(D)
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11203
        (A) (C)
        (B)
        Anlagen zum Stenografischen Bericht
        (D)
        Anlage 1
        Liste der entschuldigten Abgeordneten
        Abgeordnete(r)
        entschuldigt bis
        einschließlich
        Amtsberg, Luise BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        02.07.2015
        Baerbock, Annalena BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        02.07.2015
        Becker, Dirk SPD 02.07.2015
        Dr. Böhmer, Maria CDU/CSU 02.07.2015
        Dröge, Katharina BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        02.07.2015
        Fuchtel, Hans-Joachim CDU/CSU 02.07.2015
        Groneberg, Gabriele SPD 02.07.2015
        Hagedorn, Bettina SPD 02.07.2015
        Hartmann (Wackernheim),
        Michael
        SPD 02.07.2015
        Ilgen, Matthias SPD 02.07.2015
        Karawanskij, Susanna DIE LINKE 02.07.2015
        Kiziltepe, Cansel SPD 02.07.2015
        Koenigs, Tom BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        02.07.2015
        Mißfelder, Philipp CDU/CSU 02.07.2015
        Neu, Dr. Alexander S. DIE LINKE 02.07.2015
        Schlecht, Michael DIE LINKE 02.07.2015
        Dr. Steinmeier, Frank-
        Walter
        SPD 02.07.2015
        Wöhrl, Dagmar G. CDU/CSU 02.07.2015
        Anlage 2
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
        Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung
        der Selbsttötung (Tagesordnungspunkt 4)
        Heike Brehmer (CDU/CSU): Gott ist der Schöpfer
        allen Lebens – dieses Verständnis bildet die Grundlage
        unseres christlichen Menschenbildes. Dieses Menschen-
        bild ist die Basis für die Würde und Rechte eines jeden
        Einzelnen, auch für das Recht auf Leben.
        Durch den medizinischen Fortschritt und die demo-
        grafische Entwicklung steigt die Lebenserwartung in un-
        serer heutigen Gesellschaft stetig an. Das ist eine posi-
        tive Entwicklung, mit der sich jedoch nicht nur die
        Hoffnung auf ein langes Leben verbindet – auch die
        Frage, wie wir mit dem Ende unseres Lebens umgehen,
        gewinnt immer mehr an Bedeutung.
        Im Plenum dieses Hohen Hauses befassen wir uns
        deshalb mit dem wichtigen Thema der Sterbebegleitung.
        Die Gruppenanträge, die wir heute in erster Lesung bera-
        ten, befassen sich intensiv mit diesem hochemotionalen
        Thema und spiegeln die Bandbreite der Diskussion in
        unserer Gesellschaft wider.
        Dabei geht es um Menschenwürde, Lebensschutz und
        das Recht auf Selbstbestimmung. Dies wird im Grup-
        penantrag meiner Kollegen Thomas Dörflinger und
        Dr. Patrick Sensburg, den ich persönlich unterstütze, be-
        sonders deutlich.
        Laut einer Umfrage des Sozialwissenschaftlichen In-
        stituts der Evangelischen Kirche in Deutschland sinkt
        die Zahl derjenigen, die sich für die Möglichkeit eines
        ärztlich assistierten Suizids aussprechen. Viele Men-
        schen fürchten sich vor dem Gedanken, vor dem Sterben
        den medizinischen Möglichkeiten der Lebenserhaltung
        ausgeliefert zu sein. Der Gesetzentwurf, der am 19. Mai
        2015 von Thomas Dörflinger und Dr. Patrick Sensburg
        vorgestellt wurde, will mithilfe eines neuen § 217 Straf-
        gesetzbuch die Beihilfe zur Selbsttötung verbieten.
        Die Gefahr, dass jemand mit dem Leid und der Ver-
        zweiflung von Menschen sein Geld verdient, ist mit der
        Unantastbarkeit der Menschenwürde nