Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 18131
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Bär, Dorothee CDU/CSU 07 .07 .2016
Barley, Dr . Katarina SPD 07 .07 .2016
Böhmer, Dr . Maria CDU/CSU 07 .07 .2016
Dehm, Dr . Diether DIE LINKE 07 .07 .2016
Gunkel, Wolfgang SPD 07 .07 .2016
Hintze, Peter CDU/CSU 07 .07 .2016
Höger, Inge DIE LINKE 07 .07 .2016
Irlstorfer, Erich CDU/CSU 07 .07 .2016
Kudla, Bettina CDU/CSU 07 .07 .2016
Leidig, Sabine DIE LINKE 07 .07 .2016
Lerchenfeld, Philipp
Graf
CDU/CSU 07 .07 .2016
Maisch, Nicole BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
07 .07 .2016
Maizière, Dr . Thomas
de
CDU/CSU 07 .07 .2016
Petzold, Ulrich CDU/CSU 07 .07 .2016
Pflugradt, Jeannine SPD 07 .07 .2016
Poschmann, Sabine SPD 07 .07 .2016
Schäfer (Bochum), Axel SPD 07 .07 .2016
Schlecht, Michael DIE LINKE 07 .07 .2016
Tank, Azize DIE LINKE 07 .07 .2016
Wicklein, Andrea SPD 07 .07 .2016
Zimmermann, Pia DIE LINKE 07 .07 .2016
Anlage 2
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Marieluise Beck (Bremen)
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstimmung
über den Entschließungsantrag der Fraktion Die
Linke zu der Abgabe einer Regierungserklärung
durch die Bundeskanzlerin zum NATO-Gipfel am
8./9. Juli 2016 in Warschau (Drucksache 18/9086)
(Tagesordnungspunkt 4)
Ich nehme an der Abstimmung nicht teil .
Wer das Agieren der NATO bewerten will, muss einen
Blick auf den Charakter des Regimes Putin werfen . Das
System Putin ist eine Mischung aus KGB/FSB-Struktu-
ren mit Oligarchen und kriminellen Methoden . Der Staat
ist auf dieses Herrschaftsmodell vollkommen ausgerich-
tet . Nichts muss dieses Regime mehr fürchten als Demo-
kratie, Pressefreiheit und Rechtsstaatlichkeit . Um jegli-
chen demokratischen Widerstand im Lande zu ersticken,
braucht das Regime „Feinde“ im Ausland und erklärt jeg-
liche demokratische Bewegung im Inneren als feindlich .
Deswegen kann das Regime am Frieden draußen kein
Interesse haben. Es braucht Konflikte, um durch Propag-
anda nach innen sein Regime aufrechtzuerhalten . In die-
sem Zusammenhang müssen auch die Vorgänge in der
Ukraine bewertet werden .
Der Kreml wünscht weder den demokratischen und
ökonomischen Erfolg der Ukraine noch echten Frieden
an seinen Grenzen . Eine erfolgreiche Ukraine könnte der
Anstoß für eine ähnliche demokratische Entwicklung in
der Russischen Föderation werden .
Die Ausrichtung der Fähigkeiten der NATO muss die-
se Analyse mit einbeziehen .
Das schließt den geduldigen und zähen Dialog mit
dem Regime im Kreml nicht aus, sondern er bleibt un-
verzichtbar .
Anlage 3
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Dr. Petra Sitte, Matthias W.
Birkwald, Ulla Jelpke, Susanna Karawanskij,
Niema Movassat und Harald Petzold (Havelland)
(alle DIE LINKE) zu der Abstimmung über den
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf
eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbu-
ches – Verbesserung des Schutzes der sexuellen
Selbstbestimmung (Tagesordnungspunkt 5)
Der Bundestag stimmt heute über eine Reform des Se-
xualstrafrechts ab, durch die drei Änderungen im Straf-
gesetzbuch (StGB) und eine Änderung im Aufenthalts-
gesetz (AufenthG) vorgenommen werden . Die einzelnen
Regelungen sind sehr unterschiedlich zu bewerten . Da-
her haben wir getrennte Abstimmungen beantragt und
unterschiedlich abgestimmt . Kurz zusammengefasst: Wir
haben heute den Regelungen für sexuelle Selbstbestim-
mung zugestimmt (Artikel 1, Nummer 6: § 177 StGB-E
und Artikel 1, Nummer 9: § 184i StGB-E) und die Sip-
penhaft (Artikel 1, Nummer 9: § 184j StGB-E) und eine
weitere Erleichterung von Abschiebungen (Artikel 2,
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Nummer 3: AufenthG) abgelehnt . In der Abstimmung
des gesamten Gesetzes führt dies zu einer Enthaltung .
Zugestimmt haben wir mit großer Freude der gesetzli-
chen Verankerung des Grundsatzes „Nein heißt nein“, die
seit vielen Jahren von zahlreichen Frauen, ihren Verbän-
den und Organisationen und inzwischen auch Abgeord-
neten aller Fraktionen gefordert worden war . Er bedeutet,
dass nun nicht mehr mit Zwang ein entgegenstehender
Wille gebrochen werden muss, sondern die Äußerung
des entgegenstehenden Willens – in welcher Form auch
immer – ausreicht . Diese Formulierung hatten wir des-
halb auch in einem eigenen Gesetzentwurf aus dem Fe-
bruar vorgeschlagen (BT-Drucksache 18/7719) . Das ist
ein Paradigmenwechsel und ein wichtiger Fortschritt, da
der Grundsatz das sexuelle Selbstbestimmungsrecht als
solches als Wert anerkennt und nicht mehr an der Inten-
sität der Gewalt misst .
Zugestimmt haben wir auch der häufig als Grapsch-Pa-
ragraf bezeichneten Regelung, die künftig Belästigungen
durch sexuell bestimmte Berührungen unter Strafe stellt
und damit Taten erfassen soll, die bisher durch die soge-
nannte Erheblichkeitsgrenze nicht durch das Strafgesetz-
buch erfasst werden . Dort steht nämlich (§ 184h Num-
mer 1), dass überhaupt nur solche sexuellen Handlungen
Beachtung finden, die „von einiger Erheblichkeit“ sind.
Da das Strafrecht unbedingt weiter als Ultima Ratio gel-
ten sollte, wäre eine Streichung dieser Erheblichkeits-
grenze ausreichend gewesen, um sexuelle Belästigungen
zu erfassen, ohne jedoch dabei Tür und Tor für die Straf-
barkeit sozial angemessenen Verhaltens zu öffnen . Diese
Lösung hätten wir daher bevorzugt . Die Regelung der
Großen Koalition ist fachpolitisch problematisch, stößt
jedoch letztlich in dieselbe Richtung, sodass wir auch
dieser Regelung zugestimmt haben .
Abgelehnt haben wir die pauschale Verurteilung der
Beteiligung an einer Gruppe, aus der heraus sexuelle
Übergriffe stattfinden. Im besten Fall ändert sich durch
diese Neuregelung zwar nichts, da sie nicht über die be-
reits erfassten Strafverschärfungen wegen gemeinschaft-
lichen Handelns hinaus angewendet wird . Im schlimms-
ten Fall wird jedoch eine beliebige Anzahl an Personen in
Sippenhaft genommen . Denn es entfällt bei dieser Rege-
lung ein konstitutives Moment einer Straftat: der Vorsatz
des Täters . Im Effekt kann dann ein sexueller Übergriff
durch eine Person allen anderen aus dieser Gruppe zu-
gerechnet werden, auch wenn sie nicht einmal davon
wussten . Der Boden des seriösen Strafrechts wird verlas-
sen . Noch gefährlicher wird es sogar, wenn die Koalition
festhält, dass die Beteiligung an einer Gruppe nur „um-
gangssprachlich“ zu verstehen sei . Rechtsunsicherheit ist
vorprogrammiert .
Abgelehnt haben wir außerdem die weitere Verschär-
fung des Ausweisungsrechts . Bereits im März wurde im
Zuge der Köln-Debatte das Aufenthaltsgesetz geändert
und so Abschiebungen von straffällig gewordenen Aus-
ländern erleichtert . Durch die Aufnahme des neuen § 177
wird dies fortgeschrieben . Wir lehnen die Doppelbestra-
fung durch Strafrecht und Ausländerrecht grundsätzlich
und entschieden ab . Darüber hinaus lehnen wir den damit
vermittelten Gedanken ab, dass insbesondere Menschen,
die unter das Ausländerrecht fallen, solche Straftaten ver-
üben .
Diese letzte Regelung hat uns trotz der bedeutsamen
Verankerung des Prinzips „Nein heißt nein“ – für das wir
selbst engagiert gekämpft haben – zu einer Enthaltung
zum Gesamtgesetz bewogen .
Anlage 4
Erklärungen nach § 31 GO
zu der Abstimmung über den von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung des Strafgesetzbuches – Verbesserung
des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung (Ta-
gesordnungspunkt 5)
Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit
der heute zur Abstimmung gestellten Reform des Se-
xualstrafrechts und damit der Umsetzung der Istan-
bul-Konvention – alle nicht einvernehmlichen sexuellen
Handlungen müssen unter Strafe gestellt werden – fin-
det endlich ein Paradigmenwechsel im Sexualstrafrecht
statt . Das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung wird
konsequent im Strafgesetzbuch umgesetzt: Nein heißt
zukünftig endlich nein . Jede Form der sexualisierten Ge-
walt ist abzulehnen, und jeder Vorfall ist einer zu viel .
Umso schlimmer, wenn sexualisierte Gewalt, wenn eine
Vergewaltigung nicht als solche geahndet werden kann;
damit wird nun endlich Schluss sein . Dass das deutsche
Sexualstrafrecht Lücken aufweist und eine Reform des
§ 177 StGB – Sexuelle Nötigung, Vergewaltigung sowie
Sexueller Missbrauch widerstandsunfähiger Personen –
notwendig ist, war lange klar; nichtsdestotrotz brauchte
die nun zur Abstimmung stehende Reform immensen öf-
fentlichen und politischen Druck .
Hinter dem heutigen Erfolg steht ein langer Kampf
der Frauenverbände, Politik und Öffentlichkeit von den
Schutzlücken im Gesetz zu überzeugen . Die grüne Bun-
destagsfraktion hat diesen Prozess von Anfang an unter-
stützt und bereits 2014 mit parlamentarischen Initiativen
und Fachgesprächen und 2015 mit einem Gesetzentwurf
Druck auf die Bundesregierung ausgeübt .
Noch im Sommer 2015 wurde vonseiten des Justiz-
ministers kein Handlungsbedarf gesehen . Erst eine Fall-
sammlung der Frauenverbände brachte Bewegung in die
Positionierung des Justizministeriums . Leider gab es
weiterhin innerhalb der Bundesregierung großen Wider-
stand gegen eine umfangreiche Reform des Sexualstraf-
rechts . Ende 2015 war fast ein Scheitern der Reform zu
befürchten . Erst die schrecklichen Vorfälle der Silvester-
nacht rund um den Kölner Hauptbahnhof brachten Be-
wegung in die vorher festgefahrene Debatte zur Sexual-
strafrechtsreform . Der von der Bundesregierung im März
vorgelegte Gesetzentwurf setzte jedoch zunächst die For-
derung „Nein ist Nein“ weiterhin nicht konsequent um .
Auf Druck der Frauenverbände, der Opposition und
einer mittlerweile in dieser Frage politisierten Öffent-
lichkeit haben Union und SPD den ursprünglichen Ge-
setzentwurf von Justizminister Maas faktisch komplett
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 18133
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über den Haufen geworfen und durch einen Änderungs-
antrag ersetzt, mit dem der § 177 umfassend reformiert
und „Nein heißt nein“ konsequent in Gesetzesform ge-
gossen wird . Dabei bediente sich die Koalition konkret
den Vorarbeiten der grünen Bundestagsfraktion . Dass im
Zuge der Reform des § 177 nun ein neuer Tatbestand,
der Straftaten aus Gruppen speziell unter Strafe stellt,
hinzugefügt werden soll, lehne ich ab . Für Handlungen
im Zusammenwirken mit anderen gibt es ausreichende
gesetzliche Regelungen mit Blick auf Mittäterschaft und
die Teilnahme an einer Straftat – ein scharfes Schwert,
das ein hohes Strafmaß erlaubt . Es widerspricht allen
rechtsstaatlichen Grundsätzen, die Beteiligung aus einer
Gruppe heraus unabhängig vom Tatvorsatz unter Strafe
zu stellen . Es ist mehr als ärgerlich, dass Union und SPD
die richtige und überfällige Reform des § 177, für die
viele Frauen und auch wir Grüne über Jahre gekämpft
haben, nun in einem Gesetzentwurf mit einer verfas-
sungswidrigen, populistischen Einfügung eines neuen
Straftatbestandes und zudem mit einer Verschärfung im
Bereich des Aufenthaltsrechts zusammenfügt . Ange-
sichts dieser Verquickung ist mir eine Zustimmung zum
Gesetzentwurf in Gänze nicht möglich .
Mechthild Rawert (SPD): Als Mitglied für Deutsch-
land im parlamentarischen Netzwerk „Gewaltfreies Le-
ben für Frauen“ und als Mitglied im Ausschuss Gleich-
stellung und Nichtdiskriminierung der Parlamentarischen
Versammlung des Europarates ist mir die Ratifizierung
des „Übereinkommens des Europarats zur Verhütung
und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusli-
cher Gewalt“, kurz Istanbul-Konvention, ein gewichtiges
Anliegen . Die Istanbul-Konvention schafft als völker-
rechtlicher Vertrag in Europa verbindliche Rechtsnormen
gegen Gewalt an Frauen und häusliche Gewalt . Gewalt
gegen Frauen soll umfassend verhütet, bekämpft und be-
straft werden . Dieses Übereinkommen stellt somit einen
Meilenstein in der Bekämpfung aller Arten von Gewalt
gegen Frauen dar .
Ratifizierung der Istanbul-Konvention: Deutschland
hat das Übereinkommen am Tag der Verabschiedung ge-
zeichnet und somit anerkannt . Es wurde die Absicht er-
klärt, mit Ratifizierung beizutreten. Das Übereinkommen
ist mittlerweile mehr als „nur“ ein politisches Dokument .
Die Istanbul-Konvention ist seit dem 1 . August 2014 in
Kraft – noch nicht aber in Deutschland. Die Ratifizierung
Deutschlands steht noch aus, da die gesetzgeberische An-
passung des nationalen Rechtes noch nicht abgeschlos-
sen ist . Das wollen wir ändern: Mit der Novellierung des
Sexualstrafrechts gemäß der Devise „Nein heißt nein“
beseitigen wir einen Hinderungsgrund für die Ratifizie-
rungsmöglichkeit .
Notwendiger Paradigmenwechsel: Mit der Novellie-
rung des Sexualstrafrechts schließen wir die erkannten
Schutzlücken und schaffen zugleich auch den erforderli-
chen Paradigmenwechsel: Durch die Einführung der so-
genannten Nichteinverständnislösung – Nein-heißt-nein-
Lösung – kommt es in zukünftigen Strafverfahren nicht
mehr auf das Verhalten des Opfers an .
Bislang musste ein Opfer sich – körperlich – vertei-
digen oder dies zumindest aktiv versucht haben . In der
Folge blieben viele – eigentlich strafwürdige – Taten
oftmals straflos. Eine weitere gravierende Folge: Nur ein
sehr geringer Teil der zumeist weiblichen Opfer hat die
Taten überhaupt angezeigt . Aus der Praxis der Frauenbe-
ratungsstellen und Frauennotrufe wissen wir, dass Opfer
nach einer sexuellen Nötigung oder Vergewaltigung oft-
mals die Schuld bei sich selbst suchen .
Mit der Nein-heißt-nein-Lösung wird die Verletzung
der sexuellen Selbstbestimmung ins Zentrum gerückt .
Für die künftig anerkannte Strafbarkeit reicht es aus,
dass der Wille des Opfers erkennbar ist und sich der Tä-
ter über den erkennbaren Willen hinwegsetzt . Das Op-
fer kann den Willen durch verbale Äußerung oder auch
durch konkludentes Handeln wie Weinen zum Ausdruck
bringen . Damit ist der subjektive Tatbestand erfüllt,
wenn der Täter trotz erkennbar entgegenstehendem Wil-
len die sexuellen Handlungen vornimmt . Ambivalentes
Verhalten des Opfers wird jedoch nicht von der neuen
Strafnorm erfasst .
Menschen mit Behinderung erfahren Gleichstellung:
Menschen, die wegen „einer geistigen oder seelischen
Krankheit oder Behinderung einschließlich einer Sucht-
krankheit oder wegen einer tiefgreifenden Bewusstseins-
störung oder körperlich zum Widerstand unfähig“ sind,
fielen bislang als Opfer nicht unter den § 177 StGB,
sondern unter die Strafnorm des § 179 – Sexueller
Missbrauch widerstandsunfähiger Personen . Auch diese
„Sonderbehandlung“, die von vielen als Diskriminierung
empfunden wurde, entfällt mit der Novellierung des Se-
xualstrafrechts . Ich begrüße auch diese Neuregelung aus-
drücklich . Der neue § 177 StGB umfasst zukünftig alle
Menschen mit und ohne Behinderung gleichermaßen .
Sexuelle Belästigung wird Straftatbestand: Neu ge-
schaffen wird mit der Novellierung des Sexualstrafrechts
auch der Straftatbestand der sexuellen Belästigung . Bis-
lang konnten nur Strafanträge wegen Beleidigung auf
sexueller Grundlage gestellt werden . Dabei mussten die
Übergriffe die sogenannte Erheblichkeitsschwelle über-
wunden haben, damit die Strafanträge Aussicht auf Er-
folg haben konnten . Der Griff an die Genitalien oberhalb
der Kleidung – Grapschen – wurden ebenso wie Küsse in
den Nacken oder auf die Haare etc . nicht erfasst . Mit dem
neu geschaffenen § 184i, Absatz 1 macht sich zukünftig
strafbar, wer eine andere Person in sexuell bestimmter
Weise körperlich berührt und dadurch belästigt .
Mit dieser Sexualstrafrechtsreform wird im deutschen
Recht mehr Gleichstellung zwischen den Geschlechtern
geschaffen . Dies begrüße ich sehr . Ich stimme der No-
vellierung zu .
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Ja zum „Nein ist ein Nein“ . Deshalb habe ich heu-
te für die Änderung der Strafbarkeit der Vergewaltigung
gestimmt . Wer gegen den erkennbaren Willen einer Per-
son sexuelle Handlungen an ihr vornimmt oder von ihr
vornehmen lässt, wird wegen Vergewaltigung bestraft .
Es soll nicht mehr darauf ankommen, dass Gewalt ange-
wandt oder aktiv Gegenwehr nachgewiesen wird .
Diese Änderung des § 177 StGB hätte es schon vor
einem Jahr geben können . Die Grünen hatten den Ge-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 201618134
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setzentwurf dafür vorgelegt . Aber die Union wollte nicht .
Jetzt hat die Bundesregierung endlich ein weitgehend mit
diesem Entwurf übereinstimmendes Gesetz eingebracht .
Da war das Ja in der namentlichen Abstimmung klar .
Die weiteren Neuerungen in dem Gesetz habe ich ab-
gelehnt .
Neu eingeführt werden soll der Straftatbestand „se-
xuelle Belästigung“ . Die Regelung ist zu unbestimmt .
Es fehlt die Bedingung, dass der „erkennbare Wille des
Opfers“ entgegenstehen muss . Strafbar werden soll die
körperliche Berührung einer Person „in sexuell bestimm-
ter Weise“, wenn sie sie belästigt . Nach dem Gesetzes-
wortlaut könnte das auf jede noch so leichte Berührung
mit Hand oder Finger am Arm oder der Hand der anderen
Person zutreffen . In der Begründung zum Gesetz wird
dann zwar ausgeführt, welche Arten von Berührungen
unter anderem umfasst sein sollen: „Küssen des Mundes,
des Halses, ‚Begrapschen‘ des Gesäßes“ . Diese Präzisie-
rung gehört aber direkt in den Gesetzestext . Nicht unter
diesen Tatbestand fallen sollen „bloße Ärgernisse, Un-
gehörigkeiten oder Distanzlosigkeiten wie zum Beispiel
das einfache In-den-Arm-Nehmen oder der schlichte
Kuss auf die Wange“ . All diese Begrenzungen gehören
aber in den Wortlaut des Gesetzestextes, für die Rechts-
anwender ist allein dieser Text maßgeblich .
Es kann keine sexuellen Berührungen geben, die nicht
auch gleichzeitig sexuelle Handlungen sind . Stimmiger
und bestimmter wäre daher, die Worte „von einiger Er-
heblichkeit“ bei der gesetzlichen Definition von sexuel-
len Handlungen in § 184h StGB zu streichen, um auch
weniger schwerwiegende sexuelle Handlungen unter
Strafe zu stellen . Die Schwere der Rechtsgutsverletzung
müsste dann bei den Strafrahmen berücksichtigt werden .
Eine solche Regelung würde auch den Bestimmtheits-
grundsatz nicht verletzen .
Ebenso abgelehnt habe ich die neue Strafbarkeit der
Förderung einer Straftat durch die bloße Beteiligung an
einer Gruppe, aus der heraus ein Sexualdelikt begangen
wird . Schon die Formulierung ist so verquast, dass man
kaum versteht, was strafbar sein soll . Jedenfalls nicht
eine konkrete Beteiligung an einer Straftat, sondern al-
lein die Beteiligung an einer Gruppe, aus der heraus ein
anderer eine Sexualtat begeht . Dabei kommt es nicht auf
seine individuelle Kenntnis und Schuld an – es muss für
ihn noch nicht einmal vorhersehbar gewesen sein, dass
ein Sexualdelikt durch eine andere Person aus der Grup-
pe begangen würde . Er muss von einer Sexualtat nicht
mal etwas wissen . Er muss lediglich billigend in Kauf
genommen haben, dass aus der Gruppe heraus irgendje-
mand irgendeine Straftat begeht .
So wird dann jedem Gruppenbeteiligten die Begehung
eines Sexualdelikts zugerechnet, auch wenn die Gruppe
sich ursprünglich zu anderen Zwecken – zum Beispiel
zur Begehung von Diebstählen oder Beleidigungen –
zusammengefunden hatte . Der Täterkreis einer Gruppe
ist auch zahlenmäßig unbegrenzt . Auch der Gruppenbe-
teiligte kann bestraft werden, der sich in zweiter, dritter
Reihe aufhält oder noch weiter hinten und von einem
Sexualdelikt nichts mitbekommt, weil es auf eine kon-
krete Unterstützungshandlung etwa durch Beihilfe oder
Anstiftung gar nicht ankommt .
In der Gesetzesbegründung steht: „Die Beteiligung
ist nicht im Sinne der §§ 25 bis 27 StGB zu verstehen,
sondern im umgangssprachlichen Sinn . Es wird kein be-
wusstes und gewolltes Zusammenwirken verlangt .“ Hier
wird eine völlig neue Form der Tatbeteiligung geschaf-
fen, die in Widerspruch zum Schuldprinzip steht und ver-
fassungsrechtlich nicht haltbar ist .
Diese neue Vorschrift ist auch überflüssig. Handlun-
gen im Zusammenwirken mit anderen werden schon
jetzt über die Regelungen zu Täterschaft und Teilnahme
erfasst, die gemeinschaftliche Begehung einer sexuellen
Nötigung oder Vergewaltigung ist zusätzlich über den
§ 177 Absatz 6 Nummer 2 abgedeckt und mit hoher Stra-
fe bedroht .
Ad-hoc-Gesetzgebung als Reaktion auf die Kölner
Silvesternacht, um Beweisschwierigkeiten zu beheben,
die auch auf ein Versagen der Sicherheitskräfte zurück-
zuführen sind, und um die Öffentlichkeit zu beruhigen,
ist eben der falsche Ansatz . Tauglich und rechtsstaatlich
ist die Vorschrift nicht .
Daher habe ich zu diesem Teil des Gesetzentwurfes
mit Nein gestimmt und mich insgesamt enthalten .
Anlage 5
Erklärung
des Abgeordneten Hans-Christian Ströbele
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstimmung
über Artikel 1 Nummer 9 des Entwurfs eines
… Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches –
Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbst-
bestimmung – in der Ausschussfassung, hier: die
Einfügung des Paragrafen 184i Strafgesetzbuch
(Tagesordnungspunkt 5)
Ich habe heute bei der Abstimmung über die Einfü-
gung eines Paragrafen 184i StGB mit Nein gestimmt .
Anlage 6
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Jan Korte, Kerstin Kassner,
Kersten Steinke und Birgit Wöllert (alle DIE
LINKE) zu der Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Petitionsausschusses: Sammel-
übersicht 343 zu Petitionen (Strafprozessordnung)
(Tagesordnungspunkt 39 t)
Dem ablehnenden Abschluss der Petitionen können
wir nicht zustimmen, da die darin geäußerten Kritik-
punkte aus unserer Sicht auch nach Inkrafttreten des
neuen Gesetzes zur Vorratsdatenspeicherung (VDS) am
18 . Dezember 2015 Bestand haben .
Jede Speicherung und Verarbeitung von personenbe-
zogenen und personenbeziehbaren Daten stellt einen Ein-
griff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestim-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 18135
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mung dar . Es ist dabei unerheblich, ob die Speicherung
bei staatlichen Stellen oder durch gesetzliche Verpflich-
tung bei privaten Stellen stattfindet. Um das Grundrecht
auf informationelle Selbstbestimmung zu schützen, wur-
den im Datenschutzrecht wesentliche Grundsätze entwi-
ckelt: der Erlaubnisvorbehalt für die Erhebung, Speiche-
rung und Verarbeitung von Daten; Datensparsamkeit und
Datenvermeidbarkeit, Zweckbindung erhobener Daten;
Erforderlichkeit für den zu erreichenden Zweck; Trans-
parenz darüber, wo welche Daten gespeichert sind .
Durch eine Vorratsdatenspeicherung werden diese
Grundsätze und damit das Recht auf informationelle
Selbstbestimmung verletzt . Daten werden ohne jeden
konkreten Anlass und in großen Massen gespeichert .
Nur ein Bruchteil der gespeicherten Daten wird für
den Zweck der angestrebten Aufklärung schwerer und
schwerster Straftaten abgerufen werden .
Die Vorratsdatenspeicherung kann nicht allein aus der
Perspektive des Bedarfs der Sicherheitsbehörden an Da-
ten zur Verbrechensaufklärung oder der Gefahrenabwehr
betrachtet werden . Der Gesetzgeber steht auch in der
Pflicht, die grundrechtlichen und gesellschaftspolitischen
Folgen einer solchen Speicherpflicht in den Blick zu neh-
men . Verspüren die Bürgerinnen und Bürger angesichts
immer neuer Speicherpflichten, erweiterter Zugriffsmög-
lichkeiten von Behörden auf vorhandene Daten, das mas-
senhafte Ausspähen von Daten durch eigene und fremde
Nachrichtendienste, Daten- und Identitätsdiebstahl im
Internet eine zunehmende Verunsicherung, so liegt darin
auch eine Gefahr für die Demokratie .
Die Befürchtung, wonach die VDS gegen Verfas-
sungs- und EU-Recht verstoße, konnte nicht ausgeräumt
werden . Außerdem ist bis zum heutigen Tag nicht er-
kennbar, geschweige denn in irgendeiner Form empirisch
belegt, dass alternative Ermittlungsmethoden signifikan-
te Nachteile für die Strafverfolgung nach sich zögen .
In der am 21 . September 2015 zu der Thematik im
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz des Deut-
schen Bundestages durchgeführten öffentlichen An-
hörung mussten auch die von der Koalition benannten
Sachverständigen einräumen, aussagekräftige Statistiken
nicht liefern zu können . Heide Sandkuhl vom Deutschen
Anwaltverein (DAV) wies zu Recht darauf hin, dass der
Gesetzgeber aber genau dies vor einer Verabschiedung
des Gesetzes leisten müsse und es eben nicht ausreiche,
einfach zu behaupten, dass die Strafverfolgung einer
VDS für alle 80 Millionen Bundesbürger bedürfe . Laut
einer Studie wirke sie sich nämlich auf die Verbrechens-
bekämpfung praktisch gar nicht aus, und auch seit dem
Wegfall der VDS im Jahr 2010 seien keine Sicherheits-
lücken nachweisbar . Sie wies außerdem darauf hin, dass
der Gesetzentwurf – anders als das Bundesjustizministe-
rium behaupte – Auskunftsrechte für Geheimdienste ent-
hält . Staatliche Stellen dürften selbst „Früchte illegaler
Datensammlung“ verwerten .
Der Anwalt Meinhard Starostik kritisierte in seinem
Statement ebenfalls, dass noch immer nicht zweifelsfrei
erwiesen wäre, dass die VDS erforderlich sei . Er verwies
außerdem auf den Begriff der Überwachungsgesamt-
rechnung . Diese sei vor dem Hintergrund neuer Über-
wachungsmaßnahmen wie den sieben Millionen jährlich
automatisiert beauskunfteten Bestandsdaten und den
Enthüllungen von Snowden neu zu bewerten . Starostik
wies ferner darauf hin, dass es außerdem im privaten Be-
reich noch viele andere Datensammlungen von erhebli-
chem Umfang gebe, auf die der Staat prinzipiell ebenfalls
zugreifen könne . Entsprechend seien die Risiken einer
Profilbildung enorm gewachsen.
Als problematisch erweist sich auch, dass sich die
Bundesregierung im Gesetzgebungsprozess im Detail
keinerlei Gedanken zur konkreten Umsetzung des Geset-
zes in puncto Datensicherheit gemacht hatte und lediglich
darauf verwies, dass die Bundesnetzagentur für Elektri-
zität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen
(Bundesnetzagentur) entsprechende Verfahren „nach
dem Stand der Technik“ im Benehmen mit dem BSI und
der Bundesdatenschutzbeauftragten festlegen werde . Der
kürzlich von der Bundesnetzagentur vorgelegte Entwurf
zum „Katalog von technischen Vorkehrungen und sons-
tigen Maßnahmen“, der die Anforderungen an die im
vergangenen Jahr beschlossene Vorratsdatenspeicherung
nun konkretisiert und dessen Vorschriften spätestens am
1 . Juli 2017 von den Providern umgesetzt sein müssen,
könnte für viele betroffene Unternehmen den finanziellen
Ruin bedeuten . Denn für eine entsprechende technische
Umsetzung müssten zunächst vollkommen neue Systeme
entwickelt werden . Zudem haben sich Hersteller bereits
dahingehend geäußert, dass sie vorerst keine entspre-
chenden neuen Systeme entwickeln werden – weil noch
nicht sicher ist, ob die Vorratsdatenspeicherung dieses
Mal vor Gerichten Bestand hat .
Die Linke hat mit ihrem Antrag „Auf Vorratsdaten-
speicherung verzichten“ ihre prinzipielle Ablehnung ei-
ner VDS deutlich gemacht . Sie ist ein unverhältnismä-
ßiger Eingriff in die Grundrechte der Bürgerinnen und
Bürger und grundsätzlich nicht mit der Europäischen
Grundrechtecharta vereinbar . Das „Gesetz zur Einfüh-
rung einer Speicherpflicht und einer Höchstspeicherfrist
für Verkehrsdaten“ verstößt aus unserer Sicht in den zen-
tralen Fragen der Erforderlichkeit und Verhältnismäßig-
keit gegen die Grundrechte .
Die Petitionen wären ein guter Anlass gewesen, das
hinter der VDS stehende Sicherheitskonzept der Massen-
überwachung zu überdenken, im Bundestag breit über
eine bürgerrechtliche Kehrtwende in der Innenpolitik zu
debattieren und das von weiten Teilen der Bevölkerung
als nicht verfassungskonform eingeschätzte Gesetz vor
entsprechenden Urteilen in Karlsruhe und Luxemburg
zurückzunehmen . Der negative Abschluss aller Petitio-
nen stellt somit eine vertane Chance dar .
Anlage 7
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Jan Korte, Kerstin Kassner,
Kersten Steinke und Birgit Wöllert (alle DIE
LINKE) zu der Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Petitionsausschusses: Sammel-
übersicht 350 zu Petitionen (Strafprozessordnung)
(Zusatztagesordnungspunkt 3 j)
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 201618136
(A) (C)
(B) (D)
Zwar besteht hinsichtlich der Aufforderung an die
Bundesregierung, sich für eine Aufhebung der EU-Richt-
linie zur Vorratsdatenspeicherung (VDS) einzusetzen, in-
zwischen kein Handlungsbedarf mehr, dennoch können
wir dem ablehnenden Abschluss der Petitionen nicht
zustimmen, da die darin geäußerten Kritikpunkte aus
unserer Sicht auch nach Aufhebung der EU-Richtlinie
aufgrund des Inkrafttretens des neuen Gesetzes zur VDS
in Deutschland am 18 . Dezember 2015 Bestand haben .
Jede Speicherung und Verarbeitung von personenbe-
zogenen und personenbeziehbaren Daten stellt einen Ein-
griff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestim-
mung dar . Es ist dabei unerheblich, ob die Speicherung
bei staatlichen Stellen oder durch gesetzliche Verpflich-
tung bei privaten Stellen stattfindet. Um das Grundrecht
auf informationelle Selbstbestimmung zu schützen, wur-
den im Datenschutzrecht wesentliche Grundsätze entwi-
ckelt: der Erlaubnisvorbehalt für die Erhebung, Speiche-
rung und Verarbeitung von Daten; Datensparsamkeit und
Datenvermeidbarkeit, Zweckbindung erhobener Daten;
Erforderlichkeit für den zu erreichenden Zweck; Trans-
parenz darüber, wo welche Daten gespeichert sind .
Durch eine VDS werden diese Grundsätze und damit
das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ver-
letzt . Daten werden ohne jeden konkreten Anlass und in
großen Massen gespeichert . Nur ein Bruchteil der ge-
speicherten Daten wird für den Zweck der angestrebten
Aufklärung schwerer und schwerster Straftaten abgeru-
fen werden .
Die VDS kann nicht allein aus der Perspektive des
Bedarfs der Sicherheitsbehörden an Daten zur Verbre-
chensaufklärung oder der Gefahrenabwehr betrachtet
werden. Der Gesetzgeber steht auch in der Pflicht, die
grundrechtlichen und gesellschaftspolitischen Folgen
einer solchen Speicherpflicht in den Blick zu nehmen.
Verspüren die Bürgerinnen und Bürger angesichts immer
neuer Speicherpflichten, erweiterter Zugriffsmöglichkei-
ten von Behörden auf vorhandene Daten, das massenhaf-
te Ausspähen von Daten durch eigene und fremde Nach-
richtendienste, Daten- und Identitätsdiebstahl im Internet
eine zunehmende Verunsicherung, so liegt darin auch
eine Gefahr für die Demokratie .
Die Befürchtung, wonach die VDS, mit ihrer derart
weitreichenden Registrierung sensibler Informationen,
Datenmissbrauch und -pannen begünstige, konnte nicht
ausgeräumt werden . Gleiches gilt für die prognostizier-
te Gefahr, dass sich aufgrund der VDS die Bürger be-
obachtet und kontrolliert fühlen und unter einer Art
Generalverdacht stünden . Insbesondere jedoch die Ge-
fahr, dass aufgrund des erheblichen Interesses an den
gesammelten Daten die ursprünglich gesetzten Grenzen
für die Verwendung der Daten zunehmend aufgeweicht
werden, hat sich mittlerweile bestätigt: Bereits wenige
Tage vor Inkrafttreten der VDS unternahm die CSU be-
reits einen ersten Vorstoß zur Ausweitung des Gesetzes .
Am 15 . Dezember 2015 beschloss die Landesregierung
in Bayern ein neues Verfassungsschutzgesetz, das dem
Geheimdienst ermöglicht, die bei der VDS gespeicher-
ten Informationen anzuzapfen . Diese Möglichkeit hatte
Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) im Gesetzge-
bungsprozess stets öffentlich verneint . Außerdem ist bis
zum heutigen Tag nicht erkennbar, geschweige denn in
irgendeiner Form empirisch belegt, dass alternative Er-
mittlungsmethoden signifikante Nachteile für die Straf-
verfolgung nach sich zögen .
In der am 21 . September 2015 zu der Thematik im
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz des Deut-
schen Bundestags durchgeführten öffentlichen Anhörung
mussten auch die von der Koalition benannten Sachver-
ständigen einräumen, aussagekräftige Statistiken nicht
liefern zu können . Heide Sandkuhl vom Deutschen An-
waltverein (DAV) wies zu Recht darauf hin, dass der
Gesetzgeber aber genau dies vor einer Verabschiedung
des Gesetzes leisten müsse und es eben nicht ausreiche,
einfach zu behaupten, dass die Strafverfolgung einer
VDS für alle 80 Millionen Bundesbürger bedürfe . Laut
einer Studie wirke sie sich nämlich auf die Verbrechens-
bekämpfung praktisch gar nicht aus, und auch seit dem
Wegfall der VDS im Jahr 2010 seien keine Sicherheits-
lücken nachweisbar . Sie wies außerdem darauf hin, dass
der Gesetzentwurf – anders als das Bundesjustizministe-
rium behaupte – Auskunftsrechte für Geheimdienste ent-
hält . Staatliche Stellen dürften selbst „Früchte illegaler
Datensammlung“ verwerten .
Der Anwalt Meinhard Starostik kritisierte in seinem
Statement ebenfalls, dass noch immer nicht zweifelsfrei
erwiesen wäre, dass die VDS erforderlich sei . Er verwies
außerdem auf den Begriff der Überwachungsgesamt-
rechnung . Diese sei vor dem Hintergrund neuer Über-
wachungsmaßnahmen wie den sieben Millionen jährlich
automatisiert beauskunfteten Bestandsdaten und den
Enthüllungen von Snowden neu zu bewerten . Starostik
wies ferner darauf hin, dass es außerdem im privaten Be-
reich noch viele andere Datensammlungen von erhebli-
chem Umfang gebe, auf die der Staat prinzipiell ebenfalls
zugreifen könne . Entsprechend seien die Risiken einer
Profilbildung enorm gewachsen.
Als problematisch erweist sich auch, dass sich die
Bundesregierung im Gesetzgebungsprozess im Detail
keinerlei Gedanken zur konkreten Umsetzung des Geset-
zes in puncto Datensicherheit gemacht hatte und lediglich
darauf verwies, dass die Bundesnetzagentur für Elektri-
zität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen
(Bundesnetzagentur) entsprechende Verfahren „nach
dem Stand der Technik“ im Benehmen mit dem BSI und
der Bundesdatenschutzbeauftragten festlegen werde . Der
kürzlich von der Bundesagentur vorgelegte Entwurf zum
„Katalog von technischen Vorkehrungen und sonstigen
Maßnahmen“, der die Anforderungen an die im vergan-
genen Jahr beschlossene Vorratsdatenspeicherung nun
konkretisiert und dessen Vorschriften spätestens am
1 . Juli 2017 von den Providern umgesetzt sein müssen,
könnte für viele betroffene Unternehmen den finanziellen
Ruin bedeuten . Denn für eine entsprechende technische
Umsetzung müssten zunächst vollkommen neue Systeme
entwickelt werden . Zudem haben sich Hersteller bereits
dahin gehend geäußert, dass sie vorerst keine entspre-
chenden neuen Systeme entwickeln werden – weil noch
nicht sicher ist, ob die Vorratsdatenspeicherung dieses
Mal vor Gerichten Bestand hat .
Die Linke hat mit ihrem Antrag „Auf Vorratsdaten-
speicherung verzichten“ ihre prinzipielle Ablehnung ei-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 18137
(A) (C)
(B) (D)
ner VDS deutlich gemacht . Sie ist ein unverhältnismä-
ßiger Eingriff in die Grundrechte der Bürgerinnen und
Bürger und grundsätzlich nicht mit der Europäischen
Grundrechtecharta vereinbar . Das „Gesetz zur Einfüh-
rung einer Speicherpflicht und einer Höchstspeicherfrist
für Verkehrsdaten“ verstößt aus unserer Sicht in den zen-
tralen Fragen der Erforderlichkeit und Verhältnismäßig-
keit gegen die Grundrechte .
Die Petitionen, von denen die größte von 64 704 Mit-
zeichnern unterstützt wurde, wären ein guter Anlass ge-
wesen, das hinter der VDS stehende Sicherheitskonzept
der Massenüberwachung zu überdenken, im Bundestag
breit über eine bürgerrechtliche Kehrtwende in der In-
nenpolitik zu debattieren und das von weiten Teilen der
Bevölkerung als nicht verfassungskonform eingeschätzte
Gesetz vor entsprechenden Urteilen in Karlsruhe und Lu-
xemburg zurückzunehmen . Der negative Abschluss aller
Petitionen stellt somit eine vertane Chance dar .
Anlage 8
Erklärungen nach § 31 GO
zu der Abstimmung über den von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Regulierung des Prostitutionsgewerbes sowie zum
Schutz von in der Prostitution tätigen Personen
(Tagesordnungspunkt 18 a)
Rudolf Henke (CDU/CSU): Der Deutsche Bundes-
tag stimmt heute über das von der Bundesregierung ein-
gebrachte Gesetz zur Regulierung des Prostitutionsge-
werbes sowie zum Schutz von in der Prostitution tätigen
Personen ab . Grundsätzlich begrüße ich diesen Schritt,
da die Evaluation des im Jahre 2001 durch den Deut-
schen Bundestag beschlossenen Prostitutionsgesetzes
und der damit verbundene Bericht der Bundesregierung
aus dem Jahr 2007 dessen Defizite deutlich gemacht ha-
ben . Im Einklang mit den Koalitionsfraktionen stimme
ich dem Gesetz zu .
Gleichwohl sehe ich einen Aspekt des Gesetzes sehr
skeptisch, da er nach meiner Auffassung im Gegensatz
zu dem sonst von der Bundesregierung verfolgten Ansatz
steht, Aufklärungsangebote über sexuell übertragbare In-
fektionen (STI) etc . anonym und niederschwellig anzu-
bieten: die verpflichtende gesundheitliche Beratung nach
dem neuen § 10 . Das Gesetz besagt in diesem Paragra-
fen, dass „eine gesundheitliche Beratung durch eine für
den Öffentlichen Gesundheitsdienst zuständige Behörde
angeboten“ werden soll, lässt den Bundesländern jedoch
das Recht offen, auch eine andere Behörde für die Durch-
führung dieser Beratung zu bestimmen .
In der Strategie der Bundesregierung zur Eindäm-
mung von HIV, Hepatitis B und C und anderen sexuell
übertragbaren Krankheiten, die das Vorgehen in diesem
Bereich bis zum Jahre 2030 skizziert und auch Bezug auf
die gängige Praxis nimmt, ist festgehalten, dass „spezi-
fische niedrigschwellige und anonyme Beratungs- und
Testangebote insbesondere durch den Öffentlichen Ge-
sundheitsdienst und freie Träger angeboten werden“ .
Auch das Infektionsschutzgesetz definiert in § 19 die
Aufgaben des Gesundheitsamtes folgendermaßen: „Das
Gesundheitsamt bietet bezüglich sexuell übertragbarer
Krankheiten und Tuberkulose Beratung und Untersu-
chung an … Die Angebote können bezüglich sexuell
übertragbarer Krankheiten anonym in Anspruch genom-
men werden, soweit hierdurch die Geltendmachung von
Kostenerstattungsansprüchen … nicht gefährdet wird .“
Es ist nicht zu erwarten, dass die verpflichtende ge-
sundheitliche Beratung, die das Gesetz nun für Prostitu-
ierte verbindlich vorsieht, von einer anderen Institution
als dem Öffentlichen Gesundheitsdienst durchgeführt
wird .
Falls sich diese Annahme bestätigt, wäre ein und
dieselbe Institution gleichzeitig sowohl für ein nieder-
schwelliges und anonymes Angebot zuständig als auch
für eine verpflichtende Beratung mit Erfassung perso-
nenbezogener Daten . Im Falle des Verstoßes gegen die
Beratungspflicht können Bußgelder verhängt werden.
Nach vielen Gesprächen mit Vertretern der unter-
schiedlichsten Gesundheitsämter und Personen, die in
der Aufklärungsarbeit tätig sind, komme ich zu der Ein-
schätzung, dass diese Regelung das bestehende anonym
wahrnehmbare Hilfsangebot des Öffentlichen Gesund-
heitsdienstes in Frage stellt . Deshalb plädiere ich dafür,
die jetzt beschlossene Regelung und den Zusammenhang
zur anonymen Beratung durch den Öffentlichen Gesund-
heitsdienst frühzeitig zu evaluieren und falls notwendig
Änderungen vorzunehmen, um die erfolgreichen Initia-
tiven des Öffentlichen Gesundheitsdienstes nicht zu ge-
fährden .
Im Übrigen müssen die Länder eine ausreichende per-
sonelle Ausstattung der mit der Pflichtberatung beauf-
tragten Behörden sicherstellen .
Mechthild Rawert (SPD): Ich stimme dem obigen
Gesetzentwurf aus unten aufgeführten Gründen nicht zu .
Die SPD-Bundestagsfraktion will den Schutz der in
der legalen Prostitution arbeitenden Frauen, Männer,
Transmenschen in Deutschland verbessern . Dabei ist die
Einschätzung über ihre Lage schwierig, da statistische
Daten über eine Anzahl ebenso fehlen wie Erhebungen
über die Art ihrer Beschäftigung (unter anderem in einem
Prostitutionsbetrieb, mit welcher Rechtstellung innerhalb
des Betriebs, auf der Straße etc .; nebenbei, gelegentlich
oder für einen kurzen Lebensabschnitt tätig etc .) . Fach-
beratungsstellen schätzen, dass insgesamt mehr als die
Hälfte aller Sexarbeitenden ausländischer Herkunft, zu-
meist aus Osteuropa, sind . Diese Ausgangslage erschwert
ein Gesetz zum Schutz der in der Prostitution Tätigen,
welches ihren unterschiedlichen – auch aufenthaltsrecht-
lichen – Lebenslagen gerecht wird .
Lange wurde in der Koalition um die Ausgestaltung
des Gesetzes gestritten . Unbestritten war relativ schnell,
die Mindeststandards für die Arbeitsbedingungen in den
Prostitutionsbetrieben festzulegen und eine Erlaubnis-
pflicht zum Betreiben von Prostitutionsstätten zu formu-
lieren sowie Kontrollrechte mit Sanktionsmöglichkeiten
zu schaffen . Dies stärkt das Selbstbestimmungsrecht der
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 201618138
(A) (C)
(B) (D)
Sexarbeitenden und beendet menschenunwürdige Ge-
schäftsmodelle .
Aus der CDU/CSU-Fraktion kamen aber auch For-
derungen wie Erhöhung des Mindestalters oberhalb der
Volljährigkeitsgrenze und verpflichtende gesundheitliche
Untersuchungen . Ich begrüße, dass sich diese Forderun-
gen nicht durchgesetzt haben .
Gesundheitspolitische Erwägungen:
Gesundheitspolitische Maßnahmen und gesetzliche
Regelungen müssen sowohl praxistauglich sein als auch
in den gesundheitspolitischen Kanon passen . Gerade in
der Gesundheitspolitik gilt es, die Selbstbestimmung
des Menschen zu achten und zu stärken . Deshalb hat
der Deutsche Bundestag 2001 beim Übergang vom Seu-
chenschutzgesetz zum Infektionsschutzgesetz auch einen
Paradigmenwechsel vollzogen: Der Öffentliche Gesund-
heitsdienst (ÖGD) wurde „beauftragt“ die Bevölkerung
in die Lage zu versetzen, selbst- und eigenverantwortlich
mit der eigenen Gesundheit umzugehen . Der ÖGD hat
nun die Aufgabe zu informieren und zu beraten . Im sen-
siblen Themenfeld sexuell übertragbarer Krankheiten ist
mit § 19 Infektionsschutzgesetz ausdrücklich die anony-
me Beratung zugelassen .
Im vorliegenden Gesetzentwurf ist im § 10 „Gesund-
heitliche Beratung“ festgeschrieben, dass Personen, die
als Sexarbeitende tätig sind oder eine solche Tätigkeit
aufnehmen wollen, eine gesundheitliche Beratung durch
eine für den ÖGD zuständige Behörde angeboten wird .
Gesundheitliche Beratungsangebote für Menschen in der
Prostitution sind grundsätzlich begrüßenswert .
Aus meinem Wahlkreis Berlin-Tempelhof-Schöne-
berg, in dem ein europaweit bekannter Straßenstrich seit
mehr als hundert Jahren besteht, weiß ich, dass dort täti-
ge Sexarbeitende sehr gern die freiwilligen und teilweise
auch anonymen gesundheitlichen Beratungen und Hilfen
annehmen – das Angebot deckt nicht die Nachfrage, so-
dass sogar Wartezeiten entstehen . Es wäre wünschens-
wert, diese freiwilligen Angebote durch das Gesetz aus-
zubauen .
Stattdessen ist das bereitzustellende Beratungsange-
bot des ÖGD für die Sexarbeitenden verpflichtend. Zur
Ausübung der Tätigkeit Prostitution muss künftig eine
Registrierung erfolgen . Diese Anmeldung kann nur mit-
tels Nachweis einer Bescheinigung über eine gesundheit-
liche Beratung erfolgen . Die gesundheitliche Beratung
ist somit eine „Zwangsberatung“ . Ich stimme mit den
Fachberatungsstellen und Verbänden wie zum Beispiel
der Deutschen Aidshilfe überein, dass eine Zwangsbera-
tung kontraproduktiv ist .
Gesundheitliche Beratungen sind nur „erfolgreich“,
wenn die zu Beratenden offen für eine Beratung sind . Als
Sozialpädagogin und Diplom-Pädagogin kenne ich die
Grundsätze erfolgreicher Beratung: Der Beratungsbedarf
hat von der zu beratenden Person auszugehen .
Mit den erzwungenen Beratungen für die Anmeldung
und die Beratungswiederholungen nach zwölf Monaten
bzw . sechs Monaten für die unter 21-Jährigen, die wei-
terhin in der Prostitution arbeiten wollen, werden Res-
sourcen von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern und
Ärztinnen und Ärzten des Öffentlichen Gesundheits-
dienstes gebunden – geschweige denn, dass sie alleine
für die „Zwangsberatung“ in ausreichendem Umfang zur
Verfügung stehen . Das Fachpersonal steht für den „ech-
ten“ Beratungsbedarf dann nicht mehr zur Verfügung . Es
ist zu befürchten, dass das jahrelang durch den ÖGD auf-
gebaute Vertrauen verloren geht und Sexarbeitende mit
gesundheitlichen Problemen oder Beratungsbedarf nicht
mehr zum ÖGD gehen .
Laut Erläuterungen zum § 10 des Gesetzentwurfes
sollen Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter und Ärz-
tinnen und Ärzte neben der gesundheitlichen Beratung
dazu beitragen, Menschenhandel und Zwangsprostituti-
on einzudämmen . Sie sollen eine vertrauensvolle Atmo-
sphäre schaffen, die es den Sexarbeitenden ermöglicht,
sich zu öffnen, wenn sie Opfer von Menschenhandel oder
Zwangsprostitution sind . Doch Menschenhandelsopfer
und Zwangsprostituierte werden von den Zuhältern und
Menschenhändlern unter Druck gesetzt, damit sie sich
nicht als Opfer zu erkennen geben . Zudem werden Fol-
gen des Erkennens einer Zwangslage von Sexarbeitenden
für die Bediensteten des ÖGD nicht definiert. Sie können
lediglich den Beratungsschein verweigern . Dadurch wird
eine Anmeldung unmöglich . Was geschieht dann aber
den Opfern von Zwangsprostitution und Menschenhan-
del? Wie sollen sie erreichbar bleiben für Hilfseinrich-
tungen bzw . Polizei und Staatsanwaltschaft? Die Zuhäl-
terinnen und Zuhälter und Menschenhändlerinnen und
Menschenhändler werden nicht zusehen, bis der ÖGD
eine Lösung gefunden hat . Aus der fachlichen Sicht der
Großstadtgesundheitsämter und des Bundesverbandes
der Ärztinnen und Ärzte im öffentlichen Gesundheits-
dienst (BVÖGD) – vergleiche ihre Stellungnahme zum
Referentenentwurf – entspricht eine Anmelde- und Be-
ratungspflicht nicht der Zielsetzung des Schutzes von in
der Prostitution tätigen Personen . Sie stellen in ihrer Stel-
lungnahme als Fazit fest:
„Die vorgesehene Anmelde- und Beratungspflicht für
Sexarbeitende stellt einen erheblichen Eingriff in Persön-
lichkeitsrechte dar . Sie ist in hohem Maße stigmatisie-
rend und ungeeignet, mögliche Opfer von Menschenhan-
del und Gewalt zu identifizieren und zu schützen.
Eine Mitwirkung von Gesundheitsämtern bei der
Umsetzung des Entwurfs stimmt nicht mit den gelten-
den Rechtsnormen überein, da sie im Widerspruch zum
bewährten IfSG steht . Sie gefährdet zudem die Erfolge
der auf Vertrauen beruhenden Präventionsarbeit der Ge-
sundheitsämter .“
Finanzierung:
Die Kosten zur Umsetzung des vorliegenden Gesetz-
entwurfes werden bis auf einen kleinen Bruchteil von
33 000 Euro für die Evaluation des Gesetzes den Bun-
desländern auferlegt . Die Bundesregierung schätzt die
Kosten für den einmaligen Umstellungsaufwand für die
Verwaltung auf etwa 11 Millionen Euro und den jähr-
lichen Aufwand auf etwa 13 Millionen Euro – davon
sollen allein einmalig 6 Millionen und jährlich 7 Mil-
lionen Euro auf den ÖGD entfallen . Die realen Kosten
sind lediglich geschätzt, da es keine belastbaren Zahlen/
Statistiken über die Anzahl der Sexarbeitenden gibt . Die
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 18139
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(B) (D)
Bundesregierung hat aus den unterschiedlichen vorlie-
genden Schätzungen, die von 150 000 bis 700 000 Sexar-
beitenden reichen, die Schätzung des Runden Tisches
Prostitution NRW genommen und hochgerechnet, so-
dass zur Berechnungsgrundlage 200 000 Sexarbeitende
und eine jährliche Fluktuation von 50 000 zustande kam .
Daher kommt der Bundesrat – zu Recht – zu folgender
Einschätzung . Dieser stellte fest, „dass die Kosten, die
mit dem Gesetzentwurf für die Haushalte der Länder und
Kommunen verbunden sein werden, im Gesetzentwurf
nur unzureichend spezifiziert und ausgewiesen sind. In
der Berechnung des Erfüllungsaufwandes der Verwal-
tung sind beispielsweise die Mehrkosten für Wider-
spruchsverfahren oder für Übersetzungen und Sprach-
mittlung nicht enthalten . Soweit in der Berechnung zu
einzelnen Vorgaben des Gesetzentwurfs Kostenangaben
zum einmaligen Umstellungsaufwand und zum dauer-
haften jährlichen Aufwand gemacht werden, ist teilweise
nicht erkennbar, auf welchen Berechnungsparametern
(zum Beispiel Aufwand je Fall) diese beruhen . Daher ist
die Berechnung nicht nachvollziehbar und prüfbar .“
Nachfragen in Berlin haben ergeben: Die Zahl der
notwendigen Zwangsberatungen wird bundesweit auf
450 000 geschätzt, was einem zusätzlichen Personalauf-
wand von „mehreren Dutzend“ entspräche . Hinzu kom-
men begleitende Kosten wie Dolmetscherinnen und Dol-
metscher mit medizinischer Fachkenntnis . Diese kosten
45 Euro die Stunde . Der Finanzierungsaufwand für die
Länder wird also sehr viel höher liegen als im Gesetzent-
wurf angegeben .
Die Länder haben für ihre Haushalte keine valide Da-
tenlage . In meinem Bundesland Berlin ist zudem der Be-
schluss von Doppelhaushalten üblich . Der Haushalt für
2016/2017 wurde pünktlich beschlossen . Das Prostituti-
onsschutzgesetz soll zum 1 . Juli 2017 in Kraft treten . Das
Land Berlin hat keine Chance – nach einer eigenen va-
liden Berechnung und damit auch Personalgestaltung –,
die entstehenden Kosten im Haushalt einzuplanen .
Datenschutz:
Prostitution in Deutschland ist nach wie vor mit ei-
nem Stigma belegt . Die Ministerialbeamtin Claudia
Zimmermann-Schwartz aus dem Ministerium für Ge-
sundheit, Emanzipation, Pflege und Alter des Landes
Nordrhein-Westfalen geht zu Recht davon aus: „Die
gesetzliche Vorgabe, sowohl die Anmeldebescheinigung
als auch die Bescheinigung über die erfolgte Gesund-
heitsberatung mit sich zu führen, erhöht die Gefahr eines
unfreiwilligen Outings sowie die Erpressbarkeit durch
Kunden, die sich die Bescheinigungen vorlegen lassen
können und damit persönliche Daten in Erfahrung brin-
gen .“ Die Regelung stellt damit ein datenschutzrechtli-
ches Problem dar .
Anlage 9
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke und Heike
Hänsel (beide DIE LINKE) zu den Abstimmungen
– über den von der Bundesregierung eingebrach-
ten Entwurf eines Gesetzes zur Regulierung des
Prostitutionsgewerbes sowie zum Schutz von in
der Prostitution tätigen Personen,
– über die Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia
Möhring, Ulla Jelpke, Sigrid Hupach, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE:
Selbstbestimmungsrechte von Sexarbeiterinnen
und Sexarbeitern stärken und
– zu dem Antrag der Abgeordneten Ulle Schauws,
Katja Dörner, Dr. Franziska Brantner, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN: Gesetz zur Regulierung von
Prostitutionsstätten vorlegen
(Tagesordnungspunkt 18 a und b)
Wir haben zu allen Gesetzentwürfen, Anträgen und
Entschließungen betreffend Prostitution mit Nein ge-
stimmt, auch zu dem von unserer eigenen Fraktion vor-
gelegten Dokument .
Wir sind für eine freie, lustvolle Sexualität . Gekaufter
Sex hat damit nichts zu tun . Er unterwirft vielmehr den
Körper der sich Prostituierenden der willfährigen Verfü-
gung durch den Käufer .
Prostitution ist das Gegenteil von sexueller Selbst-
bestimmung . Prostitution ist organisierte Gewalt gegen
Frauen und auch Männer . Die erdrückende Mehrheit der
Prostituierten wird regelmäßig sexuell und psychisch
missbraucht, sie wird von Freiern und Zuhältern verge-
waltigt, körperlich angegriffen, geschlagen, sie lebt unter
ständiger Androhung von Gewalt .
Prostitution und Menschenhandel gehen Hand in
Hand . In der Europäischen Union sind über 60 Prozent
des Menschenhandels auf sexuelle Ausbeutung gerich-
tet – und hier werden Milliarden Euro verdient: vom or-
ganisierten Verbrechen, nicht von den Prostituierten . Die
kommen vielmehr aus und bleiben letztlich in Armut .
Prostitution in Deutschland ist ein rassistisches Aus-
beutungsverhältnis . Etwa zwei Drittel der sich Prostituie-
renden hierzulande kommen aus Osteuropa, namentlich
aus Bulgarien und Rumänien .
Auch unter den legalen Bedingungen wird Prostituti-
on ständig und fortschreitend entwertet in einem Preis-
und Leistungswettbewerb nach unten . Prostitution wird
zum Akkord und Akkord ist bekanntlich Mord .
Prostitution ist ein zutiefst hierarchisches Verhältnis,
in dem nicht die Arbeitskraft der sich Prostituierenden
benutzt – und verbraucht – wird, sondern ihr Körper
und ihre Seele als Ganzes . Prostitution als solche wider-
spricht allen Kriterien, die an „normale Arbeit“ angelegt
werden, wie: der körperlichen Unversehrtheit, Würde,
Selbstbestimmung .
Der Gesetzentwurf der Koalition bedeutet eine wei-
tere Stigmatisierung und Entrechtung der Prostituierten .
Das ist der falsche Weg . Wir brauchen keine schärferen
Gesetze, sondern eine breite Diskussion in der Gesell-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 201618140
(A) (C)
(B) (D)
schaft, wie wir uns einem Leben ohne Prostitution annä-
hern können .
Anlage 10
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Martin Burkert (SPD) zu der
Abstimmung über den von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Stär-
kung des Wettbewerbs im Eisenbahnbereich (Ta-
gesordnungspunkt 22)
Ich stimme gegen den Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung in der Ausschussfassung – Drucksachen 18/9099,
18/8334 .
Aus § 37 (2) in Verbindung mit den Sätzen 4 und 5
von § 36 (2) des vorliegenden Gesetzentwurfs resultie-
ren meiner Einschätzung nach untragbare Mehrbelas-
tungen für den Schienenpersonenfernverkehr (SPFV) in
Deutschland . Demnach sollen Kostensteigerungen bei
der Eisenbahninfrastruktur für den Schienenpersonen-
nahverkehr, welche die Rate von jährlich 1,8 Prozent
übersteigen, dem SPFV zusätzlich zu den von ihm selbst
zu tragenden Kosten und Kostensteigerungen aufgebür-
det werden . Die Arbeitnehmer/innen des Sektors müssen
deshalb fürchten, hiervon in der Konsequenz negativ be-
troffen zu sein .
In der gegenwärtig und noch bis Ende 2019 gültigen
Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung (LuFV II)
zwischen dem Bund und der DB AG wurden jährliche
Steigerungsraten der Trassenpreise von 2,4 Prozent zu-
grunde gelegt . Wenn diese Einnahmen nicht erreicht
werden, bleibt nur die Möglichkeit, Unterhalt und Erneu-
erung der Eisenbahninfrastruktur erneut zu vernachläs-
sigen oder die zwischen Bund und DB AG vereinbarten
Dividendenzahlungen durch Verschuldung zu finanzie-
ren . Damit würde das Gesetz zulasten Dritter gehen – in
diesem Fall der DB AG .
Die im vorliegenden Gesetzentwurf verankerte Be-
grenzung der Trassen- und Stationspreise des Schienen-
personennahverkehrs kann auf eine Mehrbelastung des
Fernverkehrs in Höhe von rund 25 Millionen Euro im
Fahrplanjahr 2018 hinauslaufen . 2019 wären es bereits
rund 50 Millionen Euro . Bis zum Jahr 2030 entstünde
kumuliert eine Zusatzbelastung von bis zu 2,3 Milliarden
Euro . Die zugehörige Befristung der Regelung auf drei
Jahre bedeutet keine Entschärfung des Problems . Wie
der 19 . Deutsche Bundestag damit umgehen wird, bleibt
völlig offen . Für die im SPFV notwendigen Investitionen
bedarf es aber langfristig sicherer Rahmenbedingungen,
welche für die nächsten Jahre nicht gegeben wären .
Es ist mir wichtig, zu erklären, dass im vorliegenden
Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs
im Eisenbahnbereich an vielen Stellen sinnvolle Rege-
lungen erreicht werden konnten, die grundsätzlich zu be-
grüßen sind . Das beschriebene Risiko für den Schienen-
sektor, welches aus den gesetzlichen Regelungen in § 36
und § 37 resultiert, ist meiner Meinung nach allerdings
nicht hinnehmbar .
Anlage 11
Zu Protokoll gegebene Rede
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung
des Wettbewerbs im Eisenbahnbereich (Tagesord-
nungspunkt 22)
Ulrich Lange (CDU/CSU): Mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf hat es sich lange verhalten wie mit der
Bahn selbst: Man wusste nicht, ob es pünktlich ankom-
men wird . Aber wir haben gründlich und zuverlässig ge-
liefert .
Mit diesem Gesetzentwurf verbessern wir Wettbewerb
und Effizienz. Wir stärken damit den Verkehrsträger
Schiene . Das ist nicht nur für uns in Deutschland wichtig,
sondern für ganz Europa, denn wir alle wissen, dass der
Schienenverkehr inzwischen ein wichtiges europäisches
Transportmittel ist .
Für einen funktionierenden und fairen Wettbewerb
sind wir daher umso mehr auf klare und transparente
Regelungen angewiesen . Hierfür wird das Eisenbahn-
regulierungsgesetz – das im Zentrum des vorliegenden
Entwurfs steht – den richtigen Rahmen bilden .
Es war wahrlich kein einfaches Gesetzesvorhaben .
Der Bundesrat hatte weit über 50 Änderungswünsche .
Viele davon wurden aufgegriffen, es wurden zahlreiche
Gespräche geführt, hitzige Diskussionen ausgetragen
und dann in den allermeisten Fällen auch Lösungen ge-
funden . Der umfangreiche Änderungsantrag der Koaliti-
onsfraktionen sorgt hier noch einmal für weitere Verbes-
serungen .
Lassen Sie mich vorab aber eines zu der schrägen
medialen Debatte sagen, die gerade in den letzten Tagen
hochkochte und sich um die theoretische Gefahr dreh-
te, der Fernverkehr könne durch steigende Trassenpreise
ausgedünnt werden . Ich möchte da nur an eines erinnern,
das in der Diskussion zu kurz kommt: Noch nie gab es so
viel Geld für die Schiene . Mit der LuFV II stehen für die
Jahre 2015 bis 2019 insgesamt mindestens 28 Milliarden
Euro für die Schieneninfrastruktur zur Verfügung . Das
ist Rekord . Die Investitionen aus dem Verkehrshaushalt
steigen bis 2018 auf 5,6 Milliarden Euro an und liegen
damit um 1 Milliarde Euro höher als 2015 . Die Regiona-
lisierungsmittel werden auf 8,2 Milliarden Euro erhöht .
Die Bundesmittel, die für die Bahn bereitgestellt werden,
die Gelder, die in die Schieneninfrastruktur fließen, sind
in allen Bereichen gestiegen. Davon profitiert natürlich
auch der Fernverkehr . Damit stehen die Bahn und auch
der Fernverkehr so gut da wie lange nicht . Darüber soll-
ten sich doch alle, die hier lautstark protestieren, einmal
Gedanken machen!
Aber kommen wir doch einmal auf den Inhalt des Ge-
setzes zur Eisenbahnregulierung . Da geht es nämlich um
viel mehr .
Da geht es um: diskriminierungsfreien Zugang zur Ei-
senbahninfrastruktur, Regulierung der Nutzungsentgelte,
die Stärkung der Bundesnetzagentur .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 18141
(A) (C)
(B) (D)
Dabei setzen wir EU-Recht um, das vorsieht, dem Be-
treiber der Schienenwege, Anreize zur Senkung der ln-
frastrukturkosten und der Trassenentgelte zu geben .
Es wird daher künftig eine Entgeltgenehmigung für die
Trassenentgelte durch die Bundesnetzagentur (BNetzA)
geben . Das heißt, die BNetzA wird die Trassenpreise ge-
nehmigen, bevor sie erhoben werden .
Zudem können Anreize auch über vertragliche Verein-
barungen zur lnfrastrukturfinanzierung geschaffen wer-
den . Ich nenne nur das Stichwort „LuFV“ .
Besonders freue ich mich, dass jetzt durch unser Ge-
setz die Rechte der Bundesnetzagentur erheblich gestärkt
werden, unter anderem durch die eben angesprochene
Genehmigung der Nutzungsentgelte, aber auch durch
die Einrichtung von Beschlusskammern . Hier wird die
Regulierung der Eisenbahnen endlich an die Regulierung
in den Bereichen Telekommunikation, Post und Energie
angeglichen . Das war überfällig .
Auch durch die Übertragung der Überwachung der
Vorschriften über Struktur der Unternehmen und Unab-
hängigkeit der Infrastruktur vom Eisenbahn-Bundesamt
auf die Bundesnetzagentur wird diese deutlich gestärkt .
Kernthema für die Länder war natürlich der§ 37, das
heißt die Sonderregelung für SPNV-Entgelte, der eben
auch für die anfangs erwähnte Diskussion in den Medien
gesorgt hat . Die Sorge der Länder war, dass die Trassen-
preise über die Dynamisierungsrate bei den Regionalisie-
rungsmitteln hinaus steigen könnten .
Das haben wir aufgegriffen und diese Sorge durch
eine Kopplung von Entgeltsteigerung an Regionalisie-
rungsmittelsteigerung entkräftet . Ein nachträglich aufge-
nommener Evaluationsmechanismus gibt dem Bundes-
tag zudem jetzt die Möglichkeit, bei Fehlentwicklungen,
gegenzusteuern . Damit wird noch deutlicher, dass keine
Gefahr einer Ausdünnung des Fernverkehrs aus diesem
Grunde besteht .
Das Konzept der Bahn jedenfalls sieht vielmehr eine
Ausweitung des Fernverkehrs vor . Steigender Bahnver-
kehr führt zudem zu steigenden Trasseneinnahmen . Und
die Bahn konnte zuletzt einen Zuwachs im Fernverkehr
von rund 10 Prozent verzeichnen . Für 2016 rechnet die
Bahn mit 132 Millionen Reisenden im Fernverkehr .
Daher freue ich mich, dass wir auch beim § 37 letzt-
lich zu einer für alle Seiten zufriedenstellenden Lösung
gekommen sind . Die Beteiligten wissen selbst am besten,
dass das in der Tat nicht so einfach war .
Insgesamt haben wir ein gutes und schlüssiges Gesetz
vorliegen . Es ist wichtig, dass wir mit der Eisenbahnre-
gulierung heute zu einer Gesamtlösung kommen . Nicht
nur, weil Brüssel das von uns zu Recht erwartet, um
unser integriertes Modell weiter betreiben zu können,
sondern auch, weil wir diese Regulierung brauchen, um
Wettbewerb und Effizienz auf der Schiene zu verbessern.
Ich danke den Verkehrspolitikern der Koalition für die
gute und sachliche Zusammenarbeit bei diesem umfang-
reichen Projekt . Ich bin der Meinung, es hat sich gelohnt .
Der Verkehrsträger Schiene wird weiter gestärkt . Das ist
für die Mobilität in Deutschland und Europa das richtige
Signal .
Anlage 12
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– der Beschlussempfehlung und des Berichts
des Ausschusses für Verkehr und digitale In-
frastruktur zu dem Antrag der Abgeordneten
Sabine Leidig, Herbert Behrens, Caren Lay,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE: Ausstieg aus Stuttgart 21 – Die Deut-
sche Bahn AG vor einem finanziellen Desaster
bewahren
– der Beschlussempfehlung und des Berichts
des Ausschusses für Verkehr und digitale In-
frastruktur zu dem Antrag der Abgeordneten
Sabine Leidig, Herbert Behrens, Caren Lay,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE: Änderung der Eisenbahnbau- und Be-
triebsordnung zur Erhöhung der Sicherheit im
Eisenbahnverkehr
– des Antrags der Abgeordneten Matthias Gastel,
Cem Özdemir, Stephan Kühn (Dresden), wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN: Kostenentwicklung
beim Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 kritisch
prüfen
(Tagesordnungspunkt 17 a bis c)
Steffen Bilger (CDU/CSU): Es ist nun vier Monate
her, seitdem wir uns das letzte Mal im Plenum mit dem
Antrag der Fraktion Die Linke zu Stuttgart 21 befasst
haben . Vier Monate, in denen die Baustelle große Fort-
schritte gemacht hat . Aber offensichtlich nicht genug
Zeit für die Gegner des Projekts, um neben Gerüchten
neue Fakten zu präsentieren .
Nun liegt uns auch noch ein Antrag von Bündnis 90/
Die Grünen vor . Meine Damen und Herren von den Grü-
nen, Sie sollten sich endlich klar werden, was Sie wollen .
Hinter uns liegen konstruktive Koalitionsverhandlungen
in Baden-Württemberg, bei denen wir viele Stunden um
den Umgang mit Stuttgart 21 gerungen haben . Mit Ver-
laub: Ihr Antrag passt nicht zu unserer Vereinbarung, in
der wir uns gemeinsam zur Unterstützung der planmäßi-
gen und zügigen Umsetzung des Projekts verpflichten.
Sie beschreiben Probleme, als würden Sie sich über je-
des einzelne davon freuen . Zudem konnten Sie sich im
Ausschuss noch nicht einmal zur Ablehnung des Lin-
ken-Antrags, der den Ausstieg aus Stuttgart 21 fordert,
durchringen . Dabei hat der baden-württembergische
Verkehrsminister erst kürzlich einen Ausstieg aus dem
Projekt kategorisch abgelehnt mit den Worten „seitdem
(also seit dem Volksentscheid von 2011) ist das für jeden
in der Regierung Pflicht, das Projekt zu begleiten und zu
befördern“ . So sehen wir das auch, und ich würde mich
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 201618142
(A) (C)
(B) (D)
freuen, wenn Sie im Bundestag ebenfalls dementspre-
chend handeln würden .
So langsam frage ich mich ja auch, warum wir eigent-
lich die Anhörungen im Verkehrsausschuss durchführen,
wenn dort, zumindest von der Opposition, anscheinend
keiner zuhört . Es ist doch jetzt gerade einmal zwei Wo-
chen her, dass Dr . Grube und seine Vorstandskollegen im
Ausschuss sehr ausgiebig Auskunft zum Stand und zur
weiteren Entwicklung von Stuttgart 21 gegeben haben,
einschließlich zu den Kosten des Projekts .
Halten wir uns doch mal an die Fakten . Ja, es gibt
mögliche Kostensteigerungen bei dem Projekt, das hat
die Bahn auch zugestanden . Aber erstens gibt es genau
für diese Fälle den Risikopuffer von über 500 Millionen
Euro, zweitens – wenn man sich die Gründe für die be-
kannten Kostensteigerungen ansieht, dann sind lediglich
die Hälfte dieser Mehrkosten baubedingt – Mittel für ei-
nen verbesserten Brandschutz und die nötigen baulichen
Änderungen durch die Besonderheiten des Untergrunds .
Es ist richtig, dass die Bahn diese Änderungen jetzt
vornimmt, denn ich möchte später niemandem erklären
müssen, dass wir beim Brandschutz nicht die neuesten
Erkenntnisse berücksichtigt haben, nur um ein paar Mil-
lionen zu sparen .
