3) Anlage 10
4) Anlage 11
Vizepräsidentin Claudia Roth
(A) (C)
(B) (D)
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 196 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 20 . Oktober 2016 19573
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Blienert, Burkhard SPD 20 .10 .2016
Bluhm, Heidrun DIE LINKE 20 .10 .2016
Brehmer, Heike CDU/CSU 20 .10 .2016
Dörflinger, Thomas CDU/CSU 20 .10 .2016
Fuchs, Dr . Michael CDU/CSU 20 .10 .2016
Hendricks, Dr . Barbara SPD 20 .10 .2016
Henke, Rudolf CDU/CSU 20 .10 .2016
Hintze, Peter CDU/CSU 20 .10 .2016
Kermer, Marina SPD 20 .10 .2016
Launert, Dr . Silke CDU/CSU 20 .10 .2016
Leidig, Sabine DIE LINKE 20 .10 .2016
Mast, Katja SPD 20 .10 .2016
Müller-Gemmeke, Beate BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
20 .10 .2016
Post (Minden), Achim SPD 20 .10 .2016
Radomski, Kerstin CDU/CSU 20 .10 .2016
Rix, Sönke SPD 20 .10 .2016
Rupprecht, Albert CDU/CSU 20 .10 .2016
Schlecht, Michael DIE LINKE 20 .10 .2016
Schröder, Dr . Ole CDU/CSU 20 .10 .2016
Schwartze, Stefan SPD 20 .10 .2016
Spahn, Jens CDU/CSU 20 .10 .2016
Steffel, Dr . Frank CDU/CSU 20 .10 .2016
Strothmann, Lena CDU/CSU 20 .10 .2016
Wagenknecht, Dr . Sahra DIE LINKE 20 .10 .2016
Weinberg, Harald DIE LINKE 20 .10 .2016
Weisgerber, Dr . Anja CDU/CSU 20 .10 .2016
Wicklein, Andrea SPD 20 .10 .2016
Anlage 2
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Britta Haßelmann (BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN) zu der Abstimmung über
die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bil-
dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
zu dem Antrag der Abgeordneten Sigrid Hupach,
Dr. Rosemarie Hein, Nicole Gohlke, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion DIE LINKE: Bun-
desprogramm „Kultur macht stark. Bündnisse für
Bildung“ weiterentwickeln und seine Fortführung
jetzt vorbereiten (Tagesordnungspunkt 10 b)
Ich erkläre im Namen der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen, dass unser Votum Ablehnung lautet .
Anlage 3
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktionen
der CDU/CSU und SPD: Achtung der Menschen-
rechte in Burundi einfordern – Friedensdialog för-
dern (Tagesordnungspunkt 16)
Iris Eberl (CDU/CSU): Lassen Sie mich mit einer
kleinen Geschichte beginnen, auch wenn Sie sie schon
kennen sollten . – In einem Land vor nicht allzu langer
Zeit verunzieren Schüler ihre Schulbücher, indem sie
das Konterfei des Präsidenten bekritzeln . Der Präsident
erfährt davon und will, dass die Schüler für diese Herab-
setzung seiner Person bestraft werden . – Sofern Sie die
Geschichte nicht kennen, vermuten Sie sicher alle den
gleichen Mann hinter dieser Aktion . Aber der ist es nicht .
In diesem Land ist es gar nicht so leicht, die Missetäter
festzustellen, weil sich bis zu 200 Schüler ein Schulbuch
teilen müssen, so bitterarm ist dieses Land . Man schaltet
also den Geheimdienst ein . Tatsächlich gelingt es, mehr
als 300 Kinder dingfest zu machen, und wirft sie ins Ge-
fängnis . Dort sitzen sie jetzt, zusammen mit Schwerver-
brechern, unter unmenschlichen Bedingungen .
Es wird Sie nicht überraschen, dass ich von Burun-
di gesprochen habe und dessen Präsidenten Nkurunziza .
Der Schuss ging aber nach hinten los: Was mit einer
Handvoll Schülern begann, wurde zur nationalen Pro-
testbewegung . Der „Kritzelaufstand“ hat inzwischen das
ganze Land erfasst und über die sozialen Netzwerke in-
ternationale Beachtung gefunden . Doch eigentlich klingt
das alles noch wenig dramatisch .
Die Lage ist jedoch dramatisch: Die UN spricht von
564 Exekutionen in Burundi seit dem Beginn der Protes-
te im April 2015 gegen den Präsidenten Nkurunziza, der
sich verfassungswidrig zu einer dritten Amtszeit wählen
ließ .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 196 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 20 . Oktober 201619574
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(B) (D)
Dies ist jedoch nur die Spitze eines Eisbergs . Es lie-
gen Beweise vor, für das unerklärliche Verschwinden
von Menschen, für Masseninhaftierungen, Vergewalti-
gungen, für Folter und Mord . Geschätzt sind es mehrere
Tausend Opfer . Satellitenbilder deuten auf Massengrä-
ber hin . Die Regierung Burundis bestreitet alles . Unsere
Regierung hat innerhalb ihrer Möglichkeiten reagiert .
Bereits im Juni 2015 hat das BMZ seine regierungsna-
he Entwicklungszusammenarbeit eingestellt . Trotzdem
führt es die unmittelbare Hilfe für Menschen fort .
Mittlerweile sind 300 000 Menschen in die Nachbar-
länder von Burundi geflohen, wohl vor allem Tutsi, da-
runter die Hälfte aller Armeeoffiziere. Ruanda, das sich
als Schutzmacht der Tutsi fühlt, trifft nun der Vorwurf
des Hutu Nkurunziza, sie für einen Guerillakrieg aus-
zubilden . Mit ihrem Beschluss zum Austritt aus der Zu-
sammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof
in Den Haag zeigt die burundische Regierung, dass ihr
Recht und Gesetz gleichgültig sind . Nach dem Völker-
mord in Ruanda 1994 und dem Bürgerkrieg in Burun-
di 2005, die mehr als 1 Million Opfer gekostet haben,
könnte ein noch schlimmerer ethnischer Konflikt in die-
ser Region bevorstehen, sollte Präsident Nkurunziza die
ethnische Karte spielen .
Niemand scheint diese Entwicklung verhindern zu
wollen: Die UN konnte sich nicht einmal auf eine mit
3 000 Mann hoffnungslos unterdimensionierte Mission
einigen . Die knapp 100 unbewaffneten Beobachter der
Afrikanischen Union und der UN sind komplett macht-
los . Schlimmer noch: Als Vorsitzender der Afrikanischen
Union verkündet Präsident Déby aus dem Tschad nach
seinem Besuch bei Bundeskanzlerin Merkel, ausländi-
scher Einfluss sei die Ursache für die Unruhen in Bu-
rundi, und verteidigt sophistisch die dritte Amtszeit des
burundischen Präsidenten als rechtmäßig . Letzteres
zeigt: Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus . Es
beweist, dass afrikanische Probleme – entgegen der An-
sicht von Monsieur Déby – nur mit internationaler Hilfe
gelöst werden können . Diese internationale Hilfe muss
bald kommen .
Christlich geprägte Demokraten dürfen niemals hin-
nehmen, dass Menschen grausam hingemetzelt werden .
Wir leben in Freiheit und Frieden . Wir müssen versu-
chen, die Spirale der Gewalt zu durchbrechen . Lernen am
despotischen Modell erzeugt Despoten . Jeder kann heute
in Syrien das zügellose Vernichten von Menschenleben
en gros beobachten und die Reaktion der ohnmächtigen
Weltgemeinschaft . Für kleine Despoten ist Syrien eine
gute Gelegenheit, im Windschatten der großen Ausein-
andersetzungen schnell einmal die eigenen Probleme mit
Waffengewalt zu lösen . Denn der Rest der Welt wird sich
zurückhalten .
Lassen Sie uns beweisen, dass uns die Menschen von
Burundi wichtig sind . Will man langfristig die Entwick-
lung zum Frieden fördern, muss man bei denen begin-
nen, die am wenigstens Einfluss in Burundi haben, die
im menschenverachtenden Machtkarussel keinen akti-
ven Part spielen, nämlich bei den Frauen . In den ärms-
ten Ländern der Welt, dichtbesiedelt und mit den global
höchsten Geburtenraten, sind sie der Schlüssel dafür,
dass Hilfen, die das Land erhält, effektiv eingesetzt wer-
den . Mit Hilfen für die Frauen in Burundi hat das BMZ
bereits begonnen . Sorgen wir dafür, dass der gute Anfang
nicht wieder zerstört wird . Stimmen Sie bitte für den vor-
liegenden Antrag der Koalitionsfraktionen .
Frank Heinrich (Chemnitz) (CDU/CSU): Einen
besonderen Gast möchte ich auch herzlich begrüßen:
Jacques Nshimirimana ist aus Burundi für ein paar Tage
in Berlin . Vorgestern wurde er für seinen herausragen-
den Einsatz für Kinder in Not mit dem Child Protection
Award von ora Kinderhilfe international e .V . ausgezeich-
net . Schon seit 17 Jahren setzt er sich als Anwalt und vier-
fache Familienvater für die Freiheit, die Sicherheit und
die Bildung von Jungen und Mädchen in Burundi ein .
Seine Organisation SOJPAE geht gegen Menschenhänd-
ler, sexuelle Gewalt gegenüber Mädchen und willkürli-
che Verhaftungen von Kindern vor . Er sagte mir diese
Woche im Bundestag: Als Kinderrechtverteidiger begrü-
ße ich die Freilassung durch die burundische Regierung
der circa 500 Kinder, die im Laufe der politischen Krise
festgenommen waren worden sowie das Engagement der
burundischen Regierung, um die Kinderhändler festzu-
nehmen . – Seit mehreren Jahren und verstärkt seit der
Verschlechterung der politischen Lage werden in Burun-
di Kinder und junge Frauen entführt oder unter falschen
Versprechen rekrutiert und dann in andere Ländern wie
Saudi-Arabien und Oman verschleppt und verkauft .
Die tiefe Krise, in die das ostafrikanische Land ge-
stürzt ist, entstand letztes Jahr durch die umstrittene
Wiederwahl zu einer verfassungswidrigen dritten Amts-
zeit von Präsident Pierre Nkurunziza . Seitdem wird jede
Form von Protest unterdrückt . Hier sind die Fakten . Der
Hochkommissar für Menschenrechte der Vereinten Na-
tionen – Juni 2016 – sowie der Ausschuss gegen Folter
der VN – September 2016 – berichteten über: 348 au-
ßergerichtliche Hinrichtungen, 9 Massengräber um
Bujumbura, die teilweise von den Behörden anerkannt
worden sind, Verschwindenlassen von 36 Oppositions-
politikern, 3 477 willkürliche Festnahmen, Angriffe und
Einschüchterung von Menschenrechtsverteidigern, wie
von Pierre Clavier Mbonimpa, dem Vorsitzenden des bu-
rundischen Vereins für den Schutz der Menschenrechte
und Mitglied der Plattform „Keine dritte Amtszeit“ . Seit
einem Mordanschlag gegen ihn ist er in Belgien . Inzwi-
schen wurde sein Schwager auf der Straße ermordet . Ei-
ner seiner Söhne wurde von einem Polizisten bei einer
Identitätskontrolle erschossen . Beide Mordfälle werden
nicht untersucht . Diese Verbrechen gegen die burun-
dische Zivilgesellschaft müssen aufhören . Die burun-
dische Regierung muss dringend ihren internationalen
Verpflichtungen nachkommen, zu denen insbesondere
die Achtung der Grundfreiheiten und die Freiheit der
Meinungsäußerung sowie die Pressefreiheit zählen . Die
Rechtsstaatlichkeit, die Menschenrechte und das huma-
nitäre Völkerrecht müssen eingehalten und die Sicherheit
der burundischen Bevölkerung gewährleistet werden .
„Es war niemand mehr in Burundi, um die Menschen-
rechte der Burundier zu verteidigen“, erklärte mir Jacques
Nshimirimana . Mit der autokratischen Tendenz des Regi-
mes ist das Engagement von Menschenrechtsverteidigern
im Land mehr als je wichtig – und gefährlich . Die Leben
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 196 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 20 . Oktober 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 196 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 20 . Oktober 2016 19575
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von Menschenrechtsverteidigern und Kinderrechtvertei-
digern wie Jacques Nshimirimana werden bedroht . Ich
rufe die burundische Regierung auf, die Menschenrecht-
verteidiger und insbesondere die Kinderrechtverteidiger,
die sich für die Vulnerabelsten starkmachen, zu schützen .
Ich lade Sie ein, im Rahmen des Programms „Parlamen-
tarier schützen Parlamentarier“, PsP, unseres Ausschus-
ses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ebenfalls
einen Beitrag zu leisten .
Letzte Woche hat das burundische Parlament be-
schlossen, die Statuten von Rom aufzukündigen . Bu-
rundi ist damit das erste Land, das seine Mitgliedschaft
beim Internationalen Strafgerichtshof formell beendet . In
der Debatte war es die Frage einer „Verschwörung der
internationalen Gemeinschaft“ . Die burundische Regie-
rung warf den „großen Mächten“ vor, der Internationalen
Strafgerichtshof als Druckmittel gegen die Regierungen
von armen Ländern sowie ein Mittel, um sie zu destabi-
lisieren, zu nutzen . Ob wir in Europa als Weltmacht die
afrikanischen Länder daran zu hindern, sich selbst zu fin-
den?
Zwar können wir von unserem Nachbarkontinent
nicht verlangen, dass er in ein paar Jahrzehnten die glei-
chen sozialen Standards erreicht, für die wir als freie
und unabhängige Staaten Jahrhunderte brauchten, aber
Menschenrechte lassen sich nicht diskutieren . Jedem
Menschen, egal woher er kommt und wo er lebt, hat ein
Recht auf Freiheit und Würde . Laut Afrobarometer, ei-
nem Netzwerk von unabhängigen Umfrageforschungsin-
stitutionen, das unter anderem von der Mo Ibrahim Foun-
dation, USAID und Transparency International finanziell
unterstützt wird, waren 2012: 62 Prozent der Burundier
zugunsten einer Beschränkung der präsidialen Amtszeit
auf zwei Mandate . 70 Prozent der Burundier sagen, dass
die Nachrichtenmedien frei sein sollten, jede Meinung zu
veröffentlichen . 81 Prozent der Burundier wollen, dass
die Presse die Fehler der Regierung und Korruption un-
tersucht und darüber berichtet .
Trotz der Diskussion über eine „afrikanische Form der
Demokratie“, die etwa eine größere Rolle für traditionel-
le Autoritäten vorsieht, unterstützt die Mehrheit der Bür-
ger afrikanischer Staaten die universalen Menschenrech-
te und die Verfahren der liberalen Demokratie . Daher ist
die derzeitige Unterdrückung der Demonstrationen in
Äthiopien keine gute Nachricht . Die Verzögerung der
Präsidentschaftswahlen in der Demokratischen Repu-
blik Kongo und die Diskussion über eine dritte präsidiale
Amtszeit in Ruanda sind ebenfalls besorgniserregend .
„Gibt es bald einen Ehrendoktor in Sachen Langzeit-
herrschaft?“, fragte die Zeitschrift Africa Positive in ihrer
letzten Ausgabe . Ich zitiere: „Existiert ein Handbuch mit
Kapitelüberschriften wie ,Rücksichtlose Ausmerzung
jeglicher Opposition leicht gemacht?‘ . . . ,Wie man sich
sein eigenes Volk wählt‘, ,Demokratisierte Despotie‘,
,Die Menschenrechte – ein Auslaufmodell‘ oder Ähnli-
ches?“ Es folgt die lange Liste der afrikanischen Anfüh-
rer, die sich seit vielen Jahren an der Macht halten, sowie
ein Zitat vom ugandischen Präsidenten Museveni: „Das
Problem Afrikas sind nicht die Leute, sondern die An-
führer, die viel zu lange an der Macht bleiben wollen .“
Macht korrumpiert, und absolute Macht korrumpiert ab-
solut . Kaum jemand ist davor gefeit . Nach einigen Jahren
absoluter Macht werden oft selbst integerste Menschen
zu Tyrannen .
Vor ein paar Wochen beim Gespräch im Bundestag il-
lustrierte ein Vertreter der Afrikanischen Union das Pro-
blem derart: „Wie kann man einen Betrunkenen aus dem
chinesischen Porzellanladen bringen, ohne alle Teller zu
zerbrechen?“
„Das Wohl Afrikas liegt im deutschen Interesse“, wie-
derholt unsere Kanzlerin seit ihren offiziellen Besuchen
auf dem afrikanischen Kontinent letzte Woche . Gern un-
terstützen wir die Menschen unseres Nachbarkontinents
dabei, bessere Lebensstandards zu erreichen . Dafür ist
der Dialog aber unabdingbar . Daher können wir nur be-
dauern, dass die burundische Regierung die drei einge-
setzten Experten des Menschenrechtsrates der Vereinten
Nationen vor zehn Tagen für Persona non grata erklärte
und die Zusammenarbeit mit dem Büro des Hohen Kom-
missars für Menschenrechte der Vereinten Nationen in
Bujumbura einstellte .
Als Deutscher Bundestagesabgeordneter engagie-
re ich mich schon seit Jahren für stärkere Beziehungen
mit den afrikanischen Ländern . Dabei bedanke ich mich
bei den afrikanischen Botschaftern für die gute Zu-
sammenarbeit . Meine Einladung zu runden Tischen zu
Wasserthemen sowie nach Chemnitz zu „Business trifft
Afrika“ wird gern gefolgt . Für mehr Zusammenarbeit
oder einen Austausch stehe ich immer gern zur Verfü-
gung . Denn ich bin der Überzeugung, dass wir viel von
Afrika zu lernen haben . Ich schwärme oft von Afrika als
unserem großen Bruder oder unserer großen Schwester .
Übrigens, wie Lutz van Dijk in seiner unbefangenen Ge-
schichte eines bunten Kontinents es darstellt: „Genetisch
gesehen, sind wir Menschen nach wie vor alle Afrikaner,
jedenfalls mehr Afrikaner als alles andere .“
Gabi Weber (SPD): Gestern Abend war Russlands
Präsident Wladimir Putin erstmal seit Beginn der Krise
in der Ukraine offiziell in Berlin. Die Bundeskanzlerin
betonte im Anschluss an das Treffen mit ihm, wie wich-
tig es gewesen sei, den direkten Gesprächskanal auf der
Ebene der Staats- und Regierungschefs wieder zu eröff-
nen . Warum erwähne ich das zu Beginn meiner Rede zu
Burundi?
Weil ich ebenfalls der festen Überzeugung bin: Ohne
Dialog keine Fortschritte, ohne diese Fortschritte kein
Frieden . Heute Vormittag traf ich mich mit der neuen
Botschafterin Burundis zu einem ersten Gespräch . Im
Verlaufe unserer Unterredung wurde klar, wie wichtig es
beiden Seiten trotz grundlegender Meinungsunterschiede
ist, im Dialog zu bleiben und nach Wegen zu suchen, die
Krise in Burundi beizulegen . Die Lage ist alles andere als
stabil, und es geht nicht voran . Wir dürfen uns aber gera-
de jetzt nicht abwenden und der langen Liste vergessener
Konflikte einen weiteren hinzufügen.
Zuletzt haben wir uns hier im Plenum am 9 . Juni mit
Burundi befasst . Hat sich über den Sommer die Lage
irgendwie verbessert? Ich muss das leider verneinen .
Burundi macht auf den interessierten Beobachter den
Eindruck, in einer politischen Sackgasse zu stecken . Der
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Konflikt wirkt festgefahren, und es herrscht eine ange-
spannte und instabile Lage, die mit dem Bild einer Ruhe
unter vorgehaltener Waffe recht gut beschrieben ist .
Ich bedauere sehr, dass Burundi in der hiesigen Be-
richterstattung eher als Randnotiz oder nur in Spezial-
medien auftaucht. So entstehen vergessene Konflikte,
die dann irgendwann in wesentlich dramatischerer Weise
wieder auf dem Radar der internationalen Aufmerksam-
keit auftauchen . Das dürfen wir nicht zulassen, und dafür
beraten wir heute auch abschließend diesen Antrag, da-
mit die Bundesregierung alles ihr Mögliche unternimmt,
um diesen Konflikt wenigstens zu beruhigen, denn von
einer Lösung sind wir im Moment weit entfernt .
Welche Entwicklung hat es seit Juni gegeben?
Die Mehrzahl der Vertreter von Opposition und zi-
vilgesellschaftlichen Organisationen befindet sich im
Ausland, im Untergrund oder in Haft . Sowohl Regierung
als auch Teile der Opposition setzen gezielt Gewalt als
Mittel zur Durchsetzung ihrer Interessen ein . Zudem ist
wegen der angespannten wirtschaftlichen Lage das Ni-
veau der allgemeinen Kriminalität deutlich angestiegen .
Mit circa 315 USD Pro-Kopf-Einkommen liegt Burundi
aktuell weltweit an letzter Stelle .
Die Flüchtlingssituation: Die Lebens- und insbeson-
dere die Ernährungssituation der Menschen in Burundi
verschlechtert sich zunehmend, die Flüchtlingszahlen
steigen: Aktuell sprechen wir von fast 300 000 Menschen
in den Nachbarstaaten Tansania, Ruanda, der DR Kongo,
Uganda und Sambia sowie rund 100 000 Binnenflücht-
lingen . Das BMZ unterstützt das tansanische Flüchtlings-
lager über das Welternährungsprogramm mit 14 Millio-
nen Euro, das Auswärtige Amt gibt 3,5 Millionen Euro
für humanitäre Hilfe an das UNHCR . Dazu kommen
weitere NGO-Projekte in Höhe von 650 000 Euro aus
Mitteln für humanitäre Hilfe .
Nicht allein die politische Situation ist ein Flucht-
grund. Wie aus anderen Zusammenhängen finden wir
auch hier den fast schon klassischen Katalog von Flucht-
ursachen, zum Beispiel mangelnde persönliche und öf-
fentliche Sicherheit sowie wirtschaftliche Perspektivlo-
sigkeit .
In den Straßen der Hauptstadt Bujumbura ist es zwar
ruhiger geworden, aber bewaffnete Jugendmilizen sind in
den Wohnvierteln der Regimegegner aktiv . Die Armee,
die Polizei und der Geheimdienst wurden nach poli-
tisch-ethnischen Gesichtspunkten umgebaut .
Unterstützung der Bevölkerung: Es ist erfreulich und
sehr hilfreich, dass wir trotz der Teileinstellung der bi-
lateralen staatlichen Entwicklungskooperation des BMZ
im Bereich der humanitären Hilfe und der Entwicklungs-
zusammenarbeit weiterhin auf das Engagement vieler
großer und kleiner Nichtregierungsorganisationen zählen
können . Die Arbeit privater Träger und das anhaltende
private Engagement sind sehr wichtig . Das anhaltende
private Engagement ist ein starkes Zeichen internationa-
ler Solidarität .
Die bereits begonnen BMZ-Projekte auf lokaler und
kommunaler Ebene laufen ebenfalls weiter . Allerdings
müssen wir uns bereits jetzt Gedanken machen, wie es
nach deren Auslaufen 2018 weitergehen soll . Ich bitte
die Regierung, diesbezüglich ihren Ansatz der direkten
Bevölkerungsunterstützung weiterzuverfolgen und ent-
sprechende Anschlussplanungen vorzunehmen . All das
zeigt, dass wir die Bevölkerung nicht vergessen und
unabhängig von der angespannten politischen Lage ihre
dringendsten Bedürfnisse im Blick behalten .
Die EU hat ihre gezielten Sanktionen wegen der Kri-
se in Burundi um ein Jahr verlängert . Drei Vertraute des
umstrittenen Präsidenten Pierre Nkurunziza sowie ein
Putschist bleiben bis Ende Oktober 2017 mit Einreise-
und Vermögenssperren belegt .
Am 27 . September 2016 legte eine Expertenkom-
mission dem UN-Menschenrechtsrat ihrem Abschluss-
bericht über die Menschrechtslage in Burundi vor . Sie
wies darin auf die trügerische „Stabilität“ hin und pran-
gerte insbesondere systematische Verfolgung, schwerste
Folter, ungesetzliche Hinrichtungen durch burundische
Sicherheitskräfte sowie sexuelle und geschlechtsspezi-
fische Gewalt an. Dieser Bericht führte zum Beschluss
der Entsendung einer Untersuchungskommission nach
Burundi . Das wurde von der Regierung allerdings mit
einer eindeutigen Ablehnung beantwortet, die beteiligten
UNO-Menschenrechtsexperten wurden zu unerwünsch-
ten Personen erklärt und die Zusammenarbeit mit dem
UN-Hochkommissariat für Menschenrechte ausgesetzt .
Die Nationalversammlung in Bujumbura stimmte zu-
dem aufgrund des laufenden Verfahrens gegen das ostaf-
rikanische Land wegen Verbrechen gegen die Mensch-
lichkeit unlängst mit großer Mehrheit für den Austritt
aus dem Internationalen Strafgerichtshof . Burundi wäre
damit das erste Land, das die Zusammenarbeit mit dem
Gericht in Den Haag aufkündigt .
Beobachtern zufolge plant die Regierung zudem, die
Amtszeitbeschränkungen der Verfassung und die Quoten
zwischen Hutu und Tutsi aus dem Arusha-Abkommen in
Kürze abzuschaffen .
In einer solchen Situation ist die Äußerung des aktu-
ellen Vorsitzenden der Afrikanischen Union, Idriss Déby,
nicht hilfreich, wenn er feststellt, dass die Probleme Bu-
rundis allein ausländischer Einmischung zuzuschreiben
seien und Präsident Nkurunziza verfassungsgemäß sein
drittes Mandat ausübt . Damit konterkariert Déby auch
die eigenen Bemühungen der AU um eine Entspannung
der Situation .
Was können wir also überhaupt tun?
Unser Antrag listet eine Reihe von diplomatischen,
humanitären und entwicklungspolitischen Maßnahmen
auf, die durch die Bundesregierung umgesetzt, fortge-
führt und intensiviert werden müssen . Darüber hinaus
sind folgende Punkte wichtig:
Zulassung von UN- und AU-Beobachtern im Land,
um die im September im Bericht des UNO-Menschen-
rechtsrates zur Menschenrechtssituation in Burundi er-
hobenen Vorwürfe unabhängig untersuchen zu können .
Es ist im Interesse der burundischen Regierung, hier auf
größtmögliche Transparenz zu setzen, wenn sie der Mei-
nung ist, dass die Vorwürfe nicht zutreffen .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 196 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 20 . Oktober 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 196 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 20 . Oktober 2016 19577
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(B) (D)
Die burundische Regierung sollte in diesem Zusam-
menhang ihren Rückzug vom Internationalen Strafge-
richtshof ernsthaft überdenken .
Die Zustimmung zu der vom UN-Sicherheitsrat am
29 . Juli 2016 verabschiedeten Resolution 2303 ist im-
mens wichtig. Sie sieht die Entsendung eines 228-köpfi-
gen Polizeikontingents nach Burundi vor, das zur Verbes-
serung der Sicherheitslage einen wesentlichen Beitrag
leisten könnte .
Die 2015 beschlossene Stationierung von Menschen-
rechts- und Militärbeobachtern der Afrikanischen Union
(AU) ist zügig zu ermöglichen, denn deren vollständige
Entsendung scheitert bis heute an von der burundischen
Regierung vorgeschobenen Formalien . Derzeit sind ge-
rade mal 45 von 200 AU-Beobachtern vor Ort und ihre
Arbeitsbedingungen sind schwierig .
Die diplomatischen Bemühungen um einen echten
innerburundischen Dialog müssen intensiviert werden .
Es gibt noch immer enge Beziehungen zwischen Regie-
rungs- und Oppositionskreisen, was aus dem besonderen
Verständnis dieser beiden Pole im politischen System
Burundis herrührt . Das muss zum Ausgangspunkt des
Dialoges werden .
Es ist mir noch wichtig, zu unterstreichen, dass wir es
in Burundi bisher immer noch mit einer politischen und
sozialen Krise zu tun haben, nicht mit einer ethnischen .
Alle Versuche von verschiedener Seite, den Konflikt zu
ethnisieren und Hutu gegen Tutsi aufzuhetzen, haben bis-
her nicht verfangen . Die traumatischen Erfahrungen des
langen Bürgerkrieges von 1993 bis 2005 entlang ethni-
scher Linien haben die Bevölkerung Burundis nachhaltig
geprägt und wachsam für die Gefahr ethnischer Ausein-
andersetzungen gemacht . Das macht Hoffnung, dass sich
eine Lösung des Konfliktes im Geist des Arusha-Abkom-
mens finden lässt.
Ich bin sehr froh, dass es in der Ausschussberatung des
vorliegenden Antrages gelungen ist, zumindest die Frak-
tion der Grünen von einer Zustimmung zu überzeugen .
Dafür möchte ich meinen herzlichen Dank aussprechen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, schlie-
ßen Sie sich uns an! Es wäre ein gutes und wichtiges Zei-
chen, dass es dem gesamten Hohen Hause wichtig ist,
dass Deutschland sich weiterhin in der Region engagiert
und Burundi und seine Menschen nicht vergisst .
Inge Höger (DIE LINKE): Oberflächlich betrachtet
sieht es so aus, als hätte sich die Lage in Burundi be-
ruhigt . Es gibt keine großen Straßenschlachten und in-
folgedessen auch weniger Opfer bewaffneter Auseinan-
dersetzungen . Doch ein zweiter Blick macht klar, dass
keineswegs alles gut ist in Burundi . Deshalb ist es auch
verfrüht und wäre ein Fehler, wenn nun die ohnehin
schwache internationale Aufmerksamkeit bezüglich der
menschenrechtlichen Situation in Burundi nachlässt .
Nach wie vor halten sich etwa 300 000 burundische
Bürgerinnen und Bürger in den Nachbarländern auf . Zu-
sätzlich gibt es ungefähr 100 000 Binnenflüchtlinge. Die
Berichte über die Lage der Menschenrechte in Burundi
sind besorgniserregend . Es gibt Belege für systematische
Folter, für Verschleppung und politische Morde .
Ich begrüße deswegen ausdrücklich die Arbeit der
UN-Untersuchungskommission und bedaure, dass ein-
zelne UN-Vertreter des Landes verwiesen wurden . Es ist
zudem eine gefährliche Entwicklung, dass das burundi-
sche Parlament mehrheitlich beschloss, die Zusammen-
arbeit des Landes mit dem internationalen Strafgerichts-
hof in Den Haag aufzukündigen . Diese Entscheidung
kommt gleichwohl nicht völlig überraschend . Schon seit
mehreren Jahren wird besonders in Afrika kritisiert, dass
allein Bürger afrikanischer Staaten vor dem Internatio-
nalen Strafgerichtshof angeklagt werden . Einmal mehr
wird deutlich, dass die selektive Anwendung internatio-
naler Rechtsnormen ein massives Glaubwürdigkeitspro-
blem schafft . Es ist an der Zeit, auch die Kriegsverbre-
chen westlicher Staaten juristisch aufzuarbeiten .
Der einzige Lichtblick in Burundi ist die Tatsache,
dass es bis jetzt – trotz staatlicher Hetze – nicht gelungen
ist, den Konflikt zu ethnisieren, sondern es im Kern nach
wie vor eine politische Auseinandersetzung ist .
Wenn wirklich eine dauerhafte politische Lösung ge-
funden werden soll, dann führt nichts an einem politi-
schen Dialog zwischen Regierung und Opposition vorbei .
Ohne kontinuierliche Unterstützung – und Druck – von
außen wird dies wohl nicht zu bewerkstelligen sein .
Die Linke spricht sich in der Regel nicht für Sanktio-
nen aus, auch und gerade weil diese zumeist die Situati-
on der Bevölkerung verschlechtern . Es gibt jedoch einen
Bereich der Kooperation mit der burundischen Regie-
rung, der dringend genauer betrachtet werden muss, und
es ist mehr als bedauerlich, dass dazu im vorliegenden
Antrag nichts zu finden ist.
Die EU gibt jährlich mehr als 200 Millionen Dol-
lar für die internationale Militär-Mission in Somalia
(AMISOM) aus, mit der in diesem Bürgerkriegsland
Frieden militärisch erzwungen werden soll . Burundi ist
mit etwa 5 400 Soldaten einer der größten Truppenstel-
ler innerhalb von AMISOM . Dies ist für das arme Land
Burundi ein wichtiger Wirtschaftsfaktor . Der Staat Bu-
rundi verdient daran jährlich etwa 13 Millionen Dollar,
und zusätzlich erhalten die beteiligten burundischen
Soldaten zusammen 52 Millionen Dollar als Sold . Diese
Einnahmen sind eine Art Lebensader für die burundische
Regierung . Ohne diese Zusatzeinnahmen für sogenann-
tes „Peace-keeping“ hätte die burundische Armee mögli-
cherweise Probleme, die Loyalität ihrer Angehörigen zu
behalten .
Die Soldaten der AMISOM sind immer wieder in
Skandale wie Korruption und sexuellen Missbrauch ver-
wickelt . Ob ihre Präsenz in Somalia wirklich zu einer sta-
bilen Friedenslösung beitragen kann, ist zweifelhaft . Klar
ist, dass neben der erwähnten Zahlung von Sold auch die
Ausbildung für die AMISOM-Soldaten und deren Aus-
rüstung mit Waffen und Munition Faktoren im fragilen
Machtgefüge in der Region sind . Die Bundeswehr ist seit
mehreren Jahren Teil dieser Ausbildungsmission .
Es ist schon mehr als fragwürdig, wenn der Versuch,
gewaltsam eine politische Lösung in Somalia durchzu-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 196 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 20 . Oktober 201619578
(A) (C)
(B) (D)
setzen, gleichzeitig bedeutet, dass die undemokratische
und menschenrechtsfeindliche Politik in einem anderen
Land gefördert wird . Es muss endlich Schluss sein mit
einer Politik, die hofft, mit eigenen Soldaten und Waf-
fen oder mit der Finanzierung von Soldaten und Waffen
anderer Akteure Frieden zu schaffen . Es ist Zeit, diese
Unlogik von Krieg, Intervention und Gewalt zu durch-
brechen und die freiwerdenden finanziellen und perso-
nellen Ressourcen für friedliche Konfliktbearbeitung und
Entwicklungsinitiativen zu verwenden .
Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Die Koalition hat wertvolle Zeit verschwendet .
Die Grünen haben mit ihrem Antrag „Gewalt in Burundi
stoppen – Weitere massive Menschenrechtsverletzun-
gen verhindern“, Bundestagsdrucksache 18/6883, schon
Ende 2015 die Bundesregierung aufgefordert, sich akti-
ver für den Schutz der Menschenrechte in Burundi ein-
zusetzen . Der Antrag wurde von der Koalition abgelehnt .
Dabei sind die neusten Meldungen aus Burundi der beste
Beweis dafür, dass viel früher viel mehr hätte passieren
sollen . Inzwischen kündigte Burundi als erster Staat der
Welt sogar die Zusammenarbeit mit Internationalem
Strafgerichtshof und stellte die Zusammenarbeit mit dem
Büro des Hohen Kommissars für Menschenrechte der
Vereinten Nationen in Bujumbura ein . Das Land schot-
tet sich vor unseren Augen ab und die Zivilbevölkerung
lebt in Angst . Das tut sie schon, seitdem sich der burun-
dische Präsident Nkurunziza 2015 trotz der Obergrenze
von zwei Mandaten ein drittes Mal aufstellen ließ . Im
Land führte dies einerseits zu Protesten und andererseits
zu massiven Menschenrechtsverletzungen gegen die Re-
gierungsgegner .
Dennoch lehnte die Koalition unseren Antrag sowie
die Erarbeitung einer interfraktionellen Initiative ab und
brachte ein halbes Jahr später einen eigenen Antrag ein .
Er enthält zwar wichtige Punkte, unsere Forderungen
bleiben jedoch nach wie vor aktuell; denn die Weltge-
meinschaft und gerade Deutschland müssen die vorhan-
denen Instrumente der Früherkennung und der Verhin-
derung von schwersten Menschenrechtsverletzungen im
Sinne der Schutzverantwortung weiter schärfen . Hier
gibt es noch große Defizite und der Antrag der Koalition
geht nur sehr vorsichtig auf dieses Thema ein .
Dabei hat sich die Weltgemeinschaft Jahrzehnte in
Burundi engagiert . Die Nachbarländer, die Afrikanische
Union, die Vereinten Nationen und die EU haben alle
nach Jahren von Unruhen und Gewalt Burundi auf dem
steinigen Weg zu einem Friedensabkommen im Jahr 2000
begleitet . Auch bei der Umsetzung standen diese Akteu-
re dem Land zur Seite . Nun sind seit April 2015 laut
UNHCR fast 300 000 Menschen aus Burundi geflohen
und über 100 000 intern vertrieben worden . Wie kann
das sein? Wieso hat man den Einfluss im Land nicht nüt-
zen können, um diese Entwicklung zu verhindern? Diese
Frage muss sich auch die Bundesregierung stellen .
Der UN-Bericht vom 20 . September dieses Jahres
weist darauf hin, dass in Anbetracht der Geschichte Bu-
rundis die Gefahr eines Völkermords nicht auszuschlie-
ßen sei . Manche der begangenen Verbrechen könnten
womöglich als Verbrechen gegen die Menschlichkeit
klassifiziert werden. Der Bericht empfiehlt die dringende
Aufnahme eines unabhängigen gerichtlichen Verfahrens,
um die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen .
Nach den letzten Entscheidungen Burundis wird so ein
Verfahren wohl noch schwieriger sein . Wir, die Welt-
gemeinschaft, können es einfach nicht erlauben, dass
schwerste Menschenrechtsverletzungen ohne Konse-
quenzen bleiben . Deshalb muss auch die Bundesregie-
rung endlich aktiver werden – nicht nur wegen der Si-
tuation in Burundi, sondern auch wegen der Stabilität in
der gesamten Region . In der Hoffnung, dass dieser An-
trag zumindest eine kleine Verbesserung bewirken kann,
stimmen wir ihm zu . Schade, dass die Koalition bei un-
serem Antrag dazu nicht in der Lage war .
Anlage 4
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und
SPD: Schutz von Walen und Delfinen stärken
– des Antrags der Abgeordneten Steffi Lemke,
Nicole Maisch, Annalena Baerbock, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN:
Wirksamen Walschutz weltweit durchsetzen
(Zusatztagesordnungspunkte 8 und 9)
Gitta Connemann (CDU/CSU): Wer von uns kennt
nicht Moby Dick? Die Geschichte des weißen Wals und
seines Jägers Kapitän Ahab hat Generationen von Lesern
gefesselt . Auf der einen Seite der Pottwal als Sinnbild
der Natur, auf der anderen Seite der Mensch auf seinem
Rachefeldzug . Kapitän Ahab jagt den Wal Moby Dick,
der ihm ein Bein abgerissen hatte; Mensch gegen Wal –
auf Augenhöhe .
Diese Augenhöhe gibt es schon lange nicht mehr .
Wale, auch die kleinen Zahnwale, die Delfine, werden
verfolgt, mit modernster Technik gehetzt und gejagt . Im
Mittelpunkt steht das Geschäft . Deshalb haben auch An-
träge zur Verbesserung ihres Schutzes in diesem Haus
traurige Tradition . Von Legislaturperiode zu Legislatur-
periode fordern wir über die Parteigrenzen hinweg, dass
der kommerzielle Walfang weltweit beendet wird .
Diese Forderung ist unverändert nötig, bitter nötig;
denn die für den Schutz der Wale notwendigen Fort-
schritte konnten bis jetzt nicht erreicht werden – trotz al-
len öffentlichen Drucks . Zwar verbietet seit 1986 ein Mo-
ratorium der Internationalen Walfangkommission, IWC,
die kommerzielle Jagd auf Wale . Dabei ist die IWC noch
nicht einmal eine Walschutzorganisation . Ursprünglich
sollte sie Fangquoten festlegen, die den Bestand der
Großwale nicht gefährden und den Walfang damit lang-
fristig sichern . Aber es wurde deutlich, dass ein Walbe-
stand nach dem anderen am Rand der Ausrottung stand .
Nur Fakt ist: Länder wie Island, Norwegen oder Japan
erkennen das Moratorium entweder gar nicht – mehr – an
http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/068/1806883.pdf
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 196 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 20 . Oktober 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 196 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 20 . Oktober 2016 19579
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oder höhlen es aus . Um ein konkretes Beispiel zu nen-
nen: Jedes Jahr aufs Neue wiederholen sich die Szenen
vor dem japanischen Walfangort Taiji . Wenn Anfang
September die Saison der Treibjagd auf Delfine beginnt,
ist das jährliche Schlachten eröffnet . Bis März werden
die Tiere gejagt und in einer Bucht zusammengetrieben .
Dort werden die besten Tiere aussortiert . Der Rest wird
abgeschlachtet, gesprengt oder erstickt .
Diese Jagd ist nichts anderes als ein Blutbad, ein
Blutbad unter dem Deckmantel der Walforschung . Den
Rahmen dafür bildet das Walforschungsprogramm,
NEWREP-A . Es erlaubt, über zwölf Jahre hinweg insge-
samt knapp 4 000 Wale zu erlegen . 4 000 Wale in zwölf
Jahren . Oder umgerechnet: 333 dieser einmaligen Mee-
ressäuger dürfen getötet werden, Jahr um Jahr, im Na-
men der Forschung . Aber es geht noch schlimmer . In der
Fangsaison 2015/2016 waren von diesen 333 Walen sage
und schreibe 200 Tiere trächtig . Es ist eine Schande .
Dieses Schlupfloch nutzt Japan seit November 2014,
um wieder Wale zu fangen . Kommerzieller Walfang wird
kurzerhand als Walforschung deklariert . Forschungs-
zwecke werden vorgeschoben . Das ist nichts anderes als
eine Ausrede . Die Walforschung braucht keine Massaker .
Diese hat im 21 . Jahrhundert ganz andere technologische
Möglichkeiten . Das Verhalten Japans ist ein schwerer
Schlag gegen den Schutz der Wale . Wir in der CDU/
CSU-Fraktion sind der Bundesregierung deshalb dank-
bar . Diese hatte sich im Dezember letzten Jahres einem
internationalen diplomatischen Einspruch gegenüber der
japanischen Regierung angeschlossen und die Wieder-
aufnahme des Walfangs deutlich kritisiert .
Dieser Druck muss über Japan hinaus aufrechterhal-
ten werden . Denn brutale Treibjagden, das Gemetzel von
Delfinen und Walen beschränkt sich nicht allein auf Ja-
pan . Auch in Norwegen und Island steht der kommerziel-
le Walfang auf der Tagesordnung . Das muss endlich ein
Ende haben . Die Welt muss handeln . Wir müssen Wale
und Delfine noch besser schützen. Deshalb fordern wir
die Bundesregierung auf, sich beim Treffen der IWC-Mit-
gliedstaaten in Portoroz zum Anwalt der Meeres säuger
zu machen . Die Konferenz der Internationalen Walfang-
kommission beginnt heute in Slowenien . Dort muss ein
starkes Zeichen gegen die Jagd und Tötung von Walen
und Delfinen gesetzt werden. Dafür haben wir unseren
Antrag vorgelegt . Darin fordern wir: Im Interesse des
Walschutzes müssen der Erhalt, die Stärkung und vor al-
lem eine bessere Durchsetzung des Moratoriums erreicht
werden – ohne Wenn und Aber . Für die Tötung von Wa-
len gibt es keinen Grund . Anträge, die auf eine Aushöh-
lung des Walfangmoratoriums abzielen, sind abzulehnen .
Wir fordern die Bundesregierung aber auch auf, sich
gemeinsam mit anderen Vertragsstaaten auf der IWC-Ta-
gung dafür einzusetzen, dass Norwegen und Island ihre
Walfangaktivitäten einstellen . In Europa muss kommer-
zieller Walfang der Geschichte angehören . Niemand
braucht im 21 . Jahrhundert Nahrungsergänzungsmittel
oder Kosmetik aus Walöl . Das Abschlachten der Tiere
ist hiermit nicht zu rechtfertigen – im Gegenteil . Es gibt
eine Ausnahme: Für indigene Völker mit Walfangtraditi-
on wie Aleuten, Inuit oder Eskimos sind Wale Nahrung .
Ihnen muss der Walfang zum Eigenverbrauch weiter er-
laubt sein .
Es ist unsere Pflicht, Wale und Delfine noch besser zu
schützen, damit unsere Kinder und Enkel, wenn sie Moby
Dick lesen, nicht fragen: Was ist eigentlich ein Wal?
Dr. Klaus-Peter Schulze (CDU/CSU): Zur Ordnung
der Wale zählt eine Vielzahl von Arten, die sich auf un-
terschiedliche Weise an die Bedingungen in den Meeren
dieser Welt angepasst haben . Wale werden in Barten- und
Zahnwale unterteilt, die sich wiederum in verschiedene
Familien untergliedern . So zählt der Südliche Zwergwal
zur Familie der Furchenwale, die wiederum zur Unter-
ordnung der Bartenwale gehört .
Bereits im Mittelalter wurden in Europa Wale gejagt .
Die Fischer hatten es dabei vor allem auf die großen
Mengen an Fleisch sowie den als Brennstoff verwend-
bare Waltran abgesehen . Die Jagd beschränkte sich zu
dieser Zeit auf die Küstengebiete . Erst ab 1630 begannen
Holländer mit der Waljagd auf offener See . Ein deutli-
ches Wachstum erlebte die Walfangindustrie im 17 . und
18 . Jahrhundert . Vor allem Pottwale rückten in den Fokus
der Parfüm- und Kerzenindustrie . Ein solcher Anstieg
der Waljagd wiederholte sich in der zweiten Hälfte des
19 . Jahrhunderts . Grund waren dieses Mal technische
Erfindungen. Mithilfe von neu entwickelten Sprenghar-
punen konnten nun auch die schnellen Furchenwale, wie
Blau- und Finnwale, gejagt werden . Zusätzlich ermög-
lichte die Dampfschifffahrt eine enorme Ausdehnung der
Fanggebiete .
Nach der ersten erfolgreichen Ölbohrung im Jahr 1859
wurde Walöl als Lampenbrennstoff von Petroleum abge-
löst . Dennoch blieb Waltran ein wichtiger Grundstoff
vieler Produkte und wurde für Produktionsprozesse be-
nötigt . Hinzu kam, dass die Wale ab Beginn des 20 . Jahr-
hunderts zunehmend von Fabrikschiffen direkt auf dem
Meer verarbeitet wurden . Mit dieser Industrialisierung
der Waljagd steigerte sich in den 1930er-Jahren die Zahl
der getöteten Wale auf weltweit jährlich über 30 000 .
Aufgrund dieser Entwicklung wurde vor genau
70 Jahren die Internationale Walfangkommission, IWC,
eingerichtet . Sie zielte zu dieser Zeit jedoch nicht auf
den Schutz der Meeressäuger ab, sondern vielmehr da-
rauf, die Bestände in einem für das weitere Bestehen der
Walfangindustrie notwendigen Umfang zu erhalten . Die
Konsequenz dieses fehlgeleiteten Ansatzes offenbarte
sich spätestens in der Fangsaison 1961/1962, in der über
66 000 Wale getötet wurden . Dabei handelte es sich aller-
dings nur um die offiziellen Zahlen, die eine systemati-
sche Fälschung der Fangzahlen durch einzelne Nationen
nicht berücksichtigten . So stellte sich nach dem Zusam-
menbruch der Sowjetunion heraus, dass die Sowjets bis
Ende der 1970er-Jahre fast 180 000 Pottwale illegal ge-
fangen hatten .
In den 1980er-Jahren generierten spektakuläre Aktio-
nen der Umweltorganisation Greenpeace eine öffentliche
Aufmerksamkeit für die prekäre Situation der Wale . Vor
allem jedoch der massive Rückgang der Walpopulatio-
nen sorgte schließlich für ein grundlegendes Umden-
ken . In der Konsequenz trat im Jahr 1986 das durch die
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 196 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 20 . Oktober 201619580
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IWC vier Jahre zuvor beschlossene Walfangmoratrium
in Kraft . Ab diesem Zeitpunkt war der kommerzielle
Walfang verboten . Dennoch hat Japan seit dem Inkraft-
treten des Moratoriums rund 18 000 Wale getötet . Als
Begründung werden wissenschaftliche Untersuchungen
angeführt, die gemäß Artikel 8 der IWC-Konvention den
Fang von Walen erlauben . Faktisch handelt es sich aller-
dings um kommerziellen Walfang . So hat ein IWC-Ex-
pertengremium dem aktuellen japanischen Programm die
wissenschaftliche Rechtfertigung abgesprochen, was von
Japan ignoriert wird . Allein in den letzten zehn Jahren
fielen den japanischen Explosivharpunen im Namen der
Wissenschaft 10 712 Zwergwale zum Opfer . Angesichts
der Zahlen müsste es sich bei dieser Walart um das am
besten untersuchte Lebewesen der Welt handeln – leider
weit gefehlt . Die massenhaften Tötungen mündeten in
nur zwei Publikationen in Fachzeitschriften . Was japa-
nische Wissenschaftlicher anhand von über 10 000 Wal-
kadavern auch herausgefunden haben mögen, sie wollen
dieses Wissen offensichtlich nicht mit der Menschheit
teilen .
Es darf an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, dass
es neben Japan noch zwei weitere Staaten gibt, die kom-
merziellen Walfang betreiben . Während die Japaner im
Zeitraum von 2014 bis 2015 663 Großwale töteten, er-
legte Island 345 Wale und Norwegen gar 1 396 . Zwar
begründen Island und Norwegen ihre Jagd nach Wa-
len nicht mit ominösen wissenschaftlichen Ansätzen,
dennoch ist auch hier die Sinnhaftigkeit der Waltötun-
gen äußerst fraglich . So wurden im Jahr 2014 mehr als
113 Tonnen Zwergwal auf norwegischen Pelztierfarmen
an Zuchtnerze und -füchse verfüttert .
Doch nicht nur der kommerzielle Walfang, mit wis-
senschaftlichem Deckmantel oder ohne, bedroht die
globalen Walpopulationen . Für die Schweinswale in der
Nord- und Ostsee stellen darüber hinaus Fischereigeräte
und Unterwasserlärm eine erhebliche Gefahr dar . Da sie
ihre Nahrung am Meeresgrund suchen, verfangen sich
Schweinswale häufig in Stellnetzen und ertrinken. Im
Jahr 2014 wurden an der deutschen Ostseeküste 129 Tot-
funde von Schweinswahlen gezählt . An der Nordseeküs-
te Schleswig-Holsteins waren es im Sommer 2012 sogar
132 tote Tiere . Die exakte Benennung der Beifangquote
erweist sich dabei als schwierig . Dennoch haben Unter-
suchungen der Totfunde an der Küste Mecklenburg-Vor-
pommerns ergeben, dass die Beifangquote zwischen
2003 und 2012 bei 7,9 Prozent und der Verdacht auf Bei-
fang bei 3,6 Prozent lagen .
Um den Beifang von Schweinswalen zu verhindern,
werden von einigen Fischern sogenannte Pinger, akusti-
sche Signalgeber, eingesetzt . Diese sind jedoch umstrit-
ten, da sie im Verdacht stehen, die Meeressäuger groß-
räumig aus ihren Nahrungsgründen zu vertreiben . Aus
diesem Grund werden aktuell sogenannte PAL-Geräte
getestet, die Schweinswal-Kommunikationslaute imitie-
ren und so die Tiere vor unsichtbaren Stellnetzen war-
nen . Allerdings dauert die, vom Bundesministerium für
Ernährung und Landwirtschaft unterstützte Forschung
der PAL-Geräte noch an .
Aufgrund ihrer hohen Geräuschempfindlichkeit wer-
den Schweinswale von Unterwasserlärm stark beein-
trächtigt . So kann bei ihnen ab 164 Dezibel eine temporä-
re Schwerhörigkeit eintreten . Aus diesem Grund hat das
Umweltbundesamt, UBA, einen Grenzwert für Unter-
wasserlärm beim Bau von Offshorewindenergieanlagen
eingeführt . Demnach darf außerhalb von 750 Metern um
die Rammstelle ein Schallexpositionspegel von 160 De-
zibel nicht überschritten werden . Allerdings werden die
Fundamente der Windanlagen mittels Impulsrammung in
den Meeresboden getrieben, die in der Spitze Lärmwer-
te von bis zu 200 Dezibel erzeugt . Hinzu kommt, dass
sich der Grenzwert des UBA auf einen einzelnen Ramm-
schlag bezieht . Pro Anlage sind jedoch unter Umständen
Tausende Schläge notwendig, wodurch kumulative Ef-
fekte die schädliche Wirkung auf die Schweinswale noch
erhöhen . Die immense Lärmbelästigung führt dazu, dass
Schweinswale fliehen, langfristig große Gebiete meiden
oder mangels Kommunikationsmöglichkeit die Orientie-
rung verlieren, stranden und verenden .
Es existieren bereits Methoden, die den Schalleintrag
während der Errichtung von Offshorewindernergieanla-
gen reduzieren können . Primäre Schallminderungsmaß-
nahmen: Verminderung der Schlagenergie, Verlängerung
der Kontaktzeit zwischen Hammer und Pfahl – „Impuls-
dauerverlängerung“ . Sekundäre Schallminderungsmaß-
nahmen: Blasenschleier, Hüllrohr, Hydroschalldämpfer,
Kofferdamm . All diese Maßnahmen haben gemein, dass
derzeit noch ein erheblicher Forschungsbedarf besteht .
Hier müssen die Bemühungen intensiviert werden, damit
der Einsatz von effektiven Schallminderungsmaßnahmen
auch in größeren Wassertiefen realisiert werden kann .
Doch nicht nur die Wissenschaft ist gefragt, wenn es
um den Erhalt der Wale als Symbol biologischer Viel-
falt geht . So können auch Touristen ihren kleinen Bei-
trag zum Walschutz leisten . Im Rahmen von sogenannten
Walbeobachtungstouren, die unter anderem in der Straße
von Gibraltar und auf den Makaronesischen Inseln an-
geboten werden, gilt es, darauf zu achten, ausschließlich
auf nachhaltige Anbieter zurückzugreifen . Darüber hi-
naus sollte darauf verzichtet werden, auf Märkten, wie
es sie im norwegischen Bergen gibt, Walprodukte zu er-
werben .
Der vorliegende Antrag benennt die entscheidenden
Maßnahmen, welche die Staatengemeinschaft zukünf-
tig ergreifen muss, um den Schutz der Wale im Rahmen
des IWC-Moratoriums und darüber hinaus zu gewähr-
leisten und um damit den Erhalt dieser beeindruckenden
Meeres säuger sicherzustellen .
Christina Jantz-Herrmann (SPD): Wale nehmen
nicht nur eine wichtige Rolle im marinen Ökosystem und
Nahrungsnetz ein, sie sind darüber hinaus auch zu einem
Symbol biologischer Vielfalt geworden . So ist es wichtig
und richtig, dass sich auch der Deutsche Bundestag in
dieser Woche mit dem Thema Walschutz befasst . Wenn
heute in Slowenien die 66 . Internationale Walfangkon-
ferenz beginnt, haben wir als nationales Parlament die
Chance, ein Signal zum Tagungsort Portoroz zu sen-
den, ein Signal, welches unmissverständlich deutlich
macht, dass die Weltgemeinschaft in ihren Bemühun-
gen für den Schutz von Walen, insbesondere auch von
Delfinen, keinesfalls nachlassen darf. Auch stärken wir
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 196 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 20 . Oktober 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 196 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 20 . Oktober 2016 19581
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damit die Entschließung des Europäischen Parlaments
vom 6 . Juli 2016 zum Beschluss Japans, in der Fangsai-
son 2015/2016 den Walfang wiederaufzunehmen . Das
EU-Parlament hat diese Entschließung übrigens mit gro-
ßer Mehrheit beschlossen .
Die Bedrohung von Walarten und -beständen durch
wirtschaftliche Aktivitäten und andere anthropogene Be-
einträchtigungen ist anhaltend hoch . Beifänge in der in-
dustriellen Fischerei, der Eintrag von Umweltgiften und
Plastikmüll in die Ozeane sowie der ständig zunehmende
Unterwasserlärm stellen aktuell eine große Bedrohung
für das Überleben der Wale dar . Nicht nur Umweltverän-
derungen schränken den Lebensraum vieler Wale immer
weiter ein . Eine weitere erhebliche Gefährdung bilden
die anhaltenden kommerziellen Interessen einzelner Wal-
fangstaaten .
So steht es auch in unserem Antrag „Schutz von Wa-
len und Delfinen stärken“. Mit diesem unterstützen wir
die deutschen Anstrengungen zum Schutz der Wale
nachdrücklich . Mit unserem Antrag fordern wir die Bun-
desregierung auf, sich auch zukünftig zielstrebig und
beständig für den umfassenden Schutz der Walbestän-
de einzusetzen und die Einhaltung und Fortführung des
Walfangverbotes von den IWC-Mitgliedstaaten einzufor-
dern . Auch wird die Bundesregierung aufgerufen, darauf
hinzuwirken, dass Island, Japan und Norwegen ihre Wal-
fangaktivitäten aufgeben .
So appellieren wir an die Bundesregierung, darauf
hinzuwirken, dass Japan seinen als wissenschaftlich de-
klarierten, aber offensichtlich kommerziellen Walfang
beendet . Weiterhin wird die Bundesregierung dazu ange-
halten, die Internationale Walfangkommission aufzufor-
dern, keine Arbeiten zu finanzieren, die der Wiederauf-
nahme des kommerziellen Walfangs dienen . Stattdessen
sollen diese Mittel Walschutzprogrammen zur Verfügung
gestellt werden . Im Antrag machen wir zudem deutlich,
dass sich auch Deutschland weiterhin dafür einsetzen
muss und wird, die heimisch vorkommenden Schweins-
wale noch besser vor akustischer Beeinträchtigung und
Umweltverschmutzung zu schützen sowie Beifänge zu
minimieren .
Walschutz ist mehr als nur der Kampf gegen Wal-
fang . Wenn wir uns ernsthaft mit dem Thema Walschutz
auseinandersetzen möchten, reicht es nicht aus, uns aus-
schließlich gegen Walfang zu engagieren . Walfang hat
ohne Frage eine besondere Qualität, wenn es um Proble-
me für Wale geht . Doch wir müssen uns auch mit den
Schwierigkeiten von Walen bei uns im Meer befassen .
Für uns bedeutet dies, dass wir Schweinswale in unse-
ren Gewässern ausreichend schützen müssen . Deshalb
fordern wir die Bundesregierung in unserem Antrag auf,
die Forschungsarbeiten zum akustischen Monitoring des
gefährdeten Ostseeschweinswals, die mit Unterstützung
aller an die Ostsee angrenzender EU-Staaten vom Deut-
schen Meeresmuseum in Stralsund in Zusammenarbeit
mit verschiedenen deutschen und anderen Universitäten
begonnen wurden, weiter zu unterstützen .
Auch fordern wir die Bundesregierung auf, darauf
hinzuwirken, dass die zuständigen Naturschutzbehörden
der Länder bei Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen im
Rahmen der Intensivierung der Nutzung von Nord- und
Ostsee von den jeweiligen Industrien Monitoring-Maß-
nahmen und Beiträge zum Schutz der Meeresfauna ein-
fordern . Dies sind Maßnahmen, die mir persönlich sehr
am Herzen liegen .
Es ist kein Geheimnis, dass wir als SPD-Bundestags-
fraktion bei den Themen Tier- und Artenschutz oft und
intensiv mit unserem Koalitionspartner um die Inhalte
ringen müssen . Deshalb bin ich froh, dass es uns bei die-
sem wichtigen Thema gelungen ist, einen Antrag zu for-
mulieren, der wichtige Aspekte der Thematik abbildet:
Wir adressieren sowohl die Durchsetzung des kommer-
ziellen Walfangverbots als auch die Bedrohung der Wale
durch Umweltbeeinträchtigungen .
Auch die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat einen
Antrag zum Thema Walschutz eingebracht . Inhaltlich ist
dieser in vielem identisch mit unserem . Lassen Sie uns
ein gemeinsames, starkes Signal nach Portoroz senden .
Deshalb werbe ich um Zustimmung zum Koalitionsan-
trag auch durch die Opposition .
Birgit Menz (DIE LINKE): Auch 30 Jahre nach In-
krafttreten des Moratoriums für kommerziellen Walfang
besteht das Kernproblem darin, dass der Internationa-
len Walfangkommission keine Sanktionsmöglichkeiten
zur Verfügung stehen, um Verstöße zu ahnden oder den
Missbrauch der Möglichkeit des wissenschaftlichen Wal-
fangs zu verhindern . So ist es in der Saison 2015/16 wie-
der möglich gewesen, dass japanische Walfänger unter
dem angeblichen Vorwand wissenschaftlicher Walfang-
programme 333 Zwergwale töteten . Mehr als die Hälfte
davon waren schwangere Weibchen . Das sind die höchs-
ten Fangzahlen in Japan seit der Saison 2010/2011 .
Norwegische Fischer töteten 2016 bisher 591 Wale,
um aus ihnen Tierfutter zu machen oder das Fleisch auf
Fuchs- und Nerzfarmen zu verfüttern . Auch Island be-
treibt weiterhin offenen kommerziellen Walfang . Trotz-
dem wird dieses Kernproblem auch auf der diesjährigen
Konferenz nicht gelöst werden . Mehr noch: Es wird im
Rahmen der offiziellen Agenda nicht einmal zur Sprache
kommen .
30 Jahre nach Inkrafttreten des Moratoriums für kom-
merziellen Walfang wird die Walfangkommission zu
diesem Thema schweigen, und das nicht zuletzt, weil
die EU-Kommission und Dänemark das Einreichen ei-
ner notwendigen deutlichen Resolution gegen kommer-
ziellen Walfang verhindern . Umso mehr muss sich die
Bundesregierung für die Aufrechterhaltung des kommer-
ziellen Walfangmoratoriums starkmachen . Sie muss sich
dafür einsetzen, die Internationale Walfangkommission
zu modernisieren und Sanktionen zu ermöglichen, um
die Durchsetzung des Moratoriums sicherzustellen, und
sie muss sich für eine unabhängige Prüfung von „Wis-
senschaftsprogrammen“ starkmachen .
Die Linke stimmt beiden Anträge zu, weil die ge-
machten Vorschläge den Schutz von Walen und Del-
finen stärken. Dennoch möchte ich, auch mit Blick auf
Punkt 13 des Koalitionsantrags, eines betonen: Wale und
Delfine wirksam zu schützen, bedeutet mehr, als die Jagd
auf sie zu reduzieren. Wale und Delfine zu schützen, be-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 196 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 20 . Oktober 201619582
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(B) (D)
deutet auch, die Meere zu schützen: vor dem Eintrag von
Schadstoffen, vor Verschmutzungen, vor Lärm, vor zu-
nehmenden Belastungen durch Industrie und Schifffahrt
und vor Überfischung. Kurz gesagt: Wale und Delfine zu
schützen, bedeutet eine konsequente nachhaltige Um-
weltpolitik, der sich die gesamte Bundesregierung ver-
pflichtet sieht, nicht nur einzelne Ministerien.
Vor unserer eigenen Haustür können wir beobachten,
wie der Mensch das Leben vieler Meerestiere und de-
ren Lebensumwelt negativ beeinflusst. Wale und Delfine
sind andauernden Umweltbeeinträchtigungen wie Unter-
wasserlärm, der Vermüllung von Meeren durch Plastik
oder einer immer intensiver werdenden Bewirtschaftung
der Gewässer ausgesetzt . Dies gilt nicht nur für Nord-
und Ostsee, sondern für fast alle maritimen Gebiete, in
denen sich Wale und Delfine dauerhaft befinden oder
zeitweise aufhalten . Durch zunehmenden Schiffsverkehr,
intensive maritime Bewirtschaftung und die hohe Anzahl
militärischer Manöver ist es unter Wasser so laut gewor-
den wie selten zuvor . Der durch Explosionen, Sonar oder
Unterwasserbohrungen verursachte Krach führt bei Wa-
len, Delfinen und anderen Meerestieren zu gravierenden
Schädigungen des Hörsystems . Für Meerestiere, die via
Schall kommunizieren und sich orientieren, gleicht dies
einem Todesurteil . Eine baldige Reduzierung der Lärm-
verschmutzung ist im Sinne des Artenschutzes unbedingt
erforderlich . Langfristig ist es zwingend notwendig,
Maßnahmen zu ergreifen, die mit einem Verbot des Ein-
satzes von Sonar sowohl zu militärischen Zwecken als
auch für die Suche von Erdöl im Meeresboden einher-
gehen .
Ein weiteres menschengemachtes Problem, unter dem
auch Wale und Delfine leiden, ist die Überfischung der
Meere . Mit der weltweiten massenhaften Entnahme von
Fisch entziehen großindustrielle Fangflotten nicht nur
wichtige Nahrungsquellen, sondern bedrohen auch das
Ökosystem und dessen Leistungen als Ganzes .
Laut WWF sterben jährlich etwa 300 000 Wale und
Delfine als Beifang in den Netzen der Fischerei. Dies
macht mehr als deutlich, dass dringend alternative Fang-
methoden gefördert werden müssen, die sogenannten
Beifang vermeiden und die Meeresumwelt schonen .
Konkret heißt das, zukünftig auf die Fischerei mit Grund-
und Schleppnetzen gänzlich zu verzichten . Der Schutz
von Walen und Delfinen muss deshalb von der Bundesre-
gierung hier in Deutschland genauso konsequent gestärkt
werden wie auf dem europäischen und internationalen
Parkett . Die Linke fordert neben dem Haltungsverbot von
Delfinen in Gefangenschaft auch ein Verbot, wildlebende
Delfine zu fangen. Delfine aus kommerziellen oder an-
geblich therapeutischen Zwecken in Gefangenschaft zu
halten, lehnt Die Linke als Tierquälerei ab . Lassen Sie
uns mit gutem Beispiel vorangehen, wenn es darum geht,
Tiere vor Profitinteressen zu schützen.
Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Heu-
te beginnt in Slowenien die Tagung der Internationalen
Walfangkommission . Die Internationale Walfangkom-
mission besteht 2016 seit 70 Jahren . Ihre größte Errun-
genschaft ist das seit 1986 geltende weltweite Verbot
des kommerziellen Walfangs . Eine Errungenschaft, die
immer wieder verteidigt werden muss . Jährlich werden
Tausende von Walen und Delfinen abgeschlachtet. Vor
den Faröer–Inseln, Island und Grönland werden Finn-
wale, Zwergwale, Grindwale und Delfine gejagt und das
Fleisch – trotz Handelsverbot – vor allem nach Japan
verkauft . Japan tötet nach wie vor Wale unter dem Deck-
mantel der wissenschaftlichen Forschung und nutzt da-
mit ein juristisches Schlupfloch. Trotz Urteils des Inter-
nationalen Gerichtshofs, das Japan die Illegalität seines
angeblich wissenschaftlichen Walfangs beschieden hat,
steht aktuell ein Antrag Japans zur Bewilligung des wei-
teren Walfangs auf der IWC-Tagesordnung . Ich setze da-
rauf, dass dieser Antrag keine Unterstützung finden wird
und die IWC Instrumente findet, die Tötung von Walen
für angebliche wissenschaftliche Zwecke zu unterbin-
den . Ich hoffe auch darauf, dass der diesjährigen Tagung
der IWC ein Durchbruch für die Einrichtung eines Wal-
schutzgebietes im Südatlantik gelingt – es hätte über das
konkrete Schutzgebiet hinaus eine wegweisende Bedeu-
tung für den zukünftigen Umgang mit unseren Ozeanen
und der dort lebenden Fauna und Flora . Denn über das
Verbot des Walfanges hinaus brauchen wir einen umfas-
senden Meeresschutz, wenn unter der sich verschärfen-
den Klimakrise im Meer die wichtigen Ökosystemfunk-
tionen der Ozeane nicht kollabieren sollen .
Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregie-
rung Globale Umweltveränderungen (WBGU) kam
im Jahr 2013 in seinem Gutachten „Welt im Wandel –
Menschheitserbe Meer“ zu dem Ergebnis, dass ein fun-
damentaler Perspektivenwechsel erforderlich ist, um die
Meere zu schützen . Die Notwendigkeit einer Trendwen-
de beim Umgang mit den Meeren ist längst bekannt . Die
dringend benötigten Regelungen existieren nicht oder
sind in der Praxis durch die Staaten nicht ausreichend
umgesetzt . Zu diesen Staaten zählt auch die Bundes-
republik Deutschland . Vor fast 10 Jahren 2007 wurden
die von Deutschland gemeldeten Natura2000-Gebiete in
der Ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ) von Nord-
und Ostsee durch die Europäische Kommission bereits
bestätigt . Die Bundesregierung hatte sechs Jahre Zeit
(bis Ende 2013), Maßnahmen im Sinne einer Schutzge-
bietsverordnung in nationalem Recht zu verankern . Was
ist passiert? Nichts! Stattdessen ist ein EU-Vertragsver-
letzungsverfahren anhängig . Und eine Klage von fünf
Umweltverbänden gegen die Bundesregierung vor dem
Verwaltungsgericht Köln wegen mangelhaften Meeres-
schutzes .
Die Bundesregierung betont ja gerne, dass ihr der
Meeresschutz wichtig ist . Zum G7-Gipfel 2015 in El-
mau wurde sogar ein Aktionsplan gegen Meeresver-
müllung verabschiedet . Die Ozeane sind aber weltweit
in einem gravierenden Ausmaß bedroht: Überfischung,
Verschmutzung mit Plastik, Chemikalien, Radioaktivi-
tät, Erhitzung, CO2-Eintrag, Versauerung, Raubbau an
Bodenschätzen . Das bisherige Handeln der Bundesre-
gierung steht in keinem Verhältnis zur Größe des Pro-
blems . Ein Aktionsplan nur gegen Meeresmüll greift
zu kurz . Unsere Meere sind in einer historischen Krise
und zum Teil wohl schon unumkehrbar verändert . Leer-
gefischt, vermüllt, übernutzt und als größtes Opfer der
Klima krise sind die Meeresökosysteme bis zum Äußers-
ten strapaziert . Vielfältige Hebel müssen in Bewegung
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 196 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 20 . Oktober 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 196 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 20 . Oktober 2016 19583
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gesetzt werden, um das Artensterben zu verhindern, die
Vergiftung, Vermüllung und Überdüngung zu stoppen
und um dem Meer wieder Raum zum Leben zu geben .
Dazu bedarf es gemeinsamer Anstrengungen auf globaler
und europäischer Ebene und auch auf nationaler Ebene .
„Um den Verlust der Arten zu bekämpfen, müssen na-
tional wie international alle Kräfte gebündelt werden .“
Dieser Satz stammt aus dem gemeinsamen Antrag der
Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die
Grünen „Konsequenten Walschutz fortsetzen und ver-
bessern“ aus der vergangen Wahlperiode . Das war eine
gute Initiative und ein guter Antrag, und es ist ein guter
parlamentarischer Brauch, gemeinsame Anträge zur Un-
terstützung der Regierung bei internationalen Verhand-
lungen zu verfassen, wenn die inhaltlichen Unterschiede
überbrückbar sind .
Und nun frage ich CDU und CSU, was in sie gefahren
ist, dieses gemeinsame Bemühen und Ringen um Fort-
schritt den Eskapaden eines einzelnen Abgeordneten zu
opfern . Ein bereits zwischen den Fraktionen abgestimm-
ter Antrag wird einfach mal so vom Tisch gewischt, ohne
irgendeine inhaltliche Begründung, weil der Herr Stier
mit dem falschen Fuß aufgestanden ist . Das ist zwar sein
gutes Recht, aber eine Bundestagsfraktion sollte etwas
mehr Überblick und politisches Verständnis haben . Das
Parlament sollte doch dazu in der Lage sein, einen inter-
fraktionellen Antrag zum Schutz der Wale auf den Weg
zu bringen – wie es dies schon mehrfach getan hat –, statt
sich in den ideologische Graben eines einzelnen Abge-
ordneten zu schmeißen . Herr Stier, Sie verkennen schein-
bar die Bedeutung internationaler Verhandlungen .
Erst gestern hat ein Antrag der EU für internationale
Schlagzeilen gesorgt: Das Weddellmeer in der Antarktis
soll zum größten Meeresschutzgebiet der Welt werden .
Ein Antrag, den Deutschland erarbeitet hat . Ein Antrag,
über den der CSU-Minister Schmidt sagt, dass es eine
historische Aufgabe ist, einzigartige Ökosysteme wie die
Antarktis zu schützen . Und weiter, dass die kommerziel-
le Fischerei eine extreme Gefahr sei für das Gebiet . Zum
einen ist das eine großartige Initiative, der ich von gan-
zem Herzen Erfolg wünsche und bei deren Durchsetzung
ich auch Herrn Schmidt Erfolg wünsche und Unterstüt-
zung zusichern kann – obwohl, Herr Stier, der Kolle-
ge Schmidt kein Grüner ist . Und zum anderen will ich
Herrn Schmidt auffordern, auch beim Meeresschutz vor
der eigenen Haustür endlich Ernst zu machen und seine
Blockade aufzugeben .
Sehr geehrte Damen und Herren der Bundesregierung,
sehr geehrter Herr Schmidt, nutzen Sie den nationalen
Handlungsspielraum wie den internationalen auch und
schützen Sie die Meere und die Meeresumwelt in ihrem
direkten Zuständigkeitsbereich genauso wie die in der
Antarktis .
Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durch-
führung unionsrechtlicher Vorschriften über das
Schulprogramm für Obst, Gemüse und Milch
(Landwirtschaftserzeugnisse-Schulprogramm-
gesetz – LwErzgSchulproG) (Tagesordnungs-
punkt 19)
Katharina Landgraf (CDU/CSU): Heute schaffen
wir die Voraussetzungen für das neue EU-Schulpro-
gramm für Obst, Gemüse und Milch, welches ab dem
Schuljahr 2017/2018 in den Schulen und vor allem bei
den Schulkindern ankommen soll . Ich freue mich, dass
durch die aktuellen Entwicklungen bei den Schulpro-
grammen für Schulobst und Schulmilch die Ernährungs-
bildung nunmehr auch verstärkt in den Schulen verankert
wird, und ich möchte im Folgenden die wichtigsten Eck-
punkte zusammenfassen .
Die erste und wichtigste Botschaft ist, dass der Kofi-
nanzierungsanteil der Länder komplett entfällt . Die zwei-
te wichtige Botschaft ist, dass die Programme Schulobst
und Schulmilch zusammengeführt werden . Dies wird zu
einer deutlichen Vereinfachung führen . Die dritte gute
Botschaft ist eine Erhöhung der Finanzmittel um 20 Mil-
lionen Euro auf nunmehr insgesamt 250 Millionen Euro
auf europäischer Ebene . Von dieser Summe werden nach
dem neu festgelegten Verteilungsschlüssel auf Deutsch-
land 19,7 Millionen Euro für Schulobst und -gemüse so-
wie 9,4 Millionen Euro für Schulmilch entfallen . Mit all
diesen Punkten bietet sich nun endlich die Chance, dass
Kinder in allen Bundesländern von beiden Programmen
profitieren. In Zukunft soll es kostenloses Obst, Gemüse
und Milch für alle Kinder und Jugendlichen in Bildungs-
einrichtungen geben .
Positiv hervorzuheben ist zudem, dass sich die Mit-
gliedstaaten und nach der Umsetzung der Vorgaben in
Deutschland im Einzelnen die Länder auch zu pädago-
gischen Begleitmaßnahmen verpflichten. So sollen die
Kinder über gesunde Ernährung und einen gesunden
Lebensstil aufgeklärt werden, über lokale Nahrungsmit-
telketten, ökologischen Landbau, nachhaltige Erzeugung
und die Bekämpfung der Lebensmittelverschwendung .
Kindern soll auch die Landwirtschaft wieder näherge-
bracht werden, beispielsweise durch Besuche von Bau-
ernhöfen .
Aber die Politik und die Schulen stoßen auch an ihre
Grenzen . Die Begeisterung der Kinder für die tägliche
Portion Obst und Gemüse muss früh geweckt werden .
Dies geschieht am besten und in erster Linie durch An-
gebote der Eltern . Das tatsächliche Leben mit Obst und
Gemüse findet vor allen in den Familien statt. Dass es da
läuft, hängt einzig und allein vom Bewusstsein der Fami-
lie ab . Der Idealfall wäre, wenn Vater und Mutter selbst
mit dem Thema „gesunde Ernährung“ und vor allem mit
viel Obst und Gemüse aufgewachsen sind .
Ist das nicht gegeben, so braucht man eine entspre-
chende pädagogische Begleitung . An dieser Stelle greift
dann das Obst- und Gemüseprogramm in den Kitas und
Schulen . Da wünsche ich mir, dass ein solches Angebot
nicht als ein von oben verordnetes Übel angesehen wird,
das nur mehr Arbeit macht . Das Programm sollte zum
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ganz normalen Alltag in den Schulen und Einrichtungen
gehören .
Eine gute Nachricht zum Schluss: Die Evaluationen
des Schulmilch- und des Schulobstprogramms haben
eine deutliche Zunahme der Beliebtheit und Akzeptanz
von Milch, Obst und Gemüse ergeben . Zudem stieg das
Bewusstsein der Kinder um die Wichtigkeit von Milch,
Obst und Gemüse als Bestandteil einer gesunden Ernäh-
rung . Das zeigt mir, dass wir auf einem guten Weg sind
Carola Stauche (CDU/CSU): Wir haben heute den
nicht allzu häufigen Fall, dass wir einen Gesetzentwurf
verhandeln, dem wohl alle Mitglieder des Hauses beden-
kenlos zustimmen können . Das liegt zum einen daran,
dass wir hier lediglich EU-Bestimmungen in nationales
Recht umsetzen, zum anderen daran, dass es hierbei um
die Versorgung mit frischem Obst und Gemüse und auch
mit Milch für Schüler geht, die so zu einer gesunden Le-
bensweise motiviert werden sollen .
Wir werden heute das neue Schulprogramm für Obst,
Gemüse und Milch umsetzen; künftig können die Länder
kostenlos diese landwirtschaftlichen Erzeugnisse in Bil-
dungseinrichtungen abgeben . Die bisherigen Programme
für Schulobst und -gemüse einerseits und Schulmilch an-
dererseits werden zusammengefasst; gleichzeitig sind die
Mittel deutlich erhöht worden . Allein für Deutschland
werden fast 30 Millionen Euro zur Verfügung gestellt .
EU-weit sind es 250 Millionen Euro .
Thüringen nimmt bereits seit 2010 am Schulobstpro-
gramm teil . Ich habe mich vor Ort umgehört, um zu er-
fahren, wie das Programm bisher angenommen wird . Der
Eindruck ist an sich positiv, jedoch mit einem nicht zu
unterschätzenden Wermutstropfen . Mir wurde mitgeteilt,
das Thema „gesunde Ernährung“ sei in den teilnehmenden
Schulen Schwerpunktthema im Heimat- und Sachkun-
deunterricht, ebenso wie Nachhaltigkeit und auch Abfall-
vermeidung . Obst und Gemüse wird nicht nur konsumiert;
die Schülerinnen und Schüler halten Vorträge zur gesun-
den Ernährung, und das Thema wird auch in die in den
Schulen angebotenen Interessengemeinschaften integriert .
Im Kunsterziehungsunterricht werden Obst und Gemüse
künstlerisch eingebunden, im Englisch unterricht werden
entsprechende Vokabeln vermittelt .
Diese Umsetzung vor Ort finde ich sehr beeindru-
ckend . Mit viel Einsatz und Kreativität wird das Pro-
gramm nicht nur angenommen, sondern auch in ver-
schiedene Bereiche des schulischen Alltags einbezogen .
Über die reine Verteilung von Lebensmitteln hinaus wer-
den gesunde Ernährung und die Wertschätzung von Le-
bensmitteln vermittelt und als Querschnittsthema in viele
Bereiche eingebunden .
Doch wie bereits angemerkt, gibt es bei so viel Licht
auch Schatten: Der bürokratische Aufwand ist sehr hoch .
So musste in einem der vergangenen Jahre die Ausschrei-
bung für die Lieferung von Obst und Gemüse dreimal
wiederholt werden, bis sich Lieferanten fanden . Einige
Schulen, die am Programm teilnehmen wollten, konnten
das nicht, weil schlicht und ergreifend keine Lieferan-
ten zu den vorgegebenen Bedingungen aufzutun waren .
Nicht nur die Ausschreibung ist bürokratisch aufwendig,
sondern auch das Abrechnungssystem . Vor allem die
Mitteilungen der Änderungen der Schülerzahlen sind
umständlich, gerade in Klassen, in denen zum Beispiel
Flüchtlingskinder nur zeitweise unterrichtet werden . Bis
die Änderungsmitteilungen dann bearbeitet und die Aus-
zahlungsbeträge angepasst sind, vergehen ein bis zwei
Monate, in denen sich die Teilnehmerzahlen schon wie-
der verändert haben können .
Zusammengefasst lautet das Fazit eines befragten
Bildungsträgers: „… dass das EU-Schulobst- und Ge-
müseprogramm durchaus in den teilnehmenden Schulen
vor Ort eine gewisse Wirkung erzielt . Insbesondere die
Einbeziehung in den Unterricht stellt neben der eigent-
lichen Einnahme gesunder Erzeugnisse einen Mehrwert
dar . Jedoch wird dies nur durch einen erheblichen Mehr-
aufwand aller am Verfahren beteiligten Akteure erzielt .
Der Aufwand für die Verwaltung für Ausschreibung, Ver-
tragsgestaltung, Überwachung der Durchführung bis hin
zur Abrechnung mit dem Fördermittelgeber ist enorm .
Der Anteil der Arbeitszeit … ist schlichtweg inakzepta-
bel .“
Was heißt das für uns als Abgeordnete des Deutschen
Bundestages? Wir stehen hier wieder einmal vor einem
altbekannten Problem: Der Bundestag beschließt etwas,
aber die Umsetzung ist etwas anderes . Es ist sehr begrü-
ßenswert, dass es von EU-Seite die Zusammenführung
der Programme gegeben hat und die Mittel erhöht wer-
den . Damit sie aber auch da ankommen, wo sie gebraucht
und sinnvoll eingesetzt werden können, brauchen wir
dringend Verwaltungsvereinfachungen, vor allem in den
Ländern, die die Programme bzw . das Programm durch-
führen .
Mein Dank gilt allen, die sich bisher an den Schulpro-
grammen beteiligt haben und vor Ort mit hohem Einsatz
und viel Kreativität die Programme mit Leben gefüllt ha-
ben und füllen . Hier wird wieder einmal deutlich: Was
immer wir beschließen, ist nicht viel wert, wenn es nicht
vor Ort aktiv umgesetzt wird . Engagierte Bürgerinnen
und Bürger, in diesem Falle vor allem in den Schulen,
zählen zum Wichtigsten und Wertvollsten, was unsere
Gesellschaft ausmacht . Das können wir gar nicht stark
genug honorieren .
Jeannine Pflugradt (SPD): Wir beschließen heu-
te die Zusammenführung der EU-Schulprogramme zur
Verteilung von Obst, Gemüse und Milch an Kinder so-
wie die damit einhergehende Verabschiedung des Land-
wirtschaftserzeugnisse-Schulprogrammgesetzes, das die
EU-Verordnung in deutsches Recht künftig verankern
wird . Ich begrüße die Zusammenlegung der EU-Beihil-
fen, und freue mich, dass der lange Abstimmungsprozess
endlich zu einem guten Ende kommt . Weiterhin würde
ich es begrüßen – hier appelliere ich einmal mehr –,
wenn alle Bundesländer an dem Programm teilnehmen
würden . In erster Linie meine ich an dieser Stelle mein
eigenes Heimatbundesland: Mecklenburg-Vorpommern .
Da sich am Inhalt des Gesetzes zwischen der ersten
und der jetzigen Lesung nichts verändert hat, da statt-
dessen nur protokolliert wurde, möchte ich die heutige
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 196 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 20 . Oktober 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 196 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 20 . Oktober 2016 19585
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Debatte nutzen, um kurz grundlegend über Ernährung zu
sprechen .
Seit Jahren kursieren die alarmierenden Zahlen über
Übergewicht und Fettleibigkeit in unserer Gesellschaft,
und die daraus möglicherweise entstehenden Krankhei-
ten wie zum Beispiel Diabetes II . Wir wissen alle, dass
lebensstilbedingte Krankheiten zu hohen Kosten für un-
ser Gesundheitssystem führen . Deshalb debattieren wir,
leider viel zu selten und schon gar nicht in den Familien,
über ungesunde, unausgewogene Ernährung . Deswe-
gen rücken wir auch zu Recht Kinder und Jugendliche
in den Fokus unserer Betrachtungen . Wir sind uns darü-
ber bewusst, dass sich Ernährungsgewohnheiten im frü-
hen Kindesalter festsetzen und im Laufe des Lebens nur
schwer zu verändern sind .
Ich persönlich halte ausgewogene Essgewohnheiten
von klein auf für enorm wichtig und als eine Grundla-
ge für einen gesunden Lebensstil . Obst, Gemüse sowie
Milchprodukte, so wie die Produkte des EU-Schulpro-
grammes es vorsehen, sind dabei unentbehrlich für eine
vollwertige, ausgewogene Ernährung . Diese Lebensmit-
tel enthalten neben Vitaminen, Mineralstoffen, Ballast-
stoffen sowie Kohlenhydraten auch einen hohen Was-
seranteil . Kinder und Jugendliche können mit diesem
Schulprogramm erfahren, dass vermeintlich verpönte
gesunde Lebensmittel auch gut schmecken .
Ernährungsstile sind heutzutage zu Lebensstilen ge-
worden . Wir ernähren uns so wie früher, wie wir es von
unseren Eltern vermittelt bekamen, oder vegetarisch,
vegan, nach einer Diät, schnell oder langsam, zwischen-
durch, oder nachhaltig . Wir kaufen in Supermärkten, Dis-
countern, Lebensmittelfachgeschäften, auf Märkten oder
lassen uns Mahlzeiten fertig liefern . Natürlich umfasst
unser Lebensstil mehr als die Ernährung . Er beinhaltet
auch andere Faktoren, wie Bewegung, Stresspotential,
soziale Kontakte usw .
Dennoch ist unsere Ernährung der Spiegel unserer
eigenen Wertevorstellungen und kann deshalb auch als
Folie für politische Bewegungen gesehen werden . Mit
Ernährungsstilen als Lebensstil ist nämlich eine zuneh-
mende Auseinandersetzung mit dem eigenen Ernäh-
rungsverhalten verknüpft . Der Konsum spielt eine wich-
tige Rolle . Die Frage nach dem richtigen Essverhalten
ist deshalb nicht nur eine Frage des eigenen Lebensstils,
sondern ist zu einer politischen Frage geworden . Vor al-
lem die Moralisierung des Essens führt zur Politisierung
der heutigen Ernährung . Sie wird im Falle des Konsums
tierischer Produkte, wie Fleisch, sehr offensichtlich .
Ich möchte an dieser Stelle deutlich darauf hinweisen,
dass es für jedes persönliche Ernährungsverhalten gute
Gründe gibt . Warum wir dieses Stück Fleisch lieber ver-
zehren als ein pflanzliches Ersatzprodukt oder warum wir
heute eher Appetit auf diesen Schokoriegel als auf den
Apfel haben, das muss jeder für sich selbst entscheiden;
die Verantwortung für das Wohlempfinden liegt bei je-
dem selbst. Ich finde es deshalb auch nicht gerecht, wenn
wir uns für unsere Entscheidung rechtfertigen müssen .
Stigmatisierungen eines Essverhaltens sind meiner Mei-
nung nach kein gerechtes moralisches Mittel .
Trotzdem ist vielen Menschen die reine Nahrungs-
aufnahme als überlebenswichtiger Bestandteil nicht
mehr genug . Sie verbinden mit Essen einen komplexen
Sachverhalt . Die Sättigung, der Genuss oder Geschmack
stehen heute nicht mehr allein . Ihr bewusster Konsum
soll dazu beitragen, ihre Gesundheit zu erhalten und die
Umwelt nicht zu belasten . Der Verzicht auf ein bestimm-
tes Lebensmittel ist deshalb ein Teil ihrer moralischen
Werte . Menschen, die Nahrungsmittel erzeugen, sollen
gerecht entlohnt werden . Sie fordern einen respektvollen
Umgang mit Tieren, die wir zu unserer Ernährung unter-
halten .
Wie wir also gemeinsam sehen können, ist unser Kon-
sum ein komplexes Konstrukt geworden . Ich habe noch
nicht einmal damit begonnen, die unterschiedlichen Ver-
brauchertypen aufzuzählen, die unterschiedliche Infor-
mationsmethoden benötigen . Um aus den individuellen
Entscheidungen, die wir alltäglich im Supermarkt tref-
fen, die also unseren Lebensstil bestimmen, unser eige-
nes Ernährungsverhalten anzupassen, müssen wir gebil-
det und recht gut aufgeklärt sein . Wo können Aufklärung
und Bildung besser funktionieren als in allgemeinbilden-
den Schulen . Genau dort – und spätestens dort – muss
sie ansetzen. Die flankierenden pädagogischen Maßnah-
men des EU-Schulprogramms sind enorm bedeutend und
mindestens gleichwertig mit der Obst- und Gemüsever-
teilung .
Gerade in der heutigen Zeit von Ganztagsschulen ist
die Schule auch ein Lernort für gesellschaftliche Auf-
gaben geworden . Eltern möchten ihre Kinder während
der Schulzeit gut behütet wissen . Dazu zählt auch eine
gute Essensversorgung . Außerdem werden unsere Wer-
tevorstellungen nicht nur von den Eltern weitergege-
ben, sondern auch von Lehrern und Mitschülern . Wenn
in der Familie nicht regelmäßig Obst und Gemüse auf
dem Tisch stehen, können spezielle Schulprogramme
während der Schulzeit neue Essgewohnheiten schaffen .
Durch die Einführung von Schulprogrammen übernimmt
die Bundesregierung demnach auch eine kleine Mitver-
antwortung für eine ausgewogene Ernährung sowie die
dazugehörende Ernährungsbildung von Schulkindern .
Aber warum nur für die Kinder? Oft sind Eltern schuld
an der ungesunden Ernährung ihrer Kinder . Sie gilt es
ebenso, beispielsweise in Elternversammlungen, zu in-
formieren und für dieses so lebenswichtige Thema zu
sensibilisieren .
Die bereitgestellten EU-Mittel sind sicherlich nicht
ausreichend, um das Gesamtproblem von Übergewicht
und Fettleibigkeit in den Griff zu bekommen . Program-
me wie die Verteilung von Obst, Gemüse und Milch an
Schulen bieten sicherlich nur einen Anstoß . Wenn sich
die Bundesländer sowie die Bundesregierung noch in-
tensiver um das Thema Schulverpflegung bemühen wür-
den, würde ich mich noch mehr freuen . Wir sollten aber
nichts unangestrengt lassen, unseren eigenen Kindern
einen vernünftigen gesetzlichen Rahmen zu bieten, der
es ihnen allen ermöglicht, einen gesunden Lebensstil zu
führen .
Karin Binder (DIE LINKE): Mit dem Schulpro-
gramm der EU sollen Grundschulkinder kostenfrei in
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 196 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 20 . Oktober 201619586
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den Genuss von Obst, Gemüse und Milch kommen . Dies
war bisher in getrennten Programmen geregelt, die mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf nun zusammengeführt
werden .
Es ist zu begrüßen, dass im Rahmen dieses Programms
die kostenfreie Abgabe von Obst, Gemüse und Milch an
Schulkinder ermöglicht wird . Die Kinder nehmen dieses
frische und kostenfreie Angebot gerne an . Wir unterstüt-
zen ausdrücklich, dass viele Kinder dadurch eine gesün-
dere Ernährungsweise kennenlernen, und wir fördern
damit eine gesunde Entwicklung der Kinder .
Entgegen häufigen Behauptungen belegen Untersu-
chungen, dass die Kinder gerne zugreifen und sich über
die Äpfel, Karotten oder Radieschen freuen . Sie fragen
nicht danach, wer das jetzt zahlt . Die beitragsfreie Ab-
gabe dieser Lebensmittel an Kinder führt auf keinen Fall
zu geringerer Wertschätzung oder gar zu Lebensmittel-
verschwendung – im Gegenteil lernen sie gerade durch
dieses Angebot diese Lebensmittel zu schätzen .
Leider jedoch ist dieses Programm viel zu eng ange-
legt, und grundlegende Fragen werden nur unzureichend
geklärt .
Erstens: Die EU-Mittel reichen nur für einen Teil der
Grundschulkinder aus . Kindergärten oder Sekundar-
schulen werden gar nicht einbezogen . Und da der Bund
nicht bereit ist, die Mittel aufzustocken, wird es viele
Schulen geben, die gar nichts abbekommen . Andere am
Programm teilnehmende Schulen werden dieses Obst-
oder Milchangebot nicht täglich, sondern nur ein- oder
zweimal in der Woche machen können . Ein großer Teil
der Kinder und die Jugendlichen geht also leer aus . Hier
wäre der Bund gefordert, im Hinblick auf die Für- und
Vorsorgepflicht des Staates die Mittel aufzustocken, um
ein flächendeckendes Angebot an allen Schulen und
Kitas zu ermöglichen .
Zweitens: Obst, Gemüse und Milch spielen eine wich-
tige Rolle für eine ausgewogene Ernährung . Es geht
dabei um die ursprünglichen Erzeugnisse, die frischen
Rohprodukte wie Äpfel, Frischmilch oder Naturjoghurt .
Wir dürfen nicht zulassen, dass mit dem EU-Schulpro-
gramm Süßigkeiten verteilt werden . Stark zuckerhaltige
Jogurt- oder Milchgetränke, zusätzlich gesüßte Obstzu-
bereitungen verfälschen das Geschmacksempfinden und
verführen Kinder zu einem hohen Zuckerkonsum .
Wenn 100 Gramm Joghurt 20 Gramm Zucker zuge-
setzt werden, fördert das weniger die heimische Land-
wirtschaft als viel mehr Diabetes und andere ernäh-
rungsbedingte Krankheiten . Das hat nichts mit gesunder
Ernährung zu tun .
Und drittens bleibt auch dieses EU-Schulprogramm
für Obst, Gemüse und Milch mit einem hohen bürokra-
tischen Aufwand für die Schulen und Länder verbunden .
Das wird nach wie vor viele Schulen davon abhalten,
sich daran zu beteiligen . Darauf wies auch die Kollegin
Katharina Landgraf von der CDU in unserer gestrigen
Ausschussberatung hin . Dazu kommt, dass ein Pro-
gramm, das dem Lehrer verbietet, ebenfalls in den ange-
botenen Apfel zu beißen, den Bildungsauftrag nicht ver-
standen hat . Die Vorbildfunktion von Lehrkräften gerade
beim Essen in der Schule ist ein wesentlicher Bestandteil
des Erziehungsauftrags, der damit verbunden ist .
Es reicht also nicht aus, diese EU-Vorlage eins zu
eins zu übernehmen . Wenn Bundesernährungsminister
Christian Schmidt sich ernsthaft für eine ausgewogene
Ernährung von Kindern und Jugendlichen stark machen
will, muss er mehr tun: erstens die Mittel aufstocken, da-
mit alle Kinder kostenfrei teilnehmen können, zweitens
stark verarbeitete Produkte mit hohem Zuckeranteil vom
Programm ausschließen, drittens die Bürokratie verein-
fachen .
Mit diesen drei Zutaten würden Obst, Gemüse und
Milch nicht nur den Kindern, sondern auch den Lehre-
rinnen und Erziehern, den Eltern und uns Linken schme-
cken .
Deshalb können wir uns beim Beschluss dieser Vorla-
ge nur enthalten .
Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bei
allem Streit um Fragen von gesunder Ernährung ist eines
unumstritten: Reichlich Obst und Gemüse gehören zu
einer ausgewogenen Ernährung in jedem Fall dazu . Wir
haben das EU-Schulobstprogramm deshalb immer unter-
stützt und freuen uns, dass neben den ganzen Milliarden,
die europaweit an Agrarsubventionen ausgeschüttet wer-
den, auch Geld für die direkte Förderung gesunder Er-
nährung der europäischen Kinder ausgegeben wird . Das
Programm trägt dazu bei, dass Kinder einen gesunden
Lebensstil erlernen können; denn es verbindet sinnvoll
die Ausgabe von leckerem Obst und Gemüse mit päda-
gogischen Begleitmaßnahmen . Bei diesem Programm
ist auch klar geregelt, dass den Kindern keine Produkte
angeboten werden dürfen, die zugesetzten Zucker enthal-
ten . Das ist sehr sinnvoll, denn die meisten Kinder essen
ohnehin mehr Zucker als ihnen guttut .
Leider verhält es sich beim EU-Schulmilchprogramm,
an dem aktuell 3 Millionen Kinder in Deutschland teil-
nehmen, anders . Aktuell trinken 90 Prozent der Schul-
kinder ausschließlich Kakao und Milchmischgetränke
und nehmen so mit der Schulmilch unnötigen Zucker
zu sich . Einem Becher Schulmilchkakao sind im Schnitt
9 Gramm Zucker zugesetzt . Im Laufe von 40 Schulwo-
chen nimmt ein Kind über das Schulmilchprogramm fast
2 Kilogramm Zucker zu sich . Das muss nicht sein .
Absurd wird es nach Meinung von Ernährungsexper-
ten, wenn man dann noch in der Gesetzesbegründung
der Bundesregierung zum nationalen Umsetzungsgesetz
lesen muss, dass beide Programme als Maßnahmen im
Kampf gegen Adipositas und Fehlernährung gesehen
werden . Statt eine ausgewogene Ernährung anzuregen
und Übergewicht vorzubeugen, werden weiterhin Pro-
dukte gefördert, die das Gegenteil bewirken können .
Auch nach den Getränkeempfehlungen für Schulkinder
der Deutschen Gesellschaft für Ernährung sind Kakao
und Milchmixgetränke in Schulen nicht vorgesehen .
Wenn die Bundesländer ab August 2017 die neue
EU-Förderung bei der Schulmilch in Höhe von 100 Pro-
zent in Anspruch nehmen wollen, ist der Zusatz von
Zucker, Frucht und Kakao verboten . Man kann aber
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 196 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 20 . Oktober 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 196 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 20 . Oktober 2016 19587
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auch die alte Regelung weiterführen mit der geringeren
EU-Förderung und einer dann notwendigen Kofinanzie-
rung der Bundesländer . Dann sind Süßungen etc . erlaubt .
Man wird beobachten müssen, wofür sich die Bundeslän-
der entscheiden . Den Anreiz, pure Milch und pure Milch-
produkte anzubieten, hat die EU gesetzt .
In der Vergangenheit gab es immer wieder einmal Be-
richte darüber, dass das Vorhaben an Schulen, die ver-
sucht habe, nur noch die pure Milch anzubieten, geschei-
tert ist . Die Milch wurde dort nicht mehr abgenommen,
und das Vorhaben, gesündere Produkte zu verteilen, wur-
de wieder eingestellt . Allerdings muss man sich bei die-
sem Punkt fragen, ob hier wirklich Maßnahmen geprüft
und ergriffen wurden, um Schülerinnen und Schüler auch
für weniger süße Milchprodukte zu begeistern . Hier hat
das Forschungsinstitut für Kinderernährung in Dortmund
bereits Untersuchungen durchgeführt, wie gesundheits-
fördernde Produkte aussehen und schmecken müssen,
damit sie von Kindern und Jugendlichen angenommen
werden . Auch das neu zu gründende Institut für Kinder-
ernährung beim MRI sollte solche Fragestellungen be-
rücksichtigen .
Mit der oben bezeichneten Neuregelung der EU-Schul-
programme fällt bei der Wahl einer Variante auch die Ko-
finanzierung der Bundesländer weg. Auf der einen Seite
ist zu hoffen, dass die Abschaffung der Kofinanzierung
durch die Bundesländer dazu führen wird, dass nun noch
mehr Bundesländer das Programm nutzen werden . Diese
wird auf der anderen Seite dazu führen, dass eine höhere
Beteiligung zu weniger Geld für die einzelnen Mitglied-
staaten führt, weil die EU insgesamt nicht mehr Geld zu
Verfügung stellt . Auch die Bundesländer, die bereits in
den letzten Jahren an dem Programm teilgenommen ha-
ben, werden dann weniger Geld bekommen als in den
Jahren zuvor . Das könnte also dazu führen, dass in die-
sen Bundesländern dann weniger Kinder von den Pro-
grammen profitieren oder dass die Anzahl der Ausgabe-
tage von Obst und Milch reduziert wird . Das sollte nicht
passieren . Diese möglichen Auswirkungen werden wir in
den nächsten Jahren beobachten, und wir werden gege-
benenfalls dagegensteuern müssen .
Ich werde nicht müde werden, zu betonen, dass das
EU-Programm nur ein Baustein von vielen ist im Kampf
gegen die Fehlernährung bei Kindern und Jugendlichen
und in dem Bemühen, Kinder gesund aufwachsen zu
lassen . Ein Apfel und ein Tetrapäckchen Milch reichen
da nicht aus . Notwendig ist ein vollwertiges, köstliches
Mittagessen . Der Ausbau einer gesunden Gemeinschafts-
verpflegung, um Fehlernährung zu stoppen, Esskultur zu
lehren und soziale Ungleichheiten aufzufangen, ist eine
ganz wesentliche Aufgabe, der wir uns alle in den nächs-
ten Jahren stellen müssen . Kinder und Jugendliche, die
den ganzen Tag in der Kita und in der Schule verbringen,
brauchen qualitativ hochwertiges und attraktives Schul-
essen .
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung
der Richtlinie 2012/18/EU zur Beherrschung der
Gefahren schwerer Unfälle mit gefährlichen Stof-
fen, zur Änderung und anschließenden Aufhebung
der Richtlinie 96/82/EG des Rates (Tagesordnungs-
punkt 20)
Karsten Möring (CDU/CSU): Mit der sogenannten
Seveso-III-Richtlinie wird das europäische Störfallrecht
an ein neues, weltweit harmonisiertes System zur Ein-
stufung von Chemikalien angepasst . Zudem wurde die
behördliche Überwachung von Störfallbetrieben verbes-
sert, die Beteiligung der Öffentlichkeit gestärkt und ein
Gerichtszugang geschaffen . Die Seveso-III-Richtlinie
der EU regelt Sicherheitsanforderungen für Betriebe, in
denen gefährliche Stoffe vorhanden sind . Schwerpunk-
te der Novelle bilden die Umsetzung der Vorgaben der
EU-Verordnung zur Einstufung, Kennzeichnung und
Verpackung von Chemikalien und die Beteiligung der
Öffentlichkeit in Verfahren zur Genehmigung von Stör-
fallbetrieben, einschließlich der Möglichkeit zur gericht-
lichen Anfechtung .
Bestehende Seveso-Anlagen befinden sich ja häufig
nicht auf der grünen Wiese oder in reinen Industriegebie-
ten, sondern in gewachsenen Gebieten . In den Vorstel-
lungen des Umweltressorts gab es für die Genehmigung
von Betriebserweiterungen in Gemengelagen zunächst
keine klaren Kriterien . Unklar blieb, ob und unter wel-
chen Voraussetzungen eine Genehmigung für Ausbauten
und Erweiterungen von Seveso-Betrieben in Gemengela-
gen erteilt werden kann, wenn der angemessene Abstand
zu Schutzobjekten wie Wohn- oder Gewerbegebieten
oder Infrastruktureinrichtungen unterschritten wird . Be-
fürchtet wurde ein Erweiterungsstopp, von dem sämt-
liche Betriebe betroffen gewesen wären, die unter die
Seveso-III-Richtlinie fallen und in deren näherer Um-
gebung sich andere schutzwürdige Nutzungen befinden.
Das betraf eine sehr hohe Zahl von Betrieben, die sich in
historisch gewachsenen Gemengelagen befinden.
In das Zentrum der Aufmerksamkeit rückte die The-
matik insbesondere durch Entscheidungen des Europäi-
schen Gerichtshofs und des Bundesverwaltungsgerichts
in der Rechtssache „Mücksch“ . Dabei geht es um einen
Streit um eine Baugenehmigung für ein Gartencenter
in der Nachbarschaft zu einem Störfallbetrieb im Jahr
2011/2012 . In diesen Entscheidungen wurde ausgeführt,
dass dem Abstandsgebot in erster Linie auf der Ebene der
Planung Rechnung zu tragen ist . Ist die Planung diesem
Gebot jedoch nicht nachgekommen, muss das Abstands-
gebot auf der nachgelagerten Ebene der Einzelgeneh-
migung eines konkreten Bau- oder Industrievorhabens
abgearbeitet werden . Zu der Frage, wie das umzusetzen
ist, legen die Entscheidungen des EuGH und des Bun-
desverwaltungsgerichts Maßstäbe fest . Die konkrete
Ausgestaltung des Abstandsgebotes entscheidet letztlich
darüber, wem bei Flächennutzungskonflikten ein Nut-
zungsvorrang gebührt . Diese Maßstäbe des EuGH und
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 196 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 20 . Oktober 201619588
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des Bundesverwaltungsgerichts sollten anlässlich der Se-
veso-III-Umsetzung aus Klarstellungsgründen in recht-
liche Regelungen im Bundes-Immissionsschutzgesetz
überführt werden .
Das Thema Bürokratieabbau hat uns in diesem Zu-
sammenhang sehr beschäftigt: Die Richtlinie schreibt
umfangreiche Beteiligungsrechte der Öffentlichkeit vor,
bis hin zu Klagerechten . Um diesen Anforderungen ge-
recht zu werden, führt der Gesetzentwurf im § 23a ein
Anzeigeverfahren ein . Wir wollten aber auf jeden Fall
verhindern, dass der konkrete Zuschnitt dieses Ver-
fahrens unnötige bürokratische Zusatzbelastungen mit
sich bringt . Wie Ihnen bekannt ist, gab es sowohl in der
Wirtschaft als auch bei den Länderwirtschaftsministern
deutliche Vorbehalte gegen einige Vorschläge aus dem
Umweltministerium . Man befürchtete einen Ausbau- und
Erweiterungsstopp für Industriestandorte in Gemengela-
gen . Um diesen Anliegen Rechnung zu tragen, hatten wir
einige Verbesserungsvorschläge .
Das heute nach einem konstruktiven Abstimmungs-
prozess vorgelegte Ergebnis kann sich wirklich sehen
lassen . Lassen Sie mich die entscheidenden Stichworte
in diesem Zusammenhang in der gebotenen Kürze an-
sprechen .
Zum Bestandsschutz . Wir haben uns darauf verstän-
digt, und das ist ein schöner Erfolg, dass § 50 des Bun-
des-Immissionsschutzgesetzes, der das Abstandsgebot
für die Planung regelt, unverändert gilt . Der baurechtli-
che Bereich wird also wie bisher im Bauplanungsrecht
geregelt . Die Regelung durch ein neues störfallrecht-
liches Genehmigungsverfahren hätte vor allem für die
Betriebe in Gemengelagen bedeutet, dass eine Erwei-
terung oder Änderung des Betriebsbereiches unter Um-
ständen nicht mehr möglich gewesen wäre . In unserem
Änderungsantrag schreiben wir jetzt fest, dass ein neu-
es störfallrechtliches Genehmigungsverfahren nur dann
notwendig ist, wenn der angemessene Sicherheitsabstand
erstmalig unterschritten wird, der bereits unterschrittene
Sicherheitsabstand räumlich noch weiter unterschritten
wird oder eine erhebliche Gefahrenerhöhung ausgelöst
wird . Diese Grundlage für die neue Anwendungspraxis
ist von großer Bedeutung, um bis zum Erlass der TA Ab-
stand Planungs- und Rechtssicherheit für die Gemenge-
lagen zu schaffen . Mit der gefundenen Regelung ist de
facto Bestandsschutz erreicht .
Zum Sicherheitsabstand ist festzuhalten, dass der an-
gemessene Abstand mit Rücksicht auf die Besonderheit
der einzelnen Sachverhalte in einer eigenen Verwaltungs-
verordnung geregelt werden soll . Damit soll eine hand-
habbare Grundlage zur Abwägung des Gefährdungspo-
tenzials und des Risikos aufseiten des Betriebs einerseits
und mögliche Schädigungen im Einwirkungsbereich
außerhalb des Betriebsgeländes andererseits miteinander
abgewogen werden können .
Mit dem neuen § 23a, mit dem wir über die EU-Rege-
lungen national hinausgehen, schreiben wir bei bestimm-
ten Veränderungen ein Anzeigeverfahren vor . Es leuchtet
ein, dass die Betriebe bei der ihnen obliegenden Gefähr-
dungsbeurteilung zwar die betriebliche Seite genau ken-
nen, aber die Situation außerhalb ihres Betriebsgeländes
nicht unbedingt beurteilen können . Um zu verhindern,
dass hier eine Art vollständiges Genehmigungsverfah-
ren durch die Hintertür eingeführt wird, fordern wir in
unserem Entschließungsantrag die Regierung auf, im
Rahmen einer Verwaltungsvorschrift „die Bereitstellung
von Informationen und der Bürokratieaufwand für den
Vorhabenträger auf das unbedingt erforderliche Maß“ zu
begrenzen .
Eine optimale Lösung wurde auch für die öffentliche
Beteiligung gefunden, gewährleistet sie doch die Si-
cherheit der Anwohner und die Sicherung des Betriebs-
standortes oder seiner Entwicklungsmöglichkeiten . Die
Öffentlichkeitsbeteiligung wird durch eine Änderung des
Gesetzes über die Umweltverträglichkeitsprüfung sicher-
gestellt . Bestehende materielle Genehmigungsanforde-
rungen werden dadurch aber nicht verändert .
Ich komme zum Schluss . Die heutige Einigung ist der
Abschluss eines schwierigen Prozesses, da es nicht nur
um die Öffentlichkeitsbeteiligung und die Umsetzung
von Änderungen im Chemikalienrecht auf europäischer
Ebene gegangen ist, sondern auch um die Frage, wie mit
Abstandsregeln umgegangen werden soll . Es sind his-
torisch entstandene Standorte und deren Entwicklungs-
möglichkeiten ebenso zu berücksichtigen gewesen wie
das berechtigte Schutzinteresse von Anwohnern . Mit un-
serem Änderungsantrag und dem Entschließungsantrag
werden diese Klarstellungen erreicht .
Ich kann also für die CDU/CSU-Fraktion abschlie-
ßend feststellen, dass sowohl dem wichtigen Schutz der
Bevölkerung und der Umwelt vor schweren Unfällen als
auch den berechtigten Anliegen der Wirtschaft durch das
Gesetz in der nun vorliegenden Fassung gut Rechnung
getragen werden . In diesem Sinne danke ich allen Be-
teiligten, den Mitarbeitern der betroffenen Ressorts so-
wie meiner geschätzten SPD-Berichterstatterkollegin im
Ausschuss, Ulli Nissen, für die konstruktive und vertrau-
ensvolle Zusammenarbeit . Ich lade alle Kolleginnen und
Kollegen der Grünen und der Linken herzlich dazu ein,
sich einen Ruck zu geben und sich dieser guten Lösung
ebenfalls durch ihr Votum anzuschließen .
Ralph Lenkert (DIE LINKE): Große Havarien und
katastrophale Unfälle wird man trotz aller Achtsamkeit
und aller Sicherheitsvorschriften niemals ausschließen
können . Die Linke begrüßt daher das Engagement der
Europäischen Union, die Vorsorge des Krisenmanage-
ments für Unfälle mit gefährlichen Stoffen unionsweit
einheitlich und ambitioniert zu gestalten .
In Deutschland besteht ein Spannungsfeld zwischen
dem Schutz der Bevölkerung und der Standorterhaltung
bestimmter Industrieparks . Durch die konsequente Um-
setzung der Seveso-III-Richtlinie und die Erwägungen,
die ihr vorangehen, kommt es zu Interessenkonflikten
zwischen dem Schutzbedürfnis der Bevölkerung und
dem Investitions- und Profitinteresse der Industrie. An
den heutigen Konflikten tragen jedoch neben der Indus-
trie auch Regionalverwaltungen und Länder einen gro-
ßen Anteil der Mitschuld .
Vielerorts ist zu beobachten, dass einstmals außerhalb
von Ortschaften errichtete Industrieparks schleichend,
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 196 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 20 . Oktober 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 196 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 20 . Oktober 2016 19589
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über Jahrzehnte erfolgend, heute von Wohnbebauung
umgeben sind. Diese Konflikte zwischen Bedürfnissen
der Industrie und Schutzbedürfnissen der Anwohner hät-
te man sich ersparen können, wenn man von vornherein
ein ausreichend straffes Regelwerk im Rahmen des Bun-
des-Immissionsschutzgesetzes gehabt hätte und nicht
erst auf entsprechende Vorgaben der EU gewartet hätte,
man also Städtebauplanung mit etwas mehr Nachhaltig-
keit und Weitsicht betrieben hätte . Nun wird die Bundes-
regierung per Verordnung festlegen müssen, inwieweit
heutige Abstandskonflikte zu neuen Genehmigungsver-
fahren führen oder eben auch nicht .
Die Linke warnt davor, die Interessen des Investiti-
onsschutzes über das Sicherheitsbedürfnis der Bevöl-
kerung zu stellen und sei es nur in Einzelfällen . Im Ka-
tastrophenfall wäre eine zu lapidare Interpretation des
Gesetzes fatal . Die Seveso-III-Richtlinie gibt den Mit-
gliedstaaten vor, dass bei Verstößen gegen die Berichts-
pflichten durch die Betreiber oder gar bei Betrieb trotz
fehlender Genehmigung oder anderweitigen Verstößen
gegen das Gesetzeswerk „Sanktionen wirksam, verhält-
nismäßig und abschreckend sein müssen“ .
Was fordert die Koalition in diesem Gesetzentwurf?
Dass die Behörde die „Stilllegung der Anlage anordnen
kann“ und die Beseitigung solcher, damit eigentlich ille-
gal betriebener Anlagen nur anordnen „soll“, wenn „die
Allgemeinheit oder die Nachbarschaft zum Beispiel vor
Chlorgas nicht ausreichend geschützt werden kann“ . Es
geht um Gesundheit und Leben . Hier hätte sich die Lin-
ke darum Konkretheit gewünscht, die den Behörden die
strikte Anwendung des Gesetzes auch rechtssicher er-
möglicht . Durch derartige Soll- und Kannphrasen baut
die Koalition Hintertürchen in das Gesetz, die zu Miss-
brauch führen können .
Positiv ist jede Verbesserung der Öffentlichkeitsbetei-
ligung und vor allem die Zulassung des Verbandsklage-
rechts im Genehmigungsverfahren, wenn Betriebe ihre
Anlagen erweitern oder neue bauen wollen . Leider – das
ist symptomatisch für das deutsche Öffentlichkeitsbetei-
ligungsrecht – werden die Sorgen und Nöte direkt Be-
troffener erneut nicht rechtsverbindlich in den Genehmi-
gungsverfahren berücksichtigt . Zwar dürfen Betroffene
Stellungnahmen an die Behörden übermitteln . Inwieweit
die Behörde diese Stellungnahmen aber berücksichtigt,
bleibt ihr überlassen . Die Linke fordert deshalb bereits
seit Jahren, das Recht der Öffentlichkeitsbeteiligung zu
reformieren und der Öffentlichkeit verbindlich mehr
Kompetenz zu übertragen . Wohin es führt, wenn man an
der Öffentlichkeit vorbei agiert, können wir in Gorleben
sehen, wo in einem Salzstock zwar kein Atommüll, dafür
aber Milliarden Euro versenkt wurden .
Die gesamte Katastrophenvorsorge versagt, wenn das
Potenzial einer Katastrophe im Ereignisfall nicht bekannt
ist . Die Vorsorge der Seveso-Richtlinien reicht richtiger-
weise soweit, dass nicht nur Betriebe, die mit gefährli-
chen Stoffen hantieren, reglementiert werden, sondern
auch Betriebe mit Stoffen, die erst im Havariefall ge-
fährlich werden . Damit geht die Richtlinie dem Risiko-
management des europäischen Chemikalienrechts weit
voraus, was ich sehr begrüße, und mir für eine Novelle
der Chemikalienrichtlinie auch wünsche . Bisher kommt
nämlich bei der Risikobewertung nach REACH-Chemi-
kalienverordnung nur die Gefährlichkeit des Stoffes an
sich zum Tragen . Die Gefährlichkeit seiner Reaktions-
produkte wird nicht untersucht . Ein Beispiel, wo dies
relevant werden kann, ist der Umgang mit dem neuen
Kältemittel R1234yf in Pkw-Klimaanlagen . Im Brandfall
entwickelt sich daraus unter anderem Carbonyldifluorid,
ein dem Kampfgas Carbonyldichlorid, als Phosgen be-
kannt, ähnlicher Stoff .
Die Risikobewertung ist – abgesehen davon, dass sie
für das Kältemittel noch gar nicht vorliegt – immer un-
vollständig . Die Risikobewertung erfolgt nicht auf Ba-
sis unabhängiger Forschungsergebnisse . Die Bewertung
wird zu großen Teilen ausgerechnet von der Industrie er-
bracht, die die Stoffe einsetzen will . Die Wirkung der Se-
veso-III-Richtlinie wird also von einem unzureichenden
Chemikalienrecht untergraben . Deshalb, zum Schutz vor
den Auswirkungen von Katastrophen mit gefährlichen
Chemikalien, fordert die Linke daher eine grundlegende
Qualifizierung des europäischen Chemikalienrechts.
Trotzdem lässt sich zusammenfassend sagen, dass mit
der Seveso-III-Richtlinie von der EU ein richtiger Schritt
gemacht wird . Aber dieser ist, auch wegen der Bundesre-
gierung, leider unvollständig .
Peter Meiwald (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der
vorliegende Gesetzentwurf versucht, dem Spannungs-
feld zwischen dem berechtigten Sicherheitsbedürfnis der
Bürgerinnen und Bürger und dem Interesse der Industrie
hinsichtlich des Bestandsschutzes Rechnung zu tragen .
Die immer wiederkehrenden Unfälle in Industriean-
lagen, wie zuletzt eine Verpuffung und eine Explosion
an den Chemiestandorten Lampertheim und Ludwigsha-
fen, zeigen, wie wichtig der Schutz der dort Arbeitenden
und in der unmittelbaren Nachbarschaft zu einer solchen
Anlage Wohnenden ist . Unsere Gedanken sind bei den
Angehörigen der drei tödlich am Standort Ludwigsha-
fen Verunglückten, denen ich mein Beileid ausspreche .
Das Chemieunternehmen an diesen Standorten hat dieses
Jahr bereits 15 Störfälle mittels Pressemitteilung öffent-
lich gemacht, 6 davon waren sogar meldepflichtige Er-
eignisse,
Hinzu kommt, dass von den Kommunen etwa Wohn-
gebiete in der Nähe bestehender Chemie- oder anderer
Industriestandorte ausgewiesen werden, dass also die
Wohnbebauung zum Teil langjährig bestehende Anla-
gen heranrückt . Infolgedessen kann es dann zu Interes-
senkonflikten kommen, die Auswirkungen auf den Be-
stand oder die Entwicklung der Industrieanlagen haben
können . Die Notlage mancher Kommunen hinsichtlich
des Neubaus von Wohnungen ist immens und macht
dieses Vorgehen nachvollziehbar . Diese müssen selbst
komplexe Abwägungsentscheidungen zwischen Lösung
des Wohnungsproblems und der Auswirkung auf Indus-
triestandorte und den damit verbundenen Arbeitsplätzen
treffen, idealerweise im Rahmen einer im Vorfeld initiier-
ten Öffentlichkeitsbeteiligung mit allen Betroffenen .
Auch neue Nutzungen in der Nachbarschaft oder Nut-
zungsänderungen können Folgen für bestehende Indus-
trieanlagen haben, wie etwa ein Fall im südhessischen
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 196 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 20 . Oktober 201619590
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Darmstadt zeigt . Hier wollte eine Eigentümerin eines
Baugrundstückes in einem Gewerbegebiet ein Garten-
center für den Einzelhandelsverkauf von Gartenbedarf
errichten, direkt neben der Anlage eines großen Chemie-
unternehmens . Dies führte zu einer langjährigen juristi-
schen Auseinandersetzung und schlussendlich zum soge-
nannten Mücksch-Urteil des Europäischen Gerichthofes
vom 15 . September 2011, mit der Folge, dass über viele
Jahre Planungsunsicherheit herrschte . Hier kann das neue
Gesetz endlich einen Beitrag zur Rechtsklarheit leisten .
Keine Lösung bietet es dagegen bezüglich potenziel-
ler Gefahren infolge von Bohrungen zur Aufsuchung fos-
siler Energieträger, wie etwa Gas- oder Erdölbohrungen,
oder gar durch Fracking . So explodierte 2014 die Bohr-
anlage in Geeste, und 2015 gab es einen unerwarteten
Sauergasaustritt an einer Bohrung bei Siedenburg – um
nur die Vorfälle in der näheren Vergangenheit zu nennen .
Angesichts dieser Gefahren ist es nicht nachvollzieh-
bar, dass mit dem vorliegenden Gesetzentwurf bewusst
die bestehenden Ausnahmen für Bergbauvorhaben nicht
beseitigt werden, wie sie etwa hinsichtlich Immissions-
schutz und Umweltverträglichkeitsprüfung bestehen .
Denn das Gesetz nimmt störfallrelevante Anlagen, die
nach Berggesetz betriebsplanpflichtig sind, von eben die-
sen Pflichten aus. Die Bundesregierung hat zuletzt mit
der vergangenen Novelle des Wasserhaushaltsgesetzes
Fracking in Tight-Gas-Reservoirs ermöglicht und ver-
sagt auch hier wieder beim Schutz der Umwelt vor den
Gefahren, die von Fracking ausgehen .
Diese Ausnahmen sollten aber gerade angesichts der
Gefahren des Hydraulic Fracturing – Fracking – ersatzlos
entfallen . Im Gegensatz zum Vorschlag der Bundesregie-
rung, Anlagen, die nach den Vorschriften des Bundes-
berggesetzes betriebsplanpflichtig sind, von den §§ 23a
und 23b Bundes-Immissionsschutzgesetzes für störfall-
relevante Anlagen auszunehmen, wäre eine Streichung
des § 23c des Bundes-Immissionsschutzgesetzes aus un-
serer Sicht die notwendige und angemessene Lösung ge-
wesen . Stattdessen verheddert sich die Bundesregierung
im Bergrecht und führt dort einen neuen § 57d ein . Kon-
kret: Die fossile Fracking-Industrie bekommt mal wieder
ihre Extrawurst .
Aber im Bergrecht existieren keine spezifischen berg-
rechtliche Regelungen für die Verhinderung schwerer
Unfälle und ihrer Folgen . Auch wäre es an dieser Stelle
sinnvoll gewesen, eine Konkretisierung und Klarstel-
lung für die Voraussetzungen einer Genehmigung von
betriebs planpflichtigen Bergbauvorhaben zu betreiben.
Die Seveso-III-Richtlinie sollte unserer Auffassung nach
also uneingeschränkt auch auf bergbauliche Vorhaben
und in Verbindung stehende Anlagen angewendet wer-
den . Dies leistet das heute hier zu beschließende Gesetz
leider nicht . Schade!
Rita Schwarzelühr-Sutter, Parl . Staatssekretärin
bei der Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, Bau
und Reaktorsicherheit: In diesem Jahr jährt sich zum
40 . Mal der Chemieunfall von Seveso . In der Nähe der
norditalienischen Gemeinde traten seinerzeit aus einer
Chemiefabrik giftige Dioxingase aus und verbreiteten
sich über ein dichtbesiedeltes Gebiet . Obwohl die Werks-
leitung schon am ersten Tag nach dem Unfall um das
Geschehene wusste, machte sie dies erst acht Tage spä-
ter offiziell bekannt. Auch die Behörden reagierten nur
zögerlich: Ganze zwei Wochen gingen ins Land, bis das
Unglücksgebiet abgeriegelt wurde und rund 700 Famili-
en die Region verlassen mussten . Der Unfall verursach-
te bei etwa 200 Menschen, darunter bei vielen Kindern,
schwere, teils langwierige Gesundheitsschäden . Auch
Jahre später war in der Region Langzeitstudien zufolge
die Zahl von Tumor- und Diabeteserkrankungen über-
durchschnittlich hoch .
Aus dem Seveso-Unglück sind viele Lehren zum in-
dustriellen Umgang mit gefährlichen Stoffen gezogen
worden . Diese haben auf europäischer Ebene Eingang in
einen Gesetzgebungsprozess gefunden, der eng mit dem
Namen des Unglücksortes verbunden ist . 1982 trat die
sogenannte Seveso-Richtlinie über die Gefahren schwe-
rer Unfälle bei bestimmten Industrietätigkeiten in Kraft .
Heute bildet die Seveso-III-Richtlinie, genauer: der Ge-
setzentwurf zu ihrer Umsetzung im Bundesrecht, den
Gegenstand der Beratungen des Deutschen Bundestages .
Das Ziel der Seveso-Richtlinien hat sich im Laufe der
Zeit nicht verändert: Schwere Unfälle in Industriebetrie-
ben sollen weitestmöglich vermieden und in ihren Aus-
wirkungen begrenzt werden . Die Seveso-III-Richtlinie
passt dazu ihren Geltungsbereich an neue EU-Vorgaben
zur Einstufung sowie Kennzeichnung von Chemikalien
an . Sie gibt eine strengere behördliche Überwachung vor
und gebietet eine stärkere Beteiligung der Öffentlichkeit
insbesondere an Verfahren zur Genehmigung von Stör-
fallbetrieben . Wie der aktuelle Störfall in Ludwigshafen
mit dem beklagenswerten Verlust von Menschenleben,
den Schwerverletzten und den großen Sachschäden zeigt,
muss und wird die Anlagensicherheit auch weiterhin ein
Thema von hoher Bedeutung bleiben . Es mag wie eine
Binsenweisheit klingen, die aktuellen Geschehnisse ma-
chen es uns aber in schmerzlicher Weise erneut bewusst:
Auch der hohe Stand der Sicherheitstechnik, den wir in-
zwischen erreicht haben, kann schwere Unfälle niemals
gänzlich ausschließen .
Der Ihnen heute vorliegende Gesetzentwurf setzt als
Bestandteil eines Gesamtkonzepts die europarechtlichen
Vorgaben der Seveso-III-Richtlinie zur Öffentlichkeits-
beteiligung eins zu eins in das deutsche Recht um . Eine
Beteiligung der Öffentlichkeit ist danach erforderlich,
wenn ein Vorhaben die Gefahr eines schweren Störfalls
erheblich erhöht und sich im Umfeld des Vorhabens ge-
schützte Objekte wie etwa Wohngebiete, Kindergärten
oder Krankenhäuser befinden, die im Störfall zu Scha-
den kommen können . Zur Schließung von Umsetzungs-
lücken wird neben der Anpassung schon bestehender
immissionsschutzrechtlicher Verfahren ein „kleines stör-
fallrechtliches Anzeige- und Genehmigungsverfahren“
eingeführt . Es gewährleistet die europarechtlich erfor-
derliche Öffentlichkeitsbeteiligung auch bei Vorhaben,
die derzeit genehmigungsfrei gestellt sind .
An bestehenden materiellen Genehmigungsstandards
ändert der Gesetzentwurf nichts . Insbesondere führt er
nicht – wie von einigen befürchtet – zu Verschärfungen
beim europarechtlichen Abstandsgebot . Das Gebot zur
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 196 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 20 . Oktober 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 196 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 20 . Oktober 2016 19591
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Wahrung angemessener Sicherheitsabstände zwischen
Störfallbetrieben und geschützten Objekten wird nicht
in eine immissionsschutzrechtliche Betreiberpflicht um-
gewandelt . Ebenso wenig wird Behörden erlaubt, durch
nachträgliche Anordnungen zulasten der Betreiber in
historisch gewachsene Gemengelagen einzugreifen . Än-
derungen bestehender Störfallanlagen bleiben auch in
Gemengelagen nach wie vor möglich . Erhöhen sie indes
die Gefahr eines Störfalls erheblich, muss dies wie bisher
auch durch risikominimierende Maßnahmen kompen-
siert werden .
Der vorliegende Entwurf bringt einen tragfähigen
Kompromiss zwischen den Interessen der Betreiber
von Störfallanlagen und denen der Nachbarschaft so-
wie der Allgemeinheit zum Ausdruck . Bei der Kom-
promissfindung hat es sich die Bundesregierung nicht
leicht gemacht: Die ersten Entwürfe zur Umsetzung der
Richtlinie waren Gegenstand intensiver Diskussionen:
zwischen den Ressorts, mit den Ländern und auch mit
den Verbänden . Angesichts des inzwischen eingeleite-
ten Vertragsverletzungsverfahrens gegen Deutschland
wegen Spätumsetzung der Seveso-III-Richtlinie ist nun-
mehr ein zeitnaher Abschluss des Gesetzgebungsverfah-
rens erforderlich .
Es ist richtig, dass der Gesetzentwurf nicht alle of-
fenen Fragen beantwortet . Auch angesichts der techni-
schen Komplexität der Materie lässt sich nicht alles in
Gesetzestext gießen . Zur weiteren Konkretisierung der
auslegungsbedürftigen Rechtsbegriffe wird die Bundes-
regierung einen Weg beschreiten, der sich im Immissi-
onsschutzrecht schon vielfach bewährt hat . Sie wird mit
einer „Technischen Anleitung Sicherheitsabstand“ ein
näheres Regelwerk vorgeben, das die Behörden und Be-
treiber bei einer rechtssicheren Anwendung der Geneh-
migungsvorgaben unterstützen kann . Die ersten Vorar-
beiten für dieses Regelwerk haben bereits begonnen .
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Beendigung
der Sonderzuständigkeit der Familienkassen des
öffentlichen Dienstes im Bereich des Bundes (Ta-
gesordnungspunkt 21)
Markus Koob (CDU/CSU): Gerne möchte ich zu
Beginn die Fakten und Daten in Erinnerung rufen, deren
Kenntnis zur fachlich korrekten Erfassung des Themas
notwendig ist:
Erstens . Wir haben 16 Millionen Kinder in Deutsch-
land, die Kindergeld in Höhe von insgesamt 39 Milliar-
den Euro beziehen .
Zweitens . Wir haben für Beschäftigte der Privatwirt-
schaft die Familienkasse der Bundesagentur für Arbeit,
die für deren Kindergeldanträge zuständig ist . In diesem
Bereich haben wir 14 Familienkassen, die 87 Prozent
aller Kindergeldfälle bearbeiten . Mit dem dritten Punkt
kommen wir zugleich zum zentralen Regelungsgegen-
stand dieses Gesetzes: zu den Familienkassen des öffent-
lichen Dienstes, die die Kindergeldanträge von Staatsbe-
diensteten bearbeiten .
Drittens . Wir haben für Staatsbedienstete etwa 8 000
zuständige Familienkassen des öffentlichen Dienstes, die
allerdings nur 13 Prozent aller Kindergeldfälle bearbei-
ten .
Die Disproportionalität dieses Umstands wird sofort
ersichtlich, wenn Sie alle drei Daten zusammenfüh-
ren; dann ergibt sich nämlich das folgende Bild: Etwa
0,2 Prozent aller Familienkassen bearbeiten 87 Prozent
aller Kindergeldfälle, wohingegen 99,8 Prozent lediglich
mit 13 Prozent konfrontiert sind . Das ruft nach Reform
und nach Steigerung der Verwaltungseffizienz. Die Be-
endigung der Sonderzuständigkeiten wird nicht nur seit
Jahren vom Bundesrechnungshof gefordert, sondern
auch in den betroffenen Fachkreisen, damit hier eine
gleichmäßige Rechtsanwendung und zugleich ein öko-
nomischer Verwaltungsablauf gewährleistet sind .
Die Zuständigkeit der Familienkassen des öffentlichen
Dienstes im Bereich des Bundes wird auf die Bundes-
agentur für Arbeit respektive das Bundesverwaltungsamt
übergehen. Ich betone: Eine gesetzlich verpflichtende Zu-
ständigkeitsübertragung erfolgt lediglich im Bereich des
Bundes . Was also, wird sich der geneigte und informierte
Zuhörer fragen, passiert mit den Familienkassen des öf-
fentlichen Dienstes im Bereich der Länder und Kommu-
nen? Für diese haben wir eine Option der Zuständigkeits-
übertragung implementiert . Man könnte auch sagen: Wir
haben einen Anreiz gesetzt; denn der Bund wird bei einer
freiwilligen Zuständigkeitsübertragung durch die Länder
und Kommunen die Sach- und Personalkosten überneh-
men, ohne eine Gegenleistung zu verlangen . Dieses Ge-
setz ist also auch für sie eine administrative Entlastung,
wenn sich deren Familienkassen einer Zuständigkeits-
übertragung auf freiwilliger Basis anschließen . Es gibt
im Übrigen auch einen gewichtigen inhaltlichen Grund,
von dieser freiwilligen Option Gebrauch zu machen: Die
Familienkassen bei der Bundesagentur für Arbeit stehen
für eine herausragende Arbeit sowie für qualitativen, bür-
gerfreundlichen Service .
Wir lösen mit dem Gesetz auch ein anderes Problem,
das der Bundesrechnungshof seit langem moniert und
das in der Bevölkerung zu Recht auf wenig Verständnis
stößt: die Doppelzahlungen von Kindergeld . In der Ver-
gangenheit hat sich diese Zersplitterung in der Famili-
enkassenlandschaft als fehleranfällig erwiesen: Es fehlte
bislang ein bundesweites, einheitliches Datennetzwerk,
in dem Kindergelddaten zentral gespeichert werden .
Doppelzahlungen beim Kindergeld konnten daher nicht
vermieden werden . Die jetzt zu beschließende Zustän-
digkeitszusammenführung enthält daher auch Maßnah-
men der Datenkonvergenz, die in der Konsequenz die
Gefahr der Doppelzahlungen von Kindergeld erheblich
reduzieren . Die Rechtsgemeinschaft muss schließlich
darauf vertrauen können, dass Personen, die berechtigt
sind, Staatsleistungen in Anspruch zu nehmen, lediglich
den ihnen zustehenden Anspruch erhalten und nicht etwa
das Doppelte .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 196 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 20 . Oktober 201619592
(A) (C)
(B) (D)
So ist diese Reform im Ergebnis eine Win-win-Situa-
tion für alle: Die Bürgerinnen und Bürger gewinnen als
Steuerzahler, die Behörden gewinnen durch effizientere
Verwaltungsabläufe, die Anspruchsberechtigten profitie-
ren von der qualitativen Beratung und Bearbeitung ihrer
Anliegen, und nach eigenem Ermessen können auch die
Familienkassen des öffentlichen Dienstes in den Ländern
und Kommunen gewinnen . Kein Wunder also, dass ein
Gesetz, bei dem alle gewinnen und keiner verliert, auch
großen Zuspruch hier im Hause findet. Ich bitte um Ihre
Zustimmung .
Philipp Graf Lerchenfeld (CDU/CSU): Mit dem
Gesetz zur Beendigung der Sonderzuständigkeit der Fa-
milienkassen des öffentlichen Dienstes wird eine vom
Bundesrechnungshof seit langem angemahnte grundle-
gende strukturelle Reform der Zuständigkeiten der Fa-
milienkassen des öffentlichen Dienstes eingeleitet . Nach
den Feststellungen des Bundesrechnungshofes kam es in
diesen Bereichen zu zahlreichen Doppelzahlungen und
zu Bearbeitungsfehlern, die sich bereits im Jahr 2009 auf
über 9 Millionen Euro beliefen .
Nun ist vorgesehen, dass die Kindergeldbearbeitung
der Familienkassen des öffentlichen Dienstes im Be-
reich des Bundes auf die Bundesagentur für Arbeit oder
alternativ auf das Bundesverwaltungsamt übergeht . Für
den Bereich von Ländern und Kommunen erhalten die
öffentlichen Arbeitgeber ebenfalls die Möglichkeit, die
Zuständigkeit und Fallbearbeitung an die Bundesagentur
für Arbeit abzugeben . Sollten diese von der Möglichkeit
keinen Gebrauch machen, verbleibt es bei der bestehen-
den Zuständigkeit der Familienkassen der Länder und
Kommunen . Bei den Kassen des Bundes ist ein Zustän-
digkeitsübergang bis zum Jahr 2021 vorgesehen .
Dabei ist von erheblichen Effizienzsteigerungen aus-
zugehen . Der Normenkontrollrat beziffert die möglichen
Effizienzgewinne durch die Konzentration auf mindes-
tens 8,5 Millionen Euro jährlich . Allerdings wird der
gesamte Umstellungsaufwand auf einmalig rund 25 Mil-
lionen Euro geschätzt . Angesichts der möglichen Erspar-
nisse in den Folgejahren hält sich dieser Aufwand jedoch
in einem durchaus vertretbaren Rahmen . Gleichzeitig
erfüllen wir mit diesem Gesetz eine Forderung aus unse-
rem Koalitionsvertrag, in dem festgehalten wurde, dass
wir die Familienkassen des Bundes bei der Bundesagen-
tur für Arbeit konzentrieren wollen .
Angesichts der zu erwartenden Einsparungen, die, wie
oben bereits erwähnt, nach konservativen Schätzungen
allein bei den Familienkassen des Bundes wenigstens bei
rund 8,5 Millionen Euro jährlich liegen werden, ist dieses
Gesetz sinnvoll und vernünftig . Den Ländern wird mit
dem Gesetz die Möglichkeit eröffnet, sich an dieser Kon-
zentration mit ihren entsprechenden Familienkassen zu
beteiligen . Dies erscheint auch deshalb besonders sinn-
voll, da noch ein erhebliches Potenzial an Einsparungen
durch die Konzentration der anderen Familienkassen der
öffentlichen Hand gegeben wäre . Durch die Reform wird
zunächst die Anzahl der Familienkassen auf Bundesebe-
ne bis zum Jahr 2021 um 100 reduziert . Auf Landes- und
Kommunalebene verbleiben dann noch etwa 7 900 Fa-
milienkassen .
Wenn sich Länder und Kommunen in großem Umfang
der Konzentration anschließen, dann ergibt sich ein wei-
terer Einsparungserfolg, der nach Schätzungen des Bun-
desrechnungshofes bis zu 170 Millionen Euro betragen
könnte . Ziel dieser Strukturreform ist es, die Anzahl der
Familienkassen der öffentlichen Hand längerfristig dras-
tisch zu reduzieren und damit das vorhandene Einspa-
rungspotenzial zu heben . Es ist zu hoffen, dass sich die
Länder und Kommunen der Reform anschließen werden,
zumal ja die Kosten dafür letztlich vom Bund getragen
werden .
Wichtig in diesem Zusammenhang erscheint mir aber
auch, dass vorgesehen ist, eine Evaluierung des Vorha-
bens durchzuführen, um festzustellen, inwieweit sich
die Verwaltungskosten für die Bearbeitung einzelner
fallgruppenspezifischer Kindergeldfälle in den verschie-
denen Familienkassen des Bundes, der Länder und der
Kommunen, aber auch die mittelfristigen Kosteneinspa-
rungen durch die Konzentration der Familienkassen der
öffentlichen Hand entwickelt haben .
Gleichzeitig beschließen wir heute darüber, dass das
Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermögens-
fragen und das Bundesausgleichsamt ab dem Beginn des
kommenden Jahres in den Geschäftsbereich des Bundes-
innenministeriums übergehen . Mit dieser Umgliederung
und der geplanten Fusionierung dieser Behörden mit dem
Bundesverwaltungsamt wird eine weitere Effizienzstei-
gerung erreicht werden können . Mit dem vorliegenden
Gesetz wird eine Vereinfachung der Verwaltung ermög-
licht, die erhebliche Einsparungen für die öffentliche
Hand vorsieht und dabei hilft, Doppelzahlungen und Be-
arbeitungsfehler in größerem Umfang zu vermeiden . Ich
bitte daher, diesem vernünftigen strukturellen Reform-
vorhaben zuzustimmen .
Frank Junge (SPD): Das Gesetz zur Beendigung
der Sonderzuständigkeit der Familienkassen des öffent-
lichen Dienstes, das wir heute in abschließender Lesung
behandeln, reiht sich nahtlos ein in das Arbeitsprogramm
„Bessere Rechtssetzung“, welches das Bundeskabinett
im Juni 2014 beschlossen hat . Ziel dieser Maßgaben ist,
den Prozess hin zu einer effizienten, wirtschaftlichen und
bürgerfreundlichen Verwaltung aktiv in Angriff zu neh-
men und offensiv zu gestalten .
Das vorliegende Gesetz, an dem Bund und Länder fast
fünf Jahre gearbeitet haben, lässt sich unter diesen Ge-
sichtspunkten nahtlos in dieses Programm einordnen und
ist vor diesem Hintergrund nach meiner Auffassung ein
ausgesprochen gutes Gesetz . Derzeit gibt es in der Bun-
desrepublik Deutschland 14 Familienkassen der Bundes-
agentur für Arbeit, die für circa 16 Millionen Kinder das
Kindergeld ausbezahlen . Darüber hinaus verwalten cir-
ca 8 000 weitere Familienkassen insgesamt 2 Millionen
Kindergeldfälle von Angestellten des öffentlichen Diens-
tes im Bereich des Bundes, der Länder und der Kommu-
nen .
Zum Teil bearbeiten einzelne dieser Familienkassen
nur 20 bis 40 Kindergeldfälle . Diese Situation halte ich
mit Blick darauf, dass es sich beim Kindergeld um eine
steuerliche Leistung handelt, bei der es überhaupt kei-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 196 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 20 . Oktober 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 196 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 20 . Oktober 2016 19593
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(B) (D)
nen Gestaltungsspielraum gibt, grundsätzlich für einen
untragbaren Missstand . Neben der Tatsache, dass eine
solche aufgeblähte Struktur rein gar nichts mit einer ef-
fizienten Verwaltung zu tun hat, erfüllen viele dieser Fa-
milienkassen noch nicht einmal Mindeststandards in der
Qualität der Arbeitsabläufe, weil es dort schlicht an Er-
fahrung und Routine in der Fallbearbeitung fehlt . Das hat
der Bundesrechnungshof vor Jahren bereits festgestellt .
Unterschiedliche IT-Systeme und ein fehlender Daten-
abgleich der Familienkassen untereinander sind darüber
hinaus nicht nur ineffizient, sie führen auch zu einer er-
höhten Fehler- und Betrugsanfälligkeit . So weiß die eine
Familienkasse nämlich nicht, was die andere macht . Und
das führt unter Umständen zu Missbräuchen oder unzu-
lässigen Zahlungen von Kindergeld .
Darum werden wir mit dem vorliegenden Gesetz die
derzeit circa 100 Familienkassen, welche die Kinderzah-
lungen für Angestellte des Bundes vornehmen, bis zum
Jahr 2022 an zwei Stellen zusammenführen: bei der Bun-
desagentur für Arbeit und beim Bundesverwaltungsamt .
Darüber hinaus geben wir Ländern und Kommunen die
Möglichkeit, ihre derzeit circa 7 900 Familienkassen für
die öffentlich Bediensteten ebenfalls zentral beim Bund
zusammenzufassen .
Das bietet in meinen Augen nur Vorteile für die Län-
der . Zum einen können sich die Landesbediensteten auf
andere Aufgaben konzentrieren als auf die Auszahlung
von Kindergeld . Andererseits sparen die Länder Geld, da
der Bund zukünftig die Verwaltungskosten übernimmt .
Hochgerechnet würden sich auf das gesamte Jahr gese-
hen pro Kindergeldfall in der Bearbeitung bis zu 20 Euro
einsparen lassen . Das sind Ressourcen, welche die Län-
der und Kommunen an anderer Stelle sinnvoller einbrin-
gen könnten .
Meine Gespräche mit Vertretern der Länder haben
zum Ausdruck gebracht, dass man dem vorliegenden Ge-
setzentwurf dort positiv gegenübersteht und an der Zu-
sammenlegung der Familienkassen teilnehmen möchte .
Unabhängig davon will ich dennoch an Sie alle appel-
lieren, in Ihren Bundesländern für eine möglichst umfas-
sende Beteiligung zu werben . Denn je mehr Länder und
Kommunen sich für eine Zentralisierung aussprechen
und mitmachen, umso höher ist selbstverständlich auch
der gesamte Nutzen . Ich habe eingangs bereits zum Aus-
druck gebracht, dass ich das heute vorliegende Gesetz für
ein ausgesprochen gutes halte . Wir entbürokratisieren da-
mit unsere Verwaltung, gestalten sie bürgerfreundlicher
und effizienter.
In diesem Zusammenhang freue ich mich sehr da-
rüber, dass auch Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Opposition, das offensichtlich so sehen . Jeden-
falls haben Sie das im Rahmen unserer abschließenden
Diskussion im Finanzausschuss uns gegenüber so zum
Ausdruck gebracht . Konsequenterweise wäre daher eine
breite und fraktionsübergreifende Zustimmung zum Ge-
setzentwurf aus meiner Sicht nur folgerichtig . Genau da-
rum bitte ich Sie .
Susanna Karawanskij (DIE LINKE): Es ist ohne
Zweifel höchste Eisenbahn, dass sich die Zahl fehler-
hafter Kindergeldfestsetzungen verringert . Der Bundes-
rechnungshof verwies auf über 1 300 Fälle, in denen das
Kindergeld doppelt ausgezahlt wurde . Der Schaden für
den Steuerzahler war beträchtlich: 9 Millionen Euro . Die
hier angestrebte Struktur- und Verwaltungsreform bei
den Familienkassen erscheint auf alle Fälle sinnvoll . Die
Verwaltungsstruktur wird transparenter und effektiver
durch bessere Vernetzung und Standardisierung, und sie
wird hoffentlich weniger betrugsanfällig, wenn fortan ein
besserer und schnellerer Datenabgleich möglich ist .
Familienkassen der öffentlichen Arbeitgeber in Län-
dern und Kommunen können zwar ihre Zuständigkeiten
behalten, allerdings steht es den kleineren Familienkas-
sen mit geringen Fallzahlen frei, die Zuständigkeit an die
Bundesagentur für Arbeit oder das Bundesverwaltungs-
amt zu übertragen . 100 Familienkassen des öffentlichen
Dienstes Bund sind vom Gesetzentwurf primär betrof-
fen und werden allesamt überführt . Das heißt dann aber
auch, dass die restlichen 7 900 Familienkassen des öf-
fentlichen Dienstes optieren können . In welche Richtung
die Entscheidung gehen wird, ist aber unklar und trägt
nicht gerade zur Rechts- und Planungssicherheit bei . Un-
serer Meinung nach sollten die 8 000 Familienkassen des
öffentlichen Dienstes, also die Kassen für Beamte und
deren Kinder, überführt werden, und zwar auf absehba-
re Zeit . Ob der ganze Übergangsprozess tatsächlich fünf
Jahre in Anspruch nehmen muss, wie vorgesehen, er-
scheint mir zweifelhaft .
Die Umsetzung der geplanten Strukturreform zieht fi-
nanziellen Aufwand, aber auch Einsparungen nach sich .
So kommt es bei der Bundesagentur für Arbeit zu einem
einmaligen Aufwand von circa 22,25 Millionen Euro .
Beim Bundesverwaltungsamt werden die zusätzlichen
Kosten 1,95 Millionen Euro betragen . Demgegenüber
soll es mittelfristig zu Einsparungen von mindestens
8,5 Millionen Euro jährlich kommen . Rechnet man das
gegen, spart der Staat bei jeder Überführung der Kinder-
geldzuständigkeit 20 Euro . Das klingt erst einmal nicht
nach so viel, aber die Masse machtʼs. Dennoch wird man
erst hinterher schlauer sein, ob die gesamten Umstruktu-
rierungsmaßnahmen wirklich so rasch zu den avisierten
Einsparungen führen werden .
Wir haben nun schon einiges zu Kostensenkungen und
Bürokratieabbau gehört . Kommen wir also zur Kehrseite
der Medaille: Im Gesetzentwurf ist zu lesen, dass „nicht
in jedem Fall das für diese Aufgabe eingesetzte Perso-
nal zeitgleich auf eine freie, für andere Aufgaben ausge-
brachte Planstelle/Stelle geführt werden kann“ . Dadurch,
dass die – Zitat – „Zahl der zuständigen Stellen reduziert“
werden soll, ist immer mit Arbeitsplatzabbau zu rechnen .
Es gibt de facto keine Garantie, dass jeder Mitarbeiter,
dessen Stelle wegfällt, wieder auf eine neue Planstelle
gesetzt wird . Ob die Aussage des Staatssekretärs Meister
aus dem Finanzausschuss, dass sich niemand Sorgen um
seinen Job machen müsse, Bestand haben wird, steht
leider in den Sternen . Die Linke fordert, dass Verwal-
tungs- und Strukturreformen nicht mit Arbeitsplatzabbau
einhergehen . „Rationalisierungen“ und „Umstrukturie-
rungen“ dürfen kein Vorwand sein, um Jobs und Gehälter
wegzurationalisieren . Dies alles bleibt im Gesetzentwurf
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 196 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 20 . Oktober 201619594
(A) (C)
(B) (D)
nebulös geregelt, weswegen wir uns alles in allem auch
enthalten werden .
Da es ja in diesem Zusammenhang auch um Kin-
dergeld geht, das von Familienkassen ausgezahlt wird,
möchte ich noch auf eines hinweisen: Wir als Linke
haben einen Aktionsplan gegen Kinderarmut, Bundes-
tagsdrucksache 18/9666, frisch in den Bundestag einge-
bracht . Lesen Sie sich einfach diesen Aktionsplan durch;
es lohnt sich . Wir fordern nicht nur eine eigenständige
Kindergrundsicherung, sondern setzen uns für flankie-
rende Maßnahmen ein, die Eltern aus der Armut führen:
einen höheren Mindestlohn, eine bessere Vereinbarkeit
von Familie und Beruf, eine sanktionsfreie Mindestsi-
cherung und eine deutliche Erhöhung des Kindergeldes .
Die geplante Erhöhung von 2 Euro ist doch ein schlech-
ter Witz . Verschließen Sie nicht länger die Augen vor der
Kinderarmut in Ost- wie Westdeutschland . Im Osten lebt
gut jedes fünfte Kind in einem Hartz-IV-Haushalt . Fin-
den Sie das gut?
Es ist bitter nötig, neben den Familienkassen noch
weitere „Strukturen“ zu reformieren, allen voran bei der
Verteilung des Reichtums in dieser Gesellschaft, damit
weder Jung noch Alt in Armut leben müssen .
Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das heu-
te hier zu beschließende Gesetz über die Familienkassen
des öffentlichen Dienstes ist in der Zielrichtung eine
nachvollziehbare Angelegenheit . Es löst nur leider das
Problem der Vielzahl von Familienkassen nicht . Zudem
sollen wir heute noch einen kurzfristig eingegangenen –
von uns in der Kürze der Zeit nicht ausreichend prüf-
baren – Änderungsantrag zur Verlagerung des Bundes-
amtes für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen
und des Bundesausgleichsamtes weg vom Finanz- hin
zum Innenministerium beschlossen werden . Aus diesem
Grund werden wir uns enthalten .
Bereits vor sieben Jahren machte das Thema Famili-
enkassen Schlagzeilen in der Boulevardpresse . Worum
ging es? Um Kindergeldbetrug . Ehepaare hatten sich
das Kindergeld doppelt ausbezahlen lassen . Wie war das
möglich? Weil für einen der Ehepartner als Beamter oder
Beamtin eine Familienkasse des öffentlichen Dienstes
zuständig war, für den anderen aber die Bundesagentur
für Arbeit . Staatsdiener, die doppelt kassieren, das ist et-
was, worüber sich Menschen verständlicherweise und zu
Recht aufregen .
Der Bundesrechnungshof hatte bereits im Jahr 2009
auf diese Betrugsfälle hingewiesen . Auf die Bürgerin-
nen und Bürger muss es so wirken, als ob die Regierung
Missbrauchsbekämpfung bei den eigenen Beamten nicht
besonders wichtig findet. Erst durch ein Gesetz, das Jahre
später zum 1 . Januar 2016 in Kraft trat, wurde der Miss-
brauch auf dem Papier beendet . Von 2016 an müssen die
Familienkassen einen Abgleich der Steueridentifikations-
nummer der Kinder vornehmen, um eine Doppelauszah-
lung zu vermeiden . Der tatsächliche Abgleich funktio-
niert aufgrund der ausstehenden IT-Umstellung selbst bis
heute immer noch nicht, und dieses Gesetz wurde damals
mit dem angeblichen Betrug durch Ausländer begründet .
Ich wiederhole: Es wurde begründet mit dem angebli-
chen Betrug durch „Ausländer“ und gerade nicht mit den
bekanntgewordenen Fällen bei den eigenen Beamten .
Was ist das Grundproblem, das durch die vorliegende
Gesetzesänderung behoben werden soll? Es ist der insti-
tutionelle Wildwuchs bei den Familienkassen des öffent-
lichen Dienstes, das heißt bei den Familienkassen, die vor
allem für die Beamten zuständig sind . Während 14 Fami-
lienkassen der Bundesagentur für Arbeit den Löwenan-
teil aller Kindergeldfälle bearbeiten, sind für die Kinder
von öffentlich Bediensteten tatsächlich 8 000 einzelne
Familienkassen zuständig . Ich wiederhole: 8 000 Kas-
sen . Sie bearbeiten gerade einmal 13 Prozent der Kinder-
geldberechtigten im Land . Das steht in einem grotesken
Missverhältnis. Auch solch eine von Ineffizienz geprägte
Aufteilung bei der Auszahlung des Kindergeldes ist den
Bürgerinnen und Bürgern nicht zu erklären .
Ich halte das Ziel und die eingeschlagene Richtung
des Gesetzentwurfes für richtig und unumgänglich . Die
Vielzahl an Kassen ist nicht zu rechtfertigen, da sich die
Auszahlung von Kindergeld nicht als besonders komple-
xe Dienstleistung darstellt . Das Nebeneinander der Fami-
lienkassen ist nicht nur bürokratisch und ineffizient, es ist
eben auch missbrauchsanfällig . Aber wird das vorliegen-
de Gesetz an diesem Zustand etwas ändern? Ich bin nicht
dieser Auffassung .
Der Haken an dem vorliegenden Gesetzentwurf ist,
dass nur die Zuständigkeiten der Familienkassen im Be-
reich des Bundes bis 2022 zur Bundesagentur für Arbeit
oder zum Bundesverwaltungsamt übergehen sollen . Ge-
nau das führt aber lediglich zu einer Reduzierung von
8 000 auf 7 900 Familienkassen des öffentlichen Diens-
tes . Ganze 100 Familienkassen werden entfallen . Das ist
selbstverständlich nicht der dringend benötigte System-
wechsel, der zu strukturellen Verbesserungen, mehr Ef-
fizienz und einer sinnvollen Verschlankung der Verwal-
tung führt .
Für die Familienkassen im Bereich der Länder und
Kommunen gelten die vorliegenden Neureglungen hin-
gegen nicht . Der Bund macht den Ländern lediglich das
Angebot, gegen Kostenübernahme auf die Zuständigkeit
freiwillig zu verzichten . Das Vorgehen halte ich für we-
nig ambitioniert angesichts der verbleibenden 7 900 Fa-
milienkassen . Die Koalition ist offensichtlich der Auffas-
sung, dass den Ländern nicht mehr zuzumuten ist . Diese
Haltung, allein auf die Einsicht der Länder zu warten,
kann ich vor dem Hintergrund des eigentlichen Problems
ganz und gar nicht teilen . Vielmehr sollten wir uns darü-
ber Gedanken machen, ob nicht die alternative Lösung –
eine Verlagerung der Kindergeldauszahlung auf die Fi-
nanzämter – doch die geeignetere ist . Das Kindergeld
ist schließlich im Einkommensteuergesetz verankert .
Mir fällt kein plausibler Grund ein, warum wir mit den
7 900 Familienkassen wie bisher weitermachen sollten .
Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 196 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 20 . Oktober 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 196 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 20 . Oktober 2016 19595
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(B) (D)
des Mikrozensus und zur Änderung weiterer Sta-
tistikgesetze (Tagesordnungspunkt 22)
Dr. Tim Ostermann (CDU/CSU): Heute widmen
wir uns zum zweiten Mal und damit abschließend dem
Mikrozensusgesetz . Ich meine, dass wir im erweiterten
Berichterstattergespräch, an dem auch die Grünenfrakti-
on teilgenommen hat, die letzten Einwände und Unklar-
heiten aus der Welt schaffen konnten und das Gesetz nun
inhaltlich unverändert verabschieden können .
In meiner letzten Rede hatte ich bereits angesprochen,
dass das gegenwärtige Mikrozensusgesetz Ende 2016
ausläuft und dadurch nun der Handlungsbedarf besteht,
die Weiterführung des Mikrozensus ab 2017 sicherzu-
stellen . Auch wenn sich das parlamentarische Verfahren
nun um rund zwei Wochen verlängert hat, meine ich,
dass wir noch gut im Zeitplan liegen, um eine lückenlose
Fortführung der Haushaltsstichproben zu ermöglichen .
Der Mikrozensus wird damit dann zunächst bis 2020
weitestgehend in der gegenwärtigen Form fortgeführt .
Ab 2020 wird dann das neue System gelten . Künftig
werden damit die Gemeinschaftsstatistiken über Ein-
kommen und Lebensbedingungen, EU-SILC, sowie zur
Informationsgesellschaft, IKT, in den Mikrozensus inte-
griert . Diese wurde bisher zusätzlich zum Mikrozensus
erhoben . Wir versprechen uns davon Einsparungen hin-
sichtlich der aufzuwendenden finanziellen Mittel, des or-
ganisatorischen Aufwands und der Gesamtbelastung für
die Bürgerinnen und Bürger .
Weil einerseits diese Statistikanforderungen seitens
der Europäischen Union auf unbestimmte Zeit gelten
und andererseits der Mikrozensus nun seit mittlerweile
1957 existiert, werden wir den Mikrozensus mit diesem
Gesetz nun entfristen . Es hat sich über die Jahrzehnte
gezeigt, dass die Haushaltsstichproben unverzichtbar
für Parlamente, Regierungen sowie die Verwaltungen in
Bund und Ländern bei der Erfüllung ihrer verschiedenen
Aufgaben sind . Der Mikrozensus ist für eine gute Politik
nicht mehr wegzudenken . Anstatt nun den Mikrozensus
alle paar Jahre wieder aufs Neue für einige Jahre einzu-
setzen, ist es nun zu Recht an der Zeit, ihn als auf Dauer
angelegten Bestandteil unserer Rechtsordnung anzuse-
hen .
Die Integration der EU-Erhebungen in den Mikro-
zensus erfordert auch eine Erweiterung der Auskunfts-
pflicht. Einerseits spart die Auskunftspflicht einen grö-
ßeren Aufwand bei den Befragungen ein . Bei einer
freiwilligen Befragung zeigen der Erfahrung nach maxi-
mal 30 Prozent der zu befragenden Personen überhaupt
die Bereitschaft einer Teilnahme . Tatsächlich nehmen
letztlich im Regelfall höchstens 10 Prozent der Perso-
nen auch an der Befragung teil . Um nun eine ausrei-
chend hohe Datenzahl für aussagekräftige Statistiken zu
erhalten, muss die Stichprobe um das Vierfache erhöht
werden. Diese Kosten entfallen bei einer Pflicht zur Aus-
kunft .
Aber auch die Datenqualität verbessert sich; denn alle
Bevölkerungsgruppen nehmen nun an der Befragung teil .
Typischerweise verweigern bestimmte Bevölkerungs-
gruppen eine freiwillige Teilnahme, sodass die Statisti-
ken häufig verzerrt sind. Hochqualitative Statistiken sind
jedoch sehr wichtig, nicht zuletzt auch, um Förderungen
aus EU-Strukturfonds zu erhalten. Die Auskunftspflicht
stellt hier die erforderliche Qualität der Daten sicher.
Gleichwohl haben die Koalitionsfraktionen einen Ände-
rungsantrag eingebracht . Dieser beschränkt sich jedoch
auf Klarstellungen, etwa auf Konkretisierungen von
Wortbedeutungen oder inhaltliche Präzisierungen von
statistischen Merkmalen . Der Änderungsantrag kann so-
mit aus inhaltlicher Perspektive nicht sehr strittig sein .
Im Übrigen möchte ich erwähnen, dass auch die Bun-
desbeauftragte für den Datenschutz und die Informati-
onsfreiheit im Rahmen der Ressortabstimmung beteiligt
worden ist . Ihre Anregungen sind aufgenommen worden .
Sie hat daher keine Einwände geltend gemacht .
Ich denke, dass wir mit diesem Gesetz die Durchfüh-
rung des Mikrozensus in Zukunft deutlich verbessern
werden . Ich möchte allen Beteiligten für die gute Zusam-
menarbeit danken .
Barbara Woltmann (CDU/CSU): In zweiter und
dritter Lesung beschließen wir heute das Gesetz zur Neu-
regelung des Mikrozensus und zur Änderung weiterer
Statistikgesetze . Die Notwendigkeit einer Neuregelung
bleibt weiterhin unbestritten: Das geltende Gesetz läuft
zum Jahresende aus und muss erneuert werden . Außer-
dem hat die Europäische Union einige Verordnungen
beschlossen, die in das neue Gesetz integriert werden
müssen . Jedoch wird dies nicht von jetzt auf gleich ge-
schehen . Somit haben wir genügend Zeit, um die voll-
ständige Neugestaltung der IT mit den notwendigen
tiefgreifenden methodischen und organisatorischen Ver-
änderungen aufzustellen .
Es ist notwendig, den Mikrozensus um die auf euro-
päischer Ebene geforderten Daten zu erweitern . Das Sta-
tistische Bundesamt, das den Mikrozensus durchführt,
besitzt mittlerweile nicht nur einen nationalen Auftrag,
sondern ist auch dazu verpflichtet, europäisches Recht
anzuwenden und der Europäischen Union entsprechende
Daten zu liefern . Die Daten der Arbeitskräftestichprobe
der Europäischen Union zum Beispiel sind wichtig für
gemeinschaftliche EU-Programme zu mehr Beschäfti-
gung, besserer Ausbildung und gegen Arbeitslosigkeit . In
der heutigen Zeit wird es immer wichtiger, die rasanten
Entwicklungen in Europa zu analysieren und in den oben
genannten Bereichen die richtigen politischen Weichen-
stellungen vorzunehmen . Dafür bedarf es einer guten Da-
tenlage. Die Kohäsionspolitik in der EU profitiert davon.
Aber nicht nur die Europäische Union, sondern auch
Deutschland entwickelt sich mit hoher Geschwindigkeit .
Vor allem im Bereich der Digitalisierung werden die Ver-
änderungen in den kommenden Jahren enorm sein . Ich
halte die Statistik zur Informationsgesellschaft, die durch
Beschluss des Artikels 2 des vorliegenden Gesetzentwur-
fes ab dem Jahr 2021 anhand von Merkmalen wie Inter-
netzugang und Internetnutzung erhoben wird, für äußerst
wichtig . Der Zustand und die Reichweite des Breitband-
ausbaus können durch den Mikrozensus festgestellt wer-
den . Dies sind auch für die Kommunen wichtige Infor-
mationen .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 196 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 20 . Oktober 201619596
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(B) (D)
Die Kommunen profitieren ebenso von der Einführung
einer Auskunftspflicht von Bürgern, die für den Mikro-
zensus ausgewählt werden . Die bislang auf Freiwilligkeit
angelegte Befragung barg die Gefahr, ein schiefes Bild
der deutschen Gesellschaft zu zeichnen . Die statistischen
Erhebungen aus dem Mikrozensus sind nämlich maßge-
bend für die Ausgestaltung und die Vergabe unter ande-
rem von Fördermitteln aus den EU-Strukturfonds und
somit von erhöhter Wichtigkeit für unsere Kommunen .
Kritisch könnte man allenfalls sehen, dass nur rund
1 Prozent aller Bundesbürger befragt wird . Dies hat beim
letzten Mal dazu geführt, dass Kommunen Einwohner
„verloren“ haben und damit auch entsprechende Finanz-
mittel . Dies gilt es im Blick zu behalten, und es gilt, Lö-
sungen dafür zu finden.
Die Notwendigkeit des vorgelegten Gesetzentwurfes
ergibt sich auch aus der Frage nach den Kosten, welche
diese statistischen Erhebungen mit sich bringen . Durch
die nun gesetzlich festgelegte Einbeziehung der EU-Sta-
tistik über Einkommen und Lebensbedingungen sowie
der Statistik zur Informationsgesellschaft vermeiden wir
unnötige Mehrkosten, die bei einer separaten Durchfüh-
rung der Befragung anfallen würden . Ein weiterer Plus-
punkt der Integration der EU-Statistiken in den Mikro-
zensus ist die Vermeidung von doppelt durchgeführten
Erhebungen. Demografische und sozioökonomische
Angaben, die bei separaten Befragungen zum festen Fra-
genstamm gehören, werden mit dem neuen Gesetz nur
einmal erhoben .
Die Notwendigkeit der Neuregelung des Mikrozensus
und zur Änderung weiterer Statistikgesetze ließe sich
noch an weiteren Beispielen aufzählen . Festzuhalten ist,
dass es aus der Sicht vieler Experten aus dem Bereich
der Statistik und Datenerhebung keine inhaltlichen Be-
anstandungen gibt .
Ich bitte um Zustimmung zum vorliegenden Gesetz-
entwurf .
Matthias Schmidt (Berlin) (SPD): Lassen Sie mich
zu Beginn meiner Rede einen Blick auf Europa werfen .
Was das Statistische Bundesamt für Deutschland ist, ist
für die EU das Statistische Amt der Europäischen Union,
kurz Eurostat, mit Sitz in Luxemburg . Hier laufen seit
1953 alle Daten zusammen, die von den Ländern an die
EU geliefert werden . Eurostat selber erhebt keine Daten
und ist somit auf die Erhebungen in den Mitgliedstaaten
angewiesen . Ein Blick auf die Homepage von Eurostat
zeigt eindrucksvoll, wie viele Daten hier zusammen-
fließen. Jede Bürgerin und jeder Bürger kann sich hier
ausgiebig über gesellschaftliche Daten der EU und ihre
Mitgliedsländer informieren . Wie hoch ist die Lebens-
erwartung in welchem Land, wie die Altersstruktur, die
Sozialstruktur? Bis hin zu den Luftemissionswerten in
jedem Land kann hier alles nachgelesen werden . Das ist
eine exzellente Informationsplattform für Wissenschaft,
Politik und Gesellschaft .
Die Daten werden von den EU-Mitgliedstaaten gelie-
fert, konsolidiert und harmonisiert, mit dem Ziel, sie ver-
gleichbar zu machen . Und diese Harmonisierung ist in
dieser Legislatur auch ein Aspekt verschiedener Geset-
zesverfahren in diesem Hohen Hause gewesen, so zum
Beispiel des Umweltstatistikgesetzes oder des Bundes-
statistikgesetzes . Heute behandeln wir das Mikrozensus-
gesetz, das eine überaus wichtige Funktion bei der Erhe-
bung statistischer Daten einnimmt .
Wie Sie alle wissen, haben wir dieses Gesetz bereits
2014 geändert . Anpassungen an EU-Vorgaben waren ein
Anlass . Wir haben Optimierungen bei der Bevölkerungs-
statistik vorgenommen und mithilfe einer Experimen-
tierklausel ermöglicht, dass neue Erhebungsverfahren
erprobt werden können . Die heute vorliegenden Ände-
rungen gehen noch einen Schritt weiter . Mit der Aufhe-
bung der Befristung als einer Kernänderung des Gesetzes
legen wir die Grundlage für eine dauerhafte und zuver-
lässige Datenerhebung . Die Befristungen wurden in der
Vergangenheit immer wieder per Gesetz verlängert, so
letztmalig 2012 um vier Jahre . Diese Kettenbefristungen
sollen nun ein Ende haben, und das ist auch sinnvoll . Das
Mikrozensusgesetz wird unbefristet gelten und damit den
Vorgaben der EU folgen, denn auch die Pflicht zur Daten-
lieferung gilt unbefristet .
Nun wurden in der Diskussion Bedenken laut, dass
wir mit diesem Schritt der Entfristung unsere Hoheit zur
Evaluation und Veränderung des Mikrozensusgesetzes
aus den Händen gäben . Sehr verehrte Kolleginnen und
Kollegen, es ist doch so, dass wir als Gesetzgeber im-
mer die Möglichkeit haben, Gesetze zu verändern, und
natürlich werden wir auch bei einem entfristeten Mikro-
zensusgesetz sehr genau hinschauen, wie die Entwick-
lung verläuft und ob sich hier Änderungsbedarfe erge-
ben . Im Umkehrschluss hieße so eine Argumentation ja,
dass wir alle Gesetze befristen müssten . Das kann doch
nicht unser Wunsch sein . Die Entfristung schafft viel-
mehr Planungssicherheit für das Statistische Bundesamt
und verringert den bürokratischen Aufwand . Diese Ziele
sollten uns hier einen .
Kommen wir nun zu einem weiteren zentralen Punkt
des Gesetzes, der die Perspektive der EU in den Blick
nimmt, die ich zu Beginn meiner Rede ansprach . Viele
Erhebungen finden bislang parallel statt, so der Mikro-
zensus, die Statistik zur Informationsgesellschaft, kurz
IKT, und auch die Erhebung über Arbeitskräfte, Ein-
kommen und Lebensbedingungen für die EU, die soge-
nannte SILC-Statistik . Diesen Einzelstatistiken liegen
unterschiedliche Verfahrensregelungen zugrunde . So ist
der Mikrozensus verpflichtend, während die IKT und
auch SILC-Verfahren auf freiwilliger Basis erfolgen .
Wir wollen mit dem vorliegenden Gesetzentwurf beide
Statistiken in den Mikrozensus integrieren . Das schafft
Synergien und reduziert den Erhebungsaufwand . Dazu
gehört auch, dass die Verfahren vereinheitlicht werden,
und das heißt für die integrierten Statistiken, dass auch
sie im Kern verpflichtend werden.
Auch dagegen gibt es Bedenken . Zudem begleitet
Kritik die Statistik schon seit Jahrzehnten . Im Kern geht
es darum, ob durch die Auskunftspflicht Persönlichkeits-
rechte verletzt werden . Was stimmt, ist, dass es für die
Personen, die in der Stichprobe zu einer Auskunft ver-
pflichtet werden, Aufwand bedeutet. Der Fragebogen
ist sehr ausführlich, und die Befragten müssen einen
tiefen Blick in ihre persönlichen Lebensverhältnisse
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 196 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 20 . Oktober 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 196 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 20 . Oktober 2016 19597
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zulassen . Das kann auch Unmut erzeugen . Dafür habe
ich Verständnis . Nun müssen wir uns als Gesetzgeber
fragen, ob der Nutzen dieser Statistiken denn diesen tie-
fen Blick rechtfertigt . Und hier kommen wir doch nicht
umhin, den großen Nutzen zu betonen, den die Auswer-
tung dieser Daten bedeutet . Die Statistiken, die aus dem
Mikrozensus entwickelt werden, sind grundlegend für
Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft . Und ohne sie
wären wir in der Politik zwischen den Volkszählungen
ohne empirischen Kompass .
Zu fordern, diese grundlegenden Statistiken auf eine
freiwillige Basis zu stellen, folgt sicher den Wünschen
einiger Menschen, muss aber hinsichtlich der Folgen ge-
nauer betrachtet werden . Bei einer freiwilligen Erhebung
muss davon ausgegangen werden, dass sich ein Teil der
Menschen in einer Stichprobe der Auskunft verweigert,
sei es aus Überzeugung oder aus persönlicher Arbeits-
entlastung . Damit muss die Stichprobe selber deutlich
vergrößert werden, was einen deutlichen Mehraufwand
bedeutet . Mehr Menschen müssen befragt werden, mehr
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Statistischen Bun-
desamt müssen sich mit der Auswertung der Daten be-
schäftigen, und mehr Zeitaufwand ist damit ebenso ver-
bunden wie deutlich höhere Kosten . Und diese Folgen
müssen wir bei der Frage von Freiwilligkeit oder Pflicht
auch beleuchten . In der Abwägung der Positionen und
der Folgen kommen wir zu der Überzeugung, dass es
verantwortbar und sinnvoll ist, die Verpflichtung auf die
integrierten Statistiken auszudehnen .
Bei anderen Fragen wurden im parlamentarischen
Verfahren durchaus noch einige Änderungen vorgenom-
men, denen wir zustimmen können . So wurden im Ge-
setz neben redaktionellen Änderungen noch Präzisierun-
gen vorgenommen, die wir mittragen werden .
Es bleibt grundsätzlich unsere Verantwortung, bei je-
dem Gesetz sehr sorgfältig zu prüfen, welche zusätzliche
Belastung und welche Eingriffe in die Persönlichkeits-
rechte für die Bürgerinnen und Bürger damit einherge-
hen . Ich bin der festen Überzeugung, dass wir mit diesem
Gesetzesvorhaben auch in dieser Hinsicht verantwortlich
handeln und deutliche Verbesserungen vornehmen, die
letztlich allen Menschen zugutekommen . Es ist eine
Weichenstellung hin zu mehr Harmonisierung auf euro-
päischer Ebene und hin zu mehr Effizienz bei der Daten-
erhebung . Ich wünsche mir eine Zustimmung zu diesem
wichtigen Vorhaben .
Jan Korte (DIE LINKE): Wir reden heute wieder
über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Mi-
krozensusgesetz, der durch den Änderungsantrag der
Koalitionsfraktionen leider nicht wesentlich besser ge-
worden ist; das muss man zunächst einmal feststellen . Es
ist schade, dass Sie dabei weder die Kritik aus dem Bun-
destag noch die des Bundesrats wirklich berücksichtigt
haben .
Die Linke hat bereits gesagt, dass grundsätzlich nichts
gegen bestimmte Datenerhebungen und Statistiken zur
Bevölkerung in der Bundesrepublik einzuwenden ist,
nicht zuletzt, weil sie auch ein Indikator für die Not-
wendigkeit politischer Maßnahmen bzw . ein Kontrollin-
strument für das Funktionieren oder Misslingen selbiger
ist . In der Tat können wichtige Schlüsse aus dem Mikro-
zensus und anderen Befragungen wie der Einkommens-
und Verbrauchsstichprobe gezogen werden: dass zum
Beispiel das Armutsrisiko von Geringqualifizierten ge-
stiegen ist, dass die Schere zwischen Arm und Reich im-
mer weiter auseinandergeht oder dass immer mehr Leute
so vermögend sind, dass sie für ihren Lebensunterhalt
nicht mehr arbeiten gehen müssen, während gleichzeitig
ein Fünftel der Kinder in unserem Land von Armut und
sozialer Ausgrenzung betroffen sind .
Das wissen wir alles dank solcher Erhebungen – so
weit, so gut . Aber warum führt man diese Statistiken und
sammelt dieses ganze Wissen, wenn keine Konsequen-
zen daraus erwachsen? Welche konkrete politische Maß-
nahme ist denn in den letzten Jahren ergriffen worden,
um die ungleiche Vermögensverteilung in der Bundesre-
publik anzugehen? Welche Konsequenzen hatten die Er-
gebnisse auf die soziale Mischung in den Städten? Was
konkret wird denn getan, um Geringqualifizierte weiter-
zubilden oder dafür zu sorgen, dass mehr Schülerinnen
und Schüler bessere Abschlüsse schaffen, erst recht,
wenn sie von Armut betroffen sind? Die Bundesregie-
rung hat es nicht einmal bei der vom Verfassungsgericht
angemahnten gerechten Erbschaftsteuer gewagt, Reiche
zur Finanzierung des Gemeinwohls heranzuziehen, von
einer Vermögensteuer, wie es sie in etlichen anderen Län-
dern gibt, ganz zu schweigen . Das massive Problem und
Misstrauen von denen, die bei der Befragung für den Mi-
krozensus Privates preisgeben müssen, liegt auch darin,
dass der Sinn und die Verhältnismäßigkeit berechtigter-
weise hinterfragt wird .
Damit kommen wir zum zweiten Punkt, nämlich dazu,
was den Befragten überhaupt zugemutet wird . Man muss
sich einmal in die Lage hineinversetzen, wie es wohl ist,
wenn man einer fremden Person und allen, die den Erfas-
sungsbogen danach lesen, Auskunft darüber geben soll,
ob man zwei Paar passende Schuhe hat oder nicht, ob
man raucht oder meint, sich auf andere Art und Weise
eventuell gesundheitsgefährdend zu verhalten, ob man
genug Geld hat, um sich „mindestens einmal im Monat
mit Freunden oder Freundinnen oder Familienmitglie-
dern zum Essen oder Trinken zu treffen“, ob man in den
letzten Tagen beim Arzt war und welche Ursache es viel-
leicht dafür gibt, dass man nur einen befristeten Arbeits-
vertrag hat .
Zum Glück ist es nicht bei allen dieser Fragen ver-
pflichtend, darauf zu antworten. Der grundsätzliche
Auskunftszwang bleibt bestehen, auch in Bezug auf
die EU-rechtlich vorgegebenen Erhebungsmerkma-
le, in Bezug auf Einkommen und Lebensbedingungen,
die laut EU-Verordnung freiwillig sind . Da Sie in dem
Änderungsantrag nicht darauf eingegangen sind, zitiere
ich hier noch einmal die Kritik des Bundesrats an Ihrem
Gesetzentwurf . Der schreibt in seiner Stellungnahme:
„Aufgrund der hohen Sensibilität der EU-rechtlich vor-
gegebenen Erhebungsmerkmale in Bezug auf Einkom-
men und Lebensbedingungen ist mit einer Zunahme von
Auskunftsverweigerungen und erheblicher Verärgerung
seitens auskunftspflichtiger Privatpersonen zu rechnen.“
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 196 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 20 . Oktober 201619598
(A) (C)
(B) (D)
Im Gegensatz zur schwarz-roten Bundesregierung hat
man es im Bundesrat offenbar geschafft, sich in die be-
fragten Personen hineinzuversetzen, und macht sich Sor-
gen um die Akzeptanz von Erhebungen allgemein: „Im
Übrigen stellt eine auskunftspflichtige Erhebung sehr
privater, sehr sensibler und vielfach subjektiv geprägter
Fragen einen Paradigmenwechsel in der amtlichen Sta-
tistik dar, infolgedessen im Ergebnis sogar ein über den
in Rede stehenden Bereich hinausgehender Imagescha-
den zu befürchten ist, der negative Auswirkungen für die
Durchführung und den Zielverwirklichungsgrad auch
anderer Statistiken haben und entsprechende Erhebun-
gen erschweren könnte .“ Oder kurz gefasst und leichter
verständlich: Das kleinliche Bestehen der Bundesregie-
rung auf einer Auskunftspflicht gefährdet unnötigerweise
nicht nur die Qualität und Akzeptanz des Mikrozensus,
sondern auch die aller anderen Erhebungen . Wir meinen
zudem, dass die mit Androhung von Zwangsgeldern und
Beugehaft durchgesetzte Auskunftspflicht über privates-
te Daten gegen das Recht auf informationelle Selbstbe-
stimmung verstößt .
Es gibt also eine Menge Gründe, von einer Auskunfts-
pflicht nach § 13 des Zensustestgesetzes abzusehen und
die Erhebung so grundrechtsschonend wie irgend mög-
lich durchzuführen . Es gäbe eine Vielzahl von Mög-
lichkeiten, Bürgerinnen und Bürger für ihre Beteiligung
am Mikrozensus zu gewinnen . Die erste wäre, wenn die
Erkenntnisse tatsächlich erfahrbare politische Konse-
quenzen hätten, wie bereits gesagt . Möglich wäre etwa
auch die Erfassung von Bedürfnissen, wie sie schon im
Bereich Arbeitsmarkt abgefragt werden . Wenn neben der
Arbeitsstundenzahl abgefragt wird, ob jemand länger ar-
beiten will, könnte man ja auch neben der Frage nach der
Kinderbetreuung fragen, ob die in der Kommune ange-
botenen Betreuungszeiträume und -plätze reichen, oder,
welche Probleme jemand mitzuteilen hat, der seinen
Grad der Behinderung nennt, wo es Probleme mit dem
Angebot öffentlicher Verkehrsmittel gibt, welche Er-
leichterungen sich Alleinerziehende wünschen oder wie
Menschen mit Migrationshintergrund ihre gesellschaft-
lichen Teilhabemöglichkeiten bewerten . Eine Erhebung,
die positive Konsequenzen und einen Mehrwert für die
Bevölkerung hat, funktioniert auch auf freiwilliger Basis .
Die Bundesregierung hat nicht nur zu wenig getan, um
einen Mikrozensus auf freiwilliger Basis zu realisieren
oder um dies wenigstens zu versuchen, sondern sie bleibt
auch den Beweis schuldig, dass alle wichtigen Erkennt-
nisse, die wir aus dem Mikrozensus ziehen, ohne eine
strafbewehrte Auskunftspflicht nicht zustande kämen.
Selbst die EU geht, wie gesagt, von freiwilligen Erhe-
bungen aus . Deshalb können wir diesem Gesetzentwurf
nicht zustimmen und werden wir uns enthalten .
Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Das Thema Datenschutz, das wird heute im Zuge
dieser Debatte hoffentlich einmal mehr deutlich, umfasst
weitaus mehr als nur die „Reißerthemen“ wie den Um-
gang von Facebook und anderer Unternehmen mit unse-
ren Daten, die internationale Telekommunikationsüber-
wachung der Geheimdienste oder die Kreditbewertungen
der Schufa . Diese Themen mit hoher Medienaufmerk-
samkeit mögen auf die politische Wahrnehmung einiger
so wirken, als seien andere Themen auch in der Sache
weniger wichtig . Das ist aber nicht der Fall .
Als Querschnittmaterie, bei der es im Kern um den
Umgang mit Informationen zu Bürgerinnen und Bür-
gern geht, betrifft sie inzwischen alle Lebensbereiche .
Und Fragen des Statistikwesens standen von Beginn an
sogar im Mittelpunkt der Schaffung der modernen Da-
tenschutzgesetze und der Datenschutzbewegung . Sie
führten zu den beiden berühmten Entscheidungen des
Bundesverfassungsgerichts, dem Mikrozensus-Urteil
von 1964 und dem Volkszählungsurteil von 1983 .
Wenn wir heute über die erneute Erweiterung und
Entfristung des Mikrozensus sprechen, sollten wir eine
Bilanz wagen und fragen, wie wir den Mikrozensus heute
einordnen . Das Ergebnis nehme ich gleich vorweg: Er
ist wie alle Datenschutzthemen bereichsspezifisch, wie
die Datenschützer sagen, einzuordnen und verlangt da-
mit eine eigenständige und dem Kontext angemessene
Bewertung . Das ist eine verfassungsrechtliche Vorgabe .
Und dabei stellen wir fest, dass der Kernkonflikt zwi-
schen staatlichem Wissensinteresse und den Persönlich-
keitsinteressen der Betroffenen weiterhin bestehen bleibt .
Der Mikrozensus ist keine Volkszählung in dem Sin-
ne, dass die Bevölkerung, ähnlich etwa der Vorratsdaten-
speicherung, in ihrer Gesamtheit erfasst würde . Doch sie
betrifft alljährlich eine Million Mitbürgerinnen und Mit-
bürger . Und die Betroffenen müssen wiederholte Nach-
fragen über den Zeitraum von vier Jahren, bis zu zweimal
pro Jahr, hinnehmen; das nervige Verfahren ist also kei-
nesfalls mit der einmaligen Beantwortung beendet .
Es fällt auf, dass das Wissensinteresse zur Erstellung
einer Statistik sicherlich nicht die dieselbe Wertigkeit
beanspruchen kann wie Informationserhebungen in Ver-
bindung mit dem unmittelbaren Schutz der öffentlichen
Sicherheit . Und auf der anderen Seite bleibt es bei einer
Maßnahme, die annähernd eine Million Bürgerinnen und
Bürger betrifft, Jahr für Jahr . Auf der rechtlichen Ebe-
ne fällt zugunsten des Mikrozensus in die Waagschale,
dass der Wahrung des Datenschutzes eine große Bedeu-
tung kommt, und die Statistikbehörden umfänglichen
Vorkehrungen unterliegen . Andererseits bleibt es für die
Betroffenen bei der Umsetzung durch Auskunftszwang
ein erheblicher staatlicher Eingriff, der keineswegs alle
staatlichen Eingriffsinstrumente betrifft .
Niemand bestreitet ernsthaft den Zweck des Statis-
tikwesens . Gerade auch grüne Politik verlässt sich auf
solide Informationen über die Entwicklung unserer Ge-
sellschaft, komplexe Sachverhalte werden für die Politik
darstellbar und verhandelbar, zum Beispiel die Frage ge-
lingender Integration der zu uns gekommenen ausländi-
schen Bürgerinnen und Bürger . Doch unsere Verantwor-
tung liegt auch darin, in der Umsetzung den Grundsatz
der Verhältnismäßigkeit zum Maßstab zu nehmen und
die Bürgerinnen und Bürger vor einer übermäßigen und
sachlich nicht mehr vertretbaren Inanspruchnahme durch
Befragungen zu bewahren .
Durch die rein statistisch-wissenschaftliche Brille be-
trachtet wird es immer gute Gründe geben, warum die-
se oder jene bestehenden Statistiken inhaltlich erweitert
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 196 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 20 . Oktober 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 196 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 20 . Oktober 2016 19599
(A) (C)
(B) (D)
gehören, eine größere Gruppe betreffen sollten und/oder
zwangsweise zu erfolgen haben . Wie weit wir dabei ge-
hen sollten, ist unsere gemeinsame politische Entschei-
dung . Statistiker können durchaus glaubhaft darlegen,
dass der Unterschied zwischen erzwungenen und freiwil-
ligen Haushaltsbefragungen deshalb erheblich ist, weil
die Rücklaufquoten bei freiwilligen Befragungen oft auf
gerade noch ein Viertel der Angeschriebenen fallen kön-
nen, sodass im Ergebnis ein größerer Betroffenenkreis
ausgewählt und angeschrieben werden muss . Doch wir
müssen auch festhalten, dass die EU-Vorgaben für valide
Daten zu unterschiedlichen Problemfeldern die Befra-
gung per gesetzlichem Zwang gerade nicht vorsehen,
auch wenn sich das im vorliegenden Gesetzentwurf an-
ders liest . Hier sollte die Bundesregierung ehrlich offen-
legen, wenn es letztlich vorrangig Effizienz- und Ratio-
nalisierungsüberlegungen sind, die zum Auskunftszwang
führen .
Dieser Mikrozensus war von Beginn seiner Entste-
hung an umstritten, er führte zu einem der ersten und
bis heute bedeutsamen Urteil des Bundesverfassungsge-
richts zu Umfang und Reichweite des Grundrechts auf
Privatsphäre – Mikrozensus-Urteil von 1969 . Er ist bis
heute umstritten, auch wenn nicht alle Betroffenen gleich
vor das Verwaltungsgericht ziehen . Darüber könnte uns
eine Umfrage unter den Datenschutzbehörden des Bun-
des und der Länder sicherlich Auskunft geben . Doch die
Akzeptanz in der Bevölkerung bleibt nicht der alleinige
Prüfungspunkt, wenn wir uns als legislatives Kontroll-
organ Gesetze des Bundesinnenministers mit Berührung
zum Datenschutz anschauen . Es liegt vielmehr in un-
serer Verantwortung, die Gewährleistung wesentlicher
Gesichtspunkte der Verfassungsmäßigkeit wie auch der
Wahrung der Bürgerrechte insgesamt kritisch zu prüfen .
Bislang war der seit Jahrzehnten etablierte Mikro-
zensus befristet geregelt . Er soll nun in eine unbefristete
gesetzliche Regelung überführt werden . Integriert in den
aus Sicht der Betroffenen ohnehin für die Betroffenen
viel zu lang wirkenden Fragenkatalog werden die nach
EU-Recht erforderlichen Statistiken zu Einkommen und
Lebensbedingungen (EU-SILC) sowie zur Informations-
gesellschaft (IKT) .
Das informatorische Sonderopfer, das die vom Mikro-
zensus Betroffenen zu erbringen haben, ist somit ganz
erheblich . Wir begrüßen deshalb, dass die Bundesre-
gierung sich offenbar darum bemüht hat, Belastungen
der Betroffenen zum Teil zu vermeiden . Danach soll
der Merkmalskatalog des Kernprogramms nur noch die
Hälfte des heutigen Katalogs umfassen . Und thematisch
abgrenzbare Erhebungsteile sollen auf die Betroffenen
derart verteilt werden, dass nicht alle Ausgewählten alle,
nunmehr aus anderen Haushaltsstatistiken integrierten
Fragenteile zu beantworten haben . Hier erwarten wir für
die Zukunft noch viele weitere innovative Ideen, wie die
Belastung der Befragten weiter gesenkt werden kann .
Gleichwohl bedeutet natürlich die Integration von vor-
mals getrennt ablaufenden und damit andere Bürgerinnen
und Bürger betreffenden Fragenkatalogen eine Erhöhung
des Gesamtumfangs der Befragung, auch wenn nicht alle
Ausgewählten im gleichen Maße davon betroffen sind .
Noch gravierender erscheint, dass die nunmehr inte-
grierten Teile EU-SILC und EI-IKT zukünftig ebenfalls
unter die Auskunftspflicht fallen. Der Wechsel von Frei-
willigkeit auf Zwang erfolgt, wenige Jahre nach der letz-
ten Debatte zum Mikrozensus, doch überraschend . Das
bloße Argument der Vermeidung inhaltlicher Unschärfen
wirkt angesichts des damit verbundenen Grundrechtsein-
griffes wenig überzeugend .
Im Mittelpunkt unseres gemeinsamen Berichterstat-
tergesprächs, für dessen Realisierung ich mich auch bei
den Kolleginnen und Kollegen bedanken möchte, stand
die beabsichtigte Entfristung des Mikrozensus, der ja oft
auch die kleine Volkszählung genannt wird . Wir stehen
dieser Entfristung weiterhin kritisch gegenüber . Wer die
Begründung des Gesetzentwurfs liest, kann schon den
Eindruck gewinnen, dass hier der Versuch unternommen
wird, das Spannungsfeld zwischen den Persönlichkeits-
rechten und dem Ziel der möglichst genauen Statistiker-
fassung zu leugnen . Das Gegenteil ist der Fall: Wie die
Bundesregierung selbst einräumt, werden die Fragelisten
immer länger, die Themenkomplexe laufend ausgebaut,
und sie erfolgen nahezu durchgängig unter Zwang . Pa-
rallel ist die große Volkszählung zurück, sie wird inzwi-
schen zehnjährig durchgeführt, 2021 steht die nächste an .
Und einige der freiwillig zu beantwortenden Fragen des
Mikrozensus beziehen sich auf so persönliche Bereiche,
so etwa die Selbsteinschätzung der eigenen gesundheitli-
chen Risiken, dass sie aus unserer Sicht überhaupt nicht
Gegenstand einer Statistikerhebung sein dürften . Denn
sie betreffen in der Tat den vom BVerfG schon im Mi-
krozensus-Urteil angedeuteten höchstpersönlichen Le-
bensbereich . Ich zitiere: „Eine statistische Befragung
zur Person kann deshalb dort als entwürdigend und als
Bedrohung des Selbstbestimmungsrechtes empfunden
werden, wo sie den Bereich menschlichen Eigenlebens
erfaßt, der von Natur aus Geheimnischarakter hat, und
damit auch diesen inneren Bezirk zu statistisch erschließ-
barem und erschließungsbedürftigem Material erklärt .
Insoweit gibt es auch für den Staat der modernen Indus-
triegesellschaft Sperren vor der verwaltungstechnischen
‚Entpersönlichung‘ .“ (BVerfGE 27, 1, Rdnr . 36)
Man muss sich die Idee des Bereichs eines Eigenle-
bens mit „von Natur aus Geheimnischarakter“ nicht zu
eigen machen und gleichwohl im Hinblick auf die im Ge-
setz vorgesehenen gesundheitlichen Fragen aufmerken .
Allein diese Beispiele zeigen, dass es einer laufenden
und gehörigen Aufmerksamkeit bedarf, um weiterhin die
Anforderungen des Datenschutzes einzuhalten . Auch
der Gesetzgeber muss hier wachsam bleiben . Und für
uns sind einige, vor allem datenschutzrechtliche Fragen
offengeblieben, die wir in unserem erweiterten Bericht-
erstattergespräch aufgrund der fehlenden Teilnahme der
BfDI auch nicht abschließend klären konnten . Wir wer-
den deshalb diese Fragen in der nächsten Zeit noch vorle-
gen und legen dieses Thema keinesfalls ad acta .
Nach alledem werden Sie Verständnis haben, dass wir,
insbesondere mit Blick auf die geplante vollständige Ent-
fristung, dem Gesetzentwurf in dieser Form nicht zustim-
men können und uns, mit Blick auf die hohe Bedeutung
einer faktenbasierten Politik, enthalten werden .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 196 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 20 . Oktober 201619600
(A) (C)
(B) (D)
Anlage 9
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Än-
derung des Regionalisierungsgesetzes (Tagesord-
nungspunkt 23)
Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU): Die Planung,
Organisation und Finanzierung für den öffentlichen Per-
sonennahverkehr, ÖPNV, und damit auch für den öffent-
lichen Schienenpersonennahverkehr, SPNV, wurde im
Zuge der Bahnreform 1996 per Gesetz auf die Länder
übertragen . Gleichzeitig mit der Regelung der Verant-
wortung für den ÖPNV wurde 1994 grundgesetzlich in
Artikel 106a festgelegt, dass den Ländern unbefristet aus
dem Steueraufkommen des Bundes ein Betrag für den
öffentlichen Personennahverkehr zusteht . Einzelheiten
wurden im „Gesetz zur Regionalisierung des öffentlichen
Personennahverkehrs“, dem sogenannten Regionalisie-
rungsgesetz, geregelt, welches am 1 . Januar 1996 unter
Artikel 4 des Eisenbahnneuordnungsgesetzes in Kraft
trat . Danach erhalten die Länder jährlich einen gesetzlich
festgelegten Betrag aus dem Aufkommen der Mineralöl-
steuer; dies sind die Regionalisierungsmittel . Diese Mit-
tel werden den Ländern zweckgebunden für Bestellun-
gen von Nahverkehrsleistungen zur Verfügung gestellt,
die sie in erster Linie zur Finanzierung der Verkehrsleis-
tungen des SPNV, aber auch investiv zur Verbesserung
des übrigen ÖPNV, sprich: Bussen und Straßenbahnen,
einsetzen können .
Die Bundesregierung ist nicht an der Bestellung der
Leistungen im ÖPNV beteiligt und hat weder Möglich-
keiten, die betrieblichen Abläufe der öffentlichen Ver-
kehrsmittel in der Region zu gestalten, noch, in Fragen
der Ausschreibung und Vergabe von Verkehrsleistungen
einzugreifen . Das Land bzw . die Zweckverbände legen
die Verkehrslinien, den Umfang und weitere Kriterien
wie Takte und Fahrzeuge selbst fest .
Allein von 2008, dem Jahr der letzten Anpassung des
Regionalisierungsgesetzes, bis 2012 förderte der Bund
den ÖPNV in den Ländern mit insgesamt über 34,5 Mil-
liarden Euro . 2014 stellte der Bund jährlich 7,3 Milli-
arden Euro zur Verfügung, bevor sich 2015 Bund und
Länder nach Verhandlungen im Vermittlungsausschuss
auf eine Summe von 8 Milliarden Euro ab 2016 und eine
Dynamisierung von 1,8 Prozent jährlich ab 2017 einigen
konnten . Dies machte die dritte Änderung des Regionali-
sierungsgesetzes notwendig .
Am 16 . Juni 2016 haben sich die Bundesregierung
und die Länder auf eine nochmalige Erhöhung der Regi-
onalisierungsmittel geeinigt . Damit wird eine Benachtei-
ligung der ostdeutschen Länder vermieden, da aufgrund
eines bereits bestehenden Verteilungsschlüssels diese
Länder in den kommenden Jahren sinkende Zuweisun-
gen gehabt hätten .
Mit der nun vorliegenden vierten Änderung des Ge-
setzes werden die 8 Milliarden Euro noch einmal um
200 Millionen Euro aufgestockt. Davon profitieren die
ostdeutschen Bundesländer und das Saarland, welches
1 Million Euro aus dem Aufstockungsbetrag zusätzlich
erhält . Auch die Aufstockung wird ab 2017 um 1,8 Pro-
zent jährlich dynamisiert . Der Bund ist den Ländern damit
weit entgegengekommen . Er entlastet die Länderhaus-
halte bis ins Jahr 2031 um insgesamt über 153,67 Mil-
liarden Euro . Für die bestimmungsgemäße Verwendung
der Mittel sind die Länder selbst verantwortlich .
Ich begrüße die für günstige Fahrscheine unserer
Bürgerinnen und Bürger im ÖPNV nun zur Verfügung
stehenden Mittel ausdrücklich, die maßgeblich für den
Schienenpersonennahverkehr eingesetzt werden kön-
nen . Die von den Ländern benannten Aufgabenträger des
Schienenpersonennahverkehrs haben nun Planungssi-
cherheit für die kommenden Jahre und können weiterhin
in die Schieneninfrastruktur und in moderne Fahrzeuge
investieren. Davon profitieren die Bundesländer, die
Kommunen, die Verkehrsunternehmen und nicht zuletzt
Millionen von Berufspendlerinnen und -pendler .
Die Regionalisierung des SPNV ist seit den 90er-Jah-
ren ein Erfolgsmodell; die Nutzerzahlen bestätigen die-
se Entwicklung . Der Schienenpersonennahverkehr, aber
auch der übrige ÖPNV boomen und spielen in den Jah-
ren seit der Bahnreform gerade in den Ballungsräumen
und im Umland eine immer wichtigere Rolle . So stieg
die Anzahl der jährlich beförderten Personen im Perso-
nennahverkehr der Eisenbahnen laut Statistischem Bun-
desamt von 2005 bis 2015 von 2,01 Milliarden auf über
2,5 Milliarden . Über 11 Milliarden Fahrgäste nutzten
2015 Busse und Bahnen im Liniennahverkehr, das sind
rund 30 Millionen Fahrgäste täglich, die damit eine Au-
tofahrt vermeiden . Der Verband der Aufgabenträger für
den SPNV spricht von deutlich verbesserten und aus-
geweiteten Bahn- und Busangeboten, vernetzten Takt-
systemen, neuen Strecken und Stationen und modernen
Fahrzeugen, die seit der Regionalisierung des SPNV zu
verzeichnen seien .
Mit der Erhöhung und jährlichen Dynamisierung der
Regionalisierungsmittel stellen wir sicher, dass die Nut-
zung des SPNV und des ÖPNV für die Kunden attraktiv
bleibt und sich die Züge als sichere und umweltfreund-
liche Verkehrsträger weiter etablieren können . Denn
ein möglichst flächendeckendes Angebot im regionalen
Schienenverkehr auf Grundlage eines funktionierenden
Wettbewerbs für die Bürgerinnen und Bürger ist aus mei-
ner Sicht ein wichtiger Beweis für eine funktionierende
staatliche Daseinsvorsorge . Ich werde als zuständiger
Berichterstatter für die CDU/CSU-Fraktion im Aus-
schuss für Verkehr und digitale Infrastruktur empfehlen,
den vorliegenden Gesetzentwurf anzunehmen .
Sebastian Hartmann (SPD): Der Nahverkehr in
Deutschland ist ein Erfolgsmodell . Jedes Jahr steigt die
Anzahl der Nutzer von Verkehrsleistungen im öffentli-
chen Personennahverkehr, aktuell sind es 10 Milliarden
Passagiere und 93 Milliarden Personenkilometer jähr-
lich . Mehr als die Hälfte der letzteren, 48 Milliarden
Personenkilometer, fallen allein auf der Schiene an . Der
Sektor beschäftigt bundesweit fast eine Viertelmillion
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter . Wer sich vor Augen
hält, dass die Benutzung von Bussen und Bahnen jeden
einzelnen Tag über 20 Millionen Autokilometer einspart,
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 196 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 20 . Oktober 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 196 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 20 . Oktober 2016 19601
(A) (C)
(B) (D)
ist sich der wichtigen Rolle für den Klima- und Umwelt-
schutz ohnehin bewusst .
Die gesamtstaatliche Aufgabe der Finanzierung des
Nahverkehrs, der sich Bund und Länder gemeinsam wid-
men, wird mit dem jetzt eingebrachten Entwurf eines
Gesetzes zur Änderung des Regionalisierungsgesetzes
sichergestellt . Mit 8,2 Milliarden Euro steht ein Betrag
ab 2016 zur Verfügung, der ab dem nächsten Jahr mit
1,8 Prozent jährlicher Steigerung dynamisiert wird . Er
setzt sich zusammen aus 8 Milliarden Euro, die alle Bun-
desländer nach dem Kieler Schlüssel aufteilen, und wei-
teren 200 Millionen mit eigenem Verteilschlüssel für die
ostdeutschen Bundesländer inklusive Berlin . Der Bund
kommt damit seinem grundgesetzlichen Auftrag im Rah-
men der Daseinsvorsorge vorbildlich nach .
Dieser großartige Erfolg ist ein echtes Glanzstück,
auf das die SPD-Bundestagsfraktion sehr stolz ist . Die
Mittelsicherheit und ihre zweckgerechte Verwendung
sichern die benötigten Investitionen in die Infrastruk-
tur ebenso wie das hohe Niveau von Bestellungen und
Leistungen . Wir haben den Betrag, der den Bundeslän-
dern für die Durchführung ihrer Nahverkehre zufließt,
um 900 Millionen Euro angehoben . Das sind mehr als
12 Prozent Aufwuchs gegenüber der Summe von 2014,
dem letzten regulär aus dem Regionalisierungsgesetz
von 1993 hergeleiteten Betrag . Die Dynamisierung liegt
ab nächstem Jahr mit 1,8 Prozent ebenfalls über den ehe-
dem 1,5 Prozent jährlich, mit denen die Regionalisie-
rungsmittel vorher wuchsen .
Die Regionalisierungsmittel des Bundes kompensie-
ren den größten Anteil der Gesamtkosten des öffentlichen
Schienenpersonennahverkehrs . 2014 wurden unter dem
Vorgängergesetz aus Regionalisierungsmitteln 7,3 Milli-
arden der insgesamt mehr als 10 Milliarden Euro auf-
gewandt . Mit der neuen Regelung wird ein wichtiger
Schritt zu einer zukunftssicheren Lösung getan . Die
Länder haben sich mit dem Kieler Schlüssel eine neue,
gegenüber dem alten Verteilschlüssel sachgerechtere
Verteilung der Mittel untereinander geschaffen . Sie ba-
siert auf den beiden wesentlichen Parametern „Einwoh-
nerzahlen“ und „Zugkilometern“ und bietet damit ein
besseres Abbild der tatsächlichen Bedarfslage . Der Kie-
ler Schlüssel berücksichtigt natürlich, dass der Übergang
von der bisherigen Verteilung auf die verabredeten Pro-
portionen schrittweise erfolgen muss . Bis 2030 werden
die prozentualen Anteile der Bundesländer langsam an
den endgültigen Verteilschlüssel entgegengeführt .
Den ostdeutschen Bundesländern steht ein zusätzlicher
Betrag deshalb zur Verfügung, weil sie aus der Verteilung
nach dem Kieler Schlüssel allein Einbußen hinnehmen
müssten, die durch die ebenfalls jährlich um 1,8 Prozent
wachsenden 200 Millionen Euro ausgeglichen werden .
Die SPD-Bundestagsfraktion ist sehr zufrieden, dass da-
mit jeder Eindruck einer Benachteiligung, den eine starre
Anwendung des Kieler Schlüssels vermittelt hätte, ganz
und gar unbegründet ist . Der NRW-Verkehrsminister
Michael Groschek hat an dieser Stelle in einer frühe-
ren Debatte zum Thema gesagt: „Wer das Problem der
Regionalisierungsmittel zu einem Ost-West-Gegensatz
konstruiert, will mit dieser Konstruktion nicht Probleme
lösen, sondern er will sie für andere politische Zwecke
instrumentalisieren .“
Weder den Menschen noch den Verkehren in Ost und
West wird ein solcher Gegensatz gerecht . Das tatsächli-
che Problem – die 200 Millionen Euro zusätzlich mildern
es ab, reichen aber nicht, um es zu lösen – ist strukturell:
Während im Westen vorhandene Schienenwege für den
Fernverkehr auch regional den Raum gut genug erschlie-
ßen, damit der Nahverkehr darauf bewegt werden kann,
muss für die Versorgung im Osten diese Erschließung
erst erfolgen – mithilfe einer dem eigentlichen Zweck der
Regionalisierungsmittel fremden Verwendung .
Jetzt herrscht Klarheit für die Bundesländer, für die
Verkehrsunternehmen, für die Kommunen und am Ende
für die Nutznießer des Nahverkehrs, die vielen Millio-
nen Pendler . Wir schließen damit ein weiteres Kapitel aus
dem Koalitionsvertrag erfolgreich ab, der 2013 die Revi-
sion der Regionalisierungsmittel gefordert hatte .
Damit der jetzt erzielte Erfolg nicht kannibalisiert
werden kann, müssen die Trassen- und Stationspreise
kontrolliert werden . Immerhin 40 Prozent der Regiona-
lisierungsmittel werden für die Kosten der Nutzung von
Schienenwegen und Bahnhöfen verwendet, das ist der
größte Einzelfaktor in der Gesamtrechnung . Wir haben
im Eisenbahnregulierungsgesetz Vorkehrungen getrof-
fen, um mit einer gedeckelten Teuerungsrate der Trassen-
preise kurzfristig wirksam zu verhindern . Nur mit einem
wirksamen Regime lässt sich dafür sorgen, dass das Geld
aus dem Regionalisierungsgesetz seinem eigentlichen
Zweck dienen kann . Das wird auch in den nächsten Jah-
ren stets neu zu justieren sein; denn der Regulierungs-
druck ist unverändert hoch . Über allem steht das Ziel:
mehr Verkehr, mehr Nahverkehr auf der Schiene .
Herbert Behrens (DIE LINKE): Natürlich geht das
Gesetz, wie man so schön sagt, in die richtige Richtung .
Natürlich können wir von der Bundestagsfraktion Die
Linke es – wohl gemeinsam mit allen anderen Fraktionen
in diesem Parlament – nur begrüßen, wenn die Mittel für
den Schienenpersonennahverkehr, SPNV, endlich erhöht
werden . Schließlich – bzw . ein letztes Mal: natürlich – ist
es richtig, wenn es diese 200 Millionen Euro als Schippe
obendrauf gibt und damit diejenigen Bundesländer, die
es bitter nötig haben, so im Westen das Saarland, Berlin
und alle östlichen Bundesländer, einen gewissen zusätz-
lichen Betrag für den SPNV erhalten . Insofern sagen wir
Ja zu den neu bestimmten 8,2 Milliarden Euro, die 2016
als Regionalisierungsmittel aus dem Bundeshaushalt den
Bundesländern zufließen werden.
Jedoch gibt es aus unserer Sicht dreimal ein Aber, und
dies mit wachsendem Nachdruck .
Das erste Aber betrifft die Dynamisierung um jähr-
lich 1,8 Prozent, und dies von 2017 bis zum Jahr 2031 .
Nun hatten wir in den vergangenen Monaten ja fast keine
Inflation mehr. An dieser kurzen Zeitspanne mögen die
1,8 Prozent jährliche Dynamisierung sich ganz gut an-
fühlen . Andererseits hatten wir mehr als 35 Jahre lang
erheblich hohe und weiter über den 1,8 Prozent liegende
Raten der allgemeinen Preissteigerung . Selbst in den ver-
gangenen Wochen gab es europaweit Anzeichen für ein
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 196 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 20 . Oktober 201619602
(A) (C)
(B) (D)
neues Anziehen der Inflation. Eine wesentliche Ursache
für die niedrige Inflation ist der absurd niedrige Rohöl-
preis, der zeitweilig bei weniger als 40 US-Dollar je Fass
lag . Aktuell liegt er wieder bei über 50 Dollar . Er lag vor
fünf bis sechs Jahren noch deutlich über 100 US-Dollar .
Da mutet es schlicht grotesk an, wenn sich man für die
nächsten 15 Jahre auf eine fixe Dynamisierungsmarge
festlegt . Wesentlich einleuchtender wäre es doch, wenn
man sagen würde: Die Regionalisierungsmittel werden
entsprechend in dem Maß jährlich erhöht, wie sich ers-
tens die offizielle, vom Bundesamt für Statistik ermittel-
te jährlichen Preissteigerung erhöht, wobei zweitens der
Anstieg der Entgelte für die Nutzung der Trassen, der
Bahnhöfe und der Energie zu berücksichtigen ist und im
korrekten prozentualen Umfang in die Höhe der Regio-
nalisierungsmittel einfließen muss.
Womit ich beim zweiten Aber bin, bei der Entwicklung
der Entgelte für die Nutzung von Bahnhöfen, Trassen
und Energie . Im Gesetzestext dazu heißt es diesbezüg-
lich: „Die Dynamik des Anstiegs der Infrastrukturent-
gelte, insbesondere der Stations- und Trassenentgelte im
Schienenpersonennahverkehr …, ist nach Maßgabe des
Eisenbahnregulierungsrechts zu begrenzen .
Diese Formulierung enthält zwei gefährliche Unge-
nauigkeiten . Was, bitte schön, heißt das „nach Maßgabe
des Eisenbahnregulierungsrechts“? Das wird nirgendwo,
auch nicht in der Begründung, ausgeführt . Es liegt nahe,
dass damit die Formulierung, die „Dynamik des Anstiegs
der Infrastrukturentgelte“ sei zu begrenzen, bereits rela-
tiviert wird . Sodann: Es heißt ja nur, dass dieser Anstieg
„zu begrenzen“ sei . Es gibt keinerlei Hinweis darauf, wie
genau und wie stark begrenzt werden soll . Das ist doch
die Öffnung eines Scheunentors: für massive Erhöhun-
gen dieser Entgelte .
Ich darf Sie darauf hinweisen, dass sich die Infra-
strukturnutzungsentgelte in den letzten eineinhalb Jahr-
zehnten mehr als doppelt so stark erhöht haben wie die
Inflationsrate. Es waren doch diese massiv angestiege-
nen Trassen- und Bahnhofsnutzungsmautgebühren, die
in vielen Ländern die Möglichkeiten zur Bestellung von
Schienenpersonennahverkehr einengten und gleichzei-
tig den Druck auf die weichen Faktoren im SPNV, nicht
zuletzt auf die Arbeitseinkommen der Beschäftigten und
auf die Sozialstandards im SPNF-Bereich krass erhöh-
ten . Obgleich all dies bekannt ist und obgleich wir in der
Praxis erlebt haben, wie negativ sich diese massiv an-
steigenden Infrastrukturnutzungsentgelte auf den SPNV
auswirkten, wird auch in diesem neuen Gesetz zur Än-
derung des Regionalisierungsgesetzes dem kein Riegel
vorgeschoben . Ja, man sagt sehenden Auges, dass das bis
2031 so weiterlaufen könne . Wenn man als Gesetzgeber
so etwas zulässt, dann wird die Deutsche Bahn AG als
die Muttergesellschaft von DB Netz, von DB Station und
Service und von der DB Energie GmbH dieses großzügi-
ge Angebot weidlich nutzen und erneut die Spirale deut-
lich gesteigerter Mauten in diesen Bereichen betreiben .
Mein drittes Aber bezieht sich auf die pauschale „Se-
ligsprechung“, die man im Begründungsteil des Gesetz-
entwurfs lesen kann . Dort heißt es: „Das Gesetzesvor-
haben trägt zu einer nachhaltigen Entwicklung bei und
ist umfassend mit der Nachhaltigkeitsstrategie der Bun-
desregierung vereinbar .“ Es bewirke, „dass die Schiene
insgesamt gestärkt … wird“ . Dazu sage ich klipp und
klar: Herr Dobrindt, werte Kolleginnen und Kollegen
von CDU/CSU und SPD: Genau dies wird nicht eintre-
ten . Es gibt, wie dargelegt, die Möglichkeit einer deutlich
höher als 1,8 Prozent im Jahr liegenden Inflationsrate. Es
gibt sodann, wie ebenfalls dargelegt, dieses von den An-
tragstellern bewusst in den Gesetzestext hineingebaute
Scheunentor, wonach sich insbesondere die Entgelte für
die Nutzung der Infrastruktur so schnell und derart stark
erhöhen können, dass sie das Wachstum der Regionali-
sierungsmittel mehr als wegfressen .
Schließlich heißt es im Gesetzentwurf ausdrücklich,
dass der Anstieg der genannten Entgelte „insbesondere
… im Schienenpersonennahverkehr“ begrenzt werden
müsse . Das heißt, dass diese Entgelte im besonderen
Maß in den Bereichen Schienenpersonenfernverkehr und
möglicherweise auch im Segment des Schienengüterver-
kehrs stärker als im Schienenpersonennahverkehr steigen
können und wohl steigen werden .
Bedenken wir hier, wie kritisch die Situation gerade
in diesen beiden Bereichen ist . Gerade hat die Deutsche
Bahn AG gegen die heftigen Proteste von sehr vielen
beschlossen, den Nachtreisezugverkehr am 11 . Dezem-
ber 2016 komplett einzustellen . Dabei spielte bereits
eine große Rolle, dass die viel zu hohen Entgelte für die
Trassennutzung dieses Schienenverkehrssegment enorm
belastete . Der klassische Schienenpersonenfernverkehr
befindet sich aufgrund der Erfolge der Fernbusverkehre
generell in einer extrem kritischen Lage . Worauf beruht
dieser Erfolg der Linienbusverkehre? Doch eben zu ei-
nem erheblichen Teil auf der Tatsache, dass diese keiner-
lei Maut für die Nutzung der Straßen zu entrichten haben .
Im Schienengüterverkehr ist die Lage ebenfalls extrem
kritisch; die Deutsche Bahn AG hat beschlossen, einen
größeren Teil der Güterbahnhöfe nicht mehr anzufahren,
was zu einer weiteren Einschränkung des Schienengüter-
verkehrs führen wird .
All das zusammen heißt ganz eindeutig: Die Schie-
ne wird in Gänze durch dieses Gesetz nicht gestärkt . Die
Bundesregierung verstreicht mit dem Gesetz etwas wei-
ße Salbe . Insgesamt kann ich nicht erkennen, dass damit
eine Politik der Nachhaltigkeit betrieben und damit end-
lich eine Verkehrswende eingeleitet werden .
Stephan Kühn (Dresden) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Das zähe Ringen um die Finanzierung des Nah-
verkehrs auf der Schiene findet mit dem vorliegenden
Entwurf zur Änderung des Regionalisierungsgesetzes ein
Ende . Endlich, ist man geneigt zu sagen . Vorangegangen
ist ein in Teilen unwürdiges Gezerre zwischen Bund und
Ländern; man hat gestritten wie die Kesselflicker. Aber
immerhin: Der Einsatz für einen besseren Nahverkehr
hat sich gelohnt . Es ist vor allem der Hartnäckigkeit der
Länder zu verdanken, dass der Nahverkehr auf der Schie-
ne jetzt nicht nur im Status quo gesichert ist, sondern vor
allem in den Ländern mit wachsenden Ballungsräumen
auch weiter ausgebaut werden kann . Bei Bundesver-
kehrsminister Dobrindt hatte man lange Zeit den Ein-
druck, dass ihn das Thema nicht interessiert und er die
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 196 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 20 . Oktober 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 196 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 20 . Oktober 2016 19603
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Bedeutung der Mittel für einen attraktiven Nahverkehr
nicht richtig einschätzt . Nur zur Erinnerung: Wir reden
über die dem Volumen nach wichtigste Säule der deut-
schen Nahverkehrsfinanzierung.
Ich will in diesem Zusammenhang auch betonen, dass
die Regionalisierung des Nahverkehrs auf der Schiene
zu einer verkehrspolitischen Erfolgsgeschichte unseres
Landes zählt . Wir Grüne wollen, dass diese Geschichte
fortgeführt werden kann . Dazu brauchen wir neben einer
auskömmlichen Finanzierung in anderen Bereichen noch
die richtigen Weichenstellungen . Wir alle wissen: Das
System Eisenbahn wird vom Fahrgast als Gesamtsystem
wahrgenommen . Nahverkehr und Fernverkehr müssen
ein eng verzahntes und abgestimmtes attraktives Sys-
tem bilden . Es interessiert den Fahrgast nicht, welcher
Aufgabenträger oder welches Verkehrsunternehmen für
einen Zug die Verantwortung trägt . Bahnreisende wollen
schnell und bequem von A nach B, und das möglichst zu
günstigen Preisen .
Im Kontrast zu der Entwicklung des SPNV steht aber
leider die Entwicklung des Fernverkehrs abseits der Bal-
lungsgebiete und Fernverkehrsmagistralen . Wir erleben
seit Ende der 90er-Jahre einen Rückzug des Fernverkehrs
aus der Fläche . Ganze Regionen und zahlreiche Groß-
städte hat die Deutsche Bahn vollständig abgehängt,
oder sie hat das Angebot drastisch reduziert . Die dadurch
gerissenen Lücken im Angebot haben die Ländern bzw .
Aufgabenträger durch Bestellung von Nahverkehrszügen
geschlossen, soweit dies finanziell zu stemmen war. Wir
reden hier – vor allem in Ostdeutschland – also von Fern-
verkehrsersatzleistungen .
Im Sinne der Bahnreform von 1993 war die Verwen-
dung von Regionalisierungsmitteln dafür eigentlich nicht
vorgesehen . Fernverkehr sollte eigenwirtschaftlich or-
ganisiert werden . Mehr als 20 Jahre später lehrt uns die
Entwicklung etwas anderes: Wir brauchen einen neuen
Rahmen, wie wir ein Zielnetz im Fernverkehr absichern,
das die wichtigsten Großstädte und Regionen im Takt
anbindet . Die sogenannte Fernverkehrsoffensive der
Deutschen Bahn ist ein erster richtiger Schritt; aber bis-
her ist zweifelhaft, ob diese Planungen am langen Ende
wirklich umgesetzt werden . Der Bund nimmt bisher
jedenfalls keinen Einfluss auf die Gestaltung des Fern-
verkehrsnetzes . Das muss sich aus unserer Sicht ändern .
Wir müssen über neue Lösungen reden . Die bisher nur in
Fachkreisen diskutierte Senkung der Trassenpreise kann
Teil einer möglichen Lösung sein . Denn dann würde die
Wirtschaftlichkeit zahlreicher eingestellter Verbindun-
gen und heutiger RE-Verkehre in einem anderen Licht
erscheinen .
Lassen Sie mich auch noch etwas zur Infrastruk-
tur sagen . Gute Angebote auf der Schiene brauchen gut
ausgebaute Strecken und Knoten . Der Ausbau der Infra-
struktur ist ja derzeit durch die Beratungen zum Bundes-
verkehrswegeplan 2030 in aller Munde . Was aus unserer
Sicht bisher zu kurz kommt, ist die weitere Elektrifizie-
rung des Eisenbahnnetzes . Sicher haben es auch einige
Elektrifizierungsvorhaben in den Vordringlichen Bedarf
geschafft . Wir müssen aber allein aus klima- und ener-
giepolitischen Gründen den Elektrifizierungsgrad des
Schienennetzes, der heute bei 60 Prozent liegt, erhöhen .
So hat es die Verkehrsministerkonferenz Anfang des Mo-
nats auch gefordert . Natürlich sind bei diesen in Rede
stehenden Strecken auch die Länder gefordert, ihren Teil
zu den Investitionen beizutragen . Die Regionalisierungs-
mittel erlauben solche Investitionen in die Infrastruktur .
Neben den positiven Umwelteffekten von elektrifizierten
Strecken wird infrastrukturseitig so eine Voraussetzung
für die Wiederanbindung im Fernverkehr geschaffen .
Enak Ferlemann, Parl . Staatssekretär beim Bundes-
minister für Verkehr und digitale Infrastruktur: Mit dem
Entwurf eines Gesetzes zur Vierten Änderung des Regio-
nalisierungsgesetzes wird nun der noch ausstehende Teil
der Einigung zwischen Bund und Ländern vorgelegt .
Ich darf an die Situation im Herbst des vergangenen
Jahres erinnern: Fast ein Jahr hatten Bund und Länder
um eine Einigung beim Thema Regionalisierung gerun-
gen, bevor sich die Vertreter von Bundestag und Bundes-
rat im Vermittlungsausschuss einigten: Für das Jahr 2015
stiegen die Regionalisierungsmittel um 1,5 Prozent auf
dann rund 7,4 Milliarden Euro . Horizontal wurden diese
Mittel nach dem bisher gültigen Verteilerschlüssel des
alten Regionalisierungsgesetzes verteilt . Ab 2016 stellte
der Bund den Ländern dann 8 Milliarden Euro zur Verfü-
gung, die dann ab 2017 und bis einschließlich 2031 um
jährlich um 1,8 Prozent dynamisiert werden .
Keine Einigung gab es jedoch bezüglich der horizon-
talen Verteilung der Mittel unter den Ländern ab 2016, da
kein gemeinsames Verständnis über den von den Ländern
entwickelten „Kieler Schlüssel“ erzielt werden konnte .
Um das Vermittlungsverfahren mit seinen übrigen Bau-
steinen dennoch abschließen zu können, wurde die Eini-
gung über die horizontale Verteilung der Mittel vertagt,
wobei der Bund gemeinsam mit den Ländern unverzüg-
lich eine Rechtsverordnung erarbeiten sollte .
Die Diskussion unter den Ländern wurde dadurch
noch einmal befeuert . Es gelang erst am 16 . Juni 2016
in einer Besprechung der Bundeskanzlerin mit den Re-
gierungschefinnen und Regierungschefs der Länder,
eine Lösung zu finden: Dies geschah, indem der „Kieler
Schlüssel“ als Maßstab der Verteilung für die 8,0 Milli-
arden Euro akzeptiert und gleichzeitig die Mittel ab 2016
noch einmal um 200 Millionen Euro erhöht wurden,
um damit die Nachteile der ostdeutschen Bundesländer
und des Saarlandes auszugleichen . Berlin, Brandenburg,
Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Sachsen,
Thüringen und das Saarland hätten sonst gegenüber
der ursprünglichen Verteilung unverhältnismäßig hohe
Verluste hinnehmen müssen . Selbstverständlich werden
auch die zusätzlichen Regionalisierungsmittel jährlich
mit 1,8 Prozent dynamisiert .
In Übereinstimmung mit dem Beschluss bei der Be-
sprechung der Bundeskanzlerin mit den Regierungs-
chefinnen und Regierungschefs der Länder haben die
betroffenen Bundesländer dem BMVI dann den Vertei-
lungsschlüssel für die zusätzliche Summe von 200 Milli-
onen Euro mitgeteilt . Erst dann lagen in unserem Hause
alle notwendigen Informationen vor, um einen neuen Ge-
setzentwurf zu erarbeiten und im Ressortkreis abzustim-
men . Mit dem Gesetzentwurf werden nun rückwirkend
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 196 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 20 . Oktober 201619604
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zum 1 . Januar 2016 und bis einschließlich 2031 die Höhe
und die horizontale Verteilung der Regionalisierungsmit-
tel geregelt .
Im Rahmen der Länder- und Verbändeanhörung zum
Referentenentwurf haben uns verschiedene Stellung-
nahmen der Länder erreicht, die auf eine Überarbeitung
und Konkretisierung des Verwendungsnachweises – jetzt
Anlage 3 des Gesetzentwurfes – zielten . Auch für mein
Haus ist es von Bedeutung, dass der Nachweis über die
Verwendung der Mittel transparent, aber gleichzeitig mit
so geringem Aufwand wie möglich erfolgen kann . Wir
haben daher diese Hinweise aufgenommen und den Ver-
wendungsnachweis redaktionell angepasst .
Es wurden mit diesem Gesetzentwurf jedoch keine
inhaltlichen Anpassungen des Verwendungsnachweises
vorgenommen . Im Gegenteil: Es sind nur die Daten und
Informationen zu den Verkehrsverträgen angefordert, auf
die sich der Vermittlungsausschuss geeinigt hatte und
die bereits in der vorangegangenen Gesetzesnovelle von
Bundestag und Bundesrat beschlossen wurden .
Zum weiteren Verfahren möchte ich ergänzen: Wir
haben diesen Gesetzentwurf als besonders eilbedürftig
im Sinne von Artikel 76 Absatz 2 Satz 4 GG deklariert,
um die Fristen im Gesetzgebungsverfahren verkürzen zu
können . Dies ist entscheidend, damit wir noch in diesem
Jahr das neue Regionalisierungsgesetz verkünden kön-
nen . Erst dann ist die gesetzliche Grundlage vorhanden,
um die entsprechenden Auszahlungen an die Länder vor-
nehmen können, was bisher nur unter Vorbehalt gesche-
hen ist . Auch diese Auszahlungen sollten noch im laufen-
den Jahr 2016 zugunsten der Länder erfolgen .
Ich hoffe daher auf Ihre Unterstützung und zähle auch
auf die Unterstützung der Länderkollegen, damit wir die-
ses Vorhaben nun zügig abschließen können . Es ist gutes
Gesetz für den Nahverkehr in Deutschland .
Anlage 10
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung
der Bekämpfung der Schwarzarbeit und illegalen
Beschäftigung (Tagesordnungspunkt 24)
Uwe Feiler (CDU/CSU): Die Schwarzarbeit ist so alt
wie die Steuer oder die Sozialversicherung selbst . Schon
immer gab es neben den vielen ehrlichen Steuerzahlen
vermeintlich Findige, die sich auf Kosten der Gemein-
schaft bereichern wollten. Sei es aus finanzieller Not oder
reinem Profitstreben – Schwarzarbeit ist keine Bagatelle,
sondern schädigt uns alle, oft aber auch diejenigen, die
in diesen illegalen Beschäftigungsverhältnissen arbeiten .
Sie sind nicht renten-, kranken- und unfallversichert und
entziehen den öffentlichen Haushalten und Sozialversi-
cherungsträgern wichtige Einnahmen . Weiterhin verzerrt
Schwarzarbeit den Wettbewerb, indem durch den Betrug
Vorteile gegenüber den rechtschaffenden Unternehmen
erschlichen werden .
Die Finanzkontrolle Schwarzarbeit der Zollverwal-
tung des Bundes hat in den vergangenen Jahren große
Fortschritte bei der Bekämpfung der illegalen Beschäfti-
gung erzielt . Dennoch sind weitere gesetzliche Regelun-
gen notwendig, um der kriminellen Energie noch wirk-
samer entgegentreten zu können, Schnittstellenprobleme
zu minimieren und durch eine leistungsfähige IT-Infra-
struktur die Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehörden
bei ihrer wichtigen Arbeit zu unterstützen . Der vorliegen-
de Gesetzentwurf knüpft dabei an drei Punkten an .
Erstens . Durch die Novellierung des Schwarzarbeits-
bekämpfungsgesetzes wollen wir ein neues IT-Verfahren
einführen, das erstmals mit einer einheitlichen Datenbank
ein zentrales Informationssystem darstellt . Außerdem
wollen wir den Landesbehörden eigene Prüfungsbefug-
nisse einräumen, damit sie ihre Aufgaben nach den hand-
werks- und gewerberechtlichen Bestimmungen besser
wahrnehmen können . Das beinhaltet auch, gemäß § 21
Absatz 1 des Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetzes, Be-
triebe nicht mehr nur von der Vergabe öffentlicher Bau-
aufträge auszuschließen, sondern auch von Liefer- und
Dienstleistungsaufträgen, da Schwarzarbeit zwar häufig
im Baugewerbe anzutreffen ist, aber auch die Dienstleis-
tungsbranche nicht frei davon ist .
Zweitens . Wir stärken die Zollverwaltung, indem wir
ihr über die Ahndung von Meldeverstößen hinaus auch
die Verfolgung von Tatbeständen zuweisen, die bisher
von der Einzugsstelle gemäß § 112 Absatz 1 Nummer 4
des SGB IV wahrgenommen wurden . Damit führen wir
beim Zoll sowohl das Prüfungs- als auch das Ermitt-
lungsverfahren zusammen .
Drittens . Mit einer Änderung des Straßenverkehrs-
gesetzes erhält auch die Finanzkontrolle Schwarzarbeit
Zugriff auf den automatisierten Zugriff von Fahrzeug-
und Halterdaten von Kraftfahrzeugen . Schon jetzt fragt
der Zoll zum Abgleich von melde- und sozialversiche-
rungsrechtlichen Angaben beim Kraftfahrt-Bundesamt
Informationen ab . Bisher musste jede Anfrage manuell
bearbeitet werden, was sich in der Praxis als langsam und
fehleranfällig erwies . Der automatische Austausch wird
die Arbeit für beide Seiten stark vereinfachen .
Offen gezeigt hat sich die Bundesregierung unter an-
derem auch für Anregungen des Bundesrats, auch das
Personenbeförderungsgewerbe mit zu erfassen und die
nach Landesrecht zuständigen Behörden in den Kreis der
Kooperationsbehörden mit aufzunehmen . Diesen Vor-
schlag unterstütze ich ausdrücklich .
Mit diesem Gesetz stärken wir den Zoll in seinem
Bemühen, Schwarzarbeit zu bekämpfen, Steuer- und
Sozialversicherungsbetrug zu bekämpfen und den Infor-
mationsaustausch zwischen den beteiligten Bundes- und
Landesbehörden auszubauen .
Ingrid Arndt-Brauer (SPD): Schwarzarbeit ist un-
sozial: Dem Staat werden Steuern und Sozialabgaben
vorenthalten, und gesetzestreue Unternehmen können im
Wettbewerb gegen die illegal handelnden Anbieter, die
oft erheblich günstigere Angebote abgeben, nicht beste-
hen und werden so in ihrer Existenz bedroht . Dies führt
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 196 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 20 . Oktober 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 196 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 20 . Oktober 2016 19605
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zum Verlust von legalen Arbeitsplätzen und verhindert
die Schaffung neuer legaler Arbeitsplätze .
Zusätzlich schädigen illegale Beschäftigungsverhält-
nisse rechtstreue Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die
mit ihren Sozialversicherungsbeiträgen die entstehen-
den Ausfälle ausgleichen müssen . Die Bekämpfung der
Schwarzarbeit ist daher ein zentrales Anliegen der Bun-
desregierung, das wir im Koalitionsvertrag festgelegt
haben .
Das jetzt vorgelegte Gesetz zur Stärkung der Bekämp-
fung der Schwarzarbeit und illegalen Beschäftigung
verbessert die rechtlichen Rahmenbedingungen für die
Prüfungs- und Ermittlungstätigkeiten der Finanzkontrol-
le Schwarzarbeit und der zuständigen Landesbehörden
und schafft die Voraussetzungen für die Optimierung
der informationstechnologischen Ausstattung der Fi-
nanzkontrolle . Es stellt somit einen weiteren Baustein
des wichtigen Zieles dar, die Rahmenbedingungen zur
Schwarzarbeitsbekämpfung zu verbessern .
Eine wesentliche Neuregelung ist die Schaffung eines
neuen zentralen Informationssystems, das die bislang
verwendete Zentrale Datenbank ersetzen soll . Vorgangs-
bearbeitung und -verwaltung durch die Zollverwaltung
sollen sich dadurch effizienter gestalten, und Informati-
onen sollen sich besser verknüpfen lassen können . Dem
Zoll soll es künftig möglich sein, mithilfe der neuen Da-
tenbank vor Ort rascher Abfragen und Analysen durch-
zuführen . Die neue Datenbank ermöglicht zum Beispiel
auch einen Zugriff auf Berichte und Statistiken zu Ver-
stößen gegen das Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz .
Der Zoll kann so effektiver reagieren . Die bessere Da-
tenstruktur dient dem Ziel, die Erfolgsaussichten der Er-
mittlungstätigkeiten der Finanzkontrolle Schwarzarbeit
zu erhöhen .
Der Gesetzentwurf weitet zudem die Verfolgungszu-
ständigkeit der Zollverwaltungsbehörden aus, und zwar
auf die Fälle, in denen die Zollbehörden bei einem Prü-
fungs- und Ermittlungsverfahrens Ordnungswidrigkeiten
festgestellt haben . Verstöße gegen das Schwarzarbeitsge-
setz mit Bußgeldern können künftig durch die Behörden
der Zollverwaltung im Ordnungswidrigkeitsverfahren
selbst verfolgt werden . Das trägt wesentlich zur Verfah-
rensvereinfachung bei, da auf diese Weise die von den
Kontrolleuren der Finanzkontrolle Schwarzarbeit festge-
stellten Meldeverstöße bei der Zollverwaltung gebündelt
und der Verwaltungsaufwand damit reduziert werden
kann .
Der Bundesrat hat in seiner Stellungahme Ergänzun-
gen vorgeschlagen . Die nach Landesrecht zuständigen
Behörden sollen beim Personenbeförderungsgewerbe
stärker in die Zusammenarbeit mit den Zollverwaltungen
eingebunden werden . Das halte ich für absolut richtig,
denn Taxi-, Miet- und Ausflugsverkehrsgewerbe sind be-
sonders von Schwarzarbeit betroffen . Künftig soll es den
zuständigen Landesbehörden zudem möglich sein, Ord-
nungswidrigkeiten, die in ihren Geschäftsbereich fallen,
also die Bekämpfung der Handwerks- und der gewerb-
lichen Schwarzarbeit, zu ahnden . Die Bundesregierung
stimmte den Anregungen der Länder zu . Ein weiteres
Anliegen der Länderkammer, nämlich die Möglichkeit
einer automatisierten Abrufmöglichkeit für Daten aus
dem Zentralen Fahrzeugregister, wird derzeit noch ge-
prüft .
Der Zentralverband des Deutschen Handwerks, ZDH,
der Zentralverband Deutsches Baugewerbe, ZDB, der
Deutsche Gewerkschaftsbund, DGB, der Deutsche Be-
amtenbund, dbb, der Bund der Deutschen Zollbeamten,
BDZ, sowie der Deutsche Städtetag und der Deutsche
Landkreistag haben die Regelungen des Gesetzesent-
wurfs überwiegend begrüßt .
Auf Wunsch des BMF soll zudem eine Befreiung bei
der Kraftfahrzeugsteuer klarstellend in das Gesetz mit
aufgenommen werden . Die Befreiung beruht auf einer
EU-Richtlinie aus dem Jahr 1983 – 1983! –, die der Ver-
meidung der Doppelbesteuerung in mehreren EU-Mit-
gliedstaaten dient . Diese wurde bei uns bisher nur durch
Verwaltungsvorschriften, etwa durch Erlasse, berück-
sichtigt .
Die Befreiung betrifft die vorübergehende Nutzung
von Personenfahrzeugen im Inland durch Privatpersonen
aus anderen EU-Mitgliedstaaten . Diese sind in bestimm-
ten Fällen steuerbefreit, zum Beispiel bei befristeter be-
ruflicher Nutzung oder durch Studenten und dauerhaft
bei Berufspendlern . Die EU-Kommission hat deswegen
ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland an-
gekündigt . Mit der rein technischen klarstellenden An-
passung des Kraftfahrzeugsteuergesetzes wird das Ver-
tragsverletzungsverfahren verhindert werden .
Insgesamt besteht in nahezu allen Regelungsbereichen
des Gesetzentwurfes bereits Konsens zwischen Bund
und Ländern . Daher bin ich optimistisch, dass wir die
Beratungen des Gesetzentwurfes in den Parlamentsgre-
mien in den nächsten Wochen ohne Verzögerung rasch
abschließen können .
Richard Pitterle (DIE LINKE): Für das Jahr 2016
gehen Schätzungen davon aus, dass Schwarzarbeit im
Wert von 336 Milliarden Euro in Deutschland erbracht
wird . Das entspricht ungefähr 70 Milliarden Euro Ein-
nahmeausfällen des Staates bei Steuern und Sozialversi-
cherung . Mit Fug und Recht muss man sagen: Schwarz-
arbeit ist kein Kavaliersdelikt, sondern Kriminalität, die
allen schadet . Nun ist das aber kein neues Phänomen . So
beraten wir heute einen Gesetzentwurf mit dem ambi-
tionierten Ziel, die Bekämpfung der Schwarzarbeit und
illegalen Beschäftigung zu stärken .
Zweifellos ist das dringend nötig . Vor 14 Jahren betrug
das Volumen der Schwarzarbeit 350 Milliarden Euro .
Das ist nur scheinbar mehr als heute . Aber Schwarzarbei-
ter führen keine Bücher, sodass nur der Befund bleibt: Es
hat sich nichts geändert . Schlimmer noch: Das derzeitige
Vorgehen gegen Schwarzarbeit entpuppt sich als voll-
kommen ineffektiv . Nach der amtlichen Statistik für das
Jahr 2015 der Zollverwaltung, die für die Bekämpfung
zuständig ist, wurden 130 000 Ermittlungsverfahren ein-
geleitet, 43 000 Arbeitgeber geprüft, 360 000 Befragun-
gen durchgeführt und eine Schadenssumme von knapp
1 Milliarden Euro aufgedeckt . Das klingt nach viel, ent-
spricht aber nur einer Aufklärungsquote im unteren ein-
stelligen Prozentbereich . Dieser Befund ist erschütternd .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 196 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 20 . Oktober 201619606
(A) (C)
(B) (D)
Das von SPD und Grünen 2004 vollmundig auf den
Weg gebrachte reformierte Gesetz zur Bekämpfung der
Schwarzarbeit und illegalen Beschäftigung kann nur als
gescheitert betrachtet werden . Der vorliegende Entwurf
wird daran nichts ändern .
Natürlich begrüßen wir, dass Sie das Gesetz um in der
Praxis irrelevante Ordnungswidrigkeiten und Strafnor-
men bereinigen . Aber das machen Sie nicht konsequent .
Ob Gewerbeordnung, Handwerksordnung oder Mindest-
lohngesetz, all diese Gesetze enthalten bereits Ordnungs-
widrigkeiten und Strafnormen, die nicht wiederholt wer-
den müssen .
Natürlich beglückwünschen wir Sie auch zu der Er-
kenntnis eines Jurastudenten im zweiten Semester, dass
im Verwaltungsrecht Aufgabennorm nicht gleichbedeu-
tend mit Befugnisnorm ist, wenn Sie mit dem vorliegen-
den Entwurf nun nach zwölf Jahren endlich den adres-
sierten Ordnungsbehörden auch Rechte zur Erfüllung
ihrer gesetzlichen Aufgaben einräumen . Natürlich sind
wir beeindruckt, dass Sie es nach mehr als einem halben
Jahr schon schaffen, eine Änderung des Gesetzes gegen
Wettbewerbsbeschränkungen auch in diesem Gesetz
nachzuvollziehen . Den Rechtsanwender freut es; denn
nun verweist § 21 des Schwarzarbeitsbekämpfungsgeset-
zes bald nicht mehr ins rechtliche Nirvana .
Wie so oft in der Regierungszeit der großen Koalition
aus SPD und CDU/CSU ist auch hier bereits der Titel
nur eine Mogelpackung . Er soll darüber hinwegtäuschen,
dass es sich nur um einen Minimalkonsens ohne ernst-
haften Regelungsgehalt für einen weiteren Haken im
Koalitionsvertrag handelt . Der weitaus größte Teil der
Schwarzarbeit wird in Form organisierter Kriminalität
und rund um das Baugewerbe geleistet . Vor diesem Hin-
tergrund war schon der Ansatz des Gesetzgebers 2004
vollkommen falsch, mit „Öffentlichkeitsarbeit“ und der
Schaffung eines „Unrechtsbewusstseins in der Bevölke-
rung“ Schwarzarbeit bekämpfen zu wollen .
Der organisierten Kriminalität sind Ihre Öffentlich-
keitsarbeit und das Unrechtsbewusstsein der allgemeinen
Bevölkerung völlig schnuppe, wie nicht zuletzt die Zah-
len belegen. Solange Sie aber die hochqualifizierten Be-
amten des Zolls vergessene Gewerbeanmeldungen und
verpennte Reisegewerbekarten prüfen lassen, solange der
Häuslebauer mit seinem Handwerker ohne Meisterbrief
im Fokus der Ermittlungen steht und als „Schwarzarbei-
ter“ genauso behandelt und kriminalisiert wird wie Men-
schenhändler und Sklavenhalter auf Großbaustellen, ist
der Kampf gegen Schwarzarbeit verloren . Nur wenn die
begrenzten personellen und sachlichen Ressourcen mit
Blick auf das organisierte Verbrechen gebündelt werden,
wird sich auch ein Erfolg im Kampf gegen die Schwarz-
arbeit einstellen . Dafür ist aber Ihr Gesetzentwurf völlig
ungeeignet .
Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Be-
kämpfung der Schwarzarbeit ist ein besonders wichtiges
Anliegen; denn Schwarzarbeit stellt in unserer Gesell-
schaft ein großes Problem dar . Sie schadet der Volks-
wirtschaft und der Allgemeinheit: unter anderem durch
Steuerhinterziehung und Beitragsausfälle bei den So-
zialversicherungen . Der Gesetzentwurf weist zu Recht
auf die Wettbewerbsverzerrungen hin, die durch unred-
liche Arbeitgeber ausgelöst werden, also durch Arbeit-
geber, die keine Steuern und Sozialversicherungen auf
den Lohn ihrer Mitarbeiter abführen . Mit den so entste-
henden Dumping-Löhnen können ehrliche Arbeitgeber
kaum mithalten . Schwarzarbeit vernichtet ehrliche Jobs
bzw . lässt sie gar nicht erst entstehen . Das Ziel des vorlie-
genden Gesetzentwurfs unterstützen wir daher uneinge-
schränkt . Die wichtige Arbeit des Zolls, neben dem, dass
er im Übrigen im Jahr 2015 mit fast 133 Milliarden Euro
rund die Hälfte der Steuern des Bundes eingenommen
hat, wird hoffentlich dadurch weiter verbessert .
Bei meinem Besuch bei der Finanzkontrolle Schwarz-
arbeit in Berlin im vergangenen Jahr konnte ich mir per-
sönlich ein Bild von der Arbeit der Beamten machen .
Ich konnte sie direkt vor Ort bei einem Einsatz auf einer
Großbaustelle begleiten . Beeindruckt war ich von dem
effektiven und organisierten Vorgehen . Was ich aber auch
mitgenommen habe, ist, dass ein Abgleich von Daten in
Verdachtsfällen derzeit noch Schwierigkeiten bereitet .
Das Anliegen des Gesetzentwurfs, die IT-Ausstattung
zu verbessern, um einen reibungslosen und vor allem
zeitsparenden Einsatz zu ermöglichen, halte ich eben-
falls für notwendig . Nach meinem Kenntnisstand erfolgt
derzeit zum Beispiel eine Abfrage beim Kraftfahrt-Bun-
desamt zu Autohaltern noch per Faxgerät . Zeitnahe Er-
gebnisse sind so selbstverständlich nicht zu erwarten . Ein
automatisiertes Abrufverfahren beim Kraftfahrt-Bundes-
amt ist richtig . Es kann zu einer Zeitersparnis führen, die
die Arbeit der Beamten entscheidend effektiviert .
Im Zusammenhang mit dem angekündigten Aufbau
eines einheitlichen Datenbanksystems und der Imple-
mentierung eines neuen IT-Systems werden wir Grüne
selbstverständlich besonderen Wert auf den Datenschutz
legen . Auch bei der Finanzkontrolle Schwarzarbeit ist es
wichtiger, die richtigen Daten zu sammeln und sinnvoll
auszuwerten, als möglichst viele Daten zu erheben .
Die Arbeit der Finanzkontrolle Schwarzarbeit würde
aber außer von diesem Gesetz auch entscheidend davon
profitieren, wenn Bundesfinanzministerium und CDU/
CSU endlich ihren Widerstand gegen die technikneutrale
Zulassung von manipulationssicheren Registrierkassen
aufgeben würden . Das laufende Gesetzesverfahren dazu
droht aus unserer Sicht zur Farce zu verkommen . Dabei
ist klar: Viel Arbeit bliebe der Finanzkontrolle erspart,
viel Unterstützung würden die neuen Belege bei der Ver-
folgung von Schwarzarbeit bedeuten .
Außerdem werden die vorhergesagten positiven Wir-
kungen des vorliegenden Gesetzentwurfs sicher verpuf-
fen, wenn die Personalausstattung der Finanzkontrolle
Schwarzarbeit nicht angepasst wird . Wie wir wissen, ist
zur Überwachung der branchenspezifischen Mindestlöh-
ne ab 2015 die Überprüfung der flächendeckenden ge-
setzlichen Mindestlöhne dazugekommen – eine giganti-
sche Aufgabe .
Aber die Personalbesetzung und -planung passt nicht
dazu . Von 6 865 Planstellen sind 545 derzeit nicht be-
setzt . Zählt man die Mitarbeiter hinzu, die an andere Be-
hörden ausgeliehen waren, so fehlen heute schon über
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 196 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 20 . Oktober 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 196 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 20 . Oktober 2016 19607
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700 Beamte . Von den 1 600 neuen Stellen zur Überwa-
chung der Mindestlöhne ist nach unserer Kenntnis bis
heute keine einzige besetzt . Diese neuen Stellen sollen
erst ab 2017 zur Verfügung gestellt werden . Realistisch
geschätzt kann mit etwa 160 Neueinstellungen pro Jahr
gerechnet werden . Das ist zu wenig, um die Überlastung
der FKS abzumildern . Wenn der Gesetzentwurf jetzt
noch behauptet, dass etwaiger Mehrbedarf an Perso-
nalmitteln innerhalb der vorhandenen Kapazitäten auf-
gefangen werden kann, dann sage ich Ihnen: Das kann
und wird nicht funktionieren . Hier müssen Sie dringend
nachbessern, und zwar sowohl bei den Stellen als auch
bei den Ausbildungskapazitäten .
Dr. Michael Meister, Parl . Staatssekretär beim
Bundesminister der Finanzen: Die Bekämpfung der
Schwarzarbeit und der illegalen Beschäftigung war
und ist eine wichtige gesamtgesellschaftliche Aufgabe .
Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung vernichten
dauerhaft legale Arbeitsplätze, erhöhen damit die Ar-
beitslosigkeit und bringen den Staat um Steuern und die
Sozialversicherungen um Beiträge . Für die Bekämpfung
von Schwarzarbeit und illegaler Beschäftigung ist in
Deutschland im Wesentlichen – aber nicht nur – die Fi-
nanzkontrolle Schwarzarbeit der Bundeszollverwaltung
zuständig . Grundlage für ihre Tätigkeit ist das Schwarz-
arbeitsbekämpfungsgesetz .
Im Koalitionsvertrag für diese Legislaturperiode
wurde vereinbart, zur Verbesserung der Bekämpfung
des Sozialversicherungsbetrugs, der Schwarzarbeit und
der illegalen Beschäftigung die rechtlichen Rahmenbe-
dingungen im Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz und
in der Gewerbeordnung sowie die personelle und in-
formationstechnologische Ausstattung der Finanzkon-
trolle Schwarzarbeit zu verbessern und wirkungsvoller
auszugestalten . Als ein erster Baustein zur Umsetzung
dieses Auftrages wurden im Jahr 2014 zum Beispiel die
Gewerbeämter als Zusammenarbeitsbehörden der Fi-
nanzkontrolle Schwarzarbeit in das Schwarzarbeitsbe-
kämpfungsgesetz aufgenommen . Zeitgleich wurde in der
Gewerbeanzeigeverordnung eine Regelung eingeführt,
die eine effektivere Bekämpfung der Scheinselbststän-
digkeit ermöglicht . Die Gewerbebehörden sind nun be-
fugt, etwaige Anhaltspunkte auf Scheinselbstständigkeit
oder sonstige Erkenntnisse auf Schwarzarbeit an den Zoll
zu übermitteln .
Seit dem 1 . Januar 2015 gilt der allgemeine gesetzli-
che Mindestlohn . Die Überprüfung der Einhaltung dieser
Pflicht ist der Finanzkontrolle Schwarzarbeit übertragen
worden . Vor dem Hintergrund dieses Aufgabenzuwach-
ses sind der Zollverwaltung in einem zweiten Baustein
im Bundeshaushalt 2015 insgesamt 1 600 zusätzliche
Planstellen zuerkannt worden, die in den Haushaltsjahren
2017 bis 2022 zur Verfügung gestellt werden . Die per-
sonelle Ausstattung der Finanzkontrolle Schwarzarbeit
wird damit an den Aufgabenzuwachs angepasst .
Im Zusammenhang mit der Einführung des gesetzli-
chen Mindestlohns hat die Finanzkontrolle Schwarzar-
beit auch die Schwerpunkte ihrer Tätigkeit neu definiert.
Im Fokus der Aufgabenwahrnehmung steht neben der
Prüfung aller Mindestlohnpflichten die Verfolgung or-
ganisierter Formen der Schwarzarbeit . Die oftmals kom-
plexen Prüf- und Ermittlungsverfahren erfordern ebenso
wie umfangreiche Mindestlohnprüfungen einen hohen
zeitlichen Aufwand .
