
sammenarbeit nur gibt, wenn Afghanistan mehr Flücht-
linge zurücknimmt, das passt für mich nicht zusammen .
Das ist zynisch .
Vor diesem Hintergrund enthalten wir uns bei diesem
deutschen Mandat .
Anlage 9
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Kerstin Griese und Ute Vogt
(beide SPD) zu der namentlichen Abstimmung
über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen
Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher
Streitkräfte am NATO-geführten Einsatz Reso-
lute Support für die Ausbildung, Beratung und
Unterstützung der afghanischen nationalen Ver-
teidigungs- und Sicherheitskräfte (Tagesordnungs-
punkt 9)
Den Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung
des Bundeswehreinsatzes unterstützen wir . Gleichzeitig
kritisieren wir die derzeit stattfindenden Abschiebungen
von Flüchtlingen nach Afghanistan. In Afghanistan fin-
den in einigen Landesteilen weiterhin täglich Kämpfe
statt . Der Deutsche Bundestag beschließt eine Fortset-
zung des Einsatzes, mit dem Bundeswehr-Soldaten in das
Land geschickt werden, um den Frieden zu sichern . Das
Auswärtige Amt warnt vor Reisen nach Afghanistan, da
sich Reisende der „Gefährdung durch terroristisch oder
kriminell motivierte Gewaltakte“ bewusst sein müssten .
Wir halten Abschiebungen nach Afghanistan in der aktu-
ellen Situation für gefährlich und lehnen sie ab .
Anlage 10
Erklärungen nach § 31 GO
zu der namentlichen Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses
zu dem Antrag der Bundesregierung Fortsetzung
der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräf-
te am NATO-geführten Einsatz Resolute Support
für die Ausbildung, Beratung und Unterstützung
der afghanischen nationalen Verteidigungs- und
Sicherheitskräfte (Tagesordnungspunkt 9)
Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE): Ich stimme mit
Nein, weil der Bundeswehreinsatz in Afghanistan nicht
zum Frieden beigetragen hat . Er hat den Terror nicht
bekämpfen können . Das Scheitern der NATO-Politik
schlägt sich vor allem in der militärischen Lage nieder,
die von steigenden Opferzahlen, Anschlägen und Kämp-
fen geprägt ist . Darum werde ich aus den genannten
Gründen gegen diesen Einsatz stimmen .
Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
Bundeswehr befindet sich seit über einem Jahrzehnt im
Einsatz in Afghanistan . So, wie sich die Lage in Afgha-
nistan mehrfach geändert hat, hat sich auch der Charakter
dieses Einsatzes immer wieder gewandelt . Die Beendi-
gung des ISAF-Einsatzes und des Kampfauftrages der
Bundeswehr in Afghanistan war daher richtig und bleibt
ein wichtiger Schritt, um die afghanischen Sicherheits-
kräfte selbst in Verantwortung für ihr Land zu bringen .
Mit dem Folgemandat und dem Einsatz Resolute Support
nimmt die Bundeswehr die Rolle einer Ausbilderin und
Unterstützerin der afghanischen Sicherheitskräfte ein .
Gerade weil die Sicherheitslage in Afghanistan nach
wie vor fragil ist, erachte ich es als richtig und notwendig,
dass eine solche Unterstützung auch weiterhin sicher-
gestellt wird . Niemand weiß, wie sich die Situation im
Land in den nächsten Jahren entwickeln wird und ob es
gelingt, einen dauerhaften Frieden in Afghanistan – auch
und gerade mit diplomatischen Mitteln – zu erreichen .
Sollten die internationale Gemeinschaft und die Bundes-
wehr die Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte
jetzt beenden, würden die Chancen für ziviles Engage-
ment und eine langfristige friedvolle Entwicklung des
Landes genommen werden .
Es bedarf eines langfristigen Engagements der inter-
nationalen Gemeinschaft, vor allem mit ziviler Hilfe und
wirtschaftlichem Engagement, damit sich Afghanistan
weiterentwickeln kann . Dies kann jedoch nur in einem
sicheren Umfeld stattfinden. Die afghanischen Sicher-
heitskräfte sind noch nicht in der Lage, alleine für Si-
cherheit zu sorgen . Dies hat der Angriff auf das deutsche
Generalkonsulat in Masar-i-Scharif am 10 . November
2016 erneut gezeigt .
Mit dieser Erkenntnis schwindet leider auch die Hoff-
nung, dass wir uns rasch aus der Beraterrolle heraus-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201620992
(A) (C)
(B) (D)
ziehen und den Militäreinsatz in Afghanistan vollends
beenden können . Ich erachte es vor diesem Hintergrund
als wichtig, Afghanistan durch Ausbildung weiter zu un-
terstützen . Auch wenn wir die Militärintervention in Af-
ghanistan in Gänze äußerst kritisch betrachten, wäre es
in der heutigen konkreten Situation Afghanistans nicht
dienlich, die Ausbildungsmission der Bundeswehr zu be-
enden .
Mit meiner Zustimmung will ich zum Ausdruck brin-
gen, dass wir den Menschen in Afghanistan zur Seite
stehen und verlässlich Unterstützung zukommen lassen
wollen . Perspektivisch ist es mir ein wichtiges Anliegen,
dass die afghanischen Kräfte in eigener Verantwortung
für Sicherheit sorgen können, sodass die afghanische Be-
völkerung in Frieden leben kann . Viele Menschen, die
täglich aus dem Haus gehen in der Ungewissheit, ob sie
am Abend ihre Familien wiedersehen, diese Menschen –
insbesondere die junge Generation – wollen ihr Land
aufbauen und haben die Hoffnung, dass Afghanistan eine
bessere Zukunft haben kann . Dies ist auch eine Grundvo-
raussetzung dafür, dass Menschen in Afghanistan bleiben
können und nicht zur Flucht gezwungen werden .
Ich stimme daher dem Antrag der Bundesregierung
zu .
Anlage 11
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Lothar Binding (Heidelberg)
(SPD) zu der Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines
Gesetzes zum Schutz vor Manipulationen an di-
gitalen Grundaufzeichnungen (Zusatztagesord-
nungspunkt 4 a)
Entgegen allen Beteuerungen, Steuerbetrug in
Deutschland bekämpfen zu wollen, wollten CDU und
CSU zunächst kein Gesetz, jedenfalls kein Gesetz, das
hilft, Kassenbetrug wirksam zu verhindern und zu ahn-
den . Dabei geht es um zweistellige Milliardenbeträge
pro Jahr, um Betrug gegenüber allen fair Steuern zah-
lenden Bürgerinnen und Bürgern . Es waren die Finanz-
minister der SPD-geführten Bundesländer, vornehmlich
der Finanzminister aus NRW, Norbert Walter-Borjans,
und Andreas Schwarz, SPD Bundestagskollege im Fi-
nanzausschuss, die den Umsatzsteuerbetrug öffentlich
gemacht und den Druck in Richtung Gesetzgebung stetig
erhöht haben. Schließlich wurde im Bundesfinanzminis-
terium (BMF) ein Referentenentwurf erarbeitet, ein Re-
ferentenentwurf der besonderen Art: ein Gesetzentwurf
mit leerem Anwendungsbereich, also ein Gesetzentwurf,
der sicherstellt, dass der Betrug bis auf weiteres in al-
tem Stil möglich ist . Obwohl es eine von der Physika-
lisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) entwickelte Si-
cherheitslösung (INSIKA) gibt, wurde im Gesetz – unter
Ausschluss der existierenden Lösung – eine künftig
noch von Unternehmen zu entwickelnde Softwarelösung
vorgeschrieben – ohne zu wissen, bis wann die Indus-
trie solche Lösungen entwickelt haben wird . Erst im
Jahr 2020 besteht dann die Möglichkeit, die schon exis-
tierende Technik einzusetzen, falls sich die Hoffnung auf
eine künftige Lösung nicht erfüllt .
Wie das Bundesministerium der Finanzen haben auch
CDU/CSU die Einführung des INSIKA-Verfahrens blo-
ckiert . Die Ablehnung des BMF konnte nicht fachlich be-
gründet werden, sie scheint eher auf verwaltungsinternen
Befindlichkeiten zu beruhen. So fehlt dem Gesetz nun
ein definierter Anwendungsbereich. Das ist nicht zufrie-
denstellend . Aus diesem Grund hat der Finanzausschuss,
den Anregungen von Ralph Brinkhaus – stellvertretender
Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU Bundestagsfrak-
tion – und Andreas Schwarz als SPD-Berichterstatter
folgend, die Ermächtigung des BMF, eine Rechtsver-
ordnung zu erlassen, unter den Zustimmungsvorbehalt
des Bundestages gestellt und in Artikel 1 Nummer 3 den
§146a wie folgt geändert:
„(2) Das Bundesministerium der Finanzen wird er-
mächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des
Bundestages und des Bundesrates und im Einvernehmen
mit dem Bundesministerium des Innern und dem Bun-
desministerium für Wirtschaft und Energie Folgendes zu
bestimmen:
1 . die elektronischen Aufzeichnungssysteme, die über
eine zertifizierte technische Sicherheitseinrichtung
verfügen müssen, und
2 . die Anforderungen an
a . das Sicherheitsmodul,
b . das Speichermedium,
c . die einheitliche digitale Schnittstelle,
d . die elektronische Aufbewahrung der Aufzeich-
nungen,
e . die Protokollierung von digitalen Grundauf-
zeichnungen zur Sicherstellung der Integrität
und Authentizität sowie der Vollständigkeit der
elektronischen Aufzeichnung,
f . den Beleg,
e. die Zertifizierung der technischen Sicherheits-
einrichtung
Die Erfüllung der Anforderungen nach Satz 1 Num-
mer 2 Buchstabe a bis c ist durch eine Zertifizierung des
Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik
nachzuweisen, die fortlaufend aufrechtzuerhalten ist .“
INSIKA ist die Abkürzung von „Integrierte Sicher-
heitslösung für messwertverarbeitende Kassensysteme“ .
Es handelt sich um ein System zum Schutz der digitalen
Aufzeichnungen von Bargeschäften gegen Manipulatio-
nen auf der Basis von kryptografischen Verfahren, ins-
besondere in Registrierkassen und Taxametern . INSIKA
wird bereits erfolgreich im Taxigewerbe in Hamburg ein-
gesetzt, die Wettbewerbsverzerrungen durch schwarze
Schafe unter den Hamburger Taxiunternehmen sind wei-
testgehend aufgehoben .
Durch die Manipulationen elektronischer Aufzeich-
nungen in Kassensystemen erleidet der Staat jedes Jahr
einen immensen finanziellen Schaden. Der Bundesrech-
nungshof schätzt die jährlichen Steuerausfälle auf bis zu
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 20993
(A) (C)
(B) (D)
10 Milliarden Euro . Die Deutsche Steuergewerkschaft
(DSTG) wie auch Länderfinanzministerien halten noch
deutlich höhere Ausfälle für möglich . Bisher besteht kein
gesetzlicher Rahmen, der die Korrektheit und Vollstän-
digkeit dieser Kassendaten, genauer: der digitalen Grund-
aufzeichnungen von steuerlich relevanten Geschäftsvor-
fällen, sicherstellt . Daher ist es dringend notwendig, ein
solches Gesetz zu schaffen .
Aktuell existiert in Deutschland kein Registrierkas-
senmodell, das nicht manipulierbar ist . Mithilfe von pas-
sender Software ist es bisher möglich, eine vorgenom-
mene Buchung in einem Kassensystem nachträglich zu
verändern, sie zu löschen oder ihre Aufzeichnung von
vornherein auszuschalten . So drückt beispielsweise der
Besitzer einer Gaststätte am Abend eine Taste mit der
Bezeichnung „Trainee“, und alle Umsätze eines Kellners
sind auf immer vernichtet .
Wenn in einem Betrieb gar keine Registrierkasse
existiert, wird für den Betrug nicht einmal eine Soft-
ware benötigt . Der Bundesrechnungshof gibt an, dass
bei der Besteuerung von Bargeldgeschäften inzwischen
ein strukturelles Vollzugsdefizit existiert. So kann zurzeit
eine gleichmäßige Besteuerung bargeldintensiver Betrie-
be nicht sichergestellt werden .
Das schadet nicht nur dem Staat, allen Bürgerinnen
und Bürgern, sondern vor allem auch den vielen einzel-
nen steuerehrlichen Unternehmern, die dadurch unter
massiven Wettbewerbsverzerrungen zu leiden haben .
Gleichzeitig leiden steuerehrliche Unternehmen in bar-
geldintensiven Branchen unter einem Generalverdacht,
weil die Möglichkeiten der Finanzverwaltung, Betrug
bei Bargeschäften aufzudecken, begrenzt sind und Prü-
fungen deswegen lange dauern . Das führt zusätzlich zu
einem hohen Bürokratieaufwand .
Auch aus diesem Grund ist die Bundesregierung tätig
geworden . Der vorliegende Gesetzentwurf ist dabei ein
Schritt in die richtige Richtung . Er lässt jedoch weiter-
hin Steuerschlupflöcher zu, weil sich unser Koalitions-
partner CDU/CSU in den Verhandlungen gegen deren
Schließung verwehrt hat . Das ist sehr ärgerlich, ist aber
auch ein Beleg dafür, wie ernst es CDU und CSU mit der
Bekämpfung von Kassenbetrug ist .
Um den Steuerbetrug durch Kassenmanipulation ef-
fektiv bekämpfen zu können, wäre ein wirksames Ge-
samtkonzept notwendig, das die Finanzverwaltung in
die Lage versetzte, Kassennachschauen und Prüfungen
ohne großen Aufwand durchführen zu können . Dabei
müssen die Bürokratiekosten für Unternehmen und Steu-
erverwaltung niedrig gehalten werden . Deshalb hat die
SPD-Fraktion folgende zusätzlichen Anforderungen an
den Gesetzentwurf gestellt:
Die Einführung einer Belegausgabepflicht, damit das
Finanzamt schnell und einfach prüfen kann, ob Umsätze
korrekt erfasst sind .
Die Verwendung des sogenannten INSIKA-Verfah-
rens als technische Lösung, da es bereits vorhanden, er-
probt, sicher und kostengünstig ist .
Die Einführung einer zentralen Kassenregistrierung,
um das Risiko der Manipulation durch Zweitkassen zu
minimieren .
Die Einführung einer Kassenpflicht, mit Ausnahmen
unter anderem für Kleinunternehmer, Sportfeste und Wo-
chenmärkte .
Und warum stimmen wir unter diesen Bedingungen
zu? Weil es eine Belegausgabepflicht für elektronische
Kassen ab dem Jahr 2020 – wichtig für die Gauner: nicht
ab 2019, nicht ab 2018 und nicht ab 2017 – geben wird .
Damit wird künftig ein wichtiges Instrument geschaffen,
um Druck auf Steuerbetrüger aufzubauen . Das Entde-
ckungsrisiko für den Betrüger erhöht sich . Ebenso wird
es künftig möglich sein, elektronische Kassensysteme
eindeutig zuordnen und mithilfe von Kassennachschauen
oder Prüfungen Zweitkassen zu entdecken . Den Finanz-
ämtern wird es ab 2018 möglich sein, unangemeldet Kas-
sen zu prüfen – und damit immerhin zwei Jahre früher,
als es im Gesetzentwurf des BMF vorgesehen war . Selbst
hier war es nicht möglich, die unangemeldete Kassen-
nachschau ab 2017 einzuführen .
Auch die Einführung einer Kassenpflicht war leider
aufgrund des Widerstands von CDU/CSU noch nicht
möglich. Das hinterlässt ein Steuerschlupfloch. Die Ar-
gumentation unseres Koalitionspartners, damit alle Un-
ternehmer in bargeldintensiven Branchen unter Gene-
ralverdacht zu stellen, ist falsch. Eine Kassenpflicht ist
vielmehr ein Beitrag zur Unterstützung des ehrlichen Un-
ternehmers, der aufgrund von betrügenden Konkurrenten
Wettbewerbsnachteile erfährt . Ich verdächtige nur den
Betrüger – der Ehrliche ist frei von Verdacht .
Mit dem geplanten Gesetz gehen wir einen ersten
und wichtigen Schritt und damit gegen Steuerbetrug bei
Kassensystemen vor . Deshalb stimme ich dem Gesetz-
entwurf zu . Ich möchte aber sehr deutlich machen, dass
dieses Gesetz weiterentwickelt werden muss, damit die
Steuerschlupflöcher, die nun offen bleiben, ebenfalls ge-
schlossen werden können .
Anlage 12
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Gehrcke, Dr. Alexander S. Neu, Andrej
Hunko, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE: Weichen für eine Europäische Union
der Abrüstung und des Friedens stellen (Tagesord-
nungspunkt 18)
Robert Hochbaum (CDU/CSU): Deutschland hat es
sich zur Aufgabe gemacht, international für den Frieden
und die Menschenrechte einzustehen und gemeinsam
mit unseren europäischen Partnern Verantwortung zu
übernehmen . Dieser Kurs ist nicht nur das Produkt von
Koalitionsverhandlungen . Denn auch in unserem Land
mussten bereits andere Nationen für den Schutz unse-
rer freiheitlichen, demokratischen Werte einstehen . Die
jüngere Geschichte zeigt uns, dass der Friede in Euro-
pa untrennbar mit einer vernünftigen Sicherheitspolitik
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201620994
(A) (C)
(B) (D)
verbunden ist . CDU und CSU werden die Sicherheit der
deutschen Bevölkerung und jene unserer Partnerländer
nicht auf Kosten einer bedingungslosen Friedenspolitik
preisgeben .
Unsere geltenden Rüstungskontrollverträge stehen
natürlich nicht auf dem erträumten Fundament einer waf-
fenfreien Welt, sondern basieren auf langjährigem zwi-
schenstaatlichen Vertrauen .
Mit Blick auf Russland muss ich sagen, dass dieses
Vertrauen auf eine sehr harte Probe gestellt wird . Von
rückwärtsgewandten Schuldzuweisungen profitiert je-
doch keine Seite . Der stetige Dialog, das unermüdliche
Ringen um den Konsens am Verhandlungstisch sind un-
sere erklärten Ziele . Dem gehen wir seit geraumer Zeit
in verschiedenen Gremien entschlossen nach, allen voran
unsere Bundeskanzlerin und unser Außenminister .
Als Unterausschussvorsitzender kann ich Ihnen aus
eigener Erfahrung berichten, dass man Bestrebungen zu
umfangreicher Abrüstung und Rüstungskontrolle von
russischer Seite derzeit abwartend gegenübersteht, auf
keinen Fall jedoch ablehnend . Das lässt hoffen . Im Inte-
resse des Friedens bleibt auch allen Parteien keine andere
Wahl .
Die bestehenden Rüstungskontrollverträge zu sichern,
ist nur ein Teil unserer Aufgabe . Langfristig müssen wir
im Rahmen der OSZE-Verhandlungen ein wirksames
Derivat zum KSE-Vertrag finden, eines, das die souverä-
nen Interessen aller OSZE-Mitglieder auf einen gemein-
samen Nenner bringt . Bundesaußenminister Steinmeier
hat mit seiner Rüstungskontrollinitiative einen wichtigen
Schritt unternommen . Niemand am Verhandlungstisch
hat die Absicht, die Situation weiter zu verschärfen . Ge-
nau diesen erkennbaren Willen gilt es aufzugreifen . Er
ist zugleich die Chance auf den Erfolg des Minsker Ab-
kommens und die notwendige Erneuerung des Wiener
Dokuments . Mit der OSZE haben wir das geeignete Fo-
rum, um die Gespräche zu vertiefen und an Lösungen zu
arbeiten . Die Verhandlungen werden uns allerdings einen
langen Atem abverlangen .
Meine Damen und Herren, eines gilt es hervorzuhe-
ben: Es sind die internationalen Teams der OSZE, die in
den Krisengebieten, insbesondere als Teil der Sonder-
mission im Donbass, oft unter Lebensgefahr wichtige
Arbeit für die Friedensbemühungen leisten . Ihnen gilt
unser Dank, denn sie stützen damit, Tag für Tag, aktiv
den Frieden in Europa .
Unser Minister Frank-Walter Steinmeier hat natürlich
recht, wenn er beim Ministerrat in Hamburg die zahlrei-
chen neuen Gefahren nennt, auf die sich die OSZE-Län-
der einstellen müssen . Cyberkrieg, hybride Kriegs-
führung, politische und religiöse Radikalisierung – die
globalen Bedrohungen entwickeln sich weiter . Wir müs-
sen uns darauf einstellen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, jetzt vor-
schnell überzogene Forderungen zu stellen nach einem
Stopp der zwingend notwendigen Rüstungsmodernisie-
rungen in Deutschland bzw . Europa, fördert in keiner
Weise all unsere diplomatischen Bemühungen . Wir müs-
sen beharrlich an realistischen Lösungen arbeiten . Frie-
den und Sicherheitspolitik gehen dabei Hand in Hand .
Gerade der gegenseitige, partnerschaftliche Schutz ist es
doch, der zur Vertrauensbildung und Gemeinschaft in-
nerhalb Europas ganz maßgeblich beiträgt .
Deutschland wird auch weiterhin diesen Beitrag leis-
ten . Die gemeinsame europäische Sicherheitspolitik ist
es, die es vermag, der Friedenspolitik in Europa eine star-
ke Stimme zu verleihen . Sie verhindert übrigens auch,
dass einzelne Länder unserer Gemeinschaft zum militäri-
schen Spielball der geostrategischen Interessen einer an-
deren Nation werden . Wer wären wir denn, würden wir
unsere kleineren und schwächeren Partner dem preisge-
ben? – Insofern muss man sich auch für eine intensivere
europäische Verteidigungskooperation aussprechen .
Die Hand nach Russland bleibt jedoch immer ausge-
streckt . Dabei wird eine wertegebundene Außen- und Si-
cherheitspolitik unser Handeln in den kommenden Jah-
ren weiterhin prägen .
Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU): Die Unionsfrakti-
on begrüßt, dass uns die Fraktion Die Linke Gelegenheit
gibt, im Advent über den Frieden zu sprechen . In der
Bibel, die ich in dieser Adventszeit besonders unbefan-
gen zitieren darf, wird immer wieder die Hoffnung auf
Frieden angesprochen, oft in Verbindung mit anderen ho-
hen Begriffen: „Liebet Wahrheit und Frieden“ (Sachar-
ja 8, 19), „Dein Name wird genannt werden Friede der
Gerechtigkeit“ (Baruch 5, 4), „Lerne, wo es Glück und
Frieden gibt“ (Baruch 3, 14) .
Wir wissen – und Die Linke weiß dies aus ihrer Ge-
schichte besonders gut –, dass Begriffe wie Frieden,
Wahrheit, Gerechtigkeit und Glück im Leben der Men-
schen und vor allem im Bereich der Politik immer be-
sonders missbrauchsanfällig sind . Erinnern wir uns, dass
die Deutsche Demokratische Republik ihre Mauer als
„Friedenswall“ bezeichnete . In minder schweren Fällen
wird der Sehnsuchtsbegriff Friede nicht zur Täuschung,
sondern nur für Oberflächlichkeiten genutzt, wie im vor-
liegenden Antrag . Wir alle wissen doch, dass nicht Waf-
fen Krieg führen, sondern Menschen . Und wir wissen vor
allem, um mit den Worten des Dalai Lamas zu sprechen:
„Äußerer Frieden ist nur durch inneren Frieden möglich .
Innerer Frieden ist der Schlüssel .“ Wenn ich mich aber
auf die Argumentationsebene des Antrages einlasse, will
ich Folgendes sagen:
Erstens . Hätte sich die Fraktion Die Linke an ihr dia-
lektisches Grundwissen erinnert, wäre ihr Folgendes klar
gewesen: „Frieden schaffen ohne Waffen“ und „Frieden
schaffen durch immer bessere Waffen“ – für beide Aus-
sagen gibt es in der Geschichte gute Beispiele, für den
zweiten Satz etwa das Ende der waffenstarrenden Kon-
frontation zweier Staaten auf deutschem Boden, ja das
Ende des Kalten Krieges insgesamt und auch kurz da-
rauf die deutsche Wiedervereinigung . Letztlich war die
Rüstungspolitik des amerikanischen Präsidenten Reagan
dafür kausal . So erstaunlich ist das mit der Rüstung und
dem Frieden . Aber wir wissen doch: „Einfache Dinge
sind polar, höhere ambivalent und die höchsten paradox“ .
Zweitens . Was uns auch nicht weiterführt, ist die
selektive Wahrnehmung der Wirklichkeit, die diesen An-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 20995
(A) (C)
(B) (D)
trag kennzeichnet . Während bei NATO und EU nur Sä-
belrasseln und Kriegsgeheul gesehen wird, ist die Proble-
matik Ukraine/Krim/Russland keiner Erwähnung wert .
Auch das Sicherheitsbedürfnis vieler Staaten des ehema-
ligen sowjetischen Einflussgebietes wie etwa Polen und
des sowjetisch okkupierten Baltikums, ein Sicherheitsbe-
dürfnis nach Jahren der Unterdrückung und Unfreiheit,
kann von den Antragstellern offensichtlich nicht gesehen
werden .
Drittens . Wir wissen nicht, in welchem Umfang sich
die Vereinigten Staaten von Amerika künftig für die Si-
cherheit Europas finanziell engagieren werden. Ebenso
wissen wir nicht, ob ein gewaltbereiter Islamismus ein
Problem der inneren Sicherheit bleibt oder auch noch
zu einem Problem der äußeren Sicherheit wird . In einer
solchen Lage ist es geboten, dass die Europäer innerhalb
und außerhalb der EU verteidigungspolitisch enger zu-
sammenrücken und auch im Bereich der Bewaffnung ar-
beitsteiliger zusammenarbeiten .
Abschließend will ich bemerken: Wir haben den Ver-
fassungsauftrag, die Sicherheit unserer Bürger zu ge-
währleisten . Die anstehenden Gespräche und Entschei-
dungen im Europäischen Rat am heutigen 15 . Dezember
helfen uns bei der Erfüllung dieses Auftrages . Für den
Versuch des Antrages, dieses gemeinsame Bemühen in
die Nähe der Kriegstreiberei zu rücken, fehlt mir jedes
Verständnis . Es fällt mir auch nicht ganz leicht, bei al-
ledem den inneren Frieden zu bewahren . Gerne will ich
es aber versuchen . Der Fraktion der Linken rufe ich den
Satz Mahatma Ghandis zu: „Sei selbst, was du ersehnst .“
Dr. Ute Finckh-Krämer (SPD): Unsere heutige De-
batte befasst sich mit einer möglichen Friedensrolle der
Europäischen Union . Ich halte dies für ein äußerst wich-
tiges Thema und bin der Fraktion Die Linke daher dank-
bar, dass sie den Punkt auf die Tagesordnung des Deut-
schen Bundestages gesetzt hat . Ich kann verstehen, dass
Sie das Thema nach den Beschlüssen von NATO und EU
in der Tagesordnung diskutieren wollen .
Umso mehr bedauere ich, dass wir nicht die Möglich-
keit haben, über dieses wichtige Thema wirklich zu de-
battieren, sondern nun unsere Reden zu Protokoll geben .
Ich halte es für einen Vorteil der Europäischen Union,
dass sie sich in der internationalen Politik vornehmlich
zivil engagiert . Der Ausdruck „Zivilmacht Europa“ ist ja
nicht zufällig entstanden . Mein Eindruck ist, dass sich
eher eine Art Arbeitsteilung zwischen der Europäischen
Union und der NATO entwickelt . Die NATO übernimmt
militärische Einsätze, die EU sieht ihre Schwerpunkte in
der zivilen Konfliktbearbeitung. Das Bild von der Euro-
päischen Union, das die Kolleginnen und Kollegen von
der Linken zeichnen, halte daher für überzogen, die Be-
fürchtungen für alarmistisch .
Die EU ist seit Jahren im zivilen Krisenmanagement
aktiv . Sie verfügt über eine Reihe von Kapazitäten, die
auch zum Einsatz kommen: Dazu gehören Polizei, Un-
terstützung von Rechtsstaatlichkeit und Verwaltung und
Monitoring . Sicher ist das alles ausbaufähig, aber das
muss man dann auch konkret einfordern . Genau darüber
hätten wir debattieren können .
Beispiele für die zivile Arbeit der EU sind die Poli-
zei- und Justizmission im Kosovo und die European Uni-
on Border Assistance Mission to Moldova and Ukraine
(EUBAM) . EUBAM ist auch ein Beispiel für die Ko-
operation mit der OSZE . Manchmal gibt die Arbeit der
EU sogar Anstöße für zivilgesellschaftliche Projekte und
Initiativen . Es ist sicher kein Zufall, dass der ehemali-
ge Hohe Repräsentant der EU in Bosnien-Herzegowina,
Christian Schwarz-Schilling, nachdem er aus dem Amt
ausgeschieden war, die Mediationsorganisation CSSP,
Berlin Center for Integrative Mediation, gegründet hat .
Das Instrument für Stabilität und Frieden der EU (ISF)
wurde eingerichtet, um kurzfristiges Krisenmanagement
mit langfristigen Maßnahmen der Friedensförderung
besser miteinander verknüpfen zu können . Das ISF führt
Projekte mit zivilgesellschaftlichen Partnern und interna-
tionalen Organisationen in den Bereichen Vertrauensbil-
dung, Mediation, Sicherheitssektorreform durch, um nur
einige Beispiele zu nennen .
Die EU gehört auch zu den Förderern des European
Peacebuilding Liaison Office (EPLO), einem Netzwerk
von zivilgesellschaftlichen friedenspolitischen Organisa-
tionen . Dabei möchte ich aber betonen, dass EPLO und
seine Mitglieder darauf achten, dass ihre Unabhängigkeit
gewahrt bleibt . Die EU hat auch schon Projekte der Non-
violent Peaceforce gefördert .
Die EU hat 2011 mit dem Programm Europe’s New
Training Initiative for Civilian Crisis Management
(ENTRi) begonnen, das nach bisherigem Stand bis 2019
laufen soll . Das Zentrum für Internationale Friedensein-
sätze – ZIF – leitet das Programm . Neben verschiedenen
Mitgliedstaaten der Europäischen Union beteiligt sich
auch die Schweiz daran . ENTRi arbeitet mit elf Partner-
institutionen und der OSZE zusammen . Das Ziel ist die
Ausbildung von Zivilistinnen und Zivilisten, die bereits
in Krisenmanagementmissionen tätig sind oder in solche
entsandt werden sollen . An ENTRi kann man sehen, dass
die EU ihre Kapazitäten weiterentwickelt .
Dieser kurze Überblick zeigt, dass die EU in der zivi-
len Konfliktbearbeitung sehr aktiv ist. Die Fokussierung
auf die rein militärischen Aspekte in dem Antrag kann ich
daher nicht nachvollziehen . Mein Plädoyer ist, dafür zu
streiten, dass die zivilen Instrumente ausgebaut werden .
Sie fordern eine Rüstungskontrollinitiative unter dem
Dach der OSZE . Diese Initiative gibt es seit einigen Mo-
naten, und Außenminister Steinmeier hat uns gestern
im Unterausschuss „Abrüstung, Rüstungskontrolle und
Nichtverbreitung“ über den aktuellen Stand informiert .
Der Vorschlag von Frank-Walter Steinmeier, der Öf-
fentlichkeit am 26 . August 2016 in der Frankfurter Allge-
meinen Zeitung vorgestellt, beinhaltet folgende Punkte:
Notwendig sind Vereinbarungen über regionale Ober-
grenzen, Mindestabstände und Transparenzmaßnah-
men – insbesondere in militärisch sensiblen Regionen,
zum Beispiel im Baltikum –, die neuen militärischen Fä-
higkeiten und Strategien Rechnung tragen – wir reden
heute weniger von klassischen, schweren Armeen, son-
dern mehr von kleineren, mobilen Einheiten, also sollten
wir zum Beispiel Transportfähigkeit mitbeachten –, die
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201620996
(A) (C)
(B) (D)
neue Waffensysteme einbeziehen – zum Beispiel Droh-
nen –, die echte Verifikation erlauben – rasch einsetzbar,
flexibel und in Krisenzeiten unabhängig, zum Beispiel
durch die OSZE –, die auch in Gebieten anwendbar sind,
deren territorialer Status umstritten ist .
Bereits im November hat sich eine Freundesgruppe
dieser Initiative gebildet, der 14 Staaten angehören . Die
Liste der 14 Staaten ist deswegen erfreulich, weil es sich
um Staaten mit unterschiedlichen Interessen und Positio-
nen handelt: Neben Deutschland gehören Belgien, Finn-
land, Frankreich, Italien, die Niederlande, Norwegen,
Österreich, Rumänien, Schweden, die Schweiz, die Slo-
wakei, Spanien und die Tschechische Republik dazu . Die
OSZE will nach der Außenministerkonferenz in der ver-
gangenen Woche in Hamburg hierzu einen strukturierten
Dialog entwickeln .
Bei einigen Punkten rennen Sie offene Türen ein . Wir
setzen uns bereits dafür ein, dass die Europäische Union
unsere Dialogpolitik, die sich an dem Konzept der Ent-
spannungspolitik anlehnt, unterstützt . Aber sollen wir
warten, bis wir alle EU-Mitglieder überzeugt haben?
Man könnte sicher noch mehr tun, um die zivilen Fä-
higkeiten der EU zu stärken . Nicht nur technische Fähig-
keiten müssen verstärkt werden . Auch die Bereitschaft,
ein strategisches Potenzial für Krisenprävention und
Konfliktbearbeitung zu entwickeln, ist nicht ausreichend.
Darüber ist in Ihrem Antrag leider sehr wenig zu lesen .
Andrej Hunko (DIE LINKE): Die Welt scheint aus
den Fugen geraten, und auch die Europäische Union be-
findet sich in einer tiefgreifenden Krise. Die schwelende
Euro-Krise wurde nicht gelöst, sondern durch die maß-
geblich durch die Bundesregierung erzwungene Auste-
ritätspolitik verschärft – mit verheerenden unsozialen
Folgen vor allem im Süden Europas .
In vielen Mitgliedstaaten der EU haben rechte Partei-
en und Bewegungen Zulauf . In Großbritannien hat sich
eine Mehrheit der Menschen dafür entschieden, der EU
den Rücken zu kehren, und auch sonst wächst die Skep-
sis gegenüber dem europäischen Integrationsprozess .
Zuletzt hat der Sieg von Donald Trump bei den Präsi-
dentschaftswahlen in den USA für Aufsehen gesorgt .
Die Reaktion in der EU auf diese Entwicklungen
könnte falscher nicht sein . Ein Weiter-so in wirtschafts-
und sozialpolitischen Fragen soll nun ergänzt werden
durch einen Militarisierungsschub in allen Mitgliedstaa-
ten und auf EU-Ebene . Ich habe doch sehr den Eindruck,
dass hier einige den Knall nicht gehört haben . Sie wol-
len doch nicht ernsthaft Aufrüstung und Militarisierung
als Kitt für die, wie es Kommissionspräsident Juncker
genannt hat, „Polykrise“ der EU verwenden? Das wird
nicht nur nicht funktionieren; es ist auch brandgefährlich .
Seit dem Fall der Mauer war die Gefahr einer mili-
tärischen Konfrontation mit Russland nicht so groß wie
heute . Das ist zweifelsohne nicht die alleinige Verant-
wortung der EU . Aber es war insbesondere der Erwei-
terungsprozess von NATO und EU nach Osten, der die
historische Chance der Neunzigerjahre zunichte gemacht
hat, eine friedliche Neuordnung Europas nach dem Ende
der Sowjetunion zu erreichen . Heute rüstet die NATO
an den Grenzen zur Russischen Föderation auf, und
auch Russland beteiligt sich an der Eskalationsspirale .
Es scheint, als hätten einige aus den Verwüstungen des
20 . Jahrhunderts nichts gelernt .
Nun soll im Rahmen der EU-Globalstrategie und der
misslicherweise „Verteidigungsunion“ genannten Milita-
risierungspläne die EU noch weiter für die Sicherheits-,
Militär- und Rüstungspolitik eingespannt werden . Schon
der Lissabon-Vertrag verpflichtet die Mitgliedstaaten be-
kanntlich zur Aufrüstung . Doch was uns nun erwartet,
stellt alles Dagewesene in den Schatten .
Unter offenem Bruch von Artikel 41 des EU-Vertra-
ges sollen nun sogar EU-Haushaltsmittel für die An-
schaffung von Waffen und vor allem Drohnen verwendet
werden . Ein Verteidigungsfonds soll weitere Milliarden
für die Rüstungsindustrie mobilisieren, und der Aufbau
einer EU-Armee soll den imperialen Anspruch der EU
als „global Player“ untermauern . Durch das Zwei-Pro-
zent-Ziel der NATO würden sich die Rüstungsausgaben
in Deutschland nahezu verdoppeln .
Ist das ernsthaft Ihre Antwort auf Trump, Brexit und
Le Pen? Nicht nur werden diese Milliardensummen an
allen Ecken und Enden für wesentlich sinnvollere Pro-
jekte gebraucht – beispielsweise für ein so dringend
nötiges sozial-ökologisches Investitionsprogramm zur
Überwindung der Wirtschaftskrise in Europa . Sie spielen
zugleich außenpolitisch mit dem Feuer .
Wir brauchen eine grundlegend andere Antwort auf
die Krisen unserer Zeit . Angesichts des Scherbenhaufens,
den die Politik der Östlichen Partnerschaft in Osteuropa
hinterlassen hat, ist eine neue Entspannungspolitik uner-
lässlich . Die Frage von Krieg und Frieden ist nach Eu-
ropa zurückgekehrt, und die falschen Weichenstellungen
können fatale Folgen haben . Nutzen wir den Moment der
Krise jedoch richtig, so können wir heute den Weg für
eine friedliche und soziale Entwicklung ebnen .
Wir brauchen ein Europa des Friedens und der Abrüs-
tung, der Entspannung und der Kooperation . Die Alter-
native dazu bekommen wir derzeit vorgeführt .
Dr. Franziska Brantner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Wir beraten heute einen durchaus wichtigen An-
trag: „Weichen für eine Europäische Union der Abrüs-
tung und des Friedens stellen“ . Wer wäre mit diesem
Vorsatz nicht einverstanden? Mit ihrem Antrag greift Die
Linke einige richtige Punkte auf und stellt auch manch
berechtigte Forderung . Aber da gibt es auch vieles, wo
wir nicht mitgehen können .
In Brüssel werden heute und morgen erstmals auf
Ebene der Staats- und Regierungschefs weitreichende
Vorschläge für einen EU-Verteidigungsfonds diskutiert .
Darüber zu reden, ist nicht grundsätzlich verkehrt; denn
ein Weiter-so – will heißen: jeder macht sein Ding, und
„Europa“ setzt anschließend, wenn es gut läuft, oben
noch was drauf – kann auch nicht die Lösung sein . Wir
brauchen angesichts ja nicht abnehmender Krisen, die
uns alle betreffen, eine gemeinsame Antwort . Allerdings
gilt es jetzt, nicht die falschen Weichen zu stellen .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 20997
(A) (C)
(B) (D)
Vor sechs Monaten hat die EU-Außenbeauftragte
Mogherini ihren Vorschlag einer „global strategy“ der
Union in der Außen- und Sicherheitspolitik vorgelegt .
Verglichen mit der Verve, mit der jetzt einige Staaten –
allen voran Deutschland und Frankreich – die Verteidi-
gungs- und Rüstungsaspekte pushen, fand diese Strategie
recht wenig Beachtung . Schade! Denn in diesem Papier
wurden wichtige Punkte aufgegriffen . So ist es gut, dass
die Strategie zum ersten Mal den Begriff des „Präven-
tivfriedens“ einführt . Es ist gut, dass lokale Akteure,
gerade auch Frauen, ausdrücklich als wichtige Akteure
der Konfliktbeilegung genannt werden, dass die Notwen-
digkeit eines ganzheitlichen, langfristigen Engagements
für den Frieden betont wird . Leider sind diese positiven
Elemente der Strategie offenbar der Linken nicht aufge-
fallen .
Was heute in Brüssel auf dem Verhandlungstisch liegt,
müssen wir viel kritischer bewerten als einige Kapitel des
Mogherini-Vorstoßes . Zwar ist es richtig, sich Gedanken
über einen echten europäischen Rüstungsmarkt zu ma-
chen; denn die Kommission räumt ja selbst ein, dass die
EU als Ganzes locker zwischen 25 und 100 Milliarden
einsparen könnte, wenn man klare Regeln und eine inten-
sivere Zusammenarbeit hätte . Aber anstatt sich Gedan-
ken über naheliegende und kostensparende Synergien zu
machen, wollen die Befürworter des Verteidigungsfonds
nun finanziell so richtig zulangen: 5 Milliarden Euro
jährlich sollen die Mitgliedstaaten für die Beschaffung
von Militärgerät bereitstellen – ohne dass klar ist, welche
Fähigkeiten überhaupt benötigt werden . Und diese In-
vestitionen sollen womöglich auch noch nicht als Schul-
den im Sinne der Maastricht-Kriterien bewertet werden!
2020 sollen dann pro Jahr 500 Millionen Euro aus dem
EU-Haushalt für gemeinsame Rüstungsforschung ausge-
geben werden . Wo bleibt da die schwarze Null, frage ich
mich!
Aber das ist nicht alles . Auch der Europäische Fonds
für Strategische Investitionen, EFSI, soll zur Finanzie-
rung von Rüstungsprojekten eingespannt werden . Un-
fassbar! Und die Bundesregierung? Die zeigte sich in
einer Antwort an meinen Kollegen Manuel Sarrazin,
„aufgeschlossen“, den EFSI für „Projekte im Bereich des
Sicherheits- und Verteidigungssektors“ zu öffnen . Noch
so ein Tabubruch: Die Europäische Investitionsbank soll
nach den Vorstellungen der Kommission Kredite für Rüs-
tungsunternehmen ausgeben . Und dann gab es ja auch
noch den Vorstoß vom vergangenen Sommer, EU-Gelder
des Friedens- und Stabilitätsinstruments zur Anschaffung
von Militärgütern einzusetzen – eine Zweckentfremdung
von Mitteln in Milliardenhöhe, die zum Beispiel Ent-
wicklungsprojekten in Afrika vorenthalten würden .
Ja, mehr Gemeinsamkeit ist nötig und machbar . Was
Rüstung betrifft, mangelt es uns nicht an Geld, wohl aber
an Ideen, es vernünftig auszugeben . Wir brauchen kei-
nen Transporthubschrauber, von dem es 27 verschiedene
Versionen gibt . Es gäbe Hunderte sogar von den nationa-
len Militärchefs schon identifizierte sogenannte Pooling-
und Sharing-Projekte, die man nur umsetzen müsste .
Lassen Sie mich kurz noch weiter auf den Antrag der
Linken eingehen . Sie schreiben, „die Frage von Krieg
und Frieden (sei) auf den europäischen Kontinent zu-
rückgekehrt“ . Sie erwähnen die völkerrechtswidrige
Annexion der Krim mit keinem Wort, plädieren aber für
eine Aufhebung der Sanktionen gegen Russland . Damit
machen Sie es sich doch etwas zu einfach .
Anlage 13
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesse-
rung des Schutzes gegen Nachstellungen (Zusatz-
tagesordnungspunkt 6)
Kathrin Rösel (CDU/CSU): Der Verehrer steht re-
gelmäßig vor dem Fenster und spielt seiner Angebeteten
ein Lied auf der Geige: In Filmen und Büchern wirkt
das romantisch . Stellen wir uns die Situation im echten
Leben vor, wirkt sie eher angsteinflößend, im Gegenteil:
Stalker machen ihren Opfern oft das Leben zur Hölle .
Nicht nur die Zahlen sprechen für sich: Mehr als
20 000 Anzeigen gehen jährlich bei den Polizeibehörden
ein und nur ein, Bruchteil davon führt zu einer Anklage,
in weniger als einem Prozent kommt es zur Verurteilung .
Mit dem Nachstellungsgesetz 2007 hat der Deutsche
Bundestag bereits ein Gesetz erlassen, das den Opfern
verschiedenster Form der Nachstellung besseren Schutz
bietet . Allerdings wurde damals die Messlatte sehr hoch
gehängt: Erst wenn die Lebensgestaltung des Opfers
„schwerwiegend beeinträchtigt“ war, konnte der Täter
verurteilt werden . Klar, dass hier dringend Handlungs-
bedarf bestand!
Menschen, die gestalkt werden, erleben innere Unru-
he, Ängste, viele entwickeln Schlafstörungen oder De-
pressionen – je nach psychischer Stabilität des Opfers in
unterschiedlicher Ausprägung . Die einen, die besonders
taff damit umgehen (vielleicht auch nur nach außen),
ziehen nicht gleich um oder wechseln den Arbeitsplatz .
Andere wiederum können sich es finanziell schlichtweg
nicht leisten oder die persönlichen oder familiären Le-
bensumstände lassen es einfach nicht zu . Und überhaupt:
Wieso muss bitteschön erst das Opfer seine Lebenssitua-
tion ändern, bevor der Täter strafrechtlich verfolgt wird?
Das hat doch zur Konsequenz, dass das Strafrecht in der
heutigen Fassung bewirkt, was dem Täter nicht gelungen
ist: nämlich den Willen des Opfers zu beugen . Für uns,
für die Union, ein unhaltbarer Zustand!
Wir können es nicht hinnehmen, wenn Recht und Ge-
setz nicht den bestmöglichen Schutz für die Opfer bie-
ten. Daher haben wir die Forderung nach Modifizierung
des § 238 Strafgesetzbuch bereits im Koalitionsvertrag
verankert . Stalking in jeder erdenklichen Form muss von
einem Erfolgsdelikt zu einem Gefährdungsdelikt umge-
wandelt werden . Und es bedurfte erst nachdrücklicher
Forderungen der unionsgeführten Länder wie Bayern,
Hessen und Sachsen, um das Haus von Justizminister
Maas dazu zu bewegen, jetzt endlich den Gesetzentwurf
vorzulegen .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201620998
(A) (C)
(B) (D)
Aber, was uns jetzt vorliegt, kann ich zu hundert Pro-
zent unterschreiben . Nicht nur, dass künftig die Hand-
lung des Täters objektiv dazu geeignet sein muss, um zur
Anklage oder Verurteilung zu führen . Nein, wir gehen
sogar darüber hinaus: Wir streichen nun auch den Nach-
stellungsparagrafen aus den Privatklagedelikten heraus .
Wir verhindern damit, dass Stalking als ein leichteres
Vergehen gilt, und ersparen es den Opfern, nach einem
manchmal über Monate und Jahre dauernden Martyrium
selbst den Strafanspruch durchzusetzen . Auch hier wird
deutlich: Die Union stärkt die Opfer und das ist nur ge-
recht .
Stalking ist äußerst diffizil. Neben den Formen wie
Auflauern, Belästigen durch SMS oder Telefonterror gibt
es noch unzählige Möglichkeiten, dem Opfer das Leben
zur Hölle zu machen . Daher ist es unmöglich, sämtliche
Formen von Nachstellung abschließend im Gesetzestext
aufzuführen . Justizminister Maas beabsichtigte, die in
§ 238 aufgeführte Generalklausel abzuschaffen . Aber
wer weiß denn, was sich Täter so alles ausdenken, um
ihr Opfer zu quälen? Glücklicherweise konnte sich auch
hier die Union durchsetzen, und diese Streichung wieder
zurücknehmen .
Sie, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Oppo-
sition, stehen auf dem Standpunkt, dass die Neufassung
des Nachstellungsparagrafen zu weit geht . Dann verra-
ten Sie mir einmal bitte, wie Sie es den zahlreichen Op-
fern dieser Straftat erklären wollen, dass diese weiterhin
kaum eine Möglichkeit haben, zu einem normalen Leben
zurückzukehren, ohne, dass sie, also die Opfer, dem Tä-
ter nachgeben. Mir jedenfalls fiele an Ihrer Stelle kein
einziges Argument ein .
Ich bitte um Zustimmung zu unserer Gesetzesvorlage .
Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Wir beschließen heu-
te ein Gesetz, in das Stalkingopfer große Hoffnung set-
zen . Leidtragende sind überwiegend Frauen . Zu 80 Pro-
zent sind sie es, die ein anderer durch Telefonterror und
Auflauern am Arbeitsplatz belästigt, die es mit der Angst
zu tun bekommen, sich nicht mehr vor die Tür trauen
und kaum mehr schlafen können, weil ihr Leben zu ei-
nem Alptraum geworden ist . Übles Nachstellen kann so
schwerwiegende Folgen wie Verbrennungen oder Kno-
chenbrüche haben und im schlimmsten Fall zum Tod füh-
ren . Es verstößt auf üble Weise gegen geltendes Recht .
Das ändern wir .
Stalking ist eine Straftat . Zu Recht wurde diese Lü-
cke im Jahr 2007 im deutschen Strafrecht geschlossen .
Vorher waren nur schwerwiegende Nachstellungen wie
Hausfriedensbruch, Körperverletzung und sexuelle Nö-
tigung strafbar . Allerdings fällt die Bilanz nach fast zehn
Jahren nicht rosig aus: Anzeigen und Verurteilungen ste-
hen in einem eklatanten Missverhältnis . In der Polizeili-
chen Kriminalstatistik wurden zwischen 2008 und 2014
jährlich zwischen 205 und 561 Verurteilungen wegen
Nachstellung erfasst . Diesen stehen bis zu 23 296 Straf-
anzeigen wegen übler Nachstellung gegenüber . Hinzu
kommt eine noch viel größere Dunkelziffer, weil Opfer
aus Angst und Scham gar nicht erst Anzeige erstatten,
oft auch mangels Aussicht auf Erfolg, dass der Täter
auch tatsächlich zur Rechenschaft gezogen wird . Diese
niedrige Quote ist auch dem Umstand geschuldet, dass
bislang eine Verurteilung nicht vom Verhalten des Täters
abhing, sondern das Opfer eine schwerwiegende Beein-
trächtigung seiner Lebensweise etwa durch einen Umzug
oder Arbeitsplatzwechsel vor Gericht nachweisen muss-
te . Vom Opfer wird ein Verhalten verlangt, das ihm nicht
länger zugemutet werden kann . Es soll gezwungen wer-
den, sein Leben zu ändern, damit der Täter strafrechtlich
verfolgt werden kann .
Die aktuelle Gesetzeslage schützt Stalkingopfer un-
zureichend . Deshalb brauchen wir Verbesserungen . Wir
bauen den strafrechtlichen Schutz vor Stalking aus und
senken die Hürden für eine Verurteilung . Wir wollen
für einen besseren Schutz von Menschen sorgen, die
unter üblen Nachstellungen von Expartnern oder Exge-
liebten leiden . Das war auch Tenor einer öffentlichen
Expertenanhörung im Bundestag . Es ist richtig, dass
der Gesetzgeber nach fast zehn Jahren die Wirkung des
Tatbestands der Nachstellung in § 238 Strafgesetzbuch
überprüft hat . Die Reform des § 238 StGB ist notwen-
dig . Lücken im Strafrecht müssen endlich geschlossen
werden . Mit diesem Gesetz müssen Opfer nicht länger
nachweisen, dass sie der Stalker durch sein Verhalten zu
einem anderen Lebenswandel gezwungen hat . Das Opfer
muss seine Telefonnummer nicht mehr wechseln oder in
eine andere Stadt ziehen . Künftig ist der Straftatbestand
des Stalkings erfüllt, wenn der Täter die Lebensgestal-
tung des Opfers schwerwiegend beeinträchtigt . Diese
Änderung im Strafrecht soll dafür sorgen, dass Täter
leichter verurteilt werden . Aus einem Erfolgsdelikt wird
ein Eignungsdelikt, weil bereits die Handlung, die ge-
eignet ist, eine schwere Störung der Lebensverhältnisse
herbeizuführen, die Strafbarkeit in sich trägt . Durch den
Charakter des Eignungsdelikts können wir Opfer besser
schützen .
Außerdem haben wir zum Schutz der Opfer erreicht,
dass die Generalklausel im Gesetz stehen bleibt . Bun-
desjustizminister Heiko Maas wollte sie, für uns un-
verständlich, ursprünglich rückgängig machen . Diese
brauchen wir aber, damit künftig auch derjenige zu einer
Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren verurteilt werden kann,
der falsche Todes- oder Heiratsanzeigen aufgibt, soziale
Medien manipuliert, indem er unter dem Namen des Op-
fers auftritt, oder dem Opfer tote Tiere vor die Tür legt
und Ekel erregt . Auch nachhaltige Lärmbeschallung und
eine Überwachung des Familien- und Bekanntenkreises
kann unter Strafe gestellt werden . All diese Handlungen
können auch weiterhin als Stalking strafrechtlich ver-
folgt werden . Das stärkt die Opfer noch einmal mehr .
Der CDU/CSU-Bundestagsfraktion war der Erhalt der
Generalklausel besonders wichtig . Opferschutz hat für
die Union Vorrang .
Eine weitere gute Nachricht ist: Der Privatklageweg
bei Nachstellungen hat ein Ende . Momentan werden
Verfahren oft eingestellt, und Staatsanwälte verweisen
auf Privatklagen . Jedoch darf unser Rechtsstaat keinem
Opfer länger zumuten, selbst vor Gericht seine Rechte
einfordern und auch noch das Risiko für die Kosten des
Verfahrens tragen zu müssen . Die Situation wäre zu be-
lastend: Auf dem Privatklageweg müsste das Opfer selbst
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 20999
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prozessieren und dem Täter vor Gericht möglicherweise
begegnen . Der Privatklageweg schützt die Opfer nicht .
Seine Streichung ist richtig . Stalking ist eine schwerwie-
gende Straftat, deren Akten beim Staatsanwalt landen
müssen . Einstellungen von Verfahren bei Nachstellungen
sind Vergangenheit .
Die Reformen, die wir heute verabschieden, helfen
den Opfern, weil sie besser geschützt werden . Mit dem
Gesetz können wir bewirken, dass mehr Täter verurteilt
werden und die Opfer zu einem normalen Leben zurück-
finden können, in dem nicht jeder Schritt von Angst be-
gleitet wird . Diese Hoffnung von circa 20 000 Stalking-
opfern pro Jahr allein in Deutschland dürfen wir nicht
enttäuschen . Für uns ist klar: Nicht das Opfer muss sein
Verhalten ändern, sondern der Täter muss für sein Ver-
halten zur Rechenschaft gezogen werden .
Dirk Wiese (SPD): Heute ist wieder einmal ein guter
Tag für den Opferschutz . Ich sage bewusst „wieder ein-
mal“, denn der vorliegende Gesetzentwurf reiht sich ein
in verschiedene Vorhaben dieser Legislaturperiode aus
dem Hause von Bundesminister Maas, die allesamt eint,
Opfer von Straftaten besser zu schützen: sei es durch die
Reform des Sexualstrafrechts, die Einführung der bun-
desweiten psychosozialen Prozessbegleitung oder durch
das Opferrechtsreformgesetz . Kurzum: Wir Sozialdemo-
kraten bewegen etwas, wir nehmen die Sorgen und Nöte
der Menschen ernst und treffen die notwendigen gesetz-
geberischen Konsequenzen .
So auch hier; denn der Straftatbestand des Stalkings
war bis jetzt durch verschiedene Regelungslücken ein
recht stumpfes Schwert der Justiz . Obgleich die Fälle für
den objektiven Betrachter oft eindeutig waren, waren die
Hürden für eine Verurteilung der Täter viel zu hoch . Ich
habe diese bereits in der ersten Lesung ausführlich dar-
gestellt . Deshalb jetzt in aller Kürze die drei Kernpunkte
der Reform:
Erstens entfiel bis heute eine Bestrafung, wenn das
Opfer dem enormen Druck nicht nachgab, sich nicht be-
irren ließ, indem es den Wohnort wechselte und wegzog
oder den Beruf aufgab . Ich möchte zu dieser Konstella-
tion auch heute an den Fall aus meinem Wahlkreis erin-
nern, wo ein Geistlicher seit nunmehr 15 Jahren gestalkt
wird und eine Bestrafung der Täterin mangels schwer-
wiegender Beeinträchtigung bei dem Pfarrer bislang aus-
schied . Um solche nicht hinnehmbaren Missstände künf-
tig zu beseitigen, wird der Straftatbestand des Stalkings
deshalb nun als Eignungsdelikt ausgestaltet . Zukünftig
reicht es völlig aus, wenn sich das Verhalten des Stalkers
eignet, eine schwerwiegende Beeinträchtigung wie Job-
verlust, Umzug oder eine schwere Erkrankung bei sei-
nem Opfer herbeizuführen .
Zweitens wird der Straftatbestand der Nachstellung
aus dem Katalog der Privatklagedelikte gestrichen . Denn
dieser erwies sich oftmals als eine weitere Hürde auf dem
Weg zu einer Strafbarkeit, weil den meisten Klägern das
Kostenrisiko des Prozesses, dass sie bei einer Privatklage
tragen müssen, schlicht zu hoch war .
Als dritten Punkt haben wir die effektive Durchset-
zung von Vergleichen in Gewaltschutzverfahren ver-
bessert . Zukünftig wird auch der Verstoß gegen eine in
einem gerichtlichen Vergleich übernommene Verpflich-
tung strafbar sein . Damit schließen wir eine weitere Re-
gelungslücke .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen sie mich kurz
auf die wichtigste Änderung eingehen, die wir im par-
lamentarischen Verfahren nach der Anhörung getroffen
haben . Der Gesetzentwurf sah in seiner ursprünglichen
Fassung vor, die Generalklausel des Absatzes 1 zu strei-
chen, mit der auch „eine andere vergleichbare Handlung“
des Täters, die im Tatbestand nicht ausdrücklich aufge-
führt wird, strafbar ist . Begründet wurde dies mit verfas-
sungsrechtlichen Bedenken hinsichtlich des Bestimmt-
heitsgebotes . Die Anhörung hat aber genau das Gegenteil
gezeigt . Fünf von sieben Sachverständigen sprachen sich
für eine Beibehaltung der Generalklausel aus . Ich habe
es noch einmal nachgeschaut, weil Sie, Frau Kollegin
Keul, gestern im Rechtsausschuss sagten, dass die Mehr-
heit gegen eine Beibehaltung der Klausel sei . Das ist also
falsch . Die Mehrheit war ganz klar für eine Beibehaltung
der Generalklausel . Vielleicht liegt Ihr Irrtum in der Sa-
che aber auch daran, dass Sie, Frau Kollegin Keul, in der
Anhörung gar nicht zugegen waren .
Wo wir gerade bei der Sitzung des Ausschusses sind .
Der Kollege Wunderlich ist auch vehement für eine
Abschaffung der Generalklausel eingetreten . Auch hier
muss ich sagen, dass ich mich sehr wundere . Denn Ihre
Sachverständige, Frau Köhler, hat in der Anhörung doch
deutlich dargelegt, dass dadurch die Opfer von Stalking
wesentlich schlechter geschützt wären, und ist deshalb
für eine Beibehaltung der Klausel eingetreten .
Überhaupt wundert mich die Einstellung der Op-
position in dieser Sache . Denn würde man die Klausel
streichen, wären Frauen, die am häufigsten Opfer von
Stalking werden, deutlich schlechter geschützt . Denn
Personen würden dann zukünftig straffrei handeln,
wenn sie beispielsweise unrichtige Todes- oder Hei-
ratsanzeigen aufgeben, Manipulationen in den sozialen
Netzwerken vornehmen oder ekelerregende Sachen wie
tote Tiere vor die Tür des Opfers legen . Eine solche Re-
gelungslücke zu schaffen, wäre fatal, ja, sie würde den
Sinn konterkarieren, dass wir mit der Reform des Stal-
kingtatbestands alle Regelungslücken schließen wollen .
Und deshalb haben wir uns auch dafür entschieden, die
Generalklausel beizubehalten . Denn das war die einzig
richtige Entscheidung, um Opfer von Stalking umfassend
zu schützen .
Es geht eben nicht, diese Regelungslücken über die
Ausformulierung weiterer Nachstellungsvarianten zu
schließen . Jeder kann sich sicher vorstellen, dass dies
aufgrund der Kreativität, mit der die Täter oft zugange
sind, schlichtweg unmöglich ist und es immer wieder
Fäll gäbe, die deshalb straflos wären, obwohl ein jeder
erkennt, dass es sich um Stalking handelt .
Sie sehen, wir haben als Koalitionsfraktionen gute Ar-
beit gemacht . Das Struck’sche Gesetz kam wieder ein-
mal zu Anwendung . Wir liefern ein effektives Mittel, um
Stalking-Opfer besser zu schützen und eine Verurteilung
der Täter zu erleichtern . An die Opposition möchte ich
appellieren: Stimmen Sie unserem Gesetzentwurf heute
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201621000
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hier zu . Dann können auch Sie sagen, dass Sie zu einem
besseren Opferschutz beigetragen haben .
Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Der Gesetzentwurf
will den strafrechtlichen Schutz gegen Nachstellung ge-
mäß § 238 StGB ausbauen . Der 2007 eingeführte Para-
graf, wird danach dem Anspruch eines besseren Opfer-
schutzes nur eingeschränkt gerecht . Als problematisch
wird dabei in erster Linie angesehen, dass die Strafbarkeit
von der Reaktion des Opfers abhängt . Sofern das Opfer
mit besonnener Selbstbehauptung auftritt und nichts an
seinen Lebensumständen ändert, entfällt auch eine Straf-
barkeit des Täters gemäß § 238 StGB . Dies soll dadurch
geändert werden dass das Delikt von einem Erfolgs- zu
einem Eignungs- und Gefährdungsdelikt umgewandelt
wird . Ein Erfolgseintritt ist damit nicht mehr nötig .
Daneben soll die Einstufung als Privatklagedelikt ab-
geschafft werden, damit das strafwürdige Verhalten auch
immer zur Aburteilung gelangt .
Nach § 4 Gewaltschutzgesetz – GewSchG – ist nur der
Verstoß gegen eine gerichtliche Schutzanordnung nach
§ 1 GewSchG strafbewehrt, nicht aber der Verstoß gegen
eine entsprechende Verpflichtung, die der Täter in einem
Vergleich übernommen hat . Diese Strafbarkeitslücke soll
geschlossen werden, und zwar durch die Einführung der
gerichtlichen Bestätigung von in Gewaltschutzverfahren
geschlossenen Vergleichen sowie durch die Erweiterung
des § 4 GewSchG auf Verstöße gegen Verpflichtungen
aus einem gerichtlich bestätigten Vergleich .
Stalkingopfer müssen besser geschützt werden . In die-
sem Punkt besteht Einigkeit . Jedoch ist der hier einge-
schlagene Weg einer Verschärfung und Vorverlagerung
der Strafbarkeit nicht der richtige . Problem dabei war
offenbar, dass in so manchen Fällen von mutmaßlichem
Stalking die Verfahren eingestellt worden sind, da der er-
forderliche Erfolg, nämlich die Lebensgestaltung schwer
beeinträchtigt zu haben, noch nicht eingetreten ist .
Dies soll nun dadurch behoben werden, dass anstelle
des eingetretenen Erfolges die Geeignetheit der Hand-
lung unter Strafe gestellt werden soll . Die Strafbarkeit
soll damit vorverlagert werden .
Zu der Schwere des Eingriffs hat meine Kollegin
Wawzyniak bereits in der ersten Lesung unter Bezugnah-
me auf das entsprechende BGH-Urteil ausgeführt .
Nach wie vor bleibt fraglich, wer die Geeignetheit
der Handlung, welche zu der schweren Beeinträchtigung
führen kann, feststellt . So wie nach geltender Rechtslage
der Erfolg festgestellt werden muss, muss nun die Geeig-
netheit festgestellt werden . Ob dies tatsächlich zu einem
besseren Opferschutz führt, wurde auch in der Anhörung
unterschiedlich gesehen . Ich persönlich vermag dies aus
Sicht eines ehemaligen Staatsanwalts und Richters a . D .
nicht zu bejahen .
Um dennoch mehr Fälle zu erfassen, wäre es sinnvol-
ler gewesen, das Wort „schwerwiegend“ in dem Tatbe-
stand zu streichen . Doch dazu konnte sich die Koalition
nicht hinreißen lassen . Warum einfach, wenn es auch
kompliziert, schwieriger und wenig zielführend geht?
Denn die Umwandlung des Straftatbestandes des Stal-
king von einem Erfolgsdelikt zu einem Eignungs- und
Gefährdungsdelikt, ist aus grundsätzlichen rechtsstaat-
lichen Erwägungen heraus kritisch zu betrachten . Das
geschützte Rechtsgut, den individuellen Lebensbereich
in Form der Handlungs- und Entschließungsfreiheit zu
schützen, muss unter Beachtung des Ultima-Ratio-Prin-
zips des Strafrechts eine tatsächliche Beeinträchtigung
derselben mit sich bringen .
Dagegen wäre die zunächst geplante Streichung
der Generalklausel im derzeitigen Stalkingparagrafen
§ 238 StGB konsequent und richtig gewesen . Sie stand
zu Recht im Hinblick auf das Bestimmtheitsgebot in der
Kritik .
Die Generalklausel des § 238 Absatz 1 Nummer 5
StGB ist nun doch durch den Änderungsantrag der Ko-
alition wieder eingeführt worden . Die Streichung wegen
Verstoßes gegen das Bestimmtheitsgebot wäre aber sinn-
voll gewesen .
Einzig die Änderungen des Gewaltschutzgesetzes sind
sinnvoll, da über diese tatsächlich ein wirksamer Schutz
der Betroffenen erzielt werden kann .
Zu Streichung des Privatklagedelikts muss ich noch
Folgendes anmerken . Es besteht kein Handlungsbedarf,
da die Staatsanwaltschaft nach Nummer 86 Absatz 2
RiStBV – Richtlinien des Straf- und Bußgeldverfahrens –
das Verfahren nicht einstellen darf, wenn dem Verletzten
die Privatklage wegen seiner Beziehung zum Täter nicht
zugemutet werden kann . Diese Richtlinien sind zwar
nicht Gesetz, aber gleichsam die Bibel des Staatsanwalts,
wie es jeder Praktiker weiß . Von daher war ein Hand-
lungsbedarf nicht gegeben, zumal ich davon ausgehen
kann, dass die Staatsanwaltschaft als objektivste Behörde
der Welt mit derartigen Einstellungen unter Verweisung
auf den Privatklageweg sorgsam umgeht .
Abschließend bleibt festzustellen, dass die Meinun-
gen in der Anhörung zum Wandel vom Erfolgsdelikt zum
Eignungs- und Gefährdungsdelikt wie auch die Erforder-
lichkeit im Gewaltschutzgesetz unterschiedlich waren,
jedoch die herrschende Meinung oftmals die Meinung
der Herrschenden ist .
Aus rechtsstaatlicher Sicht insbesondere wegen der
nach wie vor vorhandenen Generalklausel und der damit
einhergehenden Unbestimmtheit kann dem Gesetz alles
in allem aus Sicht der Linken nicht zugestimmt werden .
Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Für Opfer
von Nachstellungen ist es häufig schwierig, wirkungsvol-
len gerichtlichen Schutz zu erlangen . Ziel dieser Geset-
zesänderung soll es sein – wie der Name des Gesetzes es
schon sagt –, die Verbesserung des Schutzes gegen Nach-
stellungen zu bewirken und den derzeitigen Missstand zu
beenden . Diesem Ziel wird der vorliegende Gesetzent-
wurf aber nicht gerecht .
Den positiven Punkt, die Änderungen in § 4 Gewalt-
schutzgesetz, habe ich ja bereits in der ersten Lesung
genannt . Endlich ist auch der Verstoß gegen einen ge-
richtlich bestätigten Vergleich strafbewehrt . Das ist eine
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 21001
(A) (C)
(B) (D)
wichtige Verbesserung, denn die meisten Gewaltschutz-
verfahren werden in der Praxis durch Vergleich beendet .
Bedauerlicherweise haben Sie den anderen positi-
ven Punkt mit Ihrem Änderungsantrag aber auch schon
wieder revidiert . Die Handlungsgeneralklausel in § 238
Absatz 1 Nummer 5 StGB, deren Streichung wir schon
2006 gefordert haben, wurde im Gesetzentwurf zunächst
gestrichen, durch den Änderungsantrag aber wieder in
den Gesetzestext eingefügt . Der ursprüngliche Gesetz-
entwurf wird damit verschlimmbessert . Jetzt haben wir
tatsächlich die Strafbarkeit bei einer „vergleichbaren
Handlung“, die „geeignet ist“, die Lebensgestaltung des
Opfers zu beeinträchtigen . Noch unbestimmter ging es
wohl nicht . Die verfassungsrechtlichen Bedenken, die
bei der bisherigen Fassung schon bestanden haben wer-
den durch die Wiedereinfügung der Handlungsgeneral-
klausel nochmals erheblich ausgeweitet .
Dabei war auch in der Anhörung der Bedarf nach einer
Handlungsgeneralklausel ein umstrittener Punkt . Entge-
gen der Begründung des Änderungsantrags war es nicht
einhellige Meinung, dass sich durch eine Streichung des
§ 238 Absatz 1 Nummer 5 StGB Schutzlücken ergeben .
Nach Ansicht der Sachverständigen mit Bezug zur Justiz
wurde ein Bedürfnis nach einer solchen Generalklausel
nicht gesehen . Vielmehr gaben die Praktiker an, dass die
Generalklausel bislang in so gut wie keinem Fall zur An-
wendung gekommen sei und die Nummern 1 bis 4 in der
staatsanwaltlichen und justiziellen Praxis ausreichend
seien . Die Beibehaltung der Nummer 5 ist weder zwin-
gend noch nützlich . Im Strafrecht gilt eben nicht „Viel
hilft viel“!
Dabei war alleine schon der ursprüngliche Gesetz-
entwurf, der die Eignung zu einer schwerwiegenden Le-
bensbeeinträchtigung vorsah, bereits Grund genug, die-
sen abzulehnen . Die Umgestaltung des Tatbestandes des
§ 238 StGB von einem Erfolgs- in ein abstraktes Gefähr-
dungsdelikt halte ich für ungeeignet, den Stalkingopfern
künftig effektiveren Rechtsschutz zu ermöglichen . Ich
brauche es nicht im Detail zu wiederholen . Aber jegliche
Objektivierung der Geeignetheit als Tatbestandsmerkmal
ist schwierig . Deshalb wird die Geeignetheit einer Hand-
lung voraussichtlich weiterhin anhand derselben Anfor-
derungen gemessen wie bisher . Das Opfer muss eine
nach außen hin wahrnehmbare Reaktion in irgendeiner
Weise gezeigt haben . Im Ergebnis wird das Ziel, die Op-
fer besser gegen Stalker zu schützen, verfehlt .
Unsere alternativen Vorschläge zum Gesetzentwurf
haben Sie leider auch nicht berücksichtigt . Dabei wäre
gerade die Erfassung der psychischen Belastung als
schwerwiegende Beeinträchtigung geeigneter gewesen,
die Nachweisprobleme zu beseitigen .
Der Vorschlag, den § 1 Gewaltschutzgesetz zu erwei-
tern, um weitere Erscheinungsformen des Stalkings zu
erfassen, wurde ebenfalls nicht in Betracht gezogen . Nun
werden Sie argumentieren, dass Sie jeder noch so „kre-
ativen“ Idee eines Stalkers durch die Generalklausel in
Nummer 5 des StGB bereits begegnen . Dieses Ergebnis
ließe sich aber viel besser durch eine Handlungsgeneral-
klausel im Gewaltschutzgesetz realisieren . Der entschei-
dende Vorteil wäre, dass wir nicht befürchten müssten,
dass das Gesetz dem strafrechtlichen Bestimmtheits-
grundsatz aus Artikel 103 Absatz 2 GG nicht genügt und
damit verfassungswidrig ist .
Opferschutz ist eben etwas anderes als symbolhafte
Verschärfungen von Straftatbeständen, die am Ende nie-
mandem – insbesondere den betroffenen Opfern – etwas
bringen .
Anlage 14
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung der Bestimmungen zur Stromerzeugung aus
Kraft-Wärme-Kopplung und zur Eigenversorgung
(Zusatztagesordnungspunkt 7)
Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): Der Leitgedanke
der Energiewende muss sein: Mehr Markt, mehr Wett-
bewerb, mehr Europa . Der Umbau der Energieversor-
gung ist kein Sprint, sondern ein Marathon . Der schnelle
Ausbau der erneuerbaren Energien ist ein wichtiger Bau-
stein . Neben den erneuerbaren Energien gilt es jedoch,
auch andere Handlungsfelder zu berücksichtigen . Die
Energiewende muss technologieoffen ausgestaltet wer-
den. Insbesondere die Steigerung der Energieeffizienz
ist der Königsweg in der Energiepolitik . Sie schafft eine
Win-win-Situation: Effizienzvorteile für die Verbraucher
in Haushalten, Gewerbe und Industrie und gleichzei-
tig Reduzierung des Energieverbrauchs und damit von
CO2-Emissionen . Die beste Energie ist immer noch ein-
gesparte Energie .
Die Kraft-Wärme-Kopplung ist eine seit Jahrzehnten
erfolgreiche Technologie zur Steigerung der Energieef-
fizienz und ein zentraler Baustein für eine nachhaltige
Energiepolitik . Durch die gekoppelte Erzeugung von
Wärme und Strom werden erhebliche Mengen an Pri-
märenergie und damit CO2 eingespart . Gegenüber unge-
koppelten Systemen sind das derzeit 56 Millionen Ton-
nen CO2 im Jahr . Fernwärme durch KWK kann allein in
Großstädten wie Berlin, Hamburg, Köln und weiteren
bis zu 20 Millionen Tonnen CO2 einsparen . Ein Block-
heizkraftwerk mit Erdgas und KWK verursacht nur
120 Gramm CO2 pro Kilowattstunde . Ein herkömmli-
ches Gaskraftwerk produziert dagegen das Dreifache an
CO2 pro Kilowattstunde .
Das Ausbaupotenzial für KWK wird auf zwischen
170 Terawattstunden pro Jahr und 240 Terawattstunden
pro Jahr geschätzt . Davon liegt der Hauptteil mit rund
110 beziehungsweise 180 Terawattstunden im Bereich
der Fernwärme und damit in der allgemeinen Versor-
gung . Hinzu kommen 38 bis 59 Terawattstunden im In-
dustriebereich .
Die CDU/CSU bekennt sich zum Ausbau der KWK als
einem zentralen Ziel der Energiewende . Mit der Novelle
des Kraft-Wärme-Kopplungsgesetzes von 2015 sollte die
geltende Förderung der hocheffizienten und klimafreund-
lichen KWK-Anlagen an die aktuellen Erfordernisse des
Umbaus der Energieversorgung angepasst werden . Die
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201621002
(A) (C)
(B) (D)
CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat seinerzeit im Gesetz-
gebungsprozess einige wichtige Änderungen des Gesetz-
entwurfs des Bundeswirtschaftsministeriums durchge-
setzt .
Das Ausbauziel für KWK wurde von 108 Terawatt-
stunden auf 120 Terawattstunden für das Jahr 2025 an-
gehoben . Im Jahr 2017 soll entsprechend dem Grundsatz
der Technologieoffenheit auch die Wirtschaftlichkeit der
Kohle-KWK evaluiert werden . Zudem kann per Ver-
ordnung eine Förderung von hocheffizienten und sonst
unwirtschaftlich werdenden Kohle-KWKs eingeführt
werden .
Die Gesetzesnovelle des Jahres 2015 stand bisher
unter dem Vorbehalt einer beihilferechtlichen Genehmi-
gung durch die EU-Kommission . Im August 2016 hat die
Bundesregierung unter Federführung des Bundeskanz-
leramtes hierzu eine Einigung mit der Kommission er-
reicht . Der heute zu beschließende Gesetzentwurf setzt
diese Einigung um . Er schafft damit Planungssicherheit
für viele private, gewerbliche und industrielle Anlagen-
betreiber .
Mit der Einführung einer Ausschreibung für
KWK-Anlagen von 1 bis 50 Megawatt setzen wir auch
bei der KWK-Förderung zukünftig auf mehr Wettbe-
werb . Ebenso wie bei den erneuerbaren Energien gilt
für KWK, dass in der Perspektive die Subventionierung
auslaufen und die Technologie auf eigenen Füßen stehen
sollte . Nur so können weiter steigende Energiepreise ver-
mieden und die Akzeptanz für die Energiewende erhalten
werden . Zusätzlich schließen die neuen Ausschreibungen
auch innovative KWK-Systeme ein .
Die Ausschreibungen für KWK-Anlagen von 1 bis
50 MW können zukünftig per Verordnung auch für In-
dustrieprojekte geöffnet werden . Auch wurde die Vor-
schrift aus dem Gesetzentwurf gestrichen, dass Anlagen,
die an der Ausschreibung teilnehmen, eine technische
Mindesterzeugung von null erreichen müssen . Das wäre
für viele Industrieprojekte nicht erreichbar gewesen .
Bei dem wichtigen Thema Bestandschutz für Eigen-
stromerzeugungsanlagen haben wir ebenfalls Verbes-
serungen erreicht . Eigenstrombestandsanlagen werden
von der EEG-Umlage auch weiterhin dauerhaft entlas-
tet . Bei bestehenden Anlagen wird dieses sogenannte
Eigenstromprivileg zukünftig zudem „vererbbar“, bei-
spielsweise für eine Biogasanlage auf einem Bauernhof .
Im Falle von Umstrukturierungen und Rechtsnachfol-
gen bis Ende 2016 kann das Eigenstromprivileg auf den
Rechtsnachfolger übergehen . Bestandsschutz gilt auch
für bestehende Eigenstrommodelle mit mehreren Kraft-
werksschreiben . Im Speicherbereich wurde die geplante
vierjährige Befristung der Umlagebefreiung ebenfalls
gestrichen .
Die CDU/CSU hat im Gesetzgebungsverfahren insbe-
sondere darauf geachtet, dass keine neuen oder zumin-
dest keine zu hohen Zusatzbelastungen für die Industrie
entstehen . Denn die Energiewende wird nur dann zum
Erfolg, wenn es gelingt, die Wettbewerbsfähigkeit des
Industriestandortes zu sichern .
Von zentraler Bedeutung ist insbesondere die Entlas-
tung der energieintensiven Industrie von der KWK-Um-
lage . Trotz intensiver Verhandlungen mit der EU-Kom-
mission haben wir leider nicht alles erreicht, was wir
wollten .
Mit dem neuen Gesetz wird die Entlastungsregelung
im KWKG an die besondere Ausgleichsregelung im
EEG angepasst . Dies sichert die Wettbewerbsfähigkeit
besonders der hoch energieintensiven Unternehmen .
Wir als CDU/CSU haben uns darüber hinaus für eine
Härtefallregelung im weitmöglichsten Umfang ausge-
sprochen, und zwar für alle Unternehmen, die wegen
der beihilferechtlichen Restriktionen die bisherigen Ent-
lastungsregelungen des KWKG nicht mehr in Anspruch
nehmen können . Nach intensiven Diskussionen mit dem
Bundeswirtschaftsministerium und der Kommission
wurde klar, dass hierfür beihilferechtlich kein Spielraum
besteht . Daher wird es leider für viele Unternehmen
zukünftig zu Mehrbelastungen kommen . Die Kommis-
sion hat diese Mehrbelastungen überwiegend als nicht
so weitgehend eingestuft, dass sie eine unbillige Härte
darstellen .
Ich halte das für unbefriedigend . Schon heute ist die
Wettbewerbssituation der energieintensiven Industrie in
Deutschland äußerst schwierig . Dies zeigt sich schon
daran, dass in diesem Sektor nur 70 bis 80 Prozent der
Abschreibungen noch reinvestiert werden . Die Strom-
preise für große Industrieunternehmen in Deutschland
liegen bei rund 15 ct/kWh, davon sind im Durchschnitt
fast 50 Prozent Steuern und Abgaben . Der Großteil der
Abgaben ist auf die EEG-Umlage zurückzuführen .
Die energieintensive Industrie bildet jedoch die Basis
der industriellen Wertschöpfungskette und gibt Hundert-
tausenden Menschen in unserem Land Lohn und Brot .
Die CDU/CSU kämpft um den Erhalt dieser Arbeitsplät-
ze – leider oft allein auf weiter Flur .
Im Ergebnis gilt es nun, die Auswirkungen der neuen
Regelung auf die Industrie genau evaluieren . Gegebe-
nenfalls werden wir in ein bis zwei Jahren einen neuen
Anlauf bei der Kommission nehmen, um weitergehende
Entlastungen für die Industrie zu erreichen .
Es gilt, Deutschland als Industriestandort zu erhalten,
denn dies ist die Garantie für Wohlstand und sozialen
Frieden in unserem Land auch in den kommenden Jahr-
zehnten .
Florian Post (SPD): Wie schon im letzten Jahr ha-
ben die Verhandlungen um das KWKG und Eigenver-
sorgung erst kurz vor der jetzt anstehenden Abstimmung
über das Gesetz ihren Abschluss gefunden . Das war nicht
geplant, um Ihnen, geehrte Kolleginnen und Kollegen
von der Opposition, die Arbeit zu erschweren, sondern
der Tatsache geschuldet, dass wir den EU-Bescheid erst
im November erhielten und noch bis zum Schluss eine
gute Lösung ausgehandelt haben . Meiner Meinung nach
haben wir mit dem vorliegenden Artikelgesetz eine gute
Grundlage geschaffen, um der KWK weiterhin eine si-
chere Perspektive im deutschen Stromerzeugungsmix zu
geben .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 21003
(A) (C)
(B) (D)
Ich bin froh, dass es gelungen ist, den doch recht am-
bitionierten Zeitplan einzuhalten, um das Gesetz noch in
diesem Jahr zu verabschieden . Durch das heute im Bun-
destag zu beschließende Gesetz schaffen wir zudem die
Voraussetzungen, dass das KWKG von der EU-Kommis-
sion beihilferechtlich genehmigt wird und somit im neu-
en Jahr umfassend in Kraft treten kann .
In Übereinstimmung mit den Zielen der EU Kom-
mission werden künftig KWK-Anlagen zwischen 1 und
50 Megawatt gefördert, wenn sie erfolgreich an einer
Ausschreibung teilnehmen . Damit wird die Förderhöhe
auch für KWK-Anlagen – wie im EEG – über Ausschrei-
bungen ermittelt . Dies ermöglicht eine bessere Mengen-
steuerung, bedeutet Planbarkeit für alle Marktakteure
und erhöht die Kosteneffizienz in der Förderung.
Mit dem KWK-Gesetz hat die SPD sichergestellt,
dass bei der KWK-Förderung der Fokus weiterhin auf
der öffentlichen Versorgung liegt . Damit schaffen wir die
gesetzliche Grundlage, weiter intensiv am Ausbau der
KWK und am Klimaschutz in den Städten und Gemein-
den zu arbeiten .
Die KWK-Förderung kann zudem für Anlagen geöff-
net werden, die ihren Strom in ein geschlossenes Ver-
teilernetz einspeisen . Voraussetzung dafür ist aber, dass
der in solchen Netzen verbrauchte Strom im Hinblick
auf Umlagen, Entgelte und Abgaben genauso gestellt
ist wie Strom im Netz der allgemeinen Versorgung . Mit
diesem Kriterium stellen wir sicher, dass Anlagen in ei-
nem geschlossenen Netz andere Anlagen, also vor allem
KWK-Anlagen von Stadtwerken, nicht aus dem Markt
drängen können .
Gleichzeitig haben wir im KWKG auch für Strom-
speicher eine gute Lösung gefunden, indem wir die
Bestimmung zur Begrenzung der KWKG-Umlage bei
Stromspeichern dahin gehend angepasst haben, dass die
KWK Umlage entsprechend dem§ 61 k EEG 2017 erho-
ben wird . Damit wird eine Doppelbelastung von Strom-
speichern – wie etwa Pumpspeicherkraftwerken – bei der
Erhebung der KWKG-Umlage ausgeschlossen .
Mit diesen Regelungen fördern wir die dringend not-
wendigen Flexibilisierungs- und Speichermöglichkeiten .
Mit dem Gesetz sind wir insgesamt auf einem guten
Weg, die Sektorkoppelung und Aufnahmefähigkeit für
erneuerbare Energien auszubauen, und sorgen zudem da-
für, dass das Ausbauziel von 110 TWh Strom aus KWK
Anlagen bis 2020 erreicht werden kann .
Johann Saathoff (SPD): Vor gut einem Jahr, am
3 . Dezember, haben wir hier das KWKG 2015 beschlos-
sen . Richtig abschließen können wir dieses Gesetzesvor-
haben eigentlich aber erst heute . Warum ist das so?
Lange haben wir alle auf die Notifizierung des KWKG
gewartet . Sehr spät, am 24 . Oktober dieses Jahres, hat die
Europäische Kommission das Gesetz endlich notifiziert;
leider aber unter Auflagen. Und diesen Auflagen kom-
men wir nun mit der erneuten KWK-Änderung nach .
Bei den Privilegierungen bei der KWK-Umlage hat
das BMWi hart mit der Kommission gerungen und sich
letztlich darauf geeinigt, dass künftig ein Begrenzungs-
bescheid bei der Besonderen Ausgleichsregelung nach
dem EEG auch für die Privilegierung bei der KWK-Um-
lage maßgebend ist . Das ist ein gutes Ergebnis, denn an-
fangs sah es danach aus, dass Unternehmen in Zukunft
die volle Umlage zahlen müssen, was ganz sicher einige
Härten zur Folge gehabt hätte, was, denke ich, niemand
von uns gewollt hat – zumindest nicht mit Blick auf die
damit verbundenen Arbeitsplätze .
Dieses Gesetzespaket trägt aber nicht nur den notwen-
digen Änderungen beim KWKG Rechnung . Gleichzeitig
setzen wir auch ein für den Industriestandort Deutsch-
land extrem wichtiges Anliegen aus dem Koalitionsver-
trag um . Ich meine die Regelung zur Eigenstromerzeu-
gung, über der ja bislang immer das Damoklesschwert
der Befristung bis Ende nächsten Jahres schwebte . Im
Koalitionsvertrag steht, dass alle neuen Eigenstromer-
zeuger mit einer Mindestumlage zur Finanzierung des
EEG-Kontos beitragen sollen und dass für bestehende
Eigenerzeugung Vertrauensschutz gewährleistet werden
soll . Und genauso steht es nun auch in dem Gesetz, das
wir heute hier beschließen . Bestehende Eigenversor-
gungsmodelle zahlen weiterhin null Prozent EEG-Um-
lage . Das gilt solange, bis das Kraftwerk modernisiert
wird, wobei es bei der Modernisierung nur um den Ge-
nerator geht . Danach müssen auch sie einen Beitrag in
Höhe von 20 Prozent zum EEG-Konto leisten . Neue Ei-
genstromerzeugungsmodelle zahlen nunmehr 40 Prozent
EEG-Umlage . Damit gelingt uns ein guter Kompromiss,
um auch die Industrie angemessen an der Finanzierung
des EEG zu beteiligen und gleichzeitig den Wirtschafts-
standort Deutschland nicht zu schwächen und Carbon
Leakage zu vermeiden .
Darüber hinaus haben wir im EEG einige Punkte, die
wir bereits vor der Sommerpause beschlossen haben,
etwas nachgeschärft, zum Beispiel bei den Bürgerener-
giegenossenschaften . Als wir die Sonderregeln für die
Bürgerenergie beschlossen haben, habe ich mir nicht
vorstellen können, welches Missbrauchspotenzial diese
Regelungen in sich tragen könnten . Viel haben wir in
den vergangenen zwei Monaten über Strohmann-Gesell-
schaften gesprochen . Und da wir natürlich keinerlei Inte-
resse daran haben, dass diese gut gemeinten Regelungen
unterlaufen werden, haben wir nun bestimmte Hürden
eingezogen, die dieses Unterlaufen unmöglich machen
sollen . Diese Hürden machen den Missbrauch der be-
vorzugten Regelungen für die Bürgerenergie unmöglich,
behindern aber nicht die echte Bürgerenergie .
Gleichzeitig haben wir bei der Offshorewindkraft da-
für gesorgt, dass wir in den nächsten Jahrzehnten viel
Geld sparen können . Genehmigungen für Offshorewind-
kraftanlagen werden künftig für 25 Jahre erteilt . Dadurch
wird es zu günstigeren Ergebnissen in den Ausschreibun-
gen kommen, was das EEG-Konto entlasten wird . In den
vergangenen Wochen haben wir in Dänemark und den
Niederlanden erstaunlich günstige Gebotszuschläge für
Offshorewindparks gesehen . Die Bedingungen lassen
sich nicht ganz mit den Bedingungen in Deutschland ver-
gleichen . Aber ich gehe trotzdem davon aus, dass wir in
der ersten Ausschreibungsrunde für Offshorewindparks
im kommenden Jahr Ergebnisse sehen werden, die wir
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201621004
(A) (C)
(B) (D)
alle der Branche kaum zugetraut haben . Auf jeden Fall
sollten wir in naher Zukunft unsere Beschlüsse zu den
Ausbaumengen bei der Offshorewindkraft noch mal
überdenken, denn hier liegt nach wie vor großes Potenzi-
al – sowohl gesamtdeutsch industriepolitisch als auch als
günstige, fast grundlastfähige erneuerbare Energiequelle .
Insgesamt war es ein von großer Zeitnot geprägtes
Verfahren, weil wir ja unbedingt noch in dieser Woche
beschließen müssen . Ich möchte mich deshalb ganz
besonders bei den Kolleginnen und Kollegen aus dem
BMWi bedanken, die quasi Tag und Nacht durchgearbei-
tet haben . In Ostfriesland würde man sagen: „wi hebben
heel moi tausamen arbeid“ .
Und nun wünsche ich Ihnen ein besinnliches Weih-
nachtsfest und einen guten Rutsch ins neue Jahr .
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Damit die
EU-Kommission bei den deutschen Industrieprivilegi-
en zwei Augen zudrückt, verlangt sie, die KWK künf-
tig über Ausschreibungen zu fördern . Das ist kompletter
Unsinn, es gibt sachlich keinen Zusammenhang . Dies ist
ein klassischer Deal, der nicht sachgemäß ist und der die
ohnehin schon komplizierte Materie noch komplizierter
macht . Wir halten es für verantwortungslos, nun auch die
Förderhöhe der KWK über Ausschreibungen zu ermit-
teln, nach dem Motto: billig gewinnt . Bei Photovoltaik
und Windkraft haben wir das Instrument Ausschreibun-
gen abgelehnt, weil es Bürgerenergie trotz Nachteils-
ausgleich Steine in den Weg legt und voraussichtlich zu
Marktkonzentration einiger weniger Projektierer führen
wird .
Bei der Kraft-Wärme-Kopplung haben wir für unse-
re Ablehnung der Ausschreibungen, wie sie nun für An-
lagen zwischen 1 und 50 Megawatt eingeführt werden,
etwas andere Gründe: KWK-Anlagen sind sehr unter-
schiedlich, und die Wirtschaftlichkeit einer Anlage ist
abhängig von verschiedenen Größen, nicht nur auf der
Stromseite, sondern auch bei der Wärmeproduktion . In
dieser uneinheitlichen Welt sind Ausschreibungen wirk-
lich widersinnig und schädlich für den weiteren Ausbau .
Viele KWK-Anlagen produzieren auch Strom für den
eigenen Verbrauch, sei es im Gebäudekomplex oder in
einer Industrieanlage . Das sollen sie aber nicht mehr
dürfen, wenn sie an Ausschreibungen teilnehmen . Ge-
fördert werden dann nur noch Anlagen, die vollständig
ins öffentliche Netz einspeisen. Auch das finden wir nicht
sachgerecht . Es gibt zudem keinerlei Erfahrungen mit
KWK-Ausschreibungen – weder hierzulande noch im
Ausland, es existieren etliche offene Fragen .
Aber wie genau die Bundesregierung dies nun gestal-
ten will, denkt sie sich ja selbst erst aus . Hier gibt das
Parlament ihr heute wieder einen Freifahrtschein über
eine Verordnungsermächtigung . Wir bezweifeln, dass
sich in dem Bereich von Anlagen zwischen 1 und 50 Me-
gawatt eine faire Ausschreibungspraxis bewerkstelligen
lässt . Betroffen sind hier vor allem Stadtwerke und In-
dustrieanlagen, die effizienter werden sollen – deren Pla-
nung wird aber unsicherer und verteuert . Wer vorhat, in
die hocheffiziente KWK zu investieren, wird künftig ins
kalte Wasser geworfen . Da überlegt man es sich zweimal,
und dies, obwohl die Ausbauzahlen ohnehin hinter den
Erwartungen zurückbleiben . Aufgrund der Umstellung
des Fördersystems wird es vermutlich auch zu einem
Fadenriss bei den Investitionen kommen . So warnten
jedenfalls die Experten in der Anhörung . Es droht eine
Investitionslücke von zwei Jahren .
Mit dem Gesetzentwurf werden ferner Industrieprivi-
legien im EEG und im KWK-G verlängert . Bravo, kann
ich da nur sagen . Jedes Jahr werden der Industrie beim
Eigenverbrauch Umlagen in Höhe von etwa 2 Milliar-
den Euro erlassen . Dass dies bei Bestandsanlagen auch
weiterhin so sein wird und diese Kosten letztlich auf die
Stromrechnung der privaten Haushalte draufgeschlagen
werden – das beschließen Sie heute . Das kann man auch
nicht mit „Bestandsschutz“ begründen, denn der Gewinn
aus dem Eigenstromprivileg wächst automatisch mit je-
dem Anstieg der Preise für den Fremdstrombezug aus
dem Netz . Hier wird unkontrolliert Geld verschenkt .
Einige meinen, ohne diese Privilegien würden etliche
KWK-Anlagen unwirtschaftlich . Wir halten dem entge-
gen: Dann sollte man besser auskömmliche KWK-Zu-
schläge zahlen, anstatt über das Eigenstromprivileg
zweite Kassen aufzumachen, deren Füllung und Berech-
tigung von niemanden mehr kontrolliert werden kann .
Noch ein Wort zu den EEG-Regelungen aus dem
Sommer, die heute bei der Bürgerenergie geheilt werden
sollen . Wir als Linke hatten ja die Missbrauchsmöglich-
keiten bei der Bürgerenergie thematisiert . Ich erkenne
an, dass die Koalition nun eine Formulierung ins Gesetz
aufnimmt, die versucht, Projekten, die nur unter dem
Deckmantel Bürgerenergie auftreten und dann nach kur-
zer Zeit verkauft werden sollen, einen Strich durch die
Rechnung zu machen . Ich bin nicht sicher, ob das Erfolg
hat, aber zunächst erscheint es mir stimmig .
Nur damit hier keine Missverständnisse aufkommen,
muss ich allerdings nochmal klarstellen: Das eigentliche
Problem ist nicht der Nachteilsausgleich im EEG bei der
Bürgerenergie . Das eigentliche Problem liegt in der Ein-
führung von Ausschreibungen, die systematisch große
finanzstarke Investoren bevorteilen, mittelfristig zu einer
Marktkonzentration von wenigen Investoren führen und
gegen den Charakter einer dezentralen Energiewende
wirken . Dieses Problem wird grundsätzlich nicht geheilt,
und ich kann nur hoffen, dass die Bürgerenergie sich
nicht entmutigen lässt . Die Linke setzt sich weiterhin für
eine dezentrale Energiewende in Bürgerhand ein .
Dr. Julia Verlinden (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Nun wissen wir ganz offiziell, dass die Bundesregierung
ihre selbst gesteckten Klimaziele bis 2020 nicht errei-
chen wird . Das sagt der Klimaschutzbericht 2016, den
das Kabinett gestern beschlossen hat . Doch statt den
Bericht als Ansporn zu nehmen und jetzt in allen Berei-
chen nachzulegen, legt die Große Koalition die Hände
in den Schoß . Oder noch schlimmer: Sie bremst die Kli-
maschutzanstrengungen noch weiter aus . So wie bei der
Kraft-Wärme-Kopplung, über die wir heute abstimmen .
Mit dem jetzt vorgelegten Gesetz schafft die Regie-
rung durch höchst bürokratische Ausschreibungsverfah-
ren neue Hindernisse für die KWK, statt sie zu stärken .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 21005
(A) (C)
(B) (D)
Wenn Sie jetzt sagen: „Das stimmt doch gar nicht“, darf
ich Ihnen ein Zitat aus der Antwort der Bundesregierung
auf unsere Kleine Anfrage zur Zukunft der KWK vorle-
sen: „Grundsätzlich kann nicht ausgeschlossen werden,
dass sich insbesondere in den ersten Ausschreibungsrun-
den der administrative Aufwand oder die Risikotragung
leicht erhöhen .“ Zitat Ende .
Nach der zweijährigen Hängepartie, die Sie der
KWK-Branche bereits bis heute zugemutet haben,
kommen nun also weitere Verzögerungen, Hürden und
Hindernisse dazu . So werden Sie Ihr Ausbauziel für die
effiziente Kraft-Wärme-Kopplung und den Klimaschutz-
beitrag durch KWK ganz sicher nicht erreichen . Davon
gehen auch die Sachverständigen aus, die in unserer An-
hörung im Wirtschaftsausschuss dazu Stellung genom-
men haben .
Und es wäre ja noch nicht zu spät gewesen, wenigs-
tens einige Verbesserungsvorschläge aufzugreifen, wie
sie beispielsweise in der Anhörung thematisiert wurden
oder die die Bundesländer gemacht haben . Ich nenne Ih-
nen einige Beispiele:
Erstens . Angesichts der neuen Hindernisse für die
Errichtung von KWK-Anlagen und der ohnehin schon
erfolgten Stilllegung vieler Anlagen hätten Sie wenigs-
tens die Ausschreibungsmengen erhöhen müssen . Damit
bestünde die Chance, die negative Entwicklung bei der
KWK ein wenig zu kompensieren . Aber davon sehe ich
in Ihrem Änderungsantrag nichts!
Zweitens . Für die Energiewende im Wärmebereich
brauchen wir auch die kleine und mittlere KWK in der
dezentralen Versorgung . Daher hätten Sie unbedingt die
KWK zur Versorgung von Mietshäusern stärken müssen .
Doch von einer Ausdehnung der Verordnungsermächti-
gung im EEG zur Förderung von Mieterstrommodellen
auf KWK sehe ich ebenfalls nichts!
Drittens . Besonders wichtig sind im Sinne des Klima-
schutzes der schnellere Umstieg von Kohle auf erneu-
erbare Energien oder die Nutzung von Abwärme auch
in der Kraft-Wärme-Kopplung. Denn auch diese effizi-
ente Technik soll perspektivisch vollständig klimaneu-
tral betrieben werden . Doch auch hier haben Sie keine
Verbesserungen geschaffen . So bleiben beispielsweise
in den Ausschreibungen für innovative KWK-Anlagen
ORC-Prozesse oder die Nutzung von Abwärme weiter-
hin außen vor .
Viertens . Und noch ein letzter Punkt, den ich für zen-
tral halte: Nachdem seit Oktober endlich die Anträge
bearbeitet werden, die seit Januar vorlagen, müssen alle
Investoren für KWK-Anlagen in einer Größe von 1 bis
50 MW nun noch bis Herbst nächsten Jahres warten;
denn vorher wird Ihre Verordnung für die neuen Aus-
schreibungen nicht in Kraft treten . Planungssicherheit ist
was anderes! Die Branche befürchtet eine große Investi-
tionslücke .
Ich habe schon bei der Einbringung des Gesetzent-
wurfs davor gewarnt, dass die vorgesehenen Änderun-
gen am Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz den Ausbau der
KWK weiter erschweren werden und dass die Bundes-
regierung ihre Klimaziele so nicht erreichen wird . Statt
diese Warnung ernst zu nehmen, ignorieren Sie weiterhin
die großen Probleme beim Ausbau der KWK und legen
den Klimaschutz ad acta . Das ist der falsche Weg in der
Energie- und Klimapolitik!
Anlage 15
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Barbara Lanzinger (CDU/CSU)
zu der Abstimmung über den von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung der Bestimmungen zur Stromerzeugung
aus Kraft-Wärme-Kopplung und zur Eigenversor-
gung (Zusatztagesordnungspunkt 7)
Aus den hier aufgeführten Gründen stimme ich heute
gegen das oben genannte Gesetz .
Das liegt nicht daran, dass ich mich gegen Kraft-Wär-
me-Kopplung (KWK) ausspreche . Ganz im Gegenteil:
KWK ist eine allseits anerkannte, hoch effiziente und
klimafreundliche Technologie . KWK ist ein wichtiger
Baustein der Energiewende und von herausragender Be-
deutung für die Erreichung unserer Klimaziele .
Aus diesem Grund haben wir bereits Ende 2015 das
KWK-Gesetz im Bundestag und Bundesrat verabschie-
det, mit dem Ziel, diese Technologie zu befördern . Da-
mals signalisierte das Bundesministerium für Wirtschaft
und Energie (BMWi), dass das im Deutschen Bundestag
ausverhandelte Gesetz vonseiten der Europäischen Kom-
mission zwar noch beihilferechtlich genehmigt werden
müsse, jedoch keine beihilferechtlichen Bedenken her-
vorrufe . Zu Beginn 2016 wurde uns mitgeteilt, dass es
doch massive Bedenken gebe – und zwar gegen zentrale
Punkte des Gesetzes .
Nach Aussage des BMWi musste daher in 2016 in-
tensiv zwischen BMWi und Europäischer Kommission
nachverhandelt werden . Das Ergebnis, das uns im Rah-
men eines Kabinettentwurfs am 19 . Oktober 2016 vor-
gelegt wurde, entspricht in vielen Punkten nicht mehr
den politischen Abstimmungsergebnissen des Deutschen
Bundestages von Dezember 2015 .
In den vergangenen Wochen mussten erneut intensive
parlamentarische Beratungen zu dem eingangs genann-
ten Änderungsgesetz stattfinden, um die vom BMWi an-
geführten beihilferechtlichen Bedenken umzusetzen . Bei
den parlamentarischen Verhandlungen hat das BMWi
enormen zeitlichen Druck aufgebaut, obwohl das BMWi
selber lange gebraucht hat, um ein bereits abgeschlos-
senes Gesetz neu mit der Europäischen Kommission zu
verhandeln .
Mit diesem Prozedere bin ich als Abgeordnete des
Deutschen Bundestages nicht einverstanden . Verhand-
lungen dieser regulatorischen und technischen Kom-
plexität brauchen Zeit, um vom Parlament tiefgehend
geprüft werden zu können . Das gilt vor allem im Sinne
der KWK und dementsprechend der KWK-Anlagenbe-
treiber, die nachhaltig Rechtssicherheit für Investitionen
und den Anlagebetrieb benötigen . Nur so kann auch der
wiederholte Eindruck widerlegt werden, dass das BMWi
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201621006
(A) (C)
(B) (D)
versuche, unter scheinbarem Bezug zum Beihilferecht
der Europäischen Kommission, eigene politische An-
sichten in der Energiepolitik durchzusetzen .
Anlage 16
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Sechzehnten Gesetzes zur
Änderung des Soldatengesetzes (Tagesordnungs-
punkt 17)
Julia Obermeier (CDU/CSU): Wir alle haben die
Pariser Terrornacht vom 13 . November 2015 in Erinne-
rung . 130 Menschen starben und 350 wurden zum Teil
schwer verletzt . Diese schrecklichen Anschläge – verübt
mit Sprengsätzen, Sturmgewehren und Handgranaten –
trafen uns im Herzen Europas und offenbarten eine neue
Dimension des Terrors .
Auch Deutschland steht im Fadenkreuz des Terroris-
mus: Dies zeigen die Anschläge von Ansbach, Würzburg,
Essen und Hannover . Der islamistische Terrorismus be-
droht unsere freie Gesellschaft .
In islamistischen Kreisen gilt die professionelle mi-
litärische Schieß- und Gefechtsausbildung der Bundes-
wehr als besonders attraktiv, nicht nur für die Vorbe-
reitung terroristischer Anschläge, sondern auch für den
menschenverachtenden Dschihad in den von der IS-Ter-
rormiliz kontrollierten Gebieten .
Dass die Bundeswehr für gewaltbereite Extremisten
attraktiv ist, belegen Zahlen des Militärischen Abschirm-
dienstes, MAD: 30 ehemalige Soldaten sind nach Syrien
oder in den Irak ausgereist . Es liegt nahe, dass sie sich
dem IS angeschlossen haben und sich an barbarischen
Gräueltaten beteiligen .
Zudem wurden 20 Islamisten in der Bundeswehr vom
MAD enttarnt, und aktuell werden mindestens 60 weite-
re Verdachtsfälle verfolgt .
Dies zeigt uns deutlich: Wir müssen die Gefahr des
Missbrauchs der militärischen Bundeswehrausbildung
eindämmen . Die bisherigen Maßnahmen reichen ange-
sichts der Bedrohungslage nicht aus .
Bislang müssen Bewerberinnen und Bewerber, die
sich für den Soldatenberuf entschieden haben, ein poli-
zeiliches Führungszeugnis vorlegen . Zudem werden sie
über das Grundgesetz belehrt und müssen sich schriftlich
zu Verfassungstreue und zur freiheitlichen demokrati-
schen Grundordnung bekennen .
Es wurde bisher nicht umfassend geprüft, ob ein Be-
werber an anderer Stelle bereits als Extremist oder Ge-
walttäter bekannt ist .
Der vorliegende Gesetzentwurf soll dies nun ändern .
Hat ein Bewerber das Auswahlverfahren erfolgreich
durchlaufen, wird er einer einfachen Sicherheitsüberprü-
fung unterzogen .
Dieses bewährte Verfahren wird bereits bei anderen
sicherheitsempfindlichen Tätigkeiten innerhalb der Bun-
deswehr angewendet – sowie auch im Luftverkehr oder
hier im Bundestag . Hierzu werden insbesondere Infor-
mationen der Polizei- und Sicherheitsbehörden sowie des
Bundeszentralregisters eingeholt und geprüft .
Bevor also jemand in der militärischen Grundausbil-
dung lernen kann, wie man Kriegswaffen, zum Beispiel
Sturmgewehre und Pistolen, gebraucht, schaut nun der
MAD genau hin . Das ist wichtig und notwendig .
Zukünftig müssen etwa 20 000 Sicherheitsüberprü-
fungen zusätzlich durchgeführt werden . Um diese Arbeit
stemmen zu können, brauchen der MAD und die ande-
ren betroffenen Behörden mehr Personal . Das wird uns
8,2 Millionen Euro kosten . Doch das Geld ist eine klu-
ge Investition . Potenzielle Terroristen und gewaltbereite
Extremisten, egal welcher Prägung, haben keinen Platz
in der Bundeswehr . Sie dürfen die Bundeswehr nicht als
Ausbildungseinrichtung für ihre üblen Zwecke missbrau-
chen .
Bisher hat es in Deutschland noch keinen Anschlag
gegeben, bei dem ein Terrorist den Umgang mit seiner
Waffe in unseren Streitkräften erlernt und erprobt hat .
Dies soll auch zukünftig so bleiben . Durch die Gesetzes-
änderung tun wir unser Möglichstes, dies zu verhindern .
Daher bitte ich Sie um Ihre Zustimmung .
Bernd Siebert (CDU/CSU): Der Deutsche Bun-
destag hat in seiner 199 . Sitzung am Donnerstag, dem
10 . November 2016, in erster Lesung über einen Ge-
setzentwurf zur Änderung des Soldatengesetzes beraten .
Dieser wurde in der Folge zur weiteren Beratung in den
Verteidigungsausschuss überwiesen .
Am 30 . November hat schließlich der Verteidigungs-
ausschuss über die wichtige Thematik beraten und mit
den Stimmen der Koalition aus CDU/CSU und SPD dem
vorliegenden Gesetzentwurf zugestimmt . Die Fraktion
von Bündnis 90/Die Grünen hat sich enthalten, die Frak-
tion Die Linke hat mit Nein gestimmt .
Angesichts der im Verteidigungsausschuss geführ-
ten Debatte möchte ich auch hier im Deutschen Bun-
destag den Geheimdiensten und Sicherheitsbehörden
der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere dem
Militärischen Abschirmdienst, für ihren wertvollen und
wichtigen Einsatz danken . Ohne die Arbeit des Militäri-
schen Abschirmdienstes wäre manch radikalisierter Isla-
mist noch unentdeckt und möglicherweise in der Lage,
innerhalb unserer Streitkräfte oder an anderer Stelle
Schlimmstes anzurichten . Es ist immer wieder in Erinne-
rung zu rufen: 24 Islamisten wurden in der Bundeswehr
enttarnt . 60 weitere Verdachtsfälle werden verfolgt .
Wir hören, dass der Militärische Abschirmdienst der-
zeit eine dreistellige Zahl extremistischer Verdachtsfälle
überprüft . Darunter leider Rechts- und Linksextremisten
sowie die genannten islamischen Extremisten . Von der
Dunkelziffer ganz zu schweigen . Aus diesem Grund ist
es folglich unerlässlich, eine gesetzliche Regelung her-
beizuführen, die es erlaubt, Extremisten, Terroristen und
weitere Kriminelle frühzeitig zu erkennen – idealerweise
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 21007
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natürlich, bevor sie in unsere Streitkräfte aufgenommen
werden .
Klar ist, dass angesichts der veränderten Sicherheits-
lage auch das Sicherheitsbedürfnis der Bundeswehr und
ihrer Angehörigen ein völliges anderes ist . Dem muss
selbstverständlich Rechnung getragen werden . Somit
beschreitet der vorliegende Gesetzentwurf den richtigen
Weg .
Danken möchte ich auch dem Wehrbeauftragten des
Deutschen Bundestages, der zu Recht darauf hingewie-
sen hat, dass Extremisten und Islamisten die Bundeswehr
nicht zur Ausbildung für den Dschihad missbrauchen
dürfen . Diese reale Gefahr muss man ernst nehmen .
Aus diesem Grund möchte ich mich mit aller Ent-
schiedenheit den Vorwürfen gegen die Bundesregierung
verwehren, hier werde nur billiger Aktionismus betrie-
ben . Im Gegenteil: Der Zeitpunkt zur Verabschiedung
der Gesetzesänderung ist hochaktuell . Insofern spreche
ich der Bundesregierung und hier insbesondere Bundes-
verteidigungsministerin Ursula von der Leyen für die
Initiative zur Änderung des Soldatengesetzes mein aus-
drückliches Lob aus .
Zugleich ist dies auch keine Maßnahme zur Darstel-
lung der Existenzberechtigung des Militärischen Ab-
schirmdienstes . Die Notwendigkeit des Dienstes ergibt
sich ohne jeden Zweifel aus den eben geschilderten Ent-
tarnungserfolgen . Wer das in Zweifel zieht, legt Hand an
die Sicherheit der Soldatinnen und Soldaten der Bundes-
wehr und damit an die Bündnis-, Verteidigungs- und Ein-
satzfähigkeit Deutschlands .
Lassen Sie mich in Erinnerung rufen, worum es ei-
gentlich geht: Die Gesetzesänderung sieht vor, dass
sich Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr zukünf-
tig vor dem Eintritt in die Streitkräfte einer einfachen
Sicherheitsüberprüfung unterziehen sollen, und zwar
Berufs- und Zeitsoldaten ebenso wie auch freiwillig
Wehrdienstleistende . Bisher ist dies in der Regel nur bei
Verwendungen in sicherheitsrelevanten Bereichen der
Fall . Darüber hinaus wird von angehenden Soldaten le-
diglich ein Führungszeugnis oder eine Auskunft aus dem
Bundeszentralregister eingeholt sowie ein Bekenntnis
zur freiheitlich demokratischen Grundordnung eingefor-
dert .
Staatssekretär Markus Grübel hat in erster Lesung
korrekterweise darauf hingewiesen, dass alle Soldatin-
nen und Soldaten im Rahmen der Grundausbildung in
der Handhabung und dem Gebrauch von Kriegswaffen
ausgebildet werden . Solch eine qualitativ hochwertige
Ausbildung sei daher auch bei Menschen begehrt, die
besser niemals lernen dürften, wie man ein Sturmgewehr
bediene . Er wies sinnbildlich darauf hin, dass diese Men-
schen ihre feindseligen Absichten eben nicht offen er-
kennbar auf der Stirn tragen . Diese Menschen wird man
nur leider kaum identifizieren können, wenn man ihnen
ein Führungszeugnis sowie das Bekenntnis zur freiheit-
lich demokratischen Grundordnung einfordert .
Das wäre nicht mehr den heutigen Bedrohungsszena-
rien entsprechend, und ich möchte mir darüber hinaus
kein Anschlagsszenario vorstellen, in dessen Nachberei-
tung sich herausstellt, dass der oder die Attentäter ihre
Schusswaffenausbildung bei einer Einheit der Bundes-
wehr erhalten haben .
Somit kann es aus meiner Sicht nur einen Weg ge-
ben, nämlich die nun vorgeschlagenen Maßnahmen so
bald wie möglich umzusetzen . Ich bin der festen Über-
zeugung, dass Extremisten, Terroristen und Kriminelle
keinen Platz in der Bundeswehr haben dürfen . Deren
frühzeitige Erkennung ist daher unumgänglich . Der vor-
liegende Gesetzentwurf trägt dazu bei, die Bundeswehr
und damit auch die Bundesrepublik Deutschland sicherer
zu machen .
Dr. Fritz Felgentreu (SPD): Dass das vorliegende
Änderungsgesetz ausschließlich in Form von zu Proto-
koll gegebenen Reden im Plenum des Deutschen Bun-
destages „beraten“ wird, ist ein unsinniger Vorgang . Ent-
weder es besteht Beratungsbedarf; dann müssen wir auch
den Raum für den parlamentarischen Schlagabtausch
schaffen . Oder es besteht keiner; dann brauchen wir auch
keine Besinnungsaufsätze zum Inhalt der Gesetze in den
Parlamentsprotokollen zu beerdigen, sondern sollten es
mit der Abstimmung bewenden lassen .
Da es aber nun einmal so beschlossen ist, gehe ich
kurz auf die Argumente der Grünen und der Linken ein,
die dem Protokoll der ersten Lesung zu entnehmen sind .
Inhalt des Gesetzes ist die Ausweitung der Befugnisse
des MAD . Wir schaffen eine Rechtsgrundlage dafür, dass
der MAD schon vor der Einstellung eine Sicherheits-
überprüfung der Bewerberinnen und Bewerber bei der
Bundeswehr durchführen kann . Ziel ist es, zu verhin-
dern, dass Extremisten eine militärische Ausbildung für
ihre möglicherweise terroristischen Absichten erhalten .
Notwendig erscheint die Gesetzesänderung, nachdem
der MAD in einem Zeitraum von zehn Jahren insgesamt
24 dschihadistische Extremisten unter den aktiven Sol-
daten enttarnt hat .
Für die Linken kritisiert Inge Höger pauschal, dass
Soldatinnen und Soldaten überhaupt eine militärische
Ausbildung erhalten, die auch andere als dschihadis-
tische Extremisten und Söldner für ihre verwerflichen
Ziele nutzen könnten und nachweislich bereits genutzt
hätten . Da die SPD-Fraktion die Existenz leistungsfähi-
ger Streitkräfte für notwendig hält, um die Sicherheit des
Landes zu gewährleisten, können wir diese Kritik nur als
im Ansatz verfehlt zurückweisen .
Für Bündnis 90/Die Grünen zieht Agnieszka Brugger
nicht das Schutzziel der Gesetzgebung an sich in Zwei-
fel, sondern beanstandet die damit verbundene Stärkung
des MAD, einer Behörde, die die Grünen für überflüssig
halten, weil ihre Aufgaben auch von anderen Einrichtun-
gen wahrgenommen werden könnten . Die SPD-Fraktion
betrachtet es angesichts der zu lösenden Aufgabe – Ex-
tremismusprävention in den Streitkräften – als nicht
zielführend, bei dieser Gelegenheit eine grundsätzliche
Strukturdebatte zu führen, zumal auch die Grünen nicht
infrage stellen, dass die Aufgaben des MAD, unabhängig
von der damit beauftragten Behörde, bestehen bleiben .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201621008
(A) (C)
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Das Gesetz trägt dazu bei, eine objektiv bestehende
Sicherheitslücke zu schließen . Die SPD-Fraktion stimmt
daher zu .
Dr. André Hahn (DIE LINKE): Die Bürgerinnen und
Bürger in unserem Land haben zu Recht einen Anspruch
darauf, dass der Staat sie bestmöglich vor Angriffen auf
ihre körperliche Unversehrtheit und ihr Leben schützt .
Dazu gehört auch, dass Personen, die in sicherheitsre-
levanten Bereichen arbeiten, vor der Einstellung und
gegebenenfalls auch während der Ausübung ihrer Tätig-
keit auf ihre Zuverlässigkeit angemessen und auch re-
gelmäßig überprüft werden . Das gilt beispielsweise für
das Personal von Atomkraftwerken oder an Flughäfen .
Zu diesen sicherheitsrelevanten Bereichen gehören aber
auch Beschäftigte bei der Polizei, beim Zoll, bei den Ge-
heimdiensten – solange es sie noch gibt – und andere Per-
sonen, die an Waffen ausgebildet werden und regelmäßig
Zugang zu Waffen haben, also letztlich auch Bewerberin-
nen und Bewerber bei der Bundeswehr .
Im vorliegenden Gesetzentwurf geht es nun auch aus-
schließlich um die Sicherheitsüberprüfung von künftigen
Soldatinnen und Soldaten . Dagegen lässt sich grundsätz-
lich kaum etwas einwenden . Gleichwohl werden wir als
Linke diesem Gesetz nicht zustimmen können, und zwar
im Wesentlichen aus zwei Gründen .
Ein Grund liegt in der wirklich mehr als einseitigen
Begründung mit möglichen islamistischen Bedrohungen .
In den vergangenen zehn Jahren wurden nach Berichten
des Tagesspiegels insgesamt 24 Soldaten als Islamisten
eingestuft . Aktuell werden wohl weitere circa 60 Ver-
dachtsfälle durch den Militärischen Abschirmdienst
überprüft . Dem gegenüber stehen allein die aktuell über
250 Verdachtsfälle, in denen sich Rechtsextremisten in
die Truppe eingeschlichen haben sollen . Hier liegt das
wirkliche Problem innerhalb der Bundeswehr, über das
aber offenbar nicht so gern gesprochen wird .
Gleichwohl wird im Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung zuallererst auf die Gefahren durch islamistischen
Terror hingewiesen, bevor eher beiläufig auf die unrühm-
liche Rolle der Bundeswehr und insbesondere des MAD
im Zusammenhang mit dem rechtsterroristischen NSU
eingegangen wird . Nur am Rande sei bemerkt, dass der
MAD damals einige Rechtsterroristen sehr wohl kannte,
immerhin sollte Uwe Mundlos sogar als V-Mann ange-
heuert werden .
Doch nicht die Neonazis, nicht die mögliche Unter-
wanderung der Bundeswehr durch Rechtsextremisten,
sondern erst die islamistisch motivierten Attentate in Pa-
ris, Kopenhagen und Brüssel ließen bei der Bundesregie-
rung die Idee keimen, man sollte vielleicht doch vorher
mal genauer nachsehen, wen man da an Kriegswaffen
ausbilden will .
Mit dem vorliegenden Gesetz soll nun der lange beste-
hende Wertungswiderspruch aufgelöst werden, wonach
für Tätigkeiten in allen möglichen sicherheitsempfindli-
chen Bereichen wie eben im Atombereich oder an Flug-
häfen eine Sicherheitsüberprüfung notwendig ist, nicht
aber für die Ausbildung an Kriegswaffen . Dass dies nun
korrigiert werden soll, ist deshalb nachvollziehbar und
begrüßenswert, wenngleich die Gesetzesbegründung,
wie eben schon erwähnt, an der Realität vorbeigeht .
Es gibt aber noch einen zweiten und für uns noch
wichtigeren Grund, weshalb wir als Linke dem Gesetz-
entwurf nicht zustimmen können, nämlich die Frage, wer
denn diese Sicherheitsüberprüfungen künftig durchfüh-
ren soll .
Aus unserer Sicht sind weder der Militärische Ab-
schirmdienst noch eventuell das Bundesamt für Verfas-
sungsschutz dafür geeignet . Es ist ja bekannt, dass wir als
Linke den Geheimdiensten aus guten Gründen und nach
jahrelangen Erfahrungen mit Pannen und Skandalen sehr
skeptisch gegenüberstehen und deren Agieren parlamen-
tarisch sehr kritisch begleiten .
Für uns ist es daher auch nicht akzeptabel, dass die
beabsichtigten Sicherheitsüberprüfungen wieder durch
einen Nachrichtendienst erfolgen sollen . Wir wollen die
Geheimdienste perspektivisch überwinden und ihnen
nicht noch immer neue Aufgaben übertragen .
Wir meinen, es ist allerhöchste Zeit, das System der
Sicherheitsüberprüfungen endlich mal grundlegend zu
überdenken . Anstatt diese Aufgabe dem Verfassungs-
schutz oder wie im vorliegenden Gesetzentwurf dem
MAD zu übertragen, sollte geprüft werden, welche even-
tuell bereits existierenden oder neu zu schaffenden In-
stitutionen oder Behörden ohne nachrichtendienstlichen
Hintergrund diese Aufgabe übernehmen und vielleicht
sogar auch besser erfüllen könnten .
Dass selbst eine bestandene Sicherheitsüberprüfung
der Stufe 3, immerhin die höchste, die man im öffent-
lichen Dienst erlangen kann, noch lange keine Garantie
ist, zeigte nicht zuletzt der erst kürzlich aufgedeckte Fall
eines Islamisten im Bundesamt für Verfassungsschutz .
Und schließlich will ich auch noch mal darauf verwei-
sen, was meine Kollegin Höger hier in der ersten Lesung
zu Recht erwähnte: Eine der größten Radikalisierungsge-
fahren für Soldatinnen und Soldaten ist der Kriegseinsatz
selbst, weil es dabei oder danach allzu oft zu schweren
Traumata kommt . Auch deshalb sollten wir deutsche Sol-
datinnen und Soldaten nicht länger in immer neue und
immer größere Kriege in die Krisenregionen dieser Welt
schicken .
Schlussendlich komme ich zu dem Ergebnis, dass es
zwar sinnvoll erscheint, zu prüfen, wer zukünftig an Waf-
fen ausgebildet wird . Keinesfalls sinnvoll ist es jedoch,
diese Aufgabe einem Geheimdienst zu übertragen und
hierfür dort über 40 neue Stellen zu schaffen .
Problematisch ist zudem, dass die Koalition im Aus-
schuss noch völlig sachfremde Punkte in das Gesetz auf-
genommen und einfach mal so nebenbei eine Erhöhung
der Reservistenbezüge für militärische Übungstage be-
schlossen hat, die wir als Linke nicht mittragen können .
Aus den genannten Gründen wird meine Fraktion den
vorliegenden Gesetzentwurf ablehnen .
Doris Wagner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich
glaube, ich trete niemandem hier zu nahe, wenn ich sage:
Wir alle sind sehr beunruhigt . Anfang November wur-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 21009
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de bekannt, dass Menschen mit einer islamistischen Ge-
sinnung in jüngster Zeit verstärkt versucht haben, in die
Bundeswehr einzutreten . Ihr Ziel war dabei ganz offen-
sichtlich, sich durch eine Ausbildung an der Waffe auf
einen Kampfeinsatz im Nahen Osten vorzubereiten . Die
Vorstellung, dass dieser Plan aufgehen könnte, ist natür-
lich völlig unerträglich . Niemand, egal welcher extremis-
tischen Gesinnung er oder sie auch sein mag, darf in der
Bundeswehr an der Waffe ausgebildet werden!
Die Frage ist nur, wie wir diesem Schreckensszenario
vorbeugen können . Mit welchen Instrumenten können
wir verhindern, dass Islamisten, Antisemiten, Links-
oder Rechtsextreme in die Bundeswehr gelangen? Die
Bundesregierung setzt mit der Änderung des Soldatenge-
setzes auf eine Ausweitung der Überprüfung durch den
Militärischen Abschirmdienst . Doch ich bin überzeugt:
Das ist ganz definitiv der falsche Weg!
Denn wenn wir uns einmal anschauen, was der MAD
in den letzten Jahren und Jahrzehnten tatsächlich zustan-
de gebracht hat, kann das Ergebnis nur lauten: nicht viel
bis gar nichts .
Der MAD wusste bereits in den 90er-Jahren von der
rechten Gesinnung des späteren NSU-Protagonisten Uwe
Mundlos . Ja, der Geheimdienst wollte Mundlos sogar als
Informanten aus der rechten Szene anwerben . Welche
Konsequenzen diese Erkenntnisse des MAD hatten, wis-
sen wir alle: keine . Mundlos konnte im Verein mit den
anderen Mitgliedern des NSU jahrelang völlig unbehel-
ligt morden .
Skandalös ist in diesem Zusammenhang auch die Art
und Weise, in der der MAD mit den parlamentarischen
Kontrollgremien zusammengearbeitet hat . So bedurfte es
erst einer ganz gezielten Anfrage aus dem NSU-Untersu-
chungsausschuss, bevor man sich beim MAD bequemte,
überhaupt einmal im Archiv nach einer Akte Mundlos zu
forschen! Eine derartige Geringschätzung der parlamen-
tarischen Gremien darf ein demokratischer Rechtsstaat
einfach nicht hinnehmen .
Dass der MAD keinen guten Job macht – zu diesem
Ergebnis kommt schließlich auch ein Bericht, den der
Bundesrechnungshof 2014 veröffentlicht hat: Demnach
spioniert der MAD ohne gesetzliche Grundlage auch in
solchen Bereichen herum, die eigentlich dem BND zu-
gewiesen sind . Das ist nicht nur gesetzeswidrig, sondern
durch die entstehenden Doppelstrukturen auch unnötig
teuer .
Aus all dem kann es doch nur eine vernünftige Schluss-
folgerung geben: Wir müssen unser gesamtes Geheim-
dienstwesen auf den Prüfstand stellen und es neu orga-
nisieren . Wir brauchen andere Strukturen – und für mich
steht dabei fest: Der MAD kann dabei getrost in anderen
Organisationsbereichen aufgehen . Wir brauchen keinen
spezifisch militärischen Dienst. Was wir brauchen, sind
professionell arbeitende, demokratisch kontrollierte und
kosteneffiziente Strukturen. Solche Strukturen werden
auch in der Lage sein, die Bundeswehr frei von Extre-
misten aller Couleur zu halten .
Leider hat die Bundesregierung die Chance zu einer
solchen grundlegenden Reform der Geheimdienste Ende
Oktober wieder einmal ungenutzt verstreichen lassen .
Die Änderung des Soldatengesetzes, die die Bundes-
regierung hier heute vorschlägt, fügt dem überteuerten
Wirrwarr der Spionagedienste nur einen weiteren Knoten
hinzu .
Und deshalb wird meine Fraktion diesem Gesetz nicht
zustimmen .
Anlage 17
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Än-
derung des Bundeswaldgesetzes (Tagesordnungs-
punkt 19)
Cajus Caesar (CDU/CSU): Wald, das ist für uns die
Luft zum Atmen, also eine wichtige Lebensgrundlage .
Der Wald filtert Luft und Wasser. Er produziert Sauer-
stoff, schützt uns vor Lärm und gibt uns Platz für unsere
Erholungsfunktion .
Wald, das bedeutet Artenvielfalt, und dies vor allem
im nachhaltig bewirtschafteten Wald und nicht im still-
gelegten Wald .
Wald bedeutet aber auch insbesondere Arbeitsplätze
für den ländlichen Raum . In der Forst- und Holzindus-
trie, mit einem Umsatz von über 180 Milliarden Euro,
arbeiten nämlich mehr Beschäftigte als etwa in der Auto-
mobilindustrie . Die rund 2 Millionen Waldbesitzer sowie
die gesamte Wertschöpfungskette Wald und Holz halten
unseren ländlichen Raum im Wesentlichen lebenswert
und auch wirtschaftlich attraktiv .
Deshalb wollen wir als Union alles dafür tun, um
Wirtschaftskraft, Umwelt und Erholungsfunktion zu er-
halten . Dies ist unser Anliegen . Dies ist ein wichtiges An-
liegen der Union . Deshalb setzen wir uns mit aller Kraft
dafür ein .
Mit dem heute vorgelegten Entwurf zur Änderung des
Bundeswaldgesetzes soll dem Rechnung getragen wer-
den . So hat das Kartellamt festgelegt, die Vermarktung
des Holzes, die derzeit auch vom Staatswald und von den
Landesbetrieben mit dem Privatwald erfolgt, aus wettbe-
werbsrechtlichen Gründen zu öffnen . Dies ist aus mei-
ner Sicht richtig . Dies darf aber nicht dazu führen, dass
Kleinprivatwaldbesitzer im Stich gelassen werden . Der
Waldbesitzer muss das Recht erhalten, Wahlfreiheit zu
haben – bei fairen und vergleichbaren Angeboten .
Die jetzige Änderung des Bundeswaldgesetzes wird
über Freistellung im § 2 des Gesetzes gegen Wettbe-
werbsbeschränkungen erreichen, dass im vorgelagerten
Bereich waldbauliche Maßnahmen vom Kartellrecht
freigestellt werden . Dies sind Maßnahmen bei der Pla-
nung und Ausführung, insbesondere waldbauliche Maß-
nahmen, und dies soll auch für die Vorbereitung der Ernte
gelten, etwa durch das Auszeichnen von zu entnehmen-
den Bäumen .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201621010
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Waldbauliche Maßnahmen dienen der Pflege und der
Gesunderhaltung des Waldes und sind deshalb, auch vor
dem Hintergrund der Anforderungen unserer Gesell-
schaft an einen gesunden, nachhaltig bewirtschafteten
Wald, wichtig und sinnvoll .
Da wir es in Deutschland in weiten Bereichen mit ei-
nem ausgesprochen Kleinstprivatwaldbesitz zu tun ha-
ben, sollen die Klein- und Kleinstwaldbesitzer nicht im
Stich gelassen werden, sondern durch die Änderung des
Bundeswaldgesetzes Beratung und Anleitung für diese
Maßnahmen durch ausgebildetes Forstpersonal erhal-
ten – und dies zu Preisen, die nicht einer Enteignung
gleichkommen .
Uns, der Union, ist es wichtig, diesen Kleinprivatwald
nicht im Stich zu lassen und gleichfalls für eine ordnungs-
gemäße, nachhaltige und gleichzeitig naturnahe Bewirt-
schaftung zu sorgen . Wir wollen den engen Kontakt mit
den Waldbesitzern pflegen. Wir wollen auch den Schutz
des Eigentums, und wir wollen den umweltfreundlich er-
zeugten Rohstoff weiterhin durch Nutzen schützen .
Nun finden wir sehr unterschiedliche Strukturen in
den deutschen Wäldern vor . Wir haben es zu tun mit pro-
fessionell organisierten Forstbetriebsgemeinschaften im
Privatwald, die durch eigenes ausgebildetes Forstperso-
nal die Bewirtschaftung vornehmen oder Dienstleister in
Anspruch nehmen . Wir haben es aber auch zu tun mit
Kleinstwaldbesitz, der auf die Hilfe von außen angewie-
sen ist . Ansonsten wird der Wald eben nicht mehr ord-
nungsgemäß gepflegt und bewirtschaftet. Ich denke, es
ist auch unser gemeinsames Anliegen, dass wir nicht zu
mehr Stilllegungen von Waldflächen kommen. Dies wür-
de der Bedeutung der umweltfreundlichen und nachhal-
tig erzeugten Ressource Holz nicht gerecht . Es würde auf
Dauer das Eigentum infrage gestellt .
Der Deutsche Forstwirtschaftsrat (DFWR) unter
Präsident Georg Schirmbeck hat die unterschiedlichen
Waldbesitzerarten an einen Tisch geholt . Diese haben
uns empfohlen, die jetzt vorgeschlagene Änderung des
Bundeswaldgesetzes vorzunehmen .
Wir als Union beziehen also die Waldbesitzer mit ein .
Dies ist uns wichtig . Nicht Gesetze im stillen Kämmer-
lein beraten, sondern mit den Betreffenden auf den Weg
bringen . Das ist unsere Politik . Das ist die richtige Vor-
gehensweise .
Auf meine Frage zur Vereinbarkeit der Gesetzesän-
derung mit europäischem Recht haben sich sowohl das
Forstministerium als auch das Wirtschaftsministerium,
insbesondere auch das Justizministerium, dahin gehend
eingelassen und geantwortet: „Die Vereinbarkeit mit dem
Recht der Europäischen Union und völkerrechtlichen
Verträge wurde geprüft und ist gegeben .“
Wir als Union wollen durch unser Handeln der großen
Bedeutung des Waldes auch für den Klimaschutz gerecht
werden . So entlasten 126 Millionen Tonnen CO2, die
durch den deutschen Wald gebunden werden, und seine
nachhaltige Bewirtschaftung sowie die Verwendung von
Holzprodukten die Atmosphäre . Die Bindungswirkung,
die Substitutionswirkung des Waldes ist auch vor dem
Hintergrund des Klimaschutzes von immenser Bedeu-
tung .
Wir haben es mit einem Rohstoff zu tun, der umwelt-
freundlich erzeugt wird und von dem uns durch einen
nachhaltigen Holzzuwachs von je 11,2 Kubikmeter pro
Hektar 120 Millionen Kubikmeter jährlich wieder natür-
lich zuwachsen . Dieses Umwelt- und Wirtschaftspoten-
zial zu verschenken, wäre töricht .
Deshalb haben wir als Union enorme Anstrengun-
gen unternommen . Wir haben die nationale nachhaltige
Waldwirtschaft durch die Förderung von bedeutsamen
Projekten und die Bereitstellung entsprechender finanzi-
eller und personeller Ressourcen in dieser Wahlperiode
enorm gestärkt .
Wir als Union wollen nachhaltig bewirtschafteten
Wald, der gesund ist, der stabil ist, der artenreich ist und
der produktiv ist . Wir als Union danken den Waldbesit-
zern, den Forstleuten und den Verbänden sowie der Holz-
industrie dafür, dass sie durch eine umweltfreundliche
Vorgehensweise auf über einem Drittel unserer Landes-
fläche so viel Umweltschutz und Artenreichtum ermög-
lichen .
Wir als Union wollen die Rahmenbedingungen für die
Waldbesitzer richtig setzen und den Wald durch Nutzen
schützen .
Bereits frühzeitig hat die Union das Gespräch mit dem
Waldbesitz, den Forst- und Holzverbänden wie auch mit
den Vertretern aus der Wirtschaft gesucht, um gemein-
sam Lösungen zu finden.
Abschließend möchte ich mich noch bei allen Mit-
wirkenden für das Zustandekommen dieser Gesetzes-
änderung bedanken . Besonders hervorheben möchte
ich hier unseren forstpolitischen Sprecher Alois Gerig,
den Parlamentarischen Staatssekretär im Bundesminis-
terium für Ernährung und Landwirtschaft Peter Bleser,
meinen Förster- und Abgeordnetenkollegen Josef Göppel
und Franz-Josef Holzenkamp, Vorsitzenden der CDU/
CSU-Arbeitsgruppe „Ernährung und Landwirtschaft“ .
Ein weiterer Dank gilt den Mitarbeitern der Ministe-
rien, vornehmlich im Bundesministerium für Ernährung
und Landwirtschaft, welches sich stets kompetent, neu-
tral, aber mit großem Einsatz für das Bundeswald- und
Bundesjagdgesetz engagiert hat .
Alois Gerig (CDU/CSU): Lange und kontrovers
wurde über die Änderung des Bundeswaldgesetzes dis-
kutiert – endlich liegt uns heute ein Gesetzentwurf zur
finalen Abstimmung vor. Die Gesetzesänderung dient ei-
nem wichtigen Ziel: Wir wollen ein breites Angebot an
Forstdienstleistungen in Deutschland erhalten .
Grund für das Gesetzgebungsverfahren ist, dass das
Bundeskartellamt die gemeinsame Holzvermarktung aus
dem Landes-, Kommunal- und Privatwald kritisch unter
die Lupe nimmt . Das Bundeskartellamt sieht durch die
Bündelung des Holzangebots den Markt beeinträchtigt
und ist entschlossen, die Praxis der gemeinsamen Holz-
vermarktung nicht länger zu dulden . Das Kartellverfah-
ren gegen das Land Baden-Württemberg gibt Anlass zur
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 21011
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Sorge, dass die Landesforstverwaltungen forstwirtschaft-
liche Dienstleistungen nicht mehr oder nur eingeschränkt
anbieten dürfen .
Aus Sicht des Bundeskartellamtes gehören zur Holz-
vermarktung nicht nur der Holzverkauf, sondern auch
weitere Forstdienstleistungen – beispielsweise Wald-
bau, Holzauszeichnung und die Betreuung der Holzern-
te . Untersagt das Bundeskartellamt den Forstbehörden
der Länder die Holzvermarktung, entfallen auch diese
Dienstleistungsangebote . Leidtragende wären kommu-
nale und private Waldbesitzer, die durch Beratungs- und
Betreuungsleistungen der Forstämter Zugang zum Holz-
markt erhalten .
Das Bundeskartellamt setzt sich gemäß seinem ge-
setzlichen Auftrag für einen funktionierenden Wettbe-
werb ein – das verdient grundsätzlich Respekt und An-
erkennung . Parlament und Regierung steht es gleichwohl
frei, die Auswirkungen von Kartellamtsentscheidungen
zu prüfen und zu überlegen, ob gesetzliche Neuregelun-
gen angebracht sind .
Weniger Dienstleistungsangebote für Waldbesitzer
sind meines Erachtens nicht akzeptabel . Die Bundesre-
gierung schlägt in ihrem Gesetzentwurf eine vernünfti-
ge Lösung vor: Planung und Ausführung waldbaulicher
Maßnahmen sowie Markierung, Ernte, Bereitstellung
und Registrierung von Rohholz werden vom Kartellrecht
ausgenommen . Die Länder erhalten so die Möglichkeit,
dass ihre Forstämter auch in Zukunft wichtige Forst-
dienstleistungen anbieten dürfen – ohne mit dem Kartell-
recht zu kollidieren .
Die Neuregelung kommt besonders Kleinwaldbesit-
zern zugute: Die Forstämter sollen auch in Zukunft durch
ihre fachkundigen Beratungs- und Betreuungsangebote
dafür sorgen, dass auch der Kleinprivatwald gemäß dem
Grundsatz „Schützen durch Nützen“ bewirtschaftet und
gepflegt wird. Viele Kleinwaldbesitzer sind weder mit
der Waldbewirtschaftung noch mit der genauen Lage ih-
rer Parzelle im Wald vertraut – deshalb ist es so wichtig,
dass sich ein Förster vor Ort kümmert .
Bürgernahe Forstdienstleistungen tragen dem Um-
stand Rechnung, dass in vielen Regionen Deutschlands
Waldeigentum breit gestreut ist – das sollte auch so blei-
ben und durch den Erhalt bewährter Dienstleistungsange-
bote der Forstämter flankiert werden. Ein enger Kontakt
zwischen Forstamt und Waldbesitzern bietet zudem am
ehesten Gewähr dafür, dass in Bundesländern mit klein-
strukturierten Waldbesitzverhältnissen der Wald flächen-
deckend bewirtschaftet und die vorhandenen Holzvorräte
nutzbar gemacht werden . Holzmobilisierung ist wichtig,
damit die Holzwirtschaft – eine bedeutende Branche im
ländlichen Raum – mit ihrem nachwachsenden und kli-
mafreundlichen Rohstoff aus heimischen Wäldern ver-
sorgt wird .
Natürlich dient der Wald nicht allein der Holzproduk-
tion . Die vielfältigen Wälder in Deutschland haben eine
überragende ökologische Bedeutung und sind auch für
Erholungssuchende unverzichtbar . Forstdienstleistungen
stellen sicher, dass der Wald auch seine ökologischen und
sozialen Funktionen erfüllen kann . Da Forstdienstleis-
tungen nicht nur wirtschaftlichen Zwecken dienen, halte
ich es für gerechtfertigt, diese Dienstleistungen vom Kar-
tellrecht freizustellen .
Der Gemeinwohlnutzen unserer Wälder rechtfertigt es
darüber hinaus, dass die Länder ihr Angebot an Forst-
dienstleistungen aufrechterhalten . Der bei den Forstäm-
tern gebündelte Sachverstand ist ganz sicher hilfreich,
künftige Herausforderungen der Waldbewirtschaftung zu
meistern – Beispiele hierfür sind der Klimawandel und
der Artenschutz .
Zum Abschluss möchte ich betonen: Wir in der CDU/
CSU sind nach wie vor der Auffassung, dass der Staat
nicht für alles zuständig ist und alles besser kann . Das
gilt auch für die Forstwirtschaft . Private Anbieter von
Forstdienstleistungen gewährleisten ebenso eine natur-
nahe und nachhaltige Waldbewirtschaftung wie staat-
liche . Dies belegen die Bundesländer eindrucksvoll, in
denen die Forstverwaltungen keine Dienstleistungen an-
bieten und sich auf ihre hoheitlichen Aufgaben konzen-
trieren. Die Verpflichtung staatlicher Forstdienstleister,
ihre Leistungen zu marktkonformen Preisen zu erbrin-
gen, wird mit diesem Gesetz nicht berührt .
Mit dieser Bundeswaldgesetzänderung wird mitnich-
ten eine staatliche Waldbewirtschaftung eingeführt . Die
Inanspruchnahme staatlicher Forstdienstleistungen ist
und bleibt fakultativ . Die Wahlfreiheit der Waldbesitzer,
Forstarbeiten selbst vorzunehmen, sich in Forstbetriebs-
gemeinschaften zusammenzuschließen oder private An-
bieter zu beauftragen, wird durch die Gesetzesänderung
in keiner Weise beeinträchtigt .
Die marktwirtschaftliche Ausrichtung der Gesetzesän-
derung wird auch an einer weiteren Tatsache deutlich: In-
dem wir Forstdienstleistungen, die der Holzvermarktung
vorgelagert sind, vom Kartellrecht ausnehmen, bekräfti-
gen wir, dass die eigentliche Holzvermarktung voll und
ganz dem Kartellrecht unterliegt . Marktbeherrschende
Stellungen der Landesforstverwaltungen beim Holzver-
kauf müssen der Vergangenheit angehören!
Ich bin überzeugt, dass wir mit der Bundeswaldgeset-
zänderung Erfolg haben werden: Der Wettbewerb bei der
Holzvermarktung wird gestärkt und ein breites Angebot
an Forstdienstleistungen für alle Waldbesitzer gesichert .
Deshalb bitte ich Sie, dem Gesetzentwurf zuzustimmen .
Der Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft hat
gestern einstimmig für die Änderung des Bundeswald-
gesetzes votiert . Auch im Bundesrat zeichnet sich ab,
dass der Gesetzentwurf große Zustimmung findet.
Petra Crone (SPD): Die Fraktion der SPD stimmt
dem Gesetzentwurf trotz vorhandener Bedenken zu . So
weit das Ergebnis, heute gleich zu Beginn .
Die forstlichen Akteure und auch die Kolleginnen und
Kollegen Forstpolitiker in den Ländern und im Bund
kennen meine Position . Schon im März 2015, vor knapp
zwei Jahren, habe ich an gleicher Stelle gesagt, dass sich
unsere Fraktion nicht gegen eine Änderung des Bundes-
waldgesetzes stellt . Voraussetzung: ein fachlich gutes
und EU-rechtskonformes Gesetz . Das jahrelange Hin
und Her, mit denen das BMEL versuchte, diesem ja doch
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201621012
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recht selbstverständlichen Anspruch gerecht zu werden,
zeigt: So einfach war und ist es nicht!
Ich habe – und das wird sicherlich nicht überraschen –
weiterhin erhebliche Zweifel, ob diese Voraussetzungen
mit der Novelle erfüllt sind . Die Änderung im BWaldG
kann zwar die Anwendung des nationalen Wettbe-
werbsrechts ausschließen . Dies gilt jedoch nicht für das
EU-Kartellrecht . Wir hätten es daher für legitimer und
besser befunden, wenn das vor dem OLG Düsseldorf an-
hängige Beschwerdeverfahren von Baden-Württemberg
gegen den Beschluss des Bundeskartellamts abgewartet
worden wäre . Das Urteil wird Ende Januar 2017 erwartet .
Unstrittig ist ja, dass der Holzverkauf eine wirtschaft-
liche Tätigkeit ist . Das Gericht wird klären, ob die vorge-
lagerten Tätigkeiten, die Dienstleistungen im Wald, ho-
heitlichen oder wirtschaftlichen Charakter besitzen . Das
ist eine offene Frage in der Rechtsprechung, und sie ist
richtungsweisend für alle Bundesländer . Das hätten wir
abwarten können, ja müssen . So bleibt ein Gschmäckle!
Und ein Wagnis ist es obendrein! Gleichwohl benötigen
einige wenige Bundesländer offensichtlich unsere gesetz-
geberische Hilfe, um kartellrechtskonforme Forststruktu-
ren aufstellen zu können . Diesen Wünschen konnten wir
uns als SPD-Fraktion nicht verschließen .
Zwei Fakten möchte ich betonen, die ich enorm wich-
tig finde, um die Debatte zu verstehen:
Erstens. Die Erhaltung und Pflege des Waldes hat im
Interesse von heutigen und kommenden Generationen
eine eigene Bedeutung – unabhängig von der Holzver-
marktung . Und wir haben gute und sehr gute Landes-
waldgesetze, die Pflichten beim Handeln mit Wald defi-
nieren und diese überwachen .
Zweitens . Die Holzvermarktung passiert wiederum
nicht im Kielwasser von Erhaltung und Pflege, quasi so
nebenbei, als Teil der Daseinsvorsorge im Wald . Diese
Sichtweise ist doch mit dem besten Willen nicht zu hal-
ten: Welchen Baum pflanze ich, welchen entnehme ich?
Das sind doch nicht allein ökologisch-soziale Entschei-
dungen! Schauen Sie sich doch bloß die enorme und be-
eindruckende Leistungsfähigkeit der Holzwirtschaft in
Deutschland an .
Wer Holz verkauft, ist also Marktteilnehmer, so auch
der Staat, und er kann keine Sonderrechte für sich in An-
spruch nehmen . Im Koalitionsvertrag von Grün-Schwarz
in Baden-Württemberg steht: „Wir schützen die Freiheit
aller, die als Anbieter oder Nachfrager am Markt teilneh-
men, und sorgen für faire Wettbewerbsbedingungen .“
Fairer Wettbewerb von Beginn an, das bedeutet dreier-
lei: keine Verzerrung des Marktes durch staatliche, nicht
kostendeckende Angebote, Marktzugang für private An-
bieter ermöglichen, und eine direkte Förderung durch
den Staat ist besser als eine indirekte . Und ich sehe, dass
ebensolche Lösungen vor der Haustür liegen . Es braucht
sicherlich Zeit, wettbewerbsrechtliche Strukturen im
Forst herzustellen . Diese Zeit geben wir den betroffenen
Bundesländern nun .
Ich verbinde damit aber auch meinen herzlichen Ap-
pell, dass die Länder ihre vielfältigen Gestaltungsmög-
lichkeiten auf der Länderebene nutzen und verstanden
wird, dass eine Neuaufstellung der Forststruktur durch-
aus selbstbewusst angegangen werden kann .
Keiner muss sich hier hinter rechtlich nicht tragfä-
higen Strukturen verstecken, eben weil in den Forst-
verwaltungen der Länder Forstwirte und Waldarbei-
ter beschäftigt sind, die genau die guten Standards der
Waldbewirtschaftung realisieren, Menschen, die vernetzt
und ausgleichend denken. Die finden wir aber genauso
in den forstwirtschaftlichen Zusammenschlüssen, ihren
Vermarktungsorganisationen und im Privatwald . Und zu-
dem: Junge Leute in den grünen Berufen brauchen auch
jenseits staatlicher Strukturen Berufschancen . Ein Mono-
pol auf Bequemlichkeit gibt es nicht!
Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): In den Zen-
tren deutscher Großstädte vergisst wohl der eine oder die
andere, dass die Holzproduktion weder im Labor noch
in Fabriken stattfindet, sondern immer noch im Wald,
und der ist gleichzeitig Erholungs- und Lebensraum
für Mensch und Tier sowie für den Klimaschutz mit-
verantwortlich . Deshalb ist Holzproduktion eben keine
Schraubenproduktion, wie der Bund Deutscher Forstleu-
te vollkommen richtig sagt . Das sehen auch breite Teile
der Gesellschaft so . Gerade aus Sicht einer nachhaltigen
Waldbewirtschaftung macht die Auffassung des Bun-
deskartellamtes wenig Sinn, das Wettbewerbsrecht nicht
nur auf die Vermarktung von Holz anzuwenden, sondern
auch auf die waldbaulichen und pflegerischen Maß-
nahmen auszuweiten . Damit würde Besitzerinnen und
Besitzern von Klein- und Kleinstwäldern gleichzeitig
die Möglichkeit genommen, Betreuungsaufgaben auch
staatlichen Forstämtern zu übertragen, weil dies dann als
Wettbewerbsvorteil gegenüber den privaten Forstdienst-
leitern ausgelegt werden könnte .
Der Sicht der Wettbewerbskontrolleure steht ein
breites Bündnis gegenüber, dem die Sicherung des Ge-
meinwohls bei der Waldnutzung wichtig ist und das den
gesellschaftlichen Konsens für eine nachhaltige Forst-
wirtschaft und den Erhalt einer breiten Eigentumsstreu-
ung verteidigt . Viele Waldbesitzerinnen und -besitzer,
Forstleute und deren Interessensvertretungen sowie alle
Bundestagsfraktionen sind dabei . Und auch wenn die
SPD-Fraktion sich weniger enthusiastisch einreiht, eint
uns doch die Überzeugung, dass wir als Gesellschaft eine
besondere Verantwortung für den Wald haben, die die
staatlichen Forstbehörden umsetzen .
Und weil die Holzproduktion im Ökosystem Wald
stattfindet, ist sie von natürlichen Prozessen und Wachs-
tumszyklen abhängig . Wettbewerbshüter sind aus Sicht
der Linken deshalb frühestens dann gefragt, wenn das
Holz den Wald verlassen hat . Und so wichtig die Kartell-
behörde auch für uns im Grundsatz ist: In ihrer jetzigen
Verfassung kann sie leider viele Erwartungen gar nicht
erfüllen, weil wichtige gesellschaftliche Anforderungen
wie Daseinsvorsorge oder Gemeinwohlorientierung bis-
lang nicht zu ihren Prüfkriterien gehören . Wenn wir also
das Kartellrecht stärken wollen – was die Linke seit Jah-
ren fordert –, geht es um mehr als Kapazitätsaus- und
Personalaufbau, sondern um eine Erweiterung der Kri-
terien, anhand derer „Wettbewerb“ geregelt wird . Hier
müssen noch dicke Bretter gebohrt werden, bis reale
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 21013
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Marktübermacht und unfaire Marktpraktiken wirklich
wirksam verhindert werden können .
Doch zurück zum Wald . Was nach den jahrelangen
Diskussionen kaum mehr jemand für möglich gehalten
hat, wird zumindest beim Bundeswaldgesetz doch noch
wahr: Pünktlich zum Schmücken der Weihnachtsbäume
kommt doch noch die lange angekündigte Bescherung .
In der Novelle zum Bundeswaldgesetz wird nun unmiss-
verständlich der gesetzgeberische Wille klargestellt, dass
die Landesforstbetriebe auch weiterhin als Dienstleister
für die Planung und Ausführung waldbaulicher Maßnah-
men bis hin zur Bereitstellung des Rohholzes einschließ-
lich seiner Registrierung vom Gesetz gegen Wettbe-
werbsbeschränkungen freigestellt werden . Falls es daran
jemals ernsthaften Zweifel gegeben haben sollte, werden
sie heute mit den Stimmen aller Fraktionen beantwortet .
Ich denke, damit muss man nicht auf ein Urteil vor dem
Oberlandesgericht Düsseldorf warten . Das sind wir übri-
gens auch den Forstleuten schuldig, denn damit nehmen
wir das Damoklesschwert weg, das nun einige Jahre über
ihnen schwebte .
Als Linke verweise ich aber auch auf ein besonders
wichtiges Argument: Wir wollen, dass niemand seinen
oder ihren Klein- oder Kleinstprivatwald verkaufen
muss, weil eine forstliche Betreuung nicht verfüg- oder
nicht bezahlbar ist . Und wir wollen eine Wahlfreiheit
zwischen öffentlicher Betreuung und privaten Dienstleis-
tern, die ja beide dazu beitragen, dass Holzreserven im
Klein- und Kleinstprivatwald mobilisiert werden, was ja
wichtig ist .
Aber es geht nicht, die Kosten für hoheitliche Aufga-
ben der öffentlichen Hand zu übertragen und die Einnah-
men aus Betreuungsaufgaben ausschließlich zu privati-
sieren . Deshalb stimmt die Linke dem Gesetzentwurf zu .
Harald Ebner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Nach
zweieinhalb Jahren Hängepartie schafft es die Bundes-
regierung jetzt doch noch, ein Bäumchen auf den Ga-
bentisch zu legen . Das Kartellamt hat dagegen den Wald
vor lauter Bäumen oder „Holzwachstumselementen“ gar
nicht mehr gesehen .
Hoffen wir, dass die heutige längst überfällige recht-
liche Klarstellung den Blick aufs Wesentliche und das
große Ganze schärft: den Wald als Ökosystem und Wirt-
schaftsraum . Denn unsere Wälder sind keine Holzlager
oder Plantagen, die nur der Produktion von Holz dienen,
wie es offensichtlich das Bundeskartellamt sieht .
Der Wald hat viele weitere Funktionen für das Ge-
meinwohl – vom Artenerhalt über Luftreinhaltung bis
hin zur Naherholung . Wir müssen unsere Wälder wider-
standsfähiger gegen die Folgen des Klimawandels ma-
chen . Die Markierung und Auszeichnung der Bäume ist
zentraler Bestandteil des ökologischen Waldumbaus und
damit Kernaufgabe der Forstämter . Die Auffassung, die
Baumauszeichnung sei Teil der Holzvermarktung, geht
an der Praxis der nachhaltigen Waldbewirtschaftung völ-
lig vorbei . Das Bundeskartellamt hat einen Scheuklap-
penblick eingenommen, der allein auf die maximale
Holz ausbeute zielt und unvereinbar mit einer nachhal-
tigen und gemeinwohlorientierten Waldbewirtschaftung
ist . Dieser realitätsfremde Ansatz und zugleich die starr-
köpfige Haltung der Wettbewerbsbehörde haben jeden
Kompromiss mit dem Land Baden-Württemberg unmög-
lich gemacht und zu einem unnötigen Gerichtsverfahren
geführt .
Die heutige Änderung des Bundeswaldgesetzes ist
überfällig und wurde von vielen Akteuren der Holzwirt-
schaft aus Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Nord-
rhein-Westfalen, Hessen und anderen Bundesländern
lange angemahnt und erwartet: Die Mitarbeiter der Forst-
verwaltungen, waldbesitzende Kommunen, Menschen
mit Kleinprivatbesitz, Umweltverbände, sie alle erwar-
ten Planungssicherheit und dass bewährte Strukturen
und Dienstleistungsangebote nicht ohne Not zerschlagen
werden . Auch die Sägeindustrie hat ihre Mäkelei bereut
und sich am Ende auf die Vorteile dieses Systems beson-
nen, weil es eine effektive Holzmobilisierung auch aus
dem Privat- und Kommunalwald sicherstellt . Nun hat die
Zeit der Ungewissheit hoffentlich ein Ende .
Wir alle mussten sehr lange auf die Lösung dieses Pro-
blems warten . Bereits vor zwei Jahren lagen ein Gesetz-
entwurf des Bundeslandwirtschaftsministeriums und ein
Antrag meiner Fraktion zur Änderung des Bundeswald-
gesetzes vor . Bei der Beratung unseres Antrages im Ple-
num im März 2015 wurde seitens der Union so getan, als
sei das Problem schon so gut wie gelöst, da man längst
an der Gesetzesänderung arbeite und über konkrete For-
mulierungsvorschläge dafür verfüge . Alle Informationen
unseres Antrages seien bereits bekannt und „umfassend
diskutiert“ worden . Unser Antrag sei daher „absolut
überflüssig“, so Kollege Alois Rainer.
Kollegin Kordula Kovac behauptete sogar, unser An-
trag käme zu spät und man bräuchte keine „Nachhilfe
von der Opposition“ . Jedes noch so schwache Argument
war der Union damals recht, um trotz völliger inhaltli-
cher Übereinstimmung in der Sache unseren Antrag ab-
zulehnen . Die Verschleppung des Problems über zwei
Jahre durch die Bundesregierung zeigt jedoch, wie ge-
rechtfertigt unser Antrag war .
Warum die Ressorteinigung so lange gedauert hat, ist
weder für mich noch für die vielen Betroffenen nachvoll-
ziehbar . Gerade bei der SPD-Kollegin Crone erstaunt
mich doch, wie stark sie in dieser Frage immer wieder
kartellrechtliche Bedenken betont hat, während SPD-Vi-
zekanzler Gabriel sich bei seiner Ministererlaubnis für
die Fusion von Edeka mit Kaiser’s Tengelmann ohne
Skrupel über die Position der Kartellrechtsbehörden hin-
weggesetzt hat und dies mit Arbeitsplatzsicherung be-
gründet hat .
Jeder Tag der letzten zwei Jahre, an dem nichts pas-
siert ist, war ein verlorener Tag für die Wälder Deutsch-
lands . Jetzt immerhin erfolgt die überfällige, notwen-
dige und auch plausible rechtliche Klarstellung, dass
die Entscheidung über die Struktur unserer Wälder, die
Baumartzusammensetzung, Naturnähe und ökologische
Funktion nicht der Holzvermarktung zugerechnet wer-
den kann und sich daher kartellrechtlichen Erwägungen
künftig entzieht .
Leider gilt für die heute beschlossene Form der Geset-
zesänderung noch nicht einmal der Spruch „Was lange
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201621014
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währt, wird endlich gut!“, denn es sind zwei Schwach-
stellen in das Gesetz eingebaut . Erstens ist regelmäßige
Überprüfung vorgeschrieben, welche die Berechtigung
des Gesetzes alle paar Jahre neu in Zweifel zieht . Zwei-
tens wird das Gesetz in Zukunft abhängig von der Gnade
des Bundeswirtschaftsministeriums sein . Das heißt: Die
heutige Änderung steht regelmäßig wieder auf der Kip-
pe . Für eine Branche, die für ihre Ziele, Maßnahmen und
Entscheidungen in Generationen statt Dreijahreszyklen
denkt, sind das keine beruhigenden Aussichten . Echte
Planungssicherheit sieht anders aus . Daher sollten wir
die Überprüfung alle drei Jahre wieder aus dem Gesetz
streichen .
Unser Wald steht vor großen Herausforderungen: Die
Klimakrise bringt mehr Trockenheit und neue Schädlin-
ge . Stickstoffemissionen überdüngen nach wie vor den
Waldboden . Der gestiegene Holzbedarf und zukünftig
steigende Anforderungen für die stoffliche und energeti-
sche Holznutzung bergen die Gefahr einer Übernutzung
des Waldes – umso mehr, als Kriterien für eine gute fach-
liche Praxis im Waldgesetz immer noch fehlen .
Zugleich gibt es nur wenige Waldflächen mit sehr al-
ten Bäumen und Totholzstämmen, auf die viele stark be-
drohte heimische Tierarten zum Überleben angewiesen
sind . Oft zu hohe Rotwildbestände verursachen starken
Wildverbiss an Jungbäumen und gefährden den notwen-
digen Waldumbau .
Es warten also noch viele Baustellen auf eine Lösung .
Daher sollten wir uns mittelfristig nicht mit der heutigen
Miniänderung des Waldgesetzes zufriedengeben .
Anlage 18
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Kreislaufwirtschaftsgesetzes (Tages-
ordnungspunkt 20)
Dr. Thomas Gebhart (CDU/CSU): Wir beraten heu-
te abschließend das Zweite Gesetz zur Änderung des
Kreislaufwirtschaftsgesetzes . Zum wesentlichen Inhalt:
Bei der Änderung des Kreislaufwirtschaftsgesetzes geht
es um die Streichung der sogenannten Heizwertklausel
aus dem Gesetz . Was hat es mit dieser Klausel auf sich?
Sie besagt, dass die Verbrennung eines Abfalles gleich-
wertig mit seiner stofflichen Verwertung ist, wenn er ei-
nen relativ hohen Heizwert hat, in dem Fall von mindes-
tens 11 000 Kilojoule pro Kilo Abfall . Diese Klausel war
bereits zu Beginn ihrer Einführung in das Kreislaufwirt-
schaftsgesetz im Juli 2012 als Übergangslösung gedacht .
Bis Ende 2016 sollte es eine Überprüfung geben . Hinter-
grund dafür ist die im Gesetz formulierte EU-rechtlich
vorgegebene Abfallhierarchie aus fünf Stufen . Darin ist
geregelt, wie mit Abfällen grundsätzlich umgegangen
werden soll, also von oben nach unten: Vermeidung,
Wiederverwendung, Recycling usw .
Zum Umsetzungskonzept der fünfstufigen Abfallhie-
rarchie gehörte damals als Auffangregelung die Heizwert-
klausel . Nach der Prüfung von Bundesumweltministe-
rium und Umweltbundesamt ist klar: Der Heizwert ist
nicht länger erforderlich für die effiziente Umsetzung der
Abfallhierarchie . Um diese ordnungsgemäß umzusetzen,
wird nun die Heizwertklausel aus dem Kreislaufwirt-
schaftsgesetz gestrichen .
Abschließend zu diesem Punkt möchte ich sagen:
Mit der Streichung der Heizwertklausel setzen wir eine
EU-Vorgabe um . Mit dem geänderten Kreislaufwirt-
schaftsgesetz wird die fünfstufige Abfallhierarchie in
Gang gesetzt und kann ihre Wirkung entfalten . Sie ist ein
wesentlicher Baustein für einen gestärkten Kreislaufwirt-
schaftsgedanken und für mehr Effizienz beim Ressour-
cenverbrauch .
Zum anderen beraten wir heute eine Änderung des
Elektro- und Elektronikgerätegesetzes . Wir wollen, dass
möglichst viele Elektrogeräte, die nicht mehr gebraucht
werden, getrennt gesammelt, wieder zurückgenommen
und möglichst recycelt werden . Damit wollen wir errei-
chen, dass möglichst viele Rohstoffe zurückgewonnen
werden und Stoffkreisläufe geschlossen werden .
Das Elektrogesetz regelt bestimmte Rücknahme-
pflichten von alten Elektrogeräten für Händler. Seit Juli
gilt: Es gibt eine Rücknahmepflicht von Händlern mit
einer Verkaufsfläche von mehr als 400 Quadratmetern.
Kauft jemand ein neues Gerät, kann er im Gegenzug sein
altes artgleiches Gerät im Geschäft zurückgeben . Kleine
Altgeräte mit weniger als 25 Zentimetern Kantenlänge
müssen auch dann zurückgenommen werden, wenn kein
neues Gerät gekauft wird, und zwar unabhängig davon,
ob das entsprechende Gerät bei diesem Händler gekauft
wurde . Ihren alten Toaster oder ihr altes Telefon, von dem
Sie vielleicht gar nicht mehr wissen, wann und wo Sie es
gekauft haben, können Sie also bei Saturn, Karstadt und
anderen größeren Geschäften abgeben . Die Rücknahme-
pflicht gilt auch für Versandhändler wie Amazon und Co.
und auch Händler, die zusätzlich zum Ladengeschäft ei-
nen Onlineversand betreiben wie Cyberport usw .
Wir wollen heute bei diesem Gesetz nachjustieren,
und zwar vor allem mit Blick auf den Vollzug des Ge-
setzes . Wir wollen zum einen Klarheit . Im Sinne der
Gerechtigkeit wird ein Ordnungswidrigkeitentatbestand
aufgenommen . Ein Bußgeld soll all diejenigen Händ-
ler schützen, die sich rechtstreu verhalten . Wir wollen
vorbeugen, dass einige Marktteilnehmer benachteiligt
werden, weil andere sich einen unrechtmäßigen Wettbe-
werbsvorteil verschaffen . Es geht um faire Bedingungen
im Wettbewerb .
Zum anderen geht es darum, die Rücknahmepflicht zu
konkretisieren . Künftig ist die Rücknahme in den Fällen,
in denen kein neues Gerät gekauft wird, auf fünf Altge-
räte pro Geräteart beschränkt . Dies soll die Umsetzung
erleichtern und Rechtssicherheit schaffen .
Am Ende soll das Elektrogesetz seine Wirkung voll
entfalten können mit dem Ziel, mehr Elektroaltgeräte
dem Recycling zuzuführen, ganz im Sinne einer gestärk-
ten Kreislaufwirtschaft .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 21015
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Michael Thews (SPD): Zentrales Anliegen unserer
Abfallpolitik ist es, Abfälle zu vermeiden, wiederzuver-
wenden oder optimal zu verwerten, um unsere natürli-
chen Ressourcen zu schonen. Dabei ist die fünfstufige
Abfallhierarchie, das Kernelement der europäischen
Abfallrahmenrichtlinie, einzuhalten, die der stofflichen
grundsätzlichen Vorrang vor der energetischen Verwer-
tung gibt . Nach bisherigem deutschem Recht galt je-
doch für bestimmte Abfälle eine Gleichrangigkeit von
stofflicher und energetischer Verwertung, und zwar bei
einem Heizwert des Abfalls von 11 000 Kilojoule pro
Kilogramm . Diese sogenannte Heizwertklausel wird
nun durch das Zweite Gesetz zur Änderung des Kreis-
laufwirtschaftsgesetzes, das wir hier abschließend be-
raten, gestrichen . Diese Klausel war von Anfang an ein
deutscher Sonderweg, und sie war immer nur als Über-
gangslösung gedacht . Es war also absehbar, dass eine
Änderung des Gesetzes notwendig wird, zumal auch die
Europäische Kommission in der Heizwertklausel eine
nicht hinreichende Umsetzung der Abfallhierarchie kri-
tisiert hat . Durch den Wegfall der Heizwertklausel wird
die Kreislaufwirtschaft noch konsequenter auf das Recy-
cling ausgerichtet .
Die SPD hat sich immer für diesen Vorrang der stoffli-
chen Verwertung ausgesprochen . Denn wir wissen, dass
die Ressourcen auf unserer Erde begrenzt sind und ge-
schützt werden müssen . Da jedoch auch die energetische
Verwertung ihre Daseinsberechtigung hat, haben wir uns
in Deutschland auch auf die technische Verbesserung
moderner Anlagen mit einer leistungsfähigen Rauchgas-
reinigung und Wärmenutzung konzentriert . Ich sage das
deshalb, weil es immer noch viele Länder in Europa gibt,
die weder energetisch noch stofflich verwerten, sondern
einen großen Teil ihrer Abfälle deponieren . Das ist in je-
dem Fall der schlechtere Weg .
Auch wenn die Umsetzung des Gesetzes einen Um-
stellungsaufwand verursacht, halte ich sie für unum-
gänglich für die Umwelt, den Ressourcenschutz und die
Konkurrenzfähigkeit unserer Recyclingwirtschaft . Neue
Anforderungen an die Abfallwirtschaft führen nämlich
auch zu technologischem Fortschritt, und das ist wichtig;
denn wir wollen Technologieführer in der Kreislaufwirt-
schaft bleiben .
Wir nutzen die Änderung des Kreislaufwirtschaftsge-
setzes außerdem für eine Nachschärfung des Elektroalt-
gerätegesetzes, das wir 2015 novelliert haben . Seit dem
Sommer dieses Jahres ist der Handel in bestimmten Fäl-
len verpflichtet, Elektroaltgeräte von Verbraucherinnen
und Verbrauchern zurückzunehmen . Damit haben wir
die Rückgabe für die Verbraucherinnen und Verbraucher
erleichtert und erhoffen uns zugleich, dass so auch die
Rückgabequoten steigen . Denn wir haben in den nächs-
ten Jahren hier ambitionierte Recyclingquoten zu erfül-
len .
Leider hat sich in den letzten Monaten gezeigt, dass
einige Unternehmen ihrer Pflicht nicht nachgekommen
sind . Um schwarzen Schafen, die sich dieser verbrau-
cherfreundlichen und bürgernahen Lösung entziehen und
sich dadurch womöglich noch einen Wettbewerbsvorteil
verschaffen, beikommen zu können, haben die Koaliti-
onsfraktionen einen entsprechenden Bußgeldtatbestand
in das Gesetz aufgenommen .
Die Streichung der Heizwertklausel und die Aufnah-
me eines Bußgeldtatbestandes sind vielleicht nur kleine
Bausteine im großen Themenbereich Abfallpolitik . Aber
sie sind bedeutsam, um die unnötige Inanspruchnahme
von Rohstoffen zu verringern und die Kreislaufwirtschaft
immer effizienter zu machen.
Ralph Lenkert (DIE LINKE): Durch die sogenannte
Heizwertklausel des Kreislaufwirtschaftsgesetzes konn-
ten über Jahre hinweg hunderttausende Tonnen von Wert-
stoffen verbrannt werden, die man viel besser stofflich
recycelt hätte . Alles, was wir verbrennen, ist unwiderruf-
lich als Stoff verloren und muss neu gefördert und herge-
stellt werden . Lange war es zwar nicht möglich, Kunst-
stoffe sinnvoll stofflich zu verwerten, aber die Technik
hat da wesentliche Verbesserungen gemacht . Im Interes-
se der Ressourceneffizienz stimmen wir deshalb diesem
Gesetzentwurf zu, für den es – wieder einmal – erst eines
Vertragsverletzungsverfahrens der EU bedurfte .
Was die Bundesregierung leider weiterhin mit diesem
Gesetzentwurf nicht bearbeitet, ist die Frage der Mit-
verbrennung . Anders als bei Müllverbrennungsanlagen
und trotz der Verlautbarungen der Anlagenbetreiber über
größte Sicherheit bei hohen Verbrennungstemperaturen,
langer Verweildauer der Abfälle in der Verbrennung und
Ausfiltern von Schwermetallen und toxischen Gasen gibt
es dafür keine Überwachung . Bei der Mitverbrennung
werden die Temperaturen nicht verpflichtend überwacht,
und ebenso fehlt es an Schadstoffüberwachungen . Das
hätte man im Zuge der Gesetzesänderung gleich mit re-
geln können . Dass das nicht gemacht wurde, ist schade .
Da hier mit dem Gesetzentwurf aber zumindest keine
Verschlechterung eintreten wird, stimmen wir trotzdem
zu .
Mit dem Änderungsantrag der Koalition soll nunmehr
festgelegt werden, was eine haushaltsübliche Menge ist .
Eine „haushaltsübliche Menge“ bei der Rücknahme von
Elektrogeräten bis 25 Zentimetern in Einzelhandelsge-
schäften ist demnach also konkret fünf Stück . Auch diese
Klarstellung begrüßen wir wie die Einstufung einer nicht
ordentlich durchgeführten Rücknahme als Ordnungswid-
rigkeitstatbestand . Es gibt jedoch sicherlich eine Vielzahl
elektrischer Geräte, die deutlich größer als 25 Zentimeter
sind; viele Tablets haben beispielsweise längere Aus-
maße als diese 25 Zentimeter, weshalb uns diese Rege-
lung auch heute noch ein wenig willkürlich daherkommt .
Gänzlich unbeantwortet bleibt dabei auch die Frage, ob
die Längenangabe nun mit eingerolltem oder mit ausge-
rolltem Kabel erfolgt . Die Linke hätte es als sinnvoller
erachtet, hier Produktgruppen zu definieren. Im Übrigen
könnte man sich derartige Konkretisierungen, auch die
der haushaltsüblichen Mengen, sparen, wenn man ein
vernünftiges Pfandsystem für Elektrogeräte etablieren
würde, wie es Die Linke seit Jahren vorschlägt . Das wür-
de dann in der Praxis nicht dazu führen, dass sich die
elektrischen Altgeräte in den Haushalten stapeln, auch
weil eines davon vielleicht 25,5 Zentimeter groß ist und
zum Wertstoffhof anstatt ins Geschäft gebracht werden
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201621016
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muss, sondern dass die Geräte zeitnah dem Ressourcen-
kreislauf zurückgeführt werden können .
Sie sehen, dass das Elektrogerätegesetz weiter eine
Baustelle ist, und wenn man dann schon einmal dabei ist,
könnte man das Verbot von festverbauten Akkus gleich
wieder in das ElektroG schreiben, wie es dort einmal
drinstand, bevor es von der Koalition herausnovelliert
wurde . Damit würden Bundesregierung und Koalition
einen Schritt gegen vorzeitigen Geräteverschleiß gehen,
und es fallen weniger Geräte an, die mit einem Maßband
beim Händler auf Rücknahmepflicht geprüft werden
müssen . Die Baustelle ElektroG bietet viel Potenzial für
weitere, direkte Gesetzesinitiativen anstatt – wie jetzt – in
Form eines Änderungsantrages kurz vor der Ausschuss-
sitzung als Anhängsel an ein völlig anderes Gesetz . Die
Linke unterstützt Sie dabei gern .
Peter Meiwald (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
mit dem vorgelegten Gesetzentwurf angestrebten Än-
derungen hinsichtlich der Heizwertklausel begrüße ich
ausdrücklich . Angesichts des Trauerspiels um das Ver-
packungsgesetz müssen wir ja froh sein, dass überhaupt
noch Regierungshandeln im Bereich Abfallpolitik statt-
findet.
Denn bei der Umsetzung des Kreislaufwirtschaftsge-
setzes in einem Wertstoffgesetz ist diese Bundesregie-
rung krachend gescheitert . Nun soll es ein verballhorntes
Verpackungsgesetz geben, das aber auch immer noch
nicht vorliegt . Doch die Kritik an den Entwürfen kommt
aus allen Ecken . Sogar das Bundeskartellamt teilt zum
Beispiel unsere Position hinsichtlich der Zentralen Stel-
le . So hat sich Kartellamtspräsident Andreas Mundt deut-
lich gegen eine privatrechtliche Organisation und für ein
staatliches Kontrollorgan ausgesprochen . Dies sollte der
Bundesregierung zu denken geben .
Man kann die Bundesregierung nur auffordern, endlich
ihre eigenen Gesetze ernst zu nehmen, die Abfallhierar-
chie zu befolgen und in den Entwurf für ein Verpackungs-
gesetz auch die Mehrwegquote wieder aufzunehmen, die
sie selbst ohne Not gestrichen hat . Ich fordere Sie auf,
diesen Bärendienst für die Umwelt und die Kapitulation
vor der Einweglobby rückgängig zu machen . Entwickeln
Sie das Einwegpfand zu einer ökologischen Lenkungs-
abgabe auf Einwegverpackungen weiter . Weiten Sie
die Pfandpflicht auf die Getränkesegmente Fruchtsäfte,
Fruchtnektare, Gemüsesäfte und Gemüsenektare aus . Le-
gen Sie gesetzlich eine klare Unterscheidung von „Ein-
weg“ und „Mehrweg“ auf der Getränkeverpackung fest .
Handeln Sie im Sinne der Umwelt und der Verbraucher .
Trotz der vorweihnachtlichen Stimmung in dieser Jahres-
zeit: Verteilen sie keine Geschenke an die Einweglobby .
Doch zurück zum Kreislaufwirtschaftsgesetz . Ich
kann nur sagen, dass der vorliegende Entwurf mehr als
überfällig ist, gerade auch vor dem Hintergrund, dass
die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen
bereits bei der Einführung des Kreislaufwirtschaftsge-
setzes 2012 auf die nicht europarechtskonforme Kon-
struktion bezüglich der sogenannten Heizwertklausel
hingewiesen hat . Denn die damals im Kreislaufwirt-
schaftsgesetz festgelegte Gleichrangigkeit von energe-
tischer Verwertung und stofflichem Recycling steht der
fünfstufigen Abfallhierarchie der Abfallrahmenrichtlinie
der EU entgegen . Abfallvermeidung, Wiederverwendung
und stoffliches Recycling sind der energetischen Verwer-
tung mit gutem Grund vorgelagert . Dies sollte sich auch
im Kreislaufwirtschaftsgesetz deutlich widerspiegeln .
Ich begrüße daher die jetzt erfolgende rechtliche Klar-
stellung .
Auch der Änderungsantrag zum ElektroG, die Rück-
nahme von alten Elektrogeräten nicht an den Kauf eines
neuen Gerätes zu knüpfen, dient der rechtlichen Klarstel-
lung . Leider legt der Wortlaut „auf Verlangen des Endnut-
zers“ nahe, dass es für den Handel keine Verantwortung
gibt, offensiv auf das Rücknahmeangebot hinzuweisen .
Allerdings würden leicht sichtbare Informationen im
Markt und auf der Website es den Kunden erleichtern,
den Service der Rücknahme anzunehmen . Den Handel
zu einem proaktiveren Verhalten anzuregen, wäre wün-
schenswert gewesen .
Dass manche Marktteilnehmer die im ElektroG fest-
gelegte Rücknahme von Elektronikaltgeräten verweigern
oder diese nur bei Kauf von Neuware zurücknehmen, ist
nicht hinnehmbar und widerspricht der Kreislaufwirt-
schaft und dem Konzept der Nachhaltigkeit .
Auch macht die Art und Weise, wie bestimmte Markt-
teilnehmer agieren, leider ein erhebliches Ordnungsgeld
notwendig . Wir hätten uns gewünscht, dass dies nicht
notwendig gewesen wäre .
Dennoch stimmen wir dem Gesetzentwurf zu .
Florian Pronold, Parl . Staatssekretär bei der Bun-
desministerin für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-
sicherheit: Der Ihnen vorliegende Entwurf des Zweiten
Gesetzes zur Änderung des Kreislaufwirtschaftsgesetzes
betrifft die Aufhebung der Heizwertregelung und damit
das Verhältnis zwischen der stofflichen und der energe-
tischen Verwertung von Abfällen . Zwar enthält das Än-
derungsgesetz nur eine einzige Regelung, deren Wirkung
ist jedoch weitreichend .
Mit dem Kreislaufwirtschaftsgesetz von 2012 und der
Einführung der fünfstufigen Abfallhierarchie ist uns der
Einstieg in eine stärker auf den Ressourcenschutz zuge-
schnittene Kreislaufwirtschaft gelungen . Die bis dahin
geltende Drei-Stufen-Hierarchie „Vermeiden, Verwerten
und Beseitigen“ wurde auf der Stufe der Verwertung wei-
ter ausdifferenziert. Die stoffliche Verwertung, insbeson-
dere das Recycling, hat nun grundsätzlich Vorrang vor
der bis dahin gleichrangigen energetischen Verwertung .
Gerade hierdurch konnte die neue Abfallhierarchie wich-
tige und nachhaltige Impulse für die Kreislaufwirtschaft
setzen .
Allerdings war eine solch weitreichende Umstellung
der Abfallwirtschaft nicht ohne Übergangsregelungen
zu erreichen . Dabei waren auch neue bürokratische
Belastungen der Abfallerzeuger und Behörden zu be-
achten . Hierfür bot die Heizwertregelung eine praktika-
ble Übergangslösung . Sie legt für den Fall, dass keine
verordnungsrechtliche Regelung existiert, fest, dass die
energetische Verwertung als gleichrangig zur stofflichen
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 21017
(A) (C)
(B) (D)
Verwertung anzusehen ist, wenn der Heizwert des ein-
zelnen Abfalls besonders hoch ist, nämlich mindestens
11 000 Kilojoule pro Kilogramm beträgt .
Die Bundesregierung hatte bis Ende dieses Jahres zu
untersuchen, ob diese Übergangsregelung ökologisch
und ökonomisch noch erforderlich ist . Wie Sie dem Ge-
setzentwurf entnehmen können, ist die Bundesregierung
auf der Grundlage eines breit angelegten Forschungs-
vorhabens zu dem Ergebnis gekommen, dass die Auf-
hebung der Heizwertreglung sachgerecht ist . Nach dem
Forschungsvorhaben hat die Aufhebung der Heizwertre-
gelung für 13 der 19 untersuchten Abfallströme keine
Auswirkungen . Bei den übrigen sechs Abfallströmen,
namentlich den Gewerbeabfällen, dem Sperrmüll, dem
Klärschlamm, den Altreifen, den nicht mineralischen
Bau- und Abbruchabfällen und den gefährlichen Abfäl-
len aus der chemischen Industrie, werden Auswirkungen
erwartet, die im Gesetzentwurf detailliert beschrieben
sind .
Bei den genannten Stoffströmen ist allerdings zu be-
rücksichtigen, dass bereits im Rechtssetzungsverfahren
befindliche Spezialverordnungen, wie die heute eben-
falls zu beratende Gewerbeabfallverordnung oder die im
nächsten Jahr zu verabschiedende Klärschlammverord-
nung, die Vorgaben der Abfallhierarchie so konkretisie-
ren, dass die Heizwertregelung ohnehin verdrängt würde .
Zum anderen wird der Wegfall der Heizwertregelung in
vielen Fällen, etwa bei Altreifen oder Sperrmüll, auch zur
intendierten, stärkeren Lenkung der Abfälle in Richtung
Recycling führen .
Besonders betroffen von der Aufhebung der Heizwert-
regelung ist allerdings die chemische Industrie mit ihren
sehr heterogen gefährlichen Abfällen . Aufgrund der ho-
hen Schadstoffrisiken gibt es bei Anwendung der Abfall-
hierarchie jedoch wichtige ökologische Gründe, die die
energetische Verwertung dieser Abfälle mit Blick auf den
Schutz von Mensch und Umwelt weiterhin rechtfertigen .
Die Umsetzung der Abfallhierarchie stellt alle Betrof-
fenen vor große Herausforderungen . Wir werden daher
gemeinsam mit den Ländern für die Anwendung der Ab-
fallhierarchie, insbesondere für den Bereich der gefährli-
chen Abfälle, Vollzugshinweise entwickeln . Die Arbeiten
hierzu sind im Bundesumweltministerium bereits ange-
laufen und werden rechtzeitig zum Inkrafttreten des Ge-
setzes Mitte nächsten Jahres abgeschlossen sein .
Lassen Sie mich abschließend noch ein Wort zu dem
im Rahmen der Ausschussberatungen eingebrachten
Änderungsantrag sagen . Dieser betrifft das Elektro- und
Elektronikgerätegesetz und wird von der Bundesregie-
rung unterstützt . Ziel des Änderungsantrages ist es, einen
Bußgeldtatbestand gegen sich bei der Rücknahme von
Elektroaltgeräten rechtswidrig verhaltende Vertreiber
einzuführen . Damit sollen die Schaffung eines dichten
Sammelnetzes vorangebracht und die sich rechtskonform
verhaltenden Vertreiber geschützt werden .
Die vorgelegte Novelle und auch der Änderungsan-
trag zum ElektroG werden die ressourcenschutzorien-
tierte Kreislaufwirtschaft weiter voranbringen . Ich bitte
daher um Ihre Zustimmung zum Gesetzentwurf der Bun-
desregierung in der vom Umweltausschuss geänderten
Fassung .
Anlage 19
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz,
Bau und Reaktorsicherheit zu der Verordnung der
Bundesregierung: Verordnung über die Bewirt-
schaftung von gewerblichen Siedlungsabfällen
und von bestimmten Bau- und Abbruchabfällen
(Gewerbeabfallverordnung – GewAbfV) (Tages-
ordnungspunkt 21)
Artur Auernhammer (CDU/CSU): „Müll bleibt
Müll, auch wenn man ihm immer wieder eine Abfuhr er-
teilt . Es bleibt ein menschliches Problem“, erklärte schon
der Anthropologe Aurelius de Montblanc . Man muss
nicht Landwirt sein, um zu wissen, dass die Müllproduk-
tion eine menschliche Erfindung ist. In Flora und Fauna
gibt es diese Form des unbrauchbaren, unverwertbaren
und zweckfreien Abfalls nicht . Dort herrscht ein perfekt
geschlossener Kreislauf . Diesen Kreislauf haben wir in
Deutschland – in beispielhafter Weise – für unseren an-
fallenden Abfall versucht zu adaptieren . Abfalltrennung,
Sortenreinheit, Recycling, Wiederverwertung, all das
sind Begriffe, die das uns bekannte Abfallsystem prägen
und über unseren reinen Sprachgebrauch in neue Verhal-
tensweisen mündeten .
Wie selbstverständlich wachsen heute unsere Kin-
der auf und achten auf eine wertstoffgerechte Trennung
des Abfalls . Doch das war – wir können uns alle daran
erinnern – nicht immer der Fall . Recycling war einmal
unpopulär . Heute ist es unspektakuläre Routine unseres
Alltags . Viele Menschen aller Generationen in unserem
Land leben den bekannten Grundsatz „Vermeidung vor
Verwertung vor Beseitigung“, wobei immer der umwelt-
verträglicheren Möglichkeit der Vorzug gegeben wird .
Unser deutsches Abfallrecht normierte bislang einen
relativen Gleichrang der stofflichen und energetischen
Verwertung; dies ist nunmehr weggefallen . Inzwischen
haben wir alle erkannt, dass Müll eben auch nicht nur
eine energetische Komponente aufweist und die ökono-
mische Bedeutung durch den zu erzielenden Heizwert
bemessen wird . Abfälle sind längst von unbrauchbaren
Stoffen oder Gegenständen, derer sich ihr Besitzer ent-
ledigt, entledigen will oder entledigen muss – Abfall-Le-
gal-Definition nach § 3 Kreislaufwirtschaftsgesetz –, zu
einem „Wert-Stoff“ aufgewertet worden . Die Zukunft
wird zeigen, dass zum Beispiel die erfolgreichen bayeri-
schen Wertstoffhöfe und die vielerorts gelungenen kom-
munal organisierten Abfallentsorgungssysteme die Roh-
stoffquellen unseres Landes im 21 . Jahrhundert werden .
Ich begrüße daher die gesellschaftlichen Zielvereinba-
rungen im Umgang mit dem Abfall, die jüngst durch die
neuere EU-Richtlinie 2008/98/EG modernisiert wurden,
in dem sie den bekannten Dreiklang „Vermeidung vor
Verwertung vor Beseitigung“ erweitert und präzisiert .
https://de.wikipedia.org/wiki/Richtlinie_(EU)
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201621018
(A) (C)
(B) (D)
An erster Stelle der nunmehr fünfstufigen Abfallhierar-
chie bleibt die Abfallvermeidung als rohstoffschonendste
Form bestehen, gefolgt von der Vorbereitung zur Wieder-
verwendung, dem Recycling und der sonstigen Verwer-
tung, die in stofflicher und energetischer Form erfolgen
kann . An letzter Stelle steht weiterhin die – in unserem
Land im geringen Maße erforderliche, aber mitunter teil-
weise unabweisliche – Abfallbeseitigung .
Ein deutscher Durchschnittsbürger verursachte im
Jahre 2014 618 Kilogramm Müll . Angesichts dieser im-
mensen Masse ist es erfreulich, dass wir das Augenmerk
auf Müllvermeidung lenken . Müllvermeidung ist die Kö-
nigsdisziplin . Dazu gehört auch, dass wir uns neben der
angemessenen Verpackungsart und Verpackungsgröße
mit wichtigen Fragen der Haltbarkeit und Langlebigkeit
von Gebrauchsgütern befassen . Ich will Ihnen das ganz
einfach vorrechnen: Wenn ein Toaster nicht bereits nach
fünf Jahren defekt geht, sondern erst nach 20 Jahren sei-
ne Funktion einstellt, „entziehen“ wir dem Abfallkreis-
lauf – in positiver Weise – Müll, weil es ihn nicht gibt,
weil er nicht entsteht .
Es gibt technische Grenzen der Haltbarkeit, und es
gibt Gründe, die für eine Begrenzung der Funktionsdauer
sprechen . Dafür kann man Verständnis aufbringen . Res-
sourcenschonend ist es aber gerade nicht, wenn Geräte
mit einer Software ausgestattet werden, welche die Le-
bensdauer von – zumeist elektronischen – Geräten nach
einer bestimmten Dauer automatisch und unbegründet
ablaufen lassen . Das klassische Beispiel kennen Sie viel-
leicht sogar aus eigenem Erleben – ein Drucker . Viele
Drucker haben ein verstecktes Zählwerk eingebaut, das
dem Gerät nach Druck einer bestimmten Anzahl von
Blättern signalisiert, dauerhaft abzuschalten . Der Kunde
erkennt dies am Display oftmals durch eine nicht über-
windbare Error-Anzeige .
Sie erkennen, dass dieser Weg der umfassenderen
Müllvermeidung nicht ohne Industrie wird erfolgen kön-
nen . Und es ist zu vermuten, dass wir auf lange Sicht ein-
sehen, dass an dieser Stelle eine freiwillige Verpflichtung
nicht ausreichen wird . Denn solange die Verpackungs-
größen in keinem angemessenen Verhältnis zum befüll-
ten Inhalt der Verpackung stehen und ausschließlich dem
Marketinggedanken und der Umsatzzahlenoptimierung
unterliegen, statt dem Umweltschutz durch Abfallver-
meidung den Vorzug zu gegeben, entzieht sich ein großes
Potenzial zur Müllvermeidung dem Einflussbereich der
Verbraucherinnen und Verbraucher . Hier müssen Indus-
trie und Handel mitarbeiten .
Ein Beitrag, den die Verbraucher jedoch leisten kön-
nen, ist die Reduzierung von Lebensmittelabfällen, in-
dem zum einen bewusster eingekauft wird, zum anderen
das Mindesthaltbarkeitsdatum als ein solches und nicht
als Verfallsdatum verstanden wird . Auf Initiative der da-
maligen Bundesministerin Ilse Aigner ist die Kampagne
„Zu gut für die Tonne“ gestartet, die genau für diesen
Aspekt wirbt . Es ist auch nötig; denn über 12 Prozent der
von uns täglich, wöchentlich gekauften Lebensmittel lan-
den immer noch im Müll . Hier kann Vermeidung Abhilfe
leisten . Das oberste Ziel ist die Müllvermeidung .
Doch der Müll, der nicht vermieden wurde, bedarf
einer Trennung und Sortierung . Mit 47 Prozent weist
Deutschland die höchste Recyclingquote aller EU-Mit-
gliedstaaten auf; der EU-Durchschnitt liegt vergleichs-
weise bei 28 Prozent . In Anerkennung dieses Erfolges
gebührt vor allem den kommunalen Abfallwirtschaftsbe-
trieben unser Dank . Sie sind es, die zuverlässig die Vo-
raussetzungen für hochwertiges Recycling schaffen und
unsere wertvollen Rohstoffe bergen .
Die Lebenswirklichkeit der eben angerissenen Er-
folgsgeschichte des Entsorgungswegs des Abfalls lässt
uns aber wissen, dass im Bereich der Beseitigung nicht
privater Siedlungsabfälle und von bestimmten Bau- und
Abbruchabfällen nicht alle Entsorgungswege als ord-
nungsgemäß eingestuft werden können; einige sind ge-
meinwohlunverträglich und schadhaft . Ursächlich sind
nicht die Entsorger, sondern die Abfallerzeuger . Das
Problem ist, dass eine nicht bekannte Anzahl stofflich
oder energetisch verwertbarer Abfälle und zu beseiti-
gender Abfälle – Deponierung – in unzulässiger Weise
entweder nicht getrennt oder nicht vollständig getrennt
gelagert werden und im Ergebnis diese „gemischten Ab-
fälle“ als „zur Verwertung“ deklarierte Abfälle dem Ent-
sorgungskreislauf – energetische Verwertung oder Sor-
tieranlage – zugeführt werden . Da landet Bauschutt mit
Eisenträgern und Kunststoffpanelen in einem Container,
wenngleich die Abfallerfassung getrennt erfolgte . Diese
Vermischung der verwertbaren Materialien mit Störstof-
fen schließt von vornherein eine hochwertige Verwertung
aus . Die Sortieranlage kann dann nur in einem sehr ge-
ringen Prozentsatz die Stoffe verwerten, und muss den
größeren – ursprünglich zu beseitigenden Abfall – einer
Deponie zuführen . Dies beeinträchtigt öffentlich-rechtli-
che Entsorgungsträger .
Diese sogenannte Scheinverwertung will die uns heu-
te vorliegende Verordnung der Bundesregierung unter-
binden . Ziel ist eine schadlose und umweltverträgliche
Verwertung der gewerblichen Siedlungsabfälle und von
bestimmten Bau- und Abbruchabfällen . Die Verordnung
konkretisiert die Anforderungen für die Getrennthaltung
von Abfällen, deren Vorbehandlung und die erforderliche
Kontrolle . Gerade Letzteres ist eine gleichsam erforder-
liche wie zu begrüßende Nachbesserung dieser Verord-
nung. Wer gegen Umsetzungsdefizite vorgehen will –
das gilt im Umweltbereich genauso wie in jeder anderen
Branche –, ohne eine erhöhte Kontrolldichte festzulegen,
kann sich nicht eines Erfolges sicher sein . Aber genau
das ist unser Ziel .
Das Kontrollnetz sieht neben einem zu führenden Be-
triebstagebuch die behördliche Fremdkontrolle vor . Da-
bei werden die Betriebsaufzeichnungen geprüft . Halb-
jährlich erfolgt zudem die Kontrolle der Einhaltung der
rechtlich normierten Verfahrensschritte, die unter ande-
rem eine getrennte Störstofferfassung vorsieht . Im ersten
Schritt werden auch regelmäßige Eigenkontrollen gefor-
dert, deren Ergebnisse dokumentiert und behördlich kon-
trolliert werden . Die Abfallerzeuger und Abfallbesitzer
müssen künftig auch durch Maßnahmen für eine höhere
Sortenreinheit im getrennten Erfassen sorgen . Dies ist zu
begrüßen, da es die Recyclingquote steigert und die Ver-
wertbarkeit erhöht .
https://de.wikipedia.org/wiki/Abfallvermeidung
https://de.wikipedia.org/wiki/Wiederverwendung
https://de.wikipedia.org/wiki/Wiederverwendung
https://de.wikipedia.org/wiki/Recycling
https://de.wikipedia.org/wiki/Verwertung
https://de.wikipedia.org/wiki/Verwertung
https://de.wikipedia.org/wiki/Abfallbeseitigung
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 21019
(A) (C)
(B) (D)
Die Verordnung wird insgesamt der steigenden Be-
deutung von metallischen und mineralischen Abfällen
und Abfällen aus Glas gerecht . Die Einbringung in die
energetische Verwertung von gemischten gewerblichen
Siedlungsabfällen, die diese Stoffe enthalten, ist för-
derhin unzulässig . Zukünftig werden auch im Bau- und
Abbruchgewerbe getrennt anfallende Abfälle getrennt
gesammelt und gelagert . Besonders die Fraktionen Glas,
Kunststoffe, Beton und Metalle sollen hierbei erfasst
werden . Genau mit diesen Maßnahmen schützen wir un-
sere „heimischen Rohstoffe“ und werden einen immer
spürbarer werdenden Beitrag für die Rohstoffverfügbar-
keit in unserem Land leisten .
Ein wichtiger Punkt für mich setzt jedoch weit vor der
erforderlichen Kontrollinstanz an . Denn Kontrollen wer-
den erst ab dem Punkt notwendig, an dem Müll entsteht
und dem Recyclingverfahren zugeführt werden muss .
Der erste und bedeutendste Punkt bleibt auch bei nicht
privaten (Sieglungs-)Abfällen die Müllvermeidung . So
wichtig überprüfbare und gut durchdachte Mechanismen
für die getrennte Erfassung von Materialen an den Ab-
fall-Anfallstellen sind: Die Reduzierung des anfallenden
gewerblichen Siedlungsmülls und von bestimmten Bau-
und Abbruchabfällen muss oberstes Ziel sein . Es sind die
Abfallerzeuger, die ich in der Plicht sehe, alle Maßnah-
men, die ihnen zur Verfügung stehen, zu ergreifen, zur
aktiven Abfallvermeidung beizutragen . Denn besser als
gut getrennter und recycelter Abfall ist kein Abfall – das
fordert uns Verbraucher wie die Industrie gleichermaßen .
Diese Verordnung ist ein weiterer guter Schritt in der
Erfolgsgeschichte der deutschen Abfallwirtschaft . Diese
dient dem Abfall, der Kreislaufwirtschaft der Rohstoffe,
uns Bürgern und der Umwelt .
Dr. Thomas Gebhart (CDU/CSU): Wir beraten heu-
te eine Novelle zur Gewerbeabfallverordnung . Worum
geht es? Wie der Name bereits andeutet, geht es um alle
Abfälle, die im Gewerbe anfallen und entsorgt werden
müssen . Wir reden von großen Abfallmengen . Insofern
ist es bemerkenswert, dass in den letzten Monaten in der
Debatte die Gewerbeabfallverordnung eine vergleichs-
weise geringe Rolle gespielt hat, obwohl es sich um
große Abfallströme handelt . Hingegen gab es intensivste
Debatten über ein Wertstoff- bzw . Verpackungsgesetz,
obwohl die Abfallmengen, um die es dabei ging, wesent-
lich geringer sind .
Wir reden allein über 6 Millionen Tonnen gemischte
gewerbliche Siedlungsabfälle, die jedes Jahr anfallen,
und wir reden beispielsweise über 51 Millionen Tonnen
Bauschutt . Die Herausforderung ist: Von diesen erhebli-
chen Mengen könnten deutlich mehr stofflich wiederver-
wertet, also recycelt werden . Beim gemischten Gewer-
beabfall geht heute der größte Teil mehr oder weniger
direkt in die Verbrennung . Anteilsmäßig sind das nach
aktuelleren Untersuchungen rund 90 Prozent . Nur rund
7 Prozent wurden „stofflich verwertet“, also recycelt.
Auch bei den Bau- und Abbruchabfällen, also den Bau-
stellenabfällen, bestehen Potenziale .
Wir wollen, dass möglichst viele Abfälle stofflich
verwertet werden . Unser Ziel ist es, die Stoffkreisläufe
zu schließen und die Kreislaufwirtschaft weiter voran-
zubringen . Die Wertstoffe, die in den großen Mengen
des Gewerbeabfalls liegen, müssen herausgetrennt und
recycelt werden . Um diese Ziele zu erreichen, werden für
das Gewerbe Regelungen zur Abfalltrennung geschaffen .
Für die gemischten Abfälle gibt es eine Vorbehandlungs-
pflicht. Dazu kommen anspruchsvollere Quoten bei der
Vorbehandlung für Sortierung und Recycling . Bei den
gewerblichen Siedlungsabfällen sieht das in der Praxis
so aus, dass jeder Gewerbetreibende grundsätzlich ver-
pflichtet ist, seinen Abfall zu trennen und einer Aufbe-
reitung bzw . dem Recycling zuzuführen . Die Abfall-
trennung betrifft zusätzlich zu Papier und Pappe, Glas,
Kunststoffe und Metall im Wesentlichen nun auch Holz,
Textilien sowie Bioabfälle .
Klar ist, dass nicht jedes Unternehmen in der Lage
ist, in so viele Fraktionen zu trennen . Darum begrüße ich
sehr, dass gerade für Kleinunternehmen Ausnahmen ge-
schaffen wurden . Wem es technisch nicht möglich oder
wem es wirtschaftlich nicht zumutbar ist, seinen Abfall
wie dargestellt zu trennen, der ist von der Trennpflicht
befreit . Ähnliches gilt für den Architekten oder den
Rechtsanwalt . Hier gilt eine entsprechende Kleinmen-
genregelung, die ihn vom Trennen seiner Abfälle befreit .
Gleichwohl: Auch der Kleinunternehmer und jeder, der
nicht trennen muss, muss seinen Abfall grundsätzlich ei-
ner Vorbehandlungsanlage zuführen . Ich begrüße zudem
die Regelung, wonach einem Unternehmen mit einer
Trennung von 90 Prozent seines Abfalls die Vorbehand-
lungspflicht für die restlichen 10 Prozent erlassen wird.
Mit der vorgelegten Novelle zur Gewerbeabfallver-
ordnung machen wir einen wesentlichen Schritt in Rich-
tung Nachhaltigkeit . Weniger Abfälle als bisher werden
verbrannt, mehr Abfälle als bisher werden recycelt . Mehr
Wertstoffe als bisher werden den Abfällen entnommen,
mehr Ressourcen werden geschont . Stoffkreisläufe wer-
den geschlossen . Unser Ziel war es, eine Gewerbeabfall-
verordnung auf den Weg zu bringen, die aus Umwelt-
schutzgesichtspunkten genauso wie aus ökonomischen
Gesichtspunkten Sinn macht . Uns war es besonders
wichtig, möglichst unbürokratische und praxisnahe Lö-
sungen zu finden. Ich denke, dass uns dies gelungen ist.
Michael Thews (SPD): Für die meisten Akteure der
Kreislaufwirtschaft, auch für uns Berichterstatter, lag das
Hauptaugenmerk in dieser Legislaturperiode auf der Ein-
führung eines Wertstoffgesetzes . Um dieses Gesetz wur-
de ausgesprochen kontrovers diskutiert, insbesondere um
die Frage der Organisationsverantwortung . Letztlich ist
es an der Unvereinbarkeit der Positionen gescheitert .
Laut Gutachten für das Planspiel zur Einführung einer
Wertstofftonne sollten durch eine gemeinsame Wertstoff-
sammlung in den privaten Haushalten 570 000 Tonnen
Abfall pro Jahr mehr gesammelt werden . Schaut man
sich dagegen die weitaus größeren Sammelmengen aus
gemischten gewerblichen Siedlungs- sowie Bau- und
Abbruchabfällen an, wundert man sich etwas, dass dieser
Abfallstrom und die dazugehörige Gewerbeabfallverord-
nung bisher vergleichsweise leise in der Öffentlichkeit
behandelt worden ist .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201621020
(A) (C)
(B) (D)
In Deutschland fallen jährlich rund 6 Millionen Ton-
nen gemischte Gewerbeabfälle an, und zwar in einem
breiten Spektrum an Betrieben; denn die kleine Kneipe
in der Altstadt ist von der Verordnung genauso betroffen
wie der Industriebetrieb mit einer eigenen Stabsstelle für
Abfall und 1 000 Mitarbeitern . Die Verordnung wird cir-
ca 3,6 Millionen Betriebe in Deutschland betreffen, da-
von 3,5 Millionen Klein- und Kleinstbetriebe .
Die Erfolge der bisherigen Trennungs- und Recy-
clingpraxis sind trotz jetzt schon geltendem Getrennthal-
tungsgebot allerdings eher mau . Es wurden nur 45 Pro-
zent der gemischten gewerblichen Siedlungsabfälle in
Sortieranlagen aufbereitet; 50 Prozent gingen direkt in
die Verbrennung . Andere Studien kommen in ihren Be-
rechnungen sogar dazu, dass insgesamt 90 Prozent des
gemischten gewerblichen Siedlungsabfalles entweder
direkt oder nach Sortierung verbrannt bzw . energetisch
verwertet werden . Letztendlich wurden nur rund 7 Pro-
zent der insgesamt anfallenden gemischten Gewerbeab-
fälle stofflich verwertet. Dieses brachliegende Potenzial
müssen wir dringend nutzen!
Angesichts endlicher natürlicher Rohstoffe können
wir es uns als Gesellschaft nicht leisten, auf diese gro-
ßen Mengen an Sekundärrohstoffen zu verzichten . Durch
das Recycling von Abfällen lassen sich im Vergleich zur
Gewinnung von primären Rohstoffen große Mengen an
Energie, CO2 und Rohstoffen einsparen – besonders be-
deutsam ist hier das Recycling von Metallen wie etwa
Stahl oder Kupfer . Dazu kommt, dass die Gewinnung
von Primärrohstoffen oft mit schwerwiegenden ökolo-
gischen und manchmal auch sozialen Folgen verbunden
ist . Darüber hinaus müssen wir uns als rohstoffarmes
Land unabhängiger von Rohstoffimporten machen. Die
Stärkung und der Ausbau der Kreislaufwirtschaft, um
die Wirtschafts- und Produktionsweisen in Deutschland
schrittweise von Primärrohstoffen unabhängiger zu ma-
chen, finden sich auch als eine von vier Leitideen im
Deutschen Ressourceneffizienzprogramm „ProgRess II“
wieder . Auch dürfen wir die Kreislaufwirtschaft als Job-
motor nicht unterschätzen . Neue Arbeitsplätze entstehen
in den Unternehmen der Kreislaufwirtschaft selbst, aber
auch im deutschen Maschinenbau .
Deutschland ist Vorreiter bei der Abfalltrennung und
beim Recycling . Dies zeigt sich jährlich auf der welt-
weit größten Messe für Kreislaufwirtschaft und Entsor-
gung, der IFAT, in München . Deutschland ist aber auch
Technologieführer bei den Verfahren für Trennung und
Recycling. Wenn wir mehr stoffliches Recycling wollen,
müssen wir auch sicherstellen, dass in entsprechende
moderne Anlagentechnik investiert wird . Weltweit tun
das inzwischen viele Länder; sie steigen aktiver in diese
Bereiche ein, schauen nach Deutschland und orientieren
sich an uns . Schon allein deswegen müssen wir hier vo-
rangehen und dürfen uns nicht auf unseren Lorbeeren
ausruhen . Ich bin überzeugt, dass die in dieser Novelle
vorgegebene Recyclingquote für Betreiber von Vorbe-
handlungsanlagen von mindestens 30 Masseprozent bei
den Gemischen, die in einer Vorbehandlungsanlage an-
kommen, realistisch ist und gleichzeitig für einen Inves-
titionsschub sorgen wird . Diese Quote wird spätestens
Ende 2020 evaluiert und gegebenenfalls an den bis dahin
weiterentwickelten Stand der Technik angepasst .
Es geht bei der Gewerbeabfallverordnung nicht nur
um die zu geringe Nutzung des Potenzials dieses gro-
ßen Stoffstroms. Ausgehend von der fünfstufigen Ab-
fallhierarchie der europäischen Abfallrahmenrichtlinie
sind Änderungen des untergesetzlichen Regelwerks in
Deutschland notwendig . Nach bisherigem Recht sollte
vor allem die Ablagerung gemischter gewerblicher Sied-
lungsabfälle sowie gemischter Bau- und Abbruchabfälle
auf „Billigdeponien“ beendet und „Scheinverwertung“
verhindert werden . Die noch geltende Gewerbeabfall-
verordnung aus dem Jahr 2002 ging noch von einem
grundsätzlichen Gleichrang zwischen stofflicher und
energetischer Verwertung aus . Ein großer Teil der ge-
mischten Gewerbeabfälle und auch bestimmter Bau- und
Abbruchabfälle ging, wie erwähnt, direkt – ohne Vorbe-
handlung – in die energetische Verwertung . Vollzugs-
probleme und ein hoher Kontrollaufwand bremsten die
Verordnung bisher aus . Deshalb setzt die Novelle auch
an der Vollziehbarkeit an . Sie sieht für die Gewerbebe-
triebe vor, dass diese die Einhaltung ihrer Pflichten oder
die Gründe für Ausnahmeregelungen dokumentieren und
auf Verlangen der Behörde auch nachweisen müssen . Sie
setzt aber gleichzeitig auf einen Anreiz für die Gewer-
bebetriebe . Erfüllt ein Abfallerzeuger in einem Jahr eine
Getrenntsammelquote von mindestens 90 Prozent, dann
ist er im darauffolgenden Jahr von der Pflicht zur Vorbe-
handlung seiner Gemische befreit . Eine aus meiner Sicht
sehr sinnvolle Neuerung!
Ich begrüße die neue Gewerbeabfallverordnung aus-
drücklich . Scheinbar geht es vielen so; denn Kritik gab
und gibt es zwar bei einzelnen Punkten, grundsätzliche
Ablehnung jedoch nicht . Unsere Hauptforderungen nach
Umsetzung der fünfstufigen Abfallhierarchie und der
Beibehaltung der kommunalen Restmülltonne wurden
erfüllt . Durch anspruchsvollere Vorgaben zur Sortierung
und höhere Recyclingquoten können künftig deutlich
mehr Abfälle dem Recycling zugeführt werden .
Dass die Novelle zur Gewerbeabfallverordnung so
breite Zustimmung findet, liegt sicherlich auch daran,
dass das Bundesministerium für Umwelt und Bau bereits
vor Kabinettsbefassung mit allen Beteiligten intensiv dis-
kutiert und viele der Vorschläge und Änderungswünsche
übernommen hat . So wurden zum Beispiel auf Anregung
der Entsorgungswirtschaft die Mindestanforderungen an
die Vorbehandlungsanlagen gesenkt . Des Weiteren wur-
den Anregungen der Bauwirtschaft zur Getrennthaltung
von Bauabfällen und der Bundesländer zur Präzisierung
von Definitionen wie „technische Unmöglichkeit“ und
„wirtschaftliche Unzumutbarkeit“, berücksichtigt .
Sicherlich werden wir zukünftig prüfen müssen, ob
wir noch mehr erreichen können . Ich bin aber davon
überzeugt, dass die Novelle das Recycling im gewerbli-
chen Bereich stärkt, somit die Kreislaufwirtschaft fördert
und die Belange von Gewerbe und Industrie mit den Be-
langen des Umwelt- und Ressourcenschutzes zu einem
sachgerechten Ausgleich bringt .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 21021
(A) (C)
(B) (D)
Ralph Lenkert (DIE LINKE): Fast 6 Millionen Ton-
nen sogenannte gemischt anfallende – sprich: unsortier-
te – Gewerbeabfälle werden jedes Jahr einfach verbrannt,
obwohl in ihnen jede Menge recycelbare Wertstoffe ste-
cken . Alles, was nicht recycelt wird, muss über den Pri-
märrohstoffmarkt energie- und ressourcenaufwendig neu
geschaffen werden .
Zusätzlich zu den 6 Millionen Tonnen Gewerbeab-
fällen kommen jährlich etwa 200 Millionen Tonnen
Bau- und Abbruchabfälle . Ein Viertel davon, also rund
50 Millionen Tonnen, ist Bauschutt . Würde man diesen
vernünftig recyceln, könnte er fast komplett für neue
Bauten verwendet werden .
Müll zu sortieren, ist die Grundlage für Recycling .
Wir freuen uns, dass die Bundesregierung das nun auch
erkannt hat und nach 13 Jahren endlich die Gewerbeab-
fallverordnung überarbeitet . Leider tut sie das nur halb-
herzig . Müllsortierung beginnt beim Müllerzeuger, dem
nunmehr zwar vorgeschrieben werden soll, dass er Müll
zu trennen hat . Leider verpasst es die Bundesregierung,
konkrete Quoten festzulegen . Beim normalen Haushalts-
müll gibt es diese Quoten . Warum macht die Bundesre-
gierung beim Gewerbemüll wieder nur halbe Sachen?
Des Weiteren gibt es deutlich zu viele Ausnahmen von
der Sortierpflicht. Die Erklärungen zu genutzten Ausnah-
men sind nicht einmal verpflichtend vorzulegen, sondern
nur auf Nachfrage der Behörde . Wir alle kennen die De-
fizite im Vollzug des Umweltrechts, wegen des Personal-
mangels . Die vielgepriesene schwarze Haushaltsnull hat
über die Jahre dafür gesorgt, dass Vollzugsbehörden im
Umweltrecht oft zu wenig Personal haben, um den Ge-
setzesvollzug gewährleisten zu können . Die Linke for-
dert deshalb, dass zu jeder Änderung im Umweltrecht ein
Konzept vorgelegt wird, wie dies in der Praxis auch um-
gesetzt und kontrolliert wird . Sonst ist Missbrauch Tür
und Tor geöffnet . Wir fordern: Wenn ein Unternehmen
Abfallfraktionen nicht getrennt sammeln kann, sind die
Unterlagen der Behörde unaufgefordert vorzulegen .
Die Verordnung war eine Chance, das aktuelle Pro-
blem bei HBCD-haltigen Dämmstoffen bundeseinheit-
lich zu lösen .
Seitdem die mit dem Brandhemmer Hexabromcy-
clododecan (HBCD) versehenen Dämmstoffplatten als
Sondermüll deklariert wurden, stapeln sie sich in Zwi-
schenlagern bei den Abfallentsorgern oder bei den Ab-
bruchfirmen. Es gibt nur sehr wenige Verbrennungs-
anlagen, in denen die Platten als reine Abfallfraktion
verbrannt werden können . Die Sortierung ist aufwendig
und der Transport teuer . Anstatt die Platten sortenrein von
den gemischten Bauabfällen zu trennen und dann einen
quasi nicht existierenden Entsorgungspfad zu wählen,
sollten sie gemischten Bauabfällen einfach wie bisher
beigemischt werden . Denn als Beimischung ist die Ver-
brennung unproblematisch . So würde einerseits das ent-
haltene HBCD unschädlich gemacht und außerdem we-
niger Zusatzverbrennung nötig werden . Das thüringische
Umweltministerium beispielsweise hat das erkannt und
deswegen vorgeschlagen, alles beim Alten zu lassen . Die
Bundesregierung hätte hier schleunigst Rechtssicherheit
schaffen können . Mit einem Ausnahmetatbestand in der
Gewerbeabfallverordnung wäre das möglich gewesen .
Diese Chance hat die Bundesregierung in ihrem Entwurf
leider verpasst .
Die Linke regt an, den vorliegenden Verordnungsent-
wurf weiter zu qualifizieren. Er geht zwar grundsätzlich
in die richtige Richtung, bleibt aber hinter seinen Mög-
lichkeiten zurück . Das ist schade, denn bei aller guten In-
tention zur Einhaltung der europäischen Abfallhierarchie
erwarten wir wesentlich mehr Konsequenz und vor allem
mehr Kompetenz für die Vollzugsbehörden, ansonsten
wird sich in puncto Ressourcenschutz in der Praxis nicht
viel verändern .
Peter Meiwald (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
bestehende Gewerbeabfallverordnung ist mittlerweile
hoffnungslos veraltet und berücksichtigt kaum ökologi-
sche Ziele . Mit der Einführung der Abfallrahmenrichtlinie
und der Umsetzung im Kreislaufwirtschaftsgesetz 2012
entspricht die gültige Gewerbeabfallverordnung auch nur
noch sehr bedingt der übergeordneten Rechtslage und der
darin enthaltenen Abfallhierarchie . Die bisherige Gewer-
beabfallverordnung lässt minderwertige Verwertung,
also Verbrennung und Verfüllung, zu .
So war es den Betrieben – anders als den Bürgerinnen
und Bürgern in Privathaushalten – noch erlaubt, nicht
getrennt zu sammeln, obwohl das die Voraussetzung für
jegliche hochwertige werkstoffliche Verwertung ist. Die
Rechtslage führt dazu, dass von den jährlich anfallenden
gemischten Gewerbeabfällen mehr als 90 Prozent ver-
brannt und nur knapp 7 Prozent werkstofflich recycelt
werden . Mit der Verbrennung von Altpapier, Kunststof-
fen und anderen werthaltigen Abfällen als Ersatzbrenn-
stoff gehen wertvolle Ressourcen verloren, die an anderer
Stelle aufwendig erzeugt werden müssen . Diese Situati-
on widerspricht grundlegend dem Gedanken der Nach-
haltigkeit und dem Konzept des Ressourcenschutzes .
Laut einer Studie des Umweltbundesamtes fallen in
Deutschland im Gewerbesektor pro Jahr 3,45 Millionen
Tonnen gemischte gewerbliche Siedlungsabfälle und
rund 2,39 Millionen Tonnen Verpackungsgemische an .
Wir sprechen also über rund 6 Millionen Tonnen Gewer-
beabfälle . Angesichts dieser Menge an Gewerbeabfällen
ist es höchste Zeit, dass die Gewerbeabfallverordnung
novelliert und den ökologischen Herausforderungen an-
gepasst wird .
Was bei den Bürgerinnen und Bürgern hinsichtlich
Getrennthaltung und Sortierung seit Jahren üblich ist,
kann doch für das Gewerbe nicht unmöglich sein . Es
besteht kein logischer Grund, warum Gewerbebetriebe
Bioabfälle, Plastik, Glas, Papier und Pappe, um nur ei-
nige wenige Abfallfraktionen zu nennen, nicht getrennt
sammeln könnten .
Die Kreislaufwirtschaft ist daher auch im Bereich
der Gewerbeabfälle weiterzuentwickeln und muss dazu
das zusätzliche Recyclingpotenzial von 2,4 Millionen
Tonnen pro Jahr aus den Gewerbeabfallsammlungen für
werkstoffliches Recycling erschließen.
Unserer Auffassung nach geht der Entwurf für die
neue Gewerbeabfallverordnung zwar in die richtige
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201621022
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Richtung, allerdings fehlen in der Verordnung Aussagen,
die der Vorbereitung zur Wiederverwendung und dem
werkstofflichen Recycling einen deutlichen Vorrang ge-
genüber der energetischen Verwertung einräumen . Zu-
mindest die Ausnahmen bezüglich der Sortierquote hät-
ten abgebaut und die Unterschreitung der Sortierquote
auf bis zu 10 Prozent auf bis zu zwei Monaten des Kalen-
derjahres beschränkt werden müssen . Auch eigenständi-
ge und deutlich ambitioniertere Recyclingquoten für die
verschiedenen Abfallfraktionen wären wünschenswert
gewesen .
Am besten wäre schon heute festzulegen, dass spätes-
tens ab 2025 dynamische und selbstlernende Recycling-
quoten gelten . Dann würde sich die Höhe der zu erfül-
lenden Recyclingquoten für die Folgejahre automatisch
an den besten Recyclingergebnissen der Vorjahre orien-
tieren – Top-Runner-Mechanismus . Ohne politische In-
tervention würden sich die Quoten selbstständig an den
technischen Fortschritt in der Recyclingbranche anpas-
sen und so noch zusätzlich als ein Förderprogramm für
weitere Innovationen in der Recyclingbranche wirken .
Zu all diesen konkreten Verbesserungsvorschlägen
haben wir Grüne einen Entschließungsantrag in den Um-
weltausschuss eingebracht, um aus einer notwendigen
eine gute, angemessene Gewerbeabfallverordnung zu
machen . Diesen Anspruch müssen wir als Parlamentarier
an uns selber schon haben . Deswegen werden wir uns
heute hier zu dem vorliegenden Entwurf enthalten .
Anlage 20
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags der Fraktionen der
CDU/CSU und SPD: Trilaterale Partnerschaften
in der ASEAN-Region stärken – Deutsches Know-
how nutzen (Tagesordnungspunkt 22)
Jürgen Klimke (CDU/CSU): Die hohen Flüchtlings-
zahlen in Europa, unter anderem ausgelöst durch den
syrischen Bürgerkrieg und den Migrationsdruck in vie-
len afrikanischen Staaten, erfordern von der deutschen
Entwicklungspolitik große Anstrengungen und gezieltes
Handeln . Auch im Jahr 2017 wird das Bundesministe-
rium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-
lung (BMZ) einen starken Fokus auf unseren Nachbar-
kontinent Afrika legen . Bundesentwicklungsminister
Dr . Gerd Müller sprach in diesem Zusammenhang bereits
von einem „Marshallplan für Afrika“ .
Der heute in erster Lesung vorliegende Antrag „Tri-
laterale Partnerschaften in der ASEAN-Region stärken“
hat – wie man erkennen kann – mit Asien einen anderen
regionalen Schwerpunkt . Dies ist kein Widerspruch zur
aktuellen Strategie der Bundesregierung, sondern wie im
Matthäus-Evangelium, Kapitel 23, Vers 23, ganzheitlich
gedacht: „Man muss das eine tun, ohne das andere zu
lassen .“
Die ASEAN-Region mit ihren zehn Mitgliedstaaten
Brunei, Kambodscha, Indonesien, Laos, Malaysia, Myan-
mar, Philippinen, Singapur, Thailand und Vietnam ist ein
sehr heterogenes Gebilde mit großen Entwicklungsunter-
schieden . Über 600 Millionen Menschen leben in diesen
Ländern, die mehrheitlich Partnerländer der bilateralen
deutschen Entwicklungszusammenarbeit sind .
Damit Deutschland auch in den kommenden Jahren
als entwicklungspolitischer Akteur in der ASEAN-Regi-
on präsent sein kann – denn, wie eingangs von mir aus-
geführt, wird der Fokus deutscher Entwicklungspolitik
stärker auf dem Nahen Osten und auf Afrika liegen müs-
sen –, ist es notwendig, dass wir unser Engagement in
der ASEAN-Region auf ein breiteres Fundament stellen .
Eine Möglichkeit, dieses Ziel zu verfolgen, ist der Aus-
bau von Dreieckskooperationen . Lassen Sie mich dieses
Entwicklungsmodell kurz einordnen:
Trilaterale Kooperationen werden in der internationa-
len Entwicklungszusammenarbeit als ein Bindeglied zwi-
schen Entwicklungsländern, Schwellenländern und ent-
wickelten Ländern genutzt . Sie eignen sich insbesondere
für die projektbezogene Zusammenarbeit mehrerer Ak-
teure . Die Evaluierung von Dreieckskooperationen zeigt
aber auch, dass trilaterale Kooperationen in Abstimmung
einen hohen Verwaltungsaufwand verursachen können .
Dies sollte vor Nutzung des Instruments in die Erwägung
Eingang finden. Bei der Situation in Südostasien, die der
Antrag in erster Linie anspricht, liegen jedoch günstige
Voraussetzungen für trilaterale Kooperation vor .
Deutschland hat aktuell mit Thailand, Malaysia und
Indonesien trilaterale Kooperationen vereinbart, die je-
weils einen weiteren regionalen Partner einbeziehen .
Diese Maßnahmen fördern nicht nur lokale Entwicklun-
gen, sondern tragen auch zum Harmonisierungs- und In-
tegrationsprozess innerhalb der ASEAN-Region bei .
Und die Grundlagen für den Ausbau dieses Entwick-
lungsmodells sind vorhanden; denn viele ASEAN-Staa-
ten verfügen über entwicklungspolitische Institutionen,
die sich im Wesentlichen auf die ärmeren Nachbarn aus-
richten .
Doch obwohl Dreieckskooperationen für alle Partner
Vorteile hätten, wird dieses Instrument in der Praxis bis-
her nur wenig eingesetzt . Mit dem vorliegenden Antrag
wollen die Entwicklungspolitiker der Koalition darauf
hinwirken, dass die richtigen entwicklungspolitischen
Weichenstellungen vorgenommen werden .
Von den positiven Effekten trilateraler Kooperationen
konnte ich mich auf meinen Besuchen entwicklungspo-
litischer Projekte in der ASEAN-Region mehrfach selbst
überzeugen . Ich habe nach Gesprächen mit lokalen Pro-
jektverantwortlichen den Eindruck mitgenommen, dass
Schwellenländer sehr am Know-how über die Förderung
von Grenzregionen interessiert sind .
Das Beispiel Thailand zeigt: Mit Thailands wirtschaft-
licher und gesellschaftlicher Entwicklung der vergange-
nen Jahrzehnte wandelte es sich zu einem Schwellenland
und damit auch die Zusammenarbeit mit Deutschland .
Aus der bilateralen Zusammenarbeit entwickelten sich
seit 2009 trilaterale Kooperationen, in denen Thailand
und Deutschland in dritten Ländern Südostasiens ge-
meinsam Projekte in der Entwicklungszusammenarbeit
umsetzen . Dazu gehören Initiativen im Grenzgebiet zu
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 21023
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Laos oder Kambodscha, die positive Auswirkungen auf
den Lebensstandard der Menschen vor Ort haben .
Wünschenswert wäre es, wenn diese Erfolge zukünf-
tig auch auf Regionen in der ASEAN-Region ausstrahlen
könnten, die bisher noch nicht in trilateralen Projekten
berücksichtigt sind . So sehe ich beispielsweise ähnliche
Entwicklungsherausforderungen in der Grenzregion zwi-
schen Thailand und Myanmar . Diese Region war lange
Zeit stark vom Drogenanbau betroffen . Durch einen in-
tensiven Strukturwandel konnte die Region in jüngerer
Vergangenheit zu einem Teeanbaugebiet entwickelt und
einige nachhaltige Ansätze im Bereich Tourismus etab-
liert werden . Aber: Die Reduzierung des Drogenanbaus
in den letzten Jahren konnte nicht verhindern, dass sich
die Region in jüngerer Vergangenheit zu einem großen
Handelsplatz für synthetische Drogen entwickelt hat, die
von dort in ganz Südostasien verbreitet werden . Dies hat
auch Auswirkungen auf die Drogenmärkte in Europa und
Nordamerika . Neue trilaterale Projekte in dieser Region
könnten aus meiner Sicht ein Beitrag Deutschlands sein,
lokale und bilateral erzielte Verbesserungen aufzugreifen
und mithilfe eines breiteren Bündnisses fortzuführen .
Der Blick auf die Zahlen verdeutlicht es: Trilatera-
le Kooperationen im Gebiet der ASEAN-Staaten sind
durchaus ausbaufähig . Das vereinbarte Gesamtauftrags-
volumen dieser Projekte zwischen Deutschland und
Thailand beträgt 8,3 Millionen Euro und läuft bis De-
zember 2017 . Thailand ist damit der wichtigste Partner
bei dieser Art Umsetzungsvorhaben . Zum Vergleich:
Mit Malaysia ist ein Gesamtvolumen von rund 3 Milli-
onen Euro vereinbart, mit Indonesien ein Volumen von
700 000 Euro .
Lassen Sie mich deshalb nochmals eine Lanze für die-
ses Modell der Entwicklungszusammenarbeit brechen:
Dreieckskooperationen sind in vielen Sektoren realisier-
bar und stellen das deutsche Entwicklungsengagement
auf ein breiteres Fundament . Der vorliegende Antrag soll
dieses Ansinnen unterstützen und Deutschland in einer
der dynamischsten Wirtschaftsregionen der Welt am Ball
halten . Deshalb sollen folgende Aspekte im Fokus des
politischen Handelns stehen:
– Die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten von trilateralen
Kooperation in der ASEAN-Region sollen geprüft und
die Effizienz zukünftiger Maßnahmen gesteigert wer-
den .
– Bestehende Dreieckskooperationen sollen fortgesetzt
werden, wenn dadurch Synergieeffekte zu erzielen
sind .
– Dreieckskooperationen sollen verstärkt als Instrument
genutzt werden, um international anerkannte Stan-
dards in Projekten der Entwicklungszusammenarbeit
einzuhalten .
– Neue Felder für trilaterale Kooperation sollen gefun-
den werden, die insbesondere im Hinblick auf die Um-
setzung der UN-Nachhaltigkeitsziele (SDG) sinnvoll
sind .
– Die Privatwirtschaft soll bei zukünftigen Dreiecks-
kooperationen verstärkt miteinbezogen werden .
– Es sollen gezielt nachhaltige Projekte initiiert werden,
die in Sektoren liegen, die bisher noch nicht im Be-
reich der Dreieckskooperationen vertreten sind .
Und:
– Das gewonnene Fachwissen aus Dreieckskooperation
soll für Dritte nutzbar und zugänglich sein . Das heißt:
Evaluierung durch das DEval soll ein höherer Stellen-
wert zukommen .
Mit dem heute vorliegenden Antrag greift die Koaliti-
on das 2015 vorgestellte Asien-Papier des BMZ auf und
geht den darin vorgezeichneten Weg konsequent weiter .
In dem Positionspapier mit dem Titel „Asiens Dynamik
nutzen“ heißt es:
Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit mit
Asien wird in den kommenden Jahren mit den Part-
nerländern, in multilateralen Organisationen wie
der Weltbank, der asiatischen Entwicklungsbank
(ADB), der Europäischen Union … in der Zusam-
menarbeit mit regionalen Zusammenschlüssen wie
der … ASEAN … die folgenden Chancen und He-
rausforderungen adressieren:
den verstärkten Dialog mit den globalen Entwicklungs-
partnern, die soziale und ökologische Gestaltung der asi-
atischen Marktwirtschaften, den Schutz von Klima und
Biodiversität sowie die Bekämpfung von Konflikt- und
Fluchtursachen .
Deshalb lassen Sie uns durch die Nutzung deutschen
Know-hows bei der Umsetzung trilateraler Partnerschaf-
ten die Vorhaben unserer Entwicklungszusammenarbeit
in der ASEAN-Region zu einem Erfolg machen .
Tobias Zech (CDU/CSU): Über die Länder der
ASEAN-Region – Brunei, Indonesien, Kambodscha,
Laos, Malaysia, Myanmar, Philippinen, Singapur, Thai-
land und Vietnam – hören wir nicht jeden Tag in den Me-
dien . Obwohl die Mitgliedstaaten seit der Gründung der
ASEAN-Wirtschaftsgemeinschaft im Dezember 2015
starke wirtschaftliche und politische Partner der EU –
und damit auch Deutschlands – sind .
Zwar befindet sich die Region nicht in unserer direk-
ten Nachbarschaft, trotzdem dürfen wir sie nicht ver-
nachlässigen und ihre Rolle unterschätzen .
Wir kümmern uns um die Auseinandersetzungen im
Nahen Osten – das ist gut so –, aber gleichzeitig müssen
wir in der Lage sein, andere Weltregionen nicht aus den
Augen zu verlieren . Wir müssen alle größeren Krisen un-
ter Beobachtung halten . Die Bemühungen der Bundesre-
gierung in den letzten Jahren zeigen den politischen Wil-
len zu einem verantwortungsvollen Krisenmanagement .
Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit ist auf der
ganzen Welt mittlerweile ein Begriff, eine Marke, gewor-
den . Wir haben in den vergangenen Jahrzehnten gezeigt,
was deutsches Engagement bewirken kann .
Das Instrument, das wir in unserem Antrag fordern,
ist in der Entwicklungszusammenarbeit bereits seit den
1980er-Jahren bekannt . Die trilaterale Kooperation ist
eine erfolgreiche und nachhaltige Methode, um Hilfe zur
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201621024
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Selbsthilfe zu fördern, in Bereichen wie der beruflichen
Bildung, dem Klimaschutz, der ländlichen Entwicklung,
der Corporate Social Responsibility – generell zur Unter-
stützung der auf Hilfe angewiesenen Länder .
Deutschland unterstützt zusammen mit einem wirt-
schaftlich stärkeren Land in der Region einen Staat, der
wirtschaftlich schwächer ist . Diese Zusammenarbeit
beschleunigt zeitgleich die wirtschaftliche Entwicklung
und die Integration in der Region . Die wirtschaftliche und
politische Stabilität nutzt nicht nur den fortgeschrittenen
Ländern der ASEAN-Region, sondern auch Europa .
Es gibt bereits gute Beispiele der Kooperation die-
ser Art: Deutschland und Malaysia führen seit 2011 mit
Kambodscha und Timor-Leste gemeinsame Maßnahmen
durch . Aber auch die indonesisch-deutsche trilaterale Zu-
sammenarbeit mit Myanmar zeigte gute Ergebnisse .
Die derzeitige Unsicherheit bezüglich des Transpa-
zifischen Handelsabkommens (TPP) seitens der Verei-
nigten Staaten schafft ein Vakuum, von dem vor allem
China profitiert. Das Land nutzt die aktuelle Situation,
sein Einfluss wird immer größer. Für fast alle Länder der
ASEAN-Region ist China der wichtigste Handelspartner .
Eine andere Partnerschaft, das Regional Compre-
hensive Economic Partnership (RCEP), rückt so in den
Vordergrund . Auch im Hinblick auf den Streit um Inseln
im Südchinesischen Meer droht eine Eskalation mit Rüs-
tungswettlauf und Veränderung des Status quo . Infolge
dieser Ereignisse fürchtet die Mehrheit der asiatischen
Länder ein zunehmendes strategisches Ungleichgewicht
in der Region .
Die Europäische Union muss sich ihrer Rolle bewusst
sein . Sie muss sich mit den zur Verfügung stehenden Mit-
teln dafür einsetzen, in der Region weiterhin präsent zu
bleiben . Die Stabilität muss sichergestellt werden – wir
können die Länder nicht in Unsicherheit lassen . Wir müs-
sen sie unterstützen, damit sie sich selbst helfen können .
Deutschland geht mit den Dreieckskooperationen mit
einem guten Beispiel voran . Wir übernehmen mehr Ver-
antwortung in der Welt . Aber wir müssen auch die ande-
ren Mitgliedstaaten der EU einbeziehen .
Die Europäische Union braucht eine gemeinsame Vi-
sion, wir müssen uns neu aufstellen . Auf neue Herausfor-
derungen müssen wir neue Antworten geben .
Unsere gemeinsame Außenpolitik muss unter den
Mitgliedsländern der EU abgestimmt werden . Wir dür-
fen nicht so lange warten, bis in dem Vakuum, das die
Vereinigten Staaten mit ihrer Außenpolitik in der Region
hinterlassen, kein Platz mehr für Europa, für Deutschland
bleibt . Wenn wir uns jetzt zurückziehen und die schwä-
cheren Länder der Region nicht unterstützen, werden wir
später nicht mehr die Möglichkeit haben, dies nachzu-
holen .
Die Entwicklung der Region muss vorangetrieben
werden . Die strategische Partnerschaft mit den Ländern
muss gewährleistet werden .
Um nachhaltige Ergebnisse zu erreichen, lehrt diese
Konstellation die Länder, eigene Verantwortung zu über-
nehmen und ihr Schicksaal selber in die Hand zu nehmen .
Deutschland leistet eine hervorragende Arbeit; die
muss zukünftig unterstützt werden .
Stefan Rebmann (SPD): Im vergangenen Jahr wur-
de die Wirtschaftsgemeinschaft ASEAN Economic Com-
munity (AEC) gegründet . Rund 630 Millionen Menschen
leben in den Mitgliedstaaten der Association of South-
East Asian Nations (ASEAN) . Mit rund 2,3 Billionen
US-Dollar an erwirtschaftetem Bruttoinlandsprodukt
(BIP) pro Jahr reichen die ASEAN-Mitgliedstaaten fast
an die Wirtschaftsleistung Großbritanniens, der sechst-
größten Volkswirtschaft der Welt, heran . Prognosen ge-
hen davon aus, dass sich das Wirtschaftswachstum der
ASEAN bis 2030 auf 10 Billionen US-Dollar vergrößert .
Aber nicht nur das beeindruckende Wirtschaftswachs-
tum macht die ASEAN zu einer wichtigen Partnerin im
asiatischen Raum . Als Staatenbündnis hat sie sich den
Menschenrechten sowie den Grundsätzen von Demo-
kratie und Rechtsstaatlichkeit verschrieben (ASEAN
Charta 2007) . Auch wenn sich die Integrationsprozesse
sehr unterscheiden, wird die ASEAN oft mit der Europä-
ischen Union verglichen .
Unter ihrem Dach haben sich Staaten unterschiedli-
cher Kulturen, Religionen und Sprachen, unterschiedli-
cher Regierungsformen und unterschiedlicher Entwick-
lungen zusammengeschlossen . Während beispielsweise
Singapur im Index der menschlichen Entwicklung (HDI)
auf Platz 11 liegt, liegt Kambodscha auf Platz 143 von
188 . Oder einfacher gesagt: Während Singapur boomt,
leben beispielsweise in Laos immer noch 23,3 Prozent
der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze .
Die ASEAN-Mitgliedstaaten haben ein großes Interesse,
dieses Development Gap zu schließen, und sind daher an
deutschen Erfahrungen in der Entwicklungszusammen-
arbeit interessiert . Vermehrte trilaterale Kooperationen
im südostasiatischen Raum können ein Mittel sein, Ent-
wicklung zu fördern und die Unterschiede zwischen den
Staaten zu verringern .
Eine trilaterale Partnerschaft besteht aus einem tradi-
tionellen Geberland, einem Schwellenland als weiterem
Geberland und einem Entwicklungsland als Nehmerland .
Aus dieser Konstellation ergibt sich eine besondere Form
des Wissenstransfers, und zwar für alle Beteiligten . Die
trilaterale Partnerschaft bricht somit die traditionellen
Geber-Nehmer-Strukturen auf und ermöglicht ein ge-
meinschaftliches Arbeiten auf Augenhöhe . Das Instru-
ment wird in der deutschen Entwicklungszusammenar-
beit bereits seit circa 30 Jahren eingesetzt und hat sich
bewährt . Deshalb ist es wünschenswert, dass bestehen-
de Dreieckskooperationen mit ASEAN-Mitgliedstaaten
weiter ausgebaut werden und, wo noch nicht vorhanden,
neue Kooperationen aufgebaut werden .
Eine besondere Herausforderung, die unter anderem
aufgrund der großen wirtschaftlichen Unterschiede zwi-
schen den ASEAN-Mitgliedstaaten besteht, sind men-
schenunwürdige Arbeitsbedingungen und Menschen-
rechtsverletzungen . So werden immer wieder Fälle von
Zwangsarbeit auf thailändischen Fischfangkuttern be-
kannt . Daher ist bei Maßnahmen der trilateralen Partner-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 21025
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schaft darauf zu achten, dass Menschenrechts-, Sozial-
und Umweltstandards eingehalten und gefördert werden .
Durch den Ausbau der trilateralen Partnerschaften im
südostasiatischen Raum werden Strukturen im Sinne des
UN-Nachhaltigkeitsziels 17 – „global partnerships for
sustainable development“ – geschaffen, die eine Ent-
wicklungszusammenarbeit auf Augenhöhe fördern und
die Nord-Süd- und Süd-Süd-Bindung stärken . Dieser
Antrag ist ein erster Schritt dazu .
Niema Movassat (DIE LINKE): In der deutschen
Entwicklungszusammenarbeit finden trilaterale Partner-
schaften bis heute zu wenig Beachtung . Dabei birgt die
gezielte Zusammenarbeit zwischen einem etablierten Ge-
berland, einem Schwellen- und einem Entwicklungsland
großes Potenzial . Länder wie Indien oder China kämpfen
bis heute trotz großer Entwicklungsschritte vor allem in
ländlichen Regionen immer noch mit mangelnder Basis-
infrastruktur . Oft fehlt es großen Teilen der Bevölkerung
an Zugang zu Strom, fließendem Wasser und Verkehrs-
wegen, aber auch zu Schulen und Krankenhäusern .
Wo es im globalen Sünden am Gemeinwohl der ei-
genen Bevölkerung interessierte Regierungen gibt,
sammelt man die besten Erfahrungen in konkreter Ent-
wicklungspolitik . In den Industriestaaten ausgebildete
Top-Experten mögen hochqualifizierte Studienabschlüs-
se vorweisen – haben aber in der Geschichte der Entwick-
lungszusammenarbeit in zahllosen Projekten bewiesen,
dass ihre Konzepte den harten Praxistest im Alltag vieler
Entwicklungsländer nicht bestehen . Mit Entwicklungs-
und Schwellenländern gemeinsam geplante, finanzierte
und implementierte Kooperationsprojekte hingegen ha-
ben den Vorteil, sich meist bereits in der Realität bewährt
zu haben . Deshalb sind sie unter Umständen nicht nur
wirkungsvoller als herkömmliche Entwicklungspartner-
schaften, sondern tragen auch in besonderem Maße zu
mehr „Augenhöhe“ in der Entwicklungspolitik bei, weil
sie die eigenen Erfahrungen der Länder des Südens be-
sonders berücksichtigen .
Es ist deshalb richtig, dass der vorliegende Antrag
der Regierungskoalition eine Evaluierung der bisheri-
gen Dreieckskooperationen mit deutscher Beteiligung
fordert . Es ist ebenso richtig, zu fordern, neue trilate-
rale Partnerschaften in strategisch wichtigen Bereichen
aufzunehmen, wenn sich dadurch entwicklungspoliti-
sche Synergieeffekte erzielen lassen . Insgesamt wirkt
der Antrag jedoch seltsam unausgegoren und beliebig
zusammengestückelt . Der Abschnitt über Drogenanbau
im Grenzgebiet zwischen Thailand, Laos und Myanmar
etwa fügt sich nicht in den restlichen Text ein und lässt
den Leser ratlos zurück, auch weil sich dieser Aspekt im
Forderungsteil nirgends wiederfindet.
Die ASEAN-Gruppe besteht heute aus Thailand, In-
donesien, Malaysia, den Philippinen, Singapur, Brunei,
Vietnam, Myanmar, Laos sowie Kambodscha und um-
fasst rund 600 Millionen Einwohner . Ohne Zweifel sind
die Unterschiede bei den Lebensbedingungen zwischen
etwa Malaysia und Myanmar gewaltig, und das prädesti-
niert die Region für trilaterale Partnerschaften . Dennoch
stellt sich sehr die Frage, warum der vorliegende Antrag
in weiten Teilen ausschließlich auf die ASEAN-Staaten
fokussiert . Trilaterale Entwicklungszusammenarbeit
kann auch in anderen Weltregionen sinnvoll sein .
Besonders großes Potenzial hätte zum Beispiel ein
trilaterales Abkommen im Gesundheitsbereich zwischen
der Bundesrepublik, Kuba und den von Ebola heimge-
suchten Ländern Afrikas . Die Notwendigkeit des Auf-
baus kostenloser Basisgesundheitssysteme ist nach ein-
helliger Expertenmeinung eine der Hauptlehren aus der
Krise . Kein anderes Land weltweit hat größere Erfah-
rungen darin, mit sehr bescheidenen finanziellen Mitteln
so große gesundheitspolitische Erfolge zu erreichen, wie
Kuba . 2015 erklärte die Weltgesundheitsorganisation
(WHO) Kuba zum ersten Land der Welt, in dem es keine
Übertragungen von HI- und Syphilisviren von Müttern
auf Kinder mehr gibt . „Der Stopp der Übertragung ei-
nes Virus ist einer der größten Schritte im Gesundheits-
bereich“, erklärte WHO-Chefin Margaret Chan damals.
Die Kindersterblichkeitsrate ist in Kuba niedriger, die
Lebenserwartung höher als in den USA – obwohl in
den Vereinigten Staaten pro Kopf im Durchschnitt rund
46-mal so hohe Gesundheitskosten entstehen wie auf der
Karibikinsel . Kubanische Ärzte helfen bereits heute in
aller Welt und sind besonders in Entwicklungsländern
sehr erfolgreich . Angesichts der großen gesundheits-
politischen Ziele der SDG-Agenda und der veränder-
ten politischen Gesamtlage sollte die Bundesregierung
dringend auf Kuba zugehen und die Möglichkeiten einer
Dreieckskooperation mit Ländern ohne funktionierendes
Basisgesundheitssystem eruieren . Kein anderes Land der
Welt hat größere Erfahrung als Kuba darin, mit geringen
finanziellen Mitteln für möglichst viele Menschen das
Grundrecht auf Gesundheit zu realisieren . Es wird Zeit,
dieses Potenzial auch anderen Ländern zur Verfügung
zu stellen – Deutschland könnte hier eine internationa-
le Vorreiterrolle einnehmen, was vorbildliche trilaterale
Partnerschaften angeht .
Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Wenn ich heute als Vorsitzender der ASEAN-Par-
lamentariergruppe in die Debatte eingreifen darf, freut
mich das besonders . Denn ich sehe es als meine vor-
nehmste Aufgabe an, die traditionell guten Beziehungen
zwischen Deutschland und den ASEAN-Staaten weiter
zu fördern . Der vorliegende Entschließungsantrag „Tri-
laterale Partnerschaften in der ASEAN-Region stärken –
Deutsches Know-how nutzen“ dient diesem Ziel. Er fin-
det deshalb die volle Unterstützung meiner Fraktion und
auch durch mich persönlich .
Der Antrag fordert die Bundesregierung auf, insbe-
sondere durch trilaterale Partnerschaften das Entwick-
lungsgefälle zwischen den weniger und den höher entwi-
ckelten ASEAN-Mitgliedstaaten zu verringern . Sie soll
dabei auf die guten und vertrauensvollen Beziehungen zu
den einzelnen Partnerstaaten aufbauen .
Dieses geschieht vor dem Hintergrund sehr enger und
vertrauensvoller Beziehungen der Bundesregierung und
vor allem der Deutschen Gesellschaft für Internationa-
le Zusammenarbeit (GIZ) GmbH zu den Ländern der
ASEAN-Region . Aber auch zu anderen Ländern der Re-
gion und dortigen Institutionen wie zum Beispiel der Asi-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201621026
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an Development Bank (ADB) und der Asian Investment
Infrastructure Bank (AIIB) bestehen gute Beziehungen .
Erst gestern hatten wir einen der Direktoren der AIIB im
Finanzausschuss . Er berichtete uns vom Fortschritt bzw .
von dem Aufbau dieser noch sehr jungen Entwicklungs-
bank . Mit Genugtuung haben wir zur Kenntnis genom-
men, dass der Aufbau dieser Bank zu einer unabhängigen
und souverän agierenden Förderbank planmäßig voran-
schreitet und die chinesische Staatsführung die Unabhän-
gigkeit dieser Bank respektiert . Damit ist die Vorausset-
zung geschaffen, um mit einem weiteren unabhängigen
und an westlichen Standards ausgerichteten Akteur die
wichtige Finanzierung von Projekten in der Region zu
stützen .
Der Antrag fordert, Partnerschaften zwischen den
ASEAN-Staaten zu initiieren und zu fördern . Zweifellos
eine wichtige Aufgabe . Die Umsetzung muss dabei in die
Initiativen und Maßnahmen der ASEAN Economic Com-
munity (AEC) eingebettet werden, einer Initiative, die
zwar mit viel Elan gestartet war, um einen gemeinsamen
Binnenmarkt zu schaffen, aber in der Umsetzung doch
noch sehr zögerlich voranschreitet . Eine Zusammenar-
beit unter den ASEAN-Staaten kann nur dann erfolgen,
wenn sehr pragmatisch gemeinsame Interessen herausge-
arbeitet werden können . Das Ziel muss sein, sektorbezo-
gen eine intensivere strategische und partnerschaftliche
Zusammenarbeit zwischen einzelnen ASEAN-Staaten
und Deutschland, aber auch mit Drittländern aus der Re-
gion wie Japan, Australien oder auch Taiwan – es würde
den Rahmen dieser Debatte sprengen, auf die Stellung
Taiwans zwischen den beiden Großmächten USA und
China einzugehen – zu organisieren . Es ist kritisch ange-
merkt worden, dass Zusammenarbeit im Sinne von „joint
programming“ nicht unbedingt die Stärke bisheriger von
Deutschland getragener Projekte sei – umso mehr ist der
vorliegende Antrag zu unterstützen .
In der partnerschaftlichen Zusammenarbeit macht es
Sinn, sich zu konzentrieren, Schwerpunkte zu setzen . Ich
will hier drei Themen ansprechen, die besondere Auf-
merksamkeit verdienen:
Erstens . Bezüglich Rechtsstaatlichkeit muss und soll
sich Deutschland eindeutig verhalten: Menschenrechts-
verletzungen und fehlende Rechtsstaatlichkeit müssen
klar benannt werden . Ob bei Menschenrechtsverletzun-
gen gegenüber den Rohingha in Myanmar, der fehlenden
Rechtsstaatlichkeit der Militärregierung in Thailand, der
autoritären Führung durch Hun Sen in Kambodscha, der
Korruption bis hin in die Regierungsspitze in Malaysia,
der fehlenden Rechtstaatlichkeit des unsäglichen „war
against drugs“ des Präsidenten Duterte in den Philippi-
nen oder der nicht geregelten Anwendung der Scharia in
der Region Aceh in Indonesien – diese Vorgänge müssen
in den Gesprächen und in der Öffentlichkeit offen ange-
sprochen werden . Dabei muss dies nicht mit der Drohung
der Sanktionen verbunden werden, vielmehr muss den
Regierenden in den einzelnen Staaten vermittelt werden,
dass nur eine stabile, demokratische und von der Person
unabhängige rechtsstaatliche Ordnung eine mittel- und
langfristige Stabilität versprechen, die eine notwendige
Basis für die Zusammenarbeit und am Ende auch für In-
vestoren die entscheidende Voraussetzung für eine positi-
ve Investitionsentscheidung ist . Die Bundesregierung ist
aufgefordert, geeignete Projektangebote zur Förderung
von Rechtsstaatlichkeit und Bekämpfung von Korrupti-
on weiter zu entwickeln . Diese Angebote müssen sowohl
Justiz, Behörden und Verwaltung, aber auch die Zivilge-
sellschaft einbinden .
Zweitens . Mit der Förderung von Bildung rennen
wir mit Sicherheit offene Türen in allen Staaten der
ASEAN-Region ein . Hier wird es nach meiner Einschät-
zung auf drei Schwerpunkte ankommen: erstens die För-
derung einer breiten schulischen Bildung in den am we-
nigsten entwickelten Ländern . Das bedeutet schlicht eine
Verbesserung der Einkommenssituation der Lehrer – und
dazu bedarf es aber stabiler Einnahmen des Staates, also
eine umfassende Aufgabe . Zweitens: die Förderung von
beruflicher Bildung und da ganz besonders die Übertra-
gung des entscheidenden Elementes der deutschen du-
alen Ausbildung – daher ja der Name –: der parallelen
Ausbildung in Schule und Unternehmen/Verwaltung .
Drittens: der Studentenaustausch in der Region, das
heißt nicht Förderung der akademischen Ausbildung in
den westlichen Hochschulen, sondern Austausch unter-
einander – also: indonesischer Student in Bangkok oder
vietnamesischer Student in Manila usw . Das europäische
ERASMUS-Programm liefert hier ein respektables Vor-
bildprojekt .
Drittens . Zentrales Entwicklungsthema ist eine ver-
lässliche und klimaschonende Energieversorgung . Dabei
ist entscheidend, die Nutzung fossiler Energieträger zu
begrenzen . Der Öl- und Kohlereichtum der Region hat
dazu geführt, dass fossile Energieträger nicht nur heu-
te, sondern auch in den Planungen für die Zukunft eine
bedeutende Rolle spielen . Weit mehr als 50 Prozent der
Primärenergie stammt aus diesen Energieträgern, gera-
de bei der Kohle mit einem erschreckenden Wachstum .
Vor dem Hintergrund der Prognosen, dass die Erderwär-
mung gerade in den ASEAN-Ländern verheerende Aus-
wirkungen haben wird – ich erinnere an die schlimmen
Folgen des El Niño in Indonesien im letzten Jahr –, ist
dies ein fataler Irrweg . In Südostasien wird möglicher-
weise das erste Mal ein „Kippmomentum“ eintreten, wie
die Klimaforscher das nennen, mit nicht vorhersehbaren
Auswirkungen: Für Indonesien wird ein vollkommen
verändertes, trockenes Klima vorhergesagt – so wie es
2015 geschehen ist und zu dramatischen Ernteeinbußen
geführt hat . Auch wenn man argumentieren kann, dass
die Menschen in der Region sich darauf einstellen wer-
den (müssen), so wird dies aber mit sehr hohen Kosten
verbunden sein . Umso mehr muss es darauf ankommen,
die in Paris beschlossenen Maßnahmen zur Reduktion
von fossilen Energieträgern gerade auch in der Region
der ASEAN-Staaten umzusetzen . Vor dem Hintergrund
der weitgehend ungenutzten erneuerbaren Energiequel-
len in der Region, sei es Windenergie, Sonnenenergie,
Biomasse oder geothermische Energie, sollte ein umfas-
sendes Programm „Renewable Energy for ASEAN“ auf-
gelegt werden . Dies muss sowohl die Finanzierungsfrage
als auch Anlagenbau, Fachausbildung und Infrastruktur
umfassen . In vielen und regelmäßigen Gesprächen mit
Vertretern aus der Region der ASEAN-Staaten ist deut-
lich geworden, dass bei den erneuerbaren Energien hohe
Erwartungen an Deutschland gestellt werden . Auch wenn
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 21027
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wir Grüne die schleppende und unambitionierte Umset-
zung der Energiewende in Deutschland aus guten Grün-
den kritisieren – wir haben immer noch einen hohen Ver-
trauensvorschuss gerade auch der ASEAN-Staaten . Eine
deutsche Unterstützung wird deshalb geradezu erwartet .
Erfreulicherweise nehmen einzelne Akteure wie die AIIB
die von allen Fraktionen des Deutschen Bundestages
vorgetragene Forderung nach Nichtförderung fossiler
und nuklearer Energieträger ernst . Dies ist aber nicht bei
allen Akteuren der Fall – wie ich als Vorsitzender der
ASEAN-Parlamentariergruppe bei Gesprächen in Indo-
nesien noch in diesem Oktober erfahren konnte . Hier ist
ein Umdenken erforderlich . Eine veränderte Strategie
mit einem dezentralen Ausbau der Energieversorgung
auf der Basis erneuerbarer Energien würde im Übrigen
Chancen für den deutschen Mittelstand eröffnen . Dieser
ist aber in der Energiebranche in der Region noch nicht
wirklich vertreten . Damit ließe sich noch deutlich stärker
„deutsches Know-how nutzen“, wie es der Antrag der
Koalition fordert . Hier noch stärker zu fördern, wird eine
wichtige Aufgabe auch der deutschen Entwicklungszu-
sammenarbeit sein .
Ich würde mich freuen, wenn es der Bundesregierung
gelingt, mit einer konzertierten Aktion bei den „erneuer-
bare Energien für ASEAN“ in der Zusammenarbeit der
Staaten und mit den entsprechenden Institutionen we-
sentliche Entwicklungsimpulse in den ASEAN-Staaten
zu setzten . Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wird
entsprechende Maßnahmen weiterhin mit voller Kraft
und Überzeugung unterstützen .
Anlage 21
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags der Fraktionen der
CDU/CSU und SPD: Wissenschaftskooperation
mit Partnern in Subsahara-Afrika stärken (Tages-
ordnungspunkt 23)
Dr. Thomas Feist (CDU/CSU): Wenn heute im
allgemeinen Sprachgebrauch von Europa die Rede ist,
hat dies unter anderem damit zu tun, dass wir trotz al-
ler Unterschiede und obwohl wir teilweise nicht in allen
Belangen mit einer Stimme sprechen, in wirtschaftli-
chen, politischen, rechtlichen und zunehmend auch ge-
sellschaftlich-sozialen Bereichen die Einheit in Vielfalt
leben . Die sprichwörtliche Vielfalt und die nationalen
Eigenheiten sind dabei ein konstitutives Kontinuum un-
seres Erfolges .
Kommt die Rede hingegen auf Afrika, entsteht ge-
danklich jedoch leider oft ein monolithischer Block, in
dem nationale, regionale und auch kulturelle Besonder-
heiten unterzugehen drohen . Dass wir im heute debattier-
ten Antrag dagegen von „Partnern in Subsahara-Afrika“
sprechen, zeigt, dass wir uns beim Ausbau der Wissen-
schaftskooperationen dieser Unterschiede durchaus be-
wusst sind und individuelle Ansätze je nach den im je-
weiligen Land vorzufindenden Bedingungen anwenden.
Allein die Vielzahl der Ressorts, Akteure und Mittler-
organisationen, die in die Umsetzung von Afrika-zent-
rierten Strategien eingebunden sind, zeugt von unserem
multidimensionalen und Multi-Ebenen-Ansatz . Hier gilt
es, zukünftig die Aktivitäten von BMBF, BMZ, AA und
BMEL sowie weiterer Ministerien auf der einen und die
Programme und Projekte der Mittlerorganisationen wie
dem Deutschen Akademischen Austauschdienst, der
Alexander-von-Humboldt-Stiftung, der Deutschen For-
schungsgemeinschaft, der Max-Planck-Gesellschaft, der
Helmholtz-Gemeinschaft, der Leibniz-Gemeinschaft und
der Fraunhofer-Gesellschaft noch stärker aufeinander
und auf die Voraussetzungen vor Ort abzustimmen .
Mit besonderem Nachdruck möchte ich einen Passus
betonen, der für unsere gesamte auswärtige Bildungspo-
litik gelten sollte: „Es geht dabei nicht um einen Nord-
Süd-Transfer von wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern
darum, einen guten Rahmen für das gemeinsame Erar-
beiten von Lösungen zu finden.“ Erfolgreiche Koopera-
tionen, ob sie nun in der Wissenschaft, in der Wirtschaft
oder auf gesellschafts- und entwicklungspolitischer
Ebene stattfinden, müssen sich immer an der Realität
orientieren . Diese von Deutschland und von Europa aus
an Annahmen entlang zu entwerfen, ist ein Ansatz, den
wir vor dem Ziel einer guten partnerschaftlichen Koope-
ration nicht mehr leisten können, aber auch nicht mehr
leisten wollen .
Die Beispiele der erfolgreichen Fachzentren Afrika,
die Kooperationen zwischen deutschen und Hochschulen
unter anderem in Südafrika, Ghana, Namibia, Tansania
und Kongo fördern, zeigen, dass Bereiche wie Mikro-
finanzen, Ressourcenmanagement, Bildungsforschung
und weitere aus den jeweiligen Gegebenheiten vor Ort
anders gedacht werden müssen, ohne dabei überkomme-
nen europäischen Entwicklungspfaden zu folgen .
Von besonderer Bedeutung auch für die Nachhaltig-
keit der entstandenen Kooperationen ist zudem der Trans-
fer wissenschaftlicher Ergebnisse in die Praxis, also der
Aufbau funktionierender Cluster aus Hochschulen, Wirt-
schaft und gesellschaftlichen Akteuren . Auf Grundlage
der Ergebnisse der afrikazentrierten Bildungsforschung
kann beispielsweise mit wesentlich höherer Wahrschein-
lichkeit entlang der Bedarfe der Bevölkerung und der
Wirtschaft vor Ort an selbsttragenden Systemen guter
beruflicher Bildung gebaut werden, als dies nur auf Basis
europäischer Forschungsergebnisse möglich wäre .
Ich begrüße es ausdrücklich, dass bereits 2013 eine
Absichtserklärung zwischen BMBF und dem südafri-
kanischen Ministerium für Hochschulwesen und Aus-
bildung (DHET) zur Kooperation in der Berufsbildung
unterzeichnet wurde, deren Ziel es unter anderem ist,
die Ausbildung dort praxisnäher zu gestalten und in den
kommenden Jahren mit dem South African Institute
for Vocational and Continuing Education and Training
(SAIVCET) ein Berufsbildungsinstitut aufzubauen .
In diesem Rahmen ist es unumgänglich, mit allen na-
tionalen und regionalen Partnern südlich der Sahara die
Voraussetzungen für allgemeine, berufliche und hoch-
schulische Bildung zu verbessern, um der wachsenden
jungen Bevölkerungsschicht die Möglichkeit zu eröff-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201621028
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nen, die oft beschworenen Potenziale des Kontinents der
Chancen auch wahrzunehmen .
Letztlich können auch wir in Europa, in unserer ge-
meinsamen Vielfalt aus den wissenschaftlichen Erkennt-
nissen in und aus Afrika lernen – angefangen bei einer
sinnvollen und nachhaltigen Ressourcennutzung bis hin
zum gesellschaftlichen und politischen Umgang mit
Transformationsprozessen .
Dr. Claudia Lücking-Michel (CDU/CSU): Es wird
oft gesagt, dass wir als Europäer und Deutsche ein sehr
einseitiges Bild von Afrika pflegen. Erst einmal täuscht
natürlich dieser Begriff „Afrika“, der eine solche Viel-
zahl an Sprachen, Religionen und Kulturen dieses großen
Kontinents in eins fasst, über die vielfältige Wirklichkeit
hinweg . Und dann überwiegen doch in unserer Wahr-
nehmung die Krisenmeldungen, die uns von dort errei-
chen . Oft zitiert wird Henning Mankell: „Wenn wir uns
am Bild der Massenmedien orientieren, lernen wir heute
alles darüber, wie Afrikaner sterben, aber nichts darüber,
wie sie leben .“ Das stimmt . Ich meine, wir sollten uns
die Mühe machen, auch aus einer anderen Perspektive
auf diesen Kontinent zu blicken . Ich will einige Versuche
dazu machen, ein anderes Bild von Afrika zu zeigen .
Erstens . Als Bildungspolitikerin sehe ich es natürlich
so: Das größte Potenzial, das Afrika zu bieten hat, ist
seine junge Generation . Schon heute ist die Hälfte der
afrikanischen Bevölkerung jünger als 18 Jahre, und bis
zum Jahr 2050 wird sich die Bevölkerung verdoppeln
auf dann über 2 Milliarden Menschen . Sie alle brauchen
eine gute Bildung als Voraussetzung, um dieses Potenzi-
al auch zu entfalten . Das Hochschul- und Wissenschafts-
system spielt dabei eine entscheidende Rolle: für Leh-
rerbildung und damit für qualitätsvolle Schulbildung, für
Hochschullehrernachwuchs und damit relevante Studien-
angebote, die arbeitsmarktorientiert ausbilden und For-
schungsleistungen ermöglichen, die neue Lösungen für
die wirtschaftliche, aber auch die gesellschaftliche Ent-
wicklung bringen . Außerdem bieten Hochschulen auch
wissensbasierte Beratung für Politik und Verwaltung an .
Zweitens . Als Forschungspolitikerin bin ich beein-
druckt von Innovationen, die in Afrika erdacht wurden:
zum Beispiel die Erfindung aus Kenia, „m-Pesa“, was
auf Suaheli „mobiles Geld“ bedeutet . Per SMS können
afrikanische Mobilfunkkunden – und ein Handy besit-
zen die allermeisten Menschen dort – Geld überweisen,
auch wenn sie kein Bankkonto besitzen . Das war die
Ursprungsidee . Über die letzten Jahre wurde dies immer
praktischer: Man kann im Supermarkt per Handy be-
zahlen, seine Stromrechnung begleichen, sogar günstige
Kleinkredite bei Banken anfragen . Oder eine Idee, die
zurzeit in Ruanda erprobt wird: Um Medikamente und
Blutkonserven trotz mangelnder Infrastrukturen dorthin
zu bringen, wo sie gebraucht werden, verschickt man sie
hier mit Drohnen .
Da finden technologische Sprünge statt, in denen Zwi-
schentechnologien, wie wir sie nutzen, einfach ausgelas-
sen werden . Darüber sollten wir auch einmal reden, wenn
wir von Afrika sprechen! Es zeigt ein anderes Bild von
Afrika!
Ich bin überzeugt, dass wir die Herausforderungen der
Zukunft nur gemeinsam als Partner lösen können: aus
dem globalen Norden und Süden, mit den jeweiligen He-
rangehensweisen und Ideen . Spitzenforschung lebt vom
Austausch der Ideen, von verschiedenen Blickwinkeln .
Wissenschaft bietet sich hervorragend dazu an, gemein-
same Lösungen zu finden für die großen globalen He-
rausforderungen . Ob es um Folgen des Klimawandels
oder die Behandlung global bedrohlicher Krankheiten
geht – wir benötigen gemeinsam erarbeiteten Erkenntnis-
gewinn . So hilft Wissenschaft, etwas zu tun, das von der
Politik oft gefordert wird: nämlich, die Globalisierung
aktiv und positiv zu gestalten . Darum fördert die Bun-
desregierung internationale Kooperationen in Forschung
und Wissenschaft .
In unserem Antrag heute nehmen wir Subsahara-Af-
rika in den Blick, eine Region, die uns nicht unbedingt
einfällt, wenn wir an Spitzenforschung oder erstklassige
Hochschulausbildung denken . Gemeint sind alle afrika-
nischen Staaten außer den fünf arabisch geprägten Län-
dern am Mittelmeer . Und es stimmt schon: Die Hoch-
schulen dort, die Bildungs- und Wissenschaftssysteme
sind an vielen Stellen dringend ausbaubedürftig . Ein
Beispiel, wo wir bereits unterstützen: Mit 1 000 Stipen-
dien fördern wir die qualitätsvolle Ausbildung von Hoch-
schullehrern . Künftig wollen wir die Lehrqualität auch
steigern, indem wir afrikanische Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftler, die in aller Welt arbeiten, als soge-
nannte „flying faculties“ für kurzzeitige Lehraufträge an
Hochschulen in ihren Heimatländern gewinnen .
Es gibt aber auch jetzt schon eine Reihe von erfolg-
reichen Kooperationen deutscher Institutionen mit Part-
nern aus Subsahara, auch in der Forschung . Zum Beispiel
die Klimakompetenzzentren in West- und dem südlichen
Afrika . Dort wird erforscht, wie die Landnutzung den
Folgen des Klimawandels so angepasst werden kann,
dass es trotz zunehmender Dürren noch Ernten geben
kann und Artenvielfalt möglichst erhalten wird . Das
Besondere ist, dass die Erkenntnisse der Wissenschaft
gleich an die ansässigen Bauern und lokalen Verwaltun-
gen so weitergegeben werden, dass sie sie nutzen kön-
nen . Da entsteht Expertise bei afrikanischen Forschern,
die von der lokalen Gesellschaft gleich angewandt wird .
Und zum Schluss ein kühner Blick in die Zukunft:
Stellen Sie sich vor, der nächste Einstein käme zum Bei-
spiel aus dem Senegal . Es gibt schon eine Initiative, die
mathematische Forschung in Subsahara-Afrika stärken
will . Wir fördern den Aufbau neuer Lehrstühle, und viel-
leicht studiert oder forscht der nächste Einstein bereits
dort . Wir halten dieses Ziel für durchaus realistisch . Das
eröffnet doch ein ganz anderes Bild von Afrika!
Dr. Daniela De Ridder (SPD): Mit dem heute vorlie-
genden Antrag zur Stärkung der Wissenschaftskoopera-
tionen in Subsahara-Afrika bringen wir eine außen- und
bildungspolitische Initiative voran und leisten einen ele-
mentaren Beitrag zur Bekämpfung von Fluchtursachen .
Wie unser Außenminister Dr . Frank-Walter Steinmeier
stets betont, ist die Welt auf immer deutlichere und spür-
bare Weise aus den Fugen geraten . Wer Krisen bewäl-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 21029
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tigen, Konflikte lösen und Frieden herstellen oder bei-
behalten will, muss auf einen Soft-Power-Ansatz bauen .
Internationale Solidarität und Zusammenarbeit, die durch
militärische Bedrohungen, ökonomische Zwänge verhin-
dert werden, lassen sich – so hat es der Politikwissen-
schaftler Joseph Nye immer wieder betont – eben doch
nur durch kulturelle und bildungspolitische Zusammen-
arbeit herstellen oder erhalten . Dann bedarf es politischer
Werte und einer intelligenten auswärtigen Politik, wie sie
das Auswärtige Amt, AA, – allen Horrorszenarien zum
Trotz – aktuell mit Bravour betreibt .
Da steht es der Großen Koalition gut zu Gesicht, sich
im Interesse der Friedenssicherung in den unterschiedli-
chen Politikfeldern stärker zu vernetzen . Wissenschafts-,
Bildungs- und Hochschulpolitik müssen in Anbetracht
der weltweiten Verantwortung immer auch Wirtschafts-,
Entwicklungs- und Außenpolitik in den Blick nehmen .
Unser ressortübergreifender Antrag wird genau dieses
Anliegen stärken . Mit diesem weit über die Bildungspo-
litik hinausreichenden Bestreben wollen wir gerade die
armen Länder stärken und ihnen durch Bildungs-, For-
schungs- und Hochschulpolitik neue Chancen eröffnen .
Das Auswärtige Amt, das Bundesministerium für Bil-
dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung, BMBF,
und das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusam-
menarbeit und Entwicklung, BMZ, sowie die weiteren
Ressorts stehen zu ihrer Verantwortung . Dazu gehört
auch die Erkenntnis, dass wir für eine verantwortungs-
volle Außen- und Entwicklungspolitik mehr tun müssen,
als ausschließlich auf Sicherheitskooperationen zu set-
zen . Daher haben wir uns in der Großen Koalition ver-
tiefend der Frage gewidmet, was wir für eine effektive
Stabilisierung von Ländern und Regionen in Afrika tun
können .
Dieser Antrag macht unsere zukunftsweisenden Ant-
worten deutlich: Eine nachhaltige und zugleich globale
Strategie für die Schaffung von Versorgungssicherheit,
ein funktionierendes Sozialsystem, eine starke Wirt-
schaft und demokratische Strukturen müssen auf Bildung
fußen . Reiche Länder wie Deutschland müssen ein Fun-
dament schaffen und damit die Hilfe zur Selbsthilfe in
den Ländern des Südens stärken . Daher setzen wir neben
dem Austausch von Nachwuchskräften in Bildung, Wis-
senschaft und Wirtschaft vor allem auf den institutionel-
len Aufbau von internationalen Bildungsstrukturen .
Der Deutsche Akademische Austauschdienst, DAAD,
die Alexander-von-Humboldt-Stiftung, AvH, sowie die
Deutsche Forschungsgemeinschaft, DFG, sind wichtige
Mittler- und Partnerorganisationen für eine grenzüber-
schreitende Bildungs- und Wissenschaftspolitik . Sie un-
terstützen bereits seit längerem den Austausch von Wis-
senschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die Stärkung
von Forschung und Entwicklungsvorhaben sowie den
Aufbau von Strukturen . Ihr Beitrag ist besonders wert-
voll .
Lassen Sie mich betonen, dass wir eine starke und
ressortübergreifende Strategie für die Stärkung des Aus-
tausches der zukünftigen Generationen durch den Auf-
bau von transnationalen Bildungskooperationen auf den
Weg gebracht haben . Dies wollen wir nun maßgeblich
erweitern .
Die Vereinten Nationen verfolgen mit der Umsetzung
der Sustainable Development Goals, SDGs, einen ganz-
heitlichen Ansatz für eine stabile und friedenspolitisch
höchst wertvolle Zukunft auf unserem Planeten . Bildung
nimmt dabei die zentrale Rolle ein, da nur sie zur Au-
tonomie und Prosperität und damit zum Empowerment
befähigen und es konsolidieren kann . Daher müssen zwei
Aspekte besonders berücksichtigt werden:
Erstens gilt es, die Abwanderung qualifizierten Perso-
nals aus den Staaten der Subsahara zu vermeiden . Ein
„Braindrain“ muss unbedingt vermieden werden . Daher
gilt es, auf die richtigen Anreize für einen Verbleib von
qualifizierten Fachkräften sowie Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftlern zum Aufbau lokaler Strukturen zu
setzen . Fachkräfte müssen in den Ländern Subsaharas
qualifiziert und mit Arbeitsplätzen in ihren Heimatlän-
dern versorgt werden .
Zweitens müssen sich transnationale Bildungskoope-
rationen an den konkreten Bedarfen der heimischen Ge-
sellschaften orientieren . Im hochschulischen Bereich
ist es daher existenziell, dass das Augenmerk auf das
Modell der angewandten Forschung und Lehre gelegt
werden muss, wie es etwa unsere Fachhochschulen und
Hochschulen für angewandte Wissenschaften auch in
Kooperation mit den Ländern Afrikas anbieten können .
Wenn es uns gelingt, neben den Institutionen und
den Chancen zum Austausch die nötigen Rahmenbedin-
gungen für eine nachhaltige Entwicklung zu etablieren,
können wir eine stabile, friedliche und sozial gerechte
Zukunft auch international verwirklichen . Für die Grund-
lage einer auf Bildung und Wissenschaft aufbauenden
Entwicklungspartnerschaft wollen wir daher ganz kon-
krete Anliegen umsetzen . So heißt die primäre Devise:
Erstens bestehende Stipendienprogramme weiterfüh-
ren und ausbauen . Wir fördern bereits mit 1 000 zusätz-
lichen Stipendien für angehende Hochschullehrerinnen
und -lehrer die hochschulischen Bildungsstrukturen und
schaffen mit den Programmen von DAAD und AvH die
Chancen zum personellen Austausch . Mit unserem An-
trag leiten wir den Ausbau und die Erweiterung der Pro-
gramme ein .
Zweitens wollen wir institutionelle Förderung nicht
nur über die hervorragende Arbeit der Grünen Innova-
tions- sowie Fachzentren in Afrika weiter voranbringen,
sondern darüber hinaus eine Hochschule für angewand-
te Wissenschaften in Kenia nach dem Beispiel der Ger-
man-Jordanian-University etablieren . In diesem Sinne
gilt es, akademische Bildung entlang der Bedarfe der
Gesellschaft im Subsahara-Raum zu kreieren .
Drittens bekennen wir uns zur Stärkung und Ent-
wicklung von Partner- und Forschungsnetzwerken in
Subsahara-Afrika und setzen auf einen transnationa-
len Ansatz . Hierbei gilt es, verstärkt die Mittlerorgani-
sationen wie DFG, Max-Planck-Gesellschaft, MPG,
Helmholtz-Gemeinschaft, HGF, Leibniz-Gemeinschaft,
Fraunhofer-Gesellschaft, FhG, sowie DAAD und AvH
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mit einzubeziehen und eine kohärente ressortübergrei-
fende Politik abzustimmen .
Mit dem vorliegenden Antrag nehmen wir unsere
Verantwortung wahr, eine Entwicklungspartnerschaft
auf Augenhöhe weiterzuentwickeln und zu stärken . Wir
kommen damit unserer globalen Verantwortung nach,
einen nachhaltigen Beitrag für die Bekämpfung von
Fluchtursachen zu leisten, auch wenn der vor uns liegen-
de Weg noch sehr steinig sein mag .
Ich bin guten Mutes, dass wir auch in Zeiten schwe-
lender Krisen und unmenschlicher Kriege unserer Ver-
antwortung gerecht werden können . Daher möchte ich
mich bei allen beteiligten Kolleginnen und Kollegen
und insbesondere bei der Kollegin Dr . Claudia Lücking-
Michel sowie bei meinem Kollegen Dr . Karamba Diaby
herzlich für die geleistete Arbeit bedanken und wünsche
Ihnen eine friedvolle Weihnachtszeit, damit wir im kom-
menden Jahr unsere wichtigen Aufgaben mit Bravour
meistern können .
Nicole Gohlke (DIE LINKE): Die Koalition hat hier
einen ausführlichen Antrag zur Wissenschaftskooperati-
on mit Partnern in Subsahara-Afrika vorgelegt, der lei-
der einer ernsthaften Beschäftigung mit den Problemen
dieser ärmsten Region der Welt überhaupt nicht gerecht
wird: Im dritten Satz Ihres Antrages schreiben Sie: „Leis-
tungsfähige Hochschulsysteme sind wesentliche Grund-
lage für die Generierung von Wissen und Innovation .“
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD,
mit solchen Feststellungen zeigen Sie entweder Ignoranz
gegenüber den grundlegenden Problemen in Südsaha-
ra-Afrika oder völlige Unkenntnis .
Die Realität ist, dass in Afrika südlich der Sahara die
Zahl der Kinder ohne Grundschulzugang teilweise wie-
der stark ansteigt . Die Alphabetisierungsrate in der De-
mokratischen Republik Kongo liegt beispielsweise bei
gerade einmal zwei Drittel und ist über die letzten Jahr-
zehnte rückläufig. Infolge des Krieges ging der Anteil der
kongolesischen Kinder, die eine Schule besuchen, von
rund 70 Prozent auf nunmehr etwa 40 Prozent zurück .
Die meisten Schulen erhalten keine staatliche Unterstüt-
zung, sondern die Eltern müssen die Lehrer und Lehre-
rinnen direkt bezahlen, was viele nicht können .
Auf eine schriftliche Frage des Kollegen Movassat
musste die Bundesregierung 2014 erklären, dass nur
2,25 Prozent der Gelder für die bilaterale Entwicklungs-
zusammenarbeit in Grundbildung gehen . Das ist viel zu
wenig . Auch die 7 Millionen Euro jährlich an die Globale
Bildungspartnerschaft GPE sind viel zu wenig . Die Lin-
ke forderte für den Haushalt 2017 einen Aufwuchs auf
mindestens 40 Millionen Euro .
Selbstverständlich unterstützt die Linke internationale
Wissenschafts- und Forschungskooperation, insbesonde-
re auch zu Fragen des Klimawandels und seinen Folgen
in den verschiedenen Regionen . Aber die Bundesregie-
rung hat wirklich kein Recht dazu, sich als Förderin von
Bildung und Entwicklung in den ärmsten Ländern der
Welt darzustellen . Mit Elite-Stipendienprogrammen, Ex-
zellenzzentren und Leuchtturmprojekten leisten Sie eben
keinen Beitrag dafür, das Bildungsniveau für die breite
Mehrheit zu heben oder die Massenarbeitslosigkeit und
die furchtbare Armut in der Region zu bekämpfen .
Und natürlich ist auch an dieser Stelle die Verantwor-
tung Deutschlands für die Kriege und Konflikte in der
Region zu betonen: Als drittgrößter Waffenexporteur der
Welt tragen Sie einen großen Teil der Verantwortung da-
für, wenn die von deutschen Unternehmen produzierten
Waffen im südlichen Afrika eingesetzt werden . Südaf-
rika, einer der größten Abnehmer deutscher Waffen, ist
nach Beendigung der Apartheid zum Dreh- und Angel-
punkt des Waffenhandels avanciert .
Wie gesagt, die Linke unterstützt selbstverständlich
internationale Wissenschafts- und Forschungszusam-
menarbeit . Aber den Problemen in Subsahara-Afrika
werden Sie mit diesem Vorgehen in keinster Weise ge-
recht .
Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es
keimt Hoffnung auf dem afrikanischen Kontinent . In
vielen Ländern wächst die Wirtschaft – allerdings aus-
gehend von einem niedrigen Niveau . Deshalb hat Afrika
noch einen langen Weg vor sich, um zu anderen Regio-
nen der Welt aufzuschließen . Die Risiken sind nach wie
vor groß: Einzelnen Ländern und Regionen mangelt es
an politischer Stabilität und Good Governance, rechts-
staatlichen und demokratischen Strukturen sowie der
tatsächlichen Sicherung von Grund- und Freiheitsrechten
aller Menschen .
Konflikte sind eine der Hauptbedrohungen für das
Wirtschaftswachstum Afrikas . Afrika hat viele kluge
Köpfe und Talente, immenses kulturelles und kreatives
Potenzial. Zugleich fehlen aber qualifizierte Fachkräf-
te, mit denen der wirtschaftliche Erfolg verstetigt und
gesteigert werden kann . Deutschland muss aus meiner
Sicht alles dafür tun, dass aus Hoffnung eine robuste Ent-
wicklung zum Wohle aller Menschen auf dem afrikani-
schen Kontinent wird .
Deutschland muss ein verlässlicher Partner afrikani-
scher Länder sein . Diese Absicht sehe ich auch bei der
Bundesregierung und auch in dem Antrag „Wissen-
schaftskooperation mit Partnern in Subsahara-Afrika
stärken“ der Fraktionen von Union und SPD, den wir hier
heute in erster Lesung diskutieren . Der Antrag ist stark
in der gebündelten Leistungsschau bestehender Koope-
rationen . Er fällt deutlich ab, wenn es um Ideen für die
künftige Entwicklung nachhaltiger wissenschaftlicher
Zusammenarbeit geht . Es hätte gutgetan, den Antrag mit
der Expertise aller Bundestagsfraktionen zu erarbeiten .
Diese Chance haben Union und SPD verpasst .
Wissenschaft, Forschung und Innovation können
wichtige Beiträge zur nachhaltigen, gesellschaftlichen,
ökologischen und ökonomischen Entwicklung leisten .
Aber es muss auch die Basis stimmen – also die Grund-
bildung .
Erfreulich ist, dass es neben Wirtschaftswachstum
auch teilweise entwicklungspolitische Fortschritte im
Sinne der Millennium Development Goals gibt . Acht von
zehn Kindern aus Ländern Subsahara-Afrikas besuchten
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 21031
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2015 eine Grundschule . 2000 waren es nur 60 Prozent .
Das zeigt, dass das Entwicklungsziel 100 Prozent noch
nicht erreicht ist und weitere Anstrengungen notwendig
sind . Zugleich sagt die Beschulungsquote wenig aus über
die Bildungsqualität . Das Bekenntnis zu Alphabetisie-
rung, Bildung und Qualifizierung als Grundlage gesell-
schaftlichen Erfolgs und wissenschaftlichen Fortschritts
fehlt dem Antrag der Koalition leider .
Durch den vermehrten Schulbesuch wächst die Zahl
der Schülerinnen und Schüler in Ländern südlich der
Sahara, die die Schule abschließen, exponentiell . Die
Wirtschaft der Länder hat wachsenden Bedarf an Fach-
kräften . Beides zieht neue Anforderungen und Heraus-
forderungen für die afrikanische Hochschullandschaft
und des Ausbildungssystems nach sich . Dafür sind aber
nur wenige Staaten der Region gerüstet, zumal die Hoch-
schulen in vielen Subsahara-Staaten geprägt sind von
jahrzehntelanger Unterfinanzierung, maroder Infrastruk-
tur, fehlendem wissenschaftlichen Nachwuchs oder auch
der Zerstörung durch kriegerische Auseinandersetzun-
gen . Allein schon, um die grundsätzlichen Voraussetzun-
gen für Studieren, Lehren und Forschen zu schaffen, ist
deutsche Unterstützung gefragt .
Deutsche Investitionen in leistungsfähigere Hoch-
schulen vor Ort sind sinnvoll, sofern politische Stabilität
gegeben ist und ein Land nicht in bürgerkriegsähnliche
Zustände abzusinken droht. Wissen schafft Konfliktprä-
vention, Frieden, Freiheit und Sicherheit .
Es fällt auf, dass sich das deutsche Engagement für
engere Wissenschaftskooperation auf dem afrikanischen
Kontinent auf einzelne Länder fokussiert, und – umge-
kehrt – um einzelne andere einen Bogen macht . Sich
„blinden Flecken“ zuzuwenden, halte ich für wichtig, um
gleichwertige Lebensverhältnisse anzupeilen und herzu-
stellen .
Die Chancen, die sich aus Hochschulbildung und For-
schung ergeben, werden von afrikanischer Seite wieder
stärker hervorgehoben . Auch von deutscher Seite ist das
Interesse an Kooperation traditionell hoch und weiter ge-
wachsen . Schon jetzt bestehen laut Hochschulrektoren-
konferenz über 400 offizielle Partnerschaften zwischen
deutschen und afrikanischen Hochschulen . Über diese
Partnerschaften sollte es gelingen, mehr Studierende,
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Ländern
Subsahara-Afrikas für einen zeitweisen Aufenthalt in
Deutschland zu gewinnen – im Sinne einer Brain Cir-
culation bzw . zirkulären Migration statt Braindrain und
Abwerbung .
Natürlich müssen die deutschen Hochschulen besser
auf die afrikanischen Studierenden vorbereitet sein, da-
mit studieren und echter Austausch gelingt . Wichtig ist
mir aber auch, dass wir mehr Deutsche ermuntern, in
Afrika zu forschen, zu lehren oder zu studieren . Konkre-
te Ziele oder zukunftsgerechte Meilensteine vermisse ich
dazu im Antrag der Regierungsfraktionen .
Das Interesse an Wissenschaftskooperation ist groß,
sowohl in Deutschland als auch in den Ländern südlich
der Sahara . Darauf gilt es aufzubauen . Hinzu kommt,
dass Deutschland ein angesehener Partner ist, weil es
sich bemüht, so zu kooperieren, dass für alle Seiten
Win-win-Situationen entstehen . Wissenschaftsfreiheit,
kreatives neugiergetriebenes Forschen, herausragende
Lehre sowie wissenschaftliche Lösungen für die großen
gesellschaftlichen Herausforderungen sind von beidseiti-
gem elementaren Interesse . Diese günstige Konstellation
sollten wir gemeinsam nutzen .
Anlage 22
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– des von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung
der Handlungsfähigkeit der Selbstverwaltung
der Spitzenorganisationen in der gesetzlichen
Krankenversicherung sowie zur Stärkung der
über sie geführten Aufsicht (GKV-Selbstver-
waltungsstärkungsgesetz)
– des Antrags der Abgeordneten Harald
Weinberg, Sabine Zimmermann (Zwickau),
Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE: Patientenvertre-
tung in der Gesundheitsversorgung stärken
(Tagesordnungspunkt 24 a und b)
Reiner Meier (CDU/CSU): Schon im 19 . Jahrhundert
hat die katholische Soziallehre den Grundsatz der Sub-
sidiarität formuliert . Kerngedanke ist, dass die jeweils
sachnähere Ebene alle Entscheidungen treffen sollte, die
nicht unbedingt von einer höheren Ebene getroffen wer-
den müssen . Das ist eine gute Maxime für die Aufteilung
von Kompetenzen im Staatsaufbau und sorgt für praxis-
nahe Entscheidungen .
Nach diesem Prinzip der Subsidiarität funktioniert
auch die Selbstverwaltung in Deutschland, die sich bei
den Kommunen, an den Hochschulen und auch im Ge-
sundheitswesen seit vielen Jahren bewährt hat .
Klar ist, dass die Strukturen der Selbstverwaltung mit
ihren wachsenden Aufgaben und ihrer Verantwortung
gegenüber ihren Mitgliedern Schritt halten müssen . Dies
gilt umso mehr, als ihr im Gesundheitswesen die Verwal-
tung von Beitragsmitteln in erheblichem Umfang anver-
traut ist .
Wir haben das Gesetz deshalb das „Selbstverwal-
tungsstärkungsgesetz“ getauft; denn das zeigt ganz ein-
deutig die Richtung:
Es geht primär darum, die Strukturen innerhalb der
Selbstverwaltung im Sinne einer Good Governance zu
optimieren und weiterzuentwickeln . Dazu stärken wir
die Transparenz im Verwaltungshandeln und bauen die
Informations- und Kontrollrechte der Vertreterversamm-
lungen gegenüber den Vorständen deutlich aus .
Etwaige Fehlentwicklungen können so frühzeitig
erkannt, abgestellt und künftig vermieden werden . Im
äußersten Falle erhalten die Vertreterversammlungen
beziehungsweise die Verwaltungsräte das ausdrückliche
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201621032
(A) (C)
(B) (D)
Recht, den Vorstand mithilfe eines konstruktiven Miss-
trauensvotums abzuberufen .
All dies sind wohlgemerkt interne Vorgänge der je-
weiligen Selbstverwaltungskörperschaft . Das zeigt: Wir
betonen mit diesem Gesetz das Prinzip der Eigenverant-
wortung und der Selbstkontrolle .
Ergänzend zur Selbstkontrolle werden wir aber auch
die Befugnisse des Bundesministeriums für Gesundheit
im Rahmen der Rechtsaufsicht weiterentwickeln . Hier
haben wir uns aus guten Gründen gegen eine Fachauf-
sicht ausgesprochen . Bei einer Fachaufsicht könnte letzt-
lich in jede Einzelentscheidung hineinregiert werden .
Das halte ich für unvereinbar mit dem Grundgedanken
der Selbstverwaltung . Die Rechtsaufsicht bleibt deshalb
der richtige Maßstab . Dabei muss jedoch eines ganz
unmissverständlich klar sein: Verstöße gegen geltendes
Recht werden auch im Rahmen der Rechtsaufsicht ge-
ahndet . Die Selbstverwaltung ist Teil der mittelbaren
Staatsverwaltung und damit gemäß Artikel 1 Absatz 3
des Grundgesetzes ausdrücklich an Recht und Gesetz
gebunden!
Ich will nicht verhehlen, dass ich vor diesem Hinter-
grund manche Verhaltensweisen der vergangenen Jahre –
sowohl aufseiten der Kostenträger wie auch aufseiten der
Leistungserbringer – mit größtem Befremden zur Kennt-
nis genommen habe .
Wenn wir heute die parlamentarischen Beratungen des
Selbstverwaltungsstärkungsgesetzes beginnen, dann tun
wir das in dem Bewusstsein, dass die Selbstverwaltung
als Institution ganz gewiss schon bessere Tage erlebt hat .
Wir sollten uns aber auch den Wert eines Systems vor
Augen halten, das über die Jahre immer wieder dazu bei-
getragen hat, Sachverstand und Eigenverantwortung in
der Krankenversicherung zu stärken, ein System, das die
oft abstrakten Vorgaben des Gesetzgebers in eine voll-
ziehbare Form konkretisiert und dabei insgesamt eine
breite Akzeptanz der gefundenen Regelungen gewähr-
leistet .
In diesem Sinne glaube ich, dass der Gesetzentwurf
eine gute Grundlage bietet, um die Selbstverwaltung für
die nächsten Jahre fit zu machen, und ich freue mich auf
gute Beratungen im Ausschuss .
Hilde Mattheis (SPD): Wie beraten hier heute Abend
in erster Lesung einen Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung, der sich mit nichts weniger als einem zentralen
Gestaltungsmerkmal der gesetzlichen Krankenversi-
cherungen befasst . Deshalb möchte ich zunächst einige
grundsätzliche Bemerkungen machen, was uns Sozial-
demokraten im Zusammenhang mit Selbstverwaltung
bewegt .
Selbstverwaltung hat in all ihren Ausprägungen
maßgeblich zur Erfolgsgeschichte solidarischer Versi-
cherungssysteme beigetragen . Dafür ist die gesetzliche
Krankenversicherung nur ein Beispiel unter vielen . Be-
reits mit der kaiserlichen Botschaft von 1881 wurde sie
als tragendes Prinzip verankert und ausgenommen die
Zeit des Nationalsozialismus war sie stets eine gestalte-
rische Kraft, ohne die die Bundesrepublik heute völlig
anderes aussähe .
Und es ist auch nicht übertrieben, zu sagen, dass man
uns für diese Institution international beneidet .
Zwei Dinge sind für uns im Zusammenhang mit
Selbstverwaltung entscheidend:
Mitbestimmung und staatsferne Organisation in eige-
ner Sache . Nun muss ich Ihnen unsere Leidenschaft und
Überzeugung zur Frage der Mitbestimmung sicher nicht
mehr erläutern . Deshalb will ich kurz darauf eingehen,
welche Bedeutung der eigenverantwortlichen Organi-
sation zukommt . Denn eigenverantwortliches Handeln
von Akteuren im Rahmen der Selbstverwaltung bietet
viele Vorteile . Auf der einen Seite werden sachdienliche
Entscheidungen getroffen, die ohne das Wissen und die
Kompetenz in der Sache nie zustande kämen . Gleichzei-
tig binden diese eigenverantwortlichen Entscheidungen
zu Detailfragen wiederum die Entscheidungsträger und
machen sie zu einer aktiven gesellschaftlichen Kraft . Der
Gewinn für uns alle in der Gesellschaft ist daher nicht zu
unterschätzen .
Und ein weiterer Punkt ist bedeutend . Denn für uns
als Politik tragen diese Entscheidungen erheblich zur
Entlastung staatlichen Handelns bei . Gute politische Ar-
beit – und das betone ich ausdrücklich – wäre aus unserer
Sicht ohne diesen Entlastungseffekt bei weitem nicht so
effektiv möglich .
Ich hebe das deshalb hervor, weil beide Aspekte für
die hier zu führende Diskussion um die betroffenen Spit-
zenorganisationen der gesetzlichen Krankenversiche-
rung von zentraler Bedeutung sind . Und ich rede dabei
nicht nur von historisch gewachsenen Charakteristika
einer Institution . Vielmehr verknüpfen sich für uns Sozi-
aldemokraten hiermit schon angedeutete normative wie
funktionale Ansprüche, an denen sich jeder ordnungspo-
litische Eingriff in Formen der Selbstverwaltung messen
lassen muss .
Demnach sind zwei Fragen von Bedeutung . Erstens:
Welche Auswirkungen hat das hier vorliegende Gesetz
auf die Formen der Mitbestimmung? Und zweitens: Ist
in den betroffenen Organisationen auch zukünftig die
staatsferne Organisation und mit ihr die Handlungsfähig-
keit – natürlich unter staatlicher Aufsicht – sichergestellt?
Würden wir uns diese Fragen nicht stellen, so würden
wir schlicht der Bedeutung der Selbstverwaltung für die
GKV nicht gerecht . Und hier ist es zunächst einmal egal,
ob es sich um Organisationen mit sozialpartnerschaft-
licher Struktur oder um Organisation mit berufsständi-
scher Ausrichtung handelt .
So viel zur grundsätzlichen Einordnung .
Ich weise an dieser Stelle noch einmal darauf hin, dass
es sich bei dem hier vorliegenden Gesetzentwurf explizit
um einen Entwurf der Bundesregierung handelt . Trotz
des ambitionierten Zeitplans wurde das Gesetz nicht pa-
rallel durch die Fraktionen eingebracht, um das Gesetz-
gebungsverfahren zu beschleunigen . Dies ist zwar durch-
aus nichts Außergewöhnliches, nur ist es mir an dieser
Stelle wichtig, dies zu betonen . Denn gerade beim hier
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 21033
(A) (C)
(B) (D)
vorliegenden Gesetz sollten wir uns auch die Zeit neh-
men und in Ruhe abwägen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle wissen, wa-
rum wir uns heute hiermit befassen .
Ich will es uns allen aber gern noch einmal kurz in
Erinnerung rufen . Die Vorgänge in der Kassenärztlichen
Bundesvereinigung lassen mich persönlich – vielleicht
spreche ich ja sogar für uns alle – nur mit dem Kopf
schütteln . Lassen Sie mich eines klarstellen: Die Vorwür-
fe müssen restlos aufgeklärt werden .
Ich kann für die Fraktion der SPD sagen, dass wir den
Aufarbeitungsprozess sehr genau beobachten, und wir
werden dies auch weiterhin tun . Eines ist jetzt schon klar,
einige wenige in der KBV haben dem Ansehen der Kas-
senärzte enorm geschadet .
Wer Mitgliedsbeiträge für eine Organisation zahlt,
muss sich darauf verlassen können, dass die Mittel auch
sachgerecht und regelkonform verwendet werden . Da
kommt es auf die Vertrauenswürdigkeit des Hauptamtes
genauso an wie darauf, dass die Aufsicht gegebenenfalls
auftretende Unregelmäßigkeiten erkennt und sofort un-
terbindet .
Daher erwarte ich insbesondere vom im Frühjahr neu
zu wählenden Vorstand der KBV nichts weniger als einen
Wandel der Kultur . Denn – und das ist entscheidend –
nicht nur die Kassenärzte leiden unter Ansehensverlust,
sondern die Selbstverwaltung insgesamt . Das kann und
werden wir Sozialdemokaten nicht akzeptieren .
Nun dürfte meine Auffassung zur Sache kein Geheim-
nis sein .
Ich will es noch einmal so formulieren: „Du kannst
nicht alle schlagen, wenn du einen treffen willst .“ Das
ist für mich schlicht einen Frage guter und letztlich auch
glaubwürdiger politischer Arbeit .
Und das ist neben dem generellen Wert von Selbstver-
waltung auch der Grund, dass explizit wir als SPD-Bun-
destagfraktion bereits beim Zustandekommen des Ge-
setzentwurfs der Bundesregierung für Korrekturen des
politischen Vorhabens – insbesondere in Sachen der Auf-
sicht – gesorgt haben . Nur ein paar Stichworte:
Genehmigung des Haushalts, raus .
Vorgaben der Aufsicht zu unbestimmten Rechtsbegrif-
fen ohne Klagemöglichkeit ist raus .
Eingriffe in Richtlinien des G-BA, auch raus .
Unterm Strich bleibt es bei der Rechtsaufsicht des
BMG über die Spitzenorganisationen der GKV . Einer
Fachaufsicht erkläre ich hier erneut eine klare Absage .
Ich muss allerdings an dieser Stelle auch einen Dank
an die Union richten, ohne die das in einer Koalition
bekanntlich nicht möglich gewesen wäre . Ich will nur
sagen: Die Koalition hat in diesem Fall schon vor dem
Beginn des eigentlichen Gesetzgebungsverfahrens gut
zusammengearbeitet . Dank dafür!
Nun wird es für uns als SPD im parlamentarischen
Verfahren darauf ankommen, dass die Detailregelun-
gen im Gesetz mit den Prinzipien und der Bedeutung
der Selbstverwaltung vereinbar sind . Nur eine wirkliche
Stärkung der Selbstverwaltung mit Blick auf Mitbestim-
mung und Handlungsfähigkeit wird auch die Unterstüt-
zung bei den Akteuren finden, die wir brauchen, um die
Institution insgesamt zukunftsfähig zu machen .
Denn wir brauchen uns keinen Illusionen hinzugeben .
Ein solches Gesetz hat mit seinen Details auch immer
eine gewisse Strahlkraft in andere Bereiche und die Zu-
kunft . Das gilt besonders für die Selbstverwaltung .
Klar ist, wir Sozialdemokraten halten an der Selbst-
verwaltung fest und wollen und werden sie stärken . Eine
Einschränkung oder gar eine Abwicklung ist mit uns
nicht zu machen . Dafür ist sie zu essenziell für das Funk-
tionieren unseres Gemeinwesens .
Harald Weinberg (DIE LINKE): Wie so oft in der
jüngeren Vergangenheit will die Bundesregierung et-
was stärken . Neben dem sogenannten Arzneimittel-Ver-
sorgungsstärkungsgesetz, dem Pflegestärkungsgesetz,
dem Versorgungsstärkungsgesetz kommt nun also das
GKV-Selbstverwaltungsstärkungsgesetz .
Bei dem Thema bleibt festzuhalten: Die Menschen in
Deutschland haben nicht das beste Bild von der Selbst-
verwaltung im Gesundheitssystem . Schaut man ein we-
nig hinter die Kulissen, muss man auch sagen: In der
Selbstverwaltung liegt einiges im Argen:
Krankenkassen verweigern unberechtigt Leistungen,
Ärztinnen und Ärzte klagen darüber, dass wegen des
Budgets Leistungen nicht verordnet werden können, ein
aus Beitragsgeldern sehr gut bezahltes Spitzenpersonal
der Kassenärztlichen Bundesvereinigung betreibt zwei-
felhafte Geschäfte, die Aufsicht schaut dem viel zu lange
zu, der Zahnarzt empfiehlt eine Leistung als notwendig,
will aber privat abrechnen, Krankenkassen machen mit
Ärzten gemeinsame Tricksereien bei Diagnosen, um
möglichst viel Geld aus dem Gesundheitsfonds zu erhal-
ten; die Liste lässt sich fortsetzen . Die wenigsten können
das komplexe System auch nur teilweise durchschauen,
die meisten müssen jedoch mit den Ergebnissen leben .
Und am wenigsten haben die einen Nutzen, um die es
eigentlich gehen sollte, die Patienten .
Es ist die eigentliche Aufgabe der Selbstverwaltung,
das Gemeinwohl zu stärken und die Versorgung der Pa-
tientinnen und Patienten zu verbessern . Das ist eine gute
Idee, die dem Wettbewerb geopfert wird . Seit Jahren wird
das Gesundheitssystem immer weiter kommerzialisiert .
Krankenkassen, Krankenhäuser, Arztpraxen, Apotheken
werden einem immer stärkeren Wettbewerb ausgesetzt .
Wer wie die Bundesregierung die Marktorientierung
will, der darf sich dann nicht wundern, wenn jede und je-
der nur ihren/seinen Nutzern sieht und eine gemeinsame
Kooperation zum Nutzen aller weiter auf dem Rückzug
ist . Das Eigeninteresse wird durchgesetzt, ein Ausgleich
findet kaum noch statt. Mal wieder versucht die Bun-
desregierung, die Konsequenzen ihrer eigenen Politik
schönzureden, indem dann Gesetzesnamen wie eben das
Selbstverwaltungsstärkungsgesetz kreiert werden . Die
Marktorientierung zerfrisst die Kultur des Helfens, die
medizinische Ethik und ersetzt sie durch Monetik . Das
ist etwas, das wir nicht zulassen dürfen und unter dem
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201621034
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viele Beschäftigte, denen die Ethik noch nicht abhanden-
gekommen ist, leiden .
Da sich die negativen Auswirkungen des Wettbewerbs
auf die Kultur im Gesundheitssystem kurz- oder mittel-
fristig nicht ändern lassen, brauchen wir Veränderungen
in der Selbstverwaltung . Patientenvertreterinnen und
-vertreter müssen an entscheidender Stelle mitbestimmen
können . Sie sollen Sitze und Stimmrecht in den Verwal-
tungsräten der Kassen erhalten und auch im Gemeinsa-
men Bundesausschuss das Zünglein an der Waage sein,
wenn sich Kassen, Ärzte- und Zahnärzteschaft sowie
Krankenhäuser nicht einigen können .
Dem Grunde nach ist es richtig, die operative Steu-
erung und Ausgestaltung des Versorgungssystems einer
Selbstverwaltung zu überantworten . Diese muss dann
aber auch im Sinne der Patienten allgemeinwohlorien-
tiert funktionieren . Dazu bedarf es einer juristischen und
einer fachlichen Aufsicht, die auch greift . In diesem Sin-
ne befürworten wir eine bundeseinheitliche Aufsicht der
Kassen .
Die Selbstverwaltung muss wieder zurück zu ih-
rem eigentlichen Ziel, der Stärkung des Gemeinwohls .
Selbstverwaltung muss den Patientinnen und Patienten
nutzen und darf nicht zweifelhaften betriebswirtschaft-
lichen Benchmarks oder gar persönlichen Reichtumszie-
len dienen .
Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Die Selbstverwaltung im Gesundheitswesen ist eigent-
lich ein bewährtes Prinzip, weil es sicherstellt, dass fach-
liches Wissen und praktische Erfahrung derjenigen, die
im Gesundheitswesen tätig sind, unmittelbar in die Re-
gulierung dieses Bereiches einfließen. Umso wichtiger
ist es allerdings, dass dies transparent und an der Sache
orientiert geschieht . Alles andere gefährdet die Legitima-
tion der Selbstverwaltung .
Der von der Bundesregierung vorgelegte Gesetzent-
wurf zur Reform der Selbstverwaltung ist direkte Folge
der Skandale um die Kassenärztliche Bundesvereini-
gung, die uns in den letzten Jahren erschüttert haben .
Jahrelang hatte deren früherer Vorstand an den gesetz-
lichen und internen Vorgaben vorbei Gelder in eine defi-
zitäre Immobiliengesellschaft investiert, sich selbst und
anderen hohe Versorgungsbezüge gewährt und Rückla-
gen in isländischen Schrottpapieren versenkt . Und das
Bundesministerium für Gesundheit als Aufsichtsbehörde
hat tatenlos zugesehen . Vermutlich läge auch dieser Ge-
setzentwurf heute nicht vor, wenn wir Sie nicht mit unse-
ren Nachfragen zum Handeln gezwungen hätten .
Eines muss man Ihnen allerdings zugestehen: Im Hin-
blick auf diese Vorgänge ist Ihr Vorschlag konsequent
und größtenteils sinnvoll . Interne Kontrollmechanismen
innerhalb der Spitzenverbände wie auch die aufsichts-
rechtlichen Befugnisse des Bundesministeriums für
Gesundheit (BMG) gegenüber diesen Körperschaften
werden verschärft oder präzisiert . Den Vorschlag, den
Vorstand der KBV zukünftig mit drei Mitgliedern zu be-
setzen, begrüßen wir ausdrücklich – verbunden mit der
Hoffnung, dass die im März 2017 anstehende Neuwahl
des Vorstandes zu einem Neuanfang und Kulturwandel
in dieser Institution führt .
Auch Ihre Entscheidung, den noch im Referentenent-
wurf geplanten massiven Eingriff in die Kompetenzen
des Gemeinsamen Bundesausschusses wieder zu strei-
chen, ist gut . Die ursprünglich vom Ministerium vorgese-
hene Möglichkeit, in die Richtlinienkompetenz des GBA
einzugreifen, hätte die Rechtsaufsicht nicht verbessert,
sondern eine Politisierung von fachlichen Entscheidun-
gen über GKV-Leistungen zur Folge gehabt, die keiner
von uns will .
Der Gesetzentwurf zeigt also einige richtige Ansätze .
In anderen Bereichen allerdings bleibt er merkwürdig
lückenhaft und deutlich hinter dem zurück, was unsere
Fraktion bereits vor Monaten an Reformvorschlägen vor-
gelegt hat . Beispielsweise sollen in Ihrem Entwurf Be-
teiligungen an Gesellschaften des Privatrechts zukünftig
lediglich vom Lenkungsgremium der Körperschaft selbst
abgenickt werden, nicht jedoch von der Aufsichtsbehör-
de . Die noch im Referentenentwurf geplante ministeri-
elle Aufsicht über diese Gesellschaften findet sich im
Kabinettsentwurf ebenfalls nicht mehr . Das ist nach den
Erfahrungen mit der Übernahme einer faktisch insolven-
ten Immobiliengesellschaft durch die Kassenärztliche
Bundesvereinigung nicht nachvollziehbar .
Gleichzeitig wollen Sie die Geschäfts- und Rech-
nungsprüfung der Körperschaften durch das Ministeri-
um zugunsten einer selbst beauftragten Betriebsprüfung
durch private Anbieter ersetzen . Auch wenn das Ministe-
rium diese Prüfung in den letzten Jahren häufig einfach
unterlassen hat und so einen Teil Mitverantwortung an
den Entwicklungen bei der KBV trägt, sollten Sie jetzt
zumindest sicherstellen, dass der Prüfbericht anschlie-
ßend dem Ministerium vorgelegt werden muss . Aber
auch hier: Fehlanzeige .
Und es gibt weitere Lücken: Es soll keine Vorabkon-
trolle der Haushaltspläne durch das BMG geben, so wie
dies ursprünglich einmal selbst vom Ministerium ange-
dacht war . Es soll keine Genehmigung für Geldanlagen
oder Darlehen geben, obwohl die Kassenärztliche Bun-
desvereinigung gerade durch solche Finanzgeschäfte er-
hebliche Beträge vernichtet hat, die ursprünglich mal für
die ärztliche Versorgung im Land gedacht waren . Es feh-
len jegliche Regelungen zur Präzisierung der persönli-
chen Haftung von Funktionären bei Pflichtverletzungen,
obwohl gerade darüber momentan heftig vor Gericht
gestritten wird . Die Offenlegung von Nebentätigkeiten
der Vorstände bleibt auch zukünftig auf ein Minimum
beschränkt, was eine echte Transparenz von Interessens-
konflikten unmöglich macht. Außerdem gibt es weiterhin
keine aufsichtsrechtliche Möglichkeit, diese Nebentätig-
keiten im Bedarfsfall zu untersagen . Auch unsere Forde-
rung nach einem besseren Schutz von Whistleblowern,
beispielsweise durch eine Ombudsperson, wurde nicht
aufgegriffen .
Warum diese Zurückhaltung? Vielleicht weil man
hofft, dass es sich bei den Vorgängen um die KBV um
einmalige Ausfälle der Vergangenheit handelte? Sollte
die Bundesregierung dies je geglaubt haben, wurden wir
alle vor kurzem durch die Presseberichte über die Be-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 21035
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(B) (D)
auftragung einer Politikberatungsagentur eines Besse-
ren belehrt . Das Bundesministerium für Gesundheit als
Aufsichtsbehörde sieht sich auf Anfrage allerdings noch
nicht mal in der Lage, eine rechtliche Bewertung dieser
Vorgänge abzugeben . Dies zeigt auch: Das beste Selbst-
verwaltungsstärkungsgesetz wird wenig bringen, wenn
nicht auch im Ministerium selbst ein Kulturwandel statt-
findet. Eine Stärkung der Aufsichtsrechte auf dem Papier
ändert nichts, solange nicht die Bereitschaft besteht, die-
se Rechte im Ernstfall auch wahrzunehmen . Dies müssen
Sie zukünftig beweisen .
Annette Widmann-Mauz, Parl . Staatssekretärin
beim Bundesminister für Gesundheit: Ich beginne mit
einer guten Nachricht: Die Selbstverwaltungsgremien
in unserem Gesundheitswesen ziehen wieder an einem
Strang . Geeint rufen sie dazu auf, den vorliegenden Ge-
setzentwurf zurückzunehmen .
Dies wird unser Haus, das Bundesministerium für Ge-
sundheit, BMG, jedoch nicht tun . Herr Bundesminister
Hermann Gröhe wird an diesem Gesetzentwurf festhal-
ten, gerade weil er – wie auch ich – ein Befürworter der
Selbstverwaltung ist und weil wir auch künftig eine star-
ke und unabhängige Selbstverwaltung für unser Gesund-
heitswesen erhalten möchten .
Schließlich ist die hohe Qualität der medizinischen
Versorgung in unserem Gesundheitssystem untrennbar
mit dem Engagement der Selbstverwaltung verbunden .
Sie hat eine herausragende Rolle bei der Sicherstellung
einer qualitativ hochwertigen Versorgung . Und gerade
deshalb werden wir an dem Prinzip der Selbstverwaltung
auch nicht rütteln . Es ist ein modernes und zukunftswei-
sendes Prinzip .
Die Selbstverwaltung im Gesundheitswesen hat ins-
gesamt eine Vielzahl von verantwortungsvollen Aufga-
ben zu erfüllen, um eine gute Gesundheitsversorgung für
die Patientinnen und Patienten sicherzustellen . Auf diese
Organisationsform, die sich von vielen rein staatlichen
oder privaten Organisationsformen in anderen Staaten
abhebt, sind wir in Deutschland zu Recht stolz . Sie hat
sich bewährt .
Die Vorfälle bei der Kassenärztlichen Bundesverei-
nigung, KBV, die uns über Monate beschäftigt haben,
haben aber auch gezeigt, dass es klarer Rahmenbedin-
gungen für die Selbstverwaltung bedarf . Hier brauchen
wir sowohl mehr Transparenz als auch strengere interne
Kontrollmechanismen .
Mit diesem Gesetzentwurf wollen wir dafür sorgen,
dass die Spitzenorganisationen der Selbstverwaltung sich
künftig stärker ihrer Eigenverantwortung bewusst wer-
den und zugleich vor Selbstblockaden geschützt sind .
Bei allem inhaltlichen und mitunter auch persönlichen
Streit darf in diesen Organisationen nicht vergessen wer-
den, dass sie letztlich dem Zweck dienen sollen, die gute
gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung zu sichern .
Deshalb umfasst der Gesetzentwurf beispielsweise
schlüssige Vorgaben für die staatliche Rechtsaufsicht,
klare Vorgaben für die Haushalts- und Vermögensver-
waltung sowie eine Stärkung der internen Transparenz-
pflichten und Kontrollmechanismen.
Auch die Sorgen, die Rechtsaufsicht könnte überdehnt
werden, haben wir sehr ernst genommen . Daher bleibt
unsere Rechtsaufsicht eine Rechtsaufsicht und wird nicht
zur Fachaufsicht werden .
Weiter bleiben auch die Gestaltungsspielräume der
Partner in der Selbstverwaltung erhalten . Denn nur so
können wir weiterhin auf praxisnahe und eigenverant-
wortliche Entscheidungen bauen .
Aber das setzt auch voraus, dass Körperschaften, die
der Aufsicht unterliegen, intern transparente Strukturen
haben und die hohen Standards einer Verwaltungsorga-
nisation erfüllen .
Aus diesem Grund brauchen wir klare Befugnisse der
Rechtsaufsicht, um Rechtsverletzungen eindeutig und
konsequent entgegentreten zu können .
Diese Grundsätze gelten für alle Körperschaften glei-
chermaßen – für die ärztliche Selbstverwaltung wie auch
die Selbstverwaltung in der gesetzlichen Krankenversi-
cherung . Ziel ist es daher, ein für alle diese Spitzenver-
bände weitestgehend einheitliches Recht zu schaffen .
Einzelne dieser Regelungen werden auch auf den Ge-
meinsamen Bundesausschuss, G-BA, übertragen . Den
Besonderheiten des G-BA aufgrund seiner Aufgabenstel-
lung im Rahmen der Normsetzung und seiner von den
anderen Selbstverwaltungskörperschaften abweichenden
Organisationsstruktur wurde dabei Rechnung getragen .
Der Gesetzentwurf sieht zur Stärkung der Kontroll-
rechte der Mitglieder der Selbstverwaltungsorgane und
zur Herstellung von mehr Transparenz im Verwaltungs-
handeln der Institutionen folgende Maßnahmen vor .
Dazu gehören die Stärkung der Einsichts- und Prüfrechte
der Mitglieder der Selbstverwaltungsorgane, Vorgaben
zu Informations-, Berichts- und Dokumentationspflich-
ten über die Beratungen in Ausschüssen der Selbstver-
waltungsorgane, die Präzisierung der Berichtspflichten
des Vorstands sowie Regelungen zur Abwahlmöglichkeit
der oder des Vorsitzenden der Selbstverwaltungsorgane .
Bei der KBV bedarf es zudem struktureller Verände-
rungen bei den Regelungen zum Vorstand:
Es wird verpflichtend ein Vorstand mit drei Mitglie-
dern geregelt, dessen Vorstandsvorsitzende bzw . -vorsit-
zender mit einer qualifizierten Mehrheit gewählt werden
muss . Nur für den Fall, dass ein letzter nach der Satzung
vorgesehener Wahlgang erforderlich wird, soll die ein-
fache Mehrheit der abgegebenen Stimmen ausreichend
sein . Ein Mitglied des Vorstands darf weder dem haus-
ärztlichen noch dem fachärztlichen Versorgungsbereich
angehören . Mit diesen Vorgaben wird die notwendige
versorgungsbereichsübergreifende Interessenvertretung
im Vorstand sichergestellt sowie die Akzeptanz der oder
des Vorsitzenden gestärkt .
Wichtig ist dabei: Die Vorstände werden für die Dau-
er von sechs Jahren gewählt . Im März 2017 stehen die
Neuwahlen bei der KBV an . Mit den vorgesehenen struk-
turellen Änderungen sollen die in der KBV bestehenden
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201621036
(A) (C)
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Konflikte zwischen den Versorgungsbereichen und die
damit einhergehenden Blockaden aufgehoben werden .
Mit dem Gesetz wird insgesamt die staatliche Aufsicht
als externe Kontrolle gestärkt . Die gesetzlichen Vorgaben
zum Verwaltungshandeln werden klarer gefasst, damit
ein rechtssicherer und eindeutiger Anknüpfungspunkt
für das aufsichtsrechtliche Handeln besteht . Dies betrifft
einheitliche und präzisere Vorgaben zu Rücklagen und
Betriebsmitteln sowie die Pflicht zur Ausschüttung von
Vermögen bzw . der Senkung der Umlage, soweit vor-
handenes Vermögen nicht zur Erfüllung der gesetzlichen
Aufgaben erforderlich ist, die Erweiterung der Prüfungs-
und Mitteilungspflichten in Bezug auf Beteiligungen an
und die Gründung von Einrichtungen, die Etablierung
einer regelmäßigen externen Prüfung der Geschäfts-,
Rechnungs- und Betriebsführung anstelle der bisherigen
Prüfung durch das Bundesministerium für Gesundheit
bzw. das Bundesversicherungsamt und die Verpflichtung
zur Einrichtung interner Kontrollmechanismen, insbe-
sondere einer Innenrevision, die festgestellte Verstöße
auch an die Aufsichtsbehörde zu berichten hat .
Der Gesetzentwurf wird insgesamt dazu beitragen, die
Selbstverwaltung in vielen wichtigen Punkten zu stärken .
Eine so gestärkte Selbstverwaltung wird auch zukünftig
ihren Teil dazu beitragen, im gewohnten Maße eine hohe
Qualität der medizinischen Versorgung sicherzustellen .
Und dieser Zirkelschluss lässt sich nur auf eine Art
und Weise zusammenfassen: Er ist das richtige Ergebnis .
Anlage 23
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erweiterung
der Medienöffentlichkeit in Gerichtsverfahren und
zur Verbesserung der Kommunikationshilfen für
Menschen mit Sprach- und Hörbehinderungen
(Gesetz über die Erweiterung der Medienöffent-
lichkeit in Gerichtsverfahren – EMöGG) (Tages-
ordnungspunkt 25)
Detlef Seif (CDU/CSU): Über den Gesetzentwurf zur
Erweiterung der Medienöffentlichkeit in Gerichtsver-
fahren und zur Verbesserung der Kommunikationshilfen
für Menschen mit Sprach- und Hörbehinderungen, den
wir heute in erster Lesung beraten, war schon vor dem
Beginn des parlamentarischen Verfahrens in den Medien
zu lesen . Von „Gerichts-TVs“, „Recht im Zirkus“ oder
sogar der „Revolution im Gerichtssaal“ war in diesem
Zusammenhang die Rede . Schon der damalige Referent-
enentwurf des Bundesjustizministeriums löste eine Welle
des Protests aus, nicht nur bei Juristen und Journalisten,
sondern auch und vor allem bei den Präsidentinnen und
Präsidenten der obersten Bundesgerichte, die von den
geplanten Neuregelungen in besonderem Maße betroffen
sind .
Mit dem Gesetzentwurf sollen zunächst die Leistun-
gen hör- und sprachbehinderter Menschen im Hinblick
auf die Beteiligung von Gebärdensprachdolmetschern
und anderen geeigneten Kommunikationshilfen in ge-
richtlichen Verfahren erweitert werden . Hör- und sprach-
behinderte Menschen können nach geltendem Recht
Gebärdensprachdolmetscher zwar im gesamten Strafver-
fahren, in allen anderen Verfahren aber nur im Rahmen
der mündlichen Verhandlung in Anspruch nehmen . Die
Beiordnung einer Sprach- oder Übersetzungshilfe soll
zukünftig im gesamten gerichtlichen Verfahren mög-
lich sein . Die Änderung bewirkt, dass die Kosten für die
Kommunikationshilfe in Zukunft nicht mehr nur für die
mündliche Verhandlung erstattet werden, sondern alle
Übersetzungsleistungen zu erstatten sind, die im Zusam-
menhang mit dem gerichtlichen Verfahren stehen . Einzel-
heiten, wie etwa der Umfang des Anspruchs, sollen durch
Rechtsverordnung geregelt werden . Der Regelungsvor-
schlag dürfte fraktionsübergreifend Zustimmung finden,
da er den barrierefreien Zugang zu Gerichtsverfahren
weiter verbessert .
Im Gegensatz dazu sorgte aber die Absicht des Justiz-
ministeriums, das seit 1964 geltende strikte gesetzliche
Verbot von Bild- und Tonübertragungen in Gerichtsver-
fahren zu lockern, schon im Vorfeld für Unmut . Das Jus-
tizministerium begründet diesen Schritt damit, dass das
generelle Übertragungsverbot angesichts der bisherigen
technischen und gesellschaftlichen Entwicklungen ins-
besondere in der Medienlandschaft infrage zu stellen sei .
Aktuell sind Ton- und Fernsehrundfunkaufnahmen
sowie Ton- und Filmaufnahmen zum Zwecke der öffent-
lichen Vorführung oder Veröffentlichung ihres Inhalts
unzulässig . Das Verbot gilt während der gesamten Dauer
der Hauptverhandlung einschließlich Entscheidungsver-
kündung und steht nicht zur Disposition der Beteiligten .
Es dient dem Schutz des allgemeinen Persönlichkeits-
rechts aller Prozessbeteiligten und der Sicherung der
Wahrheitsfindung im Prozess. Konkret geht es um den
Schutz des Rechts am eigenen Bild und gesprochenen
Wort, das es dem Einzelnen überlässt, selbst und eigen-
ständig über die Darstellung der eigenen Person anderen
gegenüber und über die Aufnahme und das Abspielen der
eigenen Stimme mittels eines Tonträgers zu bestimmen .
Es geht daneben aber auch um das Recht auf ein faires
Verfahren und um den Schutz einer geordneten Rechts-
pflege.
Nach den Plänen des Bundesjustizministers, die auf die
Forderungen der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur „zeit-
gemäßen Neufassung des § 169 Gerichtsverfassungsge-
setz“ zurückgehen, soll zunächst die Tonübertragung der
mündlichen Verhandlung sowie der Urteilsverkündung in
einen Arbeitsraum für Medienvertreter gestattet werden .
Medienvertreter sollen so die Möglichkeit erhalten, die
mündliche Verhandlung im Sitzungssaal akustisch mit-
zuverfolgen . Es handelt sich um eine Ermessensentschei-
dung des zuständigen Gerichts, das die Tonübertragung
zur Wahrung schutzwürdiger Interessen der Beteiligten
oder Dritter oder zur Wahrung eines ordnungsgemäßen
Verfahrensablaufs teilweise auch untersagen kann . Der
Regelungsvorschlag ist nachvollziehbar und grundsätz-
lich sinnvoll, weil – wie das Beispiel des NSU-Prozesses
seit dem Jahr 2013 zeigt – es durchaus Gerichtsverfahren
gibt, an denen Pressevertreter und Öffentlichkeit ein ge-
steigertes Informationsinteresse haben, das Platzangebot
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 21037
(A) (C)
(B) (D)
im Gerichtssaal im Vergleich zur Nachfrage aber nur auf
einige wenige Zuschauer beschränkt ist .
Unabhängig von grundsätzlichen Erwägungen erge-
ben sich für mich aus einer Tonübertragung in einen Ne-
benraum ganz praktische Probleme . Dem Vorsitzenden
Richter obliegen die sitzungspolizeilichen Befugnisse,
d . h . er muss Sorge dafür tragen, dass in der Sitzung die
notwendige Ordnung herrscht . Diese Aufgabe hätte der
Vorsitzende Richter nach einer Reform nicht nur in Be-
zug auf die Saalöffentlichkeit im Gerichtssaal, sondern
auch in Bezug auf die Öffentlichkeit im Nebenraum . Ist
es aber einem einzelnen Menschen zumutbar, neben dem
laufenden Verfahren, in dem auch zum Teil recht umfang-
reiche Beweisaufnahmen durchzuführen und zu erfassen
sind, und der Sitzungspolizei im Gerichtssaal auch noch
die Geschehnisse im Medienarbeitsraum zu überblicken?
Diese Frage lasse ich hier einmal im Raum stehen .
Die Bereitstellung eines Medienarbeitsraumes wird
notwendigerweise zu einer zusätzlichen Arbeitsbelas-
tung der Gerichte führen, dessen sollten wir uns bereits
jetzt bewusst sein . So muss ein Raum gefunden wer-
den, der technisch entsprechend auszustatten ist, und es
muss auch weiteres Personal bereitgestellt werden, das
die zusätzlich anfallenden Aufgaben erledigt . Es muss
insbesondere durch gründliche Personenkontrollen ge-
währleistet sein, dass unbefugten Dritten der Zutritt zum
Medienarbeitsraum untersagt wird, um zu verhindern,
dass etwa Zeugen, die im Verfahren noch nicht ausge-
sagt haben, sich vorab über das Geschehen informieren .
Es muss darüber hinaus auch sitzungspolizeilich ge-
währleistet sein, dass die Zuhörer im Nebenraum keine
unbefugten Tonaufnahmen von der Hauptverhandlung
fertigen . Der Gesetzentwurf schweigt leider zu diesen
praktischen Punkten . Es ist aber notwendig, dass wir uns
jetzt im parlamentarischen Verfahren auch über diese As-
pekte Gedanken machen . Man könnte überlegen, neben
den bereits bestehenden sitzungspolizeilichen Befugnis-
sen des Vorsitzenden Richters eventuell einen Straf- oder
Ordnungswidrigkeitentatbestand zu schaffen, der den
unerlaubten Zutritt zum Medienarbeitsraum und auch et-
waige unbefugte Mitschnitte von der Hauptverhandlung
im Arbeitsraum unter Strafe stellt .
Darüber hinaus soll nach dem Gesetzentwurf in Zu-
kunft die Aufnahme und Übertragung der Entscheidungs-
verkündung der obersten Bundesgerichte zum Zwecke
öffentlicher Vorführung oder der Veröffentlichung ihres
Inhaltes in Form von Ton- und Fernsehrundfunkaufnah-
men sowie Ton- und Filmaufnahmen ermöglicht werden .
Stehen dem wichtige Gründe entgegen, wie etwa die
Wahrung schutzwürdiger Interessen der Verfahrensbetei-
ligten oder Dritter, kann die Aufnahme oder Übertragung
teilweise untersagt oder von Auflagen abhängig gemacht
werden . Eine ähnliche Regelung existiert bereits für das
Bundesverfassungsgericht . Das Bundesverfassungsge-
richtsgesetz regelt seit 1998, dass entsprechende Aufnah-
men in der mündlichen Verhandlung bis zur Feststellung
der Anwesenheit der Beteiligten durch das Bundesver-
fassungsgericht und bei der öffentlichen Verkündung
der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu-
lässig sind . Insoweit stehe ich dem Regelungsvorschlag
des Ministeriums durchaus offen gegenüber, wenngleich
eine entsprechende Regelung für die obersten Bundes-
gerichte nach meiner Einschätzung nicht zwingend not-
wendig erscheint, jedenfalls nicht, wenn man sich einmal
die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts an-
sieht, das das generelle Übertragungsverbot in Gerichts-
verfahren aus gewichtigen Gründen nach wie vor für
verfassungsgemäß hält . Bei einer Öffnung des Übertra-
gungsverbots auch im Bereich der obersten Bundesge-
richte muss sichergestellt sein, dass bei der Aufnahme
allein das Gericht bei der Verkündung der Entscheidung
sichtbar ist und dass die Medienöffentlichkeit dann be-
schränkt wird, wenn das oberste Bundesgericht Bezug
nimmt auf Feststellungen der Vorinstanzen, für die das
Übertragungsverbot nach wie vor gilt .
Schließlich soll es nach dem Gesetzentwurf künftig
möglich sein, Ton- und Filmaufnahmen von der Ver-
handlung einschließlich der Entscheidungsverkündung
zu wissenschaftlichen und historischen Zwecken bei Ver-
fahren von herausragender zeitgeschichtlicher Bedeu-
tung für die Bundesrepublik Deutschland anzufertigen .
Die Archivaufnahmen dürfen nicht zur Akte genommen
werden, sie dürfen darüber hinaus auch nicht herausge-
geben oder zu Verfahrenszwecken genutzt werden . Die
Aufnahmen müssen nach Verfahrensabschluss dem zu-
ständigen Bundes- oder Landesarchiv zur Übernahme
angeboten werden . Dieses entscheidet, ob den Aufnah-
men ein bleibender Wert zukommt oder sie vom Gericht
zu löschen sind . Ich spreche mich bereits jetzt entschie-
den gegen diesen Vorschlag aus . Er muss in jedem Fall
im Gesetzentwurf gestrichen werden . Allein die Tatsa-
che, dass die gesamte Verhandlung aufgezeichnet und
damit für die Nachwelt festgehalten wird, würde dazu
führen, dass künftig vor allem die Parteien, die Zeugen
und auch die Sachverständigen ihr Verhalten oder ihre
Aussagen wegen dieser Umstände ändern oder zumin-
dest überdenken . Auch das Verhalten der Richter kann
sich bei laufender Kamera verändern . Im Übrigen darf
es nicht sein, dass politisch motivierte Kriminelle sich
vor der Kamera inszenieren und die Gelegenheit nutzen,
um ihre schrägen Botschaften zu verbreiten . Derartige
Archiv aufnahmen würden Tat und Täter aufwerten .
Hinweisen möchte ich in diesem Zusammenhang auch
darauf, dass das Missbrauchspotential für Archivauf-
nahmen sehr hoch ist, weil diese angesichts ihres Spei-
chermediums abhandenkommen und verbreitet werden
könnten . Entsprechende gesetzliche Vorgaben könnten
dieses hohe Risiko allenfalls minimieren, nicht jedoch
ausschließen .
Unabhängig von diesen grundsätzlichen Erwägun-
gen ist auch völlig unklar, nach welchen Kriterien das
Gericht die herausragende zeitgeschichtliche Bedeutung
des jeweiligen Verfahrens beurteilen soll . Regelbeispie-
le sind im Gesetzentwurf nicht enthalten, und auch im
Begründungsteil des Entwurfes fehlen jegliche Anhalts-
punkte für die Entscheidung, die im Ermessen des Ge-
richts steht .
Zur Sicherung eines fairen Verfahrens und zur unge-
störten Wahrheits- und Rechtsfindung sollten den Betei-
ligten, insbesondere den Richtern, alle über die Prozess-
situation hinausgehenden Belastungen und Ablenkungen
erspart bleiben .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201621038
(A) (C)
(B) (D)
Unsere Maßgabe im nun beginnenden parlamentari-
schen Verfahren muss es sein, praktikable gesetzliche
Vorgaben für die Gerichte zu schaffen, die einerseits
die schutzwürdigen Interessen der Verfahrensbeteiligten
und Dritter wahren und einen ordnungsgemäßen Verfah-
rensablauf sicherstellen, andererseits den zusätzlichen
technischen, organisatorischen und personellen Aufwand
bei den Gerichten möglichst gering halten, damit diese
sich weiterhin auf ihre Kernaufgabe, Recht zu sprechen,
konzentrieren können . An diesem Maßstab sollte jeder
der Regelungsvorschläge des Bundesjustizministeriums
gemessen werden .
Erlauben Sie mir abschließend noch die Bemerkung,
dass sich nicht die Gerichte an die veränderten Medien-
gewohnheiten der Gesellschaft anpassen müssen, son-
dern vielmehr die Medien auf die prozessualen Beson-
derheiten im Gerichtsverfahren Rücksicht zu nehmen
haben . Im Mittelpunkt steht auch zukünftig nicht das
technisch Machbare, sondern die professionelle Arbeit
der Gerichte .
Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Wir diskutieren
heute den von der Bundesregierung eingebrachten Ge-
setzentwurf zur Erweiterung der Medienöffentlichkeit in
Gerichtsverfahren und zur Verbesserung von Kommuni-
kationshilfen für Menschen mit Sprach- und Hörbehin-
derungen .
In Zeiten von enormen technischen und gesellschaft-
lichen Veränderungen und in der Verbreitung von Nach-
richten in den Medien müssen wir hinterfragen, ob das
bisherige strikte gesetzliche Verbot von Bild- und Ton-
übertragungen insgesamt noch zeitgemäß ist .
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht eine
moderate Lockerung vom Verbot von Ton- und Fern-
sehrundfunkaufnahmen aus Gerichtsverhandlungen vor .
Es ist darauf hinzuweisen, dass es im Grundsatz bei der
Unzulässigkeit verbleibt . § 169 Satz 2 GVG wird ge-
rade nicht gestrichen . Nach dem Zweck des Gesetzes
werden einmalige und punktuelle Ausnahmeregelungen
geschaffen . Es ist keinesfalls Ziel, Gerichtsverfahren zu
kommerzialisieren . Einer unbegrenzten audio-visuellen
Medienöffentlichkeit wird eine klare Absage erteilt .
Im Mittelpunkt des Gesetzentwurfs steht das Span-
nungsverhältnis zwischen dem Zugang von Medienver-
tretern zu Gerichtsverhandlungen und den Persönlich-
keitsrechten der Verfahrensbeteiligten . Der Angeklagte
darf in keinem Fall zum Schauobjekt degradiert werden .
Die Personenwürde des Angeklagten ist stets zu achten .
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung beinhaltet
nun die Möglichkeit der Übertragung der mündlichen
Verhandlung und der Urteilsverkündung in einen Ar-
beitsraum für Medienvertreter (§ 169 Absatz 1 Satz 3-5
GVG-E) . Geplant sind hier ausschließlich Tonübertra-
gungen . Ferner beinhaltet ist die Möglichkeit der au-
dio-visuellen Dokumentation von Gerichtsverfahren von
herausragender zeitgeschichtlicher Bedeutung (§ 169
Absatz 2 GVG-E) . Die Aufnahmen werden nicht Be-
standteil der Gerichtsakte . Nach Abschluss des Verfah-
rens sollen sie dem Bundes-/Landesarchiv zur Über-
nahme angeboten werden . Beinhaltet ist außerdem die
Übertragung von Verkündungen von Entscheidungen der
Obersten Gerichtshöfe des Bundes in den Medien (§ 169
Absatz 3 GVG-E bzw . ArbGG) .
Ein weiteres wichtiges Kernelement des Gesetzent-
wurfes liegt in der Verbesserung für Menschen mit Hör-
und Sprachbehinderungen zum barrierefreien Zugang im
Gerichtsverfahren . Eine Kostenübernahme für die Ver-
dolmetschung des gesamten gerichtlichen Verfahrens ist
bisher nur für die Hauptverhandlung gegeben und bedarf
einer Erweiterung . Hier setzen wir an . Die bestehende
Regelungslücke hinsichtlich des Tragens dieser Kosten
für das gerichtliche Verfahren außerhalb der mündlichen
Verhandlung soll geschlossen werden . Dies hat Auswir-
kungen darauf, wer die Kosten für eine Inanspruchnah-
me außerhalb der mündlichen Verhandlung zu tragen
hat . Für die Betroffenen treten Entlastungen in Höhe von
97 500 Euro ein, da die Kosten der Übersetzungsleistun-
gen nunmehr von den Gerichten und nicht mehr von den
betroffenen Personen selbst zu tragen sind . Dies ist ein
gutes und richtiges Signal .
Natürlich muss stets die Verhältnismäßigkeit zwischen
dem Interesse der Öffentlichkeit und den Persönlich-
keitsrechten der Verfahrensbeteiligten gewahrt werden .
Der Gesetzentwurf plant moderate Lockerungen der be-
stehenden Gesetzgebung, die das gerichtliche Verfahren
nicht schwerwiegend beeinflussen und gleichzeitig einen
gesetzlichen Rahmen für eine angemessene Medienöf-
fentlichkeit schaffen .
Dr. Matthias Bartke (SPD): Die Szenen aus Ge-
richtsserien haben das Bild vieler Fernsehzuschauer von
Gerichtsverhandlungen geprägt . Die Realität kann nur
wenig dagegensetzen; denn Aufnahmen realer Gerichts-
verhandlungen gibt es im Fernsehen keine zu sehen .
Grund dafür ist das Verbot aus dem Jahr 1964 . Die-
ses Verbot erklärt Ton-, Fernseh- und Rundfunkaufnah-
men von Verhandlungen und Urteilsverkündungen zum
Zweck der Veröffentlichung für unzulässig . Damit ist
alles, was wir zu sehen bekommen: Angeklagte, Anwäl-
te und Richter, die den Gerichtssaal betreten, sich setzen
und wieder aufstehen . Die wirkliche Welt der Gerichts-
verhandlungen bleibt damit für die meisten Fernsehzu-
schauer verborgen .
Das Verbot der Tonaufnahmen hat aber noch eine
ganz andere Dimension . Es verhindert nämlich, dass die
Gerichtsverhandlung in einen anderen Raum übertragen
werden kann . Das hatte beim NSU-Prozessbeginn für
riesige Probleme gesorgt .
Zunächst sollte für die Vergabe der Plätze die Reihen-
folge der Anmeldung entscheidend sein . Dabei kamen
aber die türkischen Medien zu kurz . Das Bundesverfas-
sungsgericht ordnete daher an, dass mindestens drei Plät-
ze für ausländische Medien reserviert werden müssten .
Der Senat entschied sich dann für eine komplette Neu-
vergabe per Los .
Nach der Auslosung der Presseplätze kam es zu einem
neuen Sturm der Entrüstung . Während große Medien wie
die FAZ, Die Zeit oder Die Welt kein Losglück hatten,
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 21039
(A) (C)
(B) (D)
sollten kleine Regionalsender wie Radio LOTTE Weimar
über den Prozess berichten .
Die Gerichte entscheiden im Namen des Volkes . Was
sie an Recht sprechen, wirkt sich auf unser aller Zusam-
menleben aus . Es gibt daher ein berechtigtes Interesse
daran, dass über einen Prozess entsprechend seiner Be-
deutung berichtet werden kann . Wir wollen das Verbot
von Ton- und Fernsehaufnahmen in Gerichten daher lo-
ckern .
In den vergangenen Monaten ist dieses Ansinnen be-
reits verschiedentlich auf Kritik gestoßen . Wir nehmen
diese Einwände sehr ernst . Durch die Lockerung des Ver-
bots dürfen weder Persönlichkeitsrechte verletzt noch die
Wahrheitsfindung im Strafverfahren gefährdet werden.
Der vorliegende Gesetzentwurf ist daher ein sehr
bedachter und abwägender Gesetzentwurf . Er baut die
Brücke zwischen dem Informationsbedürfnis der Allge-
meinheit und den Rahmenbedingungen für ein faires Ver-
fahren und eine funktionstüchtige Rechtspflege.
Entscheidungsverkündungen oberster Gerichtshöfe
des Bundes sollen zukünftig grundsätzlich von Medien
übertragen werden können . Für Fälle wie das NSU-Ver-
fahren soll die Einrichtung von Arbeitsräumen für Me-
dienvertreterinnen und -vertreter mit Tonübertragung
ermöglicht werden . Darüber hinaus sehen wir für Ge-
richtsverfahren von herausragender zeitgeschichtlicher
Bedeutung eine audio-visuelle Dokumentation vor .