Die andere Hälfte entstammt in Teilen aus Mehrkos-
ten für den Artenschutz . Ich kann mir beim besten Willen
nicht vorstellen, dass Sie, liebe Oppositionsvertreter, et-
was gegen diese Ausgaben haben können .
Auch ich bin Verfechter eines weitreichenden Na-
turschutzes . Aber wenn ich mir die Situation bei Stutt-
gart 21 anschaue, dann stellt sich mir schon die Frage,
ob das alles noch verhältnismäßig ist: 10 000 Eidechsen,
die allesamt umgesiedelt und anschließend 30 Jahre lang
beaufsichtigt werden müssen . Kostenpunkt: 8 600 Euro
pro Eidechse . Ganz zu schweigen von den Kosten für den
Schutz von Bäumen und Juchtenkäfern, um deren Wohl-
ergehen sich an anderer Stelle in Stuttgart keiner so viele
Gedanken macht .
Natürlich geht es beim Risiko weiterer Mehrkosten
nicht nur um Brandschutz und Eidechsen, sondern auch
um ganz andere Themen . Das nehmen wir sehr ernst,
und deshalb finde ich es auch gut, dass erst vor weni-
gen Tagen im Lenkungskreis ja Maßnahmen besprochen
wurden, wie die Kostenrisiken reduziert werden können .
Wir alle sollten die Projektpartner dabei bestmöglich un-
terstützen und unseren Beitrag leisten, dass das Projekt
zügig weiter vorangeht .
Der Antrag der Fraktion Die Linke stützt sich auf zwei
Gutachten von „unabhängigen Experten“, die Ausbau-
kosten von mindestens 10 Milliarden bis hin zu 15,5 Mil-
liarden Euro prognostiziert haben . Nun gibt es Gerüchte
um einen Bericht des Bundesrechnungshofs, der angeb-
lich auch von weiteren Kostensteigerungen ausgeht .
Ist Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, eigentlich
auch etwas aufgefallen? Es gibt Gesetzmäßigkeiten bei
Stuttgart-21-Debatten im Bundestag . Eine ist, dass jedes
Mal am Tag vor unserer Debatte hier im Hohen Hause in
irgendeiner Zeitung, zumeist in der Stuttgarter Zeitung,
ein Bericht mit neuen Horrormeldungen zu Stuttgart 21
erscheint. Ich finde diese Art der Pressearbeit so langsam
ermüdend .
Keine Frage: Jeder Euro Kostensteigerung ist äußerst
ärgerlich . Dabei sollten aber auch die anderen Aspekte
rund um Stuttgart 21 nicht zu kurz kommen .
Ich möchte Ihnen daher noch ein paar andere Zahlen
präsentieren: 7,7 Prozent! Um so viel legten die Mieten
in Stuttgart 2015, 2016 zu . Ein neuer Rekordwert, was
aber nur insoweit bedeutsam ist, als dass jährliche Miet-
preissteigerungen von 7 Prozent in Stuttgart normal ge-
worden sind .
13,84 Euro pro Quadratmeter! Das ist die durchschnitt-
liche Kaltmiete, die für Wohnen in Stuttgart zu entrichten
ist . Das stellt viele Familien, gerade mit geringeren Ein-
kommen, vor ganz erhebliche Probleme, Probleme, die
mit Stuttgart 21 zumindest abgemildert werden .
109 Hektar, das ist der Raum, der durch Stuttgart 21
frei wird. 11 000 Menschen können dort Wohnraum fin-
den, mitten in der Innenstadt . Eine dringend benötigte
Entlastung der angespannten Wohnraumsituation . Und
es ist ja nicht nur der Wohnraum, der entsteht . 20 Prozent
dieser Fläche sind für Grünflächen reserviert, ein riesiger
Gewinn an Lebensqualität . 24 000 Arbeitsplätze werden
auf dem Areal entstehen . Und das beinhaltet nicht einmal
die Arbeitsplätze, die durch das Bauvorhaben geschaffen
und gesichert wurden und werden. Ich finde es schon ei-
nigermaßen seltsam, dass ausgerechnet eine Partei, die
sich soziale Gerechtigkeit auf die Fahnen geschrieben
hat, gegen ein solches Projekt ist .
Ich möchte abschließend auch noch mal zurückkom-
men auf die Volksabstimmung über Stuttgart 21 . Die
Grünen möchte ich daran erinnern, was wir im Koali-
tionsvertrag in Baden-Württemberg festgehalten haben:
„Das Ergebnis der Volksabstimmung aus dem Jahr 2011
ist für uns bindend .“ Auch angesichts dieser Formulie-
rung fand ich es sehr irritierend, dass ausgerechnet Sie
am Mittwoch davon sprachen, 2013 hätte der Ausstieg
aus Stuttgart 21 erfolgen müssen . Bitte klären Sie endlich
Ihre Position zu dem Projekt . 58,8 Prozent sind jedenfalls
nach wie vor ein eindeutiges Votum für Stuttgart 21 . Die
Wähler haben anscheinend sehr viel besser verstanden,
was ein Hochtechnologieland wie Deutschland braucht .
Und dabei sollten wir es auch belassen .
Alexander Funk (CDU/CSU): Der Antrag der Frak-
tion Die Linke ist absurd, unseriös und unverschämt . Da-
her werden wir ihn ablehnen . Eigentlich ist damit alles
Wesentliche gesagt . Ich werde dennoch ein paar wenige
Ausführungen dazu machen:
Warum ist der Antrag absurd?
Sie fordern die Bundesregierung auf, sie solle das
Gutachten des Rechnungshofes dem Bundestag zugäng-
lich machen .
Ich darf Sie daran erinnern, dass der Rechnungshof
aufgrund von Artikel 114 GG als eine unabhängige,
selbstständige und weisungsfreie externe Finanzkontrol-
le des Bundes errichtet wurde . Er ist nicht der Bundesre-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 18143
(A) (C)
(B) (D)
gierung unterstellt und entscheidet selbst, welche Prüfer-
gebnisse er veröffentlicht .
Nach meinem Kenntnisstand ist die Prüfung des
Rechnungshofes noch nicht abgeschlossen, und daher ist
uns das Gutachten noch nicht zugestellt worden . Nun die
Bundesregierung aufzufordern, dieses nicht fertige Gut-
achten zu veröffentlichen, ist absurd .
Warum ist ihr Antrag unseriös?
Der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bahn, Herr
Dr . Grube, hat dem Verkehrsausschuss zwei Stunden
lang Rede und Antwort gestanden . Er informierte, dass
die Bahn weiterhin das Ziel verfolge, den Bahnhof für
unter 6 Milliarden Euro zu bauen .
Allerdings wies er auf neue, von außen verursachte
Kostenrisiken hin . Dies könne dazu führen, dass sich die
Fertigstellung um zwei Jahre verzögert und mögliche
Mehrkosten in Höhe von 600 Millionen Euro entstehen
könnten . Deutlich längere Planungsverfahren, ein ver-
besserter Lärmschutz und zusätzlicher Aufwand für Ar-
tenschutz sind hier die Hauptgründe . Der Konzern werde
aber gegensteuern und versuchen, dieses „Worst- Case-
Szenario“ abzuwenden .
Aber selbst wenn alle Kostenrisiken eintreten würden,
würde der Bahnhof unterhalb des bewilligten Finanzie-
rungsrahmens in Höhe von 6,526 Milliarden Euro fer-
tiggestellt .
Wenn Sie von der Linkspartei dann hier im Deutschen
Bundestag einen Antrag stellen und Kosten in Höhe von
9,8 Milliarden Euro unterstellen, ist das schlicht unseri-
ös . Ja, ich sage sogar: unverschämt . Denn letztlich unter-
stellen Sie damit Herrn Dr . Grube, dass er entweder keine
Ahnung hat oder das Parlament falsch informiert . Beides
weise ich entschieden zurück, wie wir auch ihren Antrag
entschieden ablehnen werden .
Anlage 13
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zu der Mehrsei-
tigen Vereinbarung vom 27. Januar 2016 zwischen
den zuständigen Behörden über den Austausch
länderbezogener Berichte (Tagesordnungspunkt 7)
Dr. Mathias Middelberg (CDU/CSU): Mit der Ver-
einbarung eines internationalen Informationsaustausches
von Steuer- und Unternehmensdaten reagiert die Staa-
tengemeinschaft auf die Beobachtung der vergangenen
Jahre, wonach Großkonzerne wie Facebook, Google und
Starbucks durch Ausnutzung unterschiedlicher Steuer-
systeme ihre Steuerlast auf ein Minimum senken konn-
ten . Verantwortlich für diesen Missstand waren vor allem
unzureichende Informationen der Steuerbehörden über
Auslandssachverhalte .
Der Informationsaustausch ist deshalb zentraler Teil
des Programmes gegen „Die Aushöhlung von Steuer-
bemessungsgrundlagen und Gewinnverlagerung“ (Base
Erosion and Profit Shifting – kurz BEPS), das Bundes-
finanzminister Wolfgang Schäuble bereits im Jahr 2012
auf Ebene der G 20 und der OECD mitinitiiert hatte . An-
fang Oktober 2015 wurden in Lima die Abschlussberich-
te zu BEPS vorgestellt mit 15 konkreten Aktionspunkten
gegen internationale Steuervermeidung . Das Paket wur-
de am 15 ./16 . November 2015 von den Regierungschefs
der G 20 gebilligt . Mittlerweile haben sich 62 Staaten
angeschlossen, auf die 90 Prozent der Weltwirtschaft
entfallen .
Aktionspunkt 13 des BEPS-Programmes sieht die
Einführung eines verpflichtenden automatischen Infor-
mationsaustauschs der Steuerbehörden über länderbezo-
gene Berichte von Unternehmen, das sogenannte Coun-
try-by-Country Reporting, vor . Die Steuerverwaltungen
sollen damit Informationen über die globale Aufteilung
der Erträge und die entrichteten Steuern sowie über wei-
tere Indikatoren der Wirtschaftstätigkeit von internatio-
nal tätigen Unternehmen erhalten .
Für den internationalen Austausch wurde auf
OECD-Ebene eine „Mehrseitige Vereinbarung zwischen
den zuständigen Behörden über den Austausch länder-
bezogener Berichte“ erarbeitet, die am 27 . Januar 2016
von insgesamt 32 Staaten unterzeichnet wurde . Mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf wird der Bundestag dieser
völkerrechtlichen Vereinbarung zustimmen .
Ich möchte hier auf einen zentralen Bestandteil die-
ser Vereinbarung eingehen . Gemäß § 5 der Mehrseitigen
Vereinbarung soll der Datenaustausch zwischen den zu-
ständigen Behörden nur unter Berücksichtigung umfang-
reicher datenschutzrechtlicher Vorgaben automatisch
erfolgen . Die Daten werden nur den Steuerbehörden
übermittelt und nicht veröffentlicht . Die G 20 und OECD
haben dabei aus wohlerwogenen Gründen auf ein öffent-
liches Country-by-Country Reporting verzichtet .
Auf europäischer Ebene liegen nun aber – parallel –
zwei Regelungsvorschläge der Kommission für die
Umsetzung des Country-by-Country Reportings vor:
erstens für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der
Richtlinie 2011/16/EU bezüglich der Verpflichtung zum
automatischen Austausch von Informationen im Bereich
der Besteuerung KOM(2016) 25 und zweitens für eine
Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates
zur Änderung der Rechnungslegungsrichtlinie im Hin-
blick auf die Offenlegung von Ertragsteuerinformationen
durch bestimmte Unternehmen und Zweigniederlassun-
gen KOM(2016) 198/2 .
Der erste Vorschlag sieht wie Punkt 13 des BEPS-Ak-
tionsplans vor, dass die relevanten Daten nur unter den
Finanzbehörden ausgetauscht werden . Der zweite Vor-
schlag zur Änderung der Rechnungslegungsrichtlinie
soll darüber hinausgehend eine Publizität des Coun-
try-by-Country Reportings gegenüber der allgemeinen
Öffentlichkeit erreichen . Der gewählte Regelungsweg
über die Änderung der Rechnungslegungsrichtlinie lässt
dabei den Eindruck zu, dass das für Ertragsteuerfragen
notwendige Einstimmigkeitserfordernis im Rat umgan-
gen werden soll. Die Einflussmöglichkeiten von Deutsch-
land sind damit bei den Beratungen erheblich gemindert .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 201618144
(A) (C)
(B) (D)
Hier appelliere ich ausdrücklich an das Rechtsver-
ständnis des Bundesjustizministers: Das Rügen der
Rechtsgrundlage im Rat sollte nicht davon abhängig ge-
macht werden, wie man politisch zu dem Vorhaben steht .
Das Recht und daraus folgende Zuständigkeiten, aber
auch Kompetenzgrenzen müssen unabhängig davon gel-
ten . Europa braucht gerade jetzt das Vertrauen der Bevöl-
kerung und der nationalen Parlamente . Solches schafft
die Kommission nicht, wenn sie versucht, die Kompeten-
zen in ihrem Sinne auszulegen bzw . – um es klar zu sa-
gen – zu überdehnen . Der europäischen Integration droht
auch dadurch weiterer Akzeptanzverlust .
Gegen das Vorhaben der EU-Kommission spricht
rechtlich aber noch mehr: Mit dem vorliegenden Ge-
setzentwurf soll der Bundestag einem völkerrechtlichen
Vertrag zustimmen, mit dem wir einen vertraulichen In-
formationsaustausch mit anderen Staaten vereinbart ha-
ben . Diesen völkerrechtlichen Vertrag müssten wir mit
der Umsetzung des folgenden widersinnigen Vorschlages
der Kommission aber brechen . Dem muss unser Justiz-
minister entschieden entgegentreten!
Gegen den Vorschlag KOM(2016) 198/2 sprechen
aber nicht nur rechtliche Bedenken . Auch politisch ist
der Vorschlag KOM(2016) 198/2 ungeeignet zur Er-
reichung des erklärten Ziels „Herstellung von Steuer-
gerechtigkeit“ . Ein öffentliches Country-by-Country
Reporting in Europa könnte sogar den Erfolg des gesam-
ten BEPS-Projektes gefährden . Bei einem öffentlichen
Country-by-Country Reporting gäbe es für Drittstaaten
keinen Grund mehr, den europäischen Staaten ihrerseits
entsprechende Daten zu übermitteln . Das Pfand, mit dem
man die Kooperation anderer Staaten erreichen könnte,
würde leichtfertig ohne Gegenleistung aus der Hand ge-
geben . Ziel des Handelns auf europäischer Ebene muss
deshalb die inhaltlich gleiche Umsetzung der OECD/G-
20-BEPS-Empfehlungen sein .
Für die deutschen Unternehmen wäre die Umsetzung
des Vorschlags KOM(2016) 198/2 mit erheblichen Risi-
ken verbunden . Die öffentliche Berichterstattung dürfte
schützenswerte Interessen der betroffenen Unternehmen
verletzen . Im Besonderen ist der Schutz von Geschäfts-
geheimnissen nicht hinreichend gewährt, da durch die
Veröffentlichungen Rückschlüsse auf Unternehmens-
strukturen und Margen möglich wären . Das kann Wett-
bewerbsnachteile herbeiführen .
Das unbedingte öffentliche Country-by-Country
Reporting würde weiter dazu führen, dass mit dem
BEPS-Aktionsplan verbundene Verwendungsbeschrän-
kungen nicht greifen würden . So dürfen gemäß § 5 der
Mehrseitigen Vereinbarung zwischen den zuständigen
Behörden Verrechnungspreisanpassungen auf Basis der
ausgetauschten Informationen nicht vorgenommen wer-
den . Werden die Country-by-Country Reporting-Daten
nun ohne diese Maßgabe an Drittstaaten geliefert, droht
den Unternehmen vielfältig Doppelbesteuerung und da-
mit verbunden Wettbewerbsverzerrung .
Hinzu kommt – absehbar – ein massiver Verlust an
Steuersubstrat für Bund und Länder .
Insgesamt würde ein öffentliches Country-by-Country
Reporting deshalb mehr schaden als nutzen . Zur Durch-
setzung des maßgeblichen Ziels, Eindämmung von Steu-
ervermeidungspraktiken, ist es ausreichend und letztlich
zielgerichteter, nicht wahllos die Öffentlichkeit, sondern
die Steuerverwaltungen derjenigen Staaten, die sich am
Austausch beteiligen, zu informieren .
Ich bitte daher die Bundesregierung, sich geschlos-
sen für ein kompetenzrechtlich einwandfreies, den völ-
kerrechtlichen Vereinbarungen entsprechendes und in
der Sache zielführendes Country-by-Country Reporting
auf europäischer Ebene einzusetzen und dem Vorschlag
KOM(2016) 198/2 entgegenzutreten .
Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Mit dem Gesetz
zu der Mehrseitigen Vereinbarung über den Austausch
länderbezogener Berichte – das fängt schon recht sperrig
an – beraten wir die Umsetzung des sogenannten Coun-
try-by-Country Reporting . Heute geht es in einem ersten
Schritt um das Vertragsgesetz, mit dem der Bundestag
dem völkerrechtlichen Vertrag über den Austausch län-
derbezogener Berichte seine Zustimmung gibt . Im Kern
geht es beim Country-by-Country Reporting um multi-
nationale Unternehmen . Sie sollen künftig Land für Land
offenlegen müssen, in welcher Höhe Erträge erwirtschaf-
tet werden und welche Steuern sie in welcher Höhe in
den einzelnen Ländern bezahlen . Dies ist ein Teil des An-
ti-BEPS-Projektes, mit dem wir auf OECD-Ebene Base
Erosion und Profit Shifting – zu Deutsch: Gewinnverkür-
zung und -verlagerung – bekämpfen wollen . Das Coun-
try-by-Country Reporting ist also ein weiterer Schritt bei
der Bekämpfung von Steuervermeidung und Steuerhin-
terziehung .
Veröffentlichungen von LuxLeaks bis Panama Papers
haben uns gezeigt, mit welcher Kreativität und teilweise
mit welcher kriminellen Energie Privatpersonen, Kon-
zerne und nicht selten auch Unternehmen, von denen wir
das überhaupt nicht erwartet hätten, vorgehen, um sich
ihren Anteil an der Finanzierung des Gemeinwesens zu
sparen . Die öffentliche Infrastruktur wird gleichwohl
gern in Anspruch genommen . Das nenne ich „Sparen“
auf dem Rücken der anderen . Insbesondere multinatio-
nale Konzerne verschieben Gewinne in Staaten mit sehr
niedrigen oder Null-Steuersätzen . Die Fälle von Amazon,
Starbucks, Ikea oder Google sind uns allen noch sehr prä-
sent . Ist es nicht auffällig, dass viele Unternehmen, die
uns im Kontext von Steuern spontan einfallen, ihren Sitz
nicht in Deutschland haben?
Steuervermeidung durch Verlagerung von Unterneh-
mensgewinnen der Konzerne schadet nicht nur den Staa-
ten, also allen Bürgern; sie schadet insbesondere kleinen
und mittelständischen Unternehmen, die ihre Gewinne
fair versteuern, nicht künstlich auf die Bahamas ver-
schieben können, stattdessen in ihrem Ansässigkeitsstaat
Steuern zahlen . Das Wichtigste aber ist: Eine Situation,
in der jeder Bäckermeister mehr Steuern bezahlt als ein
multinationaler Konzern, ist schlicht ungerecht, und sie
gefährdet das Vertrauen der ehrlichen Steuerzahler in
die Ausgewogenheit und Gerechtigkeit unseres Steuer-
systems . Nur zur Erinnerung: Wann immer jemand eine
Steuer umgeht oder hinterzieht, erwartet er, dass seine
Nachbarn mehr bezahlen, um das Gemeinwesen zu fi-
nanzieren . Der Kampf gegen Steuerhinterziehung und
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 18145
(A) (C)
(B) (D)
Steuervermeidung ist deshalb ein Kernanliegen sozialde-
mokratischer Finanzpolitik .
Das Anti-BEPS-Projekt ist dabei von großer Bedeu-
tung; denn damit sollen eine Reihe von Instrumenten
zum Einsatz kommen, die Steuervermeidung erschwe-
ren . Dazu gehören die Besteuerung der digitalen Wirt-
schaft, die Eindämmung hybrider Gestaltungen – da-
mit meinen wir das Ausnutzen von unterschiedlichen
Regelungen für die steuerliche Einordnung bestimmter
Gesellschaftsformen – oder die Verhinderung von Ab-
kommensmissbrauch . Besonders wichtig sind auch die
Arbeiten gegen schädlichen Steuerwettbewerb . Dabei
stehen natürlich Patentboxen besonders im Fokus, aber
auch wechselseitige Informationen über Tax Rulings
spielen eine Rolle . Insgesamt wollen wir mit der Umset-
zung des Anti-BEPS-Projektes drei Ziele erreichen: Um-
fang und Ort der Besteuerung sollen stärker an den Ort
der Wertschöpfung gebunden werden, Informationsdefi-
zite der Finanzverwaltungen wollen wir reduzieren und
das Zusammenwirken der unterschiedlichen Steuersyste-
me verbessern .
In diesem Zusammenhang soll das Country-by-Coun-
try Reporting die Dokumentationspflichten multinatio-
naler Konzerne vereinheitlichen und den Finanzverwal-
tungen zusätzliche Informationen an die Hand geben .
Das Zauberwort heißt also Transparenz . Dabei geht es
sowohl um die Dokumentation von Verrechnungsprei-
sen als auch um den Austausch länderbezogener Berich-
te zwischen den teilnehmenden Staaten . Damit soll den
Steuerbehörden die Prüfung erleichtert werden, ob der zu
besteuernde Gewinn im Verhältnis zu den ökonomischen
Aktivitäten der betreffenden Unternehmenseinheit steht .
Für all jene, deren Kennzahlen und Steuererklärung plau-
sibel sind, dürfte das kein Problem darstellen . Alle ande-
ren haben sich überflüssigerweise ein Problem geschaf-
fen . So weit, so sinnvoll .
Allerdings werden wir uns in den Beratungen mit fol-
genden Fragen besonders genau befassen müssen: Wel-
che Daten müssen ausgetauscht werden? Wer hat Zugriff
auf diese Daten? Mit welchen ökonomischen und fiskali-
schen Wirkungen, auch Ausweichreaktionen, müssen wir
rechnen?
Im Hinblick auf die erste Frage werden wir uns an-
schauen, welche Informationen auf Basis des völker-
rechtlichen Vertrages zu Umsatz, Gewinn, Steuerzahlun-
gen und wirtschaftlicher Aktivität in einem Dokument
zusammengefasst werden und inwieweit sie die gesamte
Konzernstruktur erfassen . Diese Daten müssen dann län-
derweise zusammengestellt werden . Wichtig wird dabei,
dass wir auch Berichte von jenen ausländischen Unter-
nehmen bekommen, die in Deutschland Tochtergesell-
schaften oder Betriebsstätten haben .
Im Zentrum der weiteren Debatten wird die zweite
Frage stehen: Wer soll Zugriff auf die bereitgestellten
Daten haben? Lediglich die Steuerbehörden, verwal-
tungsintern? Oder sollen die Daten auch interessierten
NGOs und Fachjournalisten und damit der Öffentlichkeit
zur Verfügung stehen?
Die Mehrseitige Vereinbarung vom 27 . Januar 2016
sieht einen Austausch der länderbezogenen Berichte nur
zwischen den zuständigen Behörden vor . Einfach ein
öffentliches Country-by-Country Reporting zu fordern,
klingt gut, ist aber gemäß den vertraglichen Vereinba-
rungen nicht ohne Weiteres möglich . Im Rahmen der
Rechnungslegungsvorschriften wäre aber eine Veröffent-
lichung der Informationen in noch aggregierterer Form
durchaus denkbar .
Oxfam hat mir dazu gestern die Ergebnisse einer
Umfrage geschickt, der zufolge über 80 Prozent der
Befragten eine transparente Unternehmensbesteuerung
fordern . Ob die Befragten deswegen auch für eine Ver-
öffentlichung der Daten sind, bleibt offen . Dennoch ist
die allgemeine Forderung nach mehr Transparenz bei
der Unternehmensbesteuerung natürlich richtig . Aller-
dings müssen wir uns schon etwas genauer anschauen,
welche Wirkungen eine Veröffentlichung von Daten aus
dem Country-by-Country Reporting gegenwärtig hat .
Insbesondere aufseiten unseres Koalitionspartners wird
diese Debatte gelegentlich etwas alarmistisch geführt .
Da wird zum Beispiel geschrieben, die Veröffentlichung
dieser Daten würde Rückschlüsse auf Geschäftsgeheim-
nisse erlauben und damit unseren Unternehmen schaden .
Das ist die Sprache der Lobbyisten . Da wäre es schon
interessant, zu erfahren, welche Sorgen da konkret beste-
hen . Schließlich reden wir über stark aggregierte Daten
zu Umsatz, wirtschaftlicher Aktivität usw . Diese müssen
zum überwiegenden Teil bereits heute veröffentlicht wer-
den . Inwiefern dies neue Rückschlüsse auf Geschäftsge-
heimnisse erlauben soll, ist daher nicht plausibel .
Ein anderes Argument betrifft die Sorge, dass deut-
sches Steuersubstrat durch Veränderung der Besteue-
rungsrechte gefährdet sein könnte, wenn Daten aus dem
Country-by-Country Reporting veröffentlicht werden .
Dem lassen sich gleich mehrere Punkte entgegenhal-
ten . Einerseits besteht auch bei einem ausschließlichen
Austausch zwischen Steuerbehörden die Möglichkeit
von Abwehrmaßnahmen und der Verschiebung der Steu-
erzahlungen, wenn sich aufgrund der länderbezogenen
Berichterstattung Hinweise auf unerwünschte Steuer-
gestaltungen ergeben sollten . Andererseits haben die
OECD-Empfehlungen generell das Ziel, Steueraufkom-
men durch die Bekämpfung von Gewinnverlagerung und
Gewinnkürzung für die Staatengemeinschaft insgesamt
zu erhöhen und nicht lediglich umzuverteilen . Vielleicht
ergibt sich eine länderspezifische steuerliche Umvertei-
lung – aber dann von einem größeren Steuerkuchen .
Oft wird immer wieder angeführt, dass es bei einem
öffentlichen Country-by-Country Reporting für Dritt-
staaten keinen Anreiz mehr gäbe, den europäischen Staa-
ten ihrerseits entsprechende Daten zu übermitteln; denn
sie hätten alle Informationen schon ohne Gegenleistung .
Diesen Punkt gilt es genau zu prüfen . Allerdings ist nicht
zu erwarten, dass die 31 Staaten, die die Mehrseitige
Vereinbarung über das Country-by-Country Reporting
unterzeichnet haben, bei einer Veröffentlichung der Da-
ten im Rahmen der Rechnungslegung ihren vertraglichen
Pflichten nicht nachkommen werden. Die USA sind der
Vereinbarung noch nicht beigetreten . Die US-Regierung
hat aber ihre Absicht erklärt, die Vereinbarung im Laufe
des Jahres zu unterzeichnen; ich bin gespannt . Wie schon
angedeutet, werden wir uns außerdem darum kümmern
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 201618146
(A) (C)
(B) (D)
müssen, dass wir in jedem Fall Berichte von Konzernen
bekommen, die zwar ihren Stammsitz außerhalb Europas
haben, die aber hier über eine Tochtergesellschaft oder
eine Betriebsstätte verfügen .
Ein letzter Punkt betrifft die Befürchtung, dass die
mit dem BEPS-Aktionsplan verbundenen Beschränkun-
gen hinsichtlich der Verwendung der Daten nicht mehr
greifen könnten . So dürfen nach der Mehrseitigen Ver-
einbarung zwischen den zuständigen Behörden Verrech-
nungspreisanpassungen auf Basis der ausgetauschten
Informationen nicht vorgenommen werden . Wegen der
hohen Aggregation der Daten ist es aber ohnehin kaum
möglich, dass diese Daten der Anlass für unmittelbare
Anpassungen der Verrechnungspreise sein könnten . Die
im Rahmen des Country-by-Country Reporting ausge-
tauschten Informationen können und sollen allerdings
Anlass für konkrete Betriebsprüfungen sein, in deren
Folge es dann zu Verrechnungspreisanpassungen kom-
men kann .
Insgesamt zeigt sich, dass die Argumente gegen eine
Veröffentlichung der Daten aus dem Country-by-Coun-
try Reporting auf lange Sicht nicht stichhaltig sind, aber
gleichwohl sorgfältig abgewogen werden müssen .
Auf der anderen Seite würde eine Veröffentlichung
Bürgerinnen und Bürger in die Lage versetzen, zu be-
urteilen, welche Unternehmen wo Steuern zahlen, und
damit einen Beitrag zur Allgemeinheit leisten . Darüber
hinaus würde sie Entwicklungsländern helfen, für deren
Staatshaushalte die Einnahmen aus der Körperschaft-
steuer häufig von sehr großer Bedeutung sind. Deren Fi-
nanzbehörden würden öffentliche Daten erheblich wei-
terhelfen .
In diesem Spannungsfeld werden wir überlegen,
den Datenaustausch im Rahmen der Mehrseitigen Ver-
einbarung auf die Steuerbehörden zu beschränken und
gleichzeitig ein Dokument zu entwickeln, das gege-
benenfalls noch stärker aggregierte Daten enthält, die
der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden können .
Denn grundsätzlich können wir uns langfristig eine Ver-
öffentlichung der Daten vorstellen, sofern zwischen den
teilnehmenden Staaten ein gewisses Maß an Standards
gewahrt ist . Dabei geht es um die Qualität der Daten,
Datenschutz und Datensicherheit und die Administration
in der Steuerverwaltung . In dieser Richtung müssen wir
weiterarbeiten, gerade auch im Austausch mit den euro-
päischen Institutionen, die in dieser Hinsicht schon eini-
ge Vorschläge entwickelt haben . Denn klar ist: Wir wol-
len weder Geschäftsgeheimnisse veröffentlichen noch
deutsches Steuersubstrat gefährden . Aber wir wollen
Steuervermeidung multinationaler Konzerne bekämpfen,
und dafür ist das Country-by-Country Reporting mit dem
richtigen Maß an Transparenz ein wichtiges Instrument .
Nun wünsche ich Ihnen allen eine gute sitzungsfreie
Zeit, erfolgreiche Arbeit in den Wahlkreisen und einige
schöne Urlaubstage .
Susanna Karawanskij (DIE LINKE): Grundsätzlich
finden wir als Linke es dringend geboten, der grenzüber-
schreitenden Steuervermeidung durch multinationale
Konzerne entgegenzuwirken . Gerade multinationale Un-
ternehmen haben im Vergleich zu hauptsächlich national
tätigen Unternehmen ihre Steuerlast dadurch teils erheb-
lich senken können . Dies können sie, indem sie durch ge-
schickte Gestaltungen Gewinne in Staaten verschieben,
die besonders günstige Besteuerungskonditionen bieten .
Mit dem BEPS-Projekt wurden von der OECD im
Auftrag der G-20-Staaten Lösungen entwickelt, um De-
fizite der internationalen Besteuerungsregeln zu verrin-
gern . Ein sogenannter Aktionspunkt, auf den man sich
im Rahmen von BEPS geeinigt hat, ist der Austausch
länderbezogener Berichte zwischen den teilnehmenden
Staaten, Country-by-Country Reporting . Jeder Vertrags-
staat fordert diese zunächst von den auf seinem Gebiet
ansässigen Konzernobergesellschaften ein . Anschlie-
ßend werden diese den anderen Vertragsstaaten, in denen
Tochtergesellschaften oder Betriebsstätten des jeweili-
gen Konzerns vorliegen, übermittelt .
Durch den Austausch von länderbezogenen Berichten
zwischen den Staaten erhalten die betroffenen Steuerver-
waltungen Informationen über die globale Aufteilung der
Erträge und die entrichteten Steuern sowie über weitere
Indikatoren der Wirtschaftstätigkeiten der größten inter-
national tätigen Unternehmen .
Die Finanzverwaltungen sollen also die erforderlichen
Informationen erhalten, und multinationale Unterneh-
men sollen ihren Dokumentationspflichten nach einem
einheitlichen Standard nachkommen . Dies klingt alles
schon mal sehr gut . Denn Transparenz ist Grundvoraus-
setzung, um Steuervermeidung zu erkennen . Die Steuer-
behörden eines Landes stehen oft auf verlorenem Posten,
wenn es darum geht, zu erkennen, welche Transaktionen
ein dort ansässiger Konzern mit Konzernablegern in an-
deren Staaten tätigt und wie die dortigen Steuerbehör-
den diese Aktivitäten behandeln . Das ganze Projekt wird
umso besser gelingen, desto mehr Länder daran teilneh-
men und teilnehmen können .
Und in der Tat stellt der vorliegende Gesetzentwurf,
der die völkerrechtliche Verpflichtung Deutschlands zum
Austausch länderbezogener Berichte zwischen den Ver-
tragsstaaten beinhaltet, einen Fortschritt dar . Dennoch
gibt es aus linker Sicht drei Dinge zu kritisieren:
Erstens ist in der mehrseitigen Vereinbarung nur vor-
gesehen, dass die entsprechenden Daten zwischen den
Steuerverwaltungen ausgetauscht werden . Die Daten
sollen in keiner Weise öffentlich zugänglich gemacht
werden, nicht einmal in anonymisierter und aggregier-
ter Form, nicht einmal Daten, die handelsrechtlich oder
nach den Bilanzierungsvorschriften bereits öffentlich
sind . Dies ist uns ganz klar zu wenig Transparenz . Die
Bundesregierung flüchtet vor dieser Kritik, indem sie
mantraartig etwas von Steuergeheimnis murmelt . Doch
in Wirklichkeit fürchtet sie Wettbewerbsnachteile für die
deutsche Wirtschaft und möchte daher die Exportwirt-
schaft schützen . Es ist schade, dass bei der internationa-
len Bekämpfung von Steuervermeidung die Bundesre-
gierung hier schon an ihre national motivierten Grenzen
stößt!
Sie sollten auch im Hinterkopf haben, dass die Erfolge
bei LuxLeaks oder PanamaLeaks nur dadurch zustande
kamen, weil durch die Veröffentlichung ein öffentlicher
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 18147
(A) (C)
(B) (D)
Druck entstand, weil Whistleblower Alarm geschlagen
haben . Gerade der kritische Blick der Öffentlichkeit, das
wachsame Auge zivilgesellschaftlicher Organisationen
würde es Unternehmen enorm erschweren, weiterhin
Steuern zu hinterziehen .
Zweitens ist die Verpflichtung zur Gegenseitigkeit zu
kritisieren: Die Vertragspartner müssen also qualitativ
gleiche Daten wie Deutschland liefern, sie müssen die
gleichen Maßstäbe bei der Vertraulichkeit der Daten er-
füllen usw . Konkret heißt das: Die anderen Staaten, die
gerne mitmachen möchten, müssen unsere Bedingungen
erfüllen, um dann zum Beispiel länderbezogene Berichte
von großen ausländischen Konzernen zu erhalten, die in
ihrem Land durch Tochtergesellschaften oder Betriebs-
stätten tätig sind . Viele Länder, gerade des globalen
Südens, haben aber noch keine gut ausgebauten Steuer-
verwaltungen . Deswegen fällt es ihnen auch schwer, alle
Daten in der gewünschten aufbereiteten Form zu liefern .
Die Folge ist, dass viele Staaten einfach ausgeschlossen
werden . Ihnen geht dadurch viel Geld durch die Lappen,
weil sie weiterhin stark von Steuervermeidung und dem
trickreichen Spiel der multinationalen Unternehmen be-
troffen sind . Hier sollten Sie sich lieber wieder an den
Grundsatz erinnern: Je mehr Länder mitmachen, desto
besser wird es sein .
Drittens und abschließend muss man sich vor Augen
halten, dass die harten Bedingungen für Datenzusammen-
stellung und Vertraulichkeit bzw . Datenschutz, die andere
Staaten erfüllen müssen, den gleichen Hintergrund haben
wie das krampfhafte Verharren auf Nichtveröffentlichung
der Daten . Auch hier sieht die Bundesregierung das Da-
moklesschwert des Wettbewerbsnachteils für die deut-
sche Wirtschaft . Wieder zeigt sich: Deutsche Exportwirt-
schaft geht vor Bekämpfung von Steuerhinterziehung . Es
herrscht die Angst vor, dass es zu viel Transparenz gibt,
dass andere Staaten sehen, wie viel mehr an Steuern ih-
nen von einem deutschen Unternehmen zustünden und
sie diese womöglich noch einfordern könnten .
Abschließend kann ich Sie von der Regierungsbank
nur ermuntern, mehr Transparenz zu wagen . Scheuen
Sie nicht den wachsamen Blick der Öffentlichkeit, und
schwächen Sie nicht die Schlagkraft dieses Projektes zur
internationalen Bekämpfung von Steuervermeidung, in-
dem Sie die Interessen der deutschen Exportwirtschaft
über alles stellen .
Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf setzt die Bundes-
regierung den Aktionspunkt 13 der OECD/G-20-Emp-
fehlungen im Kampf gegen Gewinnverkürzungen und
Gewinnverlagerungen um . Konkret geht es um den Aus-
tausch von Daten zwischen den zuständigen Steuerbe-
hörden des jeweiligen Landes mit dem Ziel, das Informa-
tionsdefizit der Finanzverwaltungen zu reduzieren und
Steuervermeidungsstrategien aufzudecken .
Der Austausch länderbezogener Berichte – das so-
genannte Country-by-Country Reporting – hat zu einer
sehr kontroversen Debatte geführt . Im Kern geht es um
die Frage, ob multinationale Konzerne gegenüber der
Öffentlichkeit Informationen über ihre wirtschaftlichen
Aktivitäten und ihren Beitrag für das Gemeinwohl offen-
legen sollten .
Dahinter steht der Vorwurf, dass sich multinational
agierende Unternehmen unter Ausnutzung nationaler Be-
steuerungsregeln in einzelnen Ländern einer Besteuerung
weitestgehend entziehen . Viele Unternehmen bestreiten
das – sicher teilweise auch zu Recht . Deshalb sind allzu
platte Äußerungen zu diesem Thema – und die reichen
leider bis zum Bundesminister für Wirtschaft – fehl am
Platze . Gerade in einer Zeit, in der mit dem Brexit das
Klagen über Populismus groß ist, muss das Thema diffe-
renziert angegangen werden .
Zum einen geht es darum, dass die nationalen Steuer-
behörden mehr Transparenz über die relevanten Steuer-
daten multinationaler Unternehmen bekommen . In die-
sem Zusammenhang ist es richtig, dass die OECD sich
darauf verständigt hat, dass die Daten nicht unmittelbar
zur Steuererhebung verwendet werden sollen . Denn dies
würde mittelbar zu Doppelbesteuerungsfällen führen .
Aber die Transparenz ist eben wichtig, um sogenannte
weiße Einkünfte aufzudecken, das heißt Fälle zu iden-
tifizieren, die zur doppelten Nichtbesteuerung führen.
Es ist in diesem Zusammenhang übrigens sehr kritisch,
dass kein verbindlicher Streitbeilegungsmechanismus
vereinbart werden konnte . Es wird sehr genau zu beob-
achten sein, ob dies nicht zu gravierenden Nachteilen für
die Unternehmen führen wird . Eine Stärkung internati-
onaler, zum Beispiel bei der WTO angesiedelter Streit-
beilegungsmechanismen wäre ein wichtiger Schritt ge-
wesen, gerade auch vor dem Hintergrund, dass es nicht
nur einige kleine Staaten gibt, deren Geschäftsmodell
schlicht Steuerdumping heißt, sondern auch einzelne
OECD-Staaten – allen voran die USA mit dem Bundes-
staat Delaware, aber auch England mit der bereits ein-
geführten Lizenzbox und einem aktuell angekündigten
Niedrigsteuerregime – Steuerhinterziehungs- und Steu-
ervermeidungsstrategien befördern .
Zum anderen, und das ist ein genauso wichtiges Ziel,
geht es darum, verloren gegangenes Vertrauen wieder
aufzubauen: Vertrauen, das verloren gegangen ist mit den
Berichten über US-Konzerne, die mehr als 1,6 Billionen
Dollar unversteuerter Gewinne in Steueroasen horten
und damit keinen oder nur einen geringen Beitrag zur
öffentlichen Daseinsvorsorge leisten in den Ländern, in
denen sie mit dem Verkauf ihrer Produkte hohe Gewinne
realisieren; Vertrauen, das verloren gegangen ist durch
Berichte über die PanamaPapers und LuxLeaks, durch
Berichte über Steuerbetrug in Milliardenhöhe durch
Umsatzsteuerkartelle und Cum/Ex- und Cum/cum-Ge-
schäfte; Vertrauen, das verloren gegangen ist durch die
Berichte über die sogenannte Code-of-Conduct-Gruppe
des Europäischen Rats, die ja als Gegenmaßnahme zur
Steuergestaltung internationaler Unternehmen schon
Ende des letzten Jahrhunderts ins Leben gerufen wurde,
aber bis heute keinerlei Gegenmaßnahmen zu den Steu-
ergestaltungsstrategien dieser Unternehmen bewirkt hat .
Es waren mutige Whistleblower, es waren einzelne
Wissenschaftler, und es waren investigative Journalis-
ten, welche die immensen Steuerhinterziehungs- und
Steuervermeidungsstrategien einzelner Unternehmen für
die Öffentlichkeit sichtbar gemacht haben . Und deshalb
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 201618148
(A) (C)
(B) (D)
muss die Strategie gegen diese schädlichen Steuerprak-
tiken unbedingt eine Transparenz für die Öffentlichkeit
einschließen, denn andernfalls wird eine faire Besteue-
rung von multinationalen Unternehmen nicht zu errei-
chen sein .
Wenn wir also über länderbezogene Berichterstattung
multinationaler Konzerne reden, müssen wir beide Ebe-
nen im Blick haben: zum einen die notwendige Trans-
parenz für die Steuerbehörden mit dem Ziel, sowohl
Doppelbesteuerung der Unternehmen zu vermeiden als
auch die doppelte Nichtbesteuerung zu unterbinden, und
zum anderen die Transparenz für die Öffentlichkeit, um
Druck auf die Parlamente und Regierungen auszuüben,
gegen Steuerhinterziehung und Steuergestaltung mul-
tinationaler Konzerne vorzugehen und damit Wettbe-
werbsnachteile für vorwiegend national agierende Un-
ternehmen – das sind in der Regel Handwerksbetriebe
sowie kleine und mittlere Unternehmen – endlich wirk-
sam zu bekämpfen . Und da haben sowohl multinationale
Unternehmen als auch der Gesetzgeber die Verantwor-
tung, durch proaktives Vorgehen einen Beitrag zu leisten
und nicht, wie aktuell leider festzustellen ist, als Blockie-
rer und Bremser aufzutreten . Die Einlassungen des Parla-
mentarischen Staatssekretärs Dr . Michael Meister, BMF,
zu diesem Thema im Finanzausschuss in dieser Woche
ließen deutlich erkennen, dass die Bundesregierung in
keiner Weise die Verantwortung auch nur begriffen hat,
die sie in diesem Zusammenhang hat . Ein Rückzug auf
die Umsetzung des OECD-Prozesses ist keinesfalls aus-
reichend, um das geschilderte Problem anzugehen . Es
geht eben nicht nur um die Frage der fairen Besteuerung,
sondern auch um die gesellschaftliche Akzeptanz der
Globalisierung . Angesichts des Brexit muss sich jeder
in seiner Verantwortung fragen, wie er mit der Situation
umgeht . Die Haltung, dass die Öffentlichkeit nicht fähig
ist, mit Transparenz umzugehen, kann zu dramatischen
Fehlentwicklungen führen, wie wir jetzt mit dem Refe-
rendum der Briten erfahren haben .
Wir brauchen Transparenz über die wirtschaftlichen
Aktivitäten von großen, multinationalen Konzernen für
die Öffentlichkeit . Die Polemik gegen länderbezogene
Offenlegungspflichten muss endlich aufhören. Denn die
gegen länderbezogene Offenlegungspflichten vorgetra-
genen Argumente sind haltlos und können nur vorge-
bracht werden, weil mit Unkenntnis der Öffentlichkeit
gerechnet werden kann . Beklagt wird zum Beispiel der
zu hohe Bürokratieaufwand . Doch jedes international
tätige Unternehmen erstellt bereits jetzt eine länderbezo-
gene Berichterstattung, die im Einzelnen viel detaillierter
ist als die jetzt geforderte – und das sage ich mit meiner
jahrelangen Erfahrung im Management eines internatio-
nal tätigen Unternehmens . Haltlos ist auch die Kritik an
der Offenlegung wertschöpfungsbasierter Daten, denn
die von der EU-Kommission vorgeschlagenen Daten ent-
sprechen ja gerade nicht den kritischen, steuerrelevanten
Informationen, die zwischen den Finanzbehörden ausge-
tauscht werden sollen . Im Gegenteil, diese Daten sind so
allgemein, dass daraus keinesfalls wettbewerbsrelevante
Informationen öffentlich werden . Ferner sind diese Da-
ten bereits jetzt teilweise in den Jahresabschlüssen nach
IFRS oder US-GAAP verfügbar, aber eben nicht in einer
für die Öffentlichkeit transparenten, verständlichen und
übersichtlichen Darstellung .
Es ist an der Zeit, die Debatte endlich ehrlich und mit
einem klaren Ziel zu führen: mehr Vertrauen durch mehr
Transparenz schaffen . Daran müssen international tätige
Unternehmen genauso ein Interesse haben wie die sie
vertretenden Verbände und natürlich die einzelnen Na-
tionalstaaten . Die Bundesregierung muss endlich begrei-
fen: Es geht darum, die Situation als Chance zu begreifen
und sich konstruktiv in den Prozess für mehr Transparenz
einzubringen . Die Europäische Kommission hat das ver-
standen, das signalisieren ihre Vorschläge . Es ist höchs-
te Zeit, dass die Bundesregierung ihre Blockadehaltung
zum öffentlichen Country-by-Country Reporting endlich
aufgibt .
Dr. Michael Meister, Parl . Staatssekretär beim Bun-
desminister der Finanzen: In den vergangenen Jahren
hat sich gezeigt, dass multinationale Unternehmen im
Vergleich zu vorwiegend national tätigen Unternehmen
die unterschiedlichen Steuersysteme der Staaten ausnut-
zen, um Einkünfte in den Staaten entstehen zu lassen,
die besonders günstige Besteuerungskonditionen bieten .
Die entstandenen Steuervermeidungsmöglichkeiten für
bestimmte, vor allem multinationale Unternehmen, sind
beträchtlich . Steuergerechtigkeit und die Gewährleis-
tung der Gleichmäßigkeit der Besteuerung sind jedoch
unabdingbare Voraussetzungen für ein funktionierendes
Gemeinwesen und einen handlungsfähigen Staat . Die
Steuervermeidungsmöglichkeiten internationaler Unter-
nehmen beeinträchtigen überdies die Wettbewerbsfähig-
keit von nur lokal tätigen Unternehmen, die solche Steu-
ergestaltungen nicht nutzen können .
Es ist daher ein großer Erfolg unserer Politik, dass
sich 44 Staaten – darunter am 27 . Januar 2016 die Bun-
desrepublik Deutschland – völkerrechtlich zur Mehrsei-
tigen Vereinbarung über einen gemeinsam mit der OECD
und den G-20-Staaten entwickelten Standard zur Über-
mittlung länderbezogener Berichte, den sogenannten
Country-by-Country Reports, verpflichtet haben, dass
also 44 Staaten diesen Standard umsetzen und die Coun-
try-by-Country Reports austauschen werden .
Durch den jährlichen Austausch länderbezogener Be-
richte erhalten die Steuerverwaltungen Informationen
über die globale Aufteilung der Erträge und die entrich-
teten Steuern sowie über weitere Indikatoren der Wirt-
schaftstätigkeit der größten international tätigen Unter-
nehmen .
Dadurch können steuerrelevante Risiken besser abge-
schätzt werden .
Der grenzüberschreitende Steuerbetrug und die grenz-
überschreitende Steuerhinterziehung haben die einzelnen
Staaten in den zurückliegenden Jahren vor erhebliche
und von den einzelnen Ländern nicht mehr allein zu be-
wältigende Herausforderungen gestellt . Eine verstärkte
Zusammenarbeit zwischen den nationalen Steuerbehör-
den ist daher unerlässlich, um die ordnungsgemäße Er-
mittlung der Steuerpflicht zu gewährleisten und damit
internationale Steuerhinterziehung zu bekämpfen . Dabei
kommt insbesondere der Schaffung von Transparenz in
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 18149
(A) (C)
(B) (D)
Steuerangelegenheiten und dem automatischen Infor-
mationsaustausch zwischen den Steuerbehörden eine
entscheidende Rolle zu . Das ist ein neues wichtiges In-
strument im Bereich der internationalen Amtshilfe . Wir
schaffen hierdurch mehr Transparenz und mehr Fairness
für unsere globalisierte Welt im 21 . Jahrhundert .
Die Bundesregierung wird sich im Rahmen des vorge-
sehenen Informationsaustauschs weiter dafür einsetzen,
dass eine möglichst große Anzahl von Staaten an diesem
Informationsaustausch teilnimmt . Nur so ist es möglich,
weltweit einen einheitlichen internationalen Standard für
einen fairen internationalen Steuerwettbewerb zu schaf-
fen . Steuerhinterziehung und Steuervermeidung können
letztlich nur auf globaler Ebene wirkungsvoll bekämpft
werden .
Durch das Vertragsgesetz soll dieses Abkommen die
Zustimmung der gesetzgebenden Körperschaften erhal-
ten .
Nicht zuletzt unsere Bemühungen im Rahmen des
G-20-Prozesses haben dazu geführt, dass es zu einer be-
schleunigten Umsetzung des bei der OECD entwickelten
einheitlichen Standards für Besteuerungszwecke gekom-
men ist .
Die Bundesregierung wird sich für eine rasche Ent-
wicklung von wirksamen Einzelregelungen auf der
Grundlage der Mehrseitigen Vereinbarung einsetzen .
Hierzu zählen auch das noch von der Bundesregierung
einzubringende Gesetz zur Umsetzung der Änderung der
EU-Amtshilfe-Richtlinie und weitere Maßnahmen gegen
Gewinnverkürzung und -verlagerung .
Ich möchte nicht verhehlen, dass der vorgegebene
Zeitplan – wonach Daten für das Jahr 2016 schon ab Mit-
te 2018 ausgetauscht werden sollen – sowohl in rechtli-
cher als auch in technischer Hinsicht sehr ambitioniert
ist . Das Bundesministerium der Finanzen arbeitet daher
in enger Zusammenarbeit mit dem Bundeszentralamt für
Steuern mit Hochdruck an der rechtzeitigen technischen
Implementierung des automatischen Austauschs länder-
bezogener Berichte . Wir sind jedoch davon überzeugt,
die vorgegebenen Anforderungen zeitgerecht umzuset-
zen . Dies gilt auch für die Umsetzung durch die von dem
vorliegenden Gesetz verpflichteten Unternehmen.
An dieser Stelle möchte ich zwei wichtige inhaltliche
Aspekte des Abkommens hervorheben: den Datenschutz
und das Prinzip der Gegenseitigkeit des Informationsaus-
tauschs . Der Schutz der im Rahmen des automatischen
Austauschs von länderbezogenen Berichten zu übermit-
telnden Daten war von Beginn an ein wesentliches An-
liegen der Bundesregierung . Sowohl bei den Beratungen
auf OECD-Ebene als auch im Rahmen der Arbeiten zur
Erstellung des vorliegenden Gesetzentwurfs wurde dafür
Sorge getragen, dass die Sicherheit und der Schutz die-
ser personenbezogenen Daten gewährleistet werden . Die
Bundesrepublik Deutschland hat durch die zusätzlich am
27 . Januar 2016 abgegebenen umfangreichen Erklärun-
gen zu Verwendungsbeschränkungen und Datenschutz-
bestimmungen gewährleistet, dass Informationen, die
ein anderer Staat von der Bundesrepublik Deutschland
erhält, dem gleichen datensicherheitsrechtlichen Schutz
unterliegen wie die von anderen Staaten erhaltenen In-
formationen in der Bundesrepublik Deutschland . Zudem
stellt die Erklärung klar, dass die von der Bundesrepu-
blik Deutschland übersandten Daten nicht für Zwecke
verwandt werden dürfen, die gegen den „Ordre public“
der Bundesrepublik Deutschland verstoßen .
Die Verwendungsbeschränkungen und Datenschutz-
bestimmungen der Mehrseitigen Vereinbarung garan-
tieren aus Sicht des Bundesministeriums der Finanzen
darüber hinaus die Effizienz des Datenaustauschs als In-
strument für mehr internationale Steuergerechtigkeit . Sie
stellen die aus unserer Sicht notwendige Gegenseitigkeit
beim Informationsaustausch sicher . Dieses Verständnis
bedingt auch die bekannte kritische Haltung des Bundes-
ministeriums der Finanzen gegenüber dem KOM-Vor-
schlag zur Änderung der Bilanzrichtlinie, die ich hier
gern näher erläutern möchte: Durch eine Veröffentli-
chungspflicht von steuerlichen Informationen im Rah-
men der Bilanzrichtlinie können aus Sicht der beteiligten
Unternehmen Geschäftsgeheimnisse offenbart werden .
Dies kann auch aus Sicht der Steuerverwaltung – jeden-
falls in einzelnen Fällen – nicht ausgeschlossen werden .
Für die betroffenen deutschen Unternehmen könnten im
Verhältnis sowohl zu Unternehmen aus Drittstaaten als
auch zu EU-Unternehmen erhebliche Wettbewerbsnach-
teile entstehen . Der Anreiz für Drittstaaten, im Verhält-
nis zu EU-Staaten an dem System des Informationsaus-
tauschs nach dem Modell der G 20/OECD teilzunehmen,
wäre extrem gering, wenn die gewünschten Informatio-
nen aus öffentlich zugänglichen Quellen zu beschaffen
sind (einseitige „Transparenz“ nur für Unternehmen in
der EU) .
Die Verwendungsbeschränkungen und Datenschutz-
bestimmungen der Mehrseitigen Vereinbarung gelten
nicht für die Veröffentlichung im Rahmen der EU-Bi-
lanzrichtlinie, das heißt, die öffentlich zugänglichen
Informationen können unbeschränkt für alle erdenkli-
chen Zwecke genutzt werden, zum Beispiel für Ergeb-
niskorrekturen oder für die Anwendung von pauschalen
Gewinnaufteilungsmethoden zulasten der Unternehmen
und zulasten des deutschen Steueraufkommens . Die
EU hat mit der Änderung der Amtshilferichtlinie vom
25 . Mai 2016 den G 20/OECD-Ansatz übernommen und
damit auch die zwischen den Staaten vereinbarte völker-
vertragsrechtliche Mehrseitige Vereinbarung in europäi-
sches Recht übertragen . Sie hat sich damit faktisch und
rechtlich zu dem G 20/OECD-Ansatz bekannt, der die
Vertraulichkeit und die Verwendungsbeschränkungen
enthält . Die EU-Staaten haben einstimmig mit der Ände-
rung der Amtshilferichtlinie vom 25 . Mai 2016 das G 20/
OECD-Modell in europäisches Recht übertragen .
Aus der Sicht eines Mitgliedstaats wie Deutschland,
einem Unterzeichnerstaat der Mehrseitigen Vereinba-
rung, ist deshalb nach Auffassung des Bundesministe-
riums der Finanzen die Zustimmung zu dem Vorschlag
der EU zur Rechnungslegung, der keine Vertraulichkeit
und keine Verwendungsbeschränkungen enthält, kaum
mit der völkervertragsrechtlich eingegangenen Verpflich-
tung, das G 20/OECD-Modell umzusetzen, zu vereinba-
ren .
Die geplante EU-Bilanzrichtlinie hätte nicht nur Aus-
wirkungen innerhalb der EU, sondern würde auch den
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 201618150
(A) (C)
(B) (D)
weltweiten Erfolg des mit der Mehrseitigen Vereinbarung
verfolgten Zwecks hochgradig gefährden und kann zu
einer erheblichen Schädigung des Wirtschaftsstandorts
Deutschland mit gravierenden Steuermindereinnahmen
von Bund, Ländern und Gemeinden und zu dem Verlust
von Arbeitsplätzen führen .
Ich bitte um Ihre Zustimmung zu diesem Vertragsge-
setz, mit dem wir einen großen Schritt in der Bekämpfung
von grenzüberschreitendem Steuerbetrug und grenz-
überschreitender Steuerhinterziehung möglich machen .
Anlage 14
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags der Abgeordneten
Sabine Leidig, Herbert Behrens, Caren Lay, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE:
Die Nachtzüge retten – Klimaverträglichen Fern-
reiseverkehr auch in Zukunft ermöglichen (Tages-
ordnungspunkt 19)
Michael Donth (CDU/CSU): Als ich meinem 15-jäh-
rigen Sohn Matthias sagte, dass ich heute zu einem
Nachtzug-Antrag der Linken reden darf, sagte er: Schon
wieder, das hast du doch schon mal! Warum denn das? –
Er hatte recht – und ich konnte seine Frage eigentlich
auch nicht beantworten . Und als ich ihm dann noch sag-
te, dass die Debatte um 21 Uhr stattfinden wird, wäh-
rend Deutschland gegen Frankreich im Halbfinale der
Fußball-Europameisterschaft spielt, war er entsetzt und
meinte: Die spinnen wohl . – Da habe ich ihm natürlich
heftigst widersprochen .
Aber, wie gesagt, warum wir heute erneut eine nächt-
liche Debatte zu den Nachtzügen führen müssen, ist für
mich eigentlich nicht verständlich . Denn es hat sich seit
der letzten Debatte zu diesem Thema vor knapp zwei
Jahren nichts geändert, was Anlass zu einer erneuten Dis-
kussion geben könnte .
Nach Artikel 87e des Grundgesetzes hat der Bund
insbesondere den Verkehrsbedürfnissen Rechnung zu
tragen . Das ist mit dem angepassten Verkehrsangebot
der Bahn gewährleistet . Bei 30 Millionen Euro Verlust
der Bahn im Nachtzugsegment im vergangenen Jahr ist
es eine logische Konsequenz, das Angebot anzupassen .
Es gibt keinen Grund, in die Streckenentscheidungen
der DB AG einzugreifen . Überdies ist es dem Bund als
Eigentümer nach dem Aktiengesetz ja auch gar nicht er-
laubt, in unternehmerische Entscheidungen unmittelbar
und im Detail Einfluss zu nehmen. Von daher ist es auch
nicht rechtens, wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen von der Linken, in Ihrem Antrag die Bundesregie-
rung auffordern, der Bahn ein neues Nachtzugkonzept
aufzuzwingen . Und Sie gehen ja noch weiter . Sie wollen
durch die Hintertür, über das Vehikel Nachtzug, die alte,
staatlich subventionierte Deutsche Reichsbahn wieder
einführen . Das steht so in Ihrem Antrag . Sie wollen ei-
genwirtschaftliche, also auf eigene Rechnung durch-
geführte, Verkehre durch subventionierte Verkehre im
Fernverkehr ersetzen . Und wenn wir schon dabei sind:
Sie loben, dass es andere Unternehmen wohl schaffen,
das Produkt Nachtzug erfolgreich zu verkaufen, wie die
ÖBB mit der Linie Hamburg–Wien und Düsseldorf–
Wien . Und eine halbe Seite später schreiben Sie selbst,
dass Österreich alle Fernverkehrszüge staatlich subven-
tioniert . Das zeigt das Dilemma: Nachtzüge fahren nur
dann erfolgreich, wenn der Steuerzahler die Reisevorlie-
ben der nostalgischen Nachtzugfans bezuschusst . Selbst
die SNCF stellt ihre Nachtzüge ein, weil der Staat sie
nicht mehr subventionieren will .
Die Deutsche Bahn ist in dem Bereich durchaus offen
und hat eine Weiterentwicklung des Angebots geprüft
und verschiedene Nachtzugwagenkonzepte pilotiert .
Zusätzlich wurden Kundenbefragungen durchgeführt .
Dabei kam heraus, dass diese Konzepte bei den Kunden
zwar gut ankommen, sie aber überhaupt nicht bereit wä-
ren, dafür den Preis zu bezahlen, den die Bahn verlangen
müsste, um diese Investition zu bezahlen . Auch Nacht-
zugkunden sind preissensibel . Sie kennen ja die Preise
für Hotels, Hochgeschwindigkeitszüge, Fernbusse, Mit-
fahrzentralen oder auch Billigflüge.
Es ist verständlich, dass die Mehrzahl der Reisen-
den lieber auf diese Angebote zurückgreift als auf lange
Nachtzugreisen . (Die ehemalige Nachtzugstrecke Frank-
furt–Paris beispielsweise dauert heute mit dem ICE nur
noch 3 ¾ Stunden .) Im Verkehrsausschuss hat die Bahn
letzten Monat erklärt, dass sie in Zukunft statt der Nacht-
züge mehr ICEs nachts einsetzen will, weil dieses schnel-
le Angebot gut angenommen wird .
Sollte man Ihrer Argumentation folgen, liebe Kol-
leginnen und Kollegen von der Linken, indem man die
Verbindungen mit Zuschüssen am Leben erhält, kann
man vielleicht ihren Tod hinauszögern oder verhindern .
Man kann auf diese Weise aber keine Gesundung von Ei-
senbahnunternehmen einleiten . Um gesund zu sein, muss
ein Unternehmen seine Kräfte sammeln, nicht zerstreu-
en . Und es muss vor allem Geld verdienen können, und
darf es nicht zum Fenster hinauswerfen – auch nicht zum
Nachtzugfenster . Daher ist es richtig, dass die Deutsche
Bahn AG als Wirtschaftsunternehmen mit neuen Produk-
ten auf den Markt reagiert, und unrentable Produkte aufs
Abstellgleis setzt . Denn nur ein gesundes Unternehmen
kann langfristig gute Arbeitsplätze bieten und gute Ange-
bote machen . Daher lehnen wir Ihren Antrag ab!
Daniela Ludwig (CDU/CSU): Das Reiseverhalten
der Deutschen hat sich über die letzten Jahre hinweg ver-
ändert . Immer mehr Reisende nutzen die günstigen Mög-
lichkeiten, die von Billigfliegern und Mietwagen geboten
werden, und legen die Reise zum Urlaubsziel nicht mehr
im Auto oder im Zug zurück . Das einst durchaus reizvol-
le Angebot, sich gemütlich abends in den Zug zu setzen
und am nächsten Morgen am Ziel zu sein, hat nach und
nach an Attraktivität eingebüßt .
In ihrem Antrag kritisiert nun die Fraktion Die Linke
den Rückzug der Deutschen Bahn AG aus dem Nacht-
zugverkehr . Ähnliches haben Sie bereits in vorangegan-
gen Anträgen getan, und der Verkehrsausschuss hat sich
auch in einer Anhörung im vergangenen Jahr dem Thema
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 18151
(A) (C)
(B) (D)
eingehend gewidmet . Letztendlich wurden Ihre Anträge
jedoch abgelehnt .
Ich denke, wir sollten hier einmal grundsätzlich das
Verhältnis von Bund und Bahn klären . Denn der Bund ist
zwar Eigentümer der Deutschen Bahn, aber die Bahn ist
als Wirtschaftsunternehmen in Form einer Aktiengesell-
schaft dem Aktiengesetz unterworfen .
Das bedeutet, dass der Bund keinen Einfluss auf die
Entscheidungen der Deutschen Bahn im operativen Ge-
schäft hat . Wir können als Bundestag nicht einfach gegen
die geltenden gesetzlichen Vorgaben handeln, nur weil
Ihnen eine unternehmerische Entscheidung der Deut-
schen Bahn nicht passt . Da können Sie noch so viele
Anträge im Bundestag stellen, die Gesetze gelten auch
weiterhin . Und das ist auch gut so .
Denn auch das Angebot oder eben das Einstellen der
Nachtzüge ist eine solche unternehmerische Entschei-
dung. Der Nachtzugverkehr ist seit Jahren defizitär, die
Züge nicht gut genug gebucht . Die Kosten dagegen sind
hoch . Sicherlich, eine Reise im Nachtzug kann reizvoll
sein, und ich möchte gar nicht abstreiten, dass viele mit
dem Nachtzug noch schöne Erinnerungen an vergangene
Urlaube verbinden . Doch schöne Erinnerungen sind eben
nicht alles – die Deutsche Bahn muss sich den veränder-
ten Verkehrsbedürfnissen der Menschen stellen . Wie vie-
le von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Linken, haben denn in den letzten Jahre noch Nachtzüge
genutzt, um aus dem Wahlkreis zur Sitzungswoche in
Berlin zu kommen oder um einen gemeinsamen Urlaub
mit der Familie zu verbringen?
Wie jedes andere Wirtschaftsunternehmen auch, muss
die Deutsche Bahn sich in ihrer Ausrichtung und ihrem
Angebot am Kundenverhalten und der Nachfrage orien-
tieren . Wenn diese sich ändert, muss die Bahn reagieren .
Sie schreiben in Ihrem Antrag, dass das Grundgesetz
die Forderung enthält, dass der Bund auch im Bahnfern-
verkehr gemeinwirtschaftliche Angebote zu gewährleis-
ten hat und sich nicht auf die Vorhaltung der Infrastruktur
beschränken darf . Das heißt aber nicht, dass die Deutsche
Bahn Nachtzüge einzusetzen hat, vor allem wenn diese
nicht ausreichend nachgefragt werden .
Darüber hinaus arbeitet die Deutsche Bahn an einem
Konzept, um den bisherigen Nachtzugverkehr zu erset-
zen . Bereits jetzt verkehren auf den deutschen Schie-
nen zahlreiche Nacht-ICE, die ein Angebot auch in den
Nachtstunden sicherstellen . Nach Informationen der DB
soll dieses Grundangebot in den Sommermonaten außer-
dem durch zusätzliche ICE-Züge ergänzt werden . Die
Deutsche Bahn wird insofern auch weiterhin Angebote
schaffen, wo sie gefragt sind . Im Übrigen steht der Markt
des Nachtzuggeschäftes ja auch für Mitbewerber offen .
Wenn es denn so lukrativ ist, wie Sie hier darstellen, wird
sich sicherlich ein Unternehmen finden, das in das Ge-
schäft einsteigen wird .
Insofern bin ich mir sicher, dass wir auch weiterhin
genug Möglichkeiten haben, auf der Schiene von A nach
B zu kommen, sei es am Tag oder in der Nacht . Diese
Möglichkeiten bestehen aber auch ohne Ihren Antrag .
Martin Burkert (SPD): Grundsätzlich möchte ich
voranstellen, dass eine Befassung mit der Thematik der
Nachtreisezüge im Bundestag sehr sinnvoll ist . Das ge-
schieht aber bereits ausführlich . Als SPD-Bundestags-
fraktion begleiten wir genau dieses Thema schon sehr
lange und kontinuierlich, und auch im Ausschuss für
Verkehr und digitale Infrastruktur hatten wir das Thema
mehrfach auf der Tagesordnung . Wir haben in der Gro-
ßen Koalition bereits wichtige Schritte zur Stärkung des
Schienensektors erreicht und werden uns auch weiterhin
dafür einsetzen, die Schiene als nachhaltigen Verkehr-
sträger zu fördern . Das Thema „Nachtreisezug“ ist uns
in diesem Zusammenhang ebenfalls ein wichtiges Anlie-
gen .
Die grundlegenden Rahmenbedingungen für den
Nachtreiseverkehr als „rollendes Hotel auf Schienen“ ha-
ben sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert . Wäh-
rend zum Beispiel Flug- und Hotelkosten vergleichbar
stark gesunken sind, konnte der Nachtzug mit hohen Be-
triebskosten, seinen Strukturen und der harten Fernreise-
buskonkurrenz einfach nicht mitziehen . Im europäischen
Vergleich haben sich entsprechend viele Bahnunterneh-
men vom klassischen Nachtzug verabschieden müssen .
Zuletzt zu sehen auch in Frankreich .
Das Nachtzuggeschäft macht in der Bilanz der Deut-
schen Bahn AG einen Umsatz von knapp 90 Millionen
Euro pro Jahr aus – allerdings beträgt der Anteil der
Nachtverkehre in der DB lediglich 1 Prozent des gesam-
ten Fernverkehrs . Unterm Strich steht bei der Sparte ein
jährliches Defizit von ungefähr 30 Millionen Euro – eine
Summe, die den derzeit angeschlagenen Konzern lei-
der weiter belastet . Wir müssen zur Kenntnis nehmen,
dass dieses Ergebnis einem wirtschaftlichen Betrieb der
Nachtzugsparte derzeit und in der jetzigen Form entge-
gensteht .
Wir erleben derzeit, dass sich viele Menschen mit
großem Engagement für die Nachtzüge einsetzen . Ich
selbst habe eine Petition mit fast 30 000 Unterschriften
entgegengenommen . Die Deutsche Bahn arbeitet auch
aus diesem Grund an einem tragfähigen Betriebskon-
zept, um Nachtreiseverkehre in Deutschland in verschie-
densten Formen weiterhin zu ermöglichen, den eigenen
Geschäftsbereich aber gleichzeitig wieder wirtschaftlich
ausgestalten zu können .
Wie bereits vielfach in der Presse zu lesen war, wird
hierzu auch mit anderen Unternehmen verhandelt, um
eigene Betriebsstärken mit Angeboten anderer Anbieter
zu kombinieren, Kompetenzen zu bündeln und so einen
guten Angebotsumfang zu realisieren . So steht im Raum,
gegebenenfalls in Zusammenarbeit mit der Österreichi-
schen Bundesbahn (ÖBB) ein gemeinsames Konzept zu
entwickeln, das die bisherigen Nachtzugverbindungen
inklusive der gefahrenen Zugkilometer in Deutschland
auch zukünftig abdecken wird .
Anders als die DB AG kann die ÖBB, die bereits heute
in Deutschland Nachtzüge fährt, 20 Prozent ihres gesam-
ten Fernreisesegments mit Nachtzügen wirtschaftlich be-
treiben und deshalb die nötigen Kapazitäten vorhalten .
Das hat mit der besonderen Unternehmensstruktur und
den örtlichen Begebenheiten in Österreich zu tun .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 201618152
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Die DB AG fährt bereits heute auch nachts mit norma-
len ICEs in Deutschland . Diese Nacht-ICEs sind sehr gut
nachgefragt und können, unter Einbindung von Nachtrei-
seangeboten anderer Unternehmen, möglicherweise eine
sinnvolle Angebotsergänzung darstellen . Den besonde-
ren Qualitätsansprüchen der Kunden gilt es im Segment
allerdings Rechnung zu tragen .
Eines sage ich aber ganz deutlich: Ein Betriebskonzept
auf dem Rücken der Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mer darf es natürlich nicht geben . Die Attraktivität und
Angebotsbreite des Schienensektors an sich sind zudem
weitere wichtige Säulen, die es grundsätzlich zu stärken
gilt . Ich sage deshalb ganz klar, dass Kundenansprüche,
Wirtschaftlichkeit und die Interessen von Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmern in Einklang gebracht wer-
den müssen .
Ich bin aber zuversichtlich, dass man hier sinnvolle
Lösungen finden kann. Es bleibt deshalb abzuwarten, wie
sich die Planungen und Verhandlungen der Deutschen
Bahn AG hierzu gestalten .
Mit diesem Antrag der Fraktion Die Linke allerdings
schon jetzt voreilige Schlüsse zu ziehen, halten wir für
falsch . Deshalb kann vonseiten meiner Fraktion diesem
Antrag nicht zugestimmt werden .
Sabine Leidig (DIE LINKE): Das Thema Nachtzüge
ist wie üblich zu einer Zeit aufgesetzt, an dem in früheren
Zeiten schon alle Nachtzüge im Land unterwegs waren –
als es sie noch gab . Inzwischen ist das Netz auf ein paar
wenige Züge zusammengeschrumpft, die die Deutsche
Bahn AG lieber heute als morgen auch noch stilllegen
würde . Spätestens im Dezember soll endgültig Schluss
für die letzten Nacht- und Autozüge sein, so die Ankün-
digung der DB AG .
Die Debattenzeit illustriert leider die Bedeutung, die
das Thema für den Bundestag hat; wir als Opposition
müssen es immer wieder hier einbringen, damit über-
haupt eine Debatte stattfindet. Dabei sind die Nachtzü-
ge die einzige Option für ein klimafreundliches Reisen
auf weiten Strecken, auf denen sonst in der Regel ge-
flogen wird. Normalerweise sagt man, dass die längere
Reisezeit mit dem Zug ein Nachteil der Bahn sei . Mit
dem Nachtzug wird genau dies aber zur Stärke der Bahn:
Denn nur mit ihm kann man bequem schlafend reisen
und am nächsten Morgen pünktlich zum Frühstück in ei-
ner anderen Stadt ankommen .
Hunderttausende von Kundinnen und Kunden wissen
dies weiterhin zu schätzen . Obwohl die DB AG in den
letzten Jahren so gut wie nichts mehr in die Sparte inves-
tiert hat, sind die Züge noch immer gut gebucht . Trotz-
dem will die DB AG sie nicht mehr weiter betreiben, und
mir ist immer noch nicht klar, warum eigentlich . Warum
wirft man mit Gewalt Kundinnen und Kunden heraus,
die doch offensichtlich Bahn fahren wollen, die nun aber
gar kein brauchbares Angebot mehr vorfinden? Denn auf
solchen Strecken am Tag zu reisen und mehrmals umstei-
gen zu müssen, das ist für den weit überwiegenden Teil
der Fahrgäste keine Alternative, sondern sie setzen sich
dann auch ins Flugzeug .
Bis zum Januar 2015 sagte die DB AG immer: Die
Nachtzüge werden nicht mehr nachgefragt, die Kund-
schaft läuft davon . – Bei der immer weiteren Verschlech-
terung des Angebots – man denke nur an die Streichung
der Bordrestaurants, in denen man früher noch essen
und ein Glas Wein trinken konnte, bevor man es sich im
Schlafwagenabteil gemütlich gemacht hat – wäre das
gar nicht einmal verwunderlich; es war aber schlichtweg
falsch . In der Anhörung im Verkehrsausschuss am 14 . Ja-
nuar 2015 musste der damalige DB-Vorstand Homburg
zugeben, dass die Züge nach wie vor gut gebucht sind .