Um diesen Weg jetzt konsequent weiterzuverfolgen,
hat der Ihnen vorliegende Gesetzentwurf – nunmehr als
dritter Baustein – mit Änderungen im Schwarzarbeitsbe-
kämpfungsgesetz, aber auch im Vierten Buch Sozialge-
setzbuch und im Straßenverkehrsgesetz die rechtlichen
Rahmenbedingungen zur Bekämpfung von Schwarzar-
beit und illegaler Beschäftigung weiter zu verbessern . Im
Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz müssen vor allem die
rechtlichen Grundlagen für eine zukunftsfähige informa-
tionstechnologische Ausstattung der Zollverwaltung im
Bereich Finanzkontrolle Schwarzarbeit geschaffen wer-
den .
Ein modernes IT-Verfahren, das bei der täglichen
Aufgabenerfüllung den fachlichen und technischen An-
sprüchen und Anforderungen gerecht wird, ist selbstver-
ständlich auch für die Zöllnerinnen und Zöllner der FKS
unerlässlich . Daneben ist es wichtig, auch anderen mit
der Bekämpfung von Schwarzarbeit beauftragten Stellen
wirkungsvollere Instrumente an die Hand zu geben . Ich
sagte es eingangs: Nicht nur die Zollverwaltung ist bei
der Bekämpfung der Schwarzarbeit aktiv .
Durch eine verstärkte Zusammenarbeit mit den in die
Bekämpfung der Schwarzarbeit und illegalen Beschäfti-
gung involvierten anderen Bundes- und vor allem Lan-
des- und Kommunalbehörden erhöht die Finanzkontrolle
Schwarzarbeit bereits seit Jahren den Verfolgungsdruck .
Zudem haben die nach Landesrecht zuständigen Kom-
munalbehörden eigene Aufgaben nach dem Schwarz-
arbeitsbekämpfungsgesetz . Die Bekämpfung der hand-
werks- und gewerberechtlichen Schwarzarbeit fällt in
ihren Zuständigkeitsbereich . Wer Dienst- oder Werkleis-
tungen erbringt und seiner Pflicht zur Anzeige seines Ge-
werbes nicht nachkommt, verrichtet Schwarzarbeit . Wer
ein Handwerk selbstständig betreibt, ohne in die Hand-
werksrolle eingetragen zu sein, verrichtet Schwarzarbeit .
Um auf diesem Gebiet wirkungsvoller agieren zu kön-
nen, erhalten die nach Landesrecht zuständigen Behörden
nunmehr passend zu ihren Aufgaben im Schwarzarbeits-
bekämpfungsgesetz an dieser Stelle eigene Befugnisse .
Zur Überprüfung Gewerbetreibender sind auch sie künf-
tig befugt, Grundstücke zu betreten und dort tätige Perso-
nen zu ihrer Tätigkeit zu befragen .
Flankierend erfolgt eine Änderung des Vierten Buches
Sozialgesetzbuch . Hier wurde ein Wunsch aus der Er-
mittlungspraxis der Finanzkontrolle Schwarzarbeit auf-
gegriffen . So sind die Zöllnerinnen und Zöllner künftig
auch für die Ahndung von sozialversicherungspflichtigen
Meldeverstößen zuständig, wenn die Verstöße erst in ei-
nem bereits laufenden Ermittlungsverfahren aufgedeckt
werden. Dies erhöht die Effizienz des Verwaltungshan-
delns . Bislang mussten diese Verfahren an die Einzugs-
stellen der Krankenkassen zur weiteren Bearbeitung ab-
gegeben werden .
Durch die Änderung des Straßenverkehrsgesetzes
erhält die Finanzkontrolle Schwarzarbeit zudem einen
automatisierten Zugriff auf das Zentrale Fahrzeugregis-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 196 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 20 . Oktober 201619608
(A) (C)
(B) (D)
ter des Kraftfahrt-Bundesamtes . Den Bediensteten der
Finanzkontrolle Schwarzarbeit stehen wichtige Informa-
tionen künftig unmittelbar zur Verfügung . Damit werden
Prüfungen und Ermittlungen besonders in für Schwarz-
arbeit und illegale Beschäftigung anfälligen Branchen
schneller und vor allem zielgerichteter und wirkungsvol-
ler .
Sie sehen, wir haben die Bekämpfung von Schwarz-
arbeit und illegaler Beschäftigung in Deutschland in den
letzten Jahren erfolgreich intensiviert . Ich bin zuversicht-
lich, dass uns dies mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
weiter gelingen wird .
Ich freue mich daher auf die Beratungen in den Fach-
ausschüssen .
Anlage 11
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung der Insolvenzordnung (Tagesordnungs-
punkt 25)
Dr. Heribert Hirte (CDU/CSU): Mit seinem Urteil
vom 9 . Juni 2016, Aktenzeichen IX ZR 314/14, mag der
Bundesgerichtshof ein rechtlich nicht zu beanstandendes
Urteil gesprochen haben; ob die Lösung volkswirtschaft-
lich und politisch richtig war, gilt es in diesem Haus zu
entscheiden, und es gilt, diese dann gegebenenfalls zu
korrigieren .
Ich darf in Erinnerung rufen: Der BGH hat in sei-
nem Urteil die Verwendung bestimmter sogenannter
Close-out-Netting-Clauses, also insolvenzrechtlicher
Lösungsklauseln mit Saldoausgleich, für unwirksam er-
klärt . Damit hat der IX . Zivilsenat des BGH deutlich ei-
nes der Grundprinzipien des deutschen Insolvenzrechts,
nämlich die Entscheidung über die Betriebsfortführung
in die Hände des Insolvenzverwalters zu legen, unter-
strichen . § 103 der Insolvenzordnung, der dieses Prinzip
postuliert, ist auch völlig richtig und wichtig: Es muss in
der Hand des Insolvenzverwalters liegen, welche Verträ-
ge eines insolventen Unternehmens fortgeführt werden
und welche nicht . Würde man diese Entscheidung in die
Hände der Gläubiger legen oder grundsätzlich eine auto-
matische Vertragsbeendigung mit Eintritt der Insolvenz
zulassen, dann hätte das insolvente Unternehmen weder
Kunden noch Lieferanten und müsste mangels mögli-
chen Geschäftsbetriebs in jedem Fall gleich abgewickelt,
sprich: zerschlagen, werden . Die von § 1 Insolvenzord-
nung deutlich intendierte Betriebsfortführung verbunden
mit dem Erhalt von Arbeitsplätzen wäre unmöglich .
So richtig diese beiden Prinzipien wirken und auch
sind, so wichtig sind an dieser Stelle jedoch die Ausnah-
me des § 104 Insolvenzordnung und die Möglichkeit, in
bestimmten Fällen gegenseitige Forderungen über die
Möglichkeit der echten Aufrechnung hinaus, § 94 Insol-
venzordnung, zu verrechnen und auch Verträge mit Ein-
tritt der Insolvenz enden zu lassen .
Lassen Sie mich mit dem letzten Punkt beginnen:
Deutsches, europäisches und internationales Banken-
aufsichtsrecht sehen vor, dass bei Verwendung von Ver-
trägen, welche sogenannte Close-out-Netting-Clauses
enthalten, nur eine geringere Höhe von Eigenkapital vor-
gehalten werden muss . Das ist auch richtig: Weil im Fal-
le einer Insolvenz nur ein negativer Saldo und nicht die
Summe einzelner Forderungen abfließen kann, hält die
Aufsicht solche Verträge für die entsprechenden Banken
für weniger risikoreich als solche ohne diese Klauseln .
Eine Fortführung der Geschäfte ohne Netting-Klauseln
würde entsprechend als risikoreicher bewertet, ohne dass
sich durch die Klausel am tatsächlichen Risiko des Ge-
schäfts etwas ändert .
Nachdem wir gerade erreicht haben, dass die Kapital-
ausstattung deutscher Banken wieder ausreichend ist und
weitere gesamtwirtschaftliche Krisen aktuell nicht zu er-
warten sind, wäre es sicher unangemessen, nur im Hin-
blick auf eine andere Beurteilung von Vertragsklauseln
einen Zwang für Banken zu begründen, ihr Eigenkapital
nun zu erhöhen, nur um ihre bisherigen Geschäfte fort-
führen zu können; man rechnet mit 1 bis 2 Prozentpunk-
ten . Die dadurch unnötig steigenden Finanzierungskos-
ten für Kreditinstitute lassen sich auch mit Blick auf die
mittelbaren Folgen für Bankkunden kaum rechtfertigen .
Nun könnte man sagen: Dann passen Sie doch das
Aufsichtsrecht der Realität der Verträge an . Allerdings:
Eine solche deutsche Lösung wäre eine Insellösung und
würde hier nicht helfen: Denn nach Artikel 9 der Euro-
päischen Insolvenzverordnung bzw . § 340 Absatz 1 In-
solvenzordnung könnten dann Banken über die Nutzung
eines ausländischen Marktes ausländisches Recht wählen
und somit dem Finanzplatz Deutschland faktisch den Rü-
cken kehren . Dies wäre vor allem zum Nachteil der deut-
schen Realwirtschaft mit schlechteren Finanzierungs-
möglichkeiten, ganz zu schweigen davon, dass dann auch
die entsprechenden Verträge nicht mehr in Deutschland
gemacht würden .
Ob sich jedoch auch Gründe finden, auch außerhalb
des regulierten Finanzbereichs insolvenzrechtliche Lö-
sungsklauseln mit Saldoausgleich zuzulassen, wird im
Laufe dieses Gesetzgebungsverfahrens noch zu erörtern
sein .
Völlig nachvollziehbar ist dabei die Forderung der
Energie-, aber auch der Realwirtschaft, die infolge des
Urteils des BGH vom 15 . November 2012, Aktenzeichen
IX ZR 169/11, entstandene Unsicherheit zu beheben .
Hier stehen nicht aufsichtsrechtliche Fragen im Mittel-
punkt, sondern die Frage, inwieweit Handelsgeschäfte in
volatilen Märken sinnvoll abgesichert werden können .
Hier ist es in Bezug auf ein mögliches Insolvenzver-
fahren von großer Bedeutung, ob Einzelforderungen oder
nur der Saldo aus diesen Forderungen besichert werden
muss . Dabei stellt es auch nach meiner Ansicht keinen
Eingriff in die Gläubigergleichbehandlung dar, wenn in
Falle der Insolvenz als Folge einer Netting-Vereinba-
rung lediglich die Salden Berücksichtigung finden und
damit natürlich auch nur diese im Vorfeld abgesichert
werden müssen . Ganz ähnlich geht die Rechtsprechung
übrigens – zu Recht – auch jetzt schon im Bereich der
Gesellschafterdarlehen vor .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 196 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 20 . Oktober 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 196 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 20 . Oktober 2016 19609
(A) (C)
(B) (D)
Über dieses nachvollziehbare Netting-Interesse hi-
naus gilt es deshalb zu erörtern, ob mit dem Insolvenz-
verfahren auch ein Vertrag automatisch enden muss und
damit möglicherweise auch für das insolvente Unter-
nehmen vorteilhafte Lieferkonditionen, die für eine Re-
strukturierung sehr hilfreich wären, jedenfalls deutlich
hilfreicher, als zum Beispiel im Falle von Stromliefer-
verträgen einen Neuvertrag zum teuren Grundtarif ab-
schließen zu müssen . Auch wenn es verständlich ist, wie
es ein Vertreter eines Dax-Unternehmens formuliert hat,
dass „man“ nur mit solventen Partnern handeln möchte,
so bedarf dies doch stets der Betrachtung beider Seiten .
Denn das Ziel einer Unternehmenssanierung, das bei
uns mehr noch als früher vorrangig ist vor dessen Zer-
schlagung, lässt sich nicht mehr erreichen, wenn allein
mit Eröffnung eines Insolvenzverfahrens sämtliche Ver-
tragsbeziehungen automatisch wegbrechen . Allerdings
kann es dann auch geboten sein, die Entscheidung über
die Ausübung des Wahlrechts schneller als bislang üblich
zu treffen . Dies näher zu erörtern, ist Aufgabe des nun
folgenden parlamentarischen Verfahrens .
Alexander Hoffmann (CDU/CSU): Heute debat-
tieren wir eine weitere Reform der Insolvenzordnung .
Diese mutet zwar auf den ersten Blick sehr rechtstech-
nisch an, aber jedenfalls auf den zweiten Blick offenbart
sich, dass die hier zu treffenden Neuregelungen massive
Auswirkungen auf die deutsche Unternehmenslandschaft
haben könnten .
Thematisch geht es um das sogenannte Liquidations-
netting, das heißt um die vertragliche Vereinbarung ei-
ner Aufrechnung . Nun sieht das BGB auch das Institut
der Aufrechnung vor . Eine solche zu vereinbaren, bie-
tet aber durchaus mehr Flexibilität und differenziertere
Lösungen . Allerdings darf diese Flexibilität nicht der
Zielsetzung und den Grundsätzen des Insolvenzrechts
zuwiderlaufen . Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, genau
abzubilden, wie eine solche Vereinbarung einzuordnen
ist, im Bereich des Insolvenzrechts im Allgemeinen, ge-
rade aber im Bereich der Anfechtung im Besonderen . In
der Konsequenz ergibt sich deshalb im Insolvenzrecht
die Anforderung, dass die Zulässigkeit einer solchen
Aufrechnungsvereinbarung ebenso wie Trag- und Reich-
weite mit der Zielsetzung des § 104 Insolvenzordnung
in Einklang stehen . Damit reagieren wir als Gesetzgeber
zudem unmittelbar auf das Urteil des Bundesgerichtshofs
vom 9. Juni 2016. Diese Entscheidung definiert eine Un-
wirksamkeit von Finanzmarktkontrakten, soweit sie für
den Fall der Insolvenz eine von § 104 Insolvenzordnung
abweichende Rechtsfolge vorsehen .
Grundsätzlich ergeben sich für die Frage der Reich-
weite des Liquidationsnettings zwei Lösungsansätze:
Man könnte zum einen nur den Saldo der Aufrech-
nung der Anfechtung aussetzen . Alternativ wäre denkbar,
jede einzelne aufgerechnete Leistung der Anfechtung zu
unterwerfen . Was zunächst noch recht einfach klingt, er-
weist sich bei genauerer Betrachtung als die Gegenüber-
stellung zweier Möglichkeiten, die in ihren tatsächlichen
Auswirkungen nicht unterschiedlicher sein könnten . Ge-
rade die erste Variante, welche auch der BGH in seinem
Urteil zugrunde legt, würde zu einer deutlichen Eigenka-
pitalanforderung führen – deutlicher als heute zum Bei-
spiel im Bankenbereich üblich und praktikabel ist . Daher
ist es notwendig, die insolvenzrechtliche Zielsetzung
insoweit zu präzisieren . Hierzu dient der vorliegende
Gesetzentwurf . In diesem Sinne freue ich mich auf die
weiteren Beratungen .
Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD): Der Regierungsent-
wurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung der Insolvenz-
ordnung sieht eine Klarstellung des sogenannten Liqui-
dationsnettings bei Finanztermingeschäften vor . Diese
Änderung ist notwendig geworden durch ein Urteil des
Bundesgerichtshofes vom 9 . Juni 2016, das die bisheri-
gen Liquidationsnettingsklauseln für unwirksam erklärt
hat . Es blieb nicht ohne Kritik seitens der deutsche Kre-
ditwirtschaft, da diese befürchtet, dass das Urteil wegen
der mit ihm verbundenen aufsichtsrechtlichen Folgen
nicht nur auf einzelne Kreditinstitute, sondern auf die ge-
samte Finanz- und Realwirtschaft dramatische Auswir-
kungen haben kann .
Ziel des Regierungsentwurfs ist es deshalb, die recht-
lichen Grundlagen für das vertragliche Liquidations-
netting präziser zu fassen und die durch das Urteil des
Bundesgerichtshofes entstandenen Rechtsunsicherheiten
zu beseitigen . Hierdurch soll sichergestellt werden, dass
die auf den deutschen, europäischen und internationalen
Finanzmärkten üblichen Rahmenverträge weiterhin im
Einklang mit den an sie gestellten aufsichtsrechtlichen
Anforderungen in insolvenzfester Weise vereinbart wer-
den können, jedoch nicht – das möchte ich ausdrücklich
betonen – sollen hier die Grundzüge des Insolvenzver-
fahrens und der Schutz der Maße beeinträchtigt werden .
Ob dies mit dem Regierungsentwurf gelungen ist, wird
uns die öffentliche Anhörung sicherlich zeigen .
Die vorgeschlagene Änderung des Liquidationsnet-
tings begrüße ich ausdrücklich . Voraussichtlich müssen
die Banken nach Abschluss der Beratungen des Basler
Ausschusses in den kommenden Jahren ohnehin wei-
tere Anstrengungen bezüglich der Eigenkapitalunterle-
gung leisten . Diese Rechtsunsicherheit durch das Urteil
des Bundesgerichtshofes zum Liquidationsnetting sollte
nicht zusätzlich dazu führen, dass allein deutsche Kredit-
institute noch weiter in dieser Hinsicht belastet werden .
Von daher kann der Auffassung von der Bundesanstalt
für Finanzdienstleistungsaufsicht, Bundesministerium
der Justiz und Bundesfinanzministerium zugestimmt
werden, dass diese Rechtsunsicherheit zügig beseitigt
werden sollte . Der Vorschlag des Bundesministeriums
der Justiz, der Grund, Trag- und Reichweite der Zulässig-
keit des vertraglichen Liquidationsnettings im Einklang
mit dem Zweck klarstellt, den bereits der Gesetzgeber
der Insolvenzordnung bei der Schaffung von § 104 der
Insolvenzordnung verfolgt hat, ist hierzu meines Erach-
tens sehr gut geeignet .
Richard Pitterle (DIE LINKE): Den heute zur ers-
ten Beratung vorliegenden Entwurf einer Änderung der
Insolvenzordnung wollten Sie, meine sehr verehrten Da-
men und Herren der Regierungskoalition, kürzlich noch
überhastet über den Rechtsausschuss in einem anderen
Gesetzgebungsvorhaben unterbringen . Es hat uns als
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 196 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 20 . Oktober 201619610
(A) (C)
(B) (D)
Opposition viel Kraft gekostet, dieses Omnibusverfah-
ren abzuwehren, aber anscheinend haben Sie inzwischen
verstanden, wie der Ablauf des Gesetzgebungsverfahrens
im Grundgesetz geregelt ist . Nur zur Wiederholung für
die Zukunft: Ausschüsse des Bundestages sind nach un-
serer Verfassung nicht berechtigt, Gesetzgebungsvorha-
ben einzubringen .
Zur Sache . Vor wenigen Monaten gab es wieder mal
ein kleines Beben in der Finanzwelt . Es braucht nicht viel
Fantasie, um den Ursprung des Bebens zu lokalisieren:
Termin- und Optionsgeschäfte, komplizierte Verträge,
um Chancen sich verändernder Kurse wahrzunehmen
oder Risiken sinkender Kurse zu minimieren . Mit ande-
ren Worten: das übliche Finanzkasino, das die Welt schon
häufiger an den Abgrund geführt hat. Auch diesmal war
das Beben von einiger Stärke . Der Bundesgerichtshof
urteilte, dass bestimmte, aber international übliche Ver-
einbarungen zwischen Spielern im Finanzkasino, die im
Falle der Pleite eines Spielers gelten sollen – es geht um
das sogenannte Liquidationsnetting –, gegen deutsches
Insolvenzrecht verstoßen . Was undramatisch klingt, hatte
weitreichende Konsequenzen . Aus Sicht der Bundesan-
stalt für Finanzdienstleistungen war mit dem Urteil nicht
weniger als gleich die Stabilität der Finanzmärkte und
das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit der Finanzmärk-
te erschüttert, sodass sie per Dekret das Urteil befristet
für unbeachtlich erklärte . Der Grund für diese Panik ist,
dass die üblichen Verträge zwischen den Spielern im Fi-
nanzkasino für beteiligte Banken recht vorteilhaft sind,
falls ein Spieler pleite ist . Geringeres Risiko für Banken
heißt auch, geringere Vorsorge für den Ausfall . Mit der
Entscheidung des Bundesgerichtshofes war diese heile
Welt erneut in Gefahr .
Dafür wurde der BGH massiv angegriffen . Fachleute
unterstellten dem für Insolvenzrecht zuständigen Senat
sogar mangelnde Expertise . Es gehe schließlich um – Zi-
tat – „knallhartes Bankrecht, eine Domäne, die dem 9 . Zi-
vilsenat des BGH üblicherweise verschlossen bleibt“ .
Der BGH habe die Praxis ignoriert und die Entscheidung
hätte die Neuberechnung zahlloser Geschäftsvorfälle zur
Folge, auch sei der Finanzstandort Deutschland in Ge-
fahr . Diese Angriffe verkennen, dass die Rechtsprechung
an geltende Gesetze gebunden ist und nicht an eine ge-
wünschte Praxis . Die Vorschriften des Insolvenzordnung,
namentlich §§ 104, 119 Insolvenzordnung, ließen keinen
Raum für eine andere Entscheidung .
Richtig an der Kritik ist allerdings, dass die europä-
ische Finanzsicherheitenrichtlinie, die der BGH nicht
einmal im Urteil erwähnt, geschweige denn geprüft hat,
explizit den Schutz von derartigen Vereinbarungen im
Insolvenzrecht fordert . Nur hat es der Gesetzgeber 2004
versäumt, das in der Insolvenzordnung richtig umzuset-
zen .
Der vorliegende Entwurf will das nachholen . Den An-
spruch, die Rechtslage zu vereinfachen, erfüllt der Ge-
setzentwurf aber nicht . Leersätze, die „den Grundgedan-
ken einer gesetzlichen Regelung“ zum Maßstab machen,
erzeugen genauso Rechtsunsicherheit wie die vielen Re-
gelbeispiele . Systematisch sauberer wären Öffnungsklau-
seln in § 19 Insolvenzordnung und ein breiterer Ansatz,
mit dem die seit Jahren umstrittenen insolvenzbedingten
Lösungsklauseln auf eine solide Grundlage gestellt wer-
den können .
Auch wenn das Unionsrecht eine solche Regelung
fordert, möchte ich abschließend festhalten: Wir halten
diese Regelung für eine ungerechtfertigte Privilegierung
des Finanzsektors zulasten anderer Gläubiger und für
ein abzuschaffendes Relikt aus Hoch-Zeiten der Finanz-
marktderegulation . Wir sind erst recht dagegen, derartige
Ausnahmen für weitere Branchen zu schaffen .
Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bei den
vorgeschlagenen Änderungen des § 104 Insolvenzord-
nung geht es um die Privilegierung der Finanzindustrie
bei der Abrechnung eines durch Insolvenz beendeten
Rahmenvertrages durch sogenanntes Liquidationsnet-
ting . Das hört sich kompliziert an, wie immer, wenn es
um viel Geld geht . Gerade deshalb lohnt es sich genau
hinzusehen . Worum geht es?
Bei dem Handel mit Finanzprodukten, die als Termin-
geschäfte gehandelt werden, werden einzelne Transakti-
onen in einen Rahmenvertrag eingebunden . Darin liegt
eine Vereinfachung und Standardisierung des Vertrags-
schlusses . Im Insolvenzfall stellt sich die Frage, wie sich
viele, gegeneinander bestehende Erfüllungsansprüche
zueinander verhalten . Zu diesem Zweck werden Auf-
rechnungsvereinbarungen geschlossen . Beim Liquida-
tionsnetting werden verschiedene Transaktionen, wie
Kauf und Verkauf von Derivaten, zwischen zwei Partei-
en in einem Rahmenvertrag zusammengefasst . Kommt
es zur Insolvenz, werden die Transaktionen beendet, die
Nichterfüllungsansprüche ermittelt und die positiven und
negativen Werte gegeneinander aufgerechnet . Nur noch
dieser Nettobetrag geht dann in die Insolvenzmasse ein .
Bislang war es so, dass es für Finanzdienstleister
durch diese Liquidationsnettingvereinbarungen möglich
war, nur das Kreditrisiko des Nettobetrags der Forderun-
gen mit Eigenkapital zu unterlegen . Dies führt zu erheb-
lichen Einsparungen beim regulatorischen Eigenkapital .
In einem Urteil vom Juni 2016 hat der Bundesgerichtshof
nun entschieden, dass Vereinbarungen zur Abwicklung
von Finanzmarktkontrakten unwirksam sind, soweit sie
für den Fall der Insolvenz einer Vertragspartei Rechtsfol-
gen vorsehen, die von § 104 der Insolvenzordnung ab-
weichen . Konkret ging es in dem Fall um einen Rahmen-
vertrag nach dem Muster des Bundesverbands deutscher
Banken .
Nach geltender Rechtslage ist nach § 104 der Insol-
venzordnung für Fixgeschäfte und Finanzdienstleistun-
gen, die bestimmte Voraussetzungen erfüllen, das Wahl-
recht des Insolvenzverwalters eingeschränkt; siehe § 103
der Insolvenzordnung . Er kann nicht Erfüllung verlan-
gen . Dies soll die Insolvenzmasse vor einer Spekulation
durch den Insolvenzverwalter schützen und eine schnelle
Klärung der Rechtslage herbeiführen .
Die Regeln für eine Aufrechnung im Insolvenzfall
sind in § 104 Absatz 2 und 3 der Insolvenzordnung fest-
gelegt . In der Praxis wurde von diesen Regeln in Rah-
menverträgen regelmäßig abgewichen . Nachdem der
Bundesgerichtshof diese Abweichung für rechtswidrig
und damit für unwirksam erklärt hat, hat die Bundes-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 196 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 20 . Oktober 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 196 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 20 . Oktober 2016 19611
(A) (C)
(B) (D)
anstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht durch eine bis
Ende 2016 geltende Allgemeinverfügung entschieden,
diese rechtswidrige Praxis nicht zu sanktionieren . Mit
der jetzt vorliegenden Gesetzesänderung will die Bun-
desregierung die Abweichungen sogar explizit erlauben .
Nun soll § 104 Absatz 4 des Entwurfs eines Gesetzes
zur Verbesserung der Rechtssicherheit bei Anfechtungen
nach der Insolvenzordnung und nach dem Anfechtungs-
gesetz, InsO-E, den Parteien ermöglichen, durch ver-
tragliche Vereinbarungen von den Regelungen des § 104
Absatz 1 und Absatz 2 InsO-E abzuweichen, damit unter
anderem Großbanken wie die Deutsche Bank weiterhin
in den Genuss geringerer Eigenkapitalanforderungen und
geringerer Anrechnungsbeträge auf Großkreditgrenzen
kommen .
Grundsätzlich stellt sich die Frage, warum Finanzak-
teure im Insolvenzverfahren gegenüber anderen Gläubi-
gern überhaupt privilegiert werden . Bereits jetzt ist die
Finanzindustrie durch die Regelung des § 104 InsO pri-
vilegiert . Mit den nun vorgeschlagenen Änderungen soll
diese Privilegierung noch ausgeweitet werden . Der Fi-
nanzinstrumentenbegriff wird ausgeweitet und zur Wert-
berechnung werden Risikomodelle zugelassen .
Die Privilegierung einzelner Gläubigergruppen wurde
mit der Konkursordnung abgeschafft, und das aus gutem
Grund . Die Insolvenzmasse sollte nicht mehr durch ein-
zelne, bevorzugte Gläubigergruppen aufgezehrt werden,
sondern es sollte ausreichend Masse erhalten bleiben, mit
dem Ziel, ein insolventes Unternehmen im besten Falle
sanieren zu können . Daher gilt in der Insolvenzordnung
als zentrales Prinzip der Grundsatz der Gläubigergleich-
behandlung . Soll hier nun also ein weiteres Mal durch
die Hintertür der Gläubigergleichbehandlungsgrundsatz
ausgehebelt werden? Das erinnert doch alles sehr an die
Debatten, die wir auch bei der Reform des Anfechtungs-
rechts führen, die übrigens immer noch auf Eis liegt .
Allerdings haben sich hier scheinbar die Vorzeichen
verkehrt . Während beim Anfechtungsrecht die einhellige
rechtpolitische Auffassung herrscht, dass der Gläubiger-
gleichbehandlungsgrundsatz auf keinen Fall zugunsten
einzelner Gläubiger wie dem Fiskus oder der Sozialver-
sicherung aufgeweicht werden soll, scheint die Koalition
bei der Privilegierung der Finanzindustrie weniger Skru-
pel zu haben . Das Argument, Finanzstabilität sei höher
zu bewerten als insolvenzrechtliche Grundsätze, verfängt
nur auf den ersten Blick . Denn es ist zu bedenken, dass
im Fall von Marktstörungen oder in anderen Fällen, in
denen der Markt- oder Börsenpreis nicht bestimmt wer-
den kann, für die Wertermittlung der Geschäfte auch
Risikomodelle herangezogen werden können . Das sind
hypothetische Modelle und finanzmathematische Gut-
achten, die die Werte von bestimmten Geschäftstypen
dann aus dem Markt- oder Börsenwert anderer Geschäfte
ableiten . In der Krise hat sich jedoch gezeigt, dass Risi-
komodelle fehleranfällig und leicht zu manipulieren sind .
Wollen wir uns darauf wirklich verlassen?
Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass in den Fällen, in
denen die Berechnung durch den Gläubiger erfolgt, ein
Interessenkonflikt besteht; denn er wird natürlich mög-
lichst vorteilhaft für sich rechnen . Auch muss man sich
fragen, wie groß die Bereitschaft ist, die Solvenz und
Kreditwürdigkeit der Gläubiger zu prüfen, wenn nur die
geringe Nettoforderung gefährdet ist . Wie ist es um die
Finanzmarktstabilität bestellt, wenn der Zweck von Rah-
menverträgen letztlich darin liegt, das regulatorische Ei-
genkapital kleinzurechnen? Das ist weder aus insolvenz-
rechtlicher Sicht noch mit Blick auf die Finanzstabilität
vernünftig .
Das Thema ist sicherlich komplex und für die Allge-
meinheit schwer verständlich . Umso mehr werden wir
darauf zu achten haben, dass sich hier nicht unbemerkt
Sonderinteressen zulasten der Allgemeinheit im Gesetz-
gebungsverfahren durchsetzen .
Christian Lange, Parl . Staatssekretär beim Bundes-
minister der Justiz und für Verbraucherschutz: Mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf soll Rechtssicherheit im
Hinblick auf die Zulässigkeit und Insolvenzfestigkeit von
vertraglichen Liquidationsnettingklauseln wiederherge-
stellt werden . Hierbei handelt es sich um Klauseln, die
im Finanzmarkt üblicherweise in Rahmenverträgen für
die Zusammenfassung und Abwicklung von Finanzter-
mingeschäften verwendet werden . Sie sehen vor, dass die
in einen Rahmenvertrag einbezogenen Einzelgeschäfte
im Insolvenzfall beendet, in Nichterfüllungsforderungen
umgewandelt und zu einer einheitlichen Gesamtforde-
rung verrechnet werden . Für die Bestimmung der Nicht-
erfüllungsforderung legen die üblichen Vertragsmuster
Verfahren und Methoden fest, die von § 104 Insolvenz-
ordnung abweichen .
Die Insolvenzfestigkeit dieser Klauseln ist durch ein
Urteil des Bundesgerichtshofs infrage gestellt worden .
Denn dieser hat am 9 . Juni 2016 entschieden, dass Liqui-
dationsnettingklauseln für den Fall der Insolvenz einer
Vertragspartei unwirksam sind, soweit sie von § 104 In-
solvenzordnung abweichen .
Die Entscheidung hat erhebliche Rechtsunsicherheit
hervorgerufen . Denn die Vertragsklauseln sind auf die
bankenaufsichtsrechtlichen Anforderungen zugeschnit-
ten, denen zur Abrechnung von Finanztermingeschäften
genügt werden muss, damit die Banken in den Genuss
geringerer Eigenkapitalanforderungen kommen . Erfüllen
die Klauseln nicht die bankaufsichtsrechtlichen Anfor-
derungen, können sich die Eigenkapitalanforderungen
der Banken erhöhen . Dies kann für die Banken erheb-
liche nachteilige Auswirkungen haben . Zudem bedeutet
die Unwirksamkeit der Klauseln, dass der Zugang von
Unternehmen zu Finanzdienstleistungen möglicherweise
erschwert und verteuert wird, auf welche diese zur Absi-
cherung von finanzwirtschaftlichen Risiken wie Zinsän-
derungs- oder Wechselkursrisiken angewiesen sind .
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung stellt daher
klar, unter welchen Voraussetzungen die Vertragspartei-
en bei ihren Rahmenvereinbarungen von den Vorgaben
in § 104 Insolvenzordnung abweichen können . Er be-
stimmt, dass Abweichungen zulässig sind, solange sie
mit dem Grundgedanken der gesetzlichen Regelung ver-
einbar sind . Dieser Grundgedanke besagt, dass das In-
teresse des Vertragsgegners des Schuldners an einer un-
verzüglichen Klärung der Rechtslage schützenswert ist
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 196 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 20 . Oktober 201619612
(A) (C)
(B) (D)
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und dass deshalb die zwischen den Parteien bestehenden
Geschäfte beendet, bewertet und miteinander verrechnet
werden sollen . Mit diesem Grundgedanken sind auch
vertragliche Regelungen vereinbar, welche den Beendi-
gungszeitpunkt sowie die Modalitäten der Berechnung
der Nichterfüllungsforderung betreffen . Der Entwurf ent-
hält einen Beispielkatalog mit praxisrelevanten Klausel-
gegenständen, die mit dem Grundgedanken des Gesetzes
vereinbar sind .
Um künftigen Rechtsunsicherheiten vorzubeugen,
klärt der Gesetzentwurf der Bundesregierung darüber hi-
naus weitere Zweifelsfragen zur Auslegung des § 104 In-
solvenzordnung . Diese betreffen die Reichweite des An-
wendungsbereichs der Vorschrift und die Anforderungen,
die an Rahmenvereinbarungen zur Zusammenfassung
einzelner Geschäfte zu stellen sind . Schließlich bezieht
der Gesetzentwurf der Bundesregierung bislang nicht er-
fasste Warentermingeschäfte in den Anwendungsbereich
des § 104 Insolvenzordnung ein . Um die Gefahren für die
internationale Wettbewerbsfähigkeit deutscher Institute
und Marktteilnehmer und für die Stabilität des deutschen
Finanzsystems abzuwehren, sollten die vorgeschlagenen
Regelungen möglichst schnell verabschiedet werden .
196. Sitzung
Inhaltsverzeichnis
TOP 3 Bundesbeteiligung an den Kosten der Integration
TOP 4 Bezahlbares Wohnen
TOP 5 Verbesserung des Schutzes gegen Nachstellungen
TOP 33, ZP 2 Überweisungen im vereinfachten Verfahren
TOP 34, ZP 3 Abschließende Beratungen ohne Aussprache
ZP 4 Wahl Bundesstiftung Baukultur
ZP 5 Aktuelle Stunde zur Umsetzung der Auflagen zu CETA
TOP 28 Steuerliche Verlustrechnung bei Körperschaften
TOP 7 Berufsausbildungsförderung
TOP 6 Bundeswehreinsatz in Syrien
TOP 9, ZP 6 Novelle des Gentechnikgesetzes
TOP 8 Entlastung der Wirtschaft von Bürokratie
TOP 11 Medizinische Versorgung für Geflüchtete
TOP 10 Bildungschancen für benachteiligte Kinder
TOP 13 Völkerstrafrechtliche Sühnung von Verbrechen
TOP 12 Biowaffenübereinkommen
TOP 15 Berlin/Bonn-Gesetz
TOP 14, ZP 7 Nichtfinanzielle Berichterstattung der Unternehmen
TOP 17 Absetzung der Präsidentin in Brasilien
Anlagen
Anlage 1
Anlage 2
Anlage 3
Anlage 4
Anlage 5
Anlage 6
Anlage 7
Anlage 8
Anlage 9
Anlage 10
Anlage 11