Die Voraussetzungen für alle drei Möglichkeiten sind
aber eng gesetzt . Zwischen Verhandlungen und Entschei-
dungsverkündungen, zwischen Ton- und Videoaufnah-
men wird wohlweislich unterschieden . Übertragungen
und Aufzeichnungen liegen stets im Ermessen des Ge-
richts .
Von TV-Schlachten, Showbühnen und Satirebeiträgen
sind wir damit weit entfernt . Zu Recht .
Harald Petzold (Havelland) (DIE LINKE): Der uns
vorliegende Gesetzentwurf sieht vor, dass das seit 1964
bestehende Verbot von Ton-, Fernseh- und Rundfunkauf-
nahmen zum Zwecke der öffentlichen Vorführung oder
Veröffentlichung moderat gelockert werden soll . Damit
trägt der uns vorliegende Gesetzentwurf den gesell-
schaftlichen und technischen Entwicklungen in Bezug
auf moderne Kommunikationsmittel in der Gesellschaft
Rechnung, der sich die Justiz nicht verschließen sollte .
Nun steht zu befürchten, dass die von Justizminister
Heiko Maas geplante Änderung des § 169 GVG dazu
führt, dass der Gerichtssaal zur Showbühne verwandelt
und die Unabhängigkeit der Justiz durch einen erhöh-
ten medialen Druck gefährdet wird . Für meine Fraktion
bleibt es ein Grundprinzip, dass Gerichtsverfahren IN der
Öffentlichkeit, aber nicht FÜR die Öffentlichkeit stattfin-
den . Die geplanten Änderungen des § 169 GVG tragen
dem nach Auffassung meiner Fraktion Rechnung . Sie
sind moderat und verfolgen lediglich das Ziel, die Ge-
richtsverfahren IN der Öffentlichkeit besser wahrnehm-
bar zu machen . Einer medialen Massenverwertung wird
durch die geplanten Änderungen des § 169 GVG nicht
Tür und Tor geöffnet .
Der Regierungsentwurf des Gesetzes zur Erweiterung
der Medienöffentlichkeit in Gerichtsverfahren und zur
Verbesserung der Kommunikationshilfen für Menschen
mit Sprach- und Hörbehinderungen – EMöGG – beinhal-
tet im Wesentlichen Folgendes:
Erstens Medienübertragung: Entscheidungsverkün-
dungen oberster Bundesgerichte sollen grundsätzlich von
Medien übertragen werden können .
Zweitens gerichtsinterne Übertragung: Die Einrich-
tung von Arbeitsräumen für Medienvertreterinnen und
-vertreter mit Tonübertragung soll für Verfahren mit ei-
nem erheblichen Medieninteresse gesetzlich geregelt
werden .
Drittens Verfahren von herausragender zeitgeschicht-
licher Bedeutung: Eine audio-visuelle Dokumentation
von Gerichtsverfahren, die eine herausragende zeitge-
schichtliche Bedeutung besitzen, soll bei näherer Be-
stimmung der Voraussetzungen und der Festlegung von
Regelungen für eine begrenzte Verwendung ermöglicht
werden .
Gegen eine ausschließliche Übertragung von Urtei-
len oberster Bundesgerichte durch die Medien ist aus
Sicht meiner Fraktion Die Linke nichts einzuwenden . So
werden auch Entscheidungen des Bundesverfassungsge-
richts bereits jetzt von den Medien übertragen, ohne dass
dies die Unabhängigkeit des Bundesverfassungsgerichts
bislang gefährdet hätte oder das Bundesverfassungsge-
richt zu einer Showbühne verkommen wäre . Eine Über-
tragung von Entscheidungen oberster Bundesgerichte ist
auch deshalb gerechtfertigt, weil derartige Entscheidun-
gen nur einen Bruchteil aller Gerichtsentscheidungen
ausmachen, sie jedoch meist eine hohe gesellschaftliche
Bedeutung haben und dadurch auf ein öffentliches Inte-
resse stoßen . Die Übertragung von Entscheidungsver-
kündungen oberster Bundesgerichte von den Medien
stellt auch keinen erheblichen Eingriff in die Funktions-
fähigkeit der Rechtspflege dar. Denn die eigentliche Ge-
richtsverhandlung findet nach wie vor unter Ausschluss
von Bild- und Tonaufnahmen statt . Ebenso sind nach wie
vor keine Bild- und Tonaufzeichnungen für Gerichtsver-
fahren unterhalb der Bundesgerichte vorgesehen . Sollte
es die Bundesregierung zukünftig anstreben, eine Me-
dienübertragung auf andere Gerichte oder das Gerichts-
verfahren vor der Urteilsverkündung auszudehnen, wird
sich meine Fraktion klar dagegen aussprechen .
Auch gegen eine gerichtsinterne Übertragung von Ge-
richtsverhandlungen bei erheblichem Medieninteresse,
das heißt eine Einrichtung von Arbeitsräumen für Me-
dienvertreterinnen und -vertreter in demselben Gerichts-
gebäude, ist aus Sicht meiner Fraktion Die Linke nichts
einzuwenden . Der NSU-Prozess in München hat ein-
drucksvoll aufgezeigt, dass das Medieninteresse durch-
aus – und berechtigterweise – beträchtlich sein kann . Um
zu vermeiden, dass Teile der interessierten Öffentlichkeit
ausgeschlossen werden – zum Beispiel bei Losverfahren,
wie sie beim Landgericht München im NSU-Prozess
praktiziert wurden –, ist die gerichtsinterne Übertragung
von Gerichtsverhandlungen bei erheblichem Medienin-
teresse ein legitimer Weg .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201621040
(A) (C)
(B) (D)
Der Ermöglichung von audiovisuellen Dokumenta-
tionen von Gerichtsverfahren, die eine herausragende
zeitgeschichtliche Bedeutung besitzen, kann aus Sicht
meiner Fraktion Die Linke nur dann zugestimmt werden,
wenn dies in engen Grenzen erfolgt . Denn eine audio-
visuelle Aufzeichnung des gesamten Prozessverlaufes
kann durchaus Auswirkungen auf das prozessuale Ver-
halten von Verfahrensbeteiligten haben . Daher ist es
unabdingbar, genau zu definieren, wann eine „herausra-
gende geschichtliche Bedeutung“ zu bejahen ist und von
wem sowie wofür genau die Aufzeichnungen verwendet
werden dürfen .
Meine Fraktion begrüßt, dass mit den geplanten Än-
derungen und Ergänzungen ein wichtiger Schritt zur Um-
setzung von Artikel 13 Absatz 1 UN-Behindertenrechts-
konvention unternommen wird, was insbesondere durch
die geplante Übernahme der Übersetzungskosten für das
gesamte Verfahren – und nicht nur, wie bisher, für die
Hauptverhandlung – zum Ausdruck kommt . Nichtsdesto-
trotz sind die geplanten Regelungen im Hinblick auf hör-
und sprachbehinderte Personen nicht weitreichend genug
und hinsichtlich anderer Behinderungsarten lückenhaft .
Das beabsichtigte Gesetz muss dazu genutzt werden,
über die Kommunikationshilfen hinaus grundsätzlich
Barrierefreiheit im Rahmen eines Gerichtsverfahrens
stärker zu verankern . Nur so kann gewährleistet werden,
dass Menschen mit Behinderungen einen gleichberech-
tigten und wirksamen Zugang zur Justiz haben werden .
Nach Auffassung meiner Fraktion kann trotz der ge-
planten Änderungen des § 169 Absatz 2 GVG jeder Bür-
ger darauf vertrauen, dass seine Angelegenheit in einer
von störenden äußeren Einflüssen unbeeinträchtigten
mündlichen Verhandlung sorgfältig und unvoreingenom-
men erörtert wird . Sofern es Bestrebungen geben soll-
te, § 169 GVG noch weiter zu lockern, wird sich meine
Fraktion allerdings dagegen aussprechen .
Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der Ge-
setzentwurf, den wir hier heute diskutieren, zielt darauf,
Gerichtsverfahren transparent zu machen und moderne
Kommunikationsformen einzuführen . Diesen Ansatz un-
terstützen wir grundsätzlich .
Zukünftig sollen Medien einen besseren Zugang zu
den für ihre Berichterstattung notwendigen Informatio-
nen bekommen, Urteile oberster Bundesgerichte sollen
in Bild und Ton medial verkündet und historisch wichti-
ge Prozesse dokumentiert werden – als Zeitzeugnis und
um den Verlauf solcher Prozesse später aus erster Hand
nachvollziehen zu können . Außerdem sollen die Kom-
munikationshilfen für hör- und sprachbehinderte Perso-
nen verbessert werden .
Der Ansatz, den dieser Gesetzentwurf verfolgt, ist
grundsätzlich richtig und sinnvoll . Justiz soll schließlich
nicht hinter verschlossenen Türen stattfinden. Die Men-
schen sollen die Möglichkeit haben, sich über die Verfah-
ren und die Arbeit der Justiz zu informieren .
Wenn Medienvertreter zukünftig einen gleichberech-
tigten Zugang zu Prozessinformationen haben, dann
kann das dazu dienen, dass die Berichterstattung über
Gerichtsverfahren künftig noch vielfältiger und objekti-
ver wird . Es kann auch dazu führen, dass die Öffentlich-
keit mehr Interesse an oder Verständnis für die Arbeit der
Justiz und für die Rechtsprechung entwickelt . Das ist erst
einmal positiv zu werten .
Eines muss in diesem Zusammenhang natürlich klar
sein: Die Grenze von Transparenz und Medienöffentlich-
keit muss immer dort gezogen werden, wo eine Beein-
trächtigung der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege und
der Rechte der Beteiligten droht! Das gilt insbesondere
für Strafverfahren, in denen es um sensible Sachverhalte
und den Schutz der Privatsphäre von Angeklagten oder
Opferzeugen geht . Hier sollte niemand vorgeführt oder
gar in seinen Verfahrensrechten beeinträchtigt werden .
Niemand sollte sich unter Druck gesetzt fühlen .
Ich halte es insofern für sinnvoll, dass die Entschei-
dung über die Dokumentation des Verfahrens grundsätz-
lich beim Gericht liegt . Denn das Gericht hat die Verfah-
renshoheit und ist vertraut mit dem jeweiligen konkreten
Fall . Da sich auch während des laufenden Verfahrens
immer neue Umstände und Schutzinteressen ergeben
können, ist es ausdrücklich zu begrüßen, dass dem Ge-
richt zukünftig auch die Möglichkeit eingeräumt werden
soll, Aufnahmen oder Tonübertragungen teilweise zu
untersagen . So kann zu jedem Zeitpunkt des Verfahrens
sichergestellt werden, dass die Rechte der Verfahrensbe-
teiligten und der ordnungsgemäße Ablauf des Verfahrens
gewahrt werden .
Ein paar kleine Kritikpunkte gibt es dann aber doch
noch:
Bei Film- und Fernsehaufnahmen zu Dokumentati-
onszwecken wäre es zur Wahrung der schutzwürdigen
Belange der Verfahrensbeteiligten wünschenswert, wenn
das Gericht die Verteidigung bzw . Angeklagte und Zeu-
gen in seine Entscheidung einbeziehen würde . Dies gilt
vor allem vor dem Hintergrund, dass die Beschlüsse
des Gerichts nach § 169 GVG über die Zulassung von
Ton- und Filmaufnahmen bzw . von Tonübertragungen
unanfechtbar sein sollen . Den Prozessparteien sollte es
jedenfalls in irgendeiner Form möglich sein, auf die Ent-
scheidung des Gerichts über die Medienöffnung des Ver-
fahrens mit Einfluss zu nehmen.
Und selbst, wenn ich in den im Gesetzentwurf vor-
gesehenen Maßnahmen nicht per se eine Gefahr für die
Funktionsfähigkeit der Rechtspflege und die Beteiligten-
rechte sehe, stellt sich hier die Frage: Wie sinnvoll und
praktikabel sind diese Vorschläge eigentlich?
Ich sehe zum Beispiel nicht den konkreten Mehrwert
davon, Entscheidungen von obersten Bundesgerichten in
den Medien zu übertragen . Diese Gerichte leisten näm-
lich schon jetzt eine gute Pressearbeit . Entscheidungen
werden zeitnah für eine mediale Verwertung aufgearbei-
tet, entsprechende Presseerklärungen werden unmittelbar
ins Netz gestellt und von den Medien aufgegriffen . Es
wird also kein Mehr an Information geben . Es handelt
sich bei dieser Art der Verkündung über Funk und Fern-
sehen lediglich um eine öffentlichkeitswirksamere Dar-
stellungsform .
Auch wenn es durchaus sinnvoll ist, bedeutende Ver-
fahren für die Öffentlichkeit zu dokumentieren, so fehlt
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 21041
(A) (C)
(B) (D)
es noch an einer Klarstellung, was unter einer „herausra-
genden zeitgeschichtlichen Bedeutung“ genau zu verste-
hen ist und wann Gerichtsverfahren diese Voraussetzung
erfüllen .
Insgesamt stehen wir aus den eingangs genannten
Gründen den Neuerungen jedoch offen gegenüber und
warten mit Interesse das weitere Verfahren ab .
Christian Lange, Parl . Staatssekretär beim Bundes-
minister der Justiz und für Verbraucherschutz: Heute be-
fassen wir uns in erster Lesung mit dem Entwurf eines
Gesetzes zur Erweiterung der Medienöffentlichkeit in
Gerichtsverfahren und zur Verbesserung der Kommuni-
kationshilfen für Menschen mit Sprach- und Hörbehin-
derungen – oder auch kurz EMöGG .
Der Gesetzentwurf besteht aus zwei Teilen . Der erste
befasst sich mit der Medienöffentlichkeit in Gerichtsver-
fahren .
Dieser Teil wurde in einer gemeinsamen Arbeitsgrup-
pe meines Hauses und der Länder umfassend vorbereitet .
Die Justizministerinnen und Justizminister der Länder
haben dann das Bundesministerium der Justiz und für
Verbraucherschutz und das Bundesministerium für Ar-
beit und Soziales gebeten, auf der Grundlage der Ergeb-
nisse der Arbeitsgruppe einen Gesetzentwurf vorzulegen .
Das Verbot von Ton- und Bild- sowie Rundfunk- und
Fernsehaufnahmen aus der öffentlichen mündlichen
Verhandlung vor den Gerichten gilt seit 1964 . Es wurde
damals eingeführt, weil man der Ansicht war, dass bei-
spielsweise noch nicht verurteilte Angeklagte durch an-
wesende Filmkameras in einer oft unerträglichen Weise
in das Scheinwerferlicht einer weiten Öffentlichkeit ge-
zerrt würden .
Seither hat sich viel geändert . Damals konnte man we-
der die gerichtsinterne Übertragung in Echtzeit noch die
zahlreichen Kommunikationswege im Bereich der mo-
dernen Medien, wie sie sich seither entwickelt haben, im
Blick haben . Das gewandelte Medienverständnis und der
Umgang mit modernen Kommunikationsformen lassen
ein generelles Verbot nicht mehr zeitgemäß erscheinen .
Auch von der Justiz wird eine moderne Kommunikati-
on erwartet . Durch die Gesetzesänderung erhält sie die-
se Möglichkeit . Dort, wo der Verfahrensablauf und die
Rechte der Beteiligten nicht in Mitleidenschaft gezogen
werden, sollen moderne Medien stärker einbezogen wer-
den können als bisher .
So sieht der Entwurf vor, die Übertragung der Verkün-
dung von Entscheidungen der Obersten Gerichtshöfe des
Bundes in besonderen Fällen den Medien zu ermöglichen .
Das Gericht soll die Übertragung zulassen können . Dabei
muss es noch darüber entscheiden, in welcher Form und
unter welchen Auflagen diese Übertragung stattzufinden
hat . Die Zulassung ist nicht als Regelfall ausgestaltet,
sondern in das Ermessen des Gerichts gestellt .
Gerade zu dieser Regelung – das möchte ich hier
nicht verbergen – habe ich im Laufe der Arbeiten an
dem Gesetzentwurf viele Argumente gehört, weshalb
diese Erweiterung nicht vorgenommen werden sollte .
Sie vermögen mich allerdings nicht zu überzeugen . Per-
sönlichkeitsrechte und die Wahrheitsfindung stehen bei
der vorgeschlagenen Regelung ganz deutlich im Vorder-
grund . Ein wie auch immer geartetes „Court TV“ wird
nicht erlaubt und auch nicht für die Zukunft angestrebt .
Bereits heute können die Pressevertreter an den Urteils-
verkündungen der Gerichte teilnehmen und wörtlich mit-
schreiben . Das gebietet der Grundsatz der Öffentlichkeit .
Die Urteilsverkündungen der Obersten Bundesgerichte
künftig von den Medien übertragen zu lassen, stellt nur
eine kleine Erweiterung dar, die aber für die Wahrneh-
mung der Justiz in der heutigen Medienlandschaft große
Bedeutung hat .
Ferner sieht der Entwurf vor, die audiovisuelle Do-
kumentation von Gerichtsverfahren von herausragender
zeitgeschichtlicher Bedeutung für die Bundesrepublik
Deutschland zu ermöglichen . Das Gericht kann künftig
entscheiden, dass – bei Vorliegen dieser Voraussetzun-
gen – die gesamte Gerichtsverhandlung in Ton und Bild
aufgezeichnet werden soll . Diese Aufzeichnung darf al-
lerdings nicht für Verfahrenszwecke verwendet werden,
wie im Gesetz noch einmal ausdrücklich klargestellt
wird . Die Aufnahmen sind vielmehr nach Abschluss des
Verfahrens dem zuständigen Bundes- oder Landesarchiv
anzubieten, um für wissenschaftliche Zwecke zur Verfü-
gung zu stehen . Lehnt das Archiv die Annahme ab, sind
die Aufnahmen zu löschen . Persönlichkeitsrechte der Be-
troffenen hat das Gericht selbstverständlich zu wahren .
Wir alle kennen historische Aufzeichnungen aus be-
deutenden Verfahren aus der Zeit von vor dem Jahr 1964 .
So wurde die mündliche Verhandlung im Frankfurter
Auschwitz-Prozess Anfang der 60er-Jahre auf Tonträger
aufgezeichnet . Für uns sind diese Aufzeichnungen heute
gerade wegen der vielen Zeugenaussagen von unschätz-
barem Wert . Nur für solche zeithistorisch herausragen-
den Verfahren sollen Aufzeichnungen nach dem Entwurf
wieder möglich werden .
Schließlich soll künftig die Übertragung der mündli-
chen Verhandlung und der Urteilsverkündung in einen
Arbeitsraum für Medienvertreter durch das Gericht ange-
ordnet werden können . Anlass für diese Regelung waren
die Probleme bei der Sitzplatzvergabe für Pressevertreter
am Anfang des Strafverfahrens gegen Mitglieder des so-
genannten NSU .
In einem zweiten Teil enthält der Gesetzentwurf Ver-
besserungen für Menschen mit Hör- und Sprachbehin-
derungen . Vorgesehen sind Erweiterungen hinsichtlich
der Beteiligung von Gebärdendolmetschern und anderer
Kommunikationshilfen für hör- und sprachbehinderte
Personen . Sie sollen künftig die Kosten für die Verdol-
metschung am gesamten gerichtlichen Verfahren nicht
selbst tragen müssen . Das ist eine Verbesserung, die
längst überfällig ist .
Anlage 24
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Sicherung der Sozialkassenverfahren im
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 201621042
(A) (C)
(B) (D)
Baugewerbe (Sozialkassenverfahrensicherungsge-
setz – SokaSiG) (Tagesordnungspunkt 26)
Wilfried Oellers (CDU/CSU): Wir beraten heute den
Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der
SPD zur Sicherung der Sozialkassenverfahren im Bau-
gewerbe (SOKASiG) . Dieser Entwurf aus der Mitte des
Parlaments beschäftigt uns, nachdem das Bundesarbeits-
gericht am 21 . September 2016 in zwei Urteilen über die
Unwirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärungen
des Tarifvertrages über das Sozialkassenverfahren im
Bauhauptgewerbe der Jahre 2008, 2010 und 2014 be-
schlossen hat .
Die Rechtslage stellt sich wie folgt dar: Mangels
Vorliegens der gesetzlichen Voraussetzungen, wie des
sogenannten 50-Prozent-Quorums, und der persönli-
chen Befassung der zuständigen Ministerin bzw . des
zuständigen Ministers sind die vorher genannten Allge-
meinverbindlicherklärungen unwirksam . Der Antrag auf
Unwirksamkeit ist von Arbeitgebern gestellt worden, die
nicht Mitglied einer Arbeitgebervereinigung sind, je-
doch aufgrund der Allgemeinverbindlicherklärungen zu
Beitragszahlungen an die Sozialkasse des Baugewerbes,
die SOKA-BAU, verpflichtet sind bzw. waren. Unter-
stützung fanden diese Klagen auch von Betrieben, die
sowohl bauliche als auch nichtbauliche Dienstleistungen
erbringen . Hier besteht stets die Streitfrage, ob sie unter
die hier in Rede stehende AVE fallen .
Beklagt wurde die Sozialkasse der Bauwirtschaft, die
sogenannte SOKA-BAU, eine gemeinsame Einrichtung
der drei Tarifvertragsparteien der Bauwirtschaft, der
Deutschen Bauindustrie, des Deutschen Baugewerbes
und der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt .
Diese blickt auf eine lange Tradition zurück, da sie schon
1949 als Urlaubskasse gegründet wurde . Im Jahr 1957
wurde sie um eine Zusatzversorgungskasse erweitert,
später noch um die überbetriebliche Ausbildungskas-
se . Ziel und Aufgaben der SOKA-BAU sind seit ihren
Anfängen, Nachteile für die Beschäftigten der Bauwirt-
schaft in den Bereichen Urlaub, Berufsausbildung und
Altersversorgung auszugleichen .
Nun ergibt sich nach den Beschlüssen des Bundesar-
beitsgerichts eine für die SOKA-BAU unerwartete Situ-
ation mit der Sorge um den weiteren Bestand der Sozi-
alkassenverfahren des Baugewerbes und eine eventuell
drohende Insolvenz . Dazu kommt auch die Unklarheit
darüber, wie die Rechtsfolgen der gerichtlichen Feststel-
lung einer Unwirksamkeit von Allgemeinverbindlicher-
klärungen geregelt sind . Ohne Allgemeinverbindlicher-
klärungen können gemeinsame Einrichtungen wie die
SOKA-BAU nicht existieren. Die finanzielle Stabilität
könnte aufgrund der ausstehenden Sozialkassenbeiträge
sowie Rückforderungen ins Wanken geraten und die fi-
nanzielle Tragfähigkeit der SOKA-BAU in Zukunft nicht
mehr sicher sein .
Unter den Betrieben des Baunebengewerbes wird die-
se neue Situation etwas anders betrachtet . Dies ist in den
Zuschriften, die mich und unsere Fraktion in den letzten
Tagen erreichen, klar zu begreifen . Denn viele Betrof-
fene, wie zum Beispiel Elektrohandwerk, Tischler und
Schreiner, die nur bedingt mit baulichen Dienstleistun-
gen zu tun haben, sahen sich in der Vergangenheit und
sehen sich auch aktuell immer stärker im umfassenden
Anspruch der SOKA-BAU aufgenommen . Sie möch-
ten nicht in den stark ausgeweiteten Geltungsbereich
der Sozialkasse einbezogen werden und verlangen eine
deutlichere Abgrenzung der fachlichen und tariflichen
Zuständigkeiten zwischen dem Baunebengewerbe und
dem -hauptgewerbe . Die baugewerblichen Handwerke
müssen, auch wenn sie tarifungebunden sind, wegen der
Allgemeinverbindlichkeit in die Sozialkasse einzahlen .
Die baunebengewerblichen Gewerke und ein Großteil
der Mischbetriebe sehen dafür aber kein Bedürfnis und
fordern schon lange, dass die SOKA-BAU sich auf deren
Zuständigkeiten im Bauhauptgewerbe beschränkt . Wenn
aber der Tarifvertrag nicht mehr für allgemeinverbindlich
erklärt werden darf, müssen tarifungebundene Arbeitge-
ber sowie Baunebengewerbe und Mischbetriebe keine
Beiträge mehr einzahlen .
Wir als Koalitionsfraktion erkennen die besondere
Leistung der Sozialkassenverfahren im Baugewerbe an
mit den spezifischen Lösungen, die den Beschäftigten
der Baubranche mit der Gewährleistung einer Altersver-
sorgung, dem Anspruch auf einen vollen Jahresurlaub
und die Finanzierung der überbetrieblichen Ausbildung
zugutekommen . Daher verstehen wir die Befürchtungen
der SOKA-BAU, mit unzählbaren Rückforderungszah-
lungen in Milliardenhöhe sowie mit dem Ausfall der
laufenden Einzahlungen konfrontiert zu werden . Dass
die SOKA-BAU jetzt nach den Beschlüssen des Bundes-
arbeitsgerichtes Sorge vor Überschuldung hat und nach
einer Klärung der Rechtsfolgen ruft, können wir nach-
vollziehen .
Zur Beseitigung dieser Rechtsunsicherheit, aber auch
aufgrund des Wegfalls der Rechtsgrundlage durch die
Unwirksamkeitserklärung der AVEs, wird nun eine Kor-
rektur durch den Gesetzgeber gefordert .
Wir müssen uns die Frage stellen, ob eine gesetzli-
che Regelung hier angebracht ist, und dies mit äußerster
Vorsicht angehen . Als Gesetzgeber müssen wir zunächst
sorgfältig prüfen, ob die Sachlage und ihre Rechtsfolgen
tatsächlich nach einer verbindlich durch ein Gesetz ange-
ordneten Lösung rufen .
Erforderlich erscheint mir daher, das Augenmerk auf
die weiteren Betroffenen zu lenken, nämlich die Betriebe
des baunahen Gewerbes und die Mischbetriebe . Für die
tarifgebundenen Betriebe des Baugewerbes ändert sich
nichts . Für die OT-Betriebe im Baugewerbe ändert sich
jetzt zwar etwas, aber hier könnte man es noch am ehes-
ten vertreten, dass sie dem Tarifvertrag zur SOKA-BAU
zuzurechnen sind . Bei den baunahen Gewerken und bei
den Mischbetrieben ist das jedoch eine äußerst kritische
Frage . Die Loslösung von der SOKA-BAU war ja gerade
das Ziel baunaher Gewerke und der Mischbetriebe, die
sie mit den gerichtlichen Verfahren verfolgt haben . Hier
nun als Gesetzgeber hinzugehen und diese gerichtlichen
Entscheidungen, die aufgrund der bisherigen Rechtslage
ergangen sind, nun rückwirkend für die Vergangenheit
wieder aufzuheben und die Situation der Vergangenheit
nachträglich als rechtens zu bewerten, erscheint mir äu-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 21043
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ßerst fraglich . Dies muss einer intensiven verfassungs-
rechtlichen Prüfung unterzogen werden .
Es ist für mich nachvollziehbar, dass alle durch das
Urteil des Bundesarbeitsgerichts positiv betroffenen Un-
ternehmen, Branchen und Bereiche eine nüchterne Wahr-
nehmung der tariflichen Zuständigkeitsbereiche verlan-
gen . Dies ist in meinen Augen auch ihr gutes Recht .
In diesem Zusammenhang muss auch die vom BAG
angesprochene „große Einschränkungsklausel“ in die
Überlegungen einbezogen werden .
Die im Moment befürchtete finanzielle Schieflage der
SOKA-BAU bis hin zur befürchteten Insolvenz ist bisher
noch nicht nachvollziehbar belegt . Daher muss auch dies
auf den Prüfstand gestellt werden, da dies auch gerade als
Grund eines gesetzgeberischen Handelns angeführt wird .
Hier spielen gewiss auch die möglichen Rückforde-
rungen eine große Rolle . Natürlich müssen wir diese im
Rahmen des gesetzgeberischen Handelns berücksichti-
gen, da wir grundsätzlich ein Interesse an dem Fortbe-
stand der SOKA-BAU haben .
Allerdings muss man dann redlicherweise auch die
Frage stellen und beantworten, was mit möglichen Nach-
zahlungen geschehen soll, die die SOKA-BAU aufgrund
eines vom Gesetzgeber erlassenen Rettungsgesetzes ein-
fordern könnte, die aber nach dem Urteil des Bundesar-
beitsgerichtes nun nicht zu zahlen wären . Auch hier stel-
len sich verfassungsrechtliche Fragen .
Mit dieser Aufzählung von Fragen sollen nur einige
aufgeworfen werden, obwohl noch weitere aufgeworfen
werden müssen . Diese sind im Rahmen des weiteren Ge-
setzgebungsverfahrens zu stellen und zu beantworten .
Diese müssen zuerst vollumfänglich beantwortet wer-
den, bevor das Verfahren beendet werden kann .
Vor Beendigung des Verfahrens muss in meinen Au-
gen auch geklärt sein, welche Betriebe zur SOKA-BAU
zahlen müssen und welche nicht . Bevor dies nicht ge-
klärt ist, ist eine Beendigung des Verfahrens schwierig .
Schließlich wurde die Nichtzahlung durch das BAG
bestätigt . Bevor diese Entscheidung quasi aufgehoben
wird, müssen alle Beteiligten diese Frage geklärt und be-
antwortet haben .
Tobias Zech (CDU/CSU): Von den Leistungen der
SOKA-BAU profitieren laut eigenen Auskünften mehr
als 145 000 Betriebe, über 330 Millionen Euro gehen
jedes Jahr an rund 370 000 Rentner, und für mehr als
35 000 Auszubildende werden Leistungen in Höhe von
300 Millionen Euro aufgebracht . Nicht zuletzt ist die zur
SOKA-BAU gehörende ZVK-BAU AG (Zusatzversor-
gungskasse des Baugewerbes AG) die größte Pensions-
kasse Deutschlands .
Die Zahlen sprechen für sich: Die Sicherung der Sozi-
alkassenverfahren im Baugewerbe ist ein Thematik von
nicht zu unterschätzender Bedeutung .
Die SOKA-BAU ermöglicht Flexibilität und Si-
cherheit in einer Branche, die ständig vor vielfältigen
Herausforderungen steht . Von der Abhängigkeit von
Witterungsbedingungen, einer großen Häufigkeit von Ar-
beitgeberwechseln bis hin zu kleingewerblichen Unter-
nehmsstrukturen . Die SOKA-BAU sorgt also dafür, dass
trotz dieser schwierigen Verhältnisse für die Arbeitneh-
mer keine Nachteile bei Rente, Urlaub und Ausbildung
entstehen und gewährleistet darüber hinaus die Einhal-
tung des branchenweiten Mindestlohns von Unterneh-
men aus dem In- und Ausland .
Diese wichtigen Leistungen verdanken wir in erster
Linie der im Baugewerbe bestehenden Tarifpartner-
schaft – wie sie natürlich in vielen anderen Branchen
durch Tarifpartnerschaften ebenso ermöglicht wird . Die-
ses System ist eine der Stützen unserer deutschen Wirt-
schaftskraft . Es gilt, sie zu schützen .
Und ich sage ganz deutlich: Für mich bedeutet der
Schutz der Tarifpartnerschaft auch immer so wenig staat-
licher Eingriff wie möglich . Wir haben ja auch nicht
grundlos die Tarifautonomie in unserem Grundgesetz
verankert .
Trotzdem ist es unsere Aufgabe, sicherzustellen, dass
eine, wie in diesem Fall seit 1949 funktionierende sozial-
partnerschaftliche Stütze, die Vorteile sowohl für Arbeit-
nehmer als auch für Arbeitgeber bietet, nicht ins Wanken
gerät – vorausgesetzt, sie erfüllt die geltenden Regeln,
und in diesem Einzelfall habe ich, ehrlich gesagt, noch
viele offene Fragen . Ganz zu schweigen von der offenen
Frage der juristischen Auswirkungen der Unwirksamkeit
der Allgemeinverbindlicherklärungen .
Die Sicherung der Sozialkassenverfahren im Bauge-
werbe ist ein komplexes Unterfangen . Schließlich geht es
hier nicht nur um die SOKA-BAU, sondern vielmehr um
eine Handvoll verschiedener Akteure beziehungsweise
Faktoren, die offenbar zum Teil sehr verschiedene Inte-
ressen und auch Einschätzungen der Situation vertreten
bzw . nahelegen:
Da wäre zum einen das Bundesarbeitsgericht, das im
September einige Allgemeinverbindlicherklärungen un-
ter anderem aufgrund der fehlenden Ministererklärung
sowie in Teilen wegen der 50-Prozent-Quote für unwirk-
sam erklärt hat – der Grund weshalb wir heute überhaupt
über die SOKA-BAU sprechen .
Des Weiteren ist da natürlich noch die SOKA-BAU,
deren Zahlungsfähigkeit hier zur Debatte steht und die
den vorliegenden Gesetzentwurf unterstützt .
Der Gesetzentwurf, der die Allgemeinverbindlichkeit
rückwirkend vorschreibt, ist ebenfalls ausgiebige Dis-
kussionen wert .
Und es gibt verschiedene Stimmen, die die Allge-
meinverbindlicherklärung anzweifeln und/oder denen
die fachlichen und tariflichen Zuständigkeitsbereiche
nicht ausreichend definiert sind.
Wie man sieht, ist bei diesem Gesetzesvorhaben also
ein besonders kritischer Blick geboten . Bei diesem kriti-
schen Blick bitte ich um Unterstützung der Kolleginnen
und Kollegen . Ich bin gespannt auf die Ergebnisse der
kommenden Debatten .
Bernd Rützel (SPD): Die zusätzlichen Sozialkassen
in der Bauwirtschaft leisten einen wichtigen Beitrag zur
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Absicherung der Beschäftigten im Bauhauptgewerbe .
Die gemeinsamen Einrichtungen der Tarifvertragspar-
teien schaffen einen Ausgleich für die strukturbeding-
ten Nachteile der Bauarbeitnehmer . Sie haben eine lan-
ge Tradition . Seit Jahrzehnten erbringen sie verlässlich
Leistungen .
Hiervon profitieren nicht nur Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer, Auszubildende sowie Rentnerinnen und
Rentner, sondern letztlich das gesamte Bauhauptgewer-
be . Bauarbeitnehmer erhalten oft eine gesetzliche Rente,
die nur knapp über der Grundsicherung liegt . Eine be-
triebliche Altersversorgung gibt es – auch infolge häufi-
ger Arbeitgeberwechsel – selten . Über die SOKA-BAU
erhalten Bauarbeitnehmer Rentenbeihilfe .
Das Ausbildungskassenverfahren garantiert eine qua-
litativ hochwertige, überbetriebliche Berufsausbildung .
Im Baugewerbe gibt es große saisonale Schwankungen
und häufige Arbeitgeberwechsel. Daher gibt es häufig
Probleme für Bauarbeitnehmer, ihren Urlaub zu nehmen .
Im Urlaubskassenverfahren werden die Urlaubsansprü-
che der Bauarbeitnehmer gesichert .
Die SOKA-BAU organisiert für die Agentur für Ar-
beit den Beitragseinzug im Rahmen der Winterbauför-
derung . Die staatliche Winterbauförderung stellt sicher,
dass Bauarbeitnehmer in der Schlechtwetterzeit nicht
von Beschäftigungsverlusten bedroht werden .
Von den Leistungen der Sozialkassen des Bauhaupt-
gewerbes profitieren derzeit etwa 700 000 Bau-Arbeit-
nehmer, 35 000 Auszubildende sowie 370 000 Rentner .
Diese Menschen und ihre Ansprüche müssen wir schüt-
zen . Auch das Bundesarbeitsgericht bestreitet nicht das
öffentliche Interesse an den Sozialkassen des Bauhaupt-
gewerbes .
Daher ist es gut und wichtig, dass wir jetzt schnell
handeln . Die besondere sozialpolitische Bedeutung der
Sozialkassen haben wir hier im Haus zuletzt im Rahmen
der AVE-Reform im Jahr 2014 ausdrücklich anerkannt .
Wir können deshalb nicht zulassen, dass diesem wichti-
gen Instrument durch die Entscheidungen des Bundesar-
beitsgerichts nachträglich der Boden entzogen wird . Vor
diesem Hintergrund steht außer Frage, dass wir zeitnah
handeln müssen .
Wir wollen im Verbund mit dem Bausozialpartnern
und der SOKA-BAU eine gesetzliche Lösung, mit der
die Verbindlichkeit der Sozialkassenverfahren für alle
Arbeitgeber im Bauhauptgewerbe sichergestellt wird . In
dem Gesetz sollen die bislang für allgemeinverbindlich
erklärten Sozialkassentarifverträge für alle Arbeitgeber
verbindlich angeordnet werden . Wir klären damit beste-
hende Unklarheiten . Nur mit einem Gesetz kann rechts-
sicher und belastbar den Bedenken des Bundesarbeitsge-
richts entgegengetreten werden .
Nur mit unserem Gesetz können wir garantieren, dass
die Leistungen der SOKA-BAU von allen Arbeitgebern
gemeinsam getragen werden . Dem entspricht, dass auch
alle Arbeitnehmer – unabhängig von der Tarifbindung ih-
rer Arbeitgeber – Anteil an den Leistungen haben sollen .
Das Gesetz gilt für alle gleichermaßen: für im Ausland
ansässige Arbeitgeber und ihre nach Deutschland ent-
sandten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer genauso
wie für im Inland ansässige Arbeitgeber und deren Be-
schäftigte . So sorgt die SOKA-BAU zudem für einen fai-
ren Wettbewerb in der Branche . Damit sie branchenspe-
zifische Nachteile weiterhin ausgleichen kann, müssen
wir jetzt tätig werden .
Jutta Krellmann (DIE LINKE): Den ersten großen
politischen Konflikt, den ich Mitte der Siebzigerjahre
als Jugend- und Auszubildendenvertreterin in meinem
Betrieb erlebt habe, war die aufkommende Jugendar-
beitslosigkeit . Damals war unsere Forderung: Wer nicht
ausbildet, muss zahlen! Wenn Betriebe selbst nicht für
Nachwuchs sorgen, müssen sie zumindest die Betriebe
mitfinanzieren, die es tun. Diese Ausbildungsumlage
ist bis heute leider nur in wenigen Branchen zu finden.
Eine davon ist die Bauwirtschaft, und verwaltet wird die
Umlage durch die Sozialkassen der Bauwirtschaft, die
SOKA-BAU . Einst vor 68 Jahren als Urlaubs- und Lohn-
ausgleichskasse der Bauwirtschaft gegründet, übernimmt
sie heute weitere wichtige Aufgaben, wie die Sicherung
von Arbeitszeitkonten, tariflichen Zusatzrenten oder
eben die Ausbildungsumlage .
Damit die SOKA-BAU diese Aufgaben erfüllen kann
und alle Beschäftigten in der Branche von der sozialen
Absicherung profitieren können, sind über die Allge-
meinverbindlichkeitserklärung von geltenden Tarifver-
träge der Bauwirtschaft und Baunebenbranchen alle Be-
teiligten mit einbezogen – ob sie einen Tarifvertrag haben
oder nicht, ob sie Arbeitgeber sind oder Arbeitnehmer .
Dass da einige Arbeitgeber rumjammern, ist nicht ver-
wunderlich . Dass sie sich mit ihrer Klage vor dem Bun-
desarbeitsgericht gegenüber diesem System aber entso-
lidarisiert haben, hat mich persönlich sehr empört . Die
unabsehbaren Folgen des Urteils hat die SOKA-BAU
in die Insolvenzberatung getrieben, und daher findet
der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Verhinde-
rung einer Pleite unsere volle Zustimmung . Der radikale
Schritt, den Frau Nahles mit diesem Gesetzentwurf zur
Rettung der SOKA-BAU geht, wäre aber gar nicht nötig
gewesen . Und ich erkläre Ihnen auch, warum .
Es wäre jetzt nicht nötig, das Regierungshandeln seit
2006 nachträglich zu legitimieren, wenn die Bundesre-
gierungen der vergangenen zwei Jahrzehnte die Tarifbin-
dung nicht derart massiv geschwächt hätten – ich nenne
hier nur einmal die kalte Aussperrung oder die Duldung
der OT-Mitgliedschaften von Arbeitgebern als zwei von
vielen Angriffen auf die Tarifbindung . Das Wirken von
Franz Müntefering über Franz Josef Jung bis hin zu
Ursula von der Leyen im Bundesarbeitsministerium lässt
sich auch an der Statistik ablesen: Laut WSI waren 1998
über die Hälfte der Betriebe nicht tarifgebunden, sieb-
zehn Jahre später waren es schon über 70 Prozent . Diese
massive Tarifflucht wäre ohne das staatliche Eingreifen
in die Tarifautonomie nie möglich gewesen . Und ohne
diese aktive Parteinahme zugunsten von Arbeitgebern,
das gehört auch zur Wahrheit, wäre die Situation bei den
Sozialkassen der Bauwirtschaft heute sicher eine andere .
Frau Nahles, Sie müssen hier den Mist aufräumen, den
Ihre Vorgänger hinterlassen haben, und diesmal haben
Sie auch unsere volle Unterstützung, weil es uns um die
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 209 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 15 . Dezember 2016 21045
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Beschäftigten geht . Auch Ihr Anliegen, die Tarifbindung
staatlich wieder zu stärken, trifft auf meine Zustimmung .
Ich kann Ihnen aber nur davon abraten, Tarifbindung mit-
tels tariflicher Öffnungsklauseln oder „Experimentier-
klauseln“, wie jetzt beim Arbeitszeitgesetz, in erster Linie
nur wieder attraktiv für Arbeitgeber zu machen . Damit
tun Sie weder Ihren Gewerkschaftsfreunden noch dem
Handlungsspielraum Ihres eigenen Ministeriums einen
Gefallen . Denn damit hintertreiben Sie die Kernfunktion
von Tarifbindung und der ihr zugrundliegenden Tarifver-
träge und hinterlassen Ihrem Nachfolger wiederum einen
Misthaufen, den er oder sie dann künftig beseitigten darf .
Die Situation der SOKA-BAU sollte uns allen eine
Lehre sein, so schnell wie möglich mit dem konsequenten
Wiederaufbau der Tarifbindung im Sinne der Beschäftig-
ten zu beginnen . Ein sofortiges Verbot von OT-Mitglied-
schaften wäre da ein guter Anfang .
Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Die Sozialkasse im Baugewerbe existiert seit über
60 Jahren . Sie vereint die Urlaubs- und Lohnausgleichs-
kasse der Bauwirtschaft sowie die Zusatzversorgungs-
kasse des Baugewerbes . Sie hat große Verdienste um
bessere Arbeitsbedingungen in dieser Branche . Das ist
auch dringend nötig, denn diese Branche ist, wie kaum
eine andere, von wechselnden Beschäftigungen und sai-
sonalen Schwankungen geprägt .
Die Basis dieser Sozialkasse ist ein Tarifvertrag der
Sozialpartner in der Baubranche . Dieser Tarifvertrag gilt
für alle in der Branche, also auch für nichttarifgebundene
Betriebe, und das ist im Fall einer solchen gemeinsamen
Einrichtung eine absolute Notwendigkeit . Entsprechend
war die Allgemeinverbindlichkeit der entsprechenden
Tarifverträge in den letzten Jahrzehnten eine Selbstver-
ständlichkeit .
Jetzt hat das Bundesarbeitsgericht entschieden, dass
die Allgemeinverbindlichkeit dieses Tarifvertrags durch
das Bundesarbeitsministerium seit 2006 unwirksam ist .
Die Gründe sind vor allem formaler Natur . Zum einen
fehlt die Unterschrift von den damaligen Arbeitsministern
Olaf Scholz und Ursula von der Leyen . Zum anderen war
das damals gesetzlich notwendige 50-Prozent-Quorum
der Beschäftigten in tarifgebundenen Betrieben aus Sicht
des Gerichts verfehlt .
Ich halte das Urteil für bedauerlich und kann auch
kaum nachvollziehen, dass eine bewährte und allgemein
anerkannte Institution wie die SOKA-BAU auf dieser
Grundlage in Existenznot gebracht wird . Immerhin erhal-
ten mehr als 145 000 Betriebe für ihre gezahlten Beiträge
Leistungen und Service von der SOKA-BAU . Mehr als
370 000 Rentnerinnen und Rentner erhalten Leistungen .
Mehr als 825 000 Anwärtern werden jährlich Beiträge
für die Altersversorgung gutgeschrieben . Und mehr als
35 000 Auszubildende profitieren von den Ausbildungs-
betrieben und überbetrieblichen Ausbildungszentren .
Zumindest hätte ich erwartet, dass das Gericht bei einer
solchen Entscheidung in Erwägung zieht, dass die über-
wiegende Zahl der Unternehmen und Beschäftigten seit
Jahren auf den Bestand der Kasse vertraut haben . Zwei-
fellos hat sich aber auch das Bundesarbeitsministerium
nicht mit Ruhm bekleckert, denn es hat zugelassen, dass
diese Allgemeinverbindlichkeit so angreifbar ist .
Nun ist der Schaden da, und wir brauchen eine gute
Lösung . Allerdings muss die Lösung juristisch sauber
sein und den Unternehmen und Beschäftigten endlich
Rechtssicherheit bringen .
Ob der Gesetzentwurf der Bundesregierung – insbe-
sondere die Auswirkung auf die Jahre ab 2006 – diesen
Ansprüchen genügt, werden wir genau prüfen . Notwen-
dig sind aus unserer Sicht eine absolute Transparenz des
Verfahrens und ein offener Umgang mit den Argumen-
ten, die dafür und dagegen sprechen . Wenn es gangbare
Alternativen gibt, gehören sie auf den Tisch .
Seien Sie versichert, wir werden den Prozess kon-
struktiv begleiten . Denn für uns Grüne ist klar: Die
SOKA-BAU ist wichtig, und ihre Existenz muss unbe-
dingt gesichert werden .
Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
209. Sitzung
Inhaltsverzeichnis
TOP 3 Verantwortung in der kerntechnischen Entsorgung
TOP 4 Schutz von Kindern und Familien vor Armut
TOP 5 Bundeswehreinsatz in Südsudan (UNMISS)
TOP 6 Bundeswehreinsatz in Darfur (UNAMID)
TOP 33 Überweisungen im vereinfachten Verfahren
TOP 34, ZP 2 Abschließende Beratungen ohne Aussprache
ZP 3 Aktuelle Stunde zur Beteiligung am US-Drohnenkrieg über die Relaisstation Ramstein
TOP 7 Änderung des Conterganstiftungsgesetzes
TOP 8 Schutz der Pressefreiheit
TOP 9 Bundeswehreinsatz in Afghanistan
TOP 10 Personalbemessung in der Altenpflege
TOP 11 Bekämpfung der Schwarzarbeit
TOP 12 Einflussmöglichkeiten auf politische Willensbildung
TOP 13 Nachtragshaushaltsgesetz 2016
TOP 14 Lebensdauer technischer Geräte
ZP 4 Manipulation an digitalen Grundaufzeichnungen
TOP 16 Schutz zahlungsunfähiger Staaten vor Spekulanten
ZP 5 Vergütungsanspruch von Urhebern und Künstlern
TOP 18 Frieden und Abrüstung in Europa
ZP 6 Verbesserung des Schutzes gegen Nachstellungen
ZP 7 Stromerzeugung aus Kraft-Wärme-Kopplung
TOP 17 Änderung des Soldatengesetzes
TOP 19 Änderung des Bundeswaldgesetzes
TOP 20 Änderung des Kreislaufwirtschaftsgesetzes
TOP 21 Gewerbeabfallverordnung
TOP 22 Trilaterale Partnerschaften in der ASEAN-Region
TOP 23 Wissenschaftskooperation in Subsahara-Afrika
TOP 24 GKV-Selbstverwaltungsstärkungsgesetz
TOP 25 Medienöffentlichkeit in Gerichtsverfahren
TOP 26 Fortbestand der Sozialkassen im Bauhauptgewerbe
Anlagen
Anlage 1
Anlage 2
Anlage 3
Anlage 4
Anlage 5
Anlage 6
Anlage 7
Anlage 8
Anlage 9
Anlage 10
Anlage 11
Anlage 12
Anlage 13
Anlage 14
Anlage 15
Anlage 16
Anlage 17
Anlage 18
Anlage 19
Anlage 20
Anlage 21
Anlage 22
Anlage 23
Anlage 24