Im Klartext: Die DB AG hatte vorher gelogen, das muss
man einmal ganz klar so benennen .
Seitdem bleibt die zweite Argumentationslinie der
DB AG: Die Züge seien unwirtschaftlich . Gestern titel-
te die Stuttgarter Zeitung: „Österreichische Bahn rettet
deutsche Nachtzüge“ . Tatsächlich wird schon länger ge-
munkelt, dass die ÖBB einige Nachtzugstrecken über-
nehmen wolle . Da drängt sich aber doch die Frage auf:
Was können die Österreicher, was die Deutschen nicht
können? Wie kann es sein, dass in Österreich der Nacht-
zuganteil ausgebaut wird und inzwischen bei knapp
20 Prozent liegt – während der DB AG nicht anderes ein-
fällt als der Ausstieg? Und das, obwohl es in der Anhö-
rung am 14 . Januar 2015 sogar noch die Zusage gegeben
hatte, dass ein neues tragfähiges Konzept für diese Sparte
entwickelt würde . Und es war der jetzige österreichische
Bundeskanzler, der noch bei der ÖBB-Bilanzpressekon-
ferenz im März sagte: Diese Züge rechnen sich . – Warum
schaffen es die ÖBB offensichtlich, Nachtzüge erfolg-
reich und wirtschaftlich zu betreiben?
Wir sagen: Wenn die ÖBB einige Nachtzüge weiter
betreiben, ist das natürlich besser als nichts . Vermutlich
werden die ÖBB auch einiges mehr an Energie und Ide-
en in diese Sparte stecken als die DB AG in den letzten
Jahren – die Ausschreibung neuer Wagen deutet schon
in eine sehr gute Richtung . Aber die ÖBB werden wohl
nicht das gesamte Netz übernehmen, und somit fehlen
immer noch viele Verbindungen im Netz von Deutsch-
land in die Nachbarländer . Und wir sollten die DB AG
als Bundesunternehmen hier nicht aus der Verantwortung
lassen: In einem zusammenwachsenden Europa brauchen
wir aber diese Verbindungen . Europa wächst doch nicht
nur in der Luft zusammen, sondern es sollte vor allem
auch auf der Schiene zusammenwachsen!
Für ein gesamteuropäisches Netz gibt es seit etwa ei-
nem Monat ein Konzept: Den „LunaLiner“ . Da haben
sich Bahnexperten unabhängig von der DB AG zusam-
mengesetzt und überlegt, wie ein gesamteuropäisches
Netz von Nachtzügen eigentlich aussehen müsste . Die-
ses System ist vertaktet geplant, sodass sich die Züge in
bestimmten Bahnhöfen treffen und Wagen austauschen
können . Damit könnte man sehr viele Direktverbindun-
gen quer durch Europa im Schlaf anbieten . Das Konzept
ist eine Grundlage für eine überfällige Debatte über die
Zukunft der Nachtzüge . Das kann sicherlich nicht die
DB AG alleine schaffen, aber dann benötigen wir einen
europäischen Zusammenschluss der Bahnen, der ein sol-
ches Netz gemeinschaftlich betreibt .
Das ist alles andere als Traumtänzerei: So etwas
gab es schon . Die „Compagnie Internationale des Wa-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 18153
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gons-Lits“ hat früher ein großes Nachtzugnetz in ganz
Europa betrieben – vor dem Zweiten Weltkrieg mit über
2 000 Wagen und Verbindungen durch ganz Europa bis
nach Istanbul . Und wir wissen doch alle, dass es mit
dem klimaschädlichen Flugverkehr so nicht weitergehen
kann, wir brauchen so etwas also wieder, wenn wir auch
in Zukunft in Europa mobil bleiben wollen!
Vor einigen Wochen sagte DB-Chef Grube der FAZ
auf die Nachfrage nach den Nachtzügen, wir sollten uns
überraschen lassen, das Aus des Nachtzugs sei noch nicht
besiegelt . Wir warten bis heute auf diese Überraschung .
Aber die Zeit drängt extrem: Denn innerhalb der DB AG
werden die Beschäftigen der Nachtzugsparte schon jetzt
in andere Bereiche abgeworben . Schon jetzt gibt es einen
massiven Personalmangel . Züge, die eigentlich mit vier
Mitarbeitern besetzt sein müssten, fahren teilweise nur
noch mit zwei Mitarbeitern . Die verbliebenen Kollegin-
nen und Kollegen befinden sich im Dauerstress. Weil sie
sich für ihre Züge einsetzen und noch an eine Zukunft
glauben, versuchen sie, den Betrieb aufrechtzuerhalten,
obwohl es eigentlich kaum noch geht . In der Nacht von
letztem Samstag auf Sonntag gab es dann schon den
ersten Ausfall: Für den vollbesetzten Autozug von Lör-
rach nach Hamburg war kein Zugführer greifbar . Der
Lokführer weigerte sich zu Recht, den Zug regelwidrig
ohne Zugführer zu fahren; die Folge: Der Zug stand drei
Stunden in Karlsruhe, bis endlich ein Ersatzzugführer ge-
funden war .
Da muss man sich schon fragen: Fährt die DB AG die
Züge bewusst vor die Wand, um neuen Anbietern das Le-
ben möglichst schwer zu machen? Legt sie alles darauf
an, dass die Züge schon vor dem Sommer endgültig ka-
putt gemacht werden? Die Reden von neuen Konzepten
sind doch dann nur Lippenbekenntnisse, wenn es bald
schon keine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mehr gibt,
mit denen man so etwas überhaupt umsetzen könnte, und
wenn die Kundschaft vergrault wird .
Wir brauchen die Nachtzüge weiter; sie sind sinnvoll,
und sie werden nachgefragt . Und wenn man es richtig
macht, dann lassen sie sich auch wirtschaftlich betreiben,
da habe ich keinen Zweifel . Daher fordere ich Sie alle
auf: Stimmen Sie unserem Antrag zu, damit wir endlich
eine Grundlage dafür haben, die DB AG in diesem Be-
reich zu ihrem grundgesetzlichen Auftrag zu zwingen:
nämlich ein vernünftiges Verkehrsangebot auch auf
Fernreisen in die Nachbarländer zu machen .
Gerade findet parallel bekanntlich das EM-Spiel
Frankreich – Deutschland statt . Die nächste EM in vier
Jahren wird in 13 Städten Europas stattfinden. Bis dahin
brauchen wir wieder ein funktionierendes europäisches
Nachtzugnetz – nicht nur für Fußballfans, sondern auch
für Familien, Geschäftsreisende und alle, die bequem rei-
sen wollen .
Matthias Gastel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir
befinden uns in bahnpolitisch bewegten Zeiten. Heute
stand schon das Eisenbahnregulierungsgesetz auf der
Tagesordnung, das Thema Stuttgart 21 schlägt in diesen
Tagen wieder Wellen, und auch die Nachtzüge als wichti-
ger Bestandteil einer klimafreundlichen Mobilität stehen
bei der Deutschen Bahn aktuell zur Debatte . Nun haben
wir einen Antrag der Linksfraktion zu den Nachtzügen
auf dem Tisch – und ja, auch uns beschäftigt die Zukunft
des Nachtzugverkehrs . Wenn man die aktuelle Berichter-
stattung über die Nachtzüge verfolgt, gibt es hier aktuell
wenig Licht und viel Schatten .
Die Entwicklung des Nachtzugsgeschäfts der Deut-
schen Bahn bereitet auch uns Grünen seit einigen Jahren
einige Sorgenfalten . Schon im Dezember 2014 wurde das
Nachtzugnetz der Deutschen Bahn deutlich geschrumpft .
Man denke nur an die Abbestellung der CityNight-
Line-Züge zwischen Berlin und Paris, zwischen Ham-
burg und Amsterdam oder auch zwischen Prag, Dresden,
Berlin und Kopenhagen .
Doch jenseits der Entwicklung einzelner Nachtzugli-
nien sehen wir Grüne ein viel grundsätzlicheres Problem
beim Schienenverkehr . Während sich die Bahnreform
von 1994 im Schienenpersonennahverkehr in vielen Be-
reichen durchaus bewährt hat, sieht es im Fernverkehr
und eben auch im Nachtreiseverkehr überhaupt nicht gut
aus . Der Artikel 87 Absatz 4 Grundgesetz sagt hierzu
klar und eindeutig: „Der Bund gewährleistet, dass dem
Wohl der Allgemeinheit, insbesondere den Verkehrsbe-
dürfnissen, beim Ausbau und Erhalt des Schienennetzes
der Eisenbahnen des Bundes sowie bei deren Verkehrs-
angeboten auf diesem Schienennetz, soweit diese nicht
den Schienenpersonennahverkehr betreffen, Rechnung
getragen wird . Das Nähere wird durch Bundesgesetz ge-
regelt .“
Der verfassungsmäßige Auftrag des Bundes ist klar:
Nicht nur beim Aus- und Neubau der Schienenwege hat
der Bund eine Gemeinwohlverpflichtung, sondern eben
auch bei den Mobilitätsangeboten im Fernverkehr . Nur
fehlt seit mehr als 20 Jahren dieses in Artikel 87e er-
wähnte Bundesgesetz . Dieses fehlende Bundesgesetz ist
auch die Ursache dafür, dass die Bahnreform beim Schie-
nenfernverkehr noch immer kaum Früchte trägt .
So stagniert die Nachfrage im Schienenpersonen-
fernverkehr in Deutschland seit über 20 Jahren bei etwa
400 Personenkilometern pro Kopf, während in der glei-
chen Zeit erfolgreiche Länder wie Schweden oder die
Schweiz die Nachfrage im Fernverkehr bis zu 65 Pro-
zent steigern konnten . In der Schweiz reden wir über
1 600 Personenkilometer pro Kopf im Jahr, also über
die vierfache Verkehrsleistung . Auch in Schweden liegt
die Verkehrsleistung mit 600 Personenkilometern pro
Kopf und Jahr noch immer noch 50 Prozent über dem
deutschen Wert im Fernverkehr . In Schweden wurde die
Verkehrsleistung seit 1994 immerhin um 35 Prozent ge-
steigert, während Deutschland auf gleichbleibendem Ni-
veau arbeitet . Das alles wirkt sich natürlich auch auf das
Nachtzuggeschäft aus . Dort, wo schon das Fernzugge-
schäft kaum Performance entwickelt, wird auch ein gutes
Nachtzuggeschäft nur noch wenig ausrichten .
Daher sind die im Antrag angesprochenen Punkte zwar
durchaus wichtig, aber es ist nicht Aufgabe des Bundes,
einzelne Nachtzuglinien zwischen bestimmten Städten
einzurichten oder die Trassenentgelte im Nachtzugver-
kehr festzulegen . An dieser Stelle muss ich die Deutsche
Bahn sogar einmal in Schutz nehmen: Die DB Netz AG
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 201618154
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sieht ja mit dem neuen marktsegmentorientierten Tras-
senpreissystem ganz klar ein eigenes Marktsegment für
die Nachtzüge vor, bei dem diese zwischen 23 Uhr und
6 Uhr morgens ein spürbar niedrigeres Trassenentgelt
zahlen sollen als der Schienenfernverkehr tagsüber .
Primär muss es Aufgabe der Politik sein, gute Rah-
menbedingungen für den Schienenfernverkehr insgesamt
und für den Nachtzugverkehr im Besonderen zu schaf-
fen . Dafür muss man bei der Bahnreform von 1994 nach-
steuern, gute Ansätze weiter vorantreiben und auch den
Fernverkehr als Wettbewerbsmarkt entwickeln wollen .
Wir brauchen praktisch eine Bahnreform 2 .0 .
Für eine solche Bahnreform 2 .0 spricht, dass wir
die erfolgreichen Elemente der ersten Bahnreform nun
auch konsequent für den vom Grundgesetz geforderten
zweiten Schritt übernehmen und dort, wo jetzt schon
Nachbesserungsbedarf da ist, gezielt nachsteuern . Wir
erfinden nicht das Rad völlig neu, sondern schaffen für
den Fern- und Nachtzugverkehr die Instrumente, die wir
schon aus dem Nahverkehr kennen .
Dazu gehört, dass wir endlich die unsinnige Marktab-
grenzung zwischen Personennahverkehr und -fernver-
kehr in Deutschland aufheben und den sich gut bewährten
Ansatz der Aufgabenträgerschaft auch für den Fernver-
kehr anwenden . Zugleich würden wir mit einem Fernver-
kehrssicherstellungsgesetz auch den Nachtzugverkehr in
die Offensive bringen . Seien wir doch ehrlich, die derzei-
tigen Debatten um den Nachtzug sind viel zu defensiv,
viel zu sehr von Rückzugsgefechten geprägt . Mit einem
Fernverkehrssicherstellungsgesetz, wie es einige Länder
vorantreiben, würde dagegen der Fernverkehr insgesamt
und auch der Nachtzugverkehr im Besonderen wieder in
die Offensive kommen .
Uns Grünen ist wichtig, dass wir auch das Nachtzugan-
gebot jenseits der Deutschen Bahn AG in den Blick neh-
men . Da gibt es durchaus erfreuliche Entwicklungen zu
verzeichnen . So wollen die Österreichischen Bundesbah-
nen große Teile des Nachtzugangebotes der Deutschen
Bahn übernehmen und auch im Autoreisezugbereich
aufsatteln . Unser Ziel sollte sein, im Fernverkehrsmarkt
richtigen Open Access und damit wirklichen Wettbewerb
auf der Schiene zu ermöglichen . Damit käme die Deut-
sche Bahn schneller in die Gänge, ein breiteres Angebot
und besseren Service zu liefern . So kämen wir als Bund
weg von der bis heute fehlenden Fernverkehrsstrategie
in Deutschland hin zu einem Wettlauf um das beste An-
gebot und um die beste Servicequalität . Dann würde die
Deutsche Bahn wieder mehr Nachtzugangebote auf die
Schiene setzen .
Lassen Sie uns daher die Debatte richtig führen, nicht
im Klein-Klein um einzelne Nachtzuglinien, sondern um
den im Grundgesetz verbrieften Gemeinwohlauftrag des
Bundes im Fern- und Nachtzugverkehr und um die richti-
gen Rahmenbedingungen für wirklichen Wettbewerb auf
der langen Strecke . Dafür ist uns der vorliegende Antrag
zu kurz gesprungen, da er noch viele Fragen offen lässt .
Lassen Sie uns den Fern- und Nachtzugverkehr strate-
gisch neu aufstellen, mit Trassenpreisen auf Grenzkos-
tenniveau über einen Deutschlandtakt bis hin zum Open
Access für richtigen Wettbewerb auch bei Fern- und
Nachtzugangeboten .
Die heutige Debatte kann dazu ein guter Auftakt sein .
Anlage 15
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung
des Strafgesetzbuches – Strafbarkeit von Sport-
wettbetrug und der Manipulation von berufssport-
lichen Wettbewerben (Tagesordnungspunkt 10)
Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Der heutige Tag
steht im Zeichen des zweiten Halbfinalspiels der Euro-
pameisterschaft in Frankreich . Um 21 .00 Uhr werden die
Nationalmannschaften von Deutschland und Frankreich
gegeneinander antreten . Tausende von Fans werden im
Stadion ihr Team anfeuern . Ein Millionenpublikum wird
vor dem heimischen Fernseher oder beim Public Viewing
das Spiel verfolgen . Wir erwarten einen schönen Fußbal-
labend mit einem positiven Ausgang für die favorisierte
Mannschaft . Was hat das nun mit der heutigen Plenarde-
batte zu tun?
Wir gehen mit größter Selbstverständlichkeit davon
aus, dass jeder Spieler den größtmöglichen Einsatz für
seine Mannschaft gibt . Der Sport vermittelt positive Wer-
te wie Leistungsbereitschaft, Toleranz und Teamgeist .
Der Sportwettbewerb lebt aber auch von klaren Regeln .
Die Einhaltung dieser Regeln fassen wir allgemein als
Fairness auf . Wir gehen heute Abend mit guten Gründen
von einem fairen Spiel aus .
Es gibt Regelverstöße, die schnell geahndet werden
können . Ich denke an ein Foulspiel im Fußball, welches
einen Freistoß zur Konsequenz hat . Es gibt aber Regel-
verstöße, die eine größere Tragweite haben und auf den
ersten Blick nicht erkennbar sind . Ich spreche hier von
der Manipulation von Sportwettbewerben durch Spieler
und Trainer .
Leider handelt es sich nicht um ein abstraktes Bedro-
hungsszenario . Der Wettskandal im Jahre 2005 mit ma-
nipulierten Spielen rund um den Schiedsrichter Robert
Hoyzer erschütterte nicht nur die Fußballwelt . Das Ver-
trauen in die Leistung der Schiedsrichter und die Integ-
rität des professionellen Fußballs wurde infrage gestellt .
Es ist unzweifelhaft, dass Manipulationen von Sport-
wettbewerben und der Sportwettbetrug die Integrität des
Sports erheblich beeinflussen. Die Integrität des Sports
beruht in der Unverfälschtheit und Authentizität sport-
licher Wettbewerbe . Der Imageschaden spiegelt sich
schließlich in einer Verletzung von fremden Vermögen
und Gewinnausfällen wider . Ehrliche Sportvereine und
Veranstalter erleiden einen Rückgang von Eintritts- und
Sponsorengeldern . Redliche Sponsoren werden zu Un-
recht in den Zusammenhang von Spielmanipulationen
gebracht . Anbietern von Sportwetten und Wettteilneh-
mern werden die Gewinne vorenthalten .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 18155
(A) (C)
(B) (D)
Bei einem erheblichen sozialschädigenden Verhalten
ist stets das Strafrecht auf den Plan gerufen . Als Ultima
Ratio hat das Strafrecht schwere Verfehlungen zu ahn-
den . Die Manipulation von Sportwettbewerben und der
Sportwettbetrug stellt eindeutig ein erhebliches straf-
rechtliches Unrecht dar .
Bisher war eine Vielzahl von Fällen durch den Straf-
tatbestand des Betruges bereits erfasst . In der richterli-
chen Praxis bestehen aber Nachweisprobleme für die
konkreten Vermögenseinbußen . Die Spielmanipulation
erfüllt derzeit keinen spezifischen Straftatbestand. Den-
noch ergibt sich die Strafbarkeit aus einer Beihilfehand-
lung zum Betrug durch Sportwetten .
In den Ausschusssitzungen wird über die derzeitigen
Lücken in der Strafbarkeit, aber auch über die Lücken
der Nachweisbarkeit von strafbarem Verhalten zu spre-
chen sein . Ein besonderes Augenmerk sollte auf die ge-
schützten Rechtsgüter gelegt werden . Ist tatsächlich die
Integrität des Sports das schützenswerte Rechtsgut, oder
lässt sich der strafrechtliche Schutz letztendlich doch auf
das Vermögen zurückführen? Wir sollten auch über die
konkrete Definition der Manipulation sprechen. Wo sind
die Grenzen zu ziehen? Es stellt sich ebenfalls die Frage,
ob die Manipulation auf den Berufssport begrenzt sein
soll .
Gehen wir mit diesen Fragen in die Ausschussbera-
tung!
Ingo Wellenreuther (CDU/CSU): Fast genau zwölf
Jahre ist es her – am 21 . August 2004 –, als ein Aufei-
nandertreffen zwischen dem damaligen Drittligisten
SC Paderborn und dem Bundesligisten Hamburger SV
im DFB-Pokal unrühmliche Geschichte schrieb: Es war
der markanteste Fall des Wettskandals um den ehemali-
gen deutschen Fußballschiedsrichter Robert Hoyzer . Der
HSV verlor nach einer 2:0-Führung noch mit 2:4, und
Hoyzer hatte großen Anteil daran .
Im Zuge des Bekanntwerdens des Skandals im
Jahr 2005 gab Hoyzer zu, Spiele der 2 . Fußball-Bun-
desliga, des DFB-Pokals und der Fußball-Regionalliga
verschoben zu haben, dass die erwünschten Ergebnisse –
auf die zuvor gewettet wurde – herauskamen . Berichten
zufolge hatte Hoyzer zudem regelmäßig Kontakt zur
kroatischen Mafia. Der Fußball-Wettskandal 2005 gilt
bis heute als die größte Affäre im deutschen Fußball seit
dem Bundesliga-Skandal in der Saison 1970/71 .
Wir diskutieren heute den vorliegenden Gesetzent-
wurf, der zwei neue Straftatbestände schafft, die beide
Manipulationsabreden im Sport betreffen . Diese gesetz-
lichen Regelungen finden ihren Niederschlag im § 265c
StGB als Sportwettbetrug, wenn sie einen Bezug zu
Sportwetten haben, und in § 265d StGB, wenn sie keinen
Bezug zu Sportwetten haben, aber dennoch berufssport-
liche Wettbewerbe betreffen .
Damit setzt der Deutsche Bundestag als Gesetzge-
ber das um, wozu im Mai 2013 die Sportminister der
5 . UNESCO-Weltkonferenz in Berlin die Mitgliedstaa-
ten aufgerufen haben: nämlich etwas gegen die Mani-
pulation von Sportwetten zu tun . Zum anderen wird das
umgesetzt, was der Europarat am 9 . Juli 2014 den Ver-
tragsstaaten vorgegeben hat, nämlich die Manipulation
von Sportwetten unter Strafe zu stellen . Dieses Überein-
kommen des Europarats hat Deutschland am 18 . Septem-
ber 2014 unterschrieben . Drittens setzen wir um, was wir
in unserer Koalitionsvereinbarung beschlossen haben,
nämlich nicht nur gegen Doping, sondern auch gegen die
Manipulation von sportlichen Wettbewerben und Sport-
wettbetrug vorzugehen .
An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass es vor
allem der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zu verdanken
ist, dass nicht nur der Sportwettbetrug, sondern auch die
Manipulation von berufssportlichen Wettbewerben, die
keinen Bezug zu Sportwetten haben, unter Strafe gestellt
wird . Nachdem das Justizministerium anfänglich irriger-
weise dafür keine Notwendigkeit gesehen hat, bin ich
froh, dass ein solcher Straftatbestand jetzt doch Eingang
in das Strafgesetzbuch finden wird. Ein Verweis auf die
Möglichkeit verbandsinterner Sanktionsmöglichkeiten
in solchen Fällen wäre nicht ausreichend gewesen, weil
das Unwerturteil geringer als bei einer strafrechtlichen
Verurteilung gewesen wäre . Zudem hätte es sich nicht an
Dritte, sondern nur an Verbandsmitglieder gerichtet, und
es wäre nicht ausreichend tauglich gewesen, weil es den
Sportverbänden an ausreichenden Eingriffsbefugnissen
und Aufklärungsmöglichkeiten gemangelt hätte .
Die rechtspolitische Rechtfertigung solcher neuen
Straftatbestände ergibt sich zunächst aus der unstrittig
vorliegenden herausragenden gesellschaftlichen und
wirtschaftlichen Bedeutung des Sports in Deutschland
und der Welt . Der Sport vermittelt positive Werte wie
Leistungsbereitschaft, Fairness, Toleranz und Teamgeist,
schafft Vorbilder für junge Menschen und lehrt, mit Sieg
und Niederlage umzugehen . Ebenso ist er ein enormer
Faktor im Wirtschaftsleben, weil hohe Umsätze und hohe
Gewinne erzielt sowie Arbeitsplätze und steuerliche Ein-
nahmen des Staates dadurch generiert werden .
Dies ist allerdings nur deshalb möglich, weil der Sport
einen besonderen Reiz auf Menschen ausübt und weil
das Ergebnis und der Verlauf von sportlichen Wettbe-
werben nicht voraussehbar sind . Dies macht gerade die
besondere Attraktivität des Sports aus .
Dies alles ist durch Sportwettbetrug und Manipulation
von sportlichen Wettbewerben gefährdet . Dadurch wird
die Integrität des Sports und das Vermögen anderer ge-
schädigt . Die Glaubwürdigkeit und die Authentizität des
sportlichen Wettbewerbs werden untergraben, und der
Sport wird in seiner gesellschaftlichen und wirtschaftli-
chen Relevanz gefährdet .
Deshalb muss der Sport gerade mit den Mitteln des
Strafrechts geschützt werden, weil zudem noch bedeu-
tende Vermögensinteressen vieler gefährdet sind . Anbie-
ter von Sportwetten, Wettteilnehmer, ehrliche Sportler,
Sportvereine, Veranstalter und Sponsoren sind betroffen .
Die bisher bestehenden Strafrechtsnormen greifen zu
kurz: Das hat sich dadurch bewahrheitet, weil bisher eine
strafrechtliche Verfolgung von Manipulationsabreden im
Sport nur unzureichend möglich war . Insbesondere be-
standen im Einzelfällen Anwendungs- oder Nachweis-
schwierigkeiten: beispielsweise die konkrete Feststellung
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 201618156
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(B) (D)
der Wettsetzung oder der konkrete Vermögensschaden
beim Wettbetrug . Außerdem wurde in diesen Fällen das
kriminelle Verhalten der Sportler und der Unrechtsgehalt
ihrer Tat nicht ausreichend strafrechtlich geahndet, weil
sie nur als Beihelfer zum Betrug zu bestrafen waren . Bei
der Fallvariante von Spielmanipulationen ohne Wettbe-
zug war § 263 StGB bisher nicht anwendbar, und § 299
StGB war deshalb nicht einschlägig, weil ein Bezug von
Waren oder Dienstleistungen nicht vorlag . Daher besteht
gesetzgeberischer Regelungsbedarf .
Dieser ergibt sich auch daraus, dass es sich bei diesen
Manipulationsabreden im Sport nicht mehr um Einzel-
fälle handelt, sondern um ein immer stärker auftretendes
Phänomen, wie sich aus Presseberichten, wissenschaftli-
chen Veröffentlichungen und empirischen Untersuchun-
gen ergibt .
Deshalb ist in Zukunft in diesen Fällen der Staatsan-
walt berufen und die staatlichen Gerichte gefordert .
Ebenso wichtig ist, dass gesetzliche Regelungen ge-
schaffen werden, um bei dieser Kriminalitätsform den
Strafverfolgungsbehörden die Befugnis zur Überwa-
chung der Telekommunikation zu geben und verdeckte
Ermittlungsmaßnahmen zu ermöglichen .
Abschließend bin ich sehr zufrieden, dass wir in die-
ser Wahlperiode nach der Verabschiedung des Anti-Do-
ping-Gesetzes im November 2015 nunmehr mit diesem
Gesetzentwurf unsere Forderung aus der Koalitionsver-
einbarung vom 27 . November 2013 umgesetzt haben,
nämlich weitergehende strafrechtliche Regelungen auch
im Kampf gegen Spielmanipulationen zu schaffen .
Damit setzen wir ein deutliches Signal für einen sau-
beren und fairen Sport und machen deutlich, dass Mani-
pulation und Betrug im Sport keinen Platz haben .
Detlev Pilger (SPD): Wir haben mit diesem Gesetz
einen großen Schritt geschafft . Es ist ein sehr, sehr gutes
Gesetz geworden, das Strafbarkeitslücken schließt und
einem tatsächlichen Bedürfnis in der Strafverfolgung
gerecht wird . Natürlich waren auch vor diesem Gesetz
Verurteilungen im Bereich der Spielmanipulation mög-
lich, aber es war schwer, diese nachzuweisen und sie
unter die vorhandenen Gesetze des Strafgesetzbuches zu
subsumieren . Das Phänomen des Sportwettbetruges ist
vielleicht nicht neu im Sport, aber mit der zunehmenden
Globalisierung und Digitalisierung hat es eine beunruhi-
gende Zunahme erfahren . Nun haben wir ein Gesetz, das
genau auf das zu missbilligende Verhalten abzielt und
den speziellen Schwierigkeiten im Rahmen der Spiel-
manipulation angepasst ist . Sportwettbetrug und Mani-
pulationen von Sportwettbewerben werden in Zukunft
einfacher strafrechtlich zu verfolgen sein, weil konkrete
Täterkreise und konkrete Verhaltensweisen unter dieses
Gesetz gefasst werden . Mit dem vorliegenden Gesetzent-
wurf zur Spielmanipulation kommen wir somit unserem
erklärten Ziel für einen sauberen, fairen und ehrlichen
Sport immer näher .
Diese Erleichterung für die Strafverfolgungsbehör-
den ist natürlich ein wichtiger Schritt gewesen, aber
wichtiger ist das Signal, das mit diesem Gesetz gesendet
wird: Sportwettbetrug und Manipulationen von Sport-
wettbewerben widersprechen der Integrität des Sportes
und führen zu einem Bild in der Öffentlichkeit, das dem
organisierten Sport unwürdig ist . Dieses Gesetz ist eine
logische Weiterführung unseres erklärten Zieles, einen
sauberen Sport zu schaffen, der für Kinder und Jugendli-
che eine Vorbildfunktion einnehmen kann . Wir haben mit
dem Anti-Doping-Gesetz bereits ein deutliches Zeichen
gegen unfaire Praktiken im Sport gesetzt . Dieses Gesetz
zur Spielmanipulation vervollständigt unsere Absichten .
Wir haben in den vergangenen Jahren viel damit zu
kämpfen gehabt, dass der Sport an Glaubwürdigkeit ein-
gebüßt hat . Wir haben mit Dopingskandalen weltweit zu
kämpfen, mit undurchsichtigen Methoden bei der Verga-
be von Großsportveranstaltungen, bei der Bekämpfung
von Sportwettbetrügereien weltweit . Wir haben beobach-
ten müssen, wie die Umwelt belastet und zerstört wur-
de, um den Bau von überdimensionierten Sportstätten
zu gewährleisten . Wie Löhne von den Ärmsten der Ar-
men nicht ausgezahlt wurden . Wir haben einen Skandal
in unserem Land zur WM 2006 gehabt, der gerade erst
aufgeklärt wird und erschreckende Praktiken aufgezeigt
hat . Skrupellosigkeit und Gier scheinen bei Sportfunktio-
nären nicht selten zu sein . Natürlich betrifft das nicht alle
Beteiligten, aber genau deshalb müssen wir diejenigen,
die für Fairness eintreten, besser schützen!
Wir müssen dem Sport seine Glaubwürdigkeit zu-
rückgeben . Das muss in erster Linie natürlich auch der
organisierte Sport selbst machen, aber wir als Gesetzge-
ber sind in der Pflicht, einen Rahmen zu setzen, in dem
sich engagierte und faire Sportlerinnen und Sportler und
Sportbegeisterte derart bewegen können, dass sie sich si-
cher und geschützt fühlen .
Aber wir haben nicht nur die Pflicht zur Sicherung
eines fairen und sauberen Sportes, wir haben auch die
Pflicht, das Potenzial von Sport in der Integrationsdebat-
te ernst zu nehmen und dieses für uns zu nutzen .
Was Sport bei der Integration von Kindern ausmachen
kann, habe ich lange selber am eigenen Leib erlebt . Ich
war schon mein Leben lang im Fußballbereich aktiv .
Ich habe mit Kindern und Jugendlichen aus der ganzen
Welt gekickt und gelernt, dass es auf dem Platz keine
Unterschiede gibt . Ich habe gesehen, wie der Fußball für
Kinder aus sozial schwachen Familien meist als einzige
Vorbildfunktion agiert hat und die Kinder dazu bekom-
men hat, Verantwortung zu übernehmen und Teamgeist
zu entwickeln . Wenn diese Kinder und Jugendlichen
sich anschauen, wie der Sport heute immer wieder den
Stempel der Korruption und Manipulation aufgedrückt
bekommt und diese Menschen nicht dafür zur Verant-
wortung gezogen werden, dann muss es uns nicht wun-
dern, wenn auch unsere Kinder und Jugendlichen ihr
Vertrauen in den Sport verlieren . Wir dürfen dieses Risi-
ko nicht eingehen, weil mit der Integrationsdebatte eine
gesamtgesellschaftliche Aufgabe vor uns liegt, die ohne
den Sport nicht zu schaffen ist .
Dr. André Hahn (DIE LINKE): Nach dem Anti-Do-
ping-Gesetz soll nun auch ein Gesetz gegen Wettbetrug
und Manipulation im Sport vom Bundestag verabschie-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 18157
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(B) (D)
det werden . Das ist auf den ersten Blick gut und sinnvoll,
denn wer sollte etwas dagegen haben, dass Betrug bei
Sportwetten sowie die Bestechung von Sportlern oder
Schieds- und Kampfrichtern bestraft wird .
Schaut man sich nun aber die im Gesetzentwurf ent-
haltenen Regelungen genauer an, so stellen sich gleich
mehrere Fragen . Ich kann hier nur einige nennen: Rei-
chen die derzeit geltenden strafrechtlichen Regelungen
wirklich nicht aus, um Schuldige zu belangen? Warum
soll nur die Manipulation in berufssportlichen Wettbe-
werben strafbar sein? Was geschieht zum Beispiel, wenn
beim Fußball Spiele im Amateurbereich gekauft werden,
die am Ende aber über den Aufstieg in den professio-
nellen Bereich entscheiden? In wie vielen und welchen
Sportarten gibt es überhaupt echte Profis? Ist es nicht so,
dass selbst die Spitzenathleten in vielen Sportarten nicht
davon leben können und zusätzliche Unterstützung be-
nötigen? Soll dort dann straffrei manipuliert werden dür-
fen? Will die Koalition also ein Gesetz, das nur für eine
Minderheit der Sportdisziplinen überhaupt Anwendung
findet, also für die Profibereiche beim Fußball, Handball,
Volleyball, Eishockey, Tennis, Boxen und dem Radsport?
Die Zielsetzung des Gesetzentwurfes, die Integrität
des Sportes mit allen verfügbaren Mitteln zu schützen,
klingt natürlich gut, und dass die Politik hier hinsichtlich
der Zukunft des Sports in der Verantwortung steht, ist
auch für die Linke unstrittig .
Der Deutsche Olympische Sportbund nahm auf Vor-
schlag seines Präsidiums in der Mitgliederversammlung
am 7 . Dezember 2013 eine Erklärung mit dem Titel „Die
Integrität des sportlichen Wettbewerbs sichern – Doping
und Wettbetrug konsequent bekämpfen“ an . Darin wird
auf zunehmende Probleme der organisierten Kriminalität
auf dem globalen Sportwetten-Markt verwiesen, denen
der Sport national wie auch international konsequent ent-
gegentreten muss . Und der DOSB kündigte an, was er
diesbezüglich tun wolle .
Inzwischen sind wir fast drei Jahre weiter, und die
Situation in diesem Bereich hat sich nicht wirklich ver-
bessert .
In der Debatte um das Anti-Doping-Gesetz im vergan-
genen Jahr schlug ich vor, im Rahmen dieses Gesetzes
auch Fragen des Wettbetrugs und der Manipulation von
Sportwettbewerben mit zu regeln . Ich habe dabei die
Schaffung eines neuen Straftatbestandes „Sportbetrug“
angeregt, der für ganz unterschiedliche Bereiche, aber
eben auch für Sportwetten und Spielmanipulationen zur
Anwendung kommen könnte, und eben nicht nur im Pro-
fibereich. Dies wurde von der Koalition leider abgelehnt.
Jetzt präsentiert uns die Bundesregierung nun also einen
eigenständigen Gesetzentwurf .
Schon nach Veröffentlichung des Referentenentwurfs
gab es sehr kritische Stellungnahmen, zum Beispiel vom
Deutschen Richterbund und vom Deutschen Anwalts-
verein . Ich denke, man muss sich mit diesen Einwänden
ernsthaft auseinandersetzen, zumal sich der nun vorlie-
gende Gesetzentwurf wirklich nur marginal von seinen
Vorläufern unterscheidet .
In der Stellungnahme des Deutschen Richterbundes
vom Januar 2016 heißt es klipp und klar (Zitat):
Der Deutsche Richterbund lehnt die Einführung ei-
nes Straftatbestandes des Sportwettbetruges und der
Manipulation berufssportlicher Wettbewerbe ab . Er
fordert den Gesetzgeber auf, das Gesetzesvorhaben
nicht weiter zu verfolgen …
Die neuen Tatbestände der §§ 265c ff . StGB-E sol-
len die „Integrität des Sports“ und das Vermögen
von Wettteilnehmern und Anbietern von Sportwet-
ten schützen . Bei der „Integrität des Sports“ handelt
es sich um kein Rechtsgut, welches strafrechtlichen
Schutz beanspruchen könnte . Der Versuch des Ge-
setzgebers, die „Integrität des Sports“ über das Ge-
setz zur Bekämpfung von Doping im Sport und über
die hier neu zu schaffenden Straftatbestände erst als
Rechtsgut zu erschaffen, um Verletzungen dieses
Rechtsguts dann strafrechtlich schützen zu können,
ist abzulehnen . Die Integrität des Sports, dessen
Werte und gesellschaftliche Funktion muss sich der
Sport selbst erarbeiten . Sie kann nicht durch den
Gesetzgeber als existent postuliert und durch Straf-
verfolgung gesichert werden .
Und weiter heiß es beim Richterbund:
Mit der geplanten Strafbarkeit von Wettbetrug und
Manipulation von Veranstaltungen des „organisier-
ten Sports“ bzw . von „hochklassigen Veranstaltun-
gen“ sollen Tatbestände für sportliche Ereignisse
geschaffen werden, welche‚ infolge der Professio-
nalisierung, Medialisierung und Kommerzialisie-
rung … zu einem herausragenden wirtschaftlichen
Faktor“ geworden sind .
Dieser Wertung sportlicher Großereignisse als Wirt-
schaftsfaktor ist zuzustimmen . Daher sind auf diese
Veranstaltungen uneingeschränkt die Regeln wirt-
schaftlichen Handelns, einschließlich des Verbotes
von Bestechlichkeit und Bestechung im geschäft-
lichen Verkehr, § 299 StGB, anzuwenden . Darüber
hinausgehende Sonderstraftatbestände sind nicht
erforderlich .“
– So das Fazit des Richterbundes . Ähnlich lautet die
Stellungnahme des Deutschen Anwaltvereins, der den
Referentenentwurf ebenso deutlich ablehnt .
Diskussionsbedarf sehe ich auch bei der mit diesem
Gesetz verbundenen Ausweitung verdeckter Ermitt-
lungsmaßnahmen wie der Telefonüberwachung . Ein
weiteres Problem sind fehlende Definitionen zentraler
Begriffe . Sport wird, wie bereits im Anti-Doping-Gesetz,
nicht definiert. Was ein berufssportlicher Wettbewerb ist,
bleibt weitgehend offen, ebenso, was strafrechtlich als
wettkampfwidrig anzusehen ist .
Dr . Peter Schneiderhan, Oberstaatsanwalt in Stuttgart
und Mitglied im Präsidium des Deutschen Richterbun-
des, betont in seinem Beitrag: „Die ‚Integrität des Sports‘
als ein Schutzgut ist eine Forderung an den Sport, wel-
che dieser selbst einlösen muss . Sie kann nicht vom Ge-
setzgeber mit der Feststellung, der Sport sei Träger von
positiven Werten, wie Leistungsbereitschaft, Fairness,
Toleranz und Teamgeist postuliert werden . So sehr die
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 201618158
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Einhaltung dieser Werte zu fordern ist, sind sie in dieser
Unverbindlichkeit keine Rechtsgüter, die strafrechtlich
geschützt werden könnten . Es ist offen, welchen Sport
der Gesetzgeber schützen will . Daher ist das Gesetz
überflüssig.“ Für Transparency International Deutsch-
land e . V . war bei der Beurteilung entscheidend, ob die
geplanten Regelungen geeignet erscheinen, Sportwett-
betrug und Manipulationen von Sportwettbewerben ef-
fektiv einzudämmen . Die Organisation kommt zu fol-
genden Schluss: „Das in der Überschrift formulierte Ziel
der ‚Strafbarkeit von Sportwettbetrug‘ wird so jedenfalls
nicht oder zumindest nicht vollständig erreicht . Hierfür
ist der Referentenentwurf zu eng gefasst und nur auf den
Vermögensschutz konzentriert .“ Viel wichtiger wäre es
aus der Sicht von Transparancy, endlich die überfällige
angemessene und rechtssichere Regulierung des Sport-
wettmarktes anzugehen, die bekanntlich jedoch nicht in
der Zuständigkeit des Bundes liegt . Berechtigt sind aus
Sicht der Linken auch die Einwendungen des Nationalen
Normenkontrollrates, der eine Evaluierungsfrist im Ge-
setz einfordert .
Mein Resümee: Nicht alles, was in bester Absicht
vorgelegt wird und auf dem ersten Blick gut aussieht,
ist letztlich wirklich geeignet . Der Diskussionsbedarf
zu diesem Gesetzentwurf, auch mit den Vertretern des
Sports und den Juristen, ist offensichtlich . Die Linke
wird sich hierbei gern einbringen .
Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Heute
Abend spielen Frankreich und Deutschland gegeneinan-
der im Halbfinale der Fußballeuropameisterschaft. Und
wenn ich mir das Spiel ansehe, dann könnte ich da ganz
unterschiedliche Dinge sehen: Ich könnte zweiundzwan-
zig Sportler auf einem Feld sehen, die in zwei Teams
gegeneinander antreten, um auszuspielen, welches das
bessere ist . Ich könnte 67 000 Zuschauerinnen und Zu-
schauer im Marseiller Stadion sehen, die die Teams be-
geistert anfeuern, und einen Schiedsrichter mit seinen
Assistenten, die das Spiel leiten und darauf achten, dass
alle Regeln eingehalten werden .
Ich könnte da auch eine Hochglanz-Veranstaltung der
UEFA sehen, eines Verbands, dessen Funktionäre in frag-
würdige Deals verwickelt sind und die mit der EM Milli-
arden verdienen . Ich könnte auch ein Land sehen, in dem
wegen der EM höchste Sicherheitsvorkehrungen gelten,
die die Bürgerrechte der Einwohnerinnen und Einwohner
massiv einschränken . Ich könnte mich fragen, wie viele
der Spieler mit verbotenen Mitteln oder Methoden nach-
helfen, um ihre Leistung zu verbessern . Und schließlich:
Ist das Spiel überhaupt fair? Manipuliert ein Spieler, ein
Trainer, ein Schiedsrichter, um sich selbst und andere da-
ran zu bereichern?
Bereicherung – Das ist es, worum es im Sport immer
mehr geht, egal ob durch Korruption, Doping oder eben
Wettbetrug . Geld und Gier machen den sauberen Sport
kaputt . Verbände sind oft ratlos . Manche Verbandsspit-
zen mischen teilweise und möglicherweise – man weiß
es nicht – in verschiedenen dunklen Machenschaften mit,
und der Gesetzgeber soll und will es nun offenbar nun
regeln .
Und so legen Sie, liebe Bundesregierung, uns diesen
Gesetzentwurf zur Änderung des Strafgesetzbuches, zur
Strafbarkeit von Sportwettbetrug und der Manipulation
von berufssportlichen Wettbewerben vor . Bei genauer
Betrachtung muss ich aber eines konstatieren: Sie haben
nicht ganz verstanden, wo das Problem liegt, wie es be-
kämpft werden kann, und hoffen, dass niemand merkt,
dass Sie mit dieser Aktion nur Scheinlösungen präsentie-
ren und am Ziel völlig vorbei schießen .
Zum einen – das wissen Sie selbst – ist Sportwettbe-
trug bereits heute schon strafbar . Unter anderem § 263
zu Betrug und § 299 zur Bestechlichkeit und Bestechung
im Strafgesetzbuch erlauben heute schon die Strafver-
folgung bei Sportwettbetrug und Spielmanipulation . Die
Gesetzeslücke, von der Sie sprechen, gibt es in der Weise
gar nicht . Ihr Entwurf führt zu nichts anderem als unnöti-
ger Beschäftigungstherapie für Ermittlerinnen, Ermittler
und Justiz .
Aber nicht nur das: Der Gesetzentwurf strotzt nur so
von Unklarheiten und unscharfen oder gar nicht definier-
ten Begriffen, Normen und Tatbeständen, die vermutlich
auch kaum zu beweisen sind . Muss nun beim nächsten
Foul der Staatsanwalt ermitteln? Aus Ihrem Gesetz geht
es nicht hervor . Und was sind für Sie denn „Einnahmen
von erheblichem Umfang“? Einerseits wollen Sie mit
diesem Gesetz angeblich alle möglichen Verstöße und
Personengruppen umfassen, andererseits gibt es doch
wieder seltsame Ausnahmen und riesige Lücken .
Ich könnte hier auf zahlreiche Details eingehen, aber
dafür reicht leider meine Redezeit nicht . Deshalb will
ich nur ein Beispiel nennen: Eine Verabredung zum Un-
entschieden bei einem Wettkampf bliebe gemäß diesem
Entwurf straffrei, weil das ja nicht zugunsten des Wettbe-
werbsgegners wäre . Das ist schlicht absurd .
Weiterhin fußt das Gesetz teilweise auf falschen An-
nahmen . So setzen Sie zum Beispiel voraus, dass Sport-
lerinnen und Sportler bei jedem Wettbewerb stets alle
Kräfte dafür aufbringen wollen, um zu gewinnen . Dabei
kann es durchaus sein, dass eine Sportlerin in einem Vor-
rundenspiel ihre Kräfte für die nächste Runde schont,
wenn sie bereits qualifiziert ist. So tat es auch unser Jogi
Löw strategisch bei der WM 2014 in Brasilien oder der
laufenden EM in Frankreich . Wir sagen: Dieser Entwurf
ist nicht praxistauglich!
Und ob all das daran liegt, dass Sie all die Mängel
übersehen haben, oder daran, dass Sie das Gesetz – so
wirkt es zumindest – mal eben so „dahingerotzt“ haben,
sei dahingestellt . In jedem Fall macht es Ihr Anliegen, die
Integrität des Sports zu schützen, fragwürdig .
Mit unserer Kritik sind wir im Übrigen in guter Ge-
sellschaft, denn sämtliche Rechtsexpertinnen und -ex-
perten teilen unsere Auffassung . Der Richterbund, die
Anwaltskammer und viele andere kritisieren und lehnen
Ihren Gesetzesentwurf zu Recht ab .
Daher appelliere ich erneut an Ihre Vernunft . Wenn
Sie das Gesetz einfach nicht verabschieden, richten Sie
den geringsten Schaden an .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 18159
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Heiko Maas, Bundesminister der Justiz und für Ver-
braucherschutz: In Frankreich findet die Fußball-EM
statt, und wir spüren in diesen Tagen wieder, welch
enorme Bedeutung der Sport in unserer Gesellschaft hat:
Am Samstagabend saßen allein in Deutschland mehr als
30 Millionen Menschen vor dem Fernseher und haben
den Sieg der deutschen Mannschaft gesehen .
Auch wirtschaftlich ist der Sport ein bedeutender Fak-
tor, dies zeigen aktuelle Zahlen aus der Welt des Fuß-
balls . Für die Übertragungsrechte ihrer Spiele kassiert
die Bundesliga im kommenden Jahr eine neue Rekord-
summe: 4,6 Milliarden Euro . Aber das Leben lehrt uns:
Wo Ruhm und Reichtum winken, sind Betrug und Beste-
chung niemals weit . Das gilt auch für den Sport .
Im vergangenen Jahr haben wir deshalb das Anti-Do-
ping-Gesetz beschlossen . Wir haben damit vor allem die
Leistungssteigerung mit pharmazeutischen Mitteln un-
ter Strafe gestellt . Wenn wir jetzt gegen Wettbetrug und
die Spielmanipulation vorgehen, dann bekämpfen wir
das negative Doping mit Geld, die Leistungsminderung
durch Bestechung .
Doping und Bestechung haben den gleichen Unrechts-
gehalt: Sie manipulieren den Wettkampf, sie betrügen
Zuschauer und Mitspieler, sie richten wirtschaftlichen
Schaden an, aber vor allem untergraben sie die Werte,
für die der Sport trotz der Kommerzialisierung nach wie
vor steht: die Leistungsbereitschaft, den Teamgeist und
die Fairness .
Das Anti-Doping-Gesetz war der erste Schritt; mit der
Strafbarkeit von Sportwettbetrug und Spielmanipulation
gehen wir jetzt den zweiten . Unser Ziel bleibt unverän-
dert: Wir wollen einen sauberen Sport, und zwar ohne
Betrug und ohne Bestechung!
In den 70er-Jahren wurde die Fußball-Bundesliga
von einem großen Bestechungsskandal erschüttert: Über
50 Spieler, Trainer und Funktionäre bestachen oder wur-
den damals bestochen, 8 Spiele wurden verschoben .
Der Klassenerhalt und der Abstieg in die 2 . Liga wa-
ren manipuliert .
Trotzdem konnte damals keiner der Betrüger von der
Justiz zur Verantwortung gezogen werden . Ihr Verhalten
war weder als „Betrug“ noch als „Bestechung im ge-
schäftlichen Verkehr“ strafbar – und so ist das heute .
Ich meine: Diese Straflosigkeit wird der Bedeutung
des Sports und den finanziellen Schäden, die angerichtet
werden, nicht gerecht . Wir dürfen nicht zulassen, dass un-
sere Justiz zwar Ladendiebe und Schwarzfahrer verfolgt,
aber machtlos ist, wenn es um Millionenbetrug geht . Das
ist nicht gerecht, das muss das Rechtsbewusstsein der
ehrlichen Menschen schwer erschüttern, und deshalb ist
es an der Zeit, diesen Zustand endlich zu ändern!
Änderungen brauchen wir auch, wenn es um Sport-
wetten geht . Auch hier ist der Fußball leidgeprüft . Vor
einigen Jahren wurde ein Berliner Schiedsrichter besto-
chen; wir haben damals gesehen, wie das Wettgeschäft
zu einem Berührungspunkt von Sport und organisierter
Kriminalität wurde .
Seither ist der Wettmarkt weiter gewachsen . Im letz-
ten Jahr lagen die Umsätze der Sportwetten allein in
Deutschland bei 4,8 Milliarden Euro . Die Anreize zur
Manipulation sind dadurch noch größer geworden .
In Zukunft steht die Korruption im Profisport unter
Strafe . Sportler und Trainer, Manager und Sportdirek-
toren, Schieds-, Kampf- und Wertungsrichter – sie alle
machen sich künftig strafbar, wenn sie sich bestechen
lassen, um die Ergebnisse eines Wettkampfes zu mani-
pulieren .
Bei der Wettkampf-Manipulation beschränken wir uns
auf den Profisport, beim Wettbetrug reicht das aber nicht
aus – man kann auch auf die Spiele der Amateure in den
unteren Ligen viel Geld setzen . Wir schützen deshalb
künftig alle Wettbewerbe des organisierten Sports vor
Betrügereien im Zusammenhang mit Sportwetten .
Gerade beim Wettbetrug haben wir es oft mit organi-
sierter Kriminalität zu tun . Wir formulieren deshalb nicht
nur einen neuen Straftatbestand . Wir geben Justiz und
Polizei auch die nötigen Ermittlungsinstrumente, damit
sie an die Hintermänner herankommen: Wenn Wettbe-
trug erwerbs- oder bandenmäßig begangen wird, wenn
also ein besonders schwerer Fall vorliegt, dann – und nur
dann – dürfen die Ermittler künftig auch die Telekommu-
nikation überwachen .
Wir senden mit den neuen Straftatbeständen eine ganz
klare Botschaft aus: Wer bei Sportwetten betrügt, wer bei
Wettkämpfen manipuliert, wer besticht oder sich beste-
chen lässt, der handelt kriminell! Wir wollen einen sau-
beren Sport! Und wir lassen nicht zu, dass Betrüger den
Sport kaputt machen!
Anlage 16
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von den Abgeordneten Ulla
Jelpke, Azize Tank, Matthias W. Birkwald,
Dr. Petra Sitte und der Fraktion DIE LINKE ein-
gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Gesetzes zur Zahlbarmachung von
Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (Ta-
gesordnungspunkt 21)
Matthäus Strebl (CDU/CSU): „Wir sind uns der his-
torischen Verantwortung für die Überlebenden des Ho-
locaust, die in der NS-Zeit unsägliches Leid erlebt haben,
bewusst .“ Diesen Satz haben wir im Koalitionsvertrag
manifestiert, und das halte ich für richtig . Die Bundes-
republik Deutschland steht zu der Verantwortung für die
Opfer der Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten .
Bereits 2002 wurde das Gesetz zur Zahlbarmachung
von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto, kurz
gesagt das Ghettorentengesetz, vom Deutschen Bundes-
tag verabschiedet . Es war ein wichtiges Zeichen an die
Menschen, die unter menschenunwürdigen Bedingungen
gearbeitet haben . Sie haben gearbeitet, um der Deporta-
tion und dem Tod zu entgehen . Dabei geht es in erster
Linie nicht um finanzielle Leistungen, vielmehr um ein
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Zeichen der Anerkennung für die geleistete Arbeit in le-
bensunwürdigen und grausamen Zeiten . Ich halte es für
richtig, zu sagen, dass es sich um ein Gesetz mit erhebli-
cher Symbolkraft handelt .
Im letzten Jahr hat die Bundesrepublik Deutschland
mit Polen ein Abkommen zu Beschäftigten in polnischen
Ghettos geschlossen . Das Abkommen ermöglicht die
Zahlung einer deutschen Rente aufgrund von Beschäf-
tigungen in einem Ghetto auch an Personen, die in der
Republik Polen leben . Hier war eine Einigung zwingend
eilbedürftig, denn die Rentenempfänger sind inzwischen
hochbetagt .
Lassen Sie mich noch einige Sätze zum deutschen
Rentenrecht sagen: Deutsche Rentenansprüche für ehe-
malige Beschäftigte in einem Ghetto sind an Bedingun-
gen geknüpft: Die Betroffenen müssen Verfolgte des
Nationalsozialismus im Sinne des deutschen Bundesent-
schädigungsgesetzes sein, sich zwangsweise in einem
Ghetto aufgehalten haben, das sich in einem Gebiet des
nationalsozialistischen Einflussbereiches befand, und
eine Beschäftigung, die aus eigenem Willensentschluss
zustande gekommen ist, gegen Entgelt ausgeübt haben .
Eine weitere Voraussetzung für einen deutschen Ren-
tenanspruch ist außerdem, dass die Wartezeit (Mindest-
versicherungszeit) erfüllt ist . Diese Zeit beträgt fünf Jah-
re . Diese fünf Jahre können entweder aus Beitragszeiten
oder Ersatzzeiten bestehen . Beitragszeiten sind die Mo-
nate, für die Pflichtbeiträge oder freiwillige Beiträge zur
Rentenversicherung gezahlt sind bzw . als gezahlt gelten .
Wurde also eine Beschäftigung in einem Ghetto während
der NS-Zeit ausgeübt, gelten die Beiträge für diese Zeit
als gezahlt und werden als Beitragszeit nach dem Gesetz
zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in
einem Ghetto anerkannt .
Ersatzzeiten sind Zeiten ohne Beitragsleistung, weil
der Versicherte daran gehindert war, Beiträge zu zahlen .
Dies gilt besonders für Menschen, die politische Haft in
der DDR, in Kriegsgefangenschaft oder NS-Verfolgung
erleiden mussten . Auch müssen die Bezieher der Renten,
unabhängig ob sie durch Beitragszeiten oder Ersatzzei-
ten einen Anspruch haben, zum damaligen Zeitpunkt
mindestens 14 Jahre alt gewesen sein . Dies ist nachvoll-
ziehbar, da Kinder vor dem 14 . Lebensjahr grundsätzlich
keiner rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung
nachgehen . Würde man hier für die arbeitenden Kinder
in den Ghettos eine Ausnahmeregelung im Ghettoren-
tengesetz schaffen, würde dies zu einer Ungleichbehand-
lung gegenüber anderen Verfolgten führen . Dies halte ich
unter dem Gesichtspunkt der Verfassungsmäßigkeit auch
für schwierig . Für die jeweiligen Betroffenen besteht je-
doch die Möglichkeit der Anerkennungsleistung und die
Zahlung von freiwilligen Beiträgen .
Auf diese Optionen hat die Bundesregierung die Op-
ferverbände verwiesen . Dies ergibt sich auch aus der
Antwort einer Kleinen Anfrage der Fraktion Die Linke
zu diesem Thema vom Anfang dieses Jahres . Zwar sind
die Rentenansprüche nach dem Ghettorentengesetz be-
sonderen Umständen geschuldet, aber es sollte keine be-
sondere Rentenform mit dem Gesetz geschaffen werden .
Dies entsprach nicht der Intention des Gesetzgebers .
Wir werden Ihren Antrag deshalb ablehnen .
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Mit dem
Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäf-
tigungen in einem Ghetto (ZRBG) aus dem Jahre 2002
hat der Deutsche Bundestag fraktionsübergreifend die
gesetzliche Grundlage dafür geschaffen, dass die in ei-
nem Ghetto ausgeübte Tätigkeit rentenrechtlich als Bei-
tragszeit berücksichtigt werden kann . Dieses Gesetz war
und ist ein wichtiger Beitrag, um den Menschen, die die
Nazi-Machthaber in Ghettos zwangen und ihrem Kampf
ums Überleben gerecht werden zu können .
Durch eine Gesetzesänderung im Juli 2014 hat der
Deutsche Bundestag dann nach langen Verhandlungen
auch eine rückwirkende Auszahlung von Ghettorenten
ab 1997 ermöglicht und hat diese Gesetzesänderung
ohne Gegenstimmen beschlossen . Darin ist vorgesehen,
dass für die bisherigen Ghettorenten keine vierjährige
Rückwirkungsfrist gilt und sie bereits mit dem Stichtag
1997 neu berechnet werden . Die Betroffenen erhalten
ein Wahlrecht zwischen einem früheren Rentenbeginn,
verbunden mit einer Rentennachzahlung und einer abge-
senkten Monatsrente, und einer höheren bisherigen Ren-
te ohne weitere Nachzahlung .
Dieses Wahlrecht wurde eingeführt, da viele derzei-
tige Renten durch Zuschläge für die spätere Auszahlung
erhöht werden, sodass die Bezieher gegebenenfalls ohne
Neuberechnung bessergestellt sind . Mit der Neufeststel-
lung kann nun jeder prüfen, ob für ihn die niedrigere
Rente ohne Zuschläge ab 1997 und entsprechende Nach-
zahlungen für die verlorenen Zeiten günstiger sind oder
eine monatlich höhere Rente ab dem späteren Zeitpunkt .
Nach derzeitigem Stand ist die Umsetzung des
ZRBG-Änderungsgesetzes bei den Rentenversiche-
rungsträgern nahezu abgeschlossen .
Insgesamt wurden 32 600 Fälle überprüft . In
23 300 Fällen wurde im Ergebnis dieser Prüfung die
Rente rückwirkend zu einem früheren Rentenbeginn be-
rechnet und eine Nachzahlung ausbezahlt . In 4 800 Fäl-
len wurde eine Neufeststellung nicht gewünscht oder
beantragt . In 3 600 Fällen besteht kein Anspruch nach
dem ZRBG-Änderungsgesetz, bzw . es gibt keine Nach-
zahlung, weil zum Beispiel das 65 . Lebensjahr erst nach
1997 vollendet wurde . Und etwa 900 Fälle sind noch of-
fen .
Des Weiteren haben wir mit dem am 1 . Juni 2015 in
Kraft getretenen Abkommen zwischen Deutschland und
Polen ermöglicht, dass Ghettorenten auch an Personen
ausbezahlt werden, die in der Republik Polen leben . Bis-
her war dies in den Abkommen zwischen Deutschland
und Polen nicht vorgesehen .
Ab 2015 können also auch in Polen lebende ehemali-
ge Ghettobeschäftigte deutsche Rentenleistungen für die
Arbeit erhalten, die sie in einem Ghetto geleistet haben .
Die Erweiterung der Auszahlung der Ghettorenten auch
nach Polen wurde im Eilverfahren im Deutschen Bun-
destag beschlossen .
Nun fordert Die Linke noch weitere Änderungen an
dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Be-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 18161
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schäftigungen in einem Ghetto . So soll die 60-monatige
Wartezeit, die Voraussetzung für eine Rentenleistung der
gesetzlichen Rentenversicherung ist, bei allen Personen,
die in einem Ghetto beschäftigt waren, fingiert werden,
sofern sie nicht bereits durch andere Zeiten erreicht wer-
den konnte . Insbesondere davon betroffen seien Kinder –
vor allem Sinti und Roma –, die zwar in einem Ghetto
Arbeit geleistet hätten, aber dann mangels weiterer an-
rechenbarer Zeiten nicht auf die Mindestwartezeit in der
gesetzlichen Rentenversicherung kommen .
Bereits im Januar dieses Jahres hat sich das Bundes-
ministerium für Arbeit und Soziales mit dieser Frage-
stellung auseinandergesetzt . Es kommt zu dem Schluss,
dass das Ziel des ZRBG, nämlich die während einer Be-
schäftigung in einem Ghetto entstandene Beitragszeit für
einen Rentenanspruch wirksam werden zu lassen, ins-
besondere auch in Bezug auf die Zahlung der Rente ins
Ausland, erreicht worden sei . Zu keiner Zeit sei es vom
Gesetzgeber beabsichtigt gewesen, mit dem ZRBG eine
Rente „eigener Art“ zu schaffen, für die eine Mindestan-
zahl an Beiträgen nicht erforderlich ist .
Das ZRBG ist zu verstehen als eine Ergänzung der
allgemeinen Regelungen der gesetzlichen Rentenver-
sicherung, die auf den gezahlten Beiträgen basiert und
daher grundsätzlich an eine versicherungspflichtige Be-
schäftigung anknüpft . Das gelte auch für die in diesem
System enthaltenen Elemente der Wiedergutmachung,
wie die Anerkennung von Beitragszeiten unter erleich-
terten Bedingungen (Ghettobeitragszeiten) oder den Er-
satz von Beitragsverlusten aufgrund bestimmter außerge-
wöhnlicher Ereignisse wie NS-Verfolgung, Vertreibung
oder politische Haft in der DDR durch Ersatzzeiten .
Diese Funktion des ZRBG wurde auch mehrfach von der
Rechtsprechung, unter anderem vom Bundessozialge-
richt im Jahre 2009, so bestätigt .
Für die meisten Berechtigten nach dem ZRBG sind
zudem neben den in Deutschland anerkannten Bei-
trags- und Ersatzzeiten auch die nach über- und zwi-
schenstaatlichen Abkommen im Ausland zurückgelegten
rentenrechtlichen Zeiten auf die allgemeine Wartezeit
anzurechnen, sodass es in der Regel zu einer Auszahlung
der Renten kommt .
Zudem besteht die Möglichkeit, durch individuelle
Nachzahlungen die 60-monatige Wartefrist zu erreichen .
Aufgrund der Nachzahlungsansprüche muss der Betrof-
fene hierzu in der Regel keinerlei eigene Zahlungen leis-
ten . Denn im Zuge der Zahlbarmachung erfolgt in der
Praxis direkt eine Verrechnung durch die Rentenversi-
cherung zwischen den zusätzlich aufzustockenden Bei-
trägen und den rückwirkenden Rentenzahlungen für die
60 Monate . Um die Renten zahlbar zu machen, ist eine
Wartezeitfiktion also überhaupt nicht notwendig,
Auch das Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes
des Deutschen Bundestages, das Die Linke in ihrem An-
trag heranzieht, kommt zu dem Schluss, dass – und da
muss man die Ausarbeitung bis zum Ende gelesen ha-
ben –
„die weitere Privilegierung von Berechtigten nach
dem ZRBG durch die Einführung einer Regelung
zur Wartezeitfiktion wohl eher nicht gegen den all-
gemeinen Gleichheitssatz aus Art . 3 Abs . 1 GG ver-
stößt . Allerdings ist mit der weit über einen Nach-
teilsausgleich hinausgehenden Zahlung von Renten
aus Beschäftigungen in einem Ghetto bereits an die
Grenze dessen gegangen worden, was aus systema-
tischen Gründen im Rahmen der gesetzlichen Ren-
tenversicherung noch vertretbar ist .“
Ein weiterer Handlungsbedarf wird hier also gerade
nicht gesehen . Und er kann auch nicht damit begründet
werden – so tut es aber Die Linke –, dass beim ZRBG be-
reits bei der Vierjahresfrist nach dem SGB eine Ausnah-
me gemacht worden ist . Denn eine Ausnahme kann nie-
mals die Rechtfertigung einer weiteren Ausnahme sein,
umso mehr, wenn der Ansatzpunkt ein ganz anderer ist .
Der Wissenschaftliche Dienst erklärt weiter, dass „der
Umstand, dass nicht in jedem Fall aus einer nach dem
ZRBG anzuerkennenden Beschäftigung eine Rentenzah-
lung erfolgt, eine zwangsläufige Folge der generellen
Einbeziehung der Beschäftigung in einem Ghetto in die
gesetzliche Rentenversicherung ist, die zur pauschalen
Risikovermeidung eine Mindestversicherungszeit vor-
sieht .“
Auch liegt kein Bedarf für eine Sonderreglung als
Ausnahme zu § 250 SGB VI vor . Denn es besteht kein
rentenrechtlicher Widerspruch zwischen der Anerken-
nung einer Ghettobeitragszeit nach dem ZRBG vor dem
14 . Lebensjahr und der Nichtanerkennung einer Ersatz-
zeit vor dem 14 . Lebensjahr .
Während der Beschäftigung in einem Ghetto nach
dem ZRBG bestand dem Grunde nach Versicherungs-
pflicht aufgrund dieser Beschäftigung und es wurden
Beiträge zur Rentenversicherung gezahlt bzw . diese gel-
ten als gezahlt . Für die Zeit dieser Beschäftigung wird
daher eine Beitragszeit in der gesetzlichen Rentenversi-
cherung anerkannt .
Ersatzzeiten, wie sie in § 250 SGB IV geregelt sind,
kommen hingegen für Zeiten der NS-Verfolgung in Be-
tracht, in denen gerade keine versicherungspflichtige Be-
schäftigung ausgeübt wurde . Sie dienen dazu, Beiträge
aufgrund einer Beschäftigung für Zeiten zu ersetzen, in
denen Versicherte aus nicht in ihrer Person liegenden
Gründen an der Beitragszahlung gehindert waren, weil
durch die mit diesen Zeiten verbundenen außergewöhn-
lichen Umstände eine Beitragsleistung nicht zu erwarten
war .
Solche außergewöhnlichen Umstände (Ersatzzeiten-
tatbestände gemäß § 250 des Sechsten Buches Sozialge-
setzbuch) sind zum Beispiel Freiheitsentzug bei NS-Ver-
folgten, Vertreibung oder politische Haft in der DDR .
Ersatzzeiten werden nur für Zeiträume nach dem
14 . Lebensjahr anerkannt, weil der Gesetzgeber davon
ausgeht, dass vor dem 14 . Lebensjahr Beitragsverluste
durch Ersatzzeitentatbestände nicht eintreten . Die Alters-
grenze von 14 Jahren gilt also für sämtliche Ersatzzeiten-
tatbestände gleichermaßen .
Eine Regelung, wonach Ersatzzeiten für ehemalige
Ghettobeschäftigte bereits vor dem 14 . Lebensjahr an-
erkannt würden, für andere Personen mit Ersatzzeittat-
beständen, unter ihnen ebenfalls NS-Verfolgte, jedoch
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nicht, würde zu Gerechtigkeitslücken führen und erheb-
lichen verfassungsrechtlichen Bedenken begegnen . Im
Übrigen würde eine solche Regelung Sinn und Zweck
von Ersatzzeiten entgegenstehen, die einen durch außer-
gewöhnliche Umstände hervorgerufenen Beitragsverlust
ausgleichen sollen .
Zudem ist die Anerkennung von Arbeitszeiten im
Ghetto vor dem 14 . Lebensjahr als Ersatzzeiten auch
nicht notwendig . Denn die Rentenversicherung geht bei
ihrer Prüfung sowieso davon aus, dass es für die Anerken-
nung von Ghettobeitragszeiten keine starre Altersgrenze
gibt. Ob eine versicherungspflichtige Zeit vorliegt, wird
generell und unabhängig vom Alter nach den Maßstäben,
die für Erwachsene gelten, individuell geprüft .
Bei positivem Nachweis werden auch Zeiten vor dem
14 . Lebensjahr anerkannt und können, wenn die Min-
destwartezeit in der gesetzlichen Rentenversicherung
von 60 Monaten dadurch noch nicht erreicht ist und auch
nicht durch weitere Beitragszahlungen im Ausland er-
reicht worden ist, durch zusätzliche Beitragszahlungen
zahlbar gemacht werden . Wichtig ist hier aufgrund des
geringen Alters allerdings die Abgrenzung zwischen
Zwangsarbeit und Beschäftigung, für die dann aber wie-
derum Entschädigungsleistungen gelten .
Unabhängig von den bereits aufgeführten Leistungen
bestehen außerhalb des Systems der gesetzlichen Ren-
tenversicherung zudem Entschädigungsleistungen, die
die Bundesrepublik Deutschland abhängig vom indivi-
duellen Verfolgungsschicksal an NS-Verfolgte in aller
Welt erbringt .
So wurde im Jahr 2007 die Richtlinie der Bundesre-
gierung über eine Anerkennungsleistung an Verfolgte für
Arbeit im Ghetto erlassen . Nach der sogenannten Aner-
kennungsrichtlinie sollten explizit Lebenssachverhalte
erfasst werden, die durch das ZRBG nicht berücksichtigt
sind . Die Voraussetzungen für den Erhalt der einmali-
gen Wiedergutmachungsleistung von 2 000 Euro nach
der Anerkennungsrichtlinie wurden im Vergleich zum
ZRBG erleichtert . Die Anerkennungsleistung nach der
Richtlinie dürfte bei den in Rede stehenden Fällen unter
Vorliegen aller anderen Voraussetzungen zur Auszahlung
kommen können .
Im Ergebnis ist eine Neuregelung des ZRBG durch
eine Wartezeitenfiktion in mehrfacher Hinsicht weder
notwendig noch sinnvoll . Mit der letzten Neuregelung,
die ich dargestellt habe, haben wir eine insgesamt befrie-
digende Regelung zum Thema Ghettorenten geschaffen .
Es gibt keinen sachlichen Grund, etwas zu ändern .
Kerstin Griese (SPD): Nachdem wir zu Beginn die-
ser Legislatur im Jahr 2014 mit dem Ghettorentenände-
rungsgesetz eine überfällige Verbesserung für Ghettoren-
tenberechtigte geschaffen haben und im Dezember 2014
mit einer Ergänzung des deutsch-polnischen Sozialab-
kommens auch für die bislang nicht berechtigten in Polen
lebenden Ghettoarbeiterinnen und -arbeiter den Zugang
zu Ghettorenten ermöglicht haben, legt die Fraktion Die
Linke nun einen Antrag auf eine weitere Änderung des
Ghettorentengesetzes vor, um eine weitere Personen-
gruppe, die bisher nicht oder nur teilweise am Ghettoren-
tenrecht partizipieren kann, in den Kreis der Anspruchs-
berechtigten aufzunehmen .
Im Koalitionsvertrag der SPD mit der CDU/CSU ha-
ben wir festgehalten:
Wir sind uns der historischen Verantwortung für die
Überlebenden des Holocaust, die in der NS-Zeit un-
sägliches Leid erlebt haben, bewusst .
Wir wollen daher, dass den berechtigten Interessen
der Holocaust-Überlebenden nach einer angemesse-
nen Entschädigung für die in einem Ghetto geleiste-
te Arbeit Rechnung getragen wird .
Die Umsetzung dieses Vorsatzes haben wir als eines
der ersten Gesetzesvorhaben im Bereich Arbeit und So-
ziales im Frühjahr 2014 in Angriff genommen, und darü-
ber bin ich sehr froh, denn es geht um hochbetagte Men-
schen, die in der NS-Zeit gelitten haben .
Mit dem Ghettorentengesetz von 2002 wollten wir
als Gesetzgeber den Menschen, die in der NS-Zeit unter
schlimmen Bedingungen und zu Hungerlöhnen in den
von den Nazis errichteten Ghettos gearbeitet haben bzw .
arbeiten mussten, ein wenig Gerechtigkeit widerfahren
lassen . Viele Menschen haben in den Ghettos geschuf-
tet, ihre Arbeitskraft wurde ausgenutzt, ihr Leben sollte
keine Zukunft haben, aber perfiderweise wurden trotz-
dem für sie Rentenbeiträge abgeführt . Die Betroffenen
selbst haben jahrzehntelang gefordert, für ihre Arbeit in
den Ghettos eine reguläre Rente und eben nicht eine Ent-
schädigung zu bekommen . Denn sie haben das, was sie
dort unter Zwangsbedingungen, eingesperrt im Ghetto,
erlitten haben, dennoch als Arbeit empfunden .
Als der Bundestag das Ghettorentengesetz 2002 be-
schlossen hatte, war für niemanden von uns abzusehen,
dass die Anträge in den folgenden Jahren zu 90 Prozent
abgelehnt werden würden . Diese hohe Ablehnungsra-
te wurde erst mit dem Urteil des Bundessozialgerichtes
2009 geändert; danach wurde immerhin die Hälfte aller
bislang abgelehnten Anträge rückwirkend bewilligt .
Aber die Renten wurden auch nach dem Urteil des
Bundessozialgerichtes von 2009 nur vier Jahre rückwir-
kend ausgezahlt . Das liegt an unserem Sozialrecht, das
eine Rückwirkungsfrist von vier Jahren festschreibt . Die
vielen hochaltrigen Betroffenen, die vor Jahren schon
in Vertrauen auf unsere Gesetzgebung ihre Anträge ein-
gereicht hatten, waren verständlicherweise empört über
diese als Unrecht empfundene Frist, die ihnen verdiente
Ansprüche vorenthielt .
Auch die dafür speziell geschaffene Möglichkeit, ei-
nen Ausgleich durch Zuschläge zu erhalten, hat das Ge-
rechtigkeitsbedürfnis der Opfer nicht befriedigt . Sie wol-
len ihr gutes Recht, nämlich die Ghettorenten ab 1997,
wie sie ihnen mit dem Gesetz versprochen worden wa-
ren . Es ging und geht den Opfern um Anerkennung ihrer
geleisteten Arbeit, für die sie eine Rente erhalten wollten .
Diese Möglichkeit haben wir 2014 mit dem Ghetto-
rentenänderungsgesetz geschaffen, indem wir die zu-
rückwirkende Vierjahresfrist aufgegeben haben . Wir
haben außerdem die Optionsmöglichkeit eingeführt,
die es jedem ermöglicht, zwischen einer rückwirkenden
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 18163
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Zahlung ab 1997 ohne Zuschläge oder einer Zahlung mit
Zuschlägen ab 2005 zu wählen . Mit der generellen Strei-
chung der Antragsfrist, die am 30 . Juni 2003 lag, ist es
außerdem weiter möglich, Rentenanträge zu stellen und
eine Rente ab 1997 zu bekommen . Und wir wissen, dass
es immer noch Überlebende gibt, die erst jetzt einen An-
trag stellen .
Diese Änderungen sind von den Opfern des NS-Ter-
rors sehr begrüßt worden . Der damalige Präsident
des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dr . Dieter
Graumann, sagte: „Das Leid, das diese Menschen er-
fahren haben, lässt sich mit nachträglich gezahlter Rente
nicht wiedergutmachen .“ Bisher aber seien die früheren
Ghettoarbeiter mit bürokratischen Vorschriften abgekan-
zelt worden . Jetzt würden sie endlich ernst genommen
und würdig behandelt . Die neue Rentenregelung sei eine
Geste der Menschlichkeit . Ähnliche Stimmen hörten wir
auch aus Israel, wo die Änderung mit großem Wohlwol-
len aufgenommen wurde .
Heute, im Juli 2016, ist die Abarbeitung der Anträ-
ge bei den Rentenversicherungsträgern nahezu abge-
schlossen, insgesamt wurden 32 600 Fälle überprüft . In
23 000 Fällen wurde im Ergebnis der Prüfung die Rente
rückwirkend zu einem früheren Rentenbeginn – frühes-
tens ab dem 01 . Juli 1997 – neu berechnet und Nachzah-
lungen wurden ausgezahlt . In 17 600 dieser Fälle erfolgte
diese Neuberechnung auf Antrag der Berechtigten .
Die verbleibenden 9 300 Fälle verteilen sich wie folgt:
bei 3 600 gibt es keinen Anspruch nach dem ZRBG-Än-
derungsgesetz oder keine Nachzahlung, weil das 65 . Le-
bensjahr erst nach Juli 1997 erreicht wurde, bei 4 800 Fäl-
len gab es keine Neufeststellung, weil diese ausdrücklich
nicht gewünscht worden war oder es keinen Rücklauf zu
den Informationsschreiben der Deutschen Rentenversi-
cherung gegeben hat . Nur noch 900 Fälle sind offen .
Ich bedanke mich bei den Mitarbeiterinnen und Mitar-
beitern der Deutschen Rentenversicherung und des Bun-
desministeriums für Arbeit und Soziales sehr herzlich für
diese wichtige Arbeit und das große Engagement . Alle
Betroffenen wurden in ihrer Landessprache angeschrie-
ben, jeder Fall wurde individuell geprüft und behandelt .
Herzlichen Dank, dass Sie so schnell schon fast allen Be-
rechtigten helfen konnten!
Für die in Polen lebenden Holocaust-Überlebenden,
die in den Ghettos der Nationalsozialisten gearbeitet
haben – viele von ihnen aufgrund der deutschen Besat-
zung Polens im Zweiten Weltkrieg – galt aufgrund des
deutsch-polnischen Sozialabkommens von 1975 das
Ghettorentenrecht nicht . Das lag daran, dass bis zur
Änderung in diesem Abkommen geregelt war, dass der
Wohnsitzstaat eine Rente auch aus den Zeiten zahlen
muss, die im anderen Staat zurückgelegt wurden . Zeiten
der Beschäftigung in einem Ghetto, die durch das Ghet-
torentengesetz abgedeckt sind, gelten als in Deutschland
zurückgelegt . Deshalb durfte bisher für in Polen lebende
Ghettobeschäftigte auch keine Ghettorente aus Deutsch-
land geleistet werden .
Eine Änderung dieses Abkommens ist 2014 vom Bun-
desministerium für Arbeit und Soziales und dem polni-
schen Arbeitsministerium gemeinsam erarbeitet worden .
Damit sind seitdem auch in Polen lebende Ghettobe-
schäftigte berechtigt, Leistungen der Ghettorenten aus
Deutschland zu erhalten . Seit Mitte Dezember 2014 gibt
es das „Gesetz zu dem Abkommen zwischen der Bun-
desrepublik Deutschland und der Republik Polen zum
Export besonderer Leistungen für berechtigte Personen,
die im Hoheitsgebiet der Republik Polen wohnhaft sind“
in deutscher und polnischer Sprache .
Nun legt die Fraktion Die Linke einen weiteren An-
trag vor, in dem sie die besondere Benachteiligung der
osteuropäischen Sinti und Roma auch nach Kriegsende
bis heute thematisiert . Diese zahlenmäßig recht kleine
Gruppe von einigen 100 Personen kann aufgrund ihrer
speziellen, durch zum Teil lebenslange Ausgrenzung aus
der regulären Arbeitswelt bestimmte Lebenssituation
nicht die für den Bezug von Ghettorenten notwendige
Beitragszeit von fünf Jahren nachweisen .
Um eine Rente aus der deutschen gesetzlichen Ren-
tenversicherung erhalten zu können, müssen aber min-
destens fünf Jahre an deutschen Beitragszeiten oder Er-
satzzeiten vorliegen . Wurde eine Beschäftigung in einem
Ghetto ausgeübt, wurden Beiträge zur Rentenversiche-
rung gezahlt bzw . gelten als gezahlt . Für die Zeit dieser
Beschäftigung wird daher eine Beitragszeit in der gesetz-
lichen Rentenversicherung nach dem ZRBG (Ghettoren-
tenbeitragszeit) anerkannt, und die meisten kommen zu-
sammen mit anderen Arbeitszeiten auf mindestens fünf
Jahre .
Die Fraktion die Linke führt in ihrem Antrag aus, dass
vor allem Sinti und Roma, die in Ghettos arbeiteten, nach
Kriegsende große Probleme beim Nachweis von Zeiten
der Erwerbsarbeit haben; häufig hätten sie Nachweise
nicht angefordert oder nicht aufgehoben, und weil sie
oftmals nicht lesen könnten, könnten sie die notwendi-
gen Nachweise nicht nachträglich anfordern . Das ist na-
türlich in der Tat eine sehr schwierige Situation . Aber sie
kann nicht durch eine Änderung am Ghettorentengesetz
gelöst werden . Die Fraktion Die Linke schlägt vor, dass
im Ghettorentengesetz eine Fiktion einer subsidiären, lü-
ckenfüllenden, mindestens fünfjährigen Wartezeit einge-
führt wird . Dadurch soll sich für alle ehemaligen Ghetto-
beschäftigten unabhängig von späteren, in der deutschen
Rentenversicherung anrechenbaren Beitragszeiten ein
gesetzlicher Rentenanspruch begründen .
Das ist ein sicher gutgemeinter, aber keineswegs gut
gemachter Vorschlag; denn das Ghettorentengesetz hat
die gesetzliche Ausdehnungsmöglichkeiten schon sehr
strapaziert, aber mit den Beitragszeiten, die für den Er-
halt einer Ghettorente notwendig sind, doch eine Lösung
geboten, wie der Bezug von Ghettorenten im deutschen
Rentensystem möglich gemacht werden kann . Eine Ein-
führung einer Wartezeitfiktion, so stellt ein aktuelles Gut-
achten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen
Bundestages fest, „wäre aber mit den Prinzipien der ge-
setzlichen Rentenversicherung unvereinbar .“
Ich verstehe den Wunsch der Fraktion Die Linke, den
vielfach marginalisierten Sinti und Roma, die zeit ihres
Lebens unter Verfolgung und Ausgrenzung gelitten ha-
ben, eine Wiedergutmachung für erlittenes Unrecht zu
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 201618164
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bieten . Der Weg über das Ghettorentenrecht ist dabei
aber nicht zielführend .
Ich schlage vor, dass wir genauer prüfen, wie über an-
dere Wege, etwa über die bestehenden Härtefallfonds für
NS-Verfolgte der Länder oder nach der Anerkennungs-
richtlinie von 2007 Entschädigungen für diejenigen,
die nicht ghettorentenberechtigt sind, Entschädigungen
möglich sind .
Azize Tank (DIE LINKE): Mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf wollen wir eine Schutzlücke des ZRGB
schließen . Es war der ausdrückliche Wille des Gesetzge-
bers, mit dem 2002 verabschiedeten ZRBG alle NS-Ver-
folgten, die in einem von Deutschen eingerichteten
Ghetto, auf Grund eines eigenen Willensentschlusses
entgeltlich beschäftigt waren, in die deutsche Rentenver-
sicherung einzubeziehen . Es war auch der ausdrücklich
erklärte politische Wille aller Mitglieder des Deutschen
Bundestages, mit dem ZRBG zugunsten von Verfolgten,
die alle bereits das für die Regelaltersrente geltende Alter
von 65 Jahren – teils erheblich – überschritten haben, im
Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung Neuland zu
betreten, wobei von bestimmten Grundsätzen im Bereich
der Anerkennung von rentenrechtlichen Zeiten abgewi-
chen werden sollte . Dies schlug sich in dem damaligen
Gesetzentwurf der Fraktionen von SPD, CDU/CSU,
Bündnis 90/Die Grünen und FDP und dem Entwurf der
PDS nieder .
In den ersten Jahren nach Verabschiedung des ZRBG
ist es aufgrund einer restriktiven Auslegung wesentlicher
Begriffe dieses Gesetzes, wie „Ghetto“, „Beschäftigung“,
„eigener Willensentschluss“ und „Entgelt“ – durch die
Verwaltung und die Sozialgerichte – zu zahlreichen Ver-
werfungen gekommen, weshalb zunächst fast 90 Prozent
aller Anträge auf Ghettorente der Überlebenden abge-
lehnt wurden . Bei der Verabschiedung des ZRBG sind
offensichtlich eine Reihe möglicher Problemlagen nicht
sichtbar geworden . Der Deutsche Bundestag war jedoch
bislang stets bemüht, sie zu lösen, nachdem diese durch
Überlebende, engagierte Historiker und mutige Sozial-
richter erkannt und aufgezeigt wurden . So geschehen,
bei der rückwirkenden Zahlbarmachung von Ghettoren-
ten durch Nichtanwendung von § 44 SGB X auf Zeiten
nach dem ZRBG oder beim Abschluss des deutsch-polni-
schen Abkommens vom 5 . Dezember 2014, welches die
bisherige Diskriminierung von Ghettobeschäftigten mit
Wohnsitz in Polen beseitigte . Dabei haben alle Fraktio-
nen des Bundestages immer gemeinsam an einer einver-
nehmlichen Lösung der Probleme zusammengearbeitet .
Dafür möchte ich mich bei den Kolleginnen und Kolle-
gen aller Fraktionen, namentlich auch Frau Staatsekretä-
rin Gabrielle Lösekrug-Möller von der SPD bedanken .
Lassen Sie uns deshalb auch im vorliegenden Fall ein-
vernehmlich eine gravierende Gerechtigkeitslücke bei
den Ghettorenten schließen .
Zahlreiche Kinder, die nachweislich und unstrittig
Beschäftigungszeiten in deutschen Ghettos zurückgelegt
haben, erhalten noch immer keine Ghettorente . Es ist da-
bei kein Geheimnis, dass allein aus ZRBG-Beitragszei-
ten nie eine Rente in der deutschen Rentenversicherung
erworben werden kann . Bei der Verkündung des ZRBG
war dies aber offenbar nicht allen bewusst, obwohl be-
kannt ist, dass kaum ein Ghetto länger als vier Jahre
existierte . Ein Gutachten der Wissenschaftlichen Diens-
te – WD 1 – 3000 – 025/16 – bestätigte kürzlich, dass
unumstritten „die meisten Ghettos zwischen Herbst 1939
und Sommer/Herbst 1943 existierten“, also höchstens
48 Monate . Doch ein Anspruch auf eine Ghettorente wird
erst bei einer 60-monatigen Wartezeit begründet . Diese
kann nur mit Beitragszeiten und gegebenenfalls mit Er-
satzzeiten – unter anderem wegen NS-Verfolgung – er-
füllt werden . Selbst der Höchstumfang an ZRBG-Bei-
tragszeiten reicht dafür nicht aus . Erwachsene Personen
können zwar, um die Wartezeit zu erreichen, etwaige Lü-
cken in ihren Beitragszeiten dadurch auffüllen, dass sie
ihre verfolgungsbedingte Zeit als Ersatzzeiten anrechnen
lassen . Doch diese Verfolgungszeit kann erst dann ange-
rechnet werden, wenn die betroffene Person bereits das
14 . Lebensjahr vollendet hat . Überlebenden der Shoah,
die im Ghetto beschäftigt waren, weisen darauf seit Jah-
ren hin . Der Verband der Jüdischen Glaubensgemeinden
der Republik Polen und die Vereinigung der Roma haben
sich zuletzt am 27 . Januar 2016 vom Gelände des ehema-
ligen deutschen Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau
mit einem bewegenden Appell diesbezüglich an die deut-
sche Bundesregierung gewandt . Der Bevollmächtigte der
Jüdischen Gemeinde, Herr Marian Kalwary, unterstrich,
dass die bestehende Situation eine fehlende Konsequenz
an den Tag lege, der Logik und dem Sinn und Zweck des
ZRBG widerspreche . Sie führt in der Praxis, insbesonde-
re bei Kindern, zu ungerechten und sachfremden Ergeb-
nissen: Ein Geschwisterpaar, das im gleichen Betrieb im
Ghetto beschäftigt war und sich später gemeinsam vor
der Verfolgung durch die deutschen Nazis verstecken
musste, wird je nach Alter unterschiedlich behandelt . Ein
Junge der das 14 . Lebensjahr vollendet hat, erhält eine
Ghettorente, aber seine 10-jährige Schwester, die mit ihm
im Ghetto beschäftigt war und das gleiche Verfolgungs-
schicksal teilte, nicht . Dieses Ergebnis war dem Gesetz-
geber des 2002 verabschiedeten ZRBG vermutlich nicht
erkennbar, aber auf jeden Fall nicht gewollt .
In Wirklichkeit können ZRBG-Beschäftigungszeiten
Rechte auf eine Rente aus der deutschen Rentenversiche-
rung nie allein begründen, sondern sie allenfalls in Ver-
bindung mit anderweitig erlangten Beitragszeiten mit-
begründen oder durch andere Beitragszeiten begründete
Rechte erhöhen . Was aber, wenn diese anderweitigen
Beitragszeiten gar nicht erworben werden konnten? Dann
ist die Wartezeit nicht erfüllt und eine Ghettorente bleibt
verwehrt . Das ist der Fall bei ehemaligen Ghettobeschäf-
tigten, die zu Mehrfachdiskriminierten in Osteuropa ge-
hören, wie Sinti und Roma, die selbst nach der Befreiung
kaum Zugang zu einer sozialversicherungspflichtigen
Beschäftigung erhielten . Auch jüdische Überlebende
wurden nach der Befreiung antisemitischen Übergriffen
und Ausgrenzung ausgesetzt, was die Aufnahme sozial-
versicherungspflichtiger Arbeitsbeziehungen verhinderte
oder verzögerte . Vor ähnlichen Problemen sehen sich
Jüdinnen und Juden gestellt, die in einem Land leben,
mit dem die Bundesrepublik kein Sozialversicherungs-
abkommen abgeschlossen hat, und somit ausländische
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 18165
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Versicherungszeiten in Deutschland nicht angerechnet
werden können, um eine Ghettorente zu begründen .
Kinder, die im Ghetto beschäftigt waren, dürfen heute
beim Zugang zur Ghettorente nicht deshalb ausgeschlos-
sen werden, weil sie erst aufgrund von NS-Verfolgungs-
maßnahmen überhaupt eine Beschäftigung aufnehmen
mussten, um zu überleben, obwohl Kinderarbeit grund-
sätzlich verboten war . Die Anerkennung einer subsidiä-
ren, lückenfüllenden, mindestens fünfjährigen Wartezeit
im ZRBG ist notwendig und machbar, um diese eklatan-
te Leerstelle des ZRBG zu schließen . Auch die Wissen-
schaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages kom-
men in einem Gutachten – WD 6 – 3000 – 049/16 – unter
Würdigung aller denkbaren Gegengründe zu Recht zu
dem Fazit, dass eine Wartezeitenfiktion im Einklang mit
dem Grundgesetz stehen würde . Dadurch könnte für alle
ehemaligen Ghettobeschäftigten unabhängig von späte-
ren, in der deutschen Rentenversicherung anrechenbaren
Beitragszeiten und von der Anrechnung von Ersatzzeiten,
ein gesetzlicher Rentenanspruch begründet werden . Der
vorliegende Gesetzesentwurf lässt somit den Vorrang an-
derer Zeiten unangetastet . Die subsidiäre Anerkennung
der Wartezeiten greift erst dann und nur dann, wenn die
ZRBG-Zeiten nicht mit anderen Beitrags- und Ersatz-
zeiten belegt sind. Die Wartezeitenfiktion würde ledig-
lich zur Anwendung gelangen, um bestehende Lücken
zu füllen, wenn zuvor bereits zweifelsfrei Ghettozeiten
nachgewiesen wurden, diese Beitragszeiten jedoch auch
zusammen mit anderen Beitrags- oder Ersatzzeiten nicht
ausreichen, um einen Anspruch auf Ghettorente zu be-
gründen . Eine solche Regelung ist auch gerecht, denn sie
hat keinen Einfluss auf die Höhe der Ghettorente, son-
dern begründet lediglich einen möglichen Anspruch auf
Ghettorente, deren Höhe von den tatsächlich im Ghetto
individuell erlangten Entgelten abhängt .
Seit 1999 hat die bestehende BSG-Rechtsprechung
geklärt, dass im Zuge der Wiedergutmachung von
NS-Unrecht bei Beschäftigungszeiten keine Lebensal-
ters-Untergrenze von 14 Jahren zugrunde zu legen ist .
Deshalb steht Kinderarbeit der Annahme eines sozial-
versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses
grundsätzlich nicht entgegen .
Es ist bekannt, dass der persönliche Anwendungsbe-
reich des ZRBG sich auf jene Personen beschränkt, die
zum Zeitpunkt der Verkündung des ZRBG im Jahre 2002
noch lebten und zuvor, zumeist zwischen dem 1 . Sep-
tember 1939 und 1 . September 1943, Ghettoarbeit ver-
richtet haben . Wer sollte also in den Genuss dieser Leis-
tungen kommen? Nehmen wir endlich zur Kenntnis, was
bislang nicht ausgesprochen wurde: Das ZRBG betrifft
Menschen, die zur Zeit der Ghettoarbeit typischerweise
Kinder und Jugendliche, allenfalls Heranwachsende sein
konnten . Wenn das ZRBG Ghettorenten für Verfolgte
vorsieht, die während der Ghettobeschäftigung vor al-
lem Minderjährige sein mussten, dann müssen wir die
bestehende Schutzlücke für genau diese Personen auch
schließen, um den historischen Realitäten der Ghettobe-
schäftigung gerecht zu werden .
Wir können diese Tatsache nicht unberücksichtigt las-
sen . Der bestehende Widerspruch kann durch die Aner-
kennung einer subsidiären, lückenfüllenden, mindestens
fünfjährigen Wartezeit im ZRBG behoben werden . Da-
mit wäre eine wichtige Gerechtigkeitslücke bei der Wie-
dergutmachung von NS-Verfolgung behoben . Ich bitte
im Namen der überlebenden Kinder, die in deutschen
Ghettos unter unmenschlichen Bedingungen arbeiten
mussten, um Ihre Zustimmung zu dem Gesetzentwurf
über die Fraktionsgrenzen hinweg .
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Las-
sen Sie mich aus einem Auszug einer Analyse des His-
torikers Michael Alberti beginnen, der sehr eindeutig die
Situation der Ghettobeschäftigten in Osteuropa während
des Zweiten Weltkriegs beschreibt:
„In Łódź konnte der Judenrat also nur versuchen,
die Produktion in das Ghetto hereinzuholen . Damit ver-
folgte er wie alle Judenräte Osteuropas während des
Zweiten Weltkrieges eine Doppelstrategie . Zum einen
wollte er die wirtschaftliche Lebensfähigkeit der Ghet-
tobewohner wiederherstellen und zum anderen kam für
ihn Ende 1941 mit dem Beginn der Massenvergasungen
im Vernichtungslager Kulmhof der Kampf um das phy-
sische Überleben der Ghettoinsassen hinzu . Das einzige
Mittel für eine mögliche Rettung war ‚die den deutschen
Kriegsanstrengungen zur Verfügung gestellte Arbeits-
leistung‘ . Bevor dies jedoch das alles beherrschende Mo-
tiv der Judenräte wurde, wollten sie den deutschen Be-
satzern in erster Linie demonstrieren, dass die Juden zu
produktiver Arbeit bereit waren .“ (Michael Alberti 2006:
Die Verfolgung und Vernichtung der Juden im Reichsgau
Wartheland 1939-1945, Seite 228 f .)
Die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten in den
Ghettos unter nationalsozialistischer Gewaltherrschaft
entziehen sich heute nahezu der Vorstellungskraft . Es
war in vielen Fällen nichts anderes als die Angst vor dem
Tod, die die Ghettobewohnerinnen und -bewohner in
Osteuropa, dem Balkan und dem Baltikum dazu zwang,
eine Arbeit aufzunehmen .
Mit dem „Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten
aus Beschäftigungen in einem Ghetto“ (ZRBG) hat die
damalige rot-grüne Koalition im Jahr 2002 der histori-
schen Verantwortung Deutschlands Rechnung getragen
und den Versuch unternommen, eine Lücke im Entschä-
digungsrecht zu schließen . Einstimmig wurde das Gesetz
damals beschlossen . Seitdem gelten nach § 2 ZRBG für
die Beschäftigten in einem Ghetto Rentenbeiträge als ge-
zahlt . Anfangs blieben die Resultate hinter den Erwartun-
gen allerdings deutlich zurück . Nur einem Bruchteil der
vonseiten der Betroffenen gestellten Anträge wurde ent-
sprochen, rund 90 Prozent wurden abgelehnt . Es brauchte
Jahre und die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts,
des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen und wei-
tere gesetzgeberische Maßnahmen, auch noch in dieser
Legislatur, um die Verwaltungspraxis weniger restriktiv
auszugestalten . Es war ein langer Weg, und – das müssen
wir nach eineinhalb Jahrzehnten leider nach wie vor fest-
stellen – wir sind noch nicht am Ende angelangt .
Das ZRBG folgt einer Entschädigungslogik, bleibt
aber in einem entscheidenden Punkt den systematisch
fast konträren Grundsätzen der Rentenversicherung ver-
haftet . Wer trotz faktischer Zwangsarbeit in einem Ghet-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 201618166
(A) (C)
(B) (D)
to die im Rentenrecht übliche Wartezeit von fünf Jahren
nicht erfüllt, hat nach §§ 50 Absatz 1 Nummer 1, 51 Ab-
satz 1 und 4 SGB VI keinerlei Ansprüche auf eine Rente
auf Basis der Arbeit in einem der sogenannten jüdischen
Wohnbezirke . Dies entspricht zwar dem rentenrechtli-
chen Prinzip, zur pauschalen Risikovermeidung für einen
Rentenanspruch bestimmte Mindestversicherungszeiten
vorzusehen, läuft aber gleichzeitig dem in diesem Fall als
höherwertig zu wertenden Ziel entgegen, die Betroffenen
zumindest symbolisch zu entschädigen .
Der Antrag der Linken geht daher durchaus in die
richtige Richtung. Die vorgeschlagene Wartezeitfikti-
on – jeder und jede ehemals in einem Ghetto Beschäf-
tigte erhält einen Rentenanspruch – kann einen gangba-
ren Weg darstellen . Jedenfalls bleibt uns angesichts des
Alters der noch etwa 2 000 Betroffenen nicht viel Zeit .
Gemeinsam ist doch allen Fraktionen das Verständnis
für die Situation der Betroffenen . Wir alle sollten uns ge-
meinsam in den Beratungen im Ausschuss ernsthaft um
eine schnellstmögliche Lösung bemühen – schließlich
war und ist die Zahlbarmachung der Renten für ehemali-
ge Ghettobeschäftigte letztlich doch allen Fraktionen des
Deutschen Bundestags ein Anliegen .
Anlage 17
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erleichte-
rung des Ausbaus digitaler Hochgeschwindigkeits-
netze (DigiNetzG) (Tagesordnungspunkt 16)
Ulrich Lange (CDU/CSU): Diese Koalition bringt
den Breitbandausbau ein deutliches Stück voran . Vieles
von dem, was Experten hierzu fordern, ist angeschoben
oder wird schon umgesetzt .
Mit dem hier heute abschließend zur Beratung vorlie-
genden DigiNetz-Gesetz werden auch auf Gesetzesebe-
ne – im wahrsten Sinne des Wortes – noch einmal alle
Hebel in Bewegung gesetzt, um den Breitbandausbau
effektiver auszugestalten .
Was ist der Hebel? Gerade das Aufgraben des Bodens,
der Straßen kostet beim Breitbandausbau einen Hauptteil
des Geldes – rund 80 Prozent der Kosten . Wenn die Tele-
kommunikationsanbieter für den Ausbau andere Netzin-
frastrukturen mitnutzen können, reduzieren sich die Aus-
baukosten . Das heißt, man kann mit der gleichen Summe
ein größeres Gebiet ausbauen . Clevere Telekommuni-
kationsanbieter können deutlich Ausbaukosten sparen
und zukünftig mehr Bürger per Glasfaser an das Internet
anschließen . Dazu erhalten die Telekommunikationsan-
bieter einen Rechtsanspruch, beispielsweise bestehende
Strom- oder Abwassernetze zum Breitbandausbau mit zu
nutzen .
Wir haben in den parlamentarischen Beratungen dem
Gesetz noch weitere Instrumente hinzugefügt, die eine
gute Basis gerade für den Glasfaserausbau in den Häu-
sern bieten werden . Wie auch vom Bundesrat gefordert,
sollen beim Neubau von Mehrfamilienhäusern und grö-
ßeren Wohneinheiten verpflichtend Leerrohre mitverlegt
werden . Damit können beim späteren Anschluss des
Hauses gleich Glasfaserleitungen bis in die Wohnung
verlegt werden .
Insgesamt handelt es sich dabei um eine Regelung
mit Augenmaß. Denn diese Ausbauverpflichtung gilt im
Wesentlichen für größere Wohnanlagen und Mehrfami-
lienhäuser . In Einfamilienhäusern ist die Verlegung von
Leerrohren empfehlenswert und eine Investition in die
Zukunft – aber das bleibt weiterhin freiwillig .
Außerdem haben wir für die Telekommunikationsun-
ternehmen, die erstmals in den Ausbau der Infrastruktur
in Häusern investieren, gute Rahmenbedingungen ge-
schaffen . Dazu gehört, dass der Gebäudeeigentümer vom
investierenden Telekommunikationsanbieter später keine
zusätzlichen Entgelte für die Nutzung der in den Häusern
verlegten Leitungen verlangen kann .
Schließlich werden wir mit dem DigiNetz-Gesetz die
oberirdische Verlegung von Glasfaserleitungen in einem
eng begrenzten Umfang erleichtern . Es bleibt bei dem
bisherigen Grundsatz, dass die Kommune bei der Frage
„ober- oder unterirdische Verlegung“ von Telekommu-
nikationsleitungen entscheidet und dabei die städtebau-
lichen Belange relevant sind . Damit wird es auch wei-
terhin in der Regel zu einer unterirdischen Verlegung
kommen . Es soll aber auch möglich sein, dass vereinzelt
stehende Gebäude und Gebäudeansammlungen zukünf-
tig in Ausnahmefällen oberirdisch erschlossen werden
können . Ganz wichtig ist dabei aber: Die Entscheidungs-
kompetenz dazu bleibt vor Ort .
Außerdem sorgt das DigiNetzG für mehr Transparenz .
Denn die Telekommunikationsanbieter müssen wissen,
wo welche Leitungen von anderen Netzbetreibern liegen .
Nur dann können sie ihre Netzausbauplanung effizienter
gestalten und somit mit dem gleichen Mitteleinsatz mehr
Fläche erschließen .
Bei Streit zwischen den Anbietern wird die Bundes-
netzagentur in die Lage versetzt, für eine schnelle und
verbindliche Klärung zu sorgen .
Bei Straßenbauarbeiten werden zukünftig Glasfaser-
leitungen mitverlegt, so wie es die Koalition im Rahmen
unseres Entschließungsantrags zum Breitbandausbau zu
Beginn der Legislaturperiode bereits angeregt hatte .
Das ist bisweilen alles sehr kleinteilig . Aber das sind
genau die Stellschrauben, die jetzt angezogen werden
müssen, damit wir weiterhin ein hohes Ausbautempo
halten . Außerdem können dadurch die Weichen für den
Glasfaserausbau der nächsten Jahre gestellt werden .
Neben diesen konkreten Regelungen zur Ausbauer-
leichterung können darüber hinaus die Auswirkung des
erfolgreich angelaufenen Bundesförderprogramms zum
Breitbandausbau nicht hoch genug eingeschätzt werden .
Das Bundesministerium für Verkehr und digitale In-
frastruktur hat in Abstimmung mit den Ländern dafür
gesorgt, dass Deutschland europaweit als Erster die bis-
herigen Rundfunkfrequenzen, die sogenannte Digitale
Dividende II, versteigern konnte . Die damit eingenom-
menen 1,3 Milliarden Euro sind nicht im allgemeinen
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 18167
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Haushalt verschwunden, sondern werden konsequent für
den Breitbandausbau eingesetzt . Außerdem kamen über
das Zukunftsinvestitionsprogramm noch 1,4 Milliarden
Euro aus dem allgemeinen Haushalt hinzu . Und nun wer-
den mit dem Haushalt 2017 aller Voraussicht nach noch-
mals 1,3 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt . Damit
stellt die Koalition – erstmalig – rund 4 Milliarden Euro
für den Breitbandausbau zur Verfügung . Hieran sieht
man sehr gut, dass diese Koalition zukunftsgerichtet in
die Infrastruktur unseres Landes investiert .
Wie genau wir damit den Bedarf des Landes treffen,
sieht man daran, dass bereits über 600 Bescheide auf Be-
ratungsleistungen und 55 Bescheide für den tatsächlichen
Netzausbau vergeben werden konnten . Fachleute werden
mit ihrer Beratungsleistung den Kommunen bei der Pla-
nung von neuen Ausbauprojekten helfen . Wir können da-
her schon jetzt sehr gut prognostizieren, dass auch in den
nächsten Jahren eine ganze Reihe an Förderanträgen zum
Infrastrukturausbau zu erwarten ist, die dann in konkrete
weitere Ausbauprojekte münden .
Das macht die Netze fit für die Gigabit-Gesellschaft,
das ist zukunftsgerichtete Infrastrukturpolitik; das ist ak-
tive Wohlstandspolitik für unser Land und unsere Bürger .
Thomas Jarzombek (CDU/CSU): Eine umfassen-
de, aktive und mutige politische Begleitung der Digi-
talisierung unseres Landes ist maßgeblich dafür, dass
wir im globalen Standortwettbewerb um wirtschaftli-
ches Wachstum, Innovationen, aber auch um die besten
Köpfe aus Wissenschaft und Wirtschaft bestehen kön-
nen . Das Gesetz zur Erleichterung des Ausbaus digita-
ler Hochgeschwindigkeitsnetze – DigiNetzG –, das wir
heute beschließen, ist dazu ein wichtiger Baustein: Mit
dem Gesetz legen wir die Grundlage dafür, dass immer
dann, wenn in Deutschland gebaut wird, wenn Neubau-
ten entstehen oder bestehende Bauten umfassend saniert
werden, wenn Straßen aufgerissen oder erneuert wer-
den, gleichzeitig die Grundlage dafür gelegt wird, dass
unser Land zügig beim Ausbau von leistungsfähigem
Breitband internet vorankommt . Das ist ein großer Erfolg
für diese Koalition und für die von ihr getragene Bun-
desregierung . Und das ist zudem ein wichtiges Signal für
alle Telekommunikationsanbieter in Deutschland, jetzt
mutig weiter in den Breitbandausbau für die Zukunftsfä-
higkeit unseres Landes zu investieren .
Denn das sei an dieser Stelle auch einmal deutlich ge-
sagt: Der Breitbandausbau ist die Aufgabe der Unterneh-
men . Das ist in Artikel 87 des Grundgesetzes festgelegt,
und zwar aus gutem Grund . Denn in den Zeiten, als wir
mit der Bundespost die Telekommunikation staatlich or-
ganisiert haben, war nichts besser . Ich erinnere nur an
den Mondscheintarif . Aber es ist unsere Aufgabe als
Staat, für die Unternehmen die richtigen Rahmenbedin-
gungen zu setzen, und genau das machen wir heute mit
diesem Gesetz .
Diese Koalition hat in dieser Legislaturperiode auch
zahlreiche weitere Erfolge erreicht, um die Digitalisie-
rung voranzubringen . Dafür gilt auch der Bundesregie-
rung unser Dank; denn die Bundesregierung hat sich das
Thema Digitalisierung in den vergangenen Monaten als
Schwerpunktthema über alle Ressortgrenzen hinweg ge-
setzt . Das begrüße ich ausdrücklich, und ich hoffe zu-
dem, dass sich diese Schwerpunktsetzung auch bis zum
Ende der Legislaturperiode, aber insbesondere auch da-
rüber hinaus, fortsetzt .
Einige Erfolge für die Digitalisierung unseres Landes
möchte ich hier noch einmal nennen; denn der richtige
und wichtige Netzausbau ist ein Baustein einer ganzen
Reihe von Weichenstellungen, mit der wir die Digitali-
sierung vorantreiben und die Wettbewerbsfähigkeit stei-
gern .
Beginnen wir in Europa: Mit der Netzneutralitäts-
verordnung haben wir auf europäischer Ebene endlich
eine Regelung erreicht, die einerseits den freien Daten-
verkehr sicherstellt, zudem aber auch Investitionen in
Innovationen ermöglicht . So werden einheitliche Rah-
menbedingungen für den europäischen digitalen Markt
sichergestellt, die in ganz Europa Wachstum für die
Digitalwirtschaft ermöglicht . Aus dem gleichen Grund
ist es übrigens zu begrüßen, dass die europäische Da-
tenschutz-Grundverordnung nun einheitliche Daten-
schutzregeln in Europa vorsieht . Insbesondere junge,
innovative Start-ups finden so die gleichen rechtlichen
Rahmenbedingungen in ganz Europa vor .
In Deutschland sind nun im Rahmen der Digitalen
Dividende II die Frequenzen im Bereich von 700 Me-
gahertz für das schnelle mobile Breitband bereitgestellt
worden . Hiermit sind wir in Europa an der Spitze . Es
bleibt zu hoffen, dass dieser Standard sich auch europa-
weit durchsetzen kann .
Das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infra-
struktur hat zum wohl ersten Mal in der Geschichte unse-
res Landes ein Breitbandförderprogramm in Deutschland
initiiert . Aufgelegt mit einem ursprünglichen Volumen
von 2,7 Milliarden Euro wird der Ausbau von schnellem
Internet in der Breite gefördert . Auch hier verdient die
Bundesregierung eindeutiges Lob für ihre zügige Arbeit
bei der Erteilung der Förderbescheide . In der letzten Wo-
che wurde nun bekannt, dass das Bundesförderprogramm
für den Breitbandausbau um weitere 1,3 Milliarden
Euro auf nun 4 Milliarden Euro aufgestockt wird . Dies
zeigt einmal mehr, dass die Digitalisierung auf der Pri-
oritätenliste der Bundesregierung ganz oben steht . Denn
dadurch wird der Anspruch, flächendeckend schnelles
Internet in Deutschland zur Verfügung zu stellen, auch
finanziell weiter unterlegt. Das ist, wie ich finde, ein wei-
teres starkes Zeichen für den Innovations- und Zukunfts-
standort Deutschland .
Ein weiterer wichtiger Schritt im Rahmen der Digi-
talisierung war die Novellierung des Telemediengeset-
zes . Mit der Ausweitung der Haftungsprivilegierung auf
WLAN-Anbieter und der Abschaffung der Störerhaftung
haben wir Rechtssicherheit für WLAN-Anbieter herge-
stellt . Damit haben wir die Grundlage für den weiteren
Ausbau freier WLAN-Netze geschaffen – gleich ob ge-
werblich, nebengewerblich oder privat . Damit werden
zum Beispiel auch für viele Unternehmen, wie Restau-
rants, Cafés und Hotels, Chancen für die Gewinnung
neuer und Bindung bisheriger Kunden erhöht .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 201618168
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Mit dem DigiNetz-Gesetz stellen wir nun sicher, dass
überall dort, wo Bauvorhaben durchgeführt, Häuser re-
noviert, Straßen geöffnet oder Neubaugebiete erschlos-
sen werden, die Grundlagen für ein leistungsfähiges
Breitbandinternet geschaffen werden . Im Ergebnis wird
das den Breitbandausbau in Deutschland nicht nur kos-
tengünstiger machen, sondern auch erheblich beschleu-
nigen . Daneben stellen wir auch sicher, dass der Ausbau
der Infrastruktur nicht einfach an der Bordsteinkante en-
det: Für den zügigeren Glasfaserausbau in großen Woh-
nungseinheiten können mit den neuen Regelungen die
Telekommunikationsanbieter gegenüber den Gebäude-
eigentümern zudem einfacher den Ausbau bis zur Woh-
nung des Endkunden durchsetzen .
Mit dem Gesetz fördern wir aber auch die neue Mobil-
funktechnik der fünften Generation: den Mobilfunkstan-
dard 5G . Voraussetzung dafür wird unter anderem eine
Vielzahl von Sendemöglichkeiten in sehr kurzen Abstän-
den sein, um die für Anwendungen wie das automatisier-
te Fahren oder die Telemedizin erforderliche Taktilität zu
gewährleisten . Mit dem DigiNetz-Gesetz vereinfachen
wir nun diesen Ausbau, indem zukünftig Laternen oder
Ampeln als Standorte für Mobilfunksender mitgenutzt
werden können . Das senkt einerseits die Ausbaukosten
für hochmoderne, engmaschige 5G-Netze und schafft
andererseits eine gute Basis für den Ausbau dieser neuen
Technologie in der Fläche .
Der weitere Ausbau der digitalen Netzinfrastruktur in
Deutschland ist die Grundlage für die wirtschafts-, aber
auch gesellschaftspolitisch dringend notwendige weitere
Digitalisierung unseres Landes . Er bleibt eine Herausfor-
derung für Wirtschaft und Politik . Mit dem DigiNetz-Ge-
setz kommen wir hierbei einen bedeutenden Schritt vo-
ran .
Martin Dörmann (SPD): Das heute zu verabschie-
dende DigiNetz-Gesetz ist ein wichtiger Schritt für den
flächendeckenden Ausbau von Hochgeschwindigkeits-
netzen in Deutschland . Vorgesehen sind beispielsweise
eine verbesserte Mitnutzung bestehender Infrastrukturen
durch TK-Netzbetreiber und die verpflichtende Mitver-
legung von Leerrohren und Glasfaser bei öffentlichen
Baumaßnahmen. Das alles wird signifikant die Kosten
senken und einen wesentlichen Beitrag für einen schnel-
leren Breitbandausbau leisten, insbesondere auch von
Glasfaserleitungen .
Die Koalition hat hiermit erneut bewiesen, dass sie
nicht nur Konzepte vorlegt, sondern diese Schritt für
Schritt umsetzt . Ich will an weitere Bausteine erinnern:
Mit unserem Breitbandkonzept „Schnelles Internet für
alle“ haben wir zu Beginn der Legislatur den Weg vor-
gezeichnet . Vergangenes Jahr haben wir nach einem „na-
tionalen Konsens“ mit der Versteigerung der Frequenzen
im Bereich der „Digitalen Dividende II“ nicht nur erheb-
liche Einnahmen für Bund und Länder generiert . Bei der
Neuvergabe der Frequenzen für mobiles Breitband wur-
de eine fast flächendeckende LTE-Versorgungsauflage
für die Mobilfunkbetreiber verankert .
Erstmals konnte mit diesen Einnahmen sowie weiteren
Mitteln aus dem Bundeshaushalt ein milliardenschweres
Breitbandförderprogramm auf den Weg gebracht werden .
Dieses ist so erfolgreich angelaufen, dass bis Ende des
Jahres alle Mittel vergeben sein werden und man sich be-
reits jetzt Gedanken über eine Fortsetzung machen soll-
te . Übrigens gehen über 70 Prozent der Fördermittel in
FTTB-Glasfaserprojekte und in sehr ländliche Gebiete .
Für jeden Euro öffentlicher Förderung werden zusätz-
lich private Investitionen in Höhe von 2 Euro ausgelöst .
Bei 2,7 Milliarden Euro Fördermitteln in Bund und Län-
dern sind Gesamtinvestitionen von rund 8 Milliarden
Euro für den Breitbandausbau zu erwarten .
Mit dem DigiNetz-Gesetz wird nun ein weiterer Bau-
stein unserer Strategie für einen beschleunigten Breit-
bandausbau gesetzt: Kostensenkung und verbesserte
Synergien .
Dieser Bereich ist extrem wichtig, da grob geschätzt
bis zu 80 Prozent der Ausbaukosten auf Hoch- und Tief-
bauarbeiten entfallen, die insbesondere in dünn besiedel-
ten Regionen überproportional hoch sind . Sie sind dort
der Grund für Wirtschaftlichkeitslücken, die Investitio-
nen verhindern können .
Das DigiNetz-Gesetz wird diese Kosten nun spürbar
senken . Bezogen auf die Gesamtinvestitionen für den
Breitbandausbau rechnet die Bundesregierung mit einem
Einsparpotenzial von über 20 Prozent . Damit wird nicht
nur der Netzausbau für Investoren attraktiver, sondern es
werden auch die Kosten für Verbraucherinnen und Ver-
braucher sinken .
Wie wird dies erreicht? Der Kern des Gesetzentwurfs
sind umfassende entgeltliche Mitnutzungsansprüche der
TK-Netzbetreiber an bestehenden Infrastrukturen aller
Art . Nun werden im Grunde alle Hohlräume und Träge-
rinfrastrukturen für eine Mitnutzung durch Telekommu-
nikationsanbieter zulässig . Diese Mitnutzung kann auch
verweigert werden, etwa bei Anhaltspunkten für Gefähr-
dungen für Gesundheit oder Sicherheit . Auch bei schon
bestehender Glasfaserinfrastruktur kann Mitnutzung ab-
gelehnt werden, um Überbau und Entwertung von hoch-
wertigen Investitionen zu verhindern .
Außerdem sollen bei allen öffentlich finanzierten Bau-
maßnahmen bedarfsgerecht Leerrohre und unbeschaltete
Glasfaser mitverlegt werden . Bei Neubaugebieten soll
dies immer der Fall sein . Dies macht eine spätere Anbin-
dung an die Hochleistungsnetze sehr viel einfacher und
kostengünstiger .
Gegenstand des Gesetzes ist auch ein transparenteres
Informationssystem . Die Bundesnetzagentur wird mit 29
neuen Planstellen als nationale Informations- und Streit-
beilegungsstelle fungieren und regulatorisch die neuen
Maßnahmen begleiten . Das schafft zügige Rechtssicher-
heit für alle Beteiligten .
Im parlamentarischen Verfahren haben wir den Ge-
setzentwurf der Bundesregierung noch einmal qualita-
tiv deutlich verbessert . Hierbei wurden Anregungen des
Bundesrats und aus der Branche aufgegriffen und um-
gesetzt .
Entgegen dem ersten Ansatz werden Bauordnungs-
vorschriften und Genehmigungsfristen nun bundesseitig
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 18169
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einheitlich geregelt . Außerdem werden Ampelanlagen
und Laternenmasten als Trägerstrukturen mitnutzbar,
zum Beispiel für zukünftige 5G-Mobilfunksender und
automatisiertes Fahren . Zudem haben wir erhebliche
Präzisierungen zur Versorgung am und im Gebäude ein-
gebracht .
Das DigiNetz-Gesetz ist ein komplexes Maßnahmen-
paket . An mehreren Stellen sind wir über die Vorgaben
der EU-Transparenzverordnung hinausgegangen, die es
umzusetzen galt . Wir sind sicher, dass die kostendämp-
fende Wirkung schnell spürbar sein wird . Hochleistungs-
fähige Technologien wie Glasfaser werden besonders
gestärkt . Das ist nicht nur eine Einzahlung auf unser ehr-
geiziges Zwischenziel von flächendeckend mindestens
50 Mbit/s bis 2018 . Es ist auch die Voraussetzung für den
weiteren Weg in die Gigabit-Gesellschaft .
Zusammengefasst: Nachdem wir bereits erfolgreich
die „Digitale Dividende II“ gehoben und ein umfassen-
des Breitbandförderprogramm auf den Weg gebracht ha-
ben, setzen wir mit dem DigiNetz-Gesetz einen weiteren
Meilenstein unserer Breitbandstrategie um . Es wird deut-
lich: Wir erarbeiten nicht nur gute Konzepte, wir setzen
sie auch konsequent um!
Herbert Behrens (DIE LINKE): Der angekündigte
Weg in die Gigabit-Gesellschaft bleibt holprig . Mit dem
hier vorliegenden Gesetzentwurf werden zwar wichtige
Dinge geregelt, die den Ausbau von Glasfasernetzen er-
leichtern können . Doch er bleibt weit hinter dem zurück,
was wirklich einen flächendeckenden Glasfaserausbau
voranbringen würde .
Schnelles Internet für alle und überall muss das Ziel
sein . Doch hier haben wir es nur mit einem Schrittchen
auf diesem Weg zu tun .
Und es war mühsam, dieses Schrittchen überhaupt zu
machen . Der ursprüngliche Gesetzentwurf musste mas-
siv nachgebessert werden, um dem Ziel näher zu kom-
men, mehr Glasfaser mit weniger Kosten auf den Weg
zu bringen . Das ist gut, und Die Linke erkennt an, dass
es eine Reihe von Verbesserungen gegeben hat, die vom
Bundesrat und von den Fachverbänden eingebracht wor-
den sind .
So soll zum Beispiel in Ausnahmefällen auch eine
oberirdische Verlegung von Glasfaserkabeln möglich
werden . Die Genehmigungsfristen für die Mitverlegung
von Kabeln bei Baumaßnahmen an den Straßen werden
verkürzt . Genehmigungsverfahren werden gestrafft, da-
mit der Ausbau des schnellen Glasfasernetzes nicht be-
hindert wird . Außerdem wird es Betreibern öffentlicher
Versorgungsnetze erlaubt, Einnahmen, die sie für die
Mitnutzung ihrer Infrastruktur erhalten, einzubehalten .
Auch wenn die Einnahmen über die Kosten hinausgehen,
sind sie nicht dem Netzbetrieb zuzurechnen . So können
sie das Netz ohne Nachteile vermarkten . All das bringt
uns ein Stück in Sachen Glasfaserausbau voran .
Es reicht aber nicht für unsere Zustimmung zum Ge-
setz, die Linksfraktion wird sich enthalten .
Denn es bleiben neu geschaffene Unwägbarkeiten, die
einem Ausbau und Aufbau digitaler Hochgeschwindig-
keitsnetze entgegenstehen . Das DigiNetz-Gesetz macht
keinerlei Vorgaben bezüglich der Entgelte für die Mitnut-
zung von Infrastrukturen wie zum Beispiel Versorgungs-
leitungen oder Leerrohren . Das soll der Markt regeln,
wie so oft, wenn wir hier im Deutschen Bundestag Ge-
setze beschließen . Die Netzbetreiber brauchen aber ver-
lässliche Angaben über Aufwand und Kosten beim Netz-
ausbau, wenn auch die Infrastrukturbesitzer verpflichtet
werden, ihre Struktur zur Verfügung zu stellen . Da kann
schon mal um den besten Preis gepokert werden . Das
aber führt nicht zur Beschleunigung, sondern eher zu
Zeitverzug und Planungsunsicherheit .
Wir sind auch nicht überzeugt davon, dass die Bun-
desnetzagentur zusätzlich zu ihren vielfältigen Aufgaben
für die Streitbeilegung zuständig gemacht werden soll .
Es werden zwar 29 neue Stellen eingerichtet, die die neu-
en Aufgaben bewältigen sollen . Die Bundesnetzagentur
verfügt auch über das Fachwissen im Bereich der Tele-
kommunikation, aber in Hinblick auf Straßen, Abwasser-
kanäle und Gasleitungen ist das nicht sicher . Und dann
zügig und kompetent Entscheidungen bei Konflikten zu
finden, ist ausgesprochen schwierig.
Nun ist das DigiNetz-Gesetz ja eine notwendige Um-
setzung einer EU-Richtlinie . Übrigens aus dem Jahr 2014
mit der Maßgabe, dass sie zum 1 . Januar 2016 in natio-
nales Recht umgesetzt sein sollte . So weit zum Thema
schnelle Entscheidung für ein schnelles Netz . Aber es ist
eben auch eine Kostensenkungsrichtlinie . Und an dieser
Stelle bleibt das größte Fragezeichen bei dem ganzen
Projekt .
Das Einsparpotenzial soll 25 Prozent der Gesamtkos-
ten eines bundesweiten Ausbaus digitaler Hochgeschwin-
digkeitsnetze betragen, erwartet die Bundesregierung .
20 Milliarden Euro sollen es in den nächsten drei
Jahren sein . 25 Prozent entsprechen 20 Milliarden . Das
bedeutet, dass Investitionen in Höhe von 80 Milliarden
Euro in den nächsten drei Jahren in den Glasfaserausbau
gesteckt werden sollen .
Woher soll das Geld kommen, wer sind die Investo-
ren? Dazu gibt es keine Aussagen des Ministers für Ver-
kehr und digitale Infrastruktur . Nicht nur die Linksfrak-
tion zweifelt dieses großmündige Versprechen an . Der
Bundesverband Glasfaseranschluss (BUGLAS) bezeich-
nete diese hohen Erwartungen in einer Pressemitteilung
als „deutlich zu hoch gegriffen“ . Zwar begrüßt der Ver-
band viele der geplanten Maßnahmen, stellt aber infrage,
ob der Breitbandausbau dadurch tatsächlich „erheblich
vergünstigt und vor allem beschleunigt“ werden könne .
In der Anhörung zum Gesetz im Ausschuss wiederholte
der Verbandsvertreter diese Position mit etwas anderen
Worten .
Es bleibt dabei, Kosten können nur eingespart werden,
wenn Kosten entstehen . Darum fordert die Linksfrakti-
on im Bundestag mehr Investitionen für ein schnelles
zukunftsfähiges Internet . Die Bundesregierung ist dazu
aber nicht bereit oder in der Lage . Damit muss Schluss
sein .
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Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vor
drei Tagen wurde eine neue Studie des WIK-Instituts
mit dem Namen „Treiber für den Ausbau hochbitratiger
Infrastrukturen“ herausgegeben . Sie kommt zu dem Er-
gebnis, dass die Breitbandnachfrage bereits heute in Tei-
len ein Niveau erreicht hat, das über Netze, aufgepimpte
Kupfernetze, nicht mehr befriedigt werden kann . Und:
Dieser Trend werde sich in Zukunft weiter beschleuni-
gen . Das WIK prognostiziert, dass in neun Jahren über
75 Prozent der Haushalte Bandbreiten von mindestens
500 Mbit/s im Down- und 300 Mbit/s im Upload nach-
fragen werden . Diese Geschwindigkeiten erreichen Sie
nicht über Kupfer und Vectoring, und deshalb müssen
wir jetzt alle Schalter umlegen auf den Ausbau zukunfts-
fähiger Glasfasernetze .
Das DigiNetz-Gesetz ist dafür ein nötiger Zwischen-
schritt . Das hat die EU-Kommission richtig erkannt, als
sie die Richtlinie festlegte, die Sie heute umsetzen wol-
len . Eine bessere Koordinierung von Bauarbeiten ist
nötig, die Zeiten, dass eine Straße zweimal aufgerissen
wird – einmal für eine Wasserleitung und später noch mal
für das Glasfaserkabel –, sollten passé sein . Aus unserer
Sicht ist aber die Umsetzung suboptimal . Die Interessen
der Versorgungsunternehmen, die ja den Zugang zu ih-
ren Leerrohren gewähren müssen, bleiben zu sehr außen
vor . Wenn in Zukunft zum Beispiel Reparaturarbeiten
teurer werden, weil man auf mitverlegte Telekommuni-
kationsleitungen Rücksicht nehmen muss, darf das nicht
zulasten der Kommunen gehen . Mehrkosten müssen von
denen übernommen werden, die sie verursachen .
Wir sehen es als Mangel an, dass Sie nicht klar die
Kosten für Länder, Kommunen und Versorgungsun-
ternehmen spezifizieren. Die Mitverlegung darf nicht
einseitig zu deren Lasten gehen, die Telekommunikati-
onsunternehmen müssen ausdrücklich zum Ersatz sämt-
licher Erschwerniskosten verpflichtet werden, die im Zu-
sammenhang mit Mitnutzungen entstehen .
Die voraussichtlich ohnehin geringe Wirkung des Ge-
setzesvorhabens wird noch dadurch geschmälert, dass
die Bundesregierung eine lange Liste von Gründen auf-
genommen hat, aus denen der Anspruch auf Mitnutzung
bereits vorhandener Infrastruktur versagt werden kann .
Und noch ein Manko: Die Bundesregierung übertreibt
bei den zu erwartenden Einsparungen enorm, auch wenn
wir sie schon mehrfach darauf hingewiesen haben . Denn
man kann natürlich nicht überall, wo gebaut wird, ein-
fach Glasfaser mitverlegen . Die Netzbetreiber machen
eine eigene Netzplanung und können sich nicht immer
danach richten, wo zufällig schon Rohre liegen . Das
Sparpotenzial ist also von vornherein begrenzt . Insofern
ist dieses Gesetz zwar ein Schritt in die richtige Rich-
tung, es ersetzt aber keineswegs eine vernünftige Förder-
strategie für den Breitbandausbau . Und an der fehlt es in
Deutschland .
Bei der Vorstellung der WIK-Studie am Montag for-
derte der VATM-Präsident Martin Kind, es müssten sich
„alle zusammensetzen und einen Masterplan entwi-
ckeln“ . Denn trotz Netzallianz und Bundesminister für
Digitale Infrastruktur haben wir einen solchen Master-
plan nicht . Wir haben ein Breitbandziel, das schon heute
überholt ist . Wir haben ein Förderprogramm, das genau
dieses kurzsichtige Ziel zu erreichen sucht . Aber wir ha-
ben keinen Masterplan zum Gigabitausbau .
Ich frage mich, ob wir eigentlich noch von bestimm-
ten Geschwindigkeiten als Zielmarken reden sollten .
50 Mbit, 100 Mbit, 200 Mbit … Wir sind doch hier nicht
bei Ebay . Stattdessen sollte der Staat eine Leitmission
vorgeben und die dann konsequent verfolgen . Die Mis-
sion Possible muss aus unserer Sicht sein: Wir wollen
Hochgeschwindigkeitsnetze, und wir brauchen sie . Und
alles andere sortieren wir unter diesem Ziel ein, auch das
Breitbandförderprogramm . Damit kommen wir im End-
effekt deutlich weiter als mit dem bisherigen Stückwerk .
Anlage 18
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Bundesmeldegesetzes und weiterer
Vorschriften (Zusatztagesordnungspunkt 5)
Thorsten Hoffmann (Dortmund) (CDU/CSU): Heu-
te sprechen wir in der 2 ./3 . Lesung über die erste Än-
derung des Bundesmeldegesetzes . Mit dieser Änderung
reagieren wir zügig und zeitnah auf die praktischen Er-
fahrungen, die wir in den vergangenen Monaten seit der
Einführung sammeln konnten . Wir sind also nah dran an
der Lebenswirklichkeit der Bürgerinnen und Bürger .
Schon jetzt möchte ich mich herzlich für die konstruk-
tive Zusammenarbeit aller Beteiligten in diesem Prozess
bedanken . Während unserer Zusammenarbeit wurde
noch einmal deutlich, dass es durch die Bank kaum Ein-
wände an der Verbesserung des bestehenden Bundes-
meldegesetzes gibt . So konnten wir viele Punkte weiter
ausführen und abstimmen . Im Großen und Ganzen hat
sich gezeigt, dass wir die anstehenden Änderungen ge-
meinsam gut vorbereitet haben .
Wir bewegen uns in einer sich stetig wandelnden In-
formationsgesellschaft . Viele wichtige Entscheidungen
unserer Behörden basieren auf dem zuverlässigen Aus-
tausch und Abruf von Informationen . Im Laufe der Zeit
haben wir deshalb die Übermittlungsmöglichkeiten die-
ser Meldedaten erheblich ausgeweitet . Ich möchte das
noch einmal betonen: Es geht um die Übermittlungsmög-
lichkeiten, nicht um die Ausweitung oder um die Anhäu-
fung von Daten .
Mittlerweile stellen unsere Meldebehörden ihre Da-
ten für viele Fachverfahren zur Verfügung . Die Arbeit
von Behörden wie beispielweise den Statistik-, Auslän-
der- und Ausweisbehörden sowie Schul- und Gesund-
heitsämtern wäre ohne die bereitgestellten Daten kaum
vorstellbar . Besonders im Hinblick auf unsere Sicher-
heitsbehörden wird deutlich, wie wichtig der schnelle
und zuverlässige Austausch von Informationen ist . Ich
werde nicht müde, dies immer wieder zu betonen .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 18171
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Wir müssen in unserer Gesellschaft, die so abhängig
von sensiblen Daten ist, aber auch unheimlich vorsichtig
sein, wenn es um unsere persönlichsten Daten geht .
Den Wandel mit dem Umgang unserer Daten kann
man schon an einem einfachen Beispiel erkennen: Frü-
her musste man im dörflichen, aber auch im städtischen
Bereich viele Kilometer fahren, um dringend benötigte
Dokumente zu beantragen . Heute ist das nicht mehr not-
wendig . Wir haben heute die Möglichkeit, an fast jeder
Verwaltungsstelle unsere Dokumente zu beantragen und
abzuholen .
Die Voraussetzung für ein solch modernes Meldewe-
sen ist, dass wir mit einem einheitlichen System arbeiten
und die Daten untereinander verständlich ausgetauscht
werden können . Auch beim Datenaustausch war es bis-
her oft problematisch . Nicht selten hat eine Behörde ein
anderes System und ein anderes Datenformat benutzt als
eine andere Behörde . Das hat zu unheimlichen Schwie-
rigkeiten geführt . Verschiedene Systeme passen eben
nicht aufeinander: Die Leidtragenden sind dann vor al-
lem die Bürgerinnen und Bürger .
Am Ende des vergangenen Jahres ist dann das Bun-
desmeldegesetz in Kraft getreten . Das passierte ohne das
große Buhei, das so oft bei anderen Themen gemacht
wird, obwohl wir alle davon betroffen sind . Und das
Thema geht jeden von uns an . Wir haben es uns trotzdem
nicht leicht gemacht und haben bei diesem wichtigen Ge-
setz lange um einen Kompromiss gerungen, weil wir die
Interessen aller Bürgerinnen und Bürger berücksichtigen
wollten . Gleichwohl müssen wir aber auch die Interessen
der Unternehmen im Auge haben . Hier geht es selbstver-
ständlich eher um die Wirtschaftlichkeit der verschiede-
nen Arbeitsprozesse . Und natürlich haben auch die Ver-
waltungen Interessen, an denen wir nicht vorbeigehen
dürfen, wenn es darum geht, ein gutes Gesetz auf den
Weg zu bringen . Wir haben also alle Betroffenen mit ins
Boot genommen und alle Interessen berücksichtigt .
Aber was wollen wir? Wir wollen viele der bestehen-
den Abläufe vereinheitlichen, vereinfachen und digita-
lisieren . Wir wollen einen hohen Standard, kurze Wege
und ein modernes Meldegesetz schaffen . Dazu gehörte
auch die Zusammenführung des Melderechtsrahmenge-
setzes mit den Landesmeldegesetzen .
Daten und Datenspeicherung, Schutzrechte, Melde-
pflichten, Datenübermittlungen zwischen öffentlichen
Stellen, Melderegisterauskünfte, Zeugenschutz und Ord-
nungswidrigkeiten laufen nun unter einem bundesein-
heitlichen Melderecht für alle Bürger .
Dank der Einführung des Bundesmeldegesetzes sind
wir unseren Zielen einen großen Schritt näher gekom-
men . Wir haben sie noch nicht ganz erreicht, das sage ich
ganz ehrlich . Aber wir sind auf dem richtigen Weg . Die
Verfahrenswege für alle Beteiligten sind kürzer gewor-
den, insbesondere für Bürgerinnen und Bürger . Hier ge-
winnen wir Bürgernähe durch technische Entwicklung .
Das Gleiche trifft auch auf die Meldebehörden zu . Diesen
wird durch das Gesetz ermöglicht, effizienter miteinan-
der zu kommunizieren. Profiteure sind die Mitarbeiterin-
nen und Mitarbeiter sowie die Bürgerinnen und Bürger .
Wir wollen die Entbürokratisierung für alle Beteiligten
vorantreiben, um ihnen das Leben zu erleichtern . Und
genau das schaffen wir mit diesem Gesetz .
Die vergangenen Monate haben gezeigt, dass das
bisherige Bundesmeldegesetz noch durch weitere Rege-
lungen vereinfacht werden kann: In Zukunft sorgen wir
dafür, dass die Abmeldepflicht für Personen, die ins Aus-
land ziehen, erleichtert wird . Der Vermieter, der bisher
den Auszug seines Mieters schriftlich bestätigt hat, wird
von dieser Mitwirkung befreit . Die Abmeldung in die-
sem Fall kann elektronisch bei der Meldebehörde vom
Mieter selbst unternommen werden . Das ist eine unheim-
liche Erleichterung für die Vermieter, die nicht mehr dem
Verzogenen hinterherlaufen müssen . Schon lange sind
wir der Überzeugung, dass viele Abläufe und Abfragen
auf elektronischem Wege erfolgen können . Dies ist ein
richtungsweisender Schritt in eine sich stetig mehr di-
gitalisierende Gesellschaft . Wir müssen dabei natürlich
auch bedenken, dass die Wege sicher sein müssen . Dieser
Grundsatz gilt: Wir müssen alles können, aber wir müs-
sen nicht alles machen, nur weil wir es können . Sensible
Daten müssen sensibel gehandhabt werden . Sicherheit
hat hier den Vorrang vor der Einfachheit . Wir haben es
aber jetzt geschafft, beide Aspekte zusammenzubringen .
Das möchte ich an dieser Stelle betonen .
Durch die Einführung der elektronischen Abmel-
dung wird die jährliche Bearbeitungszeit um rund
100 000 Stunden reduziert . Um sich das mal konkret vor
Augen zu führen, möchte ich Ihnen das anhand eines
Beispiels verdeutlichen . Die Zahlen aus dem letzten Jahr
haben gezeigt, dass es durchschnittlich 700 000 Auswan-
derungen gab . Bei unserer Berechnung gehen wir davon
aus, dass zwar nicht sofort alle von der elektronischen Ab-
meldung Gebrauch machen, mit etwa der Hälfte können
wir aber durchaus rechnen . Für den konkreten Einzelfall
sieht das Ganze dann so aus: Bisher hat die Abmeldung
einen Zeitaufwand von knapp 23 Minuten gekostet . Da-
von fallen im Schnitt 15 Minuten auf die Wegezeit und
weitere acht Minuten für die eigentliche Bearbeitungs-
zeit an . Jetzt, da wir künftig die Möglichkeit der elek-
tronischen Übermittlung haben, entfallen die Wegezeit
und ein Teil der Bearbeitungszeit . Wir stimmen heute für
ein standardisiertes Verfahren, das den gesamten Abmel-
dungsprozess auf bis zu zwei Minuten verkürzt . Pro Fall
sprechen wir also von einem entscheidenden Zeitgewinn
von circa 21 Minuten .
Mit unserer heutigen Entscheidung, auf die Mitwir-
kungspflicht des Vermieters bei der Abmeldung zu ver-
zichten, sparen wir knapp 1,184 Millionen Euro pro Jahr
an Bürokratiekosten ein. Das ist der finanzielle Aspekt,
nicht zu vergessen, dass die Vermieter und Mieter mit
dieser Lösung vermutlich sehr zufrieden sein werden .
Wir sorgen in Zukunft dafür, dass Behördengänge
weiter vereinfacht werden . Deshalb wollen wir heute
beschließen, dass die bisher allein zuständigen Landes-
behörden andere Behörden für einfache Melderechtsaus-
künfte bestimmen können .
Wir sorgen in Zukunft dafür, dass das Geschlecht
wieder in der Melderegisterauskunft eingeführt wird . In
unserer vielfältigen Gesellschaft ist es Realität, dass Mel-
debehörden zunehmend Schwierigkeiten haben, Namen
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 201618172
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unterschiedlichster Herkunft dem richtigen Geschlecht
zuzuordnen . Die Ableitung des Geschlechtes aufgrund
des Namens ist in vielen Fällen für die Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter in den Behörden nicht oder nur unter
erschwerten Bedingungen möglich und deshalb in den
Datenbanken häufig falsch hinterlegt. Jeder von uns
kennt doch eine Joyce oder einen Joyce, eine Jules oder
einen Jules, eine Robin oder einen Robin . Es gibt dafür
ja sogar einen schönen Ausdruck: Unisex-Namen . Selbst
mein Mitarbeiter aus Dortmund, er heißt Salih, wird oft
als Frau angeschrieben . Aus diesem ganz pragmatischen
Grund soll das Geschlecht wieder als Suchmerkmal in
den Datenbanken eingeführt werden .
Das Thema der inneren Sicherheit habe ich bereits
angesprochen und betone noch einmal: Das Bundes-
meldegesetz ist ein weiteres Mittel in einem Strauß von
vielen Möglichkeiten . Das Meldewesen gewinnt auch im
Sicherheitsbereich immer mehr an Bedeutung . Gerne er-
innere ich an dieser Stelle an die richtige Entscheidung,
den Ersatz-Personalausweis einzuführen . Er verhindert
die Ausreise von Personen, die unsere innere und äußere
Sicherheit durch die Vorbereitung von schweren Gewalt-
taten in Terrorcamps im Ausland gefährden . Die Ausrei-
se war damals für Gefährder trotz Passentzug mit ihrem
Personalausweis möglich . Der Ersatz-Personalausweis
hat das nahezu unmöglich gemacht . Für unsere Sicher-
heit ist es unerlässlich, dass die Information über den
Reisepassentzug und die Ausstellung des Ersatz-Perso-
nalausweises im Meldewesen hinterlegt ist .
Eine weitere Anpassung des Bundesmeldegesetzes
ist durch die Einführung der doppelten Staatsbürger-
schaft notwendig geworden . Kinder ausländischer Eltern
können durch die Geburt hier in Deutschland die deut-
sche Staatsangehörigkeit erwerben . Für sie entfällt die
Optionspflicht. Die Standesämter übermitteln den Mel-
debehörden den Erwerb dieses Ius-Soli-Titels . Für die
Durchführung des Optionsverfahrens müssen die Melde-
behörden und die Staatsangehörigkeitsbehörden zusam-
menarbeiten und die Möglichkeit haben, sich bestimmte
Daten zu übermitteln . Sie haben nun die Möglichkeit, die
Angaben zur Staatsangehörigkeit der gemeldeten Perso-
nen zu prüfen .
Die Änderung des Bundesmeldegesetzes ist vernünf-
tig, notwendig und gelungen . Aus diesem Grunde bitte
ich um Ihre Zustimmung .
Gabriele Fograscher (SPD): Der 28 . Juni 2012 war,
genau wie heute, der Donnerstag der letzten Sitzungswo-
che vor der Sommerpause .
Am 28. Juni 2012 fand das Halbfinale der Fußball-Eu-
ropameisterschaft statt, in dem Deutschland auf Italien
traf . Auch heute spielt Deutschland wieder im Europa-
meisterschaftshalbfinale, diesmal gegen Frankreich.
Am 28 . Juni 2012 stand die 2 ./3 . Lesung des Bundes-
meldegesetzes auf der Tagesordnung des Plenums, genau
wie heute .
Damals ging es um eine große Reform . Meine Frak-
tion und ich hatten bereits vor der abschließenden Be-
ratung vor der Verschlechterung des Datenschutzes ge-
warnt . Die damals schwarz-gelbe Bundesregierung hat
das nicht interessiert und das Gesetz mit ihrer Mehrheit,
die damals aufgrund des Fußballspiels aus wenigen Ab-
geordneten bestand, verabschiedet . Ergebnis: Das Gesetz
landete im Vermittlungsausschuss .
Was war passiert? In letzter Minute hat die damalige
schwarz-gelbe Regierungskoalition einen Änderungsan-
trag im Innenausschuss vorgelegt, der die positiven An-
sätze des ursprünglichen Gesetzentwurfes ins Gegenteil
verkehrte .
Auch wenn das Melderecht ein sehr technisches Ge-
setz ist, so kommt jede Bürgerin und jeder Bürger mehr-
fach in seinem Leben damit in Berührung .
Das Melderecht verpflichtet jeden Bürger und jede
Bürgerin, bestimmte Daten an die Meldebehörden zu ge-
ben . Dazu gehören der Familienname, frühere Namen,
Vornamen, Geburtsdatum und Geburtsort, Staatsangehö-
rigkeit, Adresse und andere Daten .
Die Bürgerinnen und Bürger müssen sicher sein, dass
ihre Daten bei den Meldebehörden gut und sicher aufge-
hoben sind und nicht unbegründet an Dritte weitergege-
ben, dort gespeichert und gegebenenfalls weiterverwen-
det werden .
Mit dem damaligen Änderungsantrag wurden hin-
sichtlich der Verwendung von Daten aus Melderegis-
terauskünften die geplanten Regelungen zur Zweckbin-
dung sowie zum Widerspruch gegen die Verwendung für
Werbung und Adresshandel völlig ausgehebelt . Es wurde
eine Einwilligungslösung durchgesetzt, die dann aber auf
Druck der SPD im Vermittlungsausschuss wieder rück-
gängig gemacht wurde .
Wir als Gesetzgeber und als Staat müssen besonders
sensibel mit den Daten der Bürgerinnen und Bürger um-
gehen . Wir sollten sie besonders sicher verwenden . Wir
sollten sorgsam mit ihnen umgehen . Wir dürfen eine
Weitergabe nur dann zulassen, wenn sie notwendig und
ausreichend begründet ist . Die Bürgerinnen und Bürger
vertrauen auf einen sensiblen Umgang mit ihren Daten
und können das auch vom Staat erwarten .
Deshalb war und ist es richtig, dass die von schwarz-
gelb gewollte Aufweichung des Datenschutzes nicht in
Kraft getreten ist .
Heute geht es um wenige Änderungen und Anpassun-
gen im Melderecht .
Nachdem 16 unterschiedliche Melderechte aus den
Bundesländern zusammengeführt wurden, trat das Bun-
desmeldegesetz zum 1 . November 2015 in Kraft . Nun hat
die Praxis gezeigt, dass an einigen Stellen nachjustiert
werden muss .
Die Bestätigung des Wohnungsgebers bei Auszug
wird abgeschafft, und die Abmeldung beim Umzug ins
Ausland kann elektronisch erfolgen .
Des Weiteren vollziehen wir inzwischen erfolgte Ge-
setzesänderungen im Melderecht nach . Die Einführung
des Ersatzpersonalausweises im Personalausweisgesetz
und die Neuregelung der Optionspflicht im Staatsange-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 18173
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hörigkeitsrecht müssen auch im Melderecht umgesetzt
werden .
Für die Länder wird es möglich, nicht nur die oberste
Landesbehörde, sondern auch eine andere Behörde als
Zulassungsbehörde für privatrechtlich betriebene Porta-
le zur Durchführung einfacher Melderegisterauskünfte
über das Internet zu bestimmen .
Das Bundesamt für Justiz soll in den Katalog der Be-
hörden des § 34 Absatz 4 Satz 1 aufgenommen werden,
die grundsätzlich Daten bei den Meldebehörden zur Er-
füllung ihrer Aufgaben abfragen können .
Das Datum „Geschlecht“ wird als zusätzliches Datum
bei der Registrierung festgelegt . Der Grund dafür ist,
dass es aufgrund der steigenden Anzahl ausländischer
Namen immer schwieriger ist, das Geschlecht des Mel-
depflichtigen zu erkennen.
Ich hatte bei dieser Änderung Nachteile für Transse-
xuelle befürchtet . Doch es ändert sich rechtlich nichts
für diese Personengruppe . Wegen der bestehenden Aus-
kunftssperren wird über diese Personen bereits jetzt und
auch in Zukunft keine automatisierte Behördenauskunft
gemäß § 38 BMG erteilt . Nur soweit wegen besonderer
Gründe des öffentlichen Interesses eine Offenlegung
erforderlich ist, kann im manuellen Verfahren Auskunft
über das Geschlecht erteilt werden . Damit wird dem be-
sonderen Schutzbedarf Rechnung getragen .
Mit dem Änderungsantrag, den wir als Koalitions-
fraktionen in die Ausschussberatung eingebracht haben,
werden Anregungen des Bundesrates aufgegriffen und
umgesetzt .
Bei der erweiterten Meldebescheinigung nach § 18
Absatz 2 BMG kann die betroffene Person die zu be-
scheinigenden Daten grundsätzlich selbst auswählen .
Die Änderung zu § 49 Absatz 4 BMG konkretisiert die
Voraussetzungen für die Erteilung einer automatisierten
Melderegisterauskunft . Geschlecht und Familienstand
werden nicht als Identifizierungsdaten anerkannt. Diese
Änderung soll zum 1 . Mai 2017 in Kraft treten .
Wir halten diese Ergänzungen für praktikabel, und sie
gestalten das Bundesmeldegesetz bürgerfreundlicher . Ich
bitte um Zustimmung .
Jan Korte (DIE LINKE): Einmal ist etwas mehr als
ein halbes Jahr nötig, dieses Gesetz erneut nachzubes-
sern . Wenn Sie Ihr damaliges Gesetz zur Fortentwicklung
des Meldewesens handwerklich vernünftig gemacht hät-
ten, hätten Sie uns allen sehr geholfen . Aber gegen Ände-
rungen und tatsächliche Verbesserungen haben weder ich
noch meine Fraktion etwas einzuwenden . Nur das, was
Sie hier vorgelegt haben, ist leider auch nur wieder ein
Rumdoktern und geht überhaupt nicht weit genug . An-
statt die Mitwirkungspflichten der Vermieter bei An- und
Abmeldung in § 19 in Gänze zu streichen, sieht Ihr Ge-
setzentwurf nur die Streichung der Mitwirkungspflicht
des Wohnungsgebers vor, wenn der Mieter ins Ausland
verzieht . Warum nur dann? Warum nicht auch bei der
Anmeldung oder dem Auszug im Inland?
Die unverhältnismäßige Hotelmeldepflicht, die nichts
anderes als eine umfangreiche, verdachtslose Datenerhe-
bung auf Vorrat ist, wird erst gar nicht angetastet, und
das, obwohl nach wie vor nicht erkennbar ist, was diese
Meldepflicht bringt, außer unbeachtete Datenbergen bei
den Meldebehörden . Stattdessen soll bei der automati-
sierten Melderegisterauskunft das Geschlecht wieder als
Suchkriterium aufgenommen werden . Während überall
auf der Welt darüber nachgedacht wird, das Geschlecht
aus Datenerhebungen und sogar aus Ausweisdokumen-
ten zu streichen, soll es hierzulande nach kürzester Zeit
erneut eingeführt werden . Das könnte man vielleicht
noch unter kurios abbuchen, aber leider konnte mir nie-
mand auch nur halbwegs nachvollziehbar begründen,
warum dies nun passiert .
Und leider haben wir auch heute wieder nicht die
Möglichkeit zu einer echten Debatte, sonst könnten Sie
mir vielleicht folgende Fragen beantworten: Warum hat
sich im letzten Jahr bei der automatisierten Melderegis-
terauskunft nach § 38 Absatz 1 BMG die Erteilungsquo-
te deutlich verschlechtert, weil die abfragenden Stellen
das Geschlecht nicht angeben dürfen? Sie begründen das
damit, dass bei ausländischen Namen die Rücklaufquote
sonst niedriger sei als erwünscht . Wenn wir eine echte
Debatte hätten, könnten Sie mir vielleicht sagen, in wel-
cher Höhe sich die Rücklaufquote bzw . die Fehlquote so
bewegen, bezogen auf deutsche bzw . europäische und
nichteuropäische Vornamen, und ob hier nicht das größe-
re Problem die unterschiedliche Transkription arabischer
Namen wäre .
Im Vorblatt des Gesetzentwurfes heißt es etwas ne-
bulös: Die „Ableitung des Geschlechts des Meldepflich-
tigen aus ausländischen Vornamen“ sei „nicht immer
eindeutig möglich“ . In der Begründung wird darauf
verwiesen, dass das Geschlecht als Merkmal weiterhin
nur abgerufen werden dürfe, wenn es erforderlich sei,
beispielsweise bei „geschlechtsspezifischen Schutzmaß-
nahmen“, und die Aufgabenerfüllung ohne Kenntnis des
Geschlechts unmöglich oder wesentlich erschwert wäre .
Das verstehe ich nicht, denn an sämtliche Sicherheitsbe-
hörden darf ja ohnehin auch im automatisierten Verfah-
ren das Geschlecht beauskunftet werden (§ 38 Absatz 3) .
Es wäre schön gewesen in den Beratungen von Ihnen
vielleicht mal ein Beispiel für typische Fallkonstellatio-
nen zu erfahren .
Mit dem Änderungsantrag werden Vorschläge des
Bundesrates aufgenommen, die zum einen eine selbst ge-
wählte Auswahl der erweiterten Melderegisterauskunft
für die Vorlage bei anderen öffentlichen Stellen oder im
privaten Bereich ermöglicht und zum anderen die auto-
matisierte Abfrage von Melderegisterauskünften so ge-
staltet, dass eine massenhafte Ausforschung von Daten
verhindert werden soll . Das ist positiv, genauso wie der
Punkt, dass der bedingte Sperrvermerk nicht allein für
Personen, sondern auch für Adressen gelten soll .
Diese Punkte sind vernünftig . Aber meiner Fraktion
reichen diese wenigen Änderungen eben nicht aus . Wir
werden uns daher enthalten und hoffen, dass das Bundes-
meldegesetz bei der nächsten Änderung gründlich und
nach bürgerrechtlichen Kriterien reformiert wird .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 201618174
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Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Das Melderecht erreichte 2012 politische Skan-
dalhöhe, als die schwarz-gelbe Koalition vor nahezu lee-
ren Rängen zeitgleich zu einem WM-Spiel der deutschen
Fußballnationalmannschaft versuchte, klammheimlich
die weitgehende Kommerzialisierung wichtiger Teile der
behördlichen Meldedatenbestände für die deutsche Wirt-
schaft durchzuwinken .
Es war und bleibt bemerkenswert töricht, dass eine
vormals in überwiegend föderaler Verantwortung be-
handelte Materie damals auf solche Weise im Bundestag
missachtet wurde . Heute laufen wir mit der Reform des
Melderechts erneut parallel zu einem Spiel der deutschen
Fußball-Nationalmannschaft . Auch wenn der vorliegen-
de Entwurf keine mit 2012 vergleichbaren Regelungen
enthält, ist diese Parallelität schon erstaunlich .
Wir Grüne waren es, die damals im Vermittlungsver-
fahren des Bundesrates dafür gesorgt haben, dass statt
der bloßen Widerspruchslösung wieder eine die Interes-
sen der Bürgerinnen und Bürger wahrende Lösung, näm-
lich die Einwilligungslösung, ins Gesetz kam .
Der Vorgang damals sollte uns alle gelehrt haben, dass
Entscheidungen zum Melderecht von datenschutzpoli-
tisch großer Tragweite sein können . Es sollte eigentlich
allen die Augen dafür geöffnet haben, welche Spreng-
kraft der fehlgeleitete Umgang mit Datenbeständen ha-
ben kann, welche gleich die Gesamtheit der über 80 Mil-
lionen Bundesbürgerinnen und Bürger betreffen .
Die Begehrlichkeiten nahezu aller Ressorts, ihre Vor-
haben, Behörden und Projekte mit dem Datenbestand der
Landesmelderegister zu verkoppeln, wirft schwierigste
datenschutzrechtliche Fragen auf . Verfassungsrechtlich
sind wir seit dem Volkszählungsurteil und zu Recht ge-
bunden, kein nationales Bevölkerungsregister zu errich-
ten . Doch mit der – ich betone – dringend notwendigen
und von allen Merkel-Regierungen bislang weitgehend
verschlafenen Digitalisierung der Verwaltung verwirkli-
chen sich die Risiken für Persönlichkeitsrechte und Da-
tenschutz in undifferenzierten Vernetzungen und nicht
hinreichend bestimmten Befugnissen im Umgang mit
den zunehmend verkoppelten Datenbeständen .
Gegen unseren Widerstand und unsere Stimmen nahm
die letzte Merkel-Regierung in der Reform von 2013
weitere sowohl bürokratische als auch die Rechte der
Bürgerinnen und Bürger missachtende Regelungen in das
Melderecht auf . Hervorzuheben sind etwa die Hotelmel-
depflicht sowie die Mitwirkungspflicht des Vermieters
bei An- und Abmeldung von Mieterinnen und Mietern .
Um eines noch einmal klar zu sagen: Wir leugnen
nicht, dass das Melderecht eine immer größere Bedeu-
tung für die Informationsordnung gewonnen hat, nicht
allein für die Verwaltung, sondern auch für die Wirt-
schaft . Man muss das Bundesmelderecht nicht gleich
zum informationellen Rückgrat einer modernen bürgero-
rientierten Verwaltung stilisieren: Der damit geschaffene
Eindruck ist ja auch aus den oben genannten Gründen
verfassungsrechtlich fragwürdig . Denn es bleibt dabei,
dass unsere Verwaltung grundsätzlich einer informatio-
nellen Gewaltenteilung unterliegt .
Gleichwohl müssen wir die gewachsene Anzahl der
Zugriffsmöglichkeiten und damit der Vernetzung der
Meldedatenbestände mit anderen öffentlichen Stellen
und Entscheidungsprozessen anerkennen und deren Nut-
zung in die notwendigen gesetzgeberischen Abwägungen
einbeziehen . Ein aktuelles Beispiel sind die umfangrei-
chen Abruf- und Einmeldemöglichkeiten seitens aller
mit Flüchtlingsfragen befassten Behörden nach dem so-
genannten Datenaustauschverbesserungsgesetz .
Während dieses Gesetz aus rein datenschutzpolitischer
Sicht eine ganze Reihe fragwürdiger Regelungen enthält,
zeigt sie doch zugleich auch die Bedeutung des Melde-
datensystems. Die mithilfe der Auskunftspflicht von Bür-
gerinnen und Bürgern gewonnenen Meldedaten werden
genutzt, um sehr unterschiedliche staatliche Aufgaben zu
erleichtern, zu optimieren und zu ermöglichen . Durch die
Vernetzung der Behörden wird es möglich, Aufgaben zu
erledigen, ohne die betroffenen Bürgerinnen und Bürger
für die Durchführung der jeweiligen Aufgaben erneut
in Anspruch nehmen zu müssen. Diese Effizienz, Kos-
teneinsparung und Bürgerfreundlichkeit ist natürlich ein
Riesengewinn, der mittlerweile von vielen als selbstver-
ständlich erachtet wird und beispielsweise im Umgang
mit den zu uns Geflüchteten auch einen wichtigen Faktor
darstellt, um eine rasche Integration zu ermöglichen .
Gleichwohl kann und wird es mit dem Melderecht
auch zukünftig keinen multifunktionalen Informations-
pool geben dürfen, bei dem sich die Behörden oder auch
die Wirtschaft nach Belieben und weitgehend ohne Be-
teiligung der Betroffenen selbst bedienen können .
Doch zurück zum heute vorliegenden Gesetzentwurf:
Die Hotelmeldepflicht ist ein Element unnötiger Verpoli-
zeilichung des Melderechts . Für ihre Erforderlichkeit im
verfassungsrechtlich gebotenen Sinne ist nichts dargetan,
sie war jahrelang durch Rot-Grün zutreffend abgeschafft,
ihre Wiedereinführung 2013 war unnötig . Wir bedauern,
dass sie auch in dieser Reform durch die Große Koalition
nicht zurückgenommen wird . Diese Rücknahme wäre die
Mindestvoraussetzung dafür, dass die Große Koalition
heute ihren Entwurf als Entbürokratisierung bezeichnen
dürfte .
Bei der Abschaffung der persönlichen Pflicht zur Ab-
meldung bei Wegzug ins Ausland hat die Große Koaliti-
on dagegen wohl einen Schritt in die richtige Richtung
getan . Sie sollten sich dafür jedoch nicht allzu sehr abfei-
ern, denn die Pflicht bleibt ja im Grundsatz bestehen, sie
kann nur zukünftig elektronisch erfolgen . Angesichts der
fehlenden Akzeptanz und der unzureichenden Unterstüt-
zung der Bürgerinnen und Bürger bei der Nutzung ent-
sprechender Möglichkeiten wie De-Mail oder des elek-
tronischen Personalausweises – also überwiegend der
Versäumnisse der Merkel-Vorgängerregierungen beim
E-Government – dürfte sich der Ertrag dieser Regelung
in engen Grenzen halten .
Noch schlimmer sieht es bei der Mitwirkungspflicht
des Vermieters bei An- und Abmeldungen aus: Weil die
letzte Merkel-Reform des Melderechts aufgrund der lan-
gen Umsetzungsfrist von zwei Jahren – die technischen
Möglichkeiten in Bund und Land waren der Grund – erst
im vergangenen Jahr in Kraft trat, haben wir für die heute
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 18175
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zu beschließende Abschaffung der Vermieterbestätigung
der Abmeldung eine gesetzliche Regelung, die lediglich
wenige Monate Lebensdauer erreichte . Wir haben Sie da-
mals deutlich davor gewarnt, die 2002 abgeschaffte Mit-
wirkungspflicht der Vermieter wieder einzuführen. Auch
die SPD hat übrigens noch bis 2013 in der letzten Reform
davor gewarnt . Doch die höhere Einsicht und Lernfähig-
keit, auf die Kollege Krings uns zur Begründung im In-
nenausschuss verwies, bleibt leider lückenhaft .
Wie sonst ist es zu erklären, dass die Mitwirkungs-
pflicht der Vermieter weiterhin, und zwar für die An-
meldung, gilt? Diese von Bürokratie und Misstrauen
gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern gleichermaßen
geprägte Regelung ist überflüssig, sie verhindert auch
keine Scheinanmeldungen, den Nachweis entsprechen-
der Wirkungen bleiben sie ohnehin schuldig . Wir fordern
Sie daher auf, ihre halbe Rolle rückwärts zu vervollstän-
digen .
Gegen viele der Einzelregelungen in diesem Gesetz-
entwurf, das möchten wir betonen, bleibt im Einzelnen
wenig einzuwenden . Wir begrüßen es vielmehr, dass die
Vorschläge des Bundesrates aufgenommen werden, wie
etwa bei der Erteilung der Meldebescheinigung oder bei
der Melderegisterauskunft, die tatsächlich auch die In-
teressen der Bürgerinnen und Bürger im ausgewogenen
Blick behalten . Nicht zuletzt deswegen lehnen wir den
vorliegenden Gesetzentwurf auch nicht in Gänze ab .
Zentral bleibt hingegen aus unserer Sicht, die Betei-
ligungsmöglichkeiten für Bürgerinnen und Bürger im
Rahmen des Melderechts zu betonen und damit stets
auch ein wenig bekannter zu machen .
Lassen Sie uns, gemeinsam mit den übrigens auch
von der Bundesregierung in voller Absicht und seit Jah-
ren völlig unterbesetzt gehaltenen Datenschutzbehörden
die Bürgerinnen und Bürger auf ihre eigenen Betroffe-
nenrechte und Gestaltungsmöglichkeiten im Melderecht
immer wieder hinweisen . Nur so können sie weiterhin
Widerspruchsrechte geltend machen und sich gegen die
ungewünschte Zusendung von Wahlwerbebriefen oder
gegen die Adressweitergabe an Adressbuchverlage weh-
ren .
Es ist richtig und wichtig, dass die Weitergabe von
Meldedaten für Zwecke der Werbung oder des Adress-
handels weiterhin nur mit Einwilligung möglich ist . Eine
solche Einwilligung kann jederzeit widerrufen werden .
Schließlich können alle Bürgerinnen und Bürger im Rah-
men einer gebührenfreien Selbstauskunft gegenüber der
Meldebehörde erfahren, welche Daten über sie konkret
gespeichert sind, woher diese Daten stammen und wer
die Empfänger regelmäßiger Datenübermittlungen sind .
Auch die Nutzung dieser Betroffenenrechte trägt mit
dazu bei, dass die Melderegister auch zukünftig keine
uferlosen Allzweckdatenbanken werden .
Unsere Informationsordnung und damit auch die
Verwaltung werden sich in den nächsten Jahren weiter
massiv verändern . Das Element des Melderechts in sei-
nem Verhältnis und im Kontext zu anderen vernetzten
Datenbeständen muss zum Schutz der Grundrechte und
der informationellen Selbstbestimmung daher weiterhin
einer besonderen Beobachtungspflicht unseres Hauses
unterliegen – das gilt natürlich gänzlich unabhängig von
EM-Spielplänen .
Anlage 19
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– des von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung betäu-
bungsmittelrechtlicher und anderer Vorschrif-
ten
– des Antrags der Abgeordneten Frank Tempel,
Kathrin Vogler, Jan Korte, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion DIE LINKE: Zugang zu
Cannabis als Medizin umfassend gewährleisten
(Tagesordnungspunkt 24 a und b)
Michael Hennrich (CDU/CSU): Heute debattieren
wir im Rahmen des zugrundeliegenden Gesetzes über
Änderungen im Betäubungsmittelgesetz, in der Betäu-
bungsmittel-Verschreibungsverordnung und in der Be-
täubungsmittel-Außenhandelsverordnung .
Mit dem Entwurf der Bundesregierung zur Änderung
betäubungsmittelrechtlicher und anderer Vorschriften
soll die betäubungsmittelrechtliche Verkehrs- und Ver-
schreibungsfähigkeit von weiteren Cannabisarzneimit-
teln, wie getrockneten Blüten und Extrakten, in standar-
disierter Qualität geschaffen werden . Denn es gibt leider
eine Vielzahl von Patientinnen und Patienten mit schwer-
wiegenden Erkrankungen, denen nach entsprechender
Indikationsstellung Therapiealternativen zur Behandlung
fehlen . Für diese und nur für diese Patienten wollen wir
die gesetzlichen Rahmenbedingungen verändern, um
ihnen durch den qualitätsgesicherten und gleichsam le-
galen Zugang zu medizinischen Cannabisarzneimitteln
Therapiealternativen zu ermöglichen .
Für eine angemessene und ausreichende Versorgung
dieser Patienten mit derartigen Arzneimitteln soll der
Anbau von Cannabis zu medizinischen Zwecken grund-
sätzlich ermöglicht werden . Dazu soll im Bundesinstitut
für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) eine so-
genannte Cannabisagentur eingerichtet werden, die den
voraussichtlichen Bedarf an Medizinalhanf ausschreibt,
Verträge über die Belieferung an Anbauer vergibt und die
gesamte Ernte erwirbt . Die Anbauer werden dabei selbst-
verständlich verpflichtet, die gesamte Ernte abzuliefern.
Die von Bundesgesundheitsminister Gröhe vorge-
schlagene Änderung des Betäubungsmittelrechts ist da-
bei der richtige Weg . Denn wir wollen einen sicheren und
kontrollierten Zugang der Betroffenen unter staatlicher
Kontrolle . Eine umfassende Kontrolle des Anbaus und
der Erwerbskette setze ich voraus . Alle Beteiligten wer-
den die betäubungsmittel- und arzneimittelrechtlichen
Vorschriften einhalten . Zudem wollen wir nicht, dass mit
etwaigen Abfallprodukten wie auch mit den angebauten
Erzeugnissen selbst illegaler Handel betrieben werden
kann .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 201618176
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Des Weiteren ist geplant, für gesetzlich Versicherte in
eng begrenzten Fällen einen Anspruch auf Versorgung
mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten, Extrak-
ten und Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol
oder Nabilon zu schaffen . Die Krankenkassen werden
für diese Fälle künftig die anfallenden Kosten überneh-
men . Dadurch wird kein Patient, der darauf angewiesen
ist bzw . für den Cannabisarzneimittel eine wichtige bzw .
alternativlose Therapieoption darstellen und dieses indi-
ziert worden ist, mehr in die Illegalität gedrängt .
Bis Ende 2018 soll dann auch mit der Leistungsüber-
nahme durch Krankenkassen eine Teilnahme des Patien-
ten an einer entsprechenden Begleitforschung gekoppelt
sein, um die Erforschung der Wirksamkeit von Cannabis
zu medizinischen Zwecken voranzubringen und wichtige
Evidenz zu generieren .
Mit den geplanten Maßnahmen wird gleichzeitig ein
nicht zielführender Eigenanbau von Cannabis zur Selbst-
therapie vermieden . Denn der von Grünen und Linken
propagierte Eigenanbau ist wegen der Unbestimmbarkeit
des THC-Gehalts gefährlich und aus unserer Sicht ein
Einfallstor für den Cannabismissbrauch .
Somit erfolgt auch eine deutliche Trennung des wei-
terhin verbotenen und sanktionierten Umgangs mit Can-
nabis zu Genuss- und Rauschzwecken auf der einen und
einer zukünftig ausschließlich erlaubten medizinisch-the-
rapeutischen Anwendung von Cannabis auf der anderen
Seite . Denn Cannabis ist und bleibt eine Substanz, die
bei falscher Anwendung nicht nur berauschend wirken
kann, sondern auch erhebliche Gefahren birgt und bei der
oftmals die Risiken durch die Konsumenten unterschätzt
werden .
Und hier, verehrte Kollegen von den Grünen und Lin-
ken, bitte ich doch darum, die pharmakologische Thera-
pie und Zulassung eines Arzneimittels nicht ideologisch
zu vermengen mit einem wie auch immer formulierten
Grundrecht auf Cannabiskonsum oder der Vorenthaltung
eines Medikaments durch die oben beschriebenen Vo-
raussetzungen . Würden wir hier von einem herkömmli-
chen chemisch erzeugten Arzneimittel sprechen, würden
Sie die Forderung, dass es jeder in heimischer Küche
nachmischen dürfen solle, ja vermutlich auch nicht stel-
len . Wir gehen diese Thematik ganz nüchtern an, wie bei
jedem anderen Medikament auch, bei dem Zulassung,
Herstellung, In-Vertrieb-Bringen und Verordnung klaren
Regeln unterworfen sind .
Der Vorteil für die Patientinnen und Patienten liegt
auf der Hand; denn die bisher erforderliche Beantra-
gung patientenindividueller Ausnahmeerlaubnisse beim
BfArM zum Erwerb von Cannabisblüten und -extrakten
aus Apotheken wird entbehrlich und die Kosten werden
regelmäßig erstattet . Zudem erhöhen wir die Arzneimit-
telsicherheit, da der Zugang für die genannten Gruppen
erleichtert wird und sich niemand mehr illegal angebau-
te Produkte mit nicht klar dosierbarem THC-Gehalt und
ohne ärztliche Aufsicht zuführen braucht .
Und mit diesem Gesetzentwurf begegnen wir endlich
der Kritik der Legalisierungsbefürworter, welche die
positiven Wirkungen von Cannabis gebetsmühlenartig
wiederholen und das Argument der medizinisch darauf
angewiesenen Patienten wie eine Monstranz vor sich
hertragen . Denn genau dieser einzig positive Aspekt der
Substanz THC bzw . Cannabis wird damit gesetzlich ge-
regelt, und alle anderen Verwendungsmöglichkeiten kön-
nen damit eindeutig dem Drogenmissbrauch zugeordnet
werden . Ich hoffe, dass wir durch diese klar strukturierte
Regulierung die Debatte in diesem Punkt versachlichen
können, und bin gleichsam froh, dass wir Patienten und
Patientinnen, für die Cannabisarzneimittel wirklich eine
wichtige Therapiealternative und Erleichterung ihres Le-
bens bedeuten, helfen können .
Marlene Mortler (CDU/CSU): Was wir auf internati-
onalem Parkett fordern, das gilt selbstverständlich auch
bei uns zu Hause: Im Mittelpunkt der Drogenpolitik der
Bundesregierung stehen nicht Zeitgeist, Vorurteile oder
Ideologien . Worum es uns geht, das ist der Mensch und
seine Gesundheit! Die Gesundheit der Menschen ist der
Dreh- und Angelpunkt unserer Cannabispolitik . Genau
deshalb sage ich „Nein“ zum Freizeitkonsum von Can-
nabis . Es gibt keinen Grund, der Freizeitdroge Cannabis
die Absolution zu erteilen .
Es gibt nur eine Gesundheit . Dass auch andere Sub-
stanzen gesundheitsschädlich sind, ist kein Argument
gegen, sondern ein Argument für einen streng geregelten
und kontrollierten Umgang mit Cannabis . Viel zu viele
Menschen greifen bereits jetzt zum Joint – trotz der be-
kannten gesundheitlichen Risiken, trotz des Verbots .
Die WHO hat gerade in einer Metastudie den For-
schungsstand zu Cannabis zusammengetragen . Das Er-
gebnis: Der Konsum der Droge Cannabis kann zu einem
Rückzug aus dem alltäglichen Leben, zu Depressionen,
zu Psychosen und Wahnvorstellungen ganz besonders
bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen führen .
Und wir wissen: Dort, wo Erwachsene legal an Can-
nabis als Genussmittel kommen, steigt auch der Konsum
unter Jugendlichen . Also: Keine Legalisierung zu Frei-
zeitzwecken!
Cannabis hat jedoch zwei Seiten . Es ist eine Subs-
tanz, die Menschen auch helfen kann . Cannabis ist ein
Betäubungsmittel, das – um es in der Fachsprache zu
sagen – auch über ein medizinisch-therapeutisches Po-
tenzial verfügt . Den Menschen und seine Gesundheit in
den Mittelpunkt zu stellen, heißt deshalb für mich auch,
den Zugang zu Cannabis für all diejenigen zu erleichtern,
denen Cannabis – und kein anderes Medikament – anhal-
tend helfen kann .
Der von der Bundesregierung vorgelegte Gesetzent-
wurf sieht deshalb vor, dass Ärztinnen und Ärzte künftig
Cannabis an schwer erkrankte Patientinnen und Patien-
ten verschreiben dürfen, und zwar – das ist für mich von
entscheidender Bedeutung – Cannabis, das wie andere
Medikamente und Medizinprodukte qualitätsgeprüft ist .
Der Gesetzentwurf sieht unter bestimmten Voraus-
setzungen auch eine Erstattung durch die gesetzlichen
Krankenkassen vor .
Verschreibbar, qualitätsgeprüft und erstattungsfähig –
um diesen Dreiklang geht es . Und dieser Dreiklang ist
ein großer Schritt nach vorn .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 18177
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Es ist ja nicht so, dass Patientinnen und Patienten heu-
te gar nicht an Cannabis kämen . Doch sind die Hürden
viel zu hoch . Heute ist Cannabis in Form getrockneter
Blüten nur mit einer Ausnahmeerlaubnis des Bundesin-
stituts für Arzneimittel und Medizinprodukte erhältlich .
Bisher hat das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medi-
zinprodukte 780 Patientinnen und Patienten eine entspre-
chende Ausnahmeerlaubnis erteilt .
Das Problem, auf das auch ich immer wieder von Be-
troffenen angesprochen wurde, sind die hohen Kosten:
500, zum Teil auch 1 000 Euro im Monat für medizi-
nischen Cannabis sind für einen schwerkranken Patien-
ten einfach zu viel: Eben dies müssen wir im Interesse
schwerkranker Menschen ändern, die in ihrer Not keine
Alternative sehen und denen Cannabis – dies ist eben-
falls wichtig – auch nach Einschätzung der behandelnden
Ärzte wirklich helfen kann .
Für eine Cannabispolitik, die den Menschen und seine
Gesundheit in den Mittelpunkt stellt, hat sich Minister
Gröhe, dem ich für seinen Mut und sein Engagement in
dieser Sache sehr herzlich danke, von Beginn dieser Le-
gislaturperiode an eingesetzt .
Ich bitte Sie alle um eine wohlwollende Beratung und
eine schnelle Verabschiedung dieses Gesetzentwurfes .
Und noch etwas: Ich bitte Sie alle, diese Beratungen
nicht für Grundsatzdiskussionen über Cannabis zu nut-
zen . Worum es hier geht, ist schnelle und wirksame Hilfe
für Menschen in Not, die allesamt hoffen, dass das Ge-
setz „Cannabis als Medizin“ besser heute als morgen in
Kraft treten kann .
Burkhard Blienert (SPD): Mit dem heutigen Gesetz-
entwurf folgt die Bundesregierung der aktuellen Recht-
sprechung . Die Gerichte hatten bekanntermaßen den
Gesetzgeber quasi zum Handeln genötigt . Eine gefühlte
Ewigkeit hat es für viele Betroffene gedauert, bis nun
nach der Ankündigung der Drogenbeauftragten endlich
der Gesetzentwurf vorliegt . Nun hat der Gesetzentwurf
das Parlament erreicht . Mit ihm soll gewährleistet wer-
den, dass Patienten, die auf die Heilkräfte der Hanfpflan-
ze angewiesen sind, endlich diese Arznei unter bestimm-
ten Aspekten verschrieben und erstattet bekommen .
Wir vollziehen somit einen wichtigen und richtigen
Schritt . Allerdings, und das darf nicht verschwiegen
werden: Ein wesentlicher Knackpunkt bei Cannabis als
Medizin besteht natürlich darin, dass uns viele Studien
zur Wirkungsweise und möglichen Anwendungsgebieten
noch nicht vollumfänglich vorliegen . Es fehlt in man-
chen Bereichen die Evidenz .
Hier haben wir einen klaren Nachholbedarf . Ich bin an
dieser Stelle aber froh, dass das Ministerium mittlerwei-
le Abstand von seinen ersten Überlegungen genommen
hat, eine verpflichtende Begleitforschung im Gesetz zu
verankern . Sie sollte ursprünglich ja die Bedingung für
die Kostenerstattung sein . Die jetzt im Gesetzentwurf
vorgesehene anonymisierte Begleiterhebung sehe ich als
gangbaren Weg, mehr Evidenz zu erhalten, ohne Patien-
ten zu Versuchskaninchen zu machen . In Hinblick auf
die bald beginnenden Haushaltsberatungen sollten wir
allerdings prüfen, ob die für die Erhebung angedachten
Mittel ausreichend sind; aber dies werden wir an ande-
rer Stelle nochmals thematisieren müssen . Wir sollten zu
Cannabis als Medizin unbedingt Grundlagenforschung
finanzieren!
Mit diesem Gesetzgebungsverfahren wird sich nun
jedenfalls endlich auf die Erkenntnisse jahrhundertealter
Erfahrungen besonnen. Die Heilkräfte der Hanfpflanze
sind schon seit der Frühgeschichte bekannt, in unserer
Gesellschaft aber als Medizin weitestgehend außen vor
gelassen worden .
Aktuell darf Cannabis nur in sehr engen Grenzen ver-
schrieben werden, erstattet wird der Medizinalhanf nur
in wenigen Fällen bei Fertigarzneien . De facto existieren
rund 779 Sondergenehmigungen, die im Wesentlichen
bei fünf Diagnosen, wie chronischen Schmerzen, multi-
pler Sklerose, Tourette-Syndrom, depressiven Störungen
und ADHS, eine Verschreibung von Cannabisblüten er-
lauben . Und das vor dem Hintergrund, dass Experten da-
rauf immer wieder hinweisen, dass der Einsatz von Can-
nabis als Medizin zwar kein Wundermittel ist, aber doch
einer weitaus größeren Personenanzahl helfen würde .
Deutschland betritt somit im Jahre 2016 mit der Ein-
bringung dieses Gesetzentwurfes auf dem Gebiet der
Cannabismedizin für sich gesprochen Neuland . Nun-
mehr soll ein Suchtstoff, der als Genussmittel illegal ist
und dessen Anbau, Vertrieb und Besitz aktuell laut Be-
täubungsmittelrecht strafrechtlich sanktioniert wird, als
Medizin unter bestimmten Aspekten legalisiert werden .
Zentrale Herausforderung ist somit: Wie können die
Beschaffung und der Vertrieb realisiert und organisiert
werden?
Natürlich gibt es auf dem Markt ausreichend Interes-
senten, die nur auf das finale Go warten und sofort mit
der Cannabisproduktion in Deutschland starten wollen .
Nach internationalen Abkommen bedarf es allerdings ei-
ner staatlichen Koordinierung .
Die Beschaffung und der Vertrieb sollen daher nun
über eine sogenannte Cannabisagentur, die dem BfArM
angegliedert ist, erfolgen; der Eigenanbau damit verhin-
dert werden .
So weit, so gut . Es besteht große Einigkeit darüber,
dass sich im Bereich „Cannabis als Medizin“ etwas än-
dern muss .
Nun müssen wir im parlamentarischen Beratungs-
verfahren klären, an welchen Stellen der Gesetzentwurf
noch Schwachstellen aufweist, an welchen Stellen noch
Beratungsbedarfe bestehen .
Ich will mich im Folgenden auf drei wesentliche As-
pekte hierbei beschränken .
Aspekt Therapiefreiheit: Derzeit ist geplant, dass
chronisch kranke Menschen, bei denen keine Alternativ-
behandlung angeschlagen hat, infolge des Gesetzes nun
Medizinalhanf beziehen können . Wer es verschrieben
bekommen soll, obliegt dem behandelnden Arzt . Aller-
dings muss dieser, laut dem Entwurf, zunächst dem Me-
dizinischen Dienst der Krankenkassen nachweisen, dass
der Patient tatsächlich austherapiert ist . Konkret bedeu-
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tet dies, dass jeder Erkrankte zunächst nachweislich alle
Therapiestufen durchlaufen muss . Wir sollten hier noch-
mals prüfen, ob dies wirklich der einzig machbare Weg
ist .
Aspekt Kostenerstattung: Der Gesetzentwurf sieht
vor, dass der Medizinische Dienst der Krankenkassen,
wie soeben beschrieben, prüft, ob der Patient austhera-
piert ist und infolgedessen die Kosten für Medizinalhanf
erstattet bekommt . Auch hier wäre im parlamentarischen
Verfahren zu prüfen, welche Auswirkungen diese Rege-
lung haben könnte .
Aspekt Verkehrstüchtigkeit: Im Gesetzentwurf lässt
sich noch keine Regelung bezüglich der Fahrtüchtigkeit
von Patienten, die Cannabisblüten verordnet bekommen
haben, finden. Es ist interessant, wie hier verfahren wer-
den soll .
Nichtdestotrotz weist dieses Gesetzesvorhaben ein-
deutig in die richtige Richtung . Es greift die juristische
und vor allem auch die medizinische Notwendigkeit zum
Handeln auf . Drei Viertel der deutschen Bevölkerung be-
fürworten, dass es Cannabis auf Rezept gibt .
Einen Satz noch zu den immer viel diskutierten Kos-
ten . Die Fachleute können aktuell nicht einschätzen, wie
sich die Patientenzahlen nach den neuen gesetzlichen Be-
stimmungen entwickeln werden . Allerdings, wenn man
die Zahlen auch aus anderen Ländern zu Rate zieht, ist
ein Anstieg zu vermuten . Der Gesetzentwurf selber geht
von einem Entlastungsvolumen für die Patientinnen und
Patienten von rund 1,7 Millionen Euro aus . Monatlich
wären bis zu 1 800 Euro pro Patient wohl zu veranschla-
gen . Der Deutsche Hanfverband weist in diesem Zuge
darauf hin, dass die Kosten für Fertigarzneien um ein
Vielfaches höher lägen . Ich will an dieser Stelle ganz
deutlich sagen, für mich steht der Patient im Mittelpunkt,
und daher hat zu gelten: Jeder, dem diese Arznei hilft,
muss diese auch ohne großen Geldbeutel einfach auf Re-
zept verschrieben und erstattet bekommen . Ich will im
Rahmen dieses Gesetzgebungsverfahrens erreichen, dass
der Zugang zu Cannabis als Medizin problemlos gewähr-
leistet ist, das heißt ohne Versorgungslücken, ohne Qua-
litätsrisiken bei der Cannabisarznei und ohne Mangel an
verschreibungsberechtigten Ärzten .
Ich bin daher, wie eingangs dargelegt, zufrieden, dass
wir nun diesen wichtigen Schritt zu Cannabis als Medi-
zin angehen . Ich freue mich auf die Beratungen und bin
zuversichtlich, dass wir zu einem guten Gesetz für alle
Seiten gelangen werden .
Hilde Mattheis (SPD): Mit dem vorliegenden Gesetz
zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher und anderer
Vorschriften wird die Verkehrs- und Verschreibungsfä-
higkeit von weiteren Cannabisarzneimitteln hergestellt .
Damit helfen wir Patientinnen und Patienten mit schwer-
wiegenden Erkrankungen, für die es keine Therapiealter-
native gibt . Sie leiden unter schweren Schmerzen durch
Krankheiten wie multiple Sklerose, epileptische Anfälle
oder seltene andere Nervenerkrankungen . Arzneimittel
auf Cannabisbasis können diesen Patientinnen und Pati-
enten Linderung verschaffen .
Derzeit verfügen 779 Patientinnen und Patienten über
eine Ausnahmeerlaubnis des BfArM nach § 3 Absatz 2
des Betäubungsmittelgesetzes zum Erwerb von Cannabis
zur Anwendung im Rahmen einer medizinisch betreuten
und begleiteten Selbsttherapie . Allerdings müssen sie
bislang die Kosten dafür selbst tragen; es gibt bisher kei-
nen generellen Erstattungsanspruch gegenüber der Kran-
kenkasse . Im Durchschnitt fallen monatliche Kosten von
540 Euro an, bei einigen Patientinnen und Patienten kön-
nen es jedoch bis zu 1 800 Euro im Monat sein . Neben
dieser Kostenbelastung plagt diesen Personenkreis die
ständige Befürchtung, dass ihr Medikament nicht be-
schafft werden kann. Häufig treten Lieferengpässe auf,
eine kontinuierliche Versorgung kann nicht immer ge-
währleistet werden . Für die betroffenen Menschen sind
diese Umstände fatal .
Lassen Sie mich das Schicksal dieser Betroffenen an
einem Beispiel aus meinem Nachbarwahlkreis in Bayern
schildern . Der junge Mann leidet an einer unheilbaren
seltenen Nervenkrankheit, ist ständigen Schmerzen aus-
gesetzt . Er ist auf ein schmerzlinderndes Medikament
angewiesen . Ausschließlich ein Medikament auf Can-
nabisbasis hilft . Alle anderen Medikamente wie zum
Beispiel Morphium helfen kaum oder gar nicht und sind
mit unzumutbaren Nebenwirkungen wie einer drama-
tischen Gewichtsabnahme verbunden . Es ist für diesen
Menschen wie für alle anderen in vergleichbarer Situ-
ation eine echte Steigerung der Lebensqualität, wenn
er einigermaßen schmerzfrei leben kann . Dieser junge
Mann hat versucht, seine Versorgungssicherheit durch
den Eigenanbau von Cannabispflanzen zu erreichen. Er
ist vor einigen Wochen rechtskräftig wegen des Versto-
ßes gegen das Betäubungsmittelstrafrecht verurteilt wor-
den . Mit diesem Gesetz wird er in Zukunft nicht nur die
Kostenübernahme garantiert bekommen und nicht in die
Illegalität abgedrängt werden . Er wird auch eine höhere
Versorgungssicherheit haben .
Menschen mit solchen Erkrankungen sind meist noch,
wie auch in dem von mir geschilderten Fall, nicht be-
sonders vermögend, oft sogar arbeits- und mittellos . Die
enormen Arzneimittelkosten haben sie oft noch in die
Verschuldung getrieben . Wir verbessern also auch die
Lebensumstände; wir gewährleisten mit diesem Gesetz
eine umfassende medizinische Versorgung . Jenseits von
ideologischen Scheuklappen wird Linderung möglich .
Auch wenn es sich derzeit um eine kleine Anzahl von
Patientinnen und Patienten handelt, die Cannabisblüten
und Cannabisextrakte auf ärztliche Verschreibung in
Apotheken zur Schmerzlinderung nutzen, so bedeutet es
doch für den Einzelfall eine enorme Erleichterung . Alle,
die ohne solche Schmerzen leben dürfen, können sicher
nur ahnen, wie lebenserleichternd das ist . Zukünftig wer-
den neben den bisher zugelassenen Fertigarzneimitteln
auf Cannabisbasis auch getrocknete Cannabisblüten und
Cannabisextrakte verkehrs- und verschreibungsfähig .
Durch eine anonyme Begleiterhebung sollen umfassen-
de Kenntnisse über die therapeutischen Ergebnisse einer
Anwendung von Cannabis als Medizinprodukt gewon-
nen werden .
Für die Versorgung mit Cannabisarzneimitteln in
kontrollierter Qualität soll der Anbau von Cannabis zu
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 18179
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medizinischen Zwecken in Deutschland unter Beachtung
der völkerrechtlich bindenden Vorgaben des VN-Ein-
heits-Übereinkommens von 1961 über Suchtstoffe
ermöglicht werden . Diese Aufgaben soll einer Cann-
abisagentur übertragen werden . Bis der staatlich kontrol-
lierte Anbau in Deutschland, der eine Cannabisagentur
voraussetzt, erfolgen kann, wird die Versorgung mit Me-
dizinalhanf über Importe gedeckt werden .
Im weiteren parlamentarischen Verfahren werden wir
unter anderem beraten, wie sichergestellt werden kann,
dass eine Versorgung auch in ländlichen Regionen ge-
währleistet ist, wie dorthin Lieferengpässe verhindert
werden können und somit ein deutlich verbesserter Zu-
gang zu Cannabisarzneimitteln zum Wohle der Patientin-
nen und Patienten erfolgen kann .
Ich bin sehr froh, dass wir für diesen Patientinnen-
und Patientenkreis heute eine aus meiner Sicht überfäl-
lige Entscheidung auf den Weg bringen .
Frank Tempel (DIE LINKE): Opposition und Pati-
enten erkämpfen Verbesserungen bei Cannabismedizin .
Grundsätzlich sind die von der Bundesregierung an-
gestrebten Änderungen zur medizinischen Versorgung
mit Cannabis richtig . Sie bedeuten eine Erleichterung für
viele schwerstkranke Menschen .
Ganz entschieden muss ich jedoch dem Eindruck wi-
dersprechen, die Bundesregierung hätte zum Wohl der
Patientinnen und Patienten gehandelt . Das hat sie aus-
drücklich nicht . Ganz im Gegenteil: Über Jahre hat die
Bundesregierung die medizinische Versorgung mit Can-
nabis aus ideologischen Gründen verhindert .
Man muss sich das vor Augen halten: Ein an multip-
ler Sklerose schwersterkrankter Patient muss sich trotz
seiner Krankheit über Jahre hinweg durch alle Instanzen
bis zum Oberverwaltungsgericht klagen . Erst dann be-
kommt er das Recht auf eine angemessene medizinische
Versorgung zugesprochen . Das war im Mai dieses Jah-
res . Und weil die Krankenkassen kein Cannabis erstatten,
bekommt er sogar das Recht auf Eigenanbau zugespro-
chen . Erst verweigert ihm die Politik jede Hilfe . Dann
ist sie nicht mal in der Lage, die Patienten ausreichend
mit einem Medikament zu versorgen . Das ist komplette
Politikverweigerung auf dem Rücken kranker Menschen .
Erst als sich eine Vielzahl von Patientinnen und Pati-
enten ihr Recht vor den Gerichten auf eine angemessene
medizinische Versorgung erstreiten mussten, sah sich die
Bundesregierung zum Handeln genötigt . Und auch hier-
bei ließ sie sich jede Menge Zeit .
Zur Erinnerung: Bereits im Februar 2015 versprach
die Bundesdrogenbeauftragte die Kostenübernahme von
Cannabis durch die Krankenkassen ab dem Jahr 2016 .
Doch der Kabinettsbeschluss ließ bis Mai dieses Jahres
auf sich warten .
Auf meine Nachfrage konnte die Bundesregierung
nicht mal die sachlichen Gründe für die Verzögerung be-
nennen . Auch das ist eine Form der Politikverweigerung .
In der Zwischenzeit schrieben mir verzweifelte Men-
schen, denen die Bundesregierung ihre lebensnotwendi-
ge Medizin vorenthielt . Diese Menschen konnten sich
die teure Cannabismedizin schlichtweg nicht leisten . Ih-
nen blieben nur zwei schlechte Möglichkeiten: entweder
die Inkaufnahme der unerträglichen Schmerzen oder die
Gefahr der Kriminalisierung durch die verbotene Versor-
gung über den Schwarzmarkt .
Doch zum Glück hat Die Linke ihre Aufgabe als Op-
positionsführerin erfüllt: Erst als der Bundesrat auf Ini-
tiative Thüringens unter dem Linken-Ministerpräsiden-
ten Bodo Ramelow im letzten Jahr Druck machte, kam
der Kabinettsbeschluss der Bundesregierung zustande .
Erst als wir unseren Antrag zur medizinischen Ver-
wendung von Cannabis im Bundestag eingebracht haben,
kam Bewegung ins Spiel .
Sie von der Unionsfraktion lesen unsere Anträge
nicht, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Gesund-
heitsministerium tun das offensichtlich schon . Und of-
fensichtlich hielten sie unsere Kernforderungen für so
richtig, dass sie diese einfach übernommen haben: Dazu
zählen zum Beispiel: die Kostenerstattung von Canna-
bismedizin durch die Krankenkassen, die Möglichkeit,
Cannabismedizin auch im Urlaub im EU-Ausland mit-
führen zu dürfen, und dazu zählt die Einrichtung einer
Cannabisagentur .
Das ist tatsächlich ein Meilenstein: Nur mithilfe dieser
Agentur kann in Deutschland überhaupt auf legalem Weg
Cannabis zu medizinischen Zwecken angebaut werden .
Und nur so lassen sich die Lieferengpässe in der Versor-
gung vermeiden, welche Die Linke mit einer Kleinen
Anfrage aufgedeckt hat .
Auch wenn die erkämpften Verbesserungen jetzt auf
den Weg gebracht werden, an Ihrer Verweigerungshal-
tung hat sich nichts verändert .
Regelmäßig haben Sie die Anträge meiner Fraktion in
den Haushaltsberatungen abgelehnt . Darin wollten wir
die Forschung für Cannabismedizin ausbauen . Nun feh-
len die entsprechenden Studien . Und auch diesen Mangel
müssen nun die Patientinnen und Patienten ausbaden .
Cannabismedizin bekommt erst derjenige erstattet, der
sich für die Begleitforschung zwangsrekrutieren lässt .
Das ist ein einmaliger Vorgang in der Geschichte der
Medizin .
Im Übrigen wird Ihnen jeder Mediziner sagen, dass
850 000 Euro für eine 60-monatige Begleitforschung
vorne und hinten nicht reichen . Deswegen gebe ich Ihnen
zum Abschluss noch einen Tipp: Wenn Sie schon nicht
auf mich hören wollen, fragen Sie wenigstens ihren Arzt
oder Apotheker .
Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
Bundesregierung hat sich viel Zeit gelassen, um endlich
zu erkennen, dass die Bedürfnisse von Patientinnen und
Patienten, die auf Cannabis als Medizin angewiesen sind,
nicht länger ignoriert werden können . Ich setze mich be-
reits seit fast zehn Jahren dafür ein, dass der Zugang zu
Cannabis als Medizin für betroffene Patientinnen und
Patienten auch in Deutschland endlich ermöglicht wird .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 201618180
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Denn Fakt ist: Deutschland hinkt mächtig hinter-
her und hat schwerkranken Patientinnen und Patienten
jahrelang dicke Steine in den Weg gelegt . In mehreren
US-Bundesstaaten, in Kanada, den Niederlanden und
Israel ist die medizinische Verwendung von Cannabis
längst möglich . In anderen Ländern wie Spanien oder
Belgien müssen Patientinnen und Patienten, die auf Can-
nabis als Medizin angewiesen sind, keine Strafverfol-
gung fürchten .
Patientinnen und Patienten, die aus medizinischen
Gründen auf Cannabis angewiesen sind, leiden unter
schweren chronischen Erkrankungen, die teilweise töd-
lich verlaufen . Standardtherapien haben bei betroffenen
Patientinnen und Patienten entweder versagt oder gehen
mit so starken Nebenwirkungen einher, dass der gesund-
heitliche Zustand verschlechtert wird . Patientinnen und
Patienten, denen Cannabis hilft, wurden erfolglos thera-
piert und finden Linderung ihrer Symptome nur in der
Behandlung mit cannabishaltigen Medikamenten oder
getrockneten Cannabisblüten . Die Cannabistherapie be-
deutet bessere Lebensqualität .
Schon aus moralischen Gründen darf schwer erkrank-
ten Patientinnen und Patienten ohne Behandlungsal-
ternativen eine adäquate Therapie mit Cannabis nicht
verweigert werden . Das wird auch durch mehrere Ge-
richtsbeschlüsse deutlich . Darüber hinaus stellt sich je-
doch auch die Frage der sozialen und gesellschaftlichen
Verantwortung . Denn betroffenen Patientinnen und Pa-
tienten steht, bis auf wenige Ausnahmen, keine Kosten-
erstattung durch die gesetzlichen Krankenkassen zu .
Cannabis-Patientinnen und -Patienten leiden nicht nur an
ihrer Erkrankung, sondern werden im Falle der mühsam
erwirkten Ausnahmegenehmigung durch das Bundesins-
titut für Arzneimittel und Medizinprodukte mit den enor-
men Behandlungskosten von bis zu 1 500 Euro im Monat
konfrontiert. Das übersteigt in vielen Fällen die finanzi-
ellen Möglichkeiten der häufig arbeitsunfähigen Patien-
tinnen und Patienten . Wer die hohen Kosten nicht selbst
aufbringen kann, um Medizinalhanf in der Apotheke zu
beziehen, sieht sich gezwungen, das günstigere, aber un-
kontrollierte und verunreinigte Cannabis vom Schwarz-
markt zu beziehen oder Cannabis selbst anzubauen . Die
Folge sind Strafverfahren, die nur unter der Auflage ein-
gestellt werden, zukünftig kein Cannabis mehr zu kon-
sumieren . Da viele Patientinnen und Patienten auf eine
regelmäßige Einnahme von Cannabis angewiesen sind,
werden sie zudem als Wiederholungstäterinnen und -tä-
ter oder wegen des Besitzes nicht geringer Mengen zu
empfindlichen Geld- oder Haftstrafen verurteilt. Damit
werden ausgerechnet jene Menschen der Strafverfolgung
ausgesetzt, die aufgrund ihrer teilweise schweren Erkran-
kung ohnehin körperlich und seelisch erheblich belastet
sind .
Darum habe ich bereits 2007 gefordert, dass die straf-
rechtliche Verfolgung von Menschen, die Cannabis aus
medizinischen Gründen verwenden, besitzen oder an-
bauen, beendet wird . Des Weiteren habe ich mich dafür
eingesetzt, dass arzneimittelrechtlich zugelassene Canna-
bisextrakte wie Dronabinol verschreibungsfähig werden .
Die damalige Regierungskoalition von Union und SPD
ignorierte die Bedürfnisse der Patientinnen und Patien-
ten und sah keinen Handlungsbedarf . 2011 forderten wir
Grünen die Bundesregierung erneut auf, den straffreien
Zugang zu Cannabis als Medizin für Patientinnen und
Patienten, die Cannabis auf ärztliche Empfehlung hin
nutzen, zu ermöglichen . Zudem sollte die zulassungs-
überschreitende Verschreibung, der Off-Label-Use, von
bereits zugelassenen Fertigarzneimitteln auf der Basis
von Cannabis erleichtert werden und dadurch eine Kos-
tenübernahme durch die Krankenkassen erfolgen . Auch
damals lehnte die Regierung von Union und FDP unseren
Antrag ab, obwohl sich auch zu jenem Zeitpunkt die Si-
tuation von betroffenen Patientinnen und Patienten kei-
neswegs gebessert hatte .
Experten in der Anhörung des Gesundheitsausschus-
ses haben sich schon vor vielen Jahren für eine Möglich-
keit zur medizinischen Verwendung von Cannabis aus-
gesprochen . Sie haben auch nicht die Wirksamkeit von
Cannabis für bestimmte Indikationen in Abrede gestellt .
Und sie haben ein durch den medizinischen Cannabisge-
brauch resultierendes Gesundheitsrisiko einer Abhängig-
keitsentwicklung für vernachlässigbar erklärt .
Dass die Bundesregierung jetzt ihre Meinung geändert
hat und einen entsprechenden Gesetzentwurf vorgelegt
hat, zeigt, dass sich die Bundesregierung dem langjäh-
rigen Einsatz betroffener Patientinnen und Patienten für
ihre Belange, Gerichtsurteilen zu Cannabis als Medizin
und dem zunehmendem politischen Druck auch von uns
Grünen nicht länger entziehen und entgegenstellen kann .
Die Bundesregierung geht das Thema medizinisches
Cannabis jedoch immer noch mit Scheuklappen an . Ihr
Vorschlag verbessert die Behandlungssituation von Be-
troffenen nur minimal . Die Zahl der beantragten Ausnah-
megenehmigungen zeigt: Immer mehr Patientinnen und
Patienten sind auf Cannabis als Medizin angewiesen, um
ihre Symptome zu lindern . Die Zahl der genehmigten
Anträge ist von 2011 mit 38 ausgestellten Ausnahmege-
nehmigungen auf aktuelle 779 Ausnahmegenehmigun-
gen gestiegen .
Cannabishaltige Medikamente und getrocknete Can-
nabisblüten sollen aber weiterhin nur dann verschrieben
werden dürfen, wenn die Betroffenen alle anderen Be-
handlungsmöglichkeiten erfolglos und oft mit schwer-
wiegenden Nebenwirkungen ausprobiert haben . Zudem
soll die Krankenkasse erst dann zahlen, wenn sich die
Betroffenen für eine Begleiterhebung zur Verfügung stel-
len . Die Bundesregierung legt damit Schwerkranken auf
der Suche nach Hilfe weiterhin dicke Steine in den Weg .
Die verpflichtende Begleiterhebung ist eine Farce. Das
wird auch in der Antwort der Bundesregierung auf unsere
Kleine Anfrage „Versorgung mit Cannabis als Medizin“
deutlich . Denn die Bundesregierung geht selbst davon
aus, dass die Ergebnisse der Begleiterhebung kaum Aus-
sagekraft haben werden . Dass Patientinnen und Patienten
dennoch daran teilnehmen müssen, um ihre Therapie-
kosten erstattet zu bekommen, grenzt an Nötigung . Die
Bindung der Kostenerstattung an die Teilnahme an der
Begleiterhebung ist ein Novum, das den betroffenen Pa-
tientinnen und Patienten die Selbstbestimmung nimmt .
Denn indirekt Zwang auf schwerkranke Patientinnen und
Patienten auszuüben, ist schäbig, als ob es nicht auch
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 18181
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freiwillige Lösungen gäbe . Anstatt fragwürdiger und
erzwungener Begleiterhebungen sollte die Bundesregie-
rung lieber solide Forschungsvorhaben zur Wirksamkeit
von Cannabis als Medizin fördern .
Wissenschaftliche Untersuchungen belegen bereits
heute, dass Cannabis bei schweren Erkrankungen wie
HIV, multipler Sklerose, chronischen Schmerzen, Epilep-
sie oder Krebs Linderung bewirken kann . So ist ein the-
rapeutischer Effekt im Hinblick auf Übelkeit, Erbrechen,
Appetitlosigkeit oder Angstzustände bei Tumorpatientin-
nen und -patienten belegt . Erkenntnisse zur Wirksamkeit
gibt es auch bei der Spastik bei Multiple-Sklerose-Pa-
tientinnen und -Patienten, erhöhtem Augeninnendruck,
Tourette-Syndrom oder bei starken Schmerzen unter-
schiedlichster Ursachen .
Grundsätzlich ist die Erforschung von Cannabis als
Medizin zu begrüßen . Denn tatsächlich ist die Erfor-
schung von Cannabis als Medizin noch nicht abgeschlos-
sen, auch weil sie jahrelang durch restriktive Gesetze
behindert wurde . Die fehlenden Daten bedeuten jedoch
nicht, dass Cannabis nicht wirkt . Nicht nur Patientinnen
und Patienten, sondern auch Ärztinnen und Ärzte haben
gute Erfahrungen mit dem Einsatz von medizinischem
Cannabis gemacht .
Wie dringend notwendig diese Forschungsförderung
ist, zeigt sich auch an einem anderen Aspekt: Die ge-
setzlichen Krankenkassen haben bereits angezweifelt,
ob sie die Kosten für Medizinalhanf erstatten müssen, da
die Wirksamkeit dieser Therapie nicht in jedem Fall be-
wiesen ist . Die Versorgung mit medizinischem Cannabis
steht damit schon jetzt auf wackligen Beinen . Die Prü-
fung der Anträge auf Kostenerstattung bei betroffenen
Patientinnen und Patienten soll der Medizinische Dienst
der Krankenkassen vornehmen, der bislang noch keine
Erfahrung mit dem Einsatz von Cannabis als Medizin
und einer Nutzen-Schaden-Abwägung im Vergleich zu
anerkannten medizinischen Verfahren hat . Es wird sich
zeigen, wie restriktiv der Medizinische Dienst der Kran-
kenkassen die Regelungen im Gesetzentwurf auslegen
wird, insbesondere wenn es um die Fragen geht, was eine
schwerwiegende Erkrankung ist und wann ein Mensch
als erfolglos therapiert gilt . Im Zweifelsfall müssten
betroffene Patientinnen und Patienten weiter die hohen
Kosten selbst aufbringen oder vor Gericht ihr Recht er-
streiten . Das ist für schwerkranke Menschen unzumutbar .
Wir werben sehr dafür, dass für betroffene Patientinnen
und Patienten endlich eine Regelung geschaffen wird,
die eine Kostenerstattung durch die gesetzlichen Kran-
kenversicherungen verbindlich macht und garantiert .
Diesbezüglich hat auch das Bundesverwaltungsge-
richt jüngst entschieden, dass der Eigenanbau von Can-
nabis als Medizin für betroffene Patientinnen und Patien-
ten, die an einer schweren Erkrankung leiden und denen
zur Behandlung der Krankheit keine gleich wirksame
und erschwingliche Therapiealternative zur Verfügung
steht, erlaubt ist . Die Leipziger Richter begründeten in
ihrem Urteil, dass in solchen Fällen der Eigenanbau be-
täubungsmittelrechtlich im öffentlichen Interesse liegt .
Wenn es keine anderweitigen Versagensgründe gibt,
sei die Erlaubnis zwingend . Denn erkrankte Menschen
könnten sich hier auf ihr Recht auf körperliche Unver-
sehrtheit berufen . Auch wenn die Bundesregierung die
Möglichkeit des Eigenanbaus in ihrem Gesetzentwurf
aus ordnungs- und sicherheitspolitischen Gründen aus-
schließt, kann sie das Urteil des Bundesverwaltungsge-
richts nicht ignorieren . Schwerkranke Patientinnen und
Patienten können nicht länger warten, bis der Gesetzent-
wurf beschlossen wurde und vielleicht erst in ein paar
Jahren genug Medizinalhanf zur Verfügung steht, der
aus der Apotheke bezogen werden kann . Denn schon
heute gibt es Lieferengpässe, sodass die Apotheken die
Versorgung mit Cannabis als Medizin nicht immer ge-
währleisten können . Mindestens bis dahin muss auch der
Eigenanbau genehmigt werden . Und hier würde die Bun-
desregierung endlich gut daran tun, die Strafverfolgung
von Inhabern einer Sondererlaubnis für Eigenanbau von
Cannabis zu beenden . Die Strafverfolgung von Men-
schen, die auf Cannabis als Medizin angewiesen sind, ist
skandalös und inhuman .
Anlage 20
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, SPD
und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Entschädi-
gung für die Radargeschädigten der Bundes-
wehr und der ehemaligen NVA noch weiter ver-
bessern
– des Antrags der Abgeordneten Katrin Kunert,
Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion DIE LINKE: Ra-
darstrahlengeschädigte der Bundeswehr und
der ehemaligen NVA besser entschädigen
(Tagesordnungspunkt 25 a und b)
Ingo Gädechens (CDU/CSU): In einem fraktions-
übergreifenden Antrag wollen wir heute die Entschädi-
gung von Radargeschädigten der Bundeswehr und der
ehemaligen NVA weiter verbessern .
Viele Soldaten haben während ihrer Dienstzeit an mi-
litärischen Radaranlagen – aufgrund von Mängeln bei
den Sicherheitsvorkehrungen – gesundheitliche Schäden
davongetragen . Der Union war es immer wichtig, dass
diese Kameradinnen und Kameraden möglichst unbüro-
kratisch entschädigt werden, denn sie haben im Dienst
für unser Land zum Teil erhebliche Beeinträchtigungen
und Krankheiten davongetragen, die ihre heutige Le-
bensqualität deutlich einschränken .
Das Bundesministerium der Verteidigung war und ist
daher in der Fürsorgepflicht, dieser Personengruppe eine
angemessene Wiedergutmachung nach dem Wehrdienst-
beschädigungsverfahren zukommen zu lassen . Und auch
unter dem Druck aus dem parlamentarischen Raum ist
das Bundesministerium in den vergangenen Jahren tätig
geworden und ist seiner Verpflichtung nachgekommen.
Dafür gilt mein herzlicher Dank .
Es wäre zu wünschen gewesen, dass das ein oder an-
dere Verfahren in der Vergangenheit zügiger zum Ab-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 201618182
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schluss gekommen wäre, aber auch hier sind in der Zwi-
schenzeit deutliche Fortschritte gemacht worden .
Fortschritte in der Entschädigungspraxis konnten in
der Vergangenheit auch durch ein vereinfachtes Anerken-
nungsverfahren erreicht werden:
Da aufgrund bereits vernichteter Dokumentationsun-
terlagen eine lückenlose Nachweis- und Beweisführung
in vielen Fällen nicht mehr möglich ist, war es richtig,
ein vereinfachtes Anerkennungsverfahren anzusetzen,
bei dem eine qualifizierte Erkrankung und eine quali-
fizierte Tätigkeit an den Radaranlagen geprüft wurden.
Dieses vereinfachte Verfahren hat sich bewährt und dazu
geführt, dass viele Betroffene in den letzten Jahren ent-
schädigt werden konnten .
Vor dem Hintergrund, dass seit dem Bericht der Ra-
darkommission vom 2 . Juli 2003 neue wissenschaftliche
Erkenntnisse zum Tragen kommen, war es richtig, dass
das Bundesministerium der Verteidigung eine erneute
wissenschaftliche Überprüfung von Krankheitsbildern
in Auftrag gegeben hat . Die Meineke-Kommission hat
am 19 . Februar 2016 ihren Abschlussbericht vorgelegt .
Dieser hat ausführlich die aktuellen wissenschaftlichen,
medizinischen und strahlenbiologischen Erkenntnisse
dargestellt und klare Empfehlungen im Umgang mit der
Radarproblematik ausgesprochen . Das Bundesministeri-
um der Verteidigung hat zu diesem Bericht ebenfalls eine
umfassende Stellungnahme vorgelegt, die den Empfeh-
lungen der Meineke-Kommission damit weitestgehend
folgt .
Für die Unionsfraktion ist wichtig, dass Entschädi-
gungen für Krankheitsbilder auf Grundlage der Wehr-
dienstbeschädigungsverfahren nur gewährt werden, so-
lange eine hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, dass
diese im Zusammenhang mit einer Tätigkeit als Radar-
soldat stehen . Eine gewisse Plausibilität muss gegeben
sein, alles andere wäre Willkür . Deshalb ist für die Union
klar, dass auch weiterhin ein eindeutiger Zusammenhang
einer qualifizierenden Erkrankung und einer qualifizie-
renden Tätigkeit vorhanden sein muss, um eine faire Ent-
schädigung zu ermöglichen .
Der Deutsche Bundestag hat ein vitales Interesse da-
ran, dass der betroffene Personenkreis schnell und un-
bürokratisch entschädigt wird . Daher muss das BMVg
ausreichend Personal im Bundesamt für Personalmanage-
ment vorhalten, welches die Radarfälle bearbeitet . Auch
die zügige Anerkennung von weiteren Krankheitsbildern
und Symptomen als qualifizierte Erkrankungen ist anzu-
mahnen – sofern hierfür eine fundierte wissenschaftliche
Basis gegeben ist . Der Bundestag wird die Umsetzung
der im Antrag genannten Punkte genau überprüfen und
erwartet hierzu vom BMVg einen Zwischenbericht bis
Ende Oktober .
Die Entschädigungspraxis des Bundesministeriums
der Verteidigung und die in den letzten Jahren bereits
deutlich beschleunigten Verwaltungsverfahren werden
mit diesem Antrag in aller Deutlichkeit anerkannt und
gelobt . Der hier vorliegende Antrag stellt somit keine
grundsätzliche Kritik am Vorgehen des Bundesministe-
riums der Verteidigung dar . Vielmehr fordert dieser das
BMVg dazu auf, am Ball zu bleiben und die Empfehlun-
gen der Meineke-Kommission zügig umzusetzen .
Karin Strenz (CDU/CSU): Ich habe vor wenigen
Wochen hier im Deutschen Bundestag zum zweiten Ge-
setz über eine finanzielle Hilfe für Dopingopfer der DDR
gesprochen . Auf der Grundlage des Staatsplan 1425 wur-
den die damaligen Leistungssportler unwissentlich ge-
dopt, die gesundheitlichen Auswirkungen machten sich
jedoch erst viel später bemerkbar . Viele Opfer leiden
heute massiv unter diesen Spätfolgen, deswegen war es
unsere Pflicht, eben diesen Menschen unter die Arme zu
greifen .
Kommen wir zu unserem heutigen Thema: Nicht an-
ders ist es mit den Opfern, die durch schädliche Strah-
lung an militärischen Radargeräten heute mit erheblich
gesundheitlichen Folgen zu kämpfen haben . Über die
Gefahren hat damals wie schon beim Doping keiner ge-
sprochen – der Mensch hatte zu funktionieren und seine
Aufgaben zu erfüllen . Krebs, Tumore, Amputationen,
Fehlbildungen menschlicher Organe und Glieder, um nur
einige unglaublich tragische Beispiele zu nennen, sind
die schreckliche Bilanz .
Die massiven Schäden durch eben diese militärischen
Radaranlagen haben eine nicht genau zu identifizierende
Anzahl von Soldaten, aber auch zivilen Angestellten der
Bundeswehr sowie der NVA erlitten, die im Zeitraum ab
den 50er-Jahren bis in die 80er-Jahre hinein ihren Dienst
an den Geräten leisteten . Dabei waren die Opfer zum Teil
Röntgenstrahlung und Mikrowellenstrahlung ausgesetzt .
Ein Großteil dieser Menschen entwickelte die schon an-
gesprochenen Erkrankungen, die mit der Röntgenstrah-
lung zweifelsfrei in Verbindung gebracht werden können .
Dieses heikle Thema zieht sich nun schon einige Jah-
re durch die parlamentarischen Gremien . Ein Rückblick:
Was ist bisher geschehen? Der Deutsche Bundestag hat
im Jahre 2002 das Bundesministerium der Verteidigung
aufgefordert, eine Kommission mit unabhängigen Exper-
ten einzurichten . Ziel war es, die Frage nach der Gefähr-
dung durch Strahlung in Einrichtungen der Bundeswehr
und NVA näher zu beleuchten . In diesem Zusammen-
hang wurde schließlich 2003 ein Bericht erstellt . Dieser
umfasst einen Kriterienkatalog, der als Maßstab dafür
dient, welche Erkrankungen auf Radarstrahlen zurückzu-
führen seien .
Zudem haben wir mit der Unterzeichnung des Treu-
handvertrages zwischen dem Bundesministerium der
Verteidigung und dem Soldatenhilfswerk der Bundes-
wehr e .V . am 22 . Mai 2012 unter der Trägerschaft des
Soldatenhilfswerks der Bundeswehr e .V . die „Treuhän-
derische Stiftung zur Unterstützung besonderer Härtefäl-
le in der Bundeswehr und der ehemaligen NVA – kurz:
Härtefallstiftung – zu dem Zweck errichtet, insbesondere
krankheitsbedingt entstandene Härten abzumildern .
Um auch auf aktuelle Ergebnisse zurückgreifen zu
können, wurde Anfang des Jahres 2015 ein Symposium
mit Experten unter der Leitung von Professor Dr . Meine-
ke abgehalten . Die Expertengruppe um Professor Mei-
neke hat uns wertvolle Anregungen für die zielgerichtete
Fortentwicklung und Beschleunigung des Verwaltungs-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 18183
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handelns und konstruktive Lösungswege für die Entschä-
digung gegeben . Ein zentraler Punkt war die Empfehlung
von vereinfachten Kriterien und Beweiserleichterungen
für die Anerkennung von Versorgungsanträgen . An die-
ser Stelle möchte ich der Expertengruppe für ihre fachli-
che Arbeit herzlich danken .
Im Vorfeld dieses Symposiums habe ich die zustän-
digen Berichterstatter der Fraktionen, Mitglieder des
„Bund zur Unterstützung Radarstrahlengeschädigter
Deutschland e .V .“ und die Vertreter aus dem Verteidi-
gungsministerium zu einer Gesprächsrunde eingeladen .
Dieses Gespräch war in meinen Augen absolut wichtig –
eine gemeinsame Runde mit den Betroffenen sowie Ent-
scheidungsträgern hilft uns, die Dinge gemeinsam weiter
anzupacken . Es ist wichtig, an einem Strang zu ziehen .
Heute nun gehen wir einen weiteren wichtigen Schritt
in die richtige Richtung . Wir Parlamentarier sind mit die-
sem Antrag darum bemüht, den Fortschritt in der Ent-
schädigungspraxis weitergehend zu unterstützen sowie
mit zusätzlichen Forderungen den Opfern zügig unter die
Arme zu greifen . Im Folgenden möchte ich näher auf un-
seren neuen Antrag eingehen .
So setzen wir uns für mehr Personal im Bundesamt für
das Personalmamagement der Bundeswehr ein, welches
die Radarfälle bearbeitet . Ziel ist es, die Verfahrensdau-
ern zu verkürzen . Viele Betroffene sind im Alter bereits
weit vorangeschritten, deswegen ist es auch notwendig,
keine wertvolle Zeit zu verlieren .
Neben der 1:1-Umsetzung der Entscheidungen der
Radarkommission aus dem Jahre 2003 fordern wir heute
zugleich umgehend die Berücksichtigung der Empfeh-
lungen des Expertenberichts der Meineke-Kommission
im Sinne der Stellungnahme des BMVg .
Weiterhin möchten wir die Zusammenarbeit mit der
bereits angesprochenen Härtefall-Stiftung weiter intensi-
vieren . Dazu gehört in unseren Augen eine zusätzliche
Ausstattung hinsichtlich der Mittel aus dem Einzel-
plan 14 .
Für eine hinreichende und zielführende Bearbeitung
der Anträge erachten wir es zudem als unabdingbar, die
Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Erkenntnisse
in Forschung und Lehre zu beobachten und die gesicher-
ten Erkenntnisse in der künftigen Verwaltungspraxis zu
berücksichtigen .
Ein weiterer Punkt, der in unserem Antrag volle Be-
achtung findet, ist die Vorlegung eines Zwischenberichts
zum Stand der Umsetzung an den Verteidigungsaus-
schuss bis Ende Oktober 2016 . Die Evaluierung, die
Grundlage stellt eben dieser Bericht, ist extrem wichtig .
Dies trifft generell auf jeden verabschiedeten Antrag zu,
aber aufgrund der enormen Wichtigkeit dieses sensiblen
Bereichs müssen wir hier umso mehr hinschauen . Es ist
oberste Prämisse, dass möglichst viele Menschen, die mit
den gesundheitlichen Einschränkungen und Folgeerkran-
kungen zu kämpfen haben, berücksichtigt werden .
Wir alle können sicher sein, dass in der Bundeswehr-
verwaltung weiterhin intensiv an der Optimierung der
Verfahren gearbeitet wird und die Radarfälle oberste Pri-
orität haben .
Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD): Auf den ersten Blick
geht es bei der Radarstrahlenproblematik um Zahlen,
Statistiken und Fakten . Es geht um Entschädigungsver-
fahren, Gerichtsfälle, Strahlenexposition, Millisievert
und Krankheitsbilder . Diese Rahmendaten lassen nur er-
ahnen, dass dahinter Menschen stecken – Hunderte ehe-
malige Soldaten, eingesetzt in Flugzeugen, auf Schiffen
und Panzern
In der Zeit von 1960 bis 1985 waren sie als Radar-
techniker und Unterstützungspersonal mit Radargeräten
im Kontakt, bei der Bundeswehr und bei der NVA . Die
dadurch entstandenen Krankheiten, allen voran Krebs,
haben ihre Leben schwer gezeichnet oder ihnen gar ein
Ende gesetzt . Sie kämpfen seit geschlagenen 16 Jahren
um eine ordentliche Anerkennung und Entschädigung .
Man rechnet damit, dass 240 von ihnen bereits verstor-
ben sind. Das Perfide daran: Bis in der 1990er-Jahre hin-
ein bestritt die Bundeswehr noch einen Zusammenhang
zwischen Radarstrahlungen und Erkrankungen . Was
heute jedes Kind weiß, konnten die Soldaten damals nur
ahnen .
Dennoch wäre es kindlich zu glauben, dass eine Ent-
schädigung damit geregelt wäre . Bis heute müssen die
meist älteren Geschädigten ihre Ansprüche in einem
äußerst komplexen und langen Verfahren stellen . Dabei
müssen meist sie beweisen, dass sie an einem Radargerät
tätig waren . Angesichts einer lückenhaften Dokumentati-
on innerhalb der verschiedenen Wehrbereichsverwaltun-
gen oft ein Ding der Unmöglichkeit . Dies mündet dann
oft in unzähligen Gerichtsverfahren, die erst in jüngster
Vergangenheit zugunsten der Geschädigten ausgingen .
Man könnte an dieser Stelle die bisherige Chronik
der Radarsoldaten bis ins letzte Detail wiederholen und
versuchen aufzuklären sowie einzelne Schicksale zu be-
leuchten . Aber Tatsache ist: Dieses Thema stellt einen
schwarzen Fleck in der Geschichte der Bundeswehr dar .
Der Bundeswehrverwaltung wurde von den Gerichten
mehr als einmal vorgehalten, wie schlecht die Zusam-
menarbeit funktioniert . Das Bundesministerium wies
jede Verantwortung für diese Misere von sich, jeder poli-
tische Vorstoß wurde als Affront interpretiert, politische
Verhandlungen wurden als unnötig abgetan . Manchmal
hatte man gar den Eindruck, es wird auf Zeit gespielt –
das Problem Radarsoldat würde sich selbst lösen . Im
Angesicht des menschlichen Leids eine zynische Unge-
heuerlichkeit .
Der nun vorliegende Antrag wird diesen Makel nicht
bereinigen können . Aber er geht ganz konkrete Schritte
voran und leistet einen entscheidenden Beitrag zur An-
erkennung des Schadens . Er versucht da Fehler auszubü-
geln, wo es hakt . Und er ist ein klares Signal an die Sol-
datinnen und Soldaten: Dies ist unsere Parlamentsarmee,
wir kümmern uns um euch!
Erstens beruhen Wehrdienstbeschädigungsverfahren
bislang auf einer vom Deutschen Bundestag 2002 ein-
gesetzten Expertenkommission, die nur bösartige, so-
genannte maligne Tumore und Katarakte als qualifizie-
rende Erkrankungen anerkennt . Nun sollen die neuesten
wissenschaftlichen Erkenntnisse mit in die Entscheidung
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 201618184
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fließen. Klar ist zum Beispiel, dass ab sofort auch gutar-
tige Tumore berücksichtigt werden .
Zweitens mussten Geschädigte in der Vergangenheit
selbst den Kausalzusammenhang zwischen Radargerät
und Erkrankung nachweisen . Nun erfolgt eine Beweiser-
leichterung auch in der sogenannten Phase zwei zuguns-
ten des Antragstellers .
Drittens wird das Personal zur Bearbeitung von Ra-
darfällen aufgestockt .
Viertens wird die Härtefallstiftung besser ausgestattet
und einbezogen . Sie springt immer dann ein, wenn selbst
die Entschädigungsanträge zu keinem Ergebnis führen .
Sie steht für mich dafür, dass die Menschen mehr ver-
dient haben als pure Bürokratie und Verwaltungsakte ent-
lang starrer Vorgaben .
Fünftens wird auch endlich für eine Studie zu mög-
lichen Genschädigungen von Nachkommen von Radar-
technikern grünes Licht gegeben .
Fehler der Vergangenheit wie die fehlende Aner-
kennung von Radarstrahlenschädigungen werden wir
niemals ganz wegbekommen . Aber wir können daran
arbeiten . Dass dies mit dem vorliegenden Antrag nicht
fraktionsübergreifend funktioniert, empfinde ich persön-
lich als überaus peinlich . In Richtung der Fraktion CDU/
CSU: Mir ist es egal, ob neben SPD auf dem Briefkopf
auch die Fraktion der Linken steht . Das ändert nichts am
Inhalt, sehr wohl aber das Signal an die Soldatinnen und
Soldaten: Wir, das Parlament, stehen hinter euch . Wir un-
terstützen euch, wenn es darauf ankommt .
Die Bundeswehr besteht meines Erachtens aus mehr
als Panzern, Flugzeugen, Schiffen und Material . Sie be-
steht aus Menschen .
Katrin Kunert (DIE LINKE): Radarstrahlenopfer:
Zeit zum Handeln statt zum Aussitzen! – Seit Jahrzehn-
ten führen viele ehemalige Bundeswehr- und NVA-An-
gehörige einen engagierten, aber häufig vergeblichen
Kampf um Anerkennung und Entschädigung für ihre im
Dienst erlittenen schweren Gesundheitsschäden . Oft geht
es dabei um Krebserkrankungen als Folge von radioakti-
ver Strahlung an Radargeräten, an denen die Betroffenen
gearbeitet haben . Die Ministerialbürokratie des Vertei-
digungsministeriums wirft ihnen ständig Knüppel zwi-
schen die Beine und befürchtet offenbar einen Damm-
bruch, wenn zu viele von ihnen recht bekämen . Dazu ist
es bislang nicht gekommen, da viele der todkranken ehe-
maligen Soldaten im Laufe der sich endlos hinschleppen-
den Verfahren versterben . Die Bundesregierung musste
auf schriftliche Nachfrage einräumen, dass seit 2003 von
748 Antragstellern nachweislich mindestens 117 verstor-
ben sind . – So darf mit schwerstkranken Menschen nicht
umgegangen werden .
Ich bin mir sicher: Wären nur ehemalige Angehörige
der Nationalen Volksarmee der DDR betroffen, hätte die
Bundesregierung das Problem längst gelöst . Das geht
aber nicht, eben weil ehemalige Bundeswehrangehörige
genauso betroffen sind . Das zeigt, es gab zu jener Zeit
in den Streitkräften auf beiden Seiten des Eisernen Vor-
hangs ein zu gering ausgeprägtes Gefahrenbewusstsein
im Umgang mit ionisierender Strahlung an Radargeräten .
Aus diesem Grund müssen auch die Betroffenen gleich
behandelt werden ─ egal in welcher Armee sie früher ge-
dient haben .
Sehr spät, immerhin 13 Jahre nach dem Bericht der
Radarkommission, hat sich die Bundesregierung nun-
mehr selbst eingestanden, dass sie das Problem nicht
länger aussitzen kann . Die Bundeswehr schadet ihrem
Image, solange sie den Dienstversehrten die kalte Schul-
ter zeigt. Die Fürsorgepflicht des Dienstherrn endet eben
nicht am Kasernentor .
Die Koalition hätte die Gelegenheit nutzen können, um
die Opposition mit ins Boot zu holen . Es wäre zweifellos
im Interesse der Sache gewesen, wenn sich der gesam-
te Bundestag in die Verantwortung hätte nehmen lassen .
Die Linke ist dazu bereit gewesen . Stattdessen wurde auf
alleiniges Betreiben der CDU/CSU-Fraktionsspitze die
Linke von dem interfraktionellen Antrag nachträglich
ausgeschlossen . Sie zeigen damit, dass es ihnen nicht
um die Sache geht, sondern um Parteiideologie . Es über-
rascht deshalb nicht, dass sie den Tagesordnungspunkt zu
später mitternächtlicher Stunde aufgesetzt haben, um die
Angelegenheit möglichst geräuschlos ohne öffentliche
Debatte durchzuwinken . Sie werden dies wahrscheinlich
gar nicht erwarten: Ich bedanke mich dennoch an dieser
Stelle ausdrücklich bei den Berichterstatterinnen und Be-
richterstattern aller Fraktionen für die gute Zusammenar-
beit . An ihnen hat es nicht gelegen, sondern an der Frak-
tionsführung der CDU/CSU . Die Linke musste deshalb
einen eigenen Antrag vorlegen, der einige weitergehende
Verbesserungen für die Betroffenen enthält . Bei dem in-
terfraktionellen Antrag werden wir uns enthalten .
Wir unterstützen die Forderung des Bundes zur Un-
terstützung Radarstrahlengeschädigter nach Einrichtung
eines unabhängigen Expertengremiums, das in strittigen
Einzelfällen vermitteln soll . Nach den bisherigen Erfah-
rungen mit der Blockadepolitik des Verteidigungsminis-
teriums sind die Befürchtungen der Betroffenen nur allzu
berechtigt, dass anderenfalls die Auszahlung von Ent-
schädigungen weiterhin auf den Sankt-Nimmerleins-Tag
hinausgeschoben wird . Das ist nicht hinnehmbar . Vor
diesem Hintergrund: Vertrauen ist gut, aber Kontrolle ist
besser .
Das zeigt auch die Vorgeschichte des interfraktio-
nellen Antrags: Das Verteidigungsministerium hat im
Februar 2015 ein Fachsymposium mit von ihm selbst
benannten Expertinnen und Experten durchgeführt, was
durchaus symptomatisch für das Vorgehen der Bundes-
regierung ist . Doch selbst die eigenen Expertinnen und
Experten haben der Bundesregierung bescheinigt, dass
künftig alle gutartigen Tumore in den Katalog der erstat-
tungsfähigen Erkrankungen aufgenommen werden müs-
sen . Nur deshalb hat sie ihren Widerstand dagegen aufge-
geben . Es ist gut, dass sie wenigstens darauf gehört hat .
Die Linke ist darüber hinaus der Meinung, dass auch
Soldaten, die in Kontakt mit radiumhaltiger Leuchtfar-
be Ra-226 gestanden haben und erkrankt sind, generell
entschädigt werden sollten . Grundsätzlich wollen wir,
dass alle chronischen Erkrankungen, die auf ionisierende
Strahlung zurückgeführt werden können, vom Gesetzge-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 18185
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(B) (D)
ber als entschädigungsfähig anerkannt werden, sofern die
betroffenen Antragsteller im Rahmen ihrer Dienstaus-
übung an entsprechenden Geräten gearbeitet haben .
Damit würden keineswegs die Schleusen geöffnet, der
Personenkreis bliebe überschaubar . Wir wollen den Ra-
dargeschädigten unbürokratisch helfen, weil viele von
ihnen den ursächlichen Zusammenhang heute oft nicht
mehr lückenlos belegen können . Wegen der lange Zeit
unterschätzten Gefahr, die von den damaligen Radarge-
räten ausging, gab es keine hinreichenden Dokumenta-
tionspflichten. Das darf den heute Erkrankten jedoch
nicht zum Nachteil gereichen .
So weit geht der interfraktionelle Antrag nicht . Er
enthält zwar einige substanzielle Verbesserungen für die
Betroffenen . Wir werden dennoch die Umsetzungsmaß-
nahmen aufmerksam verfolgen und die Bundesregierung
an ihren konkreten Taten messen .
Doris Wagner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wenn
wir heute die Entschädigung für Radargeschädigte der
Bundeswehr und der ehemaligen NVA verbessern, dann
war dies ein langwieriger und steiniger Weg . Die Art
und Weise, in der das Bundesverteidigungsministerium
bisher mit den Radargeschädigten umgegangen ist, ent-
spricht so gar nicht dem hehren Leitbild, demzufolge die
Bundeswehr ihre Soldatinnen und Soldaten umfassend
umsorgt, im Gegenteil .
Menschen, die durch den Dienst in den Streitkräften
ihre Gesundheit verloren haben, wurden jahrelang zu läs-
tigen Bittstellern degradiert . Soldaten, die auf die Loyali-
tät und Treue ihres Dienstherrn vertraut haben, wurden in
diesem Vertrauen bitter enttäuscht .
Deshalb bin ich froh, dass es uns in langen Verhand-
lungen gelungen ist, uns auf einige zentrale Verbesserun-
gen für die Radargeschädigten zu verständigen . Aber ich
will Ihnen nicht verhehlen: Ich habe mich in diesem Pro-
zess mehr als einmal für unseren Staat geschämt!
Seit 15 Jahren wissen wir nun: Soldaten der beiden
deutschen Armeen waren bis in die 1980er-Jahre unwis-
send ionisierender Strahlung ausgesetzt und sind teilwei-
se schwer erkrankt . Die Reaktion der Politik auf Bekannt-
werden der ersten Fälle erfolgte relativ fix: Schon 2002
wurde eine Kommission eingesetzt, die Zusammenhänge
zwischen Radarstrahlung und Erkrankungen untersuchte .
2003 wurde vorgeschlagen, für bestimmte Erkrankungen
Wehrdienstbeschädigungen anzuerkennen . Viele Betrof-
fene warteten aber vergebens auf Unterstützung . Einige
werfen der Bundesregierung vor, sie spiele auf Zeit und
verzögere Verfahren, bis die Opfer nicht mehr klagen
können oder wollen .
In der Tat sind der Verwaltung einige Vorwürfe zu ma-
chen:
da wurden wissenschaftliche Gutachten zum Zusam-
menhang zwischen Strahlung und konkreten Erkrankun-
gen ignoriert;
da wurden Entschädigungsanträge mit dem Argument
abgelehnt, die Opfer könnten ja den Vollbeweis zur An-
erkennung einer Wehrdienstbeschädigung erbringen;
wohlwissend, dass hierzu die nötigen „Beweise“ rein
faktisch gar nicht mehr erbracht werden können;
da dauerte es Jahre, bis das BMVg Stellungnahmen
abgab und da zogen sich Gerichtsverfahren über zehn
und mehr Jahre hin . Ein Richter stellte sogar unumwun-
den fest, dass die Bundeswehrverwaltung um argumenta-
tive Tricks und Kniffe nicht verlegen war, wenn es darum
ging, berechtigte Ansprüche des Klägers abzuwehren .
Man mag zur Bundeswehr und zur NVA stehen wie
man will . Aber wenn Menschen im Auftrag des Staa-
tes handeln und dabei ihre Gesundheit verlieren, dann
muss der Staat hinterher doch den Anstand haben, diese
Menschen angemessen zu entschädigen und sie zu un-
terstützen, wo immer sie Hilfe brauchen! Die Bundes-
wehrverwaltung hat viele geschädigte Soldaten über ein
Jahrzehnt hingehalten und mit einer verletzenden Arro-
ganz einfach abgewimmelt . Gleichzeitig versucht das
Verteidigungsministerium in teuren PR-Kampagnen alle
Welt davon zu überzeugen, wie unglaublich attraktiv die
Bundeswehr als Arbeitgeber ist .
Leider zeugt auch die Entstehungsgeschichte unse-
res gemeinsamen Antrags davon, dass das Wohlergehen
der geschädigten Soldaten nicht bei allen Abgeordneten
oberste Priorität genießt . Meine Fraktion hat in dieser
Legislaturperiode allerlei schriftliche Fragen und Kleine
Anfragen zur Entschädigungspraxis gestellt . Letztes Jahr
haben wir im Verteidigungsausschuss einen Antrag ein-
gebracht, der deutlich weitreichendere Forderungen zum
Umgang mit den Radargeschädigten enthielt .
Nach einigen Verzögerungen vonseiten des Ministe-
riums und nach einigem rein parteipolitisch motivierten
Geplänkel vonseiten der Union steht heute immerhin ein
interfraktioneller Antrag . Dieser Antrag ist ein Kompro-
miss . Wir Grünen wären gerne weiter gegangen, aber
entscheidend ist: Der Antrag verbessert die Lage der be-
troffenen Soldaten: Gutartige Tumoren werden als mög-
liche Erkrankungen in den Entschädigungskatalog auf-
genommen, das Bundesministerium will die abgelehnten
Fälle von Amts wegen neu und rasch prüfen . Mögliche
Genschäden durch Radarstrahlung werden endlich unter-
sucht . Ich hoffe, dass auch andere Erkrankungen künf-
tig schneller überprüft werden, sobald es Anzeichen auf
Zusammenhänge zu Radarstrahlung gibt . Die Deutsche
Härtefallstiftung wird aufgestockt, insbesondere auch,
um Bedürftigen, die keinen Anspruch auf eine Renten-
versorgung bekommen, unterstützen zu können .
Wie gesagt: Der Antrag verbessert die Lage der Betrof-
fenen und ist im Sinne aller Fraktionen . Reichlich albern
und kaum zu verstehen ist deshalb, warum die Union sich
hier gegen eine Mitzeichnung der Linken gewehrt hat .
Das ist eine vertane Chance, klarzumachen, dass das Par-
lament hier mit einer Stimme spricht . Ein gemeinsamer
Antrag aller Fraktionen hätte auch den Alternativantrag
der Linken überflüssig gemacht. Der ist inhaltlich sehr
gut . Denn er besteht zur einen Hälfte aus wortgleichen
Formulierungen und Forderungen, die wir Grüne bereits
in unserem Antrag als Drucksache 18/6649 in den Bun-
destag eingebracht hatten, und zur anderen Hälfte aus
den Punkten des interfraktionellen Antrags, den wir heu-
te abstimmen . Aber formal, sehr geehrte Abgeordnete der
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 201618186
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Linken, empfehle ich, zumindest eine gewisse Schonfrist
vergehen zu lassen, bevor man Anträge von Bündnis 90/
Die Grünen umetikettiert und seine eigene Unterschrift
darunter setzt .
Entscheidend aber ist, wie zügig und ordentlich die
Entscheidungen jetzt umgesetzt werden . Wir Grüne wer-
den der Bundesregierung weiterhin streng auf die Finger
schauen, wenn es um den Umgang mit geschädigten Sol-
datinnen und Soldaten geht . Wir werden weiterhin unbe-
queme Fragen stellen . Und wir werden uns weiterhin für
Verbesserungen einsetzen und auf eine unbürokratische
und großzügige Entschädigungspraxis drängen . Denn die
Frage, wie die Bundeswehr mit Menschen umgeht, die
im Dienst gesundheitliche Schäden erlitten haben, wird
uns aufgrund der Auslandseinsätze künftig sehr viel häu-
figer beschäftigen als bisher. Und wir alle sollten unser
Bestes tun, damit sich ein solches moralisches Versagen
wie im Falle der Radargeschädigten in der Bundeswehr
nicht mehr wiederholt!
Anlage 21
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, SPD
und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Unterstützung für den Friedensprozess in Ko-
lumbien
– des Antrags der Abgeordneten Heike Hänsel,
Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion DIE LINKE: Für
den Frieden in Kolumbien – Paramilitarismus
konsequent bekämpfen
(Tagesordnungspunkt 26 a und b)
Dr. Bernd Fabritius (CDU/CSU): Der innerstaatli-
che bewaffnete Konflikt in Kolumbien dauert nun bereits
seit über 50 Jahren an . Ein Zeitraum, der gleich mehrere
Generationen umfasst, die nie etwas anderes kennenge-
lernt haben, als Krieg und Gewalt . Der kolumbianische
Präsident Juan Manuel Santos war 15 Jahre alt, als der
Konflikt ausbrach. Bei der Unterzeichnung des unbefris-
teten Waffenstillstandes vor zwei Wochen sagte er: „Wir
haben nicht die geringste Erinnerung daran, was es heißt,
in Frieden zu leben“ .
Bei derartigen Konflikten sinken die Chancen für ei-
nen stabilen Waffenstillstand und einen dauerhaften Frie-
den mit jedem Jahr und jedem Opfer weiter . Nach einem
halben Jahrhundert der bewaffneten Auseinandersetzung
und nachdem 225 000 Menschen in diesem Krieg ihr Le-
ben verlieren mussten, ist ein Friedensabkommen eine
unglaublich große diplomatische Leistung . Es beinhaltet
die langersehnte Aussicht auf Frieden für die kommende
Generation .
Der besondere Einsatz der Regierungen Kubas und
Norwegens sowie die Unterstützung der kolumbiani-
schen Bischofskonferenz haben maßgeblich zum Erfolg
der Friedensverhandlungen beigetragen und werden im
vorliegenden Antrag auch entsprechend gewürdigt . Für
diese positive Entwicklung ist die kolumbianische Be-
völkerung sicher ebenfalls sehr dankbar, sie wird nun-
mehr hoffentlich einer Zeit des Friedens und des Wohl-
stands entgegenblicken können .
Bis dahin ist es allerdings noch ein langer Weg . Mehr
als 6 Millionen Kolumbianer leben als Binnenflüchtlin-
ge im eigenen Land . Viele Gebiete werden durch die
vielfach ausgebrachten Landminen noch für Jahre unbe-
wohnbar bleiben . Noch lange Zeit nach dem Waffenstill-
stand und einem abzuschließenden Friedensabkommen
werden diese geächteten Kriegsmittel vermutlich Ursa-
che für steigende Opferzahlen sein, bedenkt man, dass
bis Ende 2014 in Kolumbien 11 000 Menschen durch
Minen verletzt wurden oder ihr Leben verloren .
Nach den physischen Hinterlassenschaften des Krie-
ges werden es die seelischen Verletzungen sein, welche
der Heilung bedürfen . Es wird Jahrzehnte dauern, bis ein
Frieden auf dem Papier auch in den Köpfen der Men-
schen ankommt . Im Antrag fordern wir die Bundesregie-
rung demnach auch auf, „die deutschen Erfahrungen im
Umgang mit der Aufarbeitung der Geschichte des Kon-
flikts, der Versöhnung und der Erinnerungskultur in die-
sen Prozess einzubringen“ .
Bei einer solchen Nachbereitung bewaffneter Konflik-
te haben sich die auswärtige Kultur- und Bildungspolitik
sowie die zivile Krisenprävention als nachhaltige Instru-
mente erwiesen . Das Goethe-Institut in Bogotá und die
durch das Goethe-Institut geförderten Kulturgesellschaf-
ten in Colombo, Cartagena und Medellín waren und blei-
ben Schutzräume der Begegnung und des Austauschs .
Durch das geplante Deutsch-Kolumbianische Friedens-
institut in Bogotá wird dieses Angebot sinnvoll erweitert .
Auch eine Ausbildung an den aus Mitteln der auswär-
tigen Kultur- und Bildungspolitik geförderten Schulen in
Kolumbien wird dazu beitragen, die wehrlosesten Opfer
dieses Konflikts, die zwangsrekrutierten Kinder- und Ju-
gendsoldaten, in die Gesellschaft zu reintegrieren . Der
jungen Generation Kolumbiens, insbesondere in den
Konfliktgebieten in den ländlichen Regionen, muss eine
Zukunftsperspektive geboten werden, um zu verhindern,
dass sie den Verlockungen krimineller Banden erliegen .
Deren Erstarken muss deshalb im Zuge einer Demobili-
sierung der Guerillagruppen unbedingt verhindert wer-
den .
Auch die Resozialisierung älterer Guerillakämpfer ist
eine wichtige Voraussetzung für einen dauerhaften Frie-
den . Ohne wirtschaftliche und soziale Partizipation wird
der Weg der Gewalt und der Kriminalität für sie eine Al-
ternative zu Armut und Hunger bleiben .
Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusam-
menarbeit und Entwicklung und Bundesminister Gerd
Müller haben deshalb ein Beratungsprogramm für nach-
haltige Arbeitsplätze und Einkommen in den ländlichen
Regionen Meta und Norte de Santander geschaffen, die
besonders vom Konflikt betroffen waren. Unter anderem
werden dort regionale Bauernmärkte gefördert, um in
den schwer zugänglichen Regionen lokale Absatzplatt-
formen zu schaffen .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 18187
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All diese Maßnahmen werden hoffentlich dabei hel-
fen, dass aus dem Waffenstillstand ein echter und dau-
erhafter Frieden wird . Mag dieser Antrag auch nur ein
kleiner Schritt auf diesem Weg sein: Deutschland kann
dazu beitragen, dieses Ziel zu erreichen .
Dr. Andreas Nick (CDU/CSU): Seit vier Jahren lau-
fen die offiziellen Gespräche zwischen der kolumbiani-
schen Regierung und der FARC (Fuerzas Armadas Re-
volucionarias de Colombia – Revolutionäre Streitkräfte
Kolumbiens) zur Beendigung des bereits seit Jahrzehnten
andauernden innerstaatlichen bewaffneten Konfliktes.
Über 225 000 Menschen verloren im Verlauf dieses
Konflikts ihr Leben, 6,5 Millionen wurden zu Flüchtlin-
gen im eigenen Land . Insgesamt 8,5 Millionen Kolum-
bianer waren und sind direkt vom Konflikt betroffen, als
Opfer von Verschleppungen, Entführungen und sexuali-
sierter Gewalt .
Mit dem erst vor zwei Wochen geschlossenen Waffen-
stillstand mit der FARC wurde ein wichtiges Etappenziel
auf dem Weg zur Schaffung eines stabilen und dauerhaf-
ten Friedens im Land erreicht . Diese Entwicklungen sind
vor allem auch ein Lichtblick für die Bevölkerung Ko-
lumbiens, die seit über 50 Jahren unter den schrecklichen
Auswirkungen des Konflikts leiden musste.
Deutschland und Kolumbien pflegen seit langem enge
politische, kulturelle und wirtschaftliche Beziehungen .
Im Februar 2015 konnte ich Außenminister Frank-Walter
Steinmeier bei seiner Reise nach Kolumbien begleiten .
Unser Kollege Tom Koenigs wurde im Nachgang zu un-
serer gemeinsamen Reise zum Beauftragten zur Unter-
stützung des Friedensprozesses in Kolumbien bestellt .
Wir danken Tom Koenigs für seine Arbeit und wünschen
ihm weiterhin viel Kraft und Erfolg .
Auch zahlreiche deutsche Nichtregierungsorganisa-
tionen, vor allem unsere politischen Stiftungen wie die
Konrad-Adenauer-Stiftung, leisten seit Jahrzehnten ei-
nen ebenso wichtigen wie unverzichtbaren Beitrag zu
Frieden, Demokratie und Entwicklung in Kolumbien .
Dies wurde auch im Gespräch mit einer breit aufgestell-
ten Delegation der kolumbianischen Zivilgesellschaft
deutlich, das ich in Berlin vor wenigen Wochen führen
konnte, an dem auch der Erzbischof von Cali teilnahm .
Die geplante Einrichtung eines Deutsch-Kolumbiani-
schen Friedensinstituts in Bogotá (DKFI), das den lau-
fenden Friedensprozess auf der Ebene von Forschung
und Lehre begleiten wird, ist ein wichtiger Schritt hin
zu einer nachhaltigen Aufarbeitung des Konfliktes. Als
Deutsche können wir dabei unsere eigenen Erfahrungen
im Umgang mit der Aufarbeitung einer schwierigen Ge-
schichte teilen, um auf diese Weise die Aussöhnung in
Kolumbien zu unterstützen .
Trotz aller Hoffnung und positiven Entwicklungen
gilt: Kolumbien hat noch einen weiten Weg hin zu einem
stabilen Frieden vor sich . Dem Gewaltverzicht muss eine
dauerhafte Aufarbeitung des Konfliktes folgen, vor allem
aber die politische Lösung der Konfliktursachen in einem
demokratischen Prozess .
Die kolumbianische Gesellschaft muss selbst zu ei-
nem inneren Frieden finden. Ein mögliches Abkommen
braucht daher eine möglichst breite Zustimmung in der
Bevölkerung, beim Militär und bei den wichtigsten poli-
tischen und wirtschaftlichen Eliten .
Die Zustimmung wird sich nicht nur im Ergebnis ei-
nes zu entscheidenden Referendums über einen zukünf-
tigen Friedensvertrag widerspiegeln, sondern auch in der
praktischen Umsetzung beweisen müssen . Dazu gehört
auch die Frage der strafrechtlichen Aufarbeitung als eine
der größten Herausforderungen .
Im Rahmen unseres Besuchs, vor allem bei dem Ge-
spräch in einem Resozialisierungszentrum für ehemalige
Guerilleros, wurde deutlich, dass viele Menschen in die-
sem Konflikt Täter und Opfer zugleich waren.
Besonders beeindruckt hat mich der aufwühlende
Bericht einer jungen Frau, die als Jugendliche von der
FARC unter Todesandrohung aus ihrem Elternhaus
zwangsrekrutiert wurde . Wir sprachen mit Menschen, die
auf verschiedenen Seiten gekämpft haben – und doch oft-
mals das gleiche Schicksal teilten . Deutlich wurde, wie
wichtig die friedliche Wiedereingliederung ehemaliger
FARC-Guerilla und anderer Gruppen für einen dauerhaf-
ten Frieden im Land ist .
Im Sinne der „Transitional Justice“, bei der nicht die
Bestrafung, sondern die Wiederherstellung der Würde
der Opfer im Mittelpunkt steht, müssen alle Fakten of-
fengelegt werden und die Täter dazu gebracht werden,
ihre Verbrechen anzuerkennen . Nur dadurch kann der
Konflikt dauerhaft aufgearbeitet werden, und es kann
eine Chance auf Versöhnung geben .
Eine besondere Herausforderung bei der Konsoli-
dierung des Friedens wird künftig die Schaffung eines
sicheren Lebensumfelds in den Konfliktregionen sein.
In großen Teilen der von der FARC kontrollierten Ter-
ritorien ist der Staat kaum oder fast gar nicht präsent . Es
muss verhindert werden, dass ein Machtvakuum vorran-
gig um kriminelle Strukturen herum errichtet wird . Um
der Bevölkerung zukünftig legale Erwerbsmöglichkeiten
zu bieten, ist eine Politik der integrierten landwirtschaft-
lichen Entwicklung unerlässlich – auch zur Bekämpfung
des Drogenanbaus .
Der Versöhnungsprozess bietet auch die große Chan-
ce, mit positiven Nachrichten aus Kolumbien neue Mög-
lichkeiten für eine nachhaltige wirtschaftliche Entwick-
lung zu eröffnen . Dadurch können neue Lebenschancen
in einem Land mit viel Potenzial ermöglicht werden,
auch durch eine engere wirtschaftliche Zusammenarbeit
mit Deutschland und dem Engagement deutscher Unter-
nehmen in Kolumbien .
Mit unserem fraktionsübergreifenden Antrag unter-
stützen wir als Parlament Deutscher Bundestag aus-
drücklich den Friedensprozess in Kolumbien . Wir wün-
schen uns von allen politischen Kräften Kolumbiens und
der Gesellschaft des Landes einen konstruktiven Beitrag
zur Beendigung der Gewalt und eine aktive Unterstüt-
zung des Friedensprozess .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 201618188
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Klaus Barthel (SPD): Kolumbien steht am Schei-
deweg . Die Zahlen der Toten, Vertriebenen, Traumati-
sierten, Geflohenen, Verschwundenen, die über 50 Jahre
Bürgerkrieg verursacht haben, dürften im Zuge der jetzt
beginnenden Aufarbeitung eher nach oben korrigiert wer-
den . Nicht eingerechnet sind wohl bisher die Opfer, die
„im Windschatten“ dieses Konfliktes zu beklagen sind,
die Ermordeten, Verschwundenen, Eingeschüchterten,
Vergewaltigten . Auch bedingt durch den gewaltsamen
Konflikt, leidet Kolumbien unter dem teilweisen Fehlen
von Rechtsstaatlichkeit, staatlicher Handlungsfähigkeit
und Institutionalität, eines wirksamen Gewaltmonopols
sowie einer unabhängigen und funktionsfähigen Justiz .
Gleichzeitig hat Kolumbien enorme Potenziale in vie-
lerlei Hinsicht . Denkt man sich Bürgerkrieg und Gewalt
weg, nähme nur die Ressourcen, die der Binnenkonflikt
kostet, und den Verlust an Wachstum, an Produktivität,
an Konsum- und Investitionsmöglichkeiten, Kolumbien
gehörte zu den reichsten Ländern der Welt .
Dennoch ist der Weg zum Frieden noch mit vielen
Hürden und Schlaglöchern versehen . Die eigentliche
Arbeit beginnt mit dem Friedensschluss . Andere Redner
werden das auch verdeutlichen, der Antrag der Koalition
benennt es, auch der Antrag der Linksfraktion .
Uns allen muss klar sein: Es gibt jetzt keine Sieger
und Besiegten . Alle müssen sich aufeinander zubewegen
und erkennen: Bei einem Friedensprozess wird es mittel-
und langfristig Gewinnerinnen und Gewinner in großer
Zahl geben . Wenn der Frieden scheitert, werden Kolum-
bien insgesamt und die Mehrheit der Bevölkerung verlie-
ren . Dennoch besteht Gefahr von derjenigen mächtigen
Minderheit, die von Armut, Gewalt, Krieg und Unterdrü-
ckung profitiert.
Deshalb ist es so wichtig, dass es heute vom Deut-
schen Bundestag ein gemeinsames klares Signal gibt:
Diejenigen Kräfte in Kolumbien, die den Friedenspro-
zess torpedieren wollen, können von keiner Seite aus
befreundeten Ländern mit Sympathie oder Unterstützung
rechnen . Der Deutsche Bundestag schließt sich auch der
konsensuellen Position des US-Kongresses an . Deshalb
bin ich sehr froh, dass heute Koalition und Opposition
gemeinsam abstimmen . Einmal mehr stellt sich damit
auch die Frage, weshalb die Linksfraktion grundsätz-
lich von der Erarbeitung solcher Anträge ausgeschlossen
bleiben muss . Auch wir brauchen hier eine neue Kultur
der Zusammenarbeit – auch bei fortbestehenden Mei-
nungsunterschieden .
Die Komplexität des langjährigen Konfliktes hat auch
zur Folge, dass seine Aufarbeitung schon deshalb sorg-
fältig, differenziert und längerfristig angegangen bzw .
fortgesetzt werden muss, weil es einfache Täterinnen/
Täter-Opfer-Rollenzuweisungen kaum geben kann . Dies
gilt sowohl für die einzelnen Menschen, die auf der einen
oder anderen Seite gekämpft haben, als auch für Organi-
sationen und Institutionen, seien es Polizei und Militär,
Paramilitärs, FARC, politisch Verantwortliche oder die
Kirche . Das heißt nicht, dass alle gleich schuldig sind,
Verantwortung verwischt werden kann oder eine Gene-
ralamnestie angemessen ist . Es heißt aber, dass sorgfäl-
tige Aufarbeitung, Wiedergutmachung und Versöhnung
im Vordergrund stehen müssen, aber Schuldige bestraft
werden, auch abhängig davon, was sie zur Aufarbeitung
beitragen .
Dies muss aber in Kolumbien selbst durch den Frie-
densvertrag geregelt und rechtsstaatlich abgesichert wer-
den . Unser Beschlussvorschlag versteht sich daher auch
als Unterstützung für die Aktivitäten der Bundesregie-
rung in Kolumbien, die demonstrativ und praktisch den
Friedensprozess unterstützt . Dies drückt sich auch in der
Ernennung des Sonderbeauftragten Tom Koenigs aus, für
dessen Arbeit und Engagement wir uns ausdrücklich be-
danken .
Gleichzeitig – und das findet bisher zu wenig Auf-
merksamkeit – braucht Kolumbien eine langfristige Stra-
tegie, um den Ursachenkern des Gewaltkonfliktes be-
kämpfen zu können: die enorme, weltweit im Spitzenfeld
liegende Ungleichheit an Vermögen, Grundbesitz und
Einkommen .
Der Frieden ist kein Eliteprojekt . Deshalb braucht er
nicht nur die passive Duldung der Bevölkerung, sondern
die aktive Teilnahme der bisher wirtschaftlich abge-
hängten Bevölkerungsmehrheit . Deshalb regen wir die
Ingangsetzung und Institutionalisierung eines breiten
gesellschaftlichen Dialoges an, um Landnutzungs- und
-besitzkonflikte zu entschärfen, um Gewerkschaften und
andere zivilgesellschaftliche Organisationen zu schützen
und zu stärken und um alle Teile der Bevölkerung am
potenziell enormen Reichtum des Landes teilhaben zu
lassen . Dazu gehört auch eine Steuerpolitik, die an den
Spitzeneinkommen und Vermögen anknüpft, anstatt nur
am Rohstoffabbau und Verbrauchsbesteuerung . Die EU
und Deutschland tragen dabei Mitverantwortung . So ist
in der Präambel und in einigen Passagen des Freihandel-
sabkommens der EU mit Kolumbien und Peru eindeutig
ein solcher Dialog angelegt, und es sind auch Gremien
dafür vorgesehen .
Wir fordern Bundesregierung und EU-Kommission
dazu auf, den Ankündigungen, die es vor Abschluss des
Abkommens in dieser Hinsicht gab, jetzt Taten folgen
zu lassen . Ich erinnere daran, dass wir als SPD-Bundes-
tagsfraktion wegen der Unverbindlichkeit der Nachhal-
tigkeitsaspekte dieses Freihandelsabkommen abgelehnt
haben . Derzeit können wir nicht einmal im Ansatz er-
kennen, dass wenigstens diese unverbindlichen Dekla-
rationen und Gremien überhaupt im Land bekannt sind,
geschweige denn daran angeknüpft wird .
Auch deshalb müssen wir im Sinne des Friedenspro-
zesses unsere Verantwortung wahrnehmen, wo immer
dies möglich ist . Hier steht auch unsere Handelspolitik
auf dem Prüfstand .
Edelgard Bulmahn (SPD): 52 Jahre hat der bewaff-
nete Konflikt in Kolumbien angedauert. Er hat unend-
lich großes Leid über die Bevölkerung gebracht – durch
Menschenrechtsverletzungen, Terrorakte und Aktivitäten
unterschiedlicher bewaffneter Gruppen . Rund 8,5 Mil-
lionen Menschen wurden Opfer von Gewalt, systema-
tischer Vertreibung, Verschleppung, Entführung und
Zwangsrekrutierung . 6,5 Millionen Menschen wurden zu
Vertriebenen im eigenen Land . Etwa 225 000 Menschen,
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 18189
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darunter besonders Frauen, Afrokolumbianer und Indige-
ne, wurden getötet .
In diesen Tagen stehen wir nun endlich kurz vor dem
Abschluss eines umfassenden Friedensvertrages zwi-
schen der kolumbianischen Regierung und der Rebellen-
gruppe FARC . In den vergangenen Jahren wurden zwi-
schen Regierung und FARC vier Kapitel dieses Vertrages
verhandelt . Einigungen konnten bereits zwischen 2013
bis 2015 zu den Kapiteln Landreform, politische Teil-
habe, Drogenanbau und Übergangsjustiz/Opferentschä-
digung erzielt werden . Die Verhandlungen zum fünften
und schwierigsten Kapitel „Beendigung des bewaffneten
Konflikts“ zogen sich jedoch hin, bis vor zwei Wochen.
Am 23 . Juni verkündeten der kolumbianische Präsident
Santos und FARC-Chef Timoschenko im Beisein von
UN-Generalsekretär Ban Ki-moon und anderen hochran-
gigen internationalen Vertretern die Einigung auf einen
Waffenstillstand, die Niederlegung der Waffen durch die
FARC und die Reintegration der FARC-Kämpfer in die
kolumbianische Gesellschaft . Präsident Santos hat er-
klärt, dass er nach der Einigung beim Schlusskapitel nun
eine Unterzeichnung des gesamten Friedensvertrags bis
zum 20 . Juli anstrebt . Dieser Abschluss des Friedenspro-
zess stellt – und wir hoffen, es kommt so – eine histori-
sche Zäsur dar und eine riesige Chance für die kolumbi-
anische Gesellschaft nach fünf Jahrzehnten der Gewalt,
wenngleich ein Friedensschluss mit der letzten verblei-
benden Rebellengruppe ELN noch aussteht .
Zugleich aber steht Kolumbien vor der enormen He-
rausforderung, den Friedensvertrag umzusetzen . Die
Chancen für eine friedliche Entwicklung zu nutzen und
den Vertrag mit Leben zu füllen, ist die eigentliche Auf-
gabe, vor der nicht nur die kolumbianische Regierung,
sondern vor allem auch die gespaltene kolumbianische
Gesellschaft steht . Der uns vorliegende Antrag greift aus
unserer Sicht alle wichtigen Aspekte der politischen, so-
zialen und ökonomischen Herausforderungen, vor denen
Kolumbien steht, auf . Deutschland möchte als Partner
der kolumbianischen Gesellschaft auf dem Weg in eine
friedliche und ökonomisch prosperierende wie ökolo-
gisch nachhaltige Zukunft zur Seite stehen . Dieser An-
trag ist ein Angebot, die Umsetzung des Friedensvertra-
ges zu unterstützen .
Lassen Sie mich bei dieser Gelegenheit auf einen be-
sonderen Punkt aufmerksam machen, denn auf die wich-
tige Rolle der Kirche bei den Vermittlungsbemühungen
ist an anderer Stelle bereits hingewiesen worden . Hier
und heute sei auch das Verdienst der kolumbianischen
Frauen für den Frieden gewürdigt! Die kolumbianischen
Frauen haben auf mehrfache Weise unter dem Konflikt
gelitten, als Opfer von Gewalt und zugleich als beson-
ders Betroffene, die soziale und ökonomische Lasten des
Konflikts tragen mussten. Jene Frauen wie die, die vor
20 Jahren die Frauenrechtsorganisation Ruta Pacifica de
las Mujeres gegründet und sich entschieden haben, sich
gegen Krieg, Terror, sexuelle Gewalt und Ausbeutung
zur Wehr zu setzen, haben einen wesentlichen Beitrag
zur Ermöglichung des Friedensprozesses und des Frie-
densschlusses geleistet . Durch friedlichen Protest und
die Herstellung von Öffentlichkeit haben sie sich ganz
entscheidend um die Delegitimierung des Konfliktes ver-
dient gemacht . Das Engagement und die Beharrlichkeit
dieser vielen mutigen Frauen waren mitentscheidend da-
für, dass es überhaupt zu diesem Friedensprozess kom-
men konnte . Umso mehr gilt es hier zu betonen: Die
für den Frieden engagierten Frauen dürfen nicht in eine
Beobachterrolle gedrängt werden . Die Einbeziehung der
Frauenrechtsorganisationen wird auch für die Umsetzung
des Vertrages elementar sein, um die langfristige Befrie-
dung der Konfliktakteure und um die Überwindung der
Spaltung der kolumbianischen Gesellschaft zu erreichen .
Sie sollten daher auch bei der Implementierung der Frie-
densvereinbarung und einzelner Maßnahmen eine wich-
tige Rolle spielen . Nicht zuletzt darauf müssen wir unser
Augenmerk und unsere Anstrengungen richten, wenn wir
uns für Kolumbien eine friedliche Zukunft wünschen und
an dieser auch mitwirken wollen .
Heike Hänsel (DIE LINKE): Wir erleben eine his-
torische und hoffnungsvolle Zeit in Kolumbien . Der
längste interne bewaffnete Konflikt weltweit soll nach
mehr als 50 Jahren beigelegt werden; die Waffen sollen
schweigen .
Nach der Unterzeichnung eines bilateralen Waffen-
stillstandes zwischen der kolumbianischen Regierung
und der Guerillaorganisation FARC-EP am 23 . Juni 2016
in Havanna bereitet sich die kolumbianische Gesellschaft
auf die Phase der Waffenniederlegung vor .
Der Humus für einen nachhaltigen Frieden ist die ko-
lumbianische Zivilgesellschaft . Aber trotz der Fortschrit-
te bei den Friedensverhandlungen in Havanna, die erst
durch die Unterstützung der Regierungen der Republik
Kubas und Norwegen als Garanten möglich geworden
sind, häufen sich jedoch Übergriffe gegen Menschen-
rechtsverteidigerinnen und -verteidiger, Gewerkschafter
sowie Landrechts-, Friedens- und Umweltaktivistinnen
und -aktivisten . Es sind vor allem paramilitärische Grup-
pen, die soziale Bewegungen, Menschenrechtsaktivisten
und Kleinbauern terrorisieren . Seit Beginn der Friedens-
verhandlungen gab es 1 868 Übergriffe jeglicher Art, wie
versuchter Mord, telefonische und schriftliche Todesdro-
hungen und illegale geheimdienstliche Beschattung . In
der gleichen Zeit wurden zudem 287 Menschen ermor-
det . Allein für 2015 sind 682 Übergriffe und 63 Morde
registriert worden .
Die Zunahme der paramilitärischen Aktivitäten durch
Gruppierungen wie Los Urabenos, Aguilas Negras und
Clan Usuga gefährden das Leben der Kolumbianerinnen
und Kolumbianer und eine friedliche Entwicklung nach
der Unterzeichnung eines Friedensabkommens in Ko-
lumbien .
Der Paramilitarismus ist ein nach wie vor integraler
Bestandteil des Staates und dient der Durchsetzung eines
neoliberalen Wirtschaftsmodells . So spielen paramilitä-
rische Gruppen bei der illegalen Aneignung von Land
und Vertreibung von Kleinbauern für große Agrarunter-
nehmen eine entscheidende Rolle . Ebenso bei der Ver-
folgung und Ermordung von Gewerkschaftern, wodurch
der Kampf um Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmer-
rechte massiv geschwächt wird . Durch den Einsatz von
sexualisierter Gewalt gegen Frauen und brutalem Terror,
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 201618190
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wie zum Beispiel in den sogenannten „casas de pique“
in Buenaventura, sollen ganze Regionen ihrem Einfluss
unterworfen werden .
Nach wie vor sind Teile der politischen und wirt-
schaftlichen Eliten in Kolumbien in paramilitärische
Strukturen verstrickt, die aufgedeckt und zerschlagen
werden müssen, um zu einem nachhaltigen und gerech-
ten Frieden in Kolumbien beizutragen . Nach den Wahlen
zum kolumbianischen Senat 2010 waren nach Angaben
von Beobachtern 25 der 102 Senatoren direkt in den Pa-
ramilitarismus verstrickt, heute wird der Partei Centro
Democrático des ehemaligen Präsidenten und jetzigen
Senators Alvaro Uribe unter anderem Wahlkampffinan-
zierung aus paramilitärischen Quellen vorgeworfen .
Wenn der Friedensschluss in Kolumbien nachhaltig
umgesetzt werden soll, muss der erstarkende Paramili-
tarismus konsequent bekämpft werden . Dafür muss die
Bundesregierung ihren Druck auf die kolumbianische
Regierung erhöhen. 97 Prozent Straflosigkeit sind in-
akzeptabel . Auch deutsche Unternehmen, die Geschäfte
machen mit Unternehmen in Kolumbien, die Paramilitärs
finanzieren, zum Beispiel im Bereich des Steinkohleab-
baus, müssen zur Verantwortung gezogen werden . Wir
fordern auch, Menschenrechtsstandards in das EU-Ab-
kommen mit Kolumbien aufzunehmen, die Sanktionen
ermöglichen bei gravierenden Menschenrechtsverletzun-
gen .
Die Sicherheitsgarantien für alle, die in Kolumbi-
en politisch aktiv werden wollen, müssen ernsthaft und
nachhaltig umgesetzt werden . Es kann nicht sein, dass
jede/r, der/die für soziale Gerechtigkeit in Kolumbien
kämpft, sofort Todesdrohungen erhält . Dies betrifft auch
die zukünftigen politischen Akteure der demobilisierten
FARC . Zu tief sitzen die Erinnerungen an den Genozid
an der linken Partei Union Patriotica, die faktisch durch
die Ermordung Tausender Mitglieder ausgelöscht wurde .
Ebenso erging es den ehemaligen Kämpfern der Guerilla
M-19 . Viele von ihnen wurden später ermordet .
Auch der Staat seinerseits kriminalisiert durch Straf-
anzeigen und strafrechtliche Verfahren, auf Grundlage
zweifelhafter Beweise und Zeugen, Menschenrechts-
verteidigerinnen und -verteidiger, Menschenrechtsorga-
nisationen und linke, oppositionelle Politikerinnen und
Politiker . Die bekanntesten Fälle betreffen die Politiker
Piedad Córdoba und Iván Cepeda Castro, den Soziologen
Miguel Ángel Beltrán, den Menschenrechtsverteidiger
David Rabelo, den Gewerkschafter Hubert Ballesteros
und Feliciano Valencia, Kämpfer für die indigenen Rech-
te . Diese politisch motivierten Verfahren müssen einge-
stellt und Verurteilungen neu untersucht werden .
Die Bundesregierung kann mit der finanziellen Un-
terstützung von Friedensorganisationen die Zivilge-
sellschaft stärken . Es gibt viele gute Initiativen, die
Friedens- und Widerstandsgemeinden, eine Friedensuni-
versität von Justicia y Paz und eine unabhängige Kom-
mission zur Überwachung der Nichtwiederholung von
Verbrechen gegen die Menschlichkeit . Die Friedensorga-
nisationen müssen auf alle Fälle in die Projektplanungen
einbezogen werden .
Im Rahmen der EZ muss aber auch ausgeschlossen
werden, dass die geplante wirtschaftliche Entwicklung
der ehemaligen Konfliktregionen zu neuen Konflikten
bei Landbesitz und Rohstoffabbau führt .
Für eine friedliche Entwicklung in Kolumbien ist es
notwendig, dass ein Polizeigesetz für Friedenszeiten
verabschiedet wird und nicht, wie gerade, ein Gesetz
mit Sondervollmachten für Festnahmen und Hausdurch-
suchungen ohne Gerichtsbeschluss im Kongress verab-
schiedet wird .
Die Militärdoktrin der nationalen Sicherheit in Ko-
lumbien muss ad acta gelegt werden, und die Zahl der
über 500 000 Soldatinnen und Soldaten muss deutlich
reduziert werden . Von der Einbindung in die GSVP-Mis-
sionen der EU wie Atalanta oder EUAM in der Ukraine
und der Kooperationsvereinbarung mit der NATO halten
wir nichts . Das ist nicht für den Frieden förderlich und
muss beendet werden .
Noch ein Wort zum Antrag der Bundesregierung und
der Grünen: Sehr gerne hätten wir an diesem gemeinsa-
men Antrag mitgearbeitet . Die Fraktion Die Linke war
nicht gefragt worden . Diese Politik der Ausgrenzung ist
kurzsichtig und kontraproduktiv . Trotzdem werden wir
den Antrag unterstützen, um ein gemeinsames Zeichen
nach Kolumbien zu schicken: Frieden ist möglich!
Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): 1974
war ich zum ersten Mal in Kolumbien . Auf Reisen per
Bus, zu Pferd und zu Fuß habe ich die wunderbare Land-
schaft, die Herzlichkeit der Menschen und den Reichtum
der Kultur des Landes kennengelernt . Ich bin ein Freund
Kolumbiens geblieben und zu einem großen Bewunde-
rer vor allem der kolumbianischen Literatur geworden .
Ende der 1970er-Jahre erreichte der bewaffnete Kampf
zwischen der kolumbianischen Regierung und den be-
waffneten Gruppen furchtbare Höhepunkte . Beide Seiten
zogen die Zivilbevölkerung mehr und mehr in den Krieg
mit hinein, mit schrecklichen Folgen .
Heute, 40 Jahre später, nach 6,5 Millionen Binnenver-
triebenen und über 340 000 Toten, hat Kolumbien endlich
eine realistische Perspektive auf einen dauerhaften und
stabilen Frieden . Dies ist eine historische Chance, zu der
alle gesellschaftlichen Gruppen im Land und alle Freun-
de Kolumbiens ihren Beitrag leisten sollten . Seit fünf
Jahren verhandeln die kolumbianische Regierung und
die FARC-Guerilla . Sie haben viel erreicht: die Verein-
barungen zur Landentwicklung, zur politischen Beteili-
gung, zur Bekämpfung der Drogenkriminalität sowie die
Einigung auf eine Sondergerichtsbarkeit für den Frieden
zur Aufarbeitung der vielen grausigen Verbrechen in die-
sem Krieg und auf eine Wahrheitskommission . Mit der
Unterzeichnung des bilateralen Waffenstillstands wurde
jetzt der letzte entscheidende Durchbruch erzielt . Dieser
Weg hat beiden Seiten einen großen Friedenswillen und
viel Kompromissbereitschaft abverlangt . Ich beglück-
wünsche Präsident Santos, Comandante Timoschenko
und die beiden Verhandlungsteams für ihren Mut und
ihre Entschlossenheit und versichere, dass wir den Frie-
densprozess weiter mit allen Kräften unterstützen wer-
den .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 18191
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Deutschland hat besondere Beziehungen zu Kolum-
bien . Die wichtigsten sind kultureller, wissenschaftlicher
und persönlicher Art . Deutschland hat mit Kolumbien
keine koloniale, keine postkoloniale und auch keine neo-
liberale Beziehung, sondern eine kollegiale . Bester Aus-
druck dafür sind die 160 Abkommen zwischen deutschen
und kolumbianischen Universitäten sowie Tausende Stu-
dierende, die von Kolumbien nach Deutschland und von
Deutschland nach Kolumbien gehen, um unsere gemein-
same Zukunft zu schaffen .
Frieden durch Beteiligung, Integration, Verhandlun-
gen und demokratische Reformen – das ist der Weg, den
Kolumbien geht; das ist der Weg der Krisenprävention
und Krisenbehandlung, den Deutschland unterstützt . Für
diesen Weg brauchen wir beide, Deutschland und Ko-
lumbien, Entschlossenheit zum Frieden und Mut zu Er-
gebnissen ohne Sieger und Besiegte . Friedensgespräche
müssen auf Augenhöhe geführt werden und die Verein-
barungen langfristig und verlässlich sein . Dieser Weg ist
auch unser Weg .
Mehr Demokratie zu wagen, wie es Kolumbien tut,
ist eine Herausforderung und ein Risiko . Aber es kann
gelingen, wenn Politik statt auf Schuldzuweisungen auf
Versöhnung setzt .
Das Verhandlungsergebnis zur Sonderjustiz für den
Frieden bedeutet weder Vergessen noch Straflosigkeit.
Es bedeutet Wahrheit, Ermittlung und Aufklärung unter
Einbeziehung der Opfer und unter Mitarbeit der Täter . Es
geht auch um Wahrhaftigkeit . Die Verhandlungsergeb-
nisse zur juristischen Aufarbeitung gehen weiter als in
den früheren Friedensprozessen in Lateinamerika .
Auch der Frieden hat seine Konjunktur . Für den Frie-
den mit der FARC haben sich Norwegen, Kuba, Vene-
zuela und Chile engagiert . Die Vereinigten Staaten spiel-
ten eine wichtige Rolle . Für den Frieden mit der ELN, wo
die öffentlichen Verhandlungen noch ausstehen, können
sich noch weitere Staaten engagieren, auch Deutschland .
Ohne den Frieden mit der letzten Guerilla-Gruppe bleibt
der Prozess unvollkommen und birgt neue Gefahren . Die
Zeit für den Frieden mit der ELN ist jetzt .
Der heute vorliegende Antrag soll die Zusammenar-
beit zwischen Deutschland und Kolumbien parlamenta-
risch und demokratisch besiegeln und unsere Unterstüt-
zung für den Friedensprozess langfristig sichern . Das
ist im Interesse Deutschlands und Kolumbiens und aller
Freundinnen und Freunde des Landes . Wir haben ein In-
teresse an Kultur und demokratischer Politik, an Koope-
ration im Klimaschutz und an einer Zusammenarbeit der
Zivilgesellschaften sowie der Parlamente und Regierun-
gen hier und dort . Kolumbien ist dabei, ein neues Kapitel
in der Geschichte des Landes aufzuschlagen . Wir sind
stolz, dabei zu sein .
Anlage 22
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur
Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch
und anderer Gesetze (6. SGB IV-Änderungsge-
setz – 6. SGB IV-ÄndG) (Tagesordnungspunkt 27)
Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU): Wie schon
in der ersten Lesung angekündigt, können wir heute ein
Gesetz zur Optimierung der Meldeverfahren in der so-
zialen Sicherung verabschieden, von dem wirklich alle
Beteiligten profitieren: die Bürger, die Arbeitgeber und
die Sozialversicherungsträger . Es wird besser . Es wird
einfacher . Und es wird günstiger . Von welchem anderen
Gesetz kann man das schon behaupten?
Durch die gemeinsame, verschlüsselte Datenübertra-
gungsbasis haben sich seit dem Jahr 2006 große Potenzia-
le der Entbürokratisierung ergeben . Alle Verfahrensbetei-
ligten – also sowohl Arbeitgeber, Softwareunternehmen
und Sozialversicherungsträger – sehen das System
grundsätzlich als durchdacht, sicher und sparsam an .
Trotzdem gibt es natürlich auch hier noch Optimie-
rungspotenziale . Das hatte die schwarz-gelbe Koalition
erkannt und im Jahr 2011 das Projekt „Optimiertes Mel-
deverfahren in der sozialen Sicherung“ (OMS) gestartet .
Nun können wir die Früchte dieser Arbeit ernten . Und
der Baum, an dem diese Früchte hängen, ist groß . Denn
bei dem Meldeverfahren handelt es sich um das größte
und komplexeste Massenverfahren zur Weitergabe von
Informationen von den Arbeitgebern an öffentliche Stel-
len in Deutschland . Die potenzielle Ernte ist also eben-
falls groß .
Mit dem vorliegenden Gesetz wollen wir nun erst
einmal die aus dem vergangenen Jahr übrig gebliebenen
Verbesserungsvorschläge aus dem OMS-Projekt umset-
zen . Damit wird es pro Jahr immerhin weitere 43 Millio-
nen Euro weniger Erfüllungsaufwand für die Wirtschaft
geben . Zu den Maßnahmen gehören zum Beispiel der
Einsatz einer maschinenlesbaren Verschlüsselung der
Daten auf dem Sozialversicherungsausweis oder auch
die Umsetzung einer automatisierten Übertragung der
Anträge und Bescheinigungen über die Fortgeltung des
Versicherungsschutzes im Ausland .
Das hört sich alles sehr kleinteilig an – fast nach mehr
Bürokratie als nach weniger . Aber es sind genau diese
Feinjustierungen, die im Endeffekt weniger Aufwand be-
deuten .
Auch die weiteren gesetzlichen Änderungen, die mit
dem vorliegenden Gesetz vorgenommen werden, sind
keine Revolutionen . Sie bringen aber dort kleine Ver-
änderungen, wo sie nötig sind . Stellvertretend sei die
Regelung genannt, die es Krankenkassen und Unfallver-
sicherungsträgern ermöglicht, einen begrenzten Teil des
Deckungskapitals für Altersrückstellungen von Dienst-
ordnungsangestellten in Aktien anzulegen .
Mit den Regelungen fahren wir also erst einmal eine
vergleichbar kleine Ernte vom Bürokratiebaum ein . Die
Entbürokratisierung bleibt als Prozess aber am Laufen .
Und das ist eminent wichtig für uns . Denn wir wollen,
dass wir weiterhin einen starken und wettbewerbsfähigen
Mittelstand haben, dass wir dadurch regelmäßige Re-
kordmeldungen vom Arbeitsmarkt bekommen, ja, dass
wir unseren Wohlstand in Deutschland erhalten .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 201618192
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Die größere Ernte wird sicher das angekündigte zwei-
te Bürokratieentlastungsgesetz einfahren . Und auch bei
der Evaluation des Mindestlohngesetzes wird man die
Notwendigkeit einiger Aufzeichnungs- und Nachweis-
pflichten in Frage stellen können. Viel Spielraum also
noch, um alles ein klein wenig einfacher zu machen .
Gabriele Schmidt (Ühlingen) (CDU/CSU): Im
Laufe des bisherigen Beratungsverfahrens wurden weite-
re Anregungen aus den Ressorts an das Bundesarbeitsmi-
nisterium herangetragen . Diese und die Stellungnahme
des Bundesrates wurden aufgenommen, sodass wir heute
auch über weitere Änderungen abstimmen werden .
Zunächst einmal möchte ich aber, bevor ich die Er-
gänzungen näher erläutere, den wesentlichen Inhalt des
vorliegenden Gesetzentwurfes wieder ins Gedächtnis
rufen . Wir geben der Praxis eine rechtliche Grundlage
und sorgen mit dem Gesetz für Rechtssicherheit in den
Meldeverfahren . Damit werden insbesondere die Arbeit-
geber und die Wirtschaft finanziell, aber auch was den
zeitlichen Aufwand betrifft, spürbar entlastet . Die neuen
Regelungen bilden die Praxis ab und optimieren dadurch
Meldeverfahren in der sozialen Sicherung . Die damit
einhergehende Senkung von Bürokratiekosten und Ent-
lastung der Arbeitgeber beläuft sich auf rund 43,5 Mil-
lionen Euro .
Aber nicht nur die Wirtschaft profitiert von den Er-
leichterungen und der Vereinfachung von technischen
und organisatorischen Abläufen, sondern auch der ein-
zelne Bürger . Gutes darf auch wiederholt werden: Wir
reduzieren den Aufwand der Bürgerinnen und Bürger
unter anderem durch die Möglichkeit des elektronischen
Abrufs von Bescheinigungen direkt vom Arbeitgeber
durch die Träger der Unfallversicherung um rund eine
Stunde im Einzelfall . So werden auch die Sozialversiche-
rungsträger durch qualitätsverbessernde Maßnahmen um
3,4 Millionen Euro jährlich entlastet .
Den Krankenkassen und Unfallversicherungsträgern
wird künftig die Aktienanlage eines begrenzten Teils des
Deckungskapitals (10 Prozent) für Altersrückstellungen
von Dienstordnungsangestellten ermöglicht . Den Un-
mut der Opposition in Bezug auf diese Änderung ver-
mag ich nicht nachzuvollziehen . Denn die zusätzliche
Anlageform bietet künftig auch den Krankenkassen die
Möglichkeit, bei dem sehr langfristig zu bildenden De-
ckungskapital für Altersrückstellungen höhere Erträge
zu erzielen und das Anlageportfolio stärker zu diversifi-
zieren . Das Risiko soll gerade durch die Begrenzung der
Aktienanlage auf 10 Prozent überschaubar bleiben .
Dem in § 80 Absatz 1 SGB IV geregelten Grundsatz
der Anlagesicherheit wird dadurch Rechnung getragen,
dass die Anlage in Aktien nur unter bestimmten Ein-
schränkungen möglich ist und somit grundsätzlich beste-
hende Verlustrisiken begrenzt werden . Fehlentscheidun-
gen des Anlagemanagements können durch Vorgaben zur
Ausgestaltung (passiv, indexorientiert) sowie zur Anlage
in Euro-denominierten Aktien verringert und Währungs-
risiken minimiert werden .
Abschließend möchte ich auf die eingangs erwähnten
Vorschläge, die Eingang in das vorliegende sogenannte
Omnibusgesetz gefunden haben, zu sprechen kommen .
Die Dienstunfallfürsorge für Beamtinnen und Beamten
unter anderem des BMAS, BSG, BAG, die bisher von
den jeweiligen Dienstherren eigenverantwortlich durch-
geführt wurde, wird auf die Unfallversicherung Bund
und Bahn übertragen . Das befristete Modellprojekt hat
den Zweck, vorhandene und bewährte Verfahren zu nut-
zen und dadurch für optimale fachliche Steuerung der
Unfallfürsorgeleistungen für Beamtinnen und Beamte zu
sorgen .
Um die Bildung von Altersrückstellungen bei der So-
zialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gar-
tenbau zu vereinheitlichen, soll außerdem die Anlage-
möglichkeit in Aktien auch in der landwirtschaftlichen
Krankenversicherung und der Alterssicherung der Land-
wirte eröffnet werden .
Weitere Änderungen betreffen das Arbeitszeitgesetz
und das Jugendarbeitsschutzgesetz . Beide dienen der
Umsetzung der EU-Binnenschifffahrtsrichtlinie .
Die Umsetzung der gemachten Vorschläge zur quali-
tativen Verbesserung von Verfahren mündet in der Fort-
schreibung der gesetzlichen Grundlagen . Im Vordergrund
steht dabei die mittelständische Wirtschaft, die deutlich
von Bürokratie entlastet wird .
Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Heute beraten wir ab-
schließend einen eher technischen Gesetzentwurf zur
Änderung des Vierten Sozialgesetzbuches und anderer
Gesetze . Dieses Gesetz wird keine Schlagzeilen machen .
Es ist aber ein gutes Beispiel dafür, wie wichtig gerade
auch die weniger beachtete Parlamentsarbeit ist; denn
wir verringern mit dem 6 . SGB IV-Änderungsgesetz vor
allem Bürokratie und damit verbunden Zeit und Kosten,
indem wir die elektronischen Meldeverfahren in der So-
zialversicherung vereinfachen und verbessern . Davon
profitieren sowohl die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber
als auch die Verwaltung und natürlich die Bürgerinnen
und Bürger .
Die Bedeutung der Meldeverfahren verdeutlicht vor
allem eine Zahl: Jährlich finden etwa 400 Millionen Mel-
devorgänge zu den Sozialleistungsträgern und zurück
statt vor allem Anmeldungen, Abmeldungen und monat-
liche Beitragsmeldungen bei den Kranken- und Unfall-
kassen, bei der Renten- und Arbeitslosenversicherung
und bei der Pflegeversicherung. Deshalb ist es eine wich-
tige Aufgabe der Bundesregierung sowie der Sozialversi-
cherungs- und Sozialleistungsträger, die Funktionsfähig-
keit dieses Systems regelmäßig zu verbessern und dem
technischen Fortschritt anzupassen . Das digitale Zeitalter
bietet hier wunderbare Möglichkeiten . Im Bruchteil von
Sekunden können Mitteilungen und Nachrichten ganz
ohne Papier rund um den Globus und natürlich auch in-
nerhalb Deutschlands hin- und hergeschickt werden . Das
spart Kosten, Zeit und Nerven und ist somit von Vorteil
für alle Beteiligten . Weniger Bürokratie stärkt die Wett-
bewerbsfähigkeit unserer Unternehmen . Eine verläss-
liche und leistungsfähige öffentliche Verwaltung ist ein
wichtiger Standortfaktor für Deutschland . Auch dadurch
werden letztendlich Arbeitsplätze geschaffen und gesi-
chert .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 18193
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Viele Änderungen gehen auf das Projekt „Optimiertes
Meldeverfahren in der sozialen Sicherung“, kurz OMS
genannt, des Bundesministeriums für Arbeit und Sozia-
les zurück . Daran beteiligt waren alle, die Daten ermit-
teln, prüfen und übertragen: von Arbeitgeberinnen und
Arbeitgebern sowie Fachleuten der Sozialversicherungs-
träger über Datenschutz- und Datensicherheitsexpertin-
nen und -experten bis zu Softwareentwicklerinnen und
-entwicklern . Diese Fachleute haben zwei Jahre lang aus
ihrer Praxiserfahrung heraus gemeinsam an Verbesse-
rungsvorschlägen gefeilt . Diese enge Zusammenarbeit
in diesem Bereich ist deshalb so wichtig, da es sich fast
ausschließlich um sensible Daten handelt, die versandt,
bearbeitet und gespeichert werden . Softwareentwickle-
rinnen und -entwickler mögen für Verwaltungsvorgänge
rasch eine effektive technische Lösung zur Hand haben .
Diese muss aber zum Beispiel auch den Ansprüchen des
Datenschutzes entsprechen . Deshalb ist es gut, wenn alle
Beteiligten von Anfang an eng zusammenarbeiten, um
praxistaugliche, kostensenkende und zeitsparende Lö-
sungen auf den Tisch legen zu können . Das hat mit der
Projektgruppe, wie man sieht, gut geklappt .
Bereits im letzten Jahr haben wir einige ihrer Vor-
schläge mit dem 5 . SGB IV-Änderungsgesetz erfolgreich
umgesetzt . Diesen Weg gehen wir jetzt weiter, indem wir
uns andere zwischenzeitlich ausgearbeitete Verbesse-
rungsvorschläge der Fachleute vornehmen . Hier ein paar
Beispiele aus dem Gesetzentwurf:
Wir führen die maschinenlesbare Verschlüsselung der
Daten auf dem Sozialversicherungsausweis ein . Arbeit-
geberinnen und Arbeitgeber sowie Sozialversicherungs-
träger können zukünftig automatisch mit den richtigen
Sozialversicherungsnummern arbeiten und ersparen sich
aufwendige Fehlerkorrekturen .
Außerdem schaffen wir die Möglichkeit zur elek-
tronischen Beantragung und schnellen elektronischen
Zusendung der A1-Bescheinigungen . Diese Bescheini-
gungen sind nötig, um den Versicherungsschutz für Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu sichern, wenn sie
vorübergehend für Arbeitseinsätze ins Ausland entsandt
werden . Derzeit müssen dafür noch Antragsformulare
aus Papier umständlich und zeitraubend hin- und her-
geschickt werden – und die Bescheinigung selbst natür-
lich auch . Auch die Übermittlung von Entgeltbescheini-
gungsdaten vereinfachen wir .
Zudem wird eine Informationsplattform im Internet
eingerichtet . Dort können Unternehmerinnen und Unter-
nehmer zukünftig schnell an die wichtigsten Informatio-
nen zu allen sozialversicherungsrechtlichen Fragen her-
ankommen, die die Melde- und Beitragsverfahren ihrer
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter betreffen . Das wird
viele Nachfragen ersparen – sowohl für die Unternehmen
als auch für die Sozialversicherungen .
Außerdem greifen wir Anregungen aus der Praxis
auf . So wird zum Beispiel der Anwendungsbereich der
Entgeltbescheinigung auf die Besoldungsnachweise für
Beamte, Richter und Soldaten ausgedehnt .
Die Entlastungen durch das 6 . SGB IV-Änderungsge-
setz für die Bürgerinnen und Bürger, für die Arbeitge-
berinnen und Arbeitgeber und auch für die Sozialversi-
cherungsträger sind enorm . So werden die Unternehmen
etwa 43,5 Millionen Euro jährlich an Bürokratiekosten
sparen . Bei der Verwaltung werden es jährlich etwa
3,4 Millionen Euro sein . Und bei den Bürgerinnen und
Bürgern liegt der Zeitgewinn bei etwa 315 000 Stunden
pro Jahr .
Damit geben wir uns aber nicht zufrieden . Vielmehr
suchen wir weiter nach Vereinfachungs- und Verbesse-
rungsmöglichkeiten . Bereits durch unseren Änderungs-
antrag, den wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf auf
den parlamentarischen Weg geschickt haben, setzen wir
weitere sinnvolle Maßnahmen um, vor allem Vorschläge
des Bundesrates und aus der Praxis . Beispielsweise wird
das Inkrafttreten der Änderungen am e-Antrag, also am
automatisierten Verfahren zur Aufnahme von Leistungs-
anträgen bei Versicherungsämtern und Gemeindebehör-
den, wie vom Bundesrat gefordert, vorverlegt . Oder die
Erfassung des Ausstellungsdatums beim zukünftigen ma-
schinenlesbaren Sozialversicherungsausweis: Es hat sich
bei dessen Erprobung herausgestellt, dass es sinnvoll ist,
auch das Ausstellungsdatum zu erfassen, um die Nutzung
mehrerer Ausweise durch eine Person auszuschließen .
Außerdem werden wir auf Anregung des Bundesrech-
nungshofes die erlassenen Bußgeldbescheide zu den
Verletzungen der Melde- und Aufzeichnungspflichten in
die Betriebsprüfungsdatei der Rentenversicherungsträger
aufnehmen . Dies wird zukünftige Prüfungen vereinfa-
chen .
Mit dem 6 . SGB IV-Änderungsgesetz werden aber
auch ein paar Dinge umgesetzt, die nichts mit den Melde-
verfahren zu tun haben . Beispielsweise schaffen wir die
Voraussetzungen zur Umsetzung der EU-Binnenschiff-
fahrtsrichtlinie in nationales Recht . Durch die Richtlinie
werden die Schutzstandards erhöht, unter anderem durch
eine Aufzeichnungspflicht der Arbeits- und Ruhezeiten.
Ebenso wird den Krankenkassen, Unfallversicherungs-
trägern und der landwirtschaftlichen Sozialversicherung
zukünftig die Anlage von 10 Prozent ihrer Altersrückla-
gen in Aktien erlaubt . Dies wird teilweise als zu risiko-
reich kritisiert . Auch ich war erst skeptisch . Allerdings
steht die Anlagesicherheit klar im Vordergrund, da nur
weniger risikobehaftete Aktien aus dem Euro-Raum er-
laubt werden und sich die Anlagevorschriften am Ver-
sorgungsfonds des Bundes orientieren . Daher ist es ver-
tretbar, jetzt in Niedrigzinszeiten diese klar begrenzte
Aktienanlagemöglichkeit zugunsten einer möglichen hö-
heren Rendite und der Einsparung von Beitragsgeldern
zum Nutzen aller zu schaffen .
Der Abbau von Bürokratie und bessere Rechtsetzung
sind erklärte Ziele dieser Bundesregierung . Viele reden
nur davon . Wir setzen sie auch um! Durch den vorlie-
genden Entwurf des 6 . SGB IV-Änderungsgesetzes ge-
winnen alle: Bürgerinnen und Bürger, Betriebe und die
Verwaltung . Deshalb freue ich mich auch auf weitere die-
ser sperrigen und wenig spektakulären Gesetzentwürfe,
die wir dann hier zum Nutzen aller beschließen können .
Bürokratieabbau ist nämlich nie erledigt und stellt uns
immer wieder vor neue Herausforderungen
Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Mit dem
6 . SGB IV-Änderungsgesetz und weiteren Gesetzesände-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 201618194
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(B) (D)
rungen aus völlig wesensfremden Bereichen haben Sie
uns heute hier wieder einen echten „Omnibus“ aufge-
tischt . Nein, hier geht es nicht um ein Beförderungsmit-
tel, sondern schlicht um die Tatsache, dass Sie zusätzlich
mit dem im Ausschuss für Arbeit und Soziales einge-
brachten Änderungsantrag weitere „Passagiere“ an Bord
genommen haben . Dabei handelt es sich bei einigen um
blinde Passagiere, die es bei einer separaten Gesetzge-
bung niemals an Bord des eigentlichen Gesetzvorhabens,
nämlich der Optimierung des Meldeverfahrens in der so-
zialen Sicherung, geschafft hätten .
Da in der ersten Beratung am 2 . Juni bereits das We-
sentliche zu den Inhalten gesagt wurde, konzentriere
ich mich deshalb auf die zentralen Punkte Ihres Ände-
rungsantrages, die mit der Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Arbeit und Soziales heute noch in das
Gesetz einfließen sollen.
So wollen Sie die Dienstunfallfürsorge für Beamtin-
nen und Beamte des Bundesministeriums für Arbeit und
Soziales, also des BMAS, und dessen nachgelagerten
Behörden auf die „Unfallversicherung Bund und Bahn“
übertragen, zunächst in einem Modellprojekt bis 2020 .
Sie begründen dies mit den einheitlichen Grundsätzen
und der ganzheitlichen Versorgung durch die Unfallkas-
se, die das BMAS nutzen will . Daran ist zunächst nichts
auszusetzen, solange das BMAS dann auch für die Kos-
ten aufkommt, die der Unfallversicherung Bund und
Bahn entstehen . Das haben Sie, verehrte Frau Staatsse-
kretärin Lösekrug-Möller, in der gestrigen Ausschusssit-
zung mündlich zugesagt . Ich gehe davon aus, dass es bei
dieser Zusage auch für die Zukunft bleiben wird .
Mit der geplanten Änderung des Arbeitszeitgeset-
zes wollen Sie zudem bestehende bessere tarif- und ar-
beitsrechtliche Regelungen für die Beschäftigten in der
Binnenschifffahrt in Deutschland per Rechtsverordnung
öffnen, und das, obwohl die EU-Sozialpartner unter Bil-
ligung der Kommission bei der Binnenschifffahrtsrichtli-
nie festgelegt hatten, dass trotz einheitlicher Regelungen
in der EU bessere nationale Regelungen bestehen bleiben
sollen . Zugleich wollen Sie aber wiederum den Tarifver-
tragsparteien die Möglichkeit einräumen, per Tarifver-
trag von der Rechtsverordnung abzuweichen . Uns ist
nach wie vor nicht ganz klar, wozu die Regelung notwen-
dig ist, wenn die Sozialpartner mit der auf der EU-Ebene
gefundenen Regelung voll und ganz zufrieden sind .
Bereits in der ersten Beratung hatte ich die geplanten
Änderungen bei den Anlagemöglichkeiten für die Al-
tersrückstellungen der gesetzlichen Kranken- und Un-
fallkassen kritisiert . Sie sollen die Möglichkeit erhalten,
bis zu 10 Prozent der Altersrückstellungen in Aktien an-
legen zu dürfen . Mit dem Änderungsantrag werden nun
auch die Altersrückstellungen der landwirtschaftlichen
Sozialversicherung erfasst . Nach Angaben des Bundes-
versicherungsamts addieren sich die Altersrückstellun-
gen allein der Krankenkassen auf 4,7 Milliarden Euro,
von denen künftig also bis zu 470 Millionen Euro in Ak-
tien angelegt werden dürfen .
Die SPD-Kollegin Hiller-Ohm sagte in der Aus-
schussberatung, dass, ich zitiere aus der Beschlussfas-
sung des Ausschusses, „bei der Anlagemöglichkeit von
Altersrücklagen in Aktien ebenfalls sichernde Maßnah-
men getroffen worden seien, indem hochspekulative Ak-
tien ausgeschlossen würden und das Anlagekapital auf
zehn Prozent begrenzt werde“ .
Diese Passage finden Sie auf Seite 12 der Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 18/9088 . Der zuständige
Referatsleiter im BMAS antwortete jedoch auf meine
Frage, ob perspektivisch der Aktienanteil ausgeweitet
werden solle, dass dies zumindest für den Versorgungs-
fonds des Bundes, den es seit 2007 für Bundesbeamte
und -beamtinnen gibt, geplant sei . Insofern scheint mir
die Gefahr sehr groß zu sein, dass der erlaubte Aktienan-
teil kurz nach der Einführung auch für die Altersrück-
stellungen der gesetzlichen Kranken- und Unfallkassen
verdoppelt werden wird . Dies steht zu befürchten, und
diesen Wunsch hatte der GKV-Spitzenverband in seiner
Stellungnahme zum Referentenentwurf ja bereits geäu-
ßert .
Im Übrigen: Der Bundesrat sieht das genauso wie wir
Linken . Er moniert, dass es sich bei den Altersrückstel-
lungen um Beitragsgelder, also um Geld aller GKV-Ver-
sicherten, handelt . Dabei ist in § 80 SGB IV gesetzlich
klipp und klar definiert, dass der Grundsatz der Anlagen-
sicherheit Vorrang gegenüber der Erzielung eines ange-
messenen Ertrages hat . Diesen Grundsatz wollen Sie nun
aushebeln . Das halte ich für falsch . Ich bin mir sicher,
dass die geplante weitere Ausweitung des Aktienportfo-
lios auf großes Interesse des Bundesrates stoßen wird .
Bei einigen Regelungen in diesem Gesetzvorhaben ist
der Änderungsbedarf nicht zu erkennen . Insgesamt hält
die Fraktion Die Linke die Inhalte des Gesetzpaketes je-
doch trotz der problematischen Punkte überwiegend für
akzeptabel . Deshalb werden wir uns insgesamt enthalten .
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN): Bereits seit 2011 führt das BMAS nun
schon das OMS-Projekt, das optimierte Meldeverfahren
in der sozialen Sicherung, durch . Technische und orga-
nisatorische Abläufe sollen verbessert werden . Die Da-
tenermittlung zwischen Arbeitgebern und öffentlichen
Stellen hinsichtlich der automatisierten Meldungen im
Bereich der sozialen Sicherung steht im Zentrum die-
ses Gesetzentwurfs . Optimierungspotenziale sollten in
dieser umfassenden Untersuchung der bestehenden Mel-
deverfahren gefunden werden . Das kennen Sie ja von
uns Grünen: Verbesserungen in Form von Maßnahmen,
die die Entbürokratisierung voranbringen, begrüßen wir
grundsätzlich .
Hoffen wir, dass dieses Gesetz, so es dann in Kraft ge-
treten sein wird, auch hält, was es verspricht und was die
Damen und Herren der Koalitionsfraktionen schon in der
ersten Lesung hier im Plenum anzupreisen sich nicht ge-
scheut haben, Bürokratieabbau, den alle spüren: die Ar-
beitgeber, aber auch die Arbeitnehmer . Der „Erfüllungs-
aufwand“ reduziere sich demnach für die Bürgerinnen
und Bürger um mindestens 315 000 Stunden . Bei mehr
als 40 Millionen Beschäftigten und über 400 Millionen
Meldevorgängen pro Jahr hoffen wir, dass die Bürgerin-
nen und Bürger das auch wirklich spüren .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 18195
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Dann weiter: Das Verfahren solle besser, einfacher
und günstiger werden . Solange Ihnen hierbei auch immer
der Schutz sensibler Daten der Versicherten – Stichwort
Datenschutz – ein wichtiges, ja ein ganz zentrales Anlie-
gen bleibt, begrüßen wir auch das als positive Entwick-
lung . Dass es mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wei-
tere 43 Millionen Euro weniger Erfüllungsaufwand für
die Wirtschaft geben wird, ist ebenfalls zu hoffen .
Nun habe ich Ihnen einige Hoffnungen mit auf den
Weg gegeben, die Sie aus der Koalition ja auch mit dem
vorliegenden und heute zu beschließenden Gesetzent-
wurf verbinden . Das klingt viel, es sind aber nur tatsäch-
lich relativ kleine Schritte, aber Schritte in die richtige
Richtung .
Aber leider gehen Sie an einer Stelle in die falsche
Richtung und haben eine Forderung des Bundesrates
nicht umgesetzt . Bereits in der ersten Lesung hatte ich
an dieser Stelle angemerkt, dass die Möglichkeit der
Krankenversicherung und der Unfallversicherung, ihre
Rücklagen in Aktien anzulegen, zumindest gründlich zu
hinterfragen sei und aus dem Gesetzentwurf gestrichen
werden sollte . Das sieht die Bundesregierung anders,
wie sie in ihrer Gegendarstellung zur Stellungnahme des
Bundesrates darlegt . Im parlamentarischen Verfahren ist
das durch einen Änderungsantrag der Koalitionsfraktio-
nen sogar noch ausgeweitet worden . Das ist bedauerlich
und überhaupt nicht nachvollziehbar .
Wenn nicht nur die Oppositionsparteien, sondern auch
der Bundesrat, der zu Recht auch wie ein Kontrollorgan
unserer Gewaltenteilung agiert, hier berechtigte Skepsis
anmeldet, so sollte auch die Bundesregierung gelegent-
lich über Ihren Schatten springen und sich die geäußer-
ten Sorgen anhören und in diesem Fall am besten sogar
„erhören“ . Der Wunsch des Bundesrates war hier, die ge-
planten Änderungen aufgrund der auseinandergehenden
Meinungen im Rahmen eines separaten Gesetzentwurfs
ausführlicher zu diskutieren . Der Unwillen scheint hier
aber größer zu sein als das Bedürfnis, einen wirklich gu-
ten Gesetzentwurf auf den Weg zu bringen .
Wie schon bei der ersten Lesung hier im Plenum kann
ich mich nur gut und gerne wiederholen, wenn ich sage:
Dieser Gesetzentwurf ist kein großer Wurf, er dreht ein
wenig an vorhandenen Stellschrauben, die vielleicht
Verbesserungen im Sinne von Entbürokratisierungsten-
denzen und Vereinfachungen mit sich bringen . Deswe-
gen werden wir uns diesem Gesetzentwurf auch nicht
versperren, sondern hier zustimmen . Nichtsdestotrotz,
und auch das wiederhole ich gerne erneut an dieser Stel-
le, lassen Sie uns endlich die großen Projekte innerhalb
der sozialen Sicherung angehen: die Bürgerversicherung
zum Beispiel oder auch eine Grundsicherungsreform, die
hält, was sie verspricht, und sowohl angstfreie Existenz-
sicherung als auch Teilhabe am gesellschaftlichen Leben
möglich macht . Dafür mache ich mich, gemeinsam mit
meiner Fraktion stark . Wenn Sie an einer konstruktiven
Zusammenarbeit interessiert sind, dürfen Sie sehr gerne
auf uns zukommen . Dann machen wir gemeinsam den
großen Wurf .
Anlage 23
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung
eines Transplantationsregisters (Tagesordnungs-
punkt 28)
Dr. Georg Kippels (CDU/CSU): Als die ersten er-
folgreichen Nierentransplantationen in den 50er-Jahren
des vergangen Jahrhunderts stattgefunden haben, hätte
wohl keiner der Ärzte gedacht, dass gerade die parallele
Entwicklung der Computer und damit der Datenverarbei-
tung einmal das Potential bieten würde, die medizinische
Fachkunde erheblich zu optimieren, um nicht zu sagen:
zu überlagern . Heute hängt der Erfolg einer Transplanta-
tion zu einem wesentlichen Teil von der Verfügbarkeit,
Vollständigkeit und Richtigkeit der entsprechenden rele-
vanten Daten ab .
Bislang kommt dem Verein der Eurotransplant hier
die Schlüsselrolle zu . Eurotransplant umfasst acht Län-
der mit 135 Millionen Menschen . Je besser die Datenlage
ist, die Spender und Empfänger innerhalb dieser Gruppe
abstimmt, umso besser sind die Erfolge der Transplan-
tationen . Eine umfassende Datenbank ermöglicht zudem
Studien, die zum langfristen Erfolg einer Transplantation
beitragen werden . Mit dem Transplantationsregisterge-
setz trägt Deutschland seinen Teil zur Verbesserung des
bestehenden Systems bei .
Voraussetzung für eine Organspende ist der Hirntod .
Diese Diagnose ist in Deutschland aus ethischen Grün-
den zwingende Voraussetzung für eine Organspende, um
auch nur den geringsten Anschein zu vermeiden, dass
die ärztliche Reanimation möglicherweise aus Gründen
einer Organspende nicht optimal ausgeführt worden ist .
Dies ist zum Beispiel im europäischen Ausland anders,
wie etwa in der Niederlanden, die nach einem strengen
Verfahren auch bei Herz-Kreislauf-Versagen eine Organ-
spende zulassen . Dies erhöht die Zahl der zur Verfügung
stehenden Organe deutlich . Eine solche Ausweitung ist
aber nach einhelliger Meinung in Deutschland nicht
denkbar .
Betrachtet man die Situation in Deutschland, dann
sterben von den 900 000 Todesfällen im Jahr etwa
400 000 Menschen im Krankenhaus . Von diesen werden
4 000 als hirntot diagnostiziert . 2012 wurden davon ein
Viertel tatsächlich Organspender . Hier spielten die Un-
versehrtheit der Organe und die Spendenbereitschaft die
letzte entscheidende Rolle .
Auf die Spendensituation haben aber auch andere
Faktoren Einfluss. Der Hirntod ist eine häufige Folge von
Verkehrsunfällen, insbesondere bei Motorradunfällen,
die in den USA viel häufiger auftreten als in Deutschland.
Der Straßenverkehr ist in Deutschland deutlich sicherer,
und die Teilnehmer sind besser geschützt . Neben der sub-
jektiven Spendebereitschaft begrenzt dies die Anzahl der
zur Verfügung stehenden Organe zusätzlich .
Diese Erkenntnisse belegen aber für die medizinische
Forschung und den Gesetzgeber die Notwendigkeit, dass
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 201618196
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wir die Organspende in mehrfacher Hinsicht optimieren
müssen:
Je schneller nach der Ersatzdiagnose der Patient, ins-
besondere bei der Nierenspende, mit dem neuen Organ
versorgt werden kann, desto besser sind seine langfristi-
gen Überlebenserwartungen .
Je höher der Grad der Übereinstimmungsparameter
ist, desto geringer ist die Gefahr der Abstoßung des Or-
gans .
Und je geringer die Notwendigkeit einer Zweit- oder
Drittversorgung ist, desto weniger Organe müssen zur
Verfügung stehen .
Gleichwohl ist aber die Möglichkeit der Bedarfsde-
ckung durch Spenden nach Versterben endlich, zumal
auch immer die Frage des Alters des Spenders eine Rolle
spielt .
Wir müssen uns daher maßgeblich auf die Datenopti-
mierung konzentrieren, um den vorstehenden drei Anfor-
derungen besser gerecht zu werden .
Damit kann der Bedarf an Spenderorganen aber nicht
nur durch die Organspende nach Hirntod erfolgen, son-
dern auch die Lebendspende muss in den Fokus rücken .
Eine umfassende Datenbank unterstützt auch diese
Form der Organspende . Der Wissensgewinn kommt ei-
ner optimalen Abstimmung sowie Vor- und Nachsorge
der Organspendeempfänger zugute . Je qualitativ und
quantitativ länger ein Empfänger mit seinem Spenderor-
gan lebt, umso erfolgreicher ist unser System der Organ-
transplantation . Mit unserem Transplantationsregister-
gesetz setzten wir an einer bisher vernachlässigten, aber
essentiell wichtigen Stellschraube an – dem Erkenntnis-
gewinn durch umfassende Daten . Stehen der Forschung
Langzeitdaten über den Verlauf von Organspenden zu
Verfügung, kann entscheidendes medizinisches Wissen
gewonnen werden, das zur Verbesserung der Lebensdau-
er von Organspenden beiträgt .
So sehr wir natürlich ein nachvollziehbares Interesse
daran haben, durch die besondere Behandlungsmetho-
de Leben zu retten, darf aber nicht vergessen werden,
dass im Prozess der Datenerhebung und der Datenver-
arbeitung auch das Recht auf informationelle Selbstbe-
stimmung tangiert ist . Schon bei der Frage der Organ-
spendebereitschaft ergibt sich die Kollision zwischen
einer ausdrücklichen Einwilligung und einer vermuteten
Einwilligung mit dem Recht zum Widerspruch, wie dies
in Österreich praktiziert wird . Aber auch nach erfolgter
Spende und Transplantation stellt sich eine Grundrechts-
kollision zwischen dem Datengebrauch und dem Lebens-
schutz sowohl beim Lebendspender als auch Organemp-
fänger .
All diese muss nun im Gesetz beachtet und vor allem
der wissentliche Mehrwert im Interesse der Patienten
zeitnah evaluiert werden . Die Entscheidung zur begrenz-
ten Aufnahme der Altdaten ab dem Jahre 2006 war eine
sinnvolle und wirkungsvolle Maßnahme, um den wis-
sentlichen Gewinn in Ansehung der relativ überschauba-
ren Fälle größtmöglich zu gestalten .
Das Transplantationsregister schafft hierfür eine ver-
lässliche Datengrundlage . Die erhobenen Daten von der
Organentnahme bis hin zur Nachbetreuung des Trans-
plantierten werden darin gebündelt . Mit dem Organspen-
deregister werden zudem die Wartelistenkriterien sowie
die Verteilung der Spenderorgane weiterentwickelt .
Das Gesetz wird deshalb ein weiterer Schritt in eine
hochwertige Versorgung sein .
Dr. Katja Leikert (CDU/CSU): Der heutige Tag ist
ein guter Tag für die Transplantationsmedizin und die
Organspende in Deutschland . Seit langem schon wird
darauf hingewiesen, dass es in Deutschland keine ein-
heitliche, integrierte Datenerhebung des gesamten Trans-
plantationsverlaufs gibt . Bislang war es hierzulande Pra-
xis, dass anfallende Daten in mehreren Institutionen und
nach unterschiedlichen Vorgaben erhoben wurden, ohne
miteinander verknüpft zu sein . Durch diese fehlenden
Verknüpfungen war die Möglichkeit versperrt, systema-
tische Erkenntnisse über wichtige Fragen des Transplan-
tationswesens zu erhalten . Diesen Zustand beenden wir
mit der Einführung eines bundesweiten Transplantations-
registers .
Mit dem heutigen Beschluss geht ein durchaus auf-
wändiges Gesetzgebungsverfahren zu Ende . Aus meiner
Sicht war es ein Musterbeispiel dafür, wie das BMG, der
Bundestag, vor allem aber auch die vielen im Transplan-
tationswesen Tätigen an einem Strang gezogen haben,
um zu einem für alle Beteiligten guten Ergebnis zu kom-
men . Es ist ja nicht immer so, dass sich Politik und Fach-
welt derart einig über ein Vorgehen sind, das ja durch-
aus einen sensiblen Bereich berührt . Es ist mir daher ein
Anliegen, neben der Parlamentarischen Staatssekretärin
Annette Widmann-Mauz und ihrem Team im BMG gera-
de auch den vielen Beteiligten der Selbstverwaltung, vie-
ler Verbände sowie der Wissenschaft ein herzliches Wort
des Dankes auszusprechen . Neben der handwerklichen
Arbeit beim Stricken des Gesetzes ist viel Leidenschaft
für die Sache deutlich geworden . Beispielhaft möch-
te ich hier Herrn Dr . Leber vom GKV-Spitzenverband,
aber auch die Vertreter der Bundesärztekammer wie
Herrn Professor Otto und Herrn Dr . Middel sowie Herrn
Dr . Rahmel von der DSO nennen, die mit viel Herzblut
und fachlicher Expertise für die Anliegen der Transplan-
tationsmedizin und die Organspende eingetreten sind und
sich um das Thema verdient gemacht haben .
Mit dem Transplantationsregister schaffen wir eine
verlässliche Datengrundlage, die alle bundesweit erho-
benen Daten von der Organentnahme bis hin zur Nach-
betreuung nach einer Transplantation bündelt . Dadurch
verbessern wir nicht nur die Datengrundlage für die
transplantationsmedizinische Versorgung, sondern wir
erhöhen gleichzeitig die Transparenz im gesamten Sys-
tem . Auch die Patientensicherheit in Deutschland wird
dadurch erhöht . Vor allen Dingen können die Kriterien
zur Organspende weiterentwickelt werden . Denn das Re-
gister wird fundierte Informationen darüber liefern, zu
welchem Organempfänger ein Spenderorgan am ehesten
passt . Es wird auch für die Gewinnung wissenschaftli-
cher Erkenntnisse nicht mehr notwendig sein, auf Daten
aus dem Ausland zurückzugreifen, in denen unsere lan-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 18197
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(B) (D)
desspezifischen Gegebenheiten nur unzureichend abge-
bildet werden können . Darauf sind wir aus der Wissen-
schaft sowie aus der Transplantationsmedizin mehrfach
hingewiesen worden . Ich freue mich, dass sich diese Pro-
blematik in Zukunft so nicht mehr stellen wird . Auch für
die Gewinnung von Erkenntnissen über die Qualität der
Transplantationszentren wird es zukünftig stärke Hin-
weise geben . So werden die Zentren in die Lage versetzt,
ihre Qualität noch weiter zu verbessern .
Es war ein wichtiges Anliegen vieler Aktiver, zu besse-
ren Erkenntnissen zu gelangen im Bereich der Nierener-
satztherapie . Um die Qualität der Behandlung beurteilen
zu können, ist der Behandlungsverlauf in einer Gesamt-
bewertung zu berücksichtigten . Dies war bislang nicht
möglich, da die Sicherung der Qualität bei der Dialyse
und der Transplantation getrennt voneinander ablaufen .
Mit dem Beschluss des GBA, ein sektorenübergreifendes
Qualitätssicherungsverfahren zur Nierenersatztherapie
bei chronischem Nierenversagen auf den Weg zu brin-
gen, und dem gleichzeitigen Beschluss im Transplanta-
tionsregistergesetz, eine verpflichtende Lieferung der
Daten aus der Qualitätssicherung an das Transplantati-
onsregister zu verankern, wird die Sache rund . Es wird
die benötigte Vernetzung entstehen, was aus fachlicher
Sicht sehr zu begrüßen ist . Ich hoffe, dass die dazu noch
notwendigen Arbeiten schnell abgeschlossen werden
können . Ich möchte die Gelegenheit noch einmal an die-
ser Stelle nutzen und um eine zügige Durchführung aller
noch nötigen Arbeiten bitten, da die Daten zur Nierener-
satztherapie dringend gebraucht werden .
Ich denke, was die organisatorische Ausgestaltung
des Registers betrifft, hat vor und während des gesamten
Gesetzgebungsverfahrens überwiegend Einmütigkeit ge-
herrscht . Weitaus schwieriger waren da schon die Fragen
des Datenschutzes . Das Gesetz räumt dem Datenschutz
und insbesondere dem Recht auf informationelle Selbst-
bestimmung einen sehr hohen Stellenwert ein . Ich gebe
zu, dass ich ähnlich wie Bundesrat und viele Sachver-
ständige im Rahmen der Anhörung lieber auf das Einwil-
ligungserfordernis verzichtet hätte . Aus fachlicher Sicht
ist, so denke ich, sehr deutlich geworden, dass eine Da-
tenvollständigkeit von großer Bedeutung für die Qualität
und Aussagekraft des Registers insgesamt ist . Diese Voll-
ständigkeit zu erreichen, muss trotz der jetzt vereinbarten
Einwilligungslösung das Ziel bleiben .
Die vorgetragenen verfassungsrechtlichen Bedenken,
insbesondere was die Frage der Bestimmtheit bei einem
derzeit nicht und vor allen Dingen nicht durch den Ge-
setzgeber festgelegten Datensatz betrifft, sind jedoch
nachvollziehbar . Nachvollziehbar ist gleichsam das An-
liegen der Bundesregierung, der informationellen Selbst-
bestimmung als hohem verfassungsrechtlichem Schutz-
gut einen besonderen Status zuzumessen . Ich sage aber
auch: Im Sinne der vielen Menschen, die auf ein funk-
tionierendes System der Organspende angewiesen sind,
brauchen wir ein Transplantationsregister, das valide
Daten sicherstellt . Vom Grundsatz der Datenvollständig-
keit darf nicht abgegangen werden . Insofern haben es die
Koalitionsfraktionen für einen gangbaren Kompromiss
gehalten, zunächst einmal auf das Prinzip der Freiwillig-
keit zu setzen, in der Hoffnung, dass die Betroffenen aus
Einsicht in eine Bereitstellung von Daten einwilligen, die
im weiteren selbstverständlich anonymisiert werden .
Wir vertrauen auf die Experten, die davon ausgehen,
dass nach einem verpflichtenden Beratungsgespräch mit
keiner umfassenden Ablehnung zu rechnen ist . Wir ha-
ben diesbezüglich vereinbart, dass im Gesetz eine Be-
richtspflicht mit kurzer Frist verankert wird, in deren
Rahmen die Vollständigkeit der Daten in den Blick ge-
nommen wird . Sollte es hier nicht zu der erhofften Be-
teiligung kommen, muss dieses Thema erneut auf die
Tagesordnung gesetzt werden . Mit der Einwilligung in
dieses Vorgehen verbinde ich die klare Erwartung im
Sinne der Sache, dass das Thema erneut aufgerufen wird,
sollten die Erwartungen in puncto Datenvollständigkeit
nicht eintreffen . Ich habe mir den Stichtag für den Be-
richt bereits im Kalender vorgemerkt .
Ich freue mich, dass es im Zuge der parlamentarischen
Beratungen gelungen ist, die verbindliche Lieferung der
sogenannten Altdaten an die Transplantationsregister-
stelle in das Gesetz aufzunehmen . Der Transplantations-
registerstelle wird die Aufgabe übertragen, diese Daten
zu speichern und den im Gesetz benannten Stellen zur
Verfügung zu stellen . Dadurch können wir sicherstellen,
dass bereits in der Aufbauphase des Registers Arbeits-
hypothesen erstellt werden können . Mir war es wich-
tig, dass gerade die Kliniker so schnell wie möglich mit
dem Register arbeiten können . Dies wurde ja auch in der
Fachwelt so gesehen . Wichtig ist auch noch einmal die
Klarstellung im Gesetz, dass die Erfassung von Daten
mit der Aufnahme in die Warteliste beginnt .
Mit dem Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens ist
der Startschuss für die Einrichtung des Registers gege-
ben . Ich hoffe nun auf eine zügige Durchführung der
notwendigen Aufbauarbeiten der Selbstverwaltungs-
partner, insbesondere auch beim Erstellen des einheitli-
chen Datensatzes . Insbesondere hoffe ich, dass sich die
Einschätzungen verschiedener Akteure bezüglich der
Datenvollständigkeit bewahrheiten werden . Denn unser
gemeinsames Ziel muss es sein, dass dem heutigen Tag
noch viele weitere gute Tage für die Transplantationsme-
dizin folgen werden .
Sabine Dittmar (SPD): Nach jahrelangen Diskussi-
onen über die Notwendigkeit eines Transplantationsre-
gisters bringen wir ein solches zentrales Register heute
endlich auf den Weg . Dabei freut es mich besonders, dass
es uns gelungen ist, auch die vorhandenen Altdaten in
das Register zu überführen und somit weiterhin nutzbar
zu machen .
Neue Daten werden künftig einheitlich und zentral
gespeichert . Alle Daten, die ab 2006 gewonnen wurden,
werden davon getrennt gespeichert, stehen aber zur Aus-
wertung zur Verfügung . Und Daten, die noch weiter in
der Vergangenheit gewonnen wurden, werden an die Ver-
trauensstelle übermittelt .
Es ist auch ein Erfolg, dass die Datensätze nunmehr
auf Vollständigkeit hin überprüft werden und dass die
Daten von all denjenigen Patientinnen und Patienten er-
fasst werden, die auf der Warteliste stehen und auf ein
passendes Spenderorgan hoffen .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 201618198
(A) (C)
(B) (D)
Aus diesem neuen, zentralen und umfassenden Daten-
schatz erhoffe ich mir wertvolle Informationen für die
weitere Transplantationsmedizin .
Wie ich schon anlässlich der 1 . Lesung betont habe,
so ist es für die Patientensicherheit und für die Prozess-
struktur unerlässlich, dass im Transplantationsregister
einheitliche Daten erfasst und auswertet werden . Nur so
lassen sich die Ergebnisse in den einzelnen Transplanta-
tionszentren objektiv vergleichen und daraus wertvolle
Informationen ableiten über Qualität, Erfolgsaussichten
und Risiken von Transplantationen .
Ich persönlich verbinde mit dem zentralen Transplan-
tationsregister die Hoffnung, dass wir endlich valide und
evidenzbasierte Informationen über die Allokationskrite-
rien erhalten, die für eine Aufnahme auf die Wartelisten
entscheidend sind . Bislang ist die Dringlichkeit der ent-
scheidende Faktor für die Warteliste . Anhand der neuen
Daten wird zu diskutieren sein, wie die Kriterien bedarfs-
und erfolgsorientiert weiterentwickelt werden können .
Das vorliegende Gesetz zum Transplantationsregister
ist aus medizinisch-wissenschaftlicher Sicht ein wichti-
ger Schritt . Doch noch viel wichtiger als dieses Register
ist es, dass sich ein jeder ganz persönlich mit der Frage
auseinandersetzt, ob er im Ernstfall für eine Organspende
zur Verfügung steht .
Geben Sie sich einen Ruck und beschäftigen Sie sich
in einer ruhigen Minute mit dieser wichtigen Frage . Ganz
egal, ob man zu der Erkenntnis kommt, sich dafür oder
dagegen zu entscheiden: Sie nehmen Ihren Angehörigen
eine schwere Entscheidung ab, wenn Sie sich selbst – im
Idealfall natürlich für eine Organspende – entscheiden
und Ihren Willen zu Papier bringen .
Organspende schenkt Leben! Denken Sie daran, dass
Sie selbst jederzeit auch in die Situation kommen kön-
nen, eine lebensrettende Spende zu benötigen, und es lei-
der oftmals viel zu lange dauert, bis ein passendes Spen-
derorgan gefunden werden kann . Ich appelliere daher an
jeden Einzelnen, einen Organspendeausweis auszufüllen
und ihn bei sich zu tragen .
Hilde Mattheis (SPD): Mit dem vorliegenden Gesetz
zur Errichtung eines Transplantationsregisters gehen wir
einen wichtigen Schritt zur Stärkung der Organspende
in Deutschland . Rund 10 000 Menschen warten derzeit
auf ein Spendeorgan . Gleichzeitig wurden 2015 nur rund
3 000 Organe transplantiert – ein neuer Tiefstand, da die
Zahl in den vergangenen Jahren immer weiter gesunken
ist . Diese Zahlen machen uns klar, dass wir in Deutsch-
land ein Problem mit der Akzeptanz unseres bisherigen
Transplantationssystems haben . Nach dem sogenannten
Transplantationsskandal im Jahr 2012 bestand und be-
steht Einigkeit darüber, dass alles getan werden muss, um
das Vertrauen in die Organspende wiederherzustellen .
Dieses Gesetz ist dafür ein Baustein . Wir vollziehen da-
mit einen Schritt, der in vielen Ländern Europas Standard
ist, da es dort ein Transplantationsregister bereits gibt .
Ziel des Gesetzes ist es, ein zentrales Register zu
schaffen, indem wir die Daten von Organspendern und
Lebendspendern sowie Organempfängern bzw . Daten
über die Organe selbst speichern . Diese Erfassung läuft
derzeit dezentral nach unterschiedlichen Kriterien und
Standards . Von einer Zentralisierung versprechen wir
uns vor allem mehr Wissen . Wir wissen zu wenig, wie
die Transplantationszentren arbeiten, ob die bestehenden
Regeln zur Organspende ausreichen und ob sie den Pro-
zess erschweren oder erleichtern . Um diese Wissenslü-
cke zu beheben, braucht es dieses zentrale Register . Wir
erreichen damit eine sehr viel größere Transparenz und
Klarheit darüber, was, wie, wo in Deutschland transplan-
tiert wird . Transparenz ist genau eine der wesentlichen
Forderungen, die zu Recht nach dem Missbrauch in der
Organspende aufgestellt wurden . Es ist daher erfreulich,
dass fast alle beteiligten Verbände die Gesetzesinitiative
der Koalition begrüßen .
Das bisherige Transplantationsverfahren ist unserer
Meinung nach fehleranfällig; denn natürlich kann es bei
dem oftmals sehr zeitintensiven Prozess einer Organ-
spende zu menschlichen Fehlern kommen . Das geplante
Transplantationsregister soll nun alle transplantations-
medzinischen Daten bundesweit zusammenführen . Dazu
wird ein bundesweit einheitlicher Datensatz vereinbart,
der in Zukunft dann an allen Krankenhäusern und für alle
Beteiligten am Spendeverfahren, seien es die Kranken-
häuser, Transplantationszentren, die Verbände der Kran-
kenkassen oder die Deutsche Stiftung Organspende, so
angewandt wird . Wir erwarten uns davon eine deutlich
geringere Fehlerquote und eine verbesserte Dokumen-
tation der Organspende in Deutschland . Zudem werden
den betroffenen Stellen bessere und schneller verfügba-
re Informationen über Wartelisten vorliegen, so dass die
Hoffnung besteht, den Betroffenen schneller und unkom-
plizierter helfen zu können .
Selbstverständlich gibt es bei diesem Transfer von
Daten auch den Datenschutz zu beachten . Im Beratungs-
verlauf wurde noch einmal klargestellt, dass bei Spen-
dern ein sogenannter postmortaler Würdeschutz gegeben
ist und daher Daten nicht ohne jegliche Hürde weiter-
gegeben dürfen . Gleichzeitig gab es Bedenken über
möglicherweise unvollständige Datensätze bzw . Da-
tenerfassung, wenn nicht automatisch alle notwendigen
Daten gespeichert würden . Bei kleinen Fallzahlen – und
3 000 gespendete Organe sind im statistischen Bereich
keine hohen Werte – können schon wenige Abweichun-
gen bzw . Datenmängel zu Verfälschungen in der Statistik
führen .
Wir haben uns darauf geeinigt, dass die potenziellen
Spender freiwillig angeben können, ihre Daten für das
Register bereitzustellen . Damit sollen rechtliche Vorga-
ben zum Datenschutz und zur informationellen Selbst-
bestimmung gewahrt bleiben . Es wurde in der Anhörung
deutlich, dass es keinen ersichtlichen Grund gibt, dass
potenzielle Spender einer Übermittlung von transplanta-
tionsmedizinischen Daten widersprechen, da diese nicht
einem kommerziellen Zweck oder Ähnlichem dienen,
sondern, wie gesagt, zum Beispiel einem Patienten auf
einer Warteliste schneller mitgeteilt werden kann, dass
ein Organ bereitsteht . Ich kann mir nicht vorstellen, dass
Menschen, die selbst spenden, der Datenaufnahme und
-übertragung widersprechen, wenn nachvollziehbare
Gründe angegeben werden .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 18199
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Eine weitere offene Frage war die Übermittlung soge-
nannter Altdaten, also schon erfasster Daten seit 2006 bis
heute, über die Spender, Empfänger, Organe usw . Hier
stellte sich das Problem, dass diese Datensätze nach sehr
unterschiedlichen Kriterien erhoben wurden, zum Teil
unvollständig oder fehlerhaft sind und damit eine bloße
Übertragung das neu aufzubauende Register verfälschen
würde . Gleichzeitig ist für eine Vervollständigung des
Registers aber auch der Satz an Altdaten wichtig und not-
wendig . Mit diesen Daten ist nämlich zum Beispiel er-
kennbar, wie viele Personen noch auf Wartelisten für ein
Organ sind . Und wir sind uns auch darüber einig, dass die
Frage einer Transplantation nicht erst mit dem zur Verfü-
gung stehenden Organ beginnt, sondern mit dem Eintrag
in eine Warteliste . Es ist wichtig, dass die Patienten, die
auf solchen Listen stehen, mit in dem Register erfasst
werden; denn dies zeigt natürlich in sehr eindrücklicher
Weise auf, wie hoch der Bedarf an Organen in Deutsch-
land ist und wie niedrig im Vergleich dazu die Zahl der
möglichen Spender .
Wir haben deshalb im Gesetzgebungsverfahren nach-
gebessert und bestimmt, dass diese Altdaten an die Trans-
plantationsregisterstelle überwiesen und dort gespeichert
werden . Durch die Einbeziehung der zu schaffenden Ver-
trauensstelle haben wir auch hier ein hohes Datenschutz-
niveau sichergestellt . Auch bei diesen Altdaten wird es
nicht möglich sein, den Personenbezug zum damaligen
Spender bzw . Empfänger wiederherzustellen, so dass
Persönlichkeitsrechte gewahrt bleiben .
Eine Vermischung von Alt- und Neudaten, also jenen
Daten, die ab Inkrafttreten des Gesetzes erhoben werden,
wird es nicht geben . Wir haben festgelegt, dass die Altda-
ten als ein unveränderlicher Datenbestand abgespeichert
werden . Somit stehen sie einerseits zur Verfügung, an-
dererseits haben wir technisch eine Trennung zwischen
den verschiedenen Datensätzen . Das ist die sauberste
Lösung .
Die SPD hat sich dafür eingesetzt, dass wir den Auf-
bau und die Funktionsweise des Registers evaluieren . So
können wir prüfen, ob die jetzt gefundenen Lösungen zur
Datenschutzeinwilligung und zu Altdaten auch tragen .
Das ist sehr wichtig, um sicherzustellen, dass in Zukunft
das geplante Transplantationsregister so funktioniert, wie
wir uns das vorstellen und die Transplantationsverbände
es erwarten .
Ich möchte mich bei allen Kolleginnen und Kollegen
für die konstruktive und zielorientierte Arbeit an diesem
Gesetz bedanken . Ich bin sicher: Es ist ein gutes Gesetz
und wird helfen, Transplantationen hierzulande einfa-
cher, besser und transparenter zu machen . Wir sind es
den vielen potenziellen Spenderinnen und Spendern, die
auf ihrem Spenderausweis ein „Ja“ angekreuzt haben,
schuldig, dass im Notfall mit ihrem Körper so umgegan-
gen wird, wie sie sich das vorstellen, und den Menschen
geholfen wird, die dringend ein Organ benötigen . Ich
bin der Überzeugung, dass dieses Gesetz dazu beitragen
wird, wieder Vertrauen in die Organspende zu stiften .
Daran sollten wir alle mitarbeiten .
Kathrin Vogler (DIE LINKE): Mit dem Vorhaben
eines öffentlichen Registers, das sämtliche Daten rund
um Organspende und Transplantation erfasst, greift die
Bundesregierung endlich eine Forderung der Linken auf .
Wir erinnern uns: 2012 erschütterte ein Transplanta-
tionsskandal die Republik . Mediziner in verschiedenen
Kliniken hatten Patientendaten manipuliert, um die eige-
nen Patienten in der Warteliste für ein Spenderorgan wei-
ter vorne zu platzieren . Bereits am 31 . Januar 2013 hat
meine Fraktion in einem Antrag auf Bundestagsdrucksa-
che 17/12225 ein umfassendes Register für Transplanta-
tionen gefordert, um so die medizinische Versorgung zu
verbessern, Transparenz und Vertrauen zu erhöhen sowie
Fehlverhalten zu bekämpfen . Im Sommer vor drei Jah-
ren haben wir dann in einem gemeinsamen Antrag aller
Fraktionen nochmals eine einheitliche und umfassende
Datenerhebung im gesamten Prozess der Transplantati-
onsmedizin gefordert .
Vor diesem Hintergrund will ich erläutern, warum der
Gesetzentwurf der Bundesregierung für Die Linke den-
noch nicht zustimmungsfähig ist .
Erstens sind wir der Auffassung, dass ein solches Re-
gister zwingend in die öffentliche Hand gehört . Genau
dieselben Organisationen mit der Errichtung zu beauftra-
gen, die sich bisher als unfähig oder unwillig erwiesen
haben, wirkliche Transparenz in der Transplantationsme-
dizin herzustellen – also Bundesärztekammer, die Kran-
kenhausgesellschaften und die Krankenkassen –, das ist
nicht geeignet, das Vertrauen der Bevölkerung in die Or-
ganspende wiederherzustellen .
Zweitens sollen wieder einmal ausschließlich die ge-
setzlich Versicherten dieses Register finanzieren. Zu Be-
ginn dieser Wahlperiode hat die Regierungskoalition aus
Union und SPD die Finanzierung der gesetzlichen Kran-
kenkassen zulasten der Beschäftigten und zugunsten der
Unternehmen verändert . Alle künftigen Kostensteigerun-
gen zahlen nun die Versicherten allein . Das führt bei der
Bundesregierung nun schon wieder zu einer unglaubli-
chen Großzügigkeit auf Kosten der Beitragszahler . Wie-
der einmal verlagern Sie eine gesamtgesellschaftliche
Aufgabe, die eigentlich aus dem Bundeshaushalt zu fi-
nanzieren wäre, auf die Krankenkassen . Und die Privat-
versicherungen dürfen, müssen aber nicht mitfinanzie-
ren . Das nenne ich Klientelpolitik der allerfeinsten Sorte .
Drittens gibt es Zweifel, ob Ihnen die Balance zwi-
schen Datenschutz und Datenvollständigkeit mit diesem
Gesetz gelungen ist . In der Anhörung haben verschiede-
ne Sachverständige darauf hingewiesen, dass der Nut-
zen eines solchen Registers sehr von der Vollständigkeit
der erhobenen Daten abhängt . Dass die Patientinnen
und Patienten in die Speicherung ihrer Daten ausdrück-
lich einwilligen müssen, kann in diesem speziellen Fall
dazu führen, dass die Daten nicht repräsentativ genug
sind . Auch könnten einzelne Transplanteure oder Zen-
tren mögliches Fehlverhalten dadurch verschleiern, dass
diese Einwilligung einfach nicht eingeholt wird und die
Daten nicht übermittelt werden . Wäre Ihnen der Schutz
der sensiblen Patientendaten wirklich so wichtig, dann
müssten Sie vor allem die Bundesdatenschutzbehörde für
die zusätzlichen Aufgaben mit zusätzlichen Planstellen
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 201618200
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(B) (D)
ausstatten, aber das unterlassen Sie . Datenschutz ohne
Datenschützer ist nur ein Potemkin’sches Dorf, eine
schöne Fassade mit nichts dahinter .
Trotz dieser Kritikpunkte hätten wir diesem Gesetz
eventuell zustimmen können, hätten Sie es nicht noch
missbraucht, um mit einem Änderungsantrag schnell
noch eine üble Verschlimmbesserung des Pflegestär-
kungsgesetzes II durchzuschleusen . Demnächst sollen
die Pflegekassen zur Hälfte auch die medizinische Be-
handlungspflege von Intensivpflegepatienten in der häus-
lichen Pflege übernehmen.
Die Linke fordert, gemeinsam mit Verbänden, Ge-
werkschaften und Interessenvertretungen der Betrof-
fenen, dass medizinische Behandlungskosten für alle
Patientinnen und Patienten in voller Höhe von den Kran-
kenkassen getragen werden müssen – unabhängig davon,
ob der Patient auch noch Pflegebedarf hat, unabhängig
davon, ob er oder sie zu Hause lebt, im Heim wohnt oder
im Krankenhaus liegt. Weil ja die Pflegeversicherung im-
mer nur einen Teil der Kosten trägt, drohen mit dieser
Regelung gerade für die schwer Kranken, die zum Bei-
spiel 24 Stunden am Tag beatmet werden müssen, hohe
Eigenanteile . Oder die Kosten werden auf die Sozialhil-
feträger, also auf die Kommunen, verlagert . Das machen
wir nicht mit!
Weil wir diese spezielle Regelung vehement ablehnen,
können wir auch dem Gesetz zur Errichtung eines Trans-
plantationsregisters nicht zustimmen .
Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Die Errichtung eines Transplantationsregisters, über die
der Deutsche Bundestag heute entscheiden wird, ist eine
Konsequenz aus den Skandalen, die die Transplantati-
onsmedizin in den letzten Jahren hierzulande erschüttert
haben . Es war der Wunsch aller damals im Bundestag
vertretenen Fraktionen, ein solches Register zu schaffen .
Umso bedauerlicher ist es, dass die gemeinsame
Arbeit in dieser Legislaturperiode keine Fortsetzung
erfahren hat . Es ist schon erstaunlich, wie die Bundes-
regierung bei der Diskussion ihres Gesetzentwurfes non-
chalant über fast alle geäußerten Bedenken hinweggeht .
Änderungsvorschläge wurden kaum übernommen . Das
ist schade, denn einige der von der Bundesregierung
vorgesehenen Regelungen können die Akzeptanz und
Aussagekraft des Registers erheblich gefährden . Meine
Fraktion hätte dem Gesetzentwurf gern zugestimmt, aber
aufgrund der Bedenken, die ich Ihnen im Folgenden er-
örtern werde, werden wir uns enthalten .
Erstens: Nahezu sämtlich Verbände und Akteure im
Transplantationsgeschehen haben darauf hingewiesen,
dass es sinnvoll sein kann, die Einwilligung in die Trans-
plantation selbst mit der Einwilligung in die Datenüber-
tragung an das Register zu verknüpfen . Nur so kann
angesichts der geringen Fallzahlen in der Transplantati-
onsmedizin ein aussagekräftiger Datenbestand erreicht
werden . Und nur so kann vermieden werden, dass sich
Einrichtungen, die schlechte Qualität abliefern oder Da-
ten manipulieren, zukünftig einer Kontrolle entziehen .
Aufgegriffen haben Sie diese Bedenken nicht . Ebenso
wenig haben Sie die sinnvolle Forderung nach einem
Dialyseregister aufgegriffen, um auch in diesem Bereich
für mehr Transparenz zu sorgen . Wir wissen also gar
nicht, wie aussagekräftig und repräsentativ das Register,
das wir heute beschließen, mal sein wird .
Zweitens: Wir legen in diesem Land zu Recht sehr
viel Wert auf eine unabhängige Forschung, auch im Be-
reich der medizinischen Wissenschaft . Im vorliegenden
Gesetzentwurf räumen Sie nun den Spitzenverbänden im
Gesundheitswesen die Befugnis ein, über die Herausgabe
bestimmter Daten zu Forschungszwecken entscheiden zu
dürfen . Damit entscheiden diese Akteure faktisch über
die Durchführung bestimmter Forschungsvorhaben . Sie
können bis heute nicht begründen, warum diese Akteure
und nicht eine neutrale Instanz oder das Register selbst
über die Herausgabe entscheiden sollen . Sie schaffen
damit einen Präzedenzfall, der sich negativ auf die For-
schungsfreiheit auswirken kann . Und sie tun auch den
Verbänden keinen Gefallen damit, wenn diese zukünftig
in den Verdacht geraten, Forschungsvorhaben zu unter-
drücken, weil sie ihren fachpolitischen Interessen mögli-
cherweise widersprechen .
Drittens: Auf unsere Nachfrage hin erklärte die Bun-
desbeauftragte für den Datenschutz und die Informa-
tionsfreiheit in einem Schreiben an den Gesundheits-
ausschuss, dass der Gesetzentwurf den postmortalen
Persönlichkeitsschutz von verstorbenen Organspendern
und -empfängern nicht ausreichend berücksichtigt . So
müsse beispielsweise der Gesetzgeber den zu übermit-
telnden Datensatz für postmortale Spender – zumindest
in seinen wesentlichen Zügen – selbst festlegen . Damit
verbunden ist ein weiteres Problem Ihres Gesetzent-
wurfs: Wie bei anderen Vorhaben auch überlassen Sie
mal wieder der Selbstverwaltung die wesentliche Ausge-
staltung der Regelungen – ohne sich darum zu kümmern,
ob dies rechtlich zulässig ist oder die betroffenen Verbän-
de auch über ausreichende personelle und zeitliche Res-
sourcen dafür verfügen . Sie entziehen sich damit wieder
mal Ihrem Gestaltungsauftrag .
Auffällig in diesem Zusammenhang ist auch, dass das
Transplantationsregister ausweislich des Gesetzes aus
Mitteln der GKV finanziert werden soll. Bei den klini-
schen Krebsregistern ist das anders; dort ist das Mitspra-
cherecht der PKV mit einem finanziellen Beitrag ver-
knüpft . Im vorliegenden Entwurf hingegen räumen Sie
der PKV bedingungslos weitgehende Mitspracherechte
bei der Ausgestaltung des Transplantationsregisters ein
und verzichten damit ohne Not auf einen wesentlichen
Anreiz für die PKV, sich auch an der Finanzierung des
Registers zu beteiligen . Warum, können Sie bis heute
nicht erklären .
Die Legitimation und Akzeptanz der Organspende hat
in den letzten Jahren in Deutschland erheblich gelitten .
Allein durch Plakatkampagnen wird man dieses Vertrau-
en nicht wieder herstellen können . Ein aussagekräftiges
und nicht interessengeleitetes Register ist ein wesent-
licher Baustein dafür, die Organspende in Deutschland
wieder auf die Beine zu bringen . Ein Register hingegen,
das Lücken und Raum für interessengeleitete Entschei-
dungen lässt, wird dies nicht schaffen .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 18201
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Anlage 24
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur
Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und ande-
rer Gesetze (Tagesordnungspunkt 29)
Gero Storjohann (CDU/CSU): Lange Wartezeiten
bei Behörden sind inzwischen nichts Ungewöhnliches
mehr . Da drängt sich mir die Frage auf: Ist das Verfahren
in der Form wirklich notwendig und lässt es sich nicht
vereinfachen und somit für eine Entlastung der entspre-
chenden Stellen sorgen?
Seit dem 1 . Januar 2015 ist es möglich, ein Kraftfahr-
zeug per Mausklick vom heimischen Computer abzumel-
den . Um nun dem Bürger die Fahrzeugzulassung ebenso
zu ermöglichen, werden mit dem vorliegenden Gesetz-
entwurf der Bundesregierung zum Sechsten Gesetz zur
Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und anderer
Gesetze die erforderlichen gesetzlichen Grundlagen ge-
schaffen . Damit wird dem Bürger neben dem herkömm-
lichen Verfahren bei der Zulassungsbehörde ein internet-
basiertes Verfahren zur Wahl gestellt .
Dazu wird die Ermächtigung zur Regelung der zu-
lassungsinternen Verfahren komplettiert, also die Um-
setzung der internetbasierten Wiederzulassung außer
Betrieb gesetzter Fahrzeuge auf denselben Halter im
selben Zulassungsbezirk . Das ist die sogenannte zwei-
te Stufe des Projektes i-Kfz und der entscheidende und
notwendige Schritt vor der endgültigen Implementierung
der sogenannten dritten Stufe: der internetbasierten Fahr-
zeugzulassung .
Für die Umsetzung sind daher organisatorische, tech-
nische und rechtliche Voraussetzungen zu schaffen,
damit dieses Verfahren dann in den jeweiligen Porta-
len der Kommunen angeboten werden kann . Dazu sind
Komponenten zu entwickeln und zu nutzen, die eine
elektronische internetbasierte Abwicklung des Verfah-
rens ermöglichen . Mit diesen Komponenten können die
verschiedenen Fahrzeugzulassungsvorgänge abgebildet
werden, um Bürgerinnen und Bürgern oder auch Unter-
nehmen die Durchführung ihrer Fahrzeugzulassung ohne
Gang zur Zulassungsbehörde zu ermöglichen . Das soll
zudem als vollständig automatisierter Verwaltungsakt er-
möglicht werden, um eine vollständig digitalisierte und
elektronische Abwicklung der Fahrzeugzulassung zu er-
möglichen .
Das begrüße ich, trägt es doch sehr zur Entlastung der
Verwaltung bei, und auch die Nutzer profitieren von dem
zusätzlichen Verfahren, denn hierdurch lässt sich eine
sofortige Teilnahme am Straßenverkehr im Anschluss an
den Zulassungsvorgang verwirklichen .
Ferner werden durch den Gesetzentwurf die nötigen
Speicher- und Übermittlungsvorschriften geschaffen, um
die Daten über Hauptuntersuchungen und Sicherheits-
überprüfungen der durchführenden Stellen im Zentralen
Fahrzeugregister beim Kraftfahrt-Bundesamt speichern
zu können . Das ist notwendig, um die zweite Stufe des
Projektes i-Kfz sowie die Richtlinie 2014/45/EU des Eu-
ropäischen Parlaments und des Rates vom 3 . April 2014
umsetzen zu können . Diese stellt die regelmäßige techni-
sche Überwachung von Kraftfahrzeugen sicher .
Ein weiteres Novum, das in diesem Entwurf steckt, ist
eine Ermächtigungsgrundlage für den Bund, die zur Ent-
lastung der Polizei führt . Seit Jahren nimmt die Zahl der
sogenannten Großraum- und Schwertransporte im deut-
schen Straßennetz massiv zu . Die Wirtschaft hat die Fer-
tigungslinien in vielen Fällen in einer Weise angepasst,
dass große Bauteile in einer Fabrik gefertigt werden, um
diese dann mit Großraum- und Schwertransporten zu den
entsprechenden Verarbeitungs- oder Baustellen zu lie-
fern. Besonders signifikant ist – durch die Energiewen-
de – der Transport von Bauteilen für Windkraftanlagen .
Zugleich hat sich die Verkehrsdichte deutlich erhöht, und
die gesamten Rahmenumstände der Infrastruktur, insbe-
sondere die Brückenstabilität, haben sich im Laufe der
Jahre spürbar verschlechtert . Dies alles führt dazu, dass
bei entsprechenden Erlaubnissen und Genehmigungen
von Großraum- und Schwertransporten in vielen Fällen
als Auflage die Begleitung durch Polizeikräfte angeord-
net wird . Dieses Aufgabenfeld bindet eine Vielzahl von
Ressourcen bei Polizeidienststellen, die anderweitig
dringender benötigt werden .
Eine Möglichkeit ist es, durch den Einsatz von Ver-
fügungshelfern die Polizeikräfte bei der Begleitung zu
entlasten . Dazu muss aber eine bundeseinheitliche Re-
gelung getroffen werden, da es sonst zu Komplikationen
bei länderübergreifenden Transporten kommt . Mit dieser
Vorschrift kann das Bundesministerium für Verkehr und
digitale Infrastruktur eine Verordnung schaffen, damit
bundesweit gleichartige Rahmenbedingungen geschaf-
fen werden . Somit sorgen wir auch hier für Erleichte-
rung in den ausführenden Organen der Bundesrepublik
Deutschland .
Weiterhin beinhaltet dieser Entwurf redaktionelle
Änderungen zur fristgerechten Umsetzung europarecht-
licher Vorschriften in nationales Recht . Dabei wird der
grenzüberschreitende Austausch von Informationen über
die Straßenverkehrssicherheit gefährdende Verkehrsde-
likte mittels dieser Anpassungen erleichtert .
Im Fahrerlaubnisrecht sind durch zahlreiche Überar-
beitungen die Begrifflichkeiten hinsichtlich inländischer
und ausländischer Fahrerlaubnisse uneinheitlich . Dies
gilt es für eine klare und einfache Rechtsanwendung zu
bereinigen. In diesem Entwurf werden diese Begrifflich-
keiten systematisch vereinheitlicht .
Insgesamt lässt sich also sagen, dass uns mit diesem
Gesetzentwurf eine bundeseinheitliche Regelung gelun-
gen ist, die der Mobilität der Bürger der Bundesrepublik
Deutschland zuträglich ist und der Verkehrssicherheit al-
ler dient . Daher ist dieses Vorhaben zu unterstützen und
dem vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung in
geänderter Fassung zuzustimmen .
Stefan Zierke (SPD): Heute stimmen wir über das
Sechste Gesetz zur Änderung des Straßenverkehrsgeset-
zes und anderer Gesetze in zweiter und dritter Beratung
ab .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 201618202
(A) (C)
(B) (D)
Ich möchte an dieser Stelle nicht vertiefend auf die
vielen einzelnen Punkte dieses Artikelgesetzes eingehen,
die im Großen und Ganzen Ermächtigungsgrundlagen,
Klarstellungen und rechtsförmliche Anpassungen von
insgesamt vier Gesetzen betreffen . Vielmehr möchte ich
auf die positive Anpassung bei der Begleitung von Groß-
raum- und Schwertransportern eingehen:
In unserem gemeinsamen Änderungsantrag haben wir
die Regelung eingebracht, dass zukünftig Beliehene oder
Verwaltungshelfer Großraum- und Schwertransporte be-
gleiten können . Damit kann unsere Polizei von dieser
Aufgabe entlastet werden . Ähnlich kennen wir es ja vom
TÜV oder von Toll Collect, die eng definierte hoheitliche
Aufgaben übernehmen und damit die Verwaltung entlas-
ten .
Bislang wurden die Schwertransporte regelmäßig von
Polizistinnen und Polizisten begleitet, die beispielswei-
se an Landesgrenzen aufgrund von Zuständigkeiten ge-
wechselt werden mussten . Teilweise geschieht dies bei
längeren Strecken mehrmals . Dies kostet Zeit, stört oft
den Verkehrsfluss und ist ineffizient.
Ebenso kam es häufiger vor, dass Beamte während
der polizeilichen Transportbegleitung aufgrund von Not-
einsätzen abgezogen werden mussten . Somit musste die
polizeiliche Begleitung unterbrochen werden und konnte
erst nach Beendigung des Noteinsatzes fortgesetzt wer-
den . Diesen misslichen Umstand ändern wir jetzt .
Darüber hinaus nimmt die Zahl der Großraum- und
Schwertransporte im deutschen Straßenverkehr seit vie-
len Jahren kontinuierlich zu . Dabei denke ich insbeson-
dere an den Transport von Windkraftanlangen, Booten
und Fertighäusern . Die meisten Autofahrer kennen diese
spektakulären Transporte von Landstraßen und Autobah-
nen .
Sicherlich ist die Begleitung durch die Polizei aus
sicherheitspolitischen Gesichtspunkten keine zu unter-
schätzende Aufgabe, aber durchaus auch eine, die durch
entsprechend qualifizierte und überprüfte beliehene
Aufgabenträger oder Verwaltungshelfer sehr gut über-
nommen werden kann . Diese Möglichkeit schaffen wir
hiermit .
Die zukünftigen Aufgabenträger können, ähnlich wie
die Polizei, verkehrsrechtliche Anordnungen treffen . Der
Bund regelt damit die Rahmenbedingungen . Die zustän-
digen Landesbehörden übernehmen zukünftig nach die-
sen Regeln die Beleihung und Beauftragung .
Alles in allem werden wir die Polizeikräfte in den
Ländern entlasten . Deswegen stimmen wir zu .
Thomas Lutze (DIE LINKE): Im Ausschuss einen
Änderungsantrag vorzulegen, der fast so lang ist wie der
vorliegende Gesetzentwurf selbst ist, verbietet sich ei-
gentlich . Leider scheint sich diese Arbeitsweise langsam
einzuschleifen – bei der Reform der Erbschaftssteuer war
es nicht anders . Hier allerdings ist es noch schlimmer;
denn Sie fassen mit Änderungsanträgen plötzlich Sach-
verhalte an, von denen in der ersten Lesung noch gar
keine Rede war . Damit beschneiden Sie die Rechte der
Opposition .
Kommen wir zu den einzelnen inhaltlichen Punkten:
Es ist nicht verständlich, dass im elektronischen Fahr-
eignungsregister neben den Identifizierungsmerkmalen
nun auch noch Zulassungsmerkmale gesammelt werden
sollen – im Zusammenhang mit einer internetbasierten
Zulassung datenschutzrechtlich mehr als bedenklich, vor
allem, wenn diese internetbasierte Zulassung nun auch
noch privatisiert werden soll und damit private Unterneh-
men Zugriff auf diese Daten erhalten .
In der ursprünglichen Fassung war der Gesetzentwurf
übrigens unbedenklich, und meine Fraktion hätte ihm
zugestimmt . Aber mit der Privatisierung der Begleitung
von Groß- und Schwertransporten und der Privatisierung
der internetbasierten Zulassung haben Sie dem Gesetz-
entwurf aus ideologischen Gründen einen marktradika-
len Anstrich verpasst, der völlig unnötig ist, zumal der
Rest dann per Verordnung geregelt werden soll und der
Bundestag dann nichts mehr zu sagen hätte .
Auch wir sehen ein, dass die Polizei Besseres zu tun
hat, als privaten Transportunternehmen Geleitschutz zu
geben . Allerdings sollten bei der Privatisierung dieser
öffentlichen Dienstleistung für private Unternehmen die
anfallenden Kosten der Begleitung dann auch komplett
privat getragen werden . Es kann nicht sein, dass private
Unternehmen ein privates Unternehmen für eine Dienst-
leistung beauftragen und der Staat dieses Geschäft dann
bezuschusst . Und außerdem sehe ich bereits jetzt, dass
diese Entlastung der Polizei demnächst als Begründung
für den nächsten Personalabbau herhalten muss .
Bei der Reform der MPU-Gutachten haben Sie mit der
Entgeltordnung eine richtige Regelung getroffen, die in
der Zukunft viel Schindluder verhindern wird . Warum
Sie aber nicht auch gleichzeitig verbindliche Qualitäts-
standards einführen, erschließt sich mir nicht .
Ich komme zum Fazit: Sie haben diesen eigentlich
notwendigen und richtigen Gesetzentwurf im letzten
Moment in einem Maße verschlechtert, dass sich meine
Fraktion enthalten muss .
Stephan Kühn (Dresden) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Mit dem vorliegenden Entwurf zur Änderung
des Straßenverkehrsgesetzes und dem entsprechenden
Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen sollen die
Voraussetzungen für die zweite und dritte Stufe der in-
ternetbasierten Fahrzeugzulassung geschaffen werden .
Weiterhin erfordern europäische Regelungen sowie die
notwendigen Verwaltungsabläufe im Zulassungsverfah-
ren Anpassungen weiterer damit in Verbindung stehender
Gesetze . Damit hält in diesem Bereich der Verwaltung
E-Government Einzug . Endlich wird der ein oder ande-
re sagen . Endlich können Wartezeiten und Wege zu den
Zulassungsstellen entfallen und Behördengänge auch in
diesem Bereich vom Sofa aus geregelt werden . Auch die
Automatisierung des Fahreignungsregisters ist grund-
sätzlich zu begrüßen .
Doch gutes E-Government setzt hohe Anforderungen
an den Datenschutz voraus . Deshalb lohnt sich ein ge-
nauerer Blick auf die beabsichtigten Regelungen . Insbe-
sondere bei der geplanten vollelektronischen Führung
des Fahreignungsregisters wird mit besonders sensiblen
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 18203
(A) (C)
(B) (D)
personenbezogenen Daten umgegangen . Datenschutz-
rechtlich muss immer der Maßstab des Erforderlichkeits-
und Zweckbindungsgrundsatzes im Umgang mit den In-
formationen angelegt werden . Nicht erforderliche Daten
sind umgehend zu löschen oder zu sperren . Eine Um-
funktionierung zu allgemeinen Sicherheitszwecken muss
ausgeschlossen werden . Hier bestehen aber Zweifel hin-
sichtlich der Erweiterung der gespeicherten Daten beim
Verfahren der Direkteinstellung nach § 30a des Gesetz-
entwurfs . Danach können Protokolldaten über Zugriffe
und neu aufgenommene Daten 6 Monate gespeichert
werden . Begründet wird die Frist mit der Möglichkeit der
Kontrolle durch die Bundesbeauftragte für Datenschutz
und Informationsfreiheit . Gleichzeitig bedeutet diese lan-
ge Frist auch erhebliches Risiko für Bürger, weil Zugriffe
durch Sicherheitsbehörden über den gesamten Zeitraum
möglich sind . Näheres bestimmt leider kein Gesetz, son-
dern eine interne Vorschrift des Kraftfahrt-Bundesamtes .
Das ist uns als hinreichende Rechtsgrundlage angesichts
der Sensibilität der Datenbestände allerdings zu wenig,
da hier beispielsweise auch Daten zu Straftatbeständen
abgelegt werden . Vorsicht ist aus unserer Sicht auch des-
halb geboten, weil die konkrete Ausgestaltung eben an
einer Verordnung hängt, auf die wir hier keinen weiteren
Einfluss haben.
Richtig hingegen ist die mit dem Änderungsantrag
vorgeschlagene Ermächtigungsgrundlage, mit der die
bisher verpflichtende Polizeibegleitung von Großraum-
und Schwertransporten auf Dritte übertragen werden
können . Private Spezialunternehmen können auf diese
Weise zur Entlastung der Polizei beitragen, die derzeit
mit rund 300 000 Sondertransporten belastet ist . Die
Polizei kann dann ihre knappen Ressourcen wieder ver-
stärkt für die Verkehrsüberwachung und damit zur Ver-
besserung der Verkehrssicherheit einsetzen .
Allerdings ist dies eine Ausnahme . Grundsätzlich darf
die Wahrnehmung staatlicher Aufgaben nicht schlei-
chend auf Private übertragen werden .
Wir werden uns zu Ihrem Gesetzentwurf wegen der
geschilderten datenschutzrechtlichen Bedenken jeden-
falls enthalten .
Anlage 25
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur besseren
Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf für
Beamtinnen und Beamte des Bundes und Solda-
tinnen und Soldaten sowie zur Änderung weiterer
dienstrechtlicher Vorschriften (Tagesordnungs-
punkt 30)
Oswin Veith (CDU/CSU): Im Koalitionsvertrag ha-
ben wir uns auf einen modernen und familienfreundli-
chen öffentlichen Dienst verständigt . Modern heißt,
sich an Lebenswirklichkeiten und neue Entwicklungen
anzupassen . Nur so können auch zukünftige Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer für den öffentlichen Dienst
begeistert werden . Für junge Arbeitskräfte sind Arbeits-
plätze in der Regel am interessantesten, wenn Familie
und Beruf besonders gut zu vereinbaren sind . In Gesprä-
chen mit jungen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
wird mir dies immer wieder deutlich gemacht . Besonders
häufig höre ich dabei den Wunsch nach flexibler Arbeits-
zeitgestaltung im Falle von Nachwuchs oder Pflegefällen
in der Familie .
Neben der beruflichen Selbstverwirklichung liegt vie-
len auch ihre Familie am Herzen, und Familien sind nun
einmal Mittelpunkt und Anker zugleich . Für einen zu-
kunftsorientierten öffentlichen Dienst bedeutet dies, dass
die Vereinbarkeit der Lebensbereiche Arbeit und Fami-
lie auch zukünftig eines der wichtigsten Themen bei der
Gewinnung von Arbeitnehmern sein wird . Und gerade in
diesem Punkt können wir mit der Privatwirtschaft durch-
aus konkurrieren .
Mit dem Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Fa-
milie, Pflege und Beruf für die Beamtinnen und Beam-
ten des Bundes und die Soldatinnen und Soldaten legen
wir daher einen weiteren Baustein, um den öffentlichen
Dienst attraktiver und vor allem familienfreundlicher zu
machen .
2013 hatten wir mit den Regelungen zur Familienpfle-
gezeit für die Bundesbeamtinnen und Bundesbeamten
und Soldatinnen und Soldaten begonnen und schufen
die Möglichkeit, Familienpflegezeit für pflegebedürftige
nahe Angehörige zu beantragen . Ähnliches hatten wir
zuvor für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ge-
regelt .
Mit dem heute zur Debatte stehenden Gesetz gehen
wir noch einen Schritt weiter . Für die Bundesbeamtin-
nen und Bundesbeamten sowie Soldatinnen und Solda-
ten wird es künftig einen Rechtsanspruch auf Familien-
und Pflegezeit geben. Etwas Vergleichbares haben wir
ebenfalls für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
in der Privatwirtschaft und Tarifbeschäftigte Ende 2014
beschlossen . Nun erfolgt auch in diesem Fall die entspre-
chende Übertragung auf die Beamtinnen und Beamten
und Soldatinnen und Soldaten . Ich halte das für einen
sehr konsequenten Schritt, der nicht zuletzt für mehr
Vertrauen und Sicherheit bei den Bundesbeamten sorgen
wird .
Verringert der oder die Betroffene aufgrund einer
Pflegesituation innerhalb der Familie die Arbeitszeit,
wird ein Vorschuss gewährt, welcher die entstehenden
Gehaltseinbußen abfedern soll und anschließend mit den
Bezügen verrechnet wird . Die wöchentliche Arbeitszeit
muss mindestens 15 Stunden betragen . Die Verkürzung
der Arbeitszeit kann bis maximal 24 Monate gewährt
werden .
Zudem wollen wir den Wechsel in eine andere Lauf-
bahn flexibler gestalten. Um den Wechsel in eine höhe-
re Laufbahn oder eine andere Laufbahn derselben oder
höheren Laufbahngruppe zu erleichtern, werden wir vo-
rübergehend das Nebeneinander zweier Beamtenverhält-
nisse ermöglichen . Bei einem Wechsel musste der Be-
troffene bislang aus dem bestehenden Beamtenverhältnis
entlassen werden . Dies führte immer dann zu erheblichen
Unsicherheiten bei den Beamten, wenn der Wechsel in
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 201618204
(A) (C)
(B) (D)
eine höhere Laufbahn die Ableistung eines Vorberei-
tungsdienstes oder einer Probezeit erfordert . Nun ruht
das bestehende Beamtenverhältnis für die Dauer des Vor-
bereitungsdienstes oder der Probezeit .
Gleichzeitig enthält der Gesetzentwurf einen An-
spruch gegen den Dienstherren auf Schmerzensgeld im
Falle einer Verletzung durch Dritte während des Dienstes .
Immer häufiger werden Beamtinnen und Beamte sowie
Soldatinnen und Soldaten Opfer von Gewalttaten, aus
denen Schmerzensgeldansprüche entstehen . Der Bund
nimmt seine Fürsorgepflicht gegenüber seinen Beamten
sehr ernst und hat sich daher entschlossen, bei Schmer-
zensgeldansprüchen, die eine unbillige Härte darstellen,
die Ansprüche gegenüber den Beamtinnen und Beamten,
Soldatinnen und Soldaten zu begleichen . Bei erheblichen
Schmerzensgeldansprüchen bleiben die Betroffenen
nicht auf ihren Ansprüchen sitzen . Vor dem Hintergrund
der zunehmenden Gewalt gegen Bundesbeamtinnen und
Bundesbeamte halte ich diese Regelung für unabding-
lich, absolut korrekt und notwendig .
Unsere Bundesbeamtinnen und Bundesbeamten set-
zen sich tagtäglich für das Wohl und die Sicherheit un-
serer Bürger ein . Da ist es nur billig und gerecht, ihnen
im Falle von Schmerzensgeldansprüchen, welche nicht
durchsetzbar sind, unterstützend zur Seite zu stehen .
Künftig gilt: Hat der geschädigte Beamte oder die ge-
schädigte Beamtin einen titulierten Schmerzensgeldan-
spruch, kann diesen aber nicht gegen einen zahlungsun-
fähigen Schädiger durchsetzen, besteht die Möglichkeit,
den Anspruch auf Zahlung des Schmerzensgeldes gegen
den Dienstherren zu richten .
Wie bereits erwähnt, muss es sich um einen Schmer-
zensgeldanspruch handeln, dessen Nichtdurchsetzbarkeit
eine unbillige Härte darstellt . Erst dann soll der Dienst-
herr den Anspruch übernehmen . Der Begriff der unbil-
ligen Härte – in der Rechtssprache nennt man das einen
unbestimmten Rechtsbegriff – muss hierbei noch mit
Leben gefüllt werden . Ob ein Schmerzensgeldanspruch
eine unbillige Härte darstellt, hängt von der Höhe des
Schmerzensgeldanspruchs ab .
Der ursprüngliche Gesetzentwurf sah dabei vor, eine
unbillige Härte ab einem Schmerzensgeldanspruch in
Höhe von 500 Euro anzunehmen . Alle darunter liegen-
den Ansprüche stellen demnach keine unbillige Härte
dar . Dies erschien aus meiner Sicht und vor dem Hin-
tergrund, dass Schmerzensgeldansprüche meist auch
mit seelischen Beeinträchtigungen einhergehen, als sehr
hoch gegriffen .
Im Gespräch mit dem Bundesinnenministerium konn-
ten wir den Betrag um die Hälfte herabsetzen, sodass
eine unbillige Härte nun ab einem Anspruch in Höhe von
250 Euro angenommen wird . Bei einem Schmerzens-
geldanspruch in Höhe von 250 Euro und höher ist von
einer erheblichen Verletzung des Beamten auszugehen .
Vor dem Hintergrund der Fürsorgepflicht für die Beam-
ten halte ich es für richtig, hier nicht allzu hoch anzuset-
zen und freue mich darüber, dass das Innenministerium
in diesem Punkt unserer Ansicht gefolgt ist und den ur-
sprünglichen Betrag entsprechend herabgesetzt hat .
Die öffentlichen Dienstleistungen – und zwar nicht nur
im Bereich der inneren Sicherheit – haben in Deutschland
eine hohe Qualität, und unsere Sicherheitskräfte genie-
ßen ein hohes Ansehen . Wir sind es ihnen schuldig, ihnen
bei erheblichen Eingriffen in ihre eigene Unversehrtheit
zur Seite zu stehen . Damit schaffen wir Vertrauen und
sichern zugleich die Einsatzbereitschaft und die Verläss-
lichkeit unserer Sicherheitsbehörden .
Neben der Absicherung bei Schmerzensgeldansprü-
chen wird mit dem Gesetzentwurf viel für die Familien-
freundlichkeit des öffentlichen Dienstes getan . Und ge-
nau dort liegt ein entscheidender Vorteil des öffentlichen
Dienstes gegenüber der Privatwirtschaft . Der Bund als
Dienstherr bietet seinen Bediensteten eine Vielzahl an
Möglichkeiten, um Familie und Beruf zu vereinbaren .
Nicht zuletzt profitieren davon die Bürgerinnen und Bür-
ger . Denn wer bei persönlichen Sorgen und Nöten oder
auch im Falle des freudigen Ereignisses der Geburt eines
Kindes zusammen mit seinem Arbeitgeber eine Lösung
finden kann, ist auch ein motivierter Arbeitnehmer. Und
genau das bieten wir unseren Beamtinnen und Beamten,
den Soldatinnen und Soldaten .
Der vorliegende Gesetzentwurf schließt eine Reihe
von Gerechtigkeitslücken bei der Familienpflegezeit und
Pflegezeit, sowie bei der Schädigung im Dienst durch
Private, sodass ich für Ihre Zustimmung werbe .
Matthias Schmidt (Berlin) (SPD): „Gewalt am Ar-
beitsplatz“ ist ein Thema, das mehr und mehr Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer beschäftigt, darunter in be-
sonderem Maße Beamtinnen und Beamte . Vor wenigen
Tagen hatte ich genau dazu ein Gespräch mit der dbb-Ju-
gend . Hier konnte ich aus erster Hand erfahren, dass die
Kolleginnen und Kollegen im öffentlichen Dienst immer
häufiger darunter leiden. Beschimpfungen, Beleidigun-
gen und auch körperliche Gewalt gehören dazu .
Die Folgen der Gewalt sind vielfältig: psychische
Traumata, körperliche Einschränkungen, Verdienstaus-
fall, Rehabilitation, Versetzungen und Beeinträchtigun-
gen der weiteren Arbeit können dazu gehören . Inzwi-
schen müssen wir auch noch schwerere Folgen in unsere
Betrachtung miteinbeziehen . Wir alle haben noch den
schockierenden Fall in Rothenburg von 2014 vor Augen,
wo ein Jobcentergutachter erstochen wurde . Nehmen wir
ein weniger spektakuläres, aber alltäglicheres Beispiel:
Eine Mitarbeiterin der Bundesagentur für Arbeit wird
in Ausübung ihres Dienstes beleidigt und tätlich ange-
griffen . Sie erleidet dabei körperliche und psychische
Blessuren und fällt im Dienst einige Zeit aus . In einem
zivilrechtlichen Prozess muss sie sich mühsam Schmer-
zensgeldansprüche erstreiten und dann – ist der Täter
mittellos . Das ist kein Einzelfall, den ich hier beschreibe .
Doch warum erzähle ich das?
Wir behandeln heute in zweiter und dritter Lesung ein
Gesetz, das unter anderem genau diesen Punkt aufgreift .
Bislang blieben Beamtinnen und Beamten, die in Aus-
übung ihres Dienstes Opfer von Gewalt wurden und ihre
Schmerzensgeldansprüche nicht durchsetzen konnten,
weil der Schädiger mittellos ist, auf ihren Ansprüchen
sitzen . Für Betroffene war das nach dem Gewalterleb-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 18205
(A) (C)
(B) (D)
nis mit einer weiteren Demütigung verbunden . Mit der
Gesetzesänderung wird ihnen künftig geholfen . Die-
se nicht vollstreckbaren Ansprüche werden fortan vom
Dienstherrn übernommen, das heißt die Geschädigten
erhalten das Schmerzensgeld auch in Fällen, wo beim
Beklagten kein Geld zu holen ist . Damit wollen wir si-
cherstellen, dass die Geschädigten nicht ein zweites Mal
zum Opfer werden, sondern ihren gerichtlich erstrittenen
Anspruch auch durchsetzen können. Das ist nicht nur fi-
nanziell, sondern vor allen Dingen auch moralisch von
Bedeutung und soll einen Beitrag zur Anerkennung der
Beschäftigten leisten . Allerdings soll diese Regelung nur
oberhalb einer Bagatellgrenze Anwendung finden. Der
Regierungsentwurf sah hier zunächst eine Grenze von
500 Euro vor . Wir haben in Gesprächen mit dem Koaliti-
onspartner durchgesetzt, dass diese Grenze auf 250 Euro
reduziert wird. Damit profitieren deutlich mehr Beschäf-
tigte von dieser Leistung, und das ist gut so .
Doch das Gesetz hat noch weitaus mehr zu bieten . Im
Kern des Gesetzes steht die Vereinbarkeit von Familie,
Pflege und Beruf. Viele kennen das aus eigenen Erfah-
rungen in der Familie oder bei Freunden: ein Pflegefall
wirft das gesamte Familienleben durcheinander . Schnell
stellt sich die Frage: Wer kann die Pflege eines Angehö-
rigen übernehmen? Wer reduziert seine Arbeitsstunden,
und in welcher Konstellation kann man sich das leisten?
Diese Situation, die viele Beschäftigte betrifft, soll mit
dem Gesetz verbessert werden .
Wir haben bereits mit dem Pflegezeitgesetz und dem
Familienpflegezeitgesetz die Freistellungsmöglichkeiten
für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verbessert,
wenn plötzlich eine Pflegesituation eintritt. Seit dem
1 . Januar 2015 haben sie einen Anspruch auf vollständige
oder teilweise Freistellung und auf finanzielle Förderung.
Finanzielle Notsituationen können mit Hilfe des Pfle-
geunterstützungsgeldes überbrückt werden . Das brachte
eine deutliche Verbesserung für pflegende und erwerbs-
tätige Beschäftigte mit sich .
Diese Vorteile sollen mit dem heute vorliegenden Ge-
setzentwurf auf Beamtinnen und Beamte und Soldatin-
nen und Soldaten übertragen werden . Dieser Schritt war
notwendig, denn auch hier pflegen und betreuen viele
Menschen ihre Angehörigen parallel zu ihrer Berufstätig-
keit. Auch hier wird der Bedarf an pflegenden Angehöri-
gen im Zuge der demografischen Entwicklung deutlich
steigen und die Erwerbstätigen verstärkt vor Herausfor-
derungen stellen .
Mit dem Gesetzentwurf schaffen wir auch für diese
große und wichtige Beschäftigtengruppe einen Rechts-
anspruch auf Familienpflegezeit und Pflegezeit. Künftig
haben sie einen Anspruch auf Familienpflegezeit von bis
zu 24 Monaten bei einer verbleibenden Arbeitszeit von
15 Stunden pro Woche. Darüber hinaus können sie Pfle-
gezeit beanspruchen bei bis zu 6 Monaten vollständiger
oder teilweiser Freistellung . Damit sind Freiräume ver-
bunden, die die Situation für den Einzelnen verbessern .
Bei einer plötzlich eintretenden Pflegesituation wird das
auch hier die Situation spürbar erleichtern . Hinzu kommt
eine finanzielle Förderung, die als Überbrückungsleis-
tung den Lebensunterhalt für die Betroffenen sichert .
Das Gesetz überträgt damit die Erleichterungen auf die
Gruppe der Beamtinnen und Beamte sowie Soldatinnen
und Soldaten, die als wichtige Säulen in unserer Gesell-
schaft viel Verantwortung übernehmen .
Wir haben mit dem Gesetzentwurf noch weitere Rege-
lungen in den Blick genommen . Künftig wird es möglich
sein, vorübergehend zwei Beamtenverhältnisse, das auf
Lebenszeit und das auf Widerruf oder Probe, nebenein-
ander zu haben . Mit dieser Neuerung reagieren wir auf
die beruflichen Veränderungswünsche der Menschen und
erleichtern ihnen den Wechsel in eine neue oder höhe-
re Laufbahn . Eine kleine Änderung, die die Flexibilität
stärkt und den öffentlichen Dienst attraktiver macht .
Auch konkretisieren wir mit dem Gesetz die Beihil-
feverordnung und nehmen Anpassungen an EU-Normen
vor . Es ist ein Gesetzentwurf, der verschiedene Aspekte
aufgreift . Sie alle zielen in eine Richtung: Es geht uns um
eine Verbesserung der Situation von Beamtinnen und Be-
amten und Soldatinnen und Soldaten . Jeden Tag stehen
sie mit ihrer beruflichen Tätigkeit im Dienst von Staat
und Gesellschaft . Mit diesem Gesetz wollen wir dieser
hohen Verantwortung Rechnung tragen .
Frank Tempel (DIE LINKE): Den öffentlichen
Dienst aufwerten durch bessere Pflegeregelungen!
Es sind zwei gesellschaftliche Entwicklungen zu be-
obachten, die den öffentlichen Dienst in der Bundesrepu-
blik an den Rand der Leistungsfähigkeit führen können .
Das ist das Herunterfahren der öffentlichen Daseinsvor-
sorge durch Stellenabbau bei gleichzeitigem Aufgaben-
aufwuchs sowie die demografische Entwicklung. Beide
Phänomene verstärken sich gegenseitig und führen dazu,
dass staatliche Aufgaben in schlechterer Qualität oder
nicht mehr ausreichend angeboten werden und die Belas-
tung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kontinuierlich
steigt . Der Ruf des öffentlichen Dienstes als Arbeitgeber
hat auf diese Weise massiv gelitten, und insbesondere
Fachkräfte mit Spezialkenntnissen werden händeringend
gesucht .
Die Bundesregierung erkennt zumindest die Bedro-
hung des Fachkräftemangels für die Arbeitsfähigkeit des
öffentlichen Dienstes an und versucht seit einigen Jah-
ren, in kleinen Schritten gegenzusteuern . Über die Ver-
einbarkeit von Familie und Beruf soll die Attraktivität
des öffentlichen Dienstes als Arbeitgeber wiederherge-
stellt werden, um einen Gegenpol zu höheren Gehaltsan-
geboten aus der Privatwirtschaft zu schaffen .
Oft bin ich im Gespräch mit Beamtinnen und Beam-
ten und deren Verbänden . Eine Vereinbarkeit von Beruf
und Familie wird deutlich angezweifelt . Ich schlage der
Regierungskoalition vor: Wenn Sie schon keine Zeit ha-
ben, mit den Beamtinnen und Beamtinnen zu reden und
deren Probleme aufzunehmen, machen Sie doch einfach
eine Befragung . Sie werden interessante Dinge zu hören
bekommen .
Auch das vorliegende Gesetz mit seinen Regelungen
zu besseren Pflegemöglichkeiten für Beamtinnen und
Beamte reiht sich in die Bemühungen ein . Das ist aus-
drücklich zu begrüßen . Wie wir aber schon in der ersten
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 201618206
(A) (C)
(B) (D)
Lesung dargestellt haben: Es ist die richtige Richtung,
aber viel zu kurz gesprungen .
Die Überalterung in der Gesellschaft erzeugt auch
einen höheren Pflegebedarf. Pflege ist aber unserer fes-
ten Überzeugung nach keine private Angelegenheit, die
innerhalb des Familienverbandes zu organisieren und
zu finanzieren ist. Pflege ist eine gesamtgesellschaftlich
notwendige Aufgabe, deren Lasten solidarisch aufgeteilt
und gemeinschaftlich getragen werden müssen . Die Ent-
scheidung, ob familiär gepflegt werden soll, muss frei
von sozialen oder materiellen Zwängen und ohne zeitli-
chen Druck erfolgen können . Sie hingegen genehmigen
zum Beispiel nur zehn Tage Arbeitsfreistellungen, die
genutzt werden sollen, um den Übergang des Angehöri-
gen in die Pflege zu organisieren. In welcher Welt leben
Sie eigentlich? Fragen Sie mal Betroffene, was für einen
realen organisatorischen und bürokratischen Aufwand
dies darstellt . Auch die Notwendigkeit der Zustimmung
des Arbeitgebers ist ein völlig falsches Signal an die
Beamtinnen und Beamten . Ursache für das gebremste
Agieren der Bundesregierung ist das Mantra der Kos-
tenneutralität . Ohne mehr Geld werden die Folgen des
demografischen Wandels und der steigenden Aufgaben-
vielfalt des öffentlichen Dienstes nicht in den Griff zu
bekommen sein .
Was ist bezüglich der Pflege zu tun?
Wir befürworten erstens einen Rechtsanspruch auf
bezahlte Freistellung für die Dauer von bis zu sechs Wo-
chen zur Organisation der neu eingetretenen Pflegesitua-
tion und der ersten pflegerischen Versorgung von Ange-
hörigen oder nahestehenden Personen .
Wir fordern weiterhin einen Rechtsanspruch auf
sechsmonatige Beurlaubung zur Pflege, welcher auch für
die Begleitung in der letzten Lebensphase besteht .
Wir fordern drittens, die Möglichkeit der selbstbe-
stimmten Entscheidung des zu pflegenden Menschen zu
schaffen, von wem sie oder er als „nahem Angehörigen“
gepflegt werden möchte, auch ohne verwandtschaftliche
Beziehungen. Die Definition „nahe Angehörige“ ist wei-
tergehend an die realen Lebensverhältnisse der Pflegen-
den und der zu Pflegenden anzupassen.
Viertens fordern wir analog zum Deutschen Gewerk-
schaftsbund, dass bei Härtefällen großzügige Teilerlasse
ermöglicht werden . Es ist niemanden geholfen, wenn Be-
amtinnen und Beamte gerade in niederen Gehaltsgrup-
pen aufgrund von finanzieller Überlastung verarmen
oder die Pflege unmöglich wird, weil die Pflegenden die
Aufgabe aus finanziellen Gründen nicht mehr wahrneh-
men können .
Auch bei diesem Gesetz gilt: Sie werden schon deut-
lichere Angebote unterbreiten müssen, um den Ruf des
öffentlichen Dienstes als Ort eines familienfreundlichen
Lebensarbeitszeitmanagements, der Vereinbarkeit von
Arbeit und Familie, der umfassenden Mitbestimmung
und von exzellenten Weiterbildungsmöglichkeiten zu
etablieren . Dies und eine Ausbildungs- und Einstellungs-
offensive mit breiten Einstellungskorridoren sind die
Mittel der Wahl, um den öffentlichen Dienst mittelfristig
einsatzfähig und die Daseinsvorsorge aufrechtzuerhalten .
Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Alle Lesungen zu diesem Gesetz gehen zu Proto-
koll, offenbar ist die Bundesregierung selbst nicht allzu
stolz darauf . Selbstverständlich haben auch Beamtinnen
und Beamte, Soldatinnen und Soldaten Angehörige, die
pflegebedürftig werden können. Und viele von ihnen
wollen sich um diese Angehörigen kümmern . Das gilt
aber auch für Selbstständige und Soloselbstständige, das
gilt für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in kleinen
Betrieben . Und die bleiben nach wie vor ausgeschlossen .
Schon das ursprüngliche Gesetz zur besseren Verein-
barkeit von Familie, Pflege und Beruf ist ein Flop. Dass
es jetzt wirkungsgleich auf Beamte und Soldaten über-
tragen wird, macht es nicht besser. Pflegende Angehörige
brauchen keine Auszeit, die sie sich selbst finanzieren
müssen . Sie brauchen eine Entgeltersatzleistung, damit
sie sich ohne weitere Sorgen darum kümmern können,
was für die pflegebedürftige Person wichtig und notwen-
dig ist . Und sie brauchen die Möglichkeit, sich spontan
freinehmen zu können, wenn der Pflegebedürftige ge-
stürzt ist, wenn ein Arztbesuch oder ein Krankenhausauf-
enthalt ansteht, ebenfalls mit Entgeltersatzleistung, und
das jedes Jahr wie beim Kinderkrankengeld .
Um Pflege und Beruf dauerhaft miteinander verein-
baren zu können, ist vor allem eine verlässliche Infra-
struktur wichtig . Denn wenn der Anspruch auf Famili-
enpflegezeit endet, endet nicht automatisch auch die
Pflegebedürftigkeit. Worauf können Menschen sich ver-
lassen? Auf ambulante Dienste, auf Tages- und Nacht-
pflege, auf ehrenamtliche Betreuungsangebote. Und es
darf kein sich ewig wiederholender, nicht zu bewältigen-
der Aufwand sein, diese Angebote zusammenzustellen .
Darum ist auch eine gute, unabhängige und indivi-
duelle Beratung von Pflegebedürftigen und deren Ange-
hörigen nötig: Was wünscht der Pflegebedürftige, was
braucht er, welche Angebote gibt es? Was brauchen die
Angehörigen? Wir wollen, dass die Beratung auf die
Menschen zugeht, wenn das notwendig ist, dass sie sie
aufsucht. Jeder Pflegebedürftige soll Anspruch auf einen
individuellen Case Manager haben, der sich im Dschun-
gel der Angebote zurechtfindet und genau die Angebote
zusammenstellt, die dem Pflegebedürftigen und seinen
Angehörigen nutzen . Und wir wollen auch für die An-
gehörigen Beratung, und zwar nicht nur darüber, was
der Pflegebedürftige braucht, sondern auch darüber, wo
sie selbst Hilfe finden können, wenn sie an ihre Grenzen
kommen .
Mit einem persönlichen Pflegebudget hätten Pflegebe-
dürftige und auch ihre Angehörigen mehr Freiheit: Sie
könnten sich die Leistungen einkaufen, die sie wirklich
haben wollen, die sie entlasten . Es müsste nicht mehr
jeden Tag das gleiche Programm ablaufen . Man könnte
auch mal spazierengehen, einkaufen und dafür einmal
weniger duschen . Der persönliche Case Manager würde
darauf achten, dass die notwendigen Pflegeleistungen
eingekauft werden .
Die beste Beratung hilft freilich nichts, wenn es keine
Angebote gibt . Wenn die Beratung vor Ort angesiedelt
ist, wenn die Menschen unabhängig und individuell nach
ihren tatsächlichen Bedürfnissen beraten werden, dann
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 18207
(A) (C)
(B) (D)
fällt auch ins Auge, was fehlt, welche Angebote noch
notwendig wären. Neue, spezifische und bedarfsgerechte
Angebote können so angestoßen werden .
Grundsätzlich muss die pflegerische Infrastruktur aus-
gebaut werden . Die starren Grenzen zwischen stationä-
rer und ambulanter Pflege müssen fallen. Wir brauchen:
mehr Angebote der Tages- und Nachtpflege, am liebsten
mit Hol- und Bringdienst, mehr Angebote der Kurzzeit-
und Verhinderungspflege, Möglichkeiten für Angehöri-
ge, mit dem Pflegebedürftigen in Urlaub zu fahren – mit
professioneller Unterstützung, damit sich beide erholen
können .
Bessere Beratung, mehr Freiheit bei der Auswahl der
Leistungen, Ausbau der Angebote und ein Pflege- und
Hilfe-Mix zwischen professioneller stationärer bzw . teil-
stationärer und ambulanter Pflege, Haushaltshilfe, An-
gehörigenpflege, Betreuung sowie ehrenamtlichen und
nachbarschaftlichen Hilfen – so können Angehörige un-
terstützt werden .
Darum werden bei unserer grünen PflegezeitPlus die
flankierenden Maßnahmen immer mitgedacht. Denn ein-
fach einen Anspruch auf Arbeitszeitreduzierung ins Ge-
setz zu schreiben, bringt gar nichts . Das werden leider
auch die Beamten und Soldaten zu spüren bekommen,
wenn sie demnächst auch in den Genuss dieses Gesetzes
kommen .
Anlage 26
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz,
Bau und Reaktorsicherheit:
– zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-
rung: Programm zur nachhaltigen Nutzung
und zum Schutz der natürlichen Ressourcen
(Deutsches Ressourceneffizienzprogramm II)
– zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-
rung: Programm zur nachhaltigen Nutzung
und zum Schutz der natürlichen Ressourcen
(Deutsches Ressourceneffizienzprogramm)
– zu dem Antrag der Abgeordneten Peter
Meiwald, Dr. Valerie Wilms, Lisa Paus, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN:
Ressourcenverschwendung stoppen – Nationa-
les Ressourceneffizienzprogramm zukunftsfä-
hig ausgestalten
(Tagesordnungspunkt 31)
Dr. Thomas Gebhart (CDU/CSU): Wir debattieren
heute das Deutsche Ressourceneffizienzprogramm, kurz
ProgRess . Wir debattieren heute erneut deswegen, weil
das erste Programm „zur nachhaltigen Nutzung und zum
Schutz der natürlichen Ressourcen“ aus dem Jahr 2012
nun fortgeschrieben wurde . Dies ist ein Erfolg des Parla-
ments . Vor genau vier Jahren haben wir die Bundesregie-
rung in einem Antrag aufgefordert, alle vier Jahre über
die Entwicklung der Ressourceneffizienz in Deutschland
zu berichten . Die Bundesregierung hat nun mit Prog-
Ress II geliefert .
Schon das erste Ressourceneffizienzprogramm war
ein Erfolg . Deutschland hat im Jahr 2012 als einer der
ersten Staaten überhaupt ein solches Programm verab-
schiedet . Auch die Zahlen zeigen: Die Rohstoffproduk-
tivität entwickelt sich in die angestrebte Richtung . Das
Wirtschaftswachstum wurde vom Rohstoffeinsatz ein
gutes Stück weit entkoppelt .
Aber: Die bereits erzielten Steigerungsraten der Roh-
stoffproduktivität reichen nicht aus, um das gesetzte Ziel
bis 2020 zu erreichen . Das Ziel war die Verdoppelung der
Rohstoffproduktivität vom Jahr 1994 bis 2020 . Aktuell
liegen wir bei einer Steigerung von knapp 50 Prozent .
Das haben wir erreicht . Dieser Erfolg zeigt aber auch,
dass noch viel Potenzial für Verbesserung besteht . Prog-
Ress will dieses Potenzial nutzbar machen .
Worum geht es bei ProgRess? Die effiziente Nutzung
von Rohstoffen ist aus zwei Gründen für uns elementar .
Erstens haben wir als rohstoffarmes Land gar keine ande-
re Möglichkeit, als mit den endlichen Ressourcen intelli-
gent umzugehen . Dazu gehört, Ressourcen und Material
sparsam einzusetzen . Dazu gehört auch, die Wirtschafts-
kreisläufe nachhaltig zu gestalten . Dafür müssen wir
noch mehr bereits genutzte Stoffe wiederverwenden
oder, wo das nicht möglich ist, Stoffe wiederverwerten .
Zum anderen übersteigt die immer stärkere Nutzung
natürlicher Ressourcen die Regenerationsfähigkeit unse-
rer natürlichen Umwelt . Es geht darum, auch nachfolgen-
den Generationen ausreichend natürliche Ressourcen zur
Verfügung zu stellen .
Und schließlich: Nur durch einen effizienten Schutz
unserer Ressourcen durch eine zeitgemäße Umweltpoli-
tik leisten wir einen entscheidenden Beitrag zum Klima-
schutz .
Die Ziele sind klar: Es gilt, den Materialeinsatz zu ver-
ringern, Ressourcen sparsam und effizient zu verwenden
sowie Stoffkreisläufe zu schließen .
Diese Herausforderungen meistern wir nicht neben-
bei . Die Wirtschaft wird weiterhin ihren Beitrag dazu
leisten, den Einsatz ihrer Ressourcen immer effizienter
zu gestalten . Wir sind aber überzeugt: Am Ende überwie-
gen die ökologischen und auch ökonomischen Vorteile .
Um diese Vorteile zu erreichen, hat die Bundesre-
gierung mit dem zweiten Programm zur Ressourcenef-
fizienz einen sinnvollen Maßnahmenkatalog vorgelegt.
Gleichwohl setzen wir darüber hinaus in unserem An-
trag, den wir heute zur Abstimmung stellen, einige wich-
tige Schwerpunkte . Ich will nur ein paar Punkte nennen:
Wir fordern eine umfassende nationale Forschungs-
und Innovationsförderstrategie für neue Ressourcen-
technologien . Dazu wollen wir durch technologieoffene
Forschungs- und Entwicklungsprogramme insbesondere
kleine und mittlere Unternehmen unterstützen, ressour-
censchonende Techniken einzusetzen .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 201618208
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Zweitens: Es ist uns besonders wichtig, Angebote zur
betrieblichen Ressourceneffizienzberatung weiterzuent-
wickeln und auszubauen . Damit soll besonders in kleinen
und mittelständischen Unternehmen das Bewusstsein für
den effizienten Umgang mit Ressourcen gefördert wer-
den .
Als Berichterstatter für Kreislaufwirtschaft schaue ich
mir regelmäßig verschiedene Unternehmen an . Dabei be-
eindruckt mich jedes Mal, wie viele Unternehmen ihre
Prozesse Jahr für Jahr effizienter und intelligenter aus-
gestalten . Gleichzeitig ist ebenso klar: Für die Zukunft
ist dafür noch mehr Potenzial vorhanden . Mit unserem
Antrag unterstützen wir kleine und mittelständische Un-
ternehmen, dieses Potenzial noch besser zu nutzen, um
ihre Ressourcen noch effizienter einzusetzen.
Drittens: Ökobilanzen . Hierbei müssen wir die me-
thodischen Voraussetzungen verbessern, um anhand von
Ökobilanzen bei der Analyse von Ressourcenverbräu-
chen bestimmter Produktgruppen den gesamten Lebens-
zyklus zu bewerten .
Viertens setzen wir uns dafür ein, dass bei der An-
wendung der Ökodesignrichtlinie nicht nur der Ener-
gieverbrauch berücksichtigt wird, sondern ebenso der
Ressourcenverbrauch . Natürlich bleibt der Energiever-
brauch insbesondere für den Klimaschutz eine wichtige
Kenngröße . Gleichzeitig müssen wir verstärkt auch den
Verbrauch der eingesetzten Ressourcen in den Blick neh-
men .
Fünftens fordern wir eine deutliche Ausweitung der
Produktverantwortung . Diese ist in unseren Augen ein
zentrales Instrument zur Vermeidung von Abfällen . Wa-
rum? Wer Produkte in Verkehr bringt, soll für deren spä-
tere Entsorgung am Ende des Lebenszyklus Verantwor-
tung übernehmen . Dieses Prinzip sorgt dafür, dass die
Entsorgungskosten Teil des Produktpreises werden . Die
Entsorgung wird also beim Kauf der Produkte mitbezahlt
und nicht erst über Gebühren bei der Abfallentsorgung
finanziert.
Sechstens wollen wir das Thema Ressourceneffizi-
enz noch stärker auf die internationale Ebene heben . Es
ist klar, dass wir langfristig nur erfolgreich sind, wenn
wir unsere Maßnahmen auch international vorantreiben .
Möglichkeiten dafür bieten sowohl das Kreislaufwirt-
schaftspaket der EU-Kommission als auch die deutsche
Präsidentschaft der G20 im kommenden Jahr .
Und schließlich fordern wir die Bundesregierung auf,
dem Bundestag in vier Jahren erneut über die Entwick-
lungen der im Programm geforderten Maßnahmen zu be-
richten. Denn eines ist klar: Ressourceneffizienz ist ein
langfristiger Prozess, den wir kontinuierlich gestalten
und begleiten müssen .
Michael Thews (SPD): Es ist eine Tatsache: Die
Ressourcen auf unserem Planeten sind endlich . Insbe-
sondere Rohstoffe, Fläche, Boden und Wasser stehen uns
und folgenden Generationen nicht unbegrenzt zur Ver-
fügung . Wenn wir mit unserem Ressourcenverbrauch so
weitermachen wie bisher, dann würden wir im Jahr 2030
die Ressourcen von zwei Planeten verbrauchen . Diese
Tatsache müssen wir uns alle immer und immer wieder
bewusst machen und als große Herausforderung unse-
rer Zeit verstehen . Deshalb begrüße ich das Deutsche
Ressourceneffizienzprogramm ProgRess und seine ers-
te Fortschreibung ausdrücklich . Ich freue mich, dass es
Gegenstand der heutigen Plenardebatte ist . Ressource-
neffizienz, also die Verringerung des Rohstoff- und Ma-
terialverbrauchs, ist unabdingbar für den Umwelt- und
Klimaschutz und muss für uns alle selbstverständlich
werden .
ProgRess I und II sehen ein Bündel von Maßnahmen
und Instrumenten zur Steigerung der Ressourceneffizienz
vor . Hierzu zählen Forschung und Innovation, Bildung,
Beratung, Schaffung von Marktanreizen und Informati-
on . ProgRess lenkt außerdem immer wieder den Fokus
auf das Thema, mit dem sich inzwischen auch viele jun-
ge Firmen beschäftigen, zum Beispiel unter dem Motto
des Cradle to Cradle – oder deutsch „von der Wiege zur
Wiege“ –, also des geschlossenen Kreislaufs der Pro-
dukte . Gemeinsam mit unserem Koalitionspartner haben
wir anlässlich der Ausschussbefassung einen Entschlie-
ßungsantrag vorgelegt, mit dem wir das Engagement der
Bundesregierung in Sachen ProgRess würdigen und wei-
tere, über ProgRess II hinausgehende wichtige Forderun-
gen benennen und vorantreiben wollen . Lassen Sie mich
ein paar mir besonders wichtig erscheinende Punkte aus
unserem Antrag herausgreifen .
Wir wollen die betriebliche Ressourceneffizienzbera-
tung, die derzeit insbesondere vom Zentrum Ressourcen-
effizienz beim VDI durchgeführt wird, ausbauen und
fortentwickeln . Diese Beratung soll in den Unternehmen
das Bewusstsein für den effizienten Umgang mit Res-
sourcen fördern . Nach den Ergebnissen einer Studie von
2015 bekräftigen 73 Prozent der Unternehmen im ver-
arbeitenden Gewerbe, dass sie noch Möglichkeiten für
die Steigerung der Ressourceneffizienz in ihrer Branche
sehen . Hier ist noch viel Potenzial . Die erfolgreiche Ar-
beit des VDI muss weitergeführt und ausgebaut werden .
Darüber hinaus fordern wir, sich dafür einzusetzen,
dass bei der Anwendung der Ökodesign-Richtlinie neben
der Betrachtung des Energieverbrauchs künftig auch der
Ressourcenverbrauch stärker berücksichtigt wird . Ich
denke, wenn wir den Gedanken der Ressourceneffizienz
in Produktions- und Vorbereitungsprozessen stärker ver-
ankern wollen, müssen wir auf europäischer Ebene an-
setzen und können keinen reinen deutschen Sonderweg
einschlagen . Ich bin davon überzeugt, dass die Ökode-
sign-Richtlinie das richtige Instrument ist, und finde, ihr
Anwendungsbereich sollte schrittweise auf weitere Pro-
duktgruppen – neben den energieverbrauchsrelevanten –
erweitert werden .
Ein dritter Punkt aus unserem Antrag liegt mir am
Herzen, und zwar die stärkere Berücksichtigung der Res-
sourceneffizienz bei der öffentlichen Beschaffung. Denn
wir brauchen natürlich auch marktwirtschaftliche Anrei-
ze für die Herstellung von ressourceneffizienten Produk-
ten, zum Beispiel von Produkten aus Recyclingmateriali-
en . Der Bund sollte hier mit gutem Beispiel vorangehen,
indem Ressourceneffizienz in die Leistungsbeschreibun-
gen des Bundes bei Ausschreibungen Eingang findet. Ein
Beispiel könnte die Verwendung von Beton mit rezyk-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 18209
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lierten Gesteinskörnungen, sogenannter RC-Beton, bei
Bauvorhaben sein .
Ressourceneffizienz sollte zu einem Markenzeichen
und Standortvorteil für Deutschland werden!
Ralph Lenkert (DIE LINKE): Der Rohstoffhunger
der führenden Industriestaaten ist eine Ursache für glo-
bale Umweltzerstörung, soziale Verwerfungen und regi-
onale Kriege und Konflikte. Die globalisierte, auf Pro-
duktionswachstum fixierte Marktwirtschaft führt zum
Raubbau an unserem Planeten und mittelfristig in die
Sackgasse .
Ein Ressourceneffizienzprogramm könnte zumindest
den Schwerpunkt weg vom quantitativen hin zum quali-
tativen Wachstum verlagern .
Das erste Ressourceneffizienzprogramm ProgRess I
verfehlt diesen Anspruch . Auf 124 Seiten wiederholen
sich Phrasen, Worthülsen, hehre Ziele – alles blumig
formuliert . Dies wurde kombiniert mit folgenlosen Ab-
sichtserklärungen . Die halbwegs verwertbare Essenz des
gesamten Papieres ließe sich auf 5 Prozent, also auf sechs
Seiten unterbringen . Das wäre schon mal eine erfolgrei-
che Effizienzmaßnahme. Wir alle müssten weniger lesen,
es spart Papier oder Datenvolumen .
Bei genauerer Prüfung dieses Rests stellt man jedoch
leider fest, dass die Bundesregierung glaubt, das Problem
des auf Verschwendung basierenden Wirtschaftens und
Konsumierens ließe sich allein durch Subventionspro-
gramme für die freie Wirtschaft, Forschungsförderung
oder mit unverbindlichen Absichtserklärungen im Tenor
von „müsste, könnte, wäre schön, werden wir prüfen“
lösen .
Den Grundansatz der Ressourcenstrategie, das Wirt-
schaftswachstum vom Ressourceneinsatz zu entkoppeln,
unterstützt die Linke . Die Analyse der Fortschreibung
des Programms – ProgRess II – macht jedoch deutlich,
dass dieses Ziel bisher verfehlt wird .
Damit steigender sozialer Ungleichheit, wachsender
Umweltzerstörung und dem schleichenden Klimawandel
wirkungsvoll begegnet werden kann, muss das Mantra
des stetigen Wirtschaftswachstums kritisch hinterfragt
werden .
Wachstum um des Wachstums willen ist die Philo-
sophie einer Krebszelle . Da die Linke für eine gesunde
Gesellschaft eintritt, muss die bisherige nur auf Mengen-
wachstum ausgerichtete Wirtschaft verändert werden .
Allein das Ziel, dass der Ressourcenverbrauch langsamer
als die Wirtschaftsleistung steigt, reicht nicht – vor al-
lem, weil dies bisher größtenteils durch die Verlagerung
ressourcenintensiver Wirtschaftsbereiche ins Ausland
erreicht wurde . TTIP, CETA und andere Freihandelsab-
kommen, die von dieser Bundesregierung gewollt wer-
den, decken den Widerspruch auf zwischen den real exis-
tierenden globalneoliberalen Wirtschaftskreisläufen, die
sich jeder Reglementierung entziehen wollen, und dem
Regierungshandeln und den schönen Zielen in Sonntags-
reden und ProgRess-Programmen .
Nichtsdestotrotz bringt die Fortschreibung des Pro-
gramms ProgRess II qualitative Verbesserungen beim
Bekämpfen einiger Symptome . Die Ökodesign-Richtli-
nie, Effizienzberatungen, Ziele im Kreislaufwirtschafts-
gesetz und Impulssetzung zur Ressourcenschonung un-
terstützt die Linke .
Leider handelt die Bundesregierung im Tagesgeschäft
entgegengesetzt . Die Ökodesign-Richtlinie beschränkt
sich auf die Leistung von Staubsaugermotoren, statt
das Verhältnis von eingesetzter Energie zum notwendi-
gen Saugergebnis zu bewerten . Wenn Hersteller dann
die Motorleistung verringern und zum Erhalt der Saug-
kraft die Arbeitsbreite an der Saugdüse reduzieren, dann
verlängert sich die Arbeitszeit . Die eingesetzte Energie
bleibt gleich: 1 200 Watt bei einer Stunde Arbeitszeit er-
geben genauso viel wie 600 Watt bei zwei Stunden Ar-
beitszeit, nämlich 1,2 Kilowattstunden . Aber ich verliere
eine Stunde Freizeit . So geht es nicht .
Uns als erfolgreiche Ressourcenschonung die Ein-
führung freiwilliger Abgaben auf Plastetüten verkau-
fen zu wollen, ist zwar nicht falsch, aber angesichts des
Ausmaßes des deutschen Ressourcenverbrauches schon
peinlich .
Das Kreislaufwirtschaftsgesetz wird entgegen den for-
mulierten Zielen novelliert; so wurde der Passus aus dem
Elektro- und Elektronikgerätegesetz, nach dem Akkus in
elektrischen Geräten nicht fest verbaut werden durften,
gestrichen . Jetzt dürfen sie wieder fest eingebaut werden,
und Verbraucher- und Umweltschützer sind fassungslos,
ein Bärendienst für den Ressourcenschutz .
Der Arbeitsentwurf des Wertstoffgesetzes zerstört re-
gionale Kreisläufe und dehnt das transportintensive Ab-
lasshandelprinzip der Dualen Systeme auf Wertstoffe im
Haushaltsabfall aus . Damit entgehen den kommunalen
Abfallentsorgern Einnahmen, was unweigerlich zur Er-
höhung der Abfallgebühren führt .
Die Linke nimmt Ressourcenschutz und Ressourcen-
effizienz ernst, deshalb betrachten wir die gegenwärtige
konsumorientierte Lebens- und Wirtschaftsweise kri-
tisch .
Als erste Schritte zu einer ressourcenschonenden Ge-
sellschaft schlägt die Linke folgende Maßnahmen vor:
erstens Pfandpflicht auf Elektrogeräte, zweitens Min-
destnutzungsdauern von technischen Produkten, drittens
Einführung einer Ressourcenverbrauchsabgabe, viertens
sozial-ökologische Ausrichtung der Abfallwirtschaft,
fünftens ein weitgehendes Verbot von Plastetüten, sechs-
tens Pfandpflicht für Einweggeschirr, wie beispielsweise
To-go-Becher .
Liebe Koalition, stecken Sie weniger Kraft in blumi-
ge Formulierungen in Ressourceneffizienzprogrammen.
Investieren Sie stattdessen in Maßnahmen, wie von der
Linken vorgeschlagen .
Peter Meiwald (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir
alle wissen: Der Ressourcenverbrauch in Deutschland
muss gesenkt werden . Auch und gerade hierzulande ver-
brauchen wir mehr Ressourcen, als unser Planet hergibt .
Wir leben auf Kosten unserer Kinder und Kindeskinder
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 201618210
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sowie vieler Menschen in den Rohstofflieferländern des
globalen Südens .
Auch die Bundesregierung teilt diese Einsicht . Doch
jetzt muss entschlossenes Handeln folgen . Damit tut
sich die Bundesregierung schwer: Das Ressourceneffi-
zienzprogramm ist bei weitem nicht ambitioniert genug .
Die Ziele sind viel zu vorsichtig formuliert . Kein Wun-
der, denn ProgRess II enthält zu wenige konkrete, mit
Finanzmitteln hinterlegte Maßnahmen dafür, den Res-
sourcenverbrauch insgesamt zu drosseln, zu einer richti-
gen Kreislaufwirtschaft zu kommen und insgesamt eine
Lebens- und Wirtschaftsweise zu entwickeln, die enkel-
tauglich ist .
ProgRess II hat das Ziel, den Trend der Gesamtroh-
stoffproduktivität fortzusetzen . Bis zum Jahr 2030 soll
die Effizienz der Rohstoffnutzung um 30 Prozent ge-
genüber 2010 steigen . Das ist gut, doch es genügt nicht .
Wie will die Bundesregierung sicherstellen, dass über
die Steigerung der Rohstoffproduktivität hinaus auch
der absolute Ressourcenverbrauch gesenkt wird? Das ist
dringend nötig; denn würden alle Menschen der Erde so
leben wie wir in Deutschland, bräuchten wir 2,6 Plane-
ten. Doch Suffizienzmaßnahmen scheint die Bundesre-
gierung zu scheuen wie der Teufel das Weihwasser .
Der vorgestern von der Koalition eingebrachte Ent-
schließungsantrag zu ProgRess II liest sich stellenwei-
se wie ein Antrag der Opposition und bringt viele gute
Vorschläge ein . Warum hat die Bundesregierung sie nicht
einfach selbst umgesetzt? Zum Beispiel in puncto Pro-
duktverantwortung: Beim Wertstoffgesetz hat die Bun-
desregierung immer noch die Chance, die Produktverant-
wortung im Sinne einer echten Kreislaufwirtschaft auf
stoffgleiche Nichtverpackungen auszuweiten, stattdessen
aber scheint sie nicht nur das bisherige, ineffektive Sys-
tem der geteilten Verantwortlichkeit mit großer Rechts-
unsicherheit für die Kommunen weiter zementieren zu
wollen . Nein, auch die nachweislich ressourcenschonen-
de Mehrwegquote für Getränkeverpackungen soll auf
diesem Weg stillschweigend beerdigt werden .
Unterdessen steigt der Plastikmüllberg weiter an .
Deutschland ist jetzt schon Europameister im Produ-
zieren von Verpackungsmüll – insgesamt und auch pro
Kopf . Alleine die Menge von Kunststoffverpackungen
hat in Deutschland seit 2009 um fast ein Drittel zuge-
nommen . Hier wird deutlich: Zwischen Anspruch und
Wirklichkeit beim Ressourcenschutz klafft in Deutsch-
land immer noch eine große Lücke .
Wir Grüne zeigen in unserem Antrag „Ressourcenver-
schwendung stoppen“ deshalb konkrete Maßnahmen auf,
wie wir den absoluten Ressourcenverbrauch in Deutsch-
land signifikant senken können. Die im Bürgerratschlag
der Bundesregierung formulierten Forderungen aus der
Zivilgesellschaft bieten gute Anhaltspunkte und machen
deutlich, dass die Bürgerinnen und Bürger hier bereits
weiter sind als die Politiker der großen Koalition . Die
Bürgerinnen und Bürger hatten sogar vorgeschlagen, eine
Primärrohstoffsteuer zu erheben . Im ProgRess-II-Ent-
wurf fehlen ökonomische Anreize für Ressourcenschutz
praktisch vollständig .
Zudem sprachen sich die Beteiligten am Bürgerrat-
schlag zu ProgRess II dafür aus, den Verbrauch von Plas-
tiktüten drastisch zu reduzieren, Einwegverpackungen
einzusparen, den geplanten Verschleiß von Produkten zu
bekämpfen und öffentliche Verkehrsmittel und Carsha-
ring zu fördern .
Das sind alles sehr sinnvolle Forderungen . Doch diese
Dinge kommen nicht von selber . Nur ein einfacher Ap-
pell an die Bürger zum nachhaltigen Konsum wird der
Verantwortung der Bundesregierung in keiner Weise ge-
recht . Die Bundesregierung muss sich als Vorreiter und
nicht als Bremser für mehr Ressourcenschutz positionie-
ren . Ressourcenpolitik sollte als Zentrum des politischen
Handelns betrachtet werden und nicht immer nur als An-
hängsel zum Beispiel der Energieeffizienzpolitik. Hierfür
muss ein klarer Rahmen gesetzt und Regeln verbindlich
festgeschrieben werden .
Deshalb: Ein Ressourcenschutzgesetz als Baustein für
eine enkeltaugliche Politik muss her, in dem dann zum
Beispiel auch klare Vorgaben für das öffentliche Be-
schaffungswesen und die zukunftsfähige Ausgestaltung
von Ausschreibungen geregelt werden .
Rita Schwarzelühr-Sutter, Parl . Staatssekretärin
bei der Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, Bau
und Reaktorsicherheit: Ein schonender und gleichzeitig
effizienter Umgang mit natürlichen Ressourcen ist eine
Schlüsselkompetenz zukunftsfähiger Gesellschaften .
Deutschland hat die besten Voraussetzungen, bei diesem
notwendigen Wandel zu einer ressourceneffizienten Wirt-
schaftsweise voranzugehen und zu einer der weltweit
ressourceneffizientesten Volkswirtschaften zu werden.
Diesen Prozess wollen wir mit dem Programm zur
nachhaltigen Nutzung und zum Schutz der natürlichen
Ressourcen – kurz ProgRess – unterstützen . Mit Prog-
Ress strebt die Bundesregierung an, Wirtschaftswachs-
tum und Wohlstand möglichst weitgehend vom Ressour-
ceneinsatz zu entkoppeln und damit Umweltbelastungen
zu reduzieren . Ziel ist es dabei, die Inanspruchnahme
von Rohstoffen weiter zu reduzieren . Gleichzeitig soll
aber auch zur Sicherheit der Rohstoffversorgung der
deutschen Wirtschaft und zur Minderung von zu starken
Preisschwankungen an den Rohstoffmärkten beigetragen
werden .
Die Bundesregierung ist verpflichtet, dem Bundestag
alle vier Jahre über die Ressourceneffizienz in Deutsch-
land zu berichten, die Fortschritte zu bewerten und das
Programm fortzuentwickeln . Mit ProgRess II, das Ihnen
nun vorliegt, haben wir das im März des Jahres getan .
Ich freue mich, wenn Sie heute durch einen Beschluss
die Bedeutung des Themas für den Bundestag erneut un-
terstreichen, und bedanke mich bei den Fraktionen für
die Debatten und die hervorragende Arbeit, die diese Be-
schlussempfehlung möglich gemacht haben .
Das Programm gibt in seinem Berichtsteil einen Über-
blick über die Umsetzung in den Jahren 2012 bis 2015
und benennt die wesentlichen Aktivitäten .
Die Rohstoffproduktivität entwickelt sich insgesamt
in die gewünschte Richtung, und die verwendeten Indi-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 18211
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katoren deuten darauf hin, dass das Wirtschaftswachstum
tendenziell vom Rohstoffeinsatz entkoppelt wurde .
Das Programm hat sehr dazu beigetragen, den Blick
auf die Ressourcennutzung zu lenken, und es hat eine
Vielzahl von Aktivitäten auf allen Ebenen ausgelöst .
Auch international gewinnt das Thema immer mehr
an Bedeutung, nicht zuletzt durch deutsche Initiative auf
G7-Ebene .
Bei der Weiterentwicklung des Programms im zwei-
ten Teil haben wir auf den Erfahrungen der letzten Jahre
aufgebaut . Die Indikatoren und Ziele wurden überprüft
und ergänzt . Für den neuen, methodisch verbesserten In-
dikator „Gesamtrohstoffproduktivität“ haben wir uns als
Ziel eine Steigerung um 30 Prozent bis 2030 gegenüber
2010 vorgenommen . Struktur und Themenfelder wurden
im Wesentlichen beibehalten . Die Aspekte „Nachhalti-
ges Bauen und nachhaltige Stadtentwicklung“ sowie die
„Ressourceneffizienz von Produkten der Informations-
und Kommunikationstechnik (IKT)“ wurden durch ei-
genständige Kapitel stärker einbezogen . Wo sinnvoll,
sollen bei den Maßnahmen verstärkt Energie- und Mate-
rialströme gemeinsam betrachtet werden .
Wir haben mit dem Deutschen Ressourceneffizienz-
programm viel erreicht . Ressourcenschutz muss im All-
tag gelebt und durchgesetzt werden, und zwar auf allen
Ebenen . Ich bitte Sie daher, unsere Arbeit mit ProgRess
und seine Fortentwicklung weiter zu unterstützen .
Anlage 27
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Sachverständigenrechts und zur weiteren Än-
derung des Gesetzes über das Verfahren in Famili-
ensachen und in den Angelegenheiten der freiwilli-
gen Gerichtsbarkeit (Tagesordnungspunkt 32)
Sebastian Steineke (CDU/CSU): Lassen Sie mich
eines vorwegnehmen: Sachverständige sind für die Auf-
klärung komplizierter Sachverhalte im Gerichtsprozess
ein wichtiger Baustein und daher unverzichtbar . Die
Richterinnen und Richter sind zuweilen auf ihre Experti-
se angewiesen, um bei ihrer Entscheidungsfindung eine
objektive Sicht der für sie oftmals fachfremden Dinge zu
bekommen . Der öffentlichen Berichterstattung ist immer
häufiger zu entnehmen, dass die Unabhängigkeit und
Neutralität von gerichtlich bestellten Sachverständigen
von den Bürgerinnen und Bürgern teilweise infrage ge-
stellt werden . Zudem wird die Qualität gerichtlicher Gut-
achten regelmäßig angezweifelt . Diese Sorgen nehmen
wir als Koalition ernst . Daher setzen wir nun eine auf
Betreiben von CDU und CSU im Koalitionsvertrag ver-
ankerte Vorgabe mit diesem Gesetz um .
Was ändern wir nun im Einzelnen? Künftig müssen
Sachverständige in allen Stadien des Gerichtsverfahrens
prüfen, ob sie mit der Übernahme oder Durchführung
des Auftrags in einem Interessenkonflikt stehen. Denk-
bar ist dies, wenn ein Sachverständiger zum Beispiel ei-
ner Prozesspartei persönlich sehr nahe steht oder bereits
mehrfach für eine Seite tätig geworden ist . Eine solche
Regelung hat natürlich keinen Wert, wenn sie nicht sank-
tionsbewehrt ist . Auf Initiative der Union haben wir da-
her in dem Gesetz bei Verletzung der Offenlegungspflicht
durch den Sachverständigen die mögliche Verhängung
eines Ordnungsgeldes durch das Gericht geregelt . Zudem
verliert der Sachverständige seinen Vergütungsanspruch,
wenn er gegen die Eigenüberprüfung verstößt .
Weiterhin wird die Möglichkeit einer Anhörung durch
das Gericht vor Ernennung des Sachverständigen einge-
führt . Bislang stützte sich die Anhörung in der gerichtli-
chen Praxis auf den allgemeinen Verfassungsgrundsatz
des rechtlichen Gehörs nach Artikel 103 Absatz 1 des
Grundgesetzes . Ein Überprüfungs- und Fragerecht der
Parteien konnte bis dato erst im Rahmen eines Termins
zur mündlichen Anhörung des bereits bestellten Sachver-
ständigen zur Darlegung seines Gutachtens nach § 411
Absatz 3 Zivilprozessordnung ausgeübt werden . Um das
Verfahren jedoch nicht unnötig zu verzögern, liegt eine
Anhörung im Ermessen des Gerichtes . Eine Flexibilität
des Gerichtes war uns als Union hierbei wichtig, da wir
mit dem Gesetz auch dem Ziel einer Effektivierung und
Beschleunigung der Zivilprozesse Rechnung tragen wol-
len .
Ein weiterer Punkt ist die nunmehr obligatorische
Fristsetzung für die Abgabe eines Gutachtens durch das
Gericht . Was in der Praxis bereits in mehr als der Hälfte
der amts- und landgerichtlichen Zivilverfahren erster In-
stanz üblich und bislang als Sollregelung in der Zivilpro-
zessordnung verankert war, wird nun gesetzlich festge-
schrieben . Kommt der Sachverständige innerhalb dieser
Frist seiner Pflicht zur Abgabe des Gutachtens nicht
nach, soll das Gericht ein Ordnungsgeld in Höhe von
bis zu 3 000 Euro verhängen . Bislang war eine entspre-
chende Sanktion entsprechend Artikel 6 Absatz 1 Satz 1
des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch nur bis zu
1 000 Euro möglich . Bei der Fristsetzung wird das Ge-
richt in der Praxis natürlich weiterhin die Arbeitsbelas-
tung des Beauftragten und den zu erwartenden Umfang
des Gutachtens berücksichtigen . Auch die Nachfristset-
zung gemäß § 224 Absatz 2 Zivilprozessordnung bleibt
auf begründeten Antrag des Sachverständigen weiterhin
möglich .
Bei der Beratung dieses Gesetzes war uns wichtig,
dass wir einen vernünftigen Interessenausgleich erreicht
haben . Sachverständige dürfen durch die Neuregelungen
nicht davon abgeschreckt werden, zukünftig gerichtliche
Aufträge anzunehmen . In einigen, vor allem ländlichen,
Regionen ist die Zahl an geeigneten verfügbaren Sach-
verständigen leider immer noch sehr gering . Auf der an-
deren Seite müssen wir dennoch dafür sorgen, dass die
Unabhängigkeit und Neutralität gewährleistet werden
und sich dadurch auch die Gutachtenqualität erhöht . Dies
sind wir im Übrigen auch den vielen gut und redlich ar-
beitenden Gutachtern schuldig . Ich denke, das haben wir
mit der Vorlage sehr gut hinbekommen .
Die Neutralität und Unabhängigkeit von Sachver-
ständigen ist ein wichtiges Gut, um das Vertrauen der
Menschen in unseren Rechtsstaat zu stärken und die Ak-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 201618212
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zeptanz von Gerichtsentscheidungen zu gewährleisten .
Mit dieser Gesetzesänderung schaffen wir eine größere
Transparenz beim Auswahlverfahren durch das Gericht
und stärken die Beteiligungsrechte der einzelnen Partei-
en . Insofern sind wir nun ein gutes Stück weiter .
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich
unseren Sachverständigen in der öffentlichen Anhörung
danken, die uns noch viele wertvolle Hinweise aus der
Praxis an die Hand gegeben haben . Dies hat uns in den
weiteren Beratungen deutlich geholfen .
Dr. Sabine Sütterlin-Waack (CDU/CSU): Wir de-
battieren hier heute in 2 ./3 . Lesung einen Gesetzentwurf,
der sich mit der Qualität von Sachverständigengutach-
ten in Familiensachen befasst . Bei der Frage, wo Kinder
nach der Trennung ihrer Eltern behüteter aufwachsen,
eine bessere Zukunft haben, bedienen sich Richter oft
des Sachverstandes von Fachleuten im Rahmen eines
Sachverständigengutachtens, welches dann zur Grund-
lage ihrer Entscheidung gemacht wird . Bislang müssen
diese Sachverständigen keine Qualifikation nachweisen.
Dieses ändern wir jetzt mit dem vorliegenden Gesetz . Sie
müssen zukünftig zumindest über eine psychologische,
psychotherapeutische, kinder- und jugendpsychiatrische,
psychiatrische, ärztliche, pädagogische oder sozialpäda-
gogische Berufsqualifikation verfügen. Da bei Gutachten
in Kindschaftssachen die Diagnostik und nicht die The-
rapie im Vordergrund steht, haben wir in der parlamen-
tarischen Befassung noch ausführlich über einen Zusatz
für Pädagogen und Sozialpädagogen diskutiert . Diese
Berufsgruppen sollen nun über ausreichende diagnosti-
sche und analytische Kenntnisse durch anerkannte Zu-
satzqualifikationen verfügen.
So stellen wir sicher, dass Sachverständige Gutachten
von hoher Qualität erstellen, die dann dazu führen, dass
Richter die beste Entscheidung zum Wohle der Kinder
fällen .
Damit möchte ich einen anderen, aber genauso wich-
tigen Aspekt ansprechen . Um die Qualität der familien-
gerichtlichen Verfahren weiter zu stärken, ist es nicht
ausreichend, nur das Sachverständigenrecht zu reformie-
ren . Es ist auch notwendig, die gesetzlichen Eingangs-
voraussetzungen für eine Tätigkeit als Familienrichter
zu erhöhen . Denn es ist die Aufgabe der Richterschaft,
qualifizierte Sachverständige auszuwählen, die richtigen
Fragen zu stellen und vor allem das Gutachten auf seine
Verwertbarkeit hin zu überprüfen . Ich möchte aber auch
nicht missverstanden werden . Ich sehe grundsätzlich die
familienrechtlichen Verfahren in kompetenten Händen .
Die Praxis zeigt aber auch, dass teilweise junge Rich-
ter als Familienrichter eingesetzt werden, die die erfor-
derlichen familienrechtlichen Kenntnisse, insbesondere
Grundkenntnisse des Kindschaftssrechts, anfangs nicht
beherrschen und sie erst mit der Berufserfahrung erwer-
ben . Deswegen sehen wir an dieser Stelle einen weiteren
gesetzgeberischen Handlungsbedarf, der in unserem Ent-
schließungsantrag zum Tragen kommt .
In dem Gesetzespaket ist auch eine Neuregelung des
§ 145 Absatz 3 FamFG zu finden. Dabei geht es um die
Möglichkeit der Anschlussbeschwerde von Ehegatten,
wenn ein Versorgungsträger im Rahmen des Versor-
gungsausgleiches durch das Gericht zum Beispiel ver-
gessen wurde, also nicht am Verfahren beteiligt wurde .
Falls durch die nachträgliche Auskunft das Gesamtkon-
strukt im Scheidungsverbund, oft bestehend aus Versor-
gungsausgleich, Zugewinnausgleich und Unterhalt, ins
Wanken gerät, können nun auch die Eheleute sich der
Beschwerde des Versorgungsträgers anschließen . Aber,
und das ist wichtig, der Scheidungsausspruch wird da-
durch nicht berührt . Die Scheidung bleibt rechtskräftig
und kann nicht im Rahmen dieser Art von Beschwerde
angegriffen werden . Damit begegnen wir einem Pro-
blem, das gelegentlich zu Doppelehen geführt hat . In-
sofern ist auch dieses ein Element zur Klarstellung im
Familienrecht .
Darüber hinaus führen wir mit dem Gesetz einen neu-
en Rechtsbehelf ein, mit dem Beteiligte in bestimmten
kindschaftsrechtlichen Verfahren gegen unbegründete
Verfahrensverzögerungen vorgehen können . Für den
ersten Regierungsentwurf war ein relativ kompliziertes
Konstrukt gewählt worden, welches in der öffentlichen
Anhörung bei den Sachverständigen wenig Zustimmung
fand . Daraufhin haben sich die maßgeblich Beteiligten
unter Hinzuziehung der Sachverständigen zusammenge-
setzt, ein verbessertes Mittel der Rüge und Beschwerde
entwickelt, die den Voraussetzungen des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte standhält . Wir haben
nun in Kindschaftssachen eine präventive und kompen-
satorische Rügemöglichkeit .
Ich will nicht verhehlen, dass mir die Begriffe Be-
schleunigungsrüge und Beschleunigungsbeschwerde
nicht gefallen, weil wir natürlich nicht die Beschleuni-
gung rügen . Leider hat keiner der von mir unterbreiteten
Vorschläge die Zustimmung des Ministeriums gefunden,
sodass wir zunächst bei dem etwas unglücklichen Begriff
der Beschleunigungsrüge bleiben . Verbesserungsvor-
schläge werden hier jedoch gerne entgegengenommen .
Abschließend enthält der Entwurf noch eine Ände-
rung zum Zeitpunkt der Rechtshängigkeit bei Entschä-
digungsklagen und es ist wichtig, darauf hinzuweisen . In
der letzten Legislaturperiode ist die Entschädigungsklage
eingeführt worden . Man wollte – so ergibt es sich aus
der Gesetzesbegründung –, dass die Entschädigungskla-
gen in allen Gerichtsbarkeiten in Abhängigkeit zu der
vorherigen Gebührenzahlung stehen . Dieses ist nicht
geschehen . In zivilgerichtlichen Verfahren wird die ein-
gegangene Klage zunächst nur anhängig und erst mit
Zustellung nach Zahlung eines Gerichtskostenvorschus-
ses rechtshängig. In sozial-, verwaltungs- und finanz-
gerichtlichen Verfahren ist die Klage bereits mit ihrem
Eingang bei Gericht rechtshängig . Das Verfahren muss
also ab diesem Zeitpunkt grundsätzlich betrieben wer-
den . Dem Erfahrungsbericht der Bundesregierung über
die Anwendung des Gesetzes zufolge kommt es dadurch
aber zu großer Unsicherheit, welche Rechtsfolgen sich
für die Rechtshängigkeit ergeben, wenn der Gerichts-
kostenvorschuss für die Entschädigungsklage – auch
nach gerichtlicher Fristsetzung – nicht einbezahlt wurde .
Dieser Unsicherheit wollen wir begegnen und dem ur-
sprünglichen Ansinnen des Gesetzgebers nachkommen
und nun in allen Gerichtszweigen dafür sorgen, dass Ent-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 18213
(A) (C)
(B) (D)
schädigungsklagen bei allen Gerichten erst rechtshängig
werden, wenn die Klage nach Zahlung des Vorschusses
zugestellt worden ist .
Alles in allem also eine Verbesserung der Rechtssitua-
tion, und darum sollte es ja immer gehen .
Sonja Steffen (SPD): Die meisten Menschen erle-
ben in ihrem Leben eher selten Gerichtsverfahren . Aber
wenn es denn dazu kommt, dann wollen sie ein faires
Verfahren, neutrale Richter und Richterinnen, rechtliches
Gehör und vor allem einen gerechten und zügigen Ab-
schluss des Verfahrens .
Andererseits wissen wir aber auch, dass es im Laufe
eines Gerichtsverfahrens oftmals eines Gutachtens be-
darf, weil der juristische Sachverstand der Richterinnen
und Richter nicht ausreicht, um sich ein Urteil zu bilden .
Ob dies technische, bauliche oder aber auch familiäre
Angelegenheiten betrifft: Es ist gut und wichtig, dass un-
ser Rechtssystem die Beteiligung von Sachverständigen
ermöglicht . Und wir sind uns alle einig, dass wir über
ausgezeichnete Expertinnen und Experten verfügen, die
Gerichtsverfahren mit ihrem Sachverstand bereichern .
Notwendigerweise ist es aber auch so, dass sich Ver-
fahren durch die Erstellung von Sachverständigengutach-
ten verlängern, insbesondere weil sie sorgfältig erarbeitet
werden müssen . Und wir müssen auch feststellen, dass
der Ausgang der meisten Verfahren entscheidend von
dem Ergebnis des Gutachtens abhängt . Daher kommt
dem Gutachten entscheidende Bedeutung zu!
In der Vergangenheit gab es höchstinstanzliche Ent-
scheidungen und Berichte von Betroffenen, die an der
einen oder anderen Stelle Mängel am Sachverständigen-
recht festgestellt haben .
Vor allem den familienrechtlichen Prozessen, deren
Ausgang über familiäre Schicksale entscheidet, gilt unser
besonderes Augenmerk . In der Regel hängt für alle Pro-
zessbeteiligten sehr viel von dem Ausgang des Prozesses
ab . Insbesondere Kinder leiden neben der Trennung der
Eltern unter den Strapazen, die ein gerichtlicher Prozess
mit sich bringt . Eine Beschleunigung der Prozesse kann
die Belastung verringern und bringt vor allem den Kin-
dern schneller die erwünschte Klarheit .
Durch das hier in 2 . und 3 . Lesung beschlossene Ge-
setz zum Sachverständigenrecht werden Gerichtsprozes-
se beschleunigt und gleichzeitig die Qualität der Gut-
achten sichergestellt . Durch die neuen Instrumente zur
Sicherstellung der Neutralität der Sachverständigen wer-
den Anfechtungsgründe verhindert und fairere Gerichts-
verfahren ermöglicht .
Die aktuelle Praxis zeigt, dass bei Fristversäumnis-
sen durch die Sachverständigen in der Regel keine Ord-
nungsgelder verhängt werden . Durch die in dem Gesetz
beschlossenen Fristsetzungen und Beschleunigungsrü-
gen werden deshalb schuldhaft versäumte Fristen mit
einem Ordnungsgeld von bis zu 3 000 Euro bestraft .
Den Richtern und Richterinnen bleibt jedoch weiterhin
die Möglichkeit, durch Fristverlängerungen möglichem
Mehraufwand oder anderen Gründen für eine Verzö-
gerung Rechnung zu tragen . Die Verhängung des Ord-
nungsgeldes soll daher die Ausnahme bleiben . Ich gehe
deshalb nicht davon aus, dass, wie von einigen Seiten
befürchtet, Prozesse in die Länge gezogen werden, da
sich zukünftig keine Sachverständigen mehr bereit erklä-
ren, ein Gutachten zu erstellen . Vielmehr wird sich für
die meisten Sachverständigen gar nichts ändern, weil sie
schon jetzt ihre Gutachten mit der nötigen Sorgfalt, aber
auch zügig erstellen .
Die in diesem Gesetz außerdem verankerten Min-
destqualifikationsanforderungen für Sachverständige in
Familienrechtsprozessen sorgen für eine höhere Qualität
der Gutachten . Damit wird nicht nur sichergestellt, dass
die Richterinnen und Richter die notwendigen Grundla-
gen zur Verfügung gestellt bekommen, um die für das
Kindeswohl beste Entscheidung zu treffen, sondern auch,
dass die Anfechtbarkeit und mögliche Aufhebung der Ur-
teile durch mangelhafte Gutachten eingeschränkt wird .
Belastungen für die betroffenen Familien werden somit
reduziert . Dass Pädagogen und Sozialpädagogen ihre
Qualifikation durch Zusatzqualifikationen nachweisen
müssen, wird der Vielfalt der Berufsgruppen gerecht und
bietet den Prozessbeteiligten weitere Rechtssicherheit .
Aus unserem Entschließungsantrag wird deutlich, dass
uns die Qualitätsverbesserung in Familienrechtsprozes-
sen weiterhin ein wichtiges Anliegen ist und es Zeit ist,
dass die Länder gemeinsam mit der Bundesregierung ein
Gesetz erarbeiten, in dem auch besondere Eingangsvor-
aussetzungen für Familienrichterinnen und Familienrich-
ter eingeführt werden . Dabei ist es mir wichtig zu beto-
nen, dass eine Großzahl der Prozesse durch qualifizierte
und engagierte Familienrichterinnen und Familienrichter
geführt werden, die den komplexen Herausforderungen
des Rechtsgebietes gerecht werden . Dies durch eine obli-
gatorische Weiterbildung zum Standard zu machen, soll-
te unser nächstes Ziel sein .
Schließlich haben wir durch die Einführung eines neu-
en Verfahrensinstrumentes dafür gesorgt, dass zukünftig
gerade in Kindschaftssachen ein beschleunigtes Verfah-
ren durchgesetzt werden kann . Die Beschleunigungsrüge
und die Beschleunigungsbeschwerde bieten hier die rich-
tigen Ansätze .
Zum Schluss lässt sich sagen, dass es uns mit diesem
Gesetz durch gemeinsame Arbeit von Ministerium, Ab-
geordneten und Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der
Arbeitsgruppen, der Ausschüsse und MdB-Büros gelun-
gen ist, einen weiteren Punkt des Koalitionsvertrages zu
erfüllen .
Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Liebe Leser, ich
möchte mich zunächst vollinhaltlich auf meine erste Pro-
tokollrede zu diesem Gesetz beziehen, soweit sich durch
Änderungsbeschlüsse nichts Neues ergeben hat .
Zu den Neuerungen lässt sich Folgendes feststellen:
Der Entschließungsantrag der Koalitionsfraktion ist
positiv zu beurteilen, da er die Bundesregierung auffor-
dert, einen Gesetzentwurf zu erarbeiten, mit welchem an-
gemessene Eingangsvoraussetzungen für Familienrichter
eingeführt werden .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 201618214
(A) (C)
(B) (D)
Dies ist im Rahmen der Anhörung zu diesem Gesetz
von etlichen Sachverständigen gefordert worden . Die
gleiche Forderung, nur konkreter ausgestaltet, findet
sich im Entschließungsantrag meiner Fraktion . Überdies
auch noch Forderungen an die Qualität von Gutachten .
Gleichwohl wurde bereits im Ausschuss unser Entschlie-
ßungsantrag abgelehnt, wohl auch aus dem Grund, dass
Die Linke es nicht gutheißen kann, wenn die Rechtshän-
gigkeit von Klagen vor den Sozialgerichten, den Verwal-
tungsgerichten und den Finanzgerichten von der Zahlung
eines Kostenvorschusses abhängig gemacht werden soll .
Anstatt die Ursachen der vermehrten Klagen vor den
Sozialgerichten anzugehen, baut der Staat hier Hürden
für Klagen auf, um sich vor Ansprüchen gegen sich
selbst zu schützen . Dies muss man unter anderem im
Zusammenhang mit dem Pflegestärkungsgesetz und dem
Bundesteilhabegesetz sehen, wo mit einer Vielzahl von
Klagen der Betroffenen zu rechnen ist und diese ganz
offensichtlich mit der Kostendrohung abgewehrt werden
sollen .
Da hier wieder durch ein sogenanntes Omnibusver-
fahren durch den Änderungsantrag ganz erhebliche
Änderungen in anderen Gesetzen erfolgen sollen zum
Schutze der Finanzminister und zum Nachteil der betrof-
fenen Bevölkerung, kann Die Linke dieses Gesetz auch
bei den vorhandenen positiven Effekten nur ablehnen .
Deshalb wird dieses Gesetz auch wieder zu nacht-
schlafender Zeit ohne mündliche Aussprache „durch-
gewunken“, in der Hoffnung, dass es zunächst keinem
weiter auffällt .
Aus diesem Grunde halte ich auch von den sogenann-
ten „Protokollreden“ gar nichts .
Selbst die Mitglieder der einzelnen Fraktionen wis-
sen im Zweifel nicht, warum sie bei einem Gesetz ent-
sprechend abstimmen, da sie das Für und Wider zu dem
entsprechenden Gesetz erst nach der Abstimmung im
Protokoll nachlesen können . Und das Argument, dass in
solchen Fällen nur die Fachpolitiker anwesend sind, wel-
che wissen, worum es geht, führt geradezu zwingend zur
Nichtbeschlussfähigkeit des Bundestages, womit eine
Vielzahl von Gesetzen nicht ordnungsgemäß zustande
gekommen sein dürften .
Aus diesem Grunde sollten die „Reden zu Protokoll“
grundsätzlich abgeschafft werden, die Dauer der Plenar-
sitzungen auf ein zeitlich erträgliches Maß beschränkt
werden und, da die Parlamentarier sich nicht in der Pro-
duktion von Papieren einschränken können, die Zahl der
Sitzungswochen in Berlin erhöht werden . Insoweit kann
ich mich nur der Forderung des Bundestagspräsidenten
Lammert anschließen, die Zahl der Sitzungswochen an-
zuheben, um der Zahl der Drucksachen Herr zu werden .
Protokollreden sind aus parlamentarischer Sicht, um
es mit H .-P . Kerkelings Worten zu sagen, „Hurz“ .
Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Jetzt ha-
ben Sie sich also tatsächlich entschieden, mit dem Gesetz
über die Sachverständigen auch noch die Omnibusgeset-
ze, zu denen es keine erste Lesung gegeben hat, im Wege
des Änderungsantrages hier zur Abstimmung aufzuset-
zen . Das ist wirklich mehr als bedauerlich, da die Ex-
pertenanhörung überdeutlich gemacht hat, wie groß der
Änderungsbedarf zur Verzögerungsrüge bei überlangen
Verfahren geraten war . Als Folge dieser Anhörung hätte
es nur eine Schlussfolgerung geben dürfen: Beide Geset-
zesvorschläge wieder trennen und die Verzögerungsrüge
nochmal in neuer Form und in einem ordentlichen Ver-
fahren ins Parlament einbringen . Dann hätten Sie heute
von uns auch eine Zustimmung zur Regelung über die
Sachverständigen bekommen können .
Die Änderungen sowohl in der ZPO als auch gerade
im familiengerichtlichen Verfahren hatten wir bereits
in der ersten Lesung grundsätzlich begrüßt . Das Ord-
nungsgeld bei verspäteter Erstellung eines Gutachtens ist
jetzt nicht mehr obligatorisch, und die Vernehmung des
Kindes sowohl als Zeuge als auch als Beteiligter ausge-
schlossen . Beide Änderungen halte ich für sinnvoll . In
der Anhörung hatten die Experten die pädagogische oder
sozialpädagogische Berufsqualifikation als Vorausset-
zung überwiegend kritisch gesehen . Das haben Sie jetzt
ergänzt um eine weitere diagnostische und analytische
Zusatzqualifikation. Ich könnte mir zwar nach wie vor
noch höhere Anforderungen an die Sachverständigen in
Kindschaftsverfahren vorstellen, aber jetzt kann man mit
den verbesserten Anforderungen erstmal sehen, wie sich
diese bewähren .
Bleibt noch die Frage offen, warum wir den § 163
FamFG nur auf Kindschaftssachen nicht auch auf Vor-
mundschaften und Pflegschaften anwenden? Insgesamt
ist die Regelung in jedem Fall ein Fortschritt zu dem bis-
herigen Zustand und verdient unsere Zustimmung .
Schwieriger wird es mit dem Omnibusgesetz zur Ver-
zögerungsrüge, die jetzt plötzlich Beschleunigungsrüge
heißen soll . Sie mussten hier endlich was vorlegen, weil
sie von europäischer Seite unter Druck stehen . Ein or-
dentliches Gesetzgebungsverfahren mit erster und zwei-
ter Lesung hätte aber durchaus nicht geschadet .
Ihr erster Entwurf eines Änderungsantrages ist in der
Expertenanhörung schlicht durchgefallen, ein bürokrati-
sches Monster, das die Verfahren eher weiter verzögert
als beschleunigt hätte . Nach dieser Anhörung hätten sie
den Omnibus auf jeden Fall abkoppeln und ein ordentli-
ches Verfahren durchführen müssen . Auf jeden Fall sieht
die neue Konstruktion wesentlich übersichtlicher aus
als die bisherige – das war ja auch nicht schwierig . Sie
haben jetzt zu Recht auf die unsägliche Differenzierung
zwischen einfacher und qualifizierter Rüge verzichtet.
Insgesamt hat der jetzige Vorschlag sehr viel Ähnlichkeit
mit dem Vorschlag des von uns Grünen benannten Sach-
verständigen .
Eine weitere Änderung betrifft die Rechtshängigkeit
von Entschädigungsklagen wegen überlanger Verfah-
rensdauer vor öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten,
also Sozialgericht, Verwaltungsgericht und Finanzge-
richt . Für diese Entschädigungsklagen wollen Sie mit
dem Grundsatz brechen, dass Klagen vor öffentlichen
Gerichtsbarkeiten schon mit Einreichung der Klage und
nicht erst mit Zahlung des Gerichtskostenvorschusses
anhängig werden . Dieser Grundsatz hat aber im öffent-
lichen Recht durchaus seine Berechtigung, weil der
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 183 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 7 . Juli 2016 18215
(A) (C)
(B) (D)
Bürger sich hier, anders als in der Zivilgerichtsbarkeit,
in einem Über- und Unterordnungsverhältnis gegenüber
dem Staat befindet, und zwar im doppelten Sinne. Anders
als in der Zivilgerichtbarkeit richtet sich hier nicht erst
die Entschädigungsklage gegen eine staatliche Instituti-
on, sondern bereits das ursprüngliche Klagebegehren des
Bürgers .
Wenn hier in Ihrer Begründung von Gleichbehand-
lung die Rede ist, dann müssen Sie schon Gleiches gleich
und Ungleiches ungleich behandeln . Es geht eben gerade
nicht um Gleichbehandlung mit der Zivilgerichtsbarkeit,
sondern mit allen anderen Klagen, die gegen den Staat als
solches gerichtet sind . Und da gilt eben, dass die Klagen
der Bürgerinnen und Bürger rechtshängig werden, un-
abhängig von der Einzahlung eines Gerichtskostenvor-
schusses . Das ist gegenüber dem Staat auf der Gegenseite
auch richtig so und muss auch für Entschädigungsklagen
seine Geltung haben .
Diese Gesetzesänderungen lehnen wir daher ab . Ins-
gesamt bleibt uns so leider nur die Enthaltung, auch
wenn wir der Änderung bei den Sachverständigen gerne
zugestimmt hätten .
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183. Sitzung
Inhaltsverzeichnis
TOP 4 Regierungserklärung zum NATO-Gipfel
TOP 5 Schutz der sexuellen Selbstbestimmung
TOP 6 Vereinbarkeit von Arbeit und Leben
TOP 38, ZP 2 Überweisungen im vereinfachten Verfahren
TOP 39, ZP 3 Abschließende Beratungen ohne Aussprache
TOP 18 Regulierung des Prostitutionsgewerbes
TOP 8 Gemeinschaftsaufgabe Agrarstruktur und Küstenschutz
TOP 9, ZP 4 Sicherheits- und Friedenspolitik
TOP 20 Bekämpfung des Menschenhandels
TOP 11 Urheberrecht
TOP 12 Integrationsgesetz
TOP 13 Ausbau inklusiver Bildung
TOP 14 Bundeswehreinsatz EUNAVFOR MED Operation SOPHIA
TOP 15 Geschlechtergerechte Haushaltspolitik
TOP 22 Stärkung des Wettbewerbs im Eisenbahnbereich
TOP 17 Stuttgart 21
TOP 7 Austausch steuerrelevanter Daten von Unternehmen
TOP 19 Nachtzugverkehr für klimaverträgliche Fernreisen
TOP 10 Strafbarkeit von Sportwettbetrug
TOP 21 Rente aus Beschäftigung in einem Ghetto
TOP 16 Ausbau digitaler Hochgeschwindigkeitsnetze
ZP 5 Änderung des Bundesmeldegesetzes
TOP 24 Änderung betäubungsmittelrechtlicher Vorschriften
TOP 25 Radargeschädigte der Bundeswehr und der NVA
TOP 26 Friedensprozess in Kolumbien
TOP 27 Änderung des SGB IV
TOP 28 Errichtung eines Transplantationsregisters
TOP 29 Änderung des Straßenverkehrsgesetzes
TOP 30 Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Dienst
TOP 31 Deutsches Ressourceneffizienzprogramm
TOP 32 Sachverständigenrecht in Familiensachen
Anlagen
Anlage 1
Anlage 2
Anlage 3
Anlage 4
Anlage 5
Anlage 6
Anlage 7
Anlage 8
Anlage 9
Anlage 10
Anlage 11
Anlage 12
Anlage 13
Anlage 14
Anlage 15
Anlage 16
Anlage 17
Anlage 18
Anlage 19
Anlage 20
Anlage 21
Anlage 22
Anlage 23
Anlage 24
Anlage 25
Anlage 26
Anlage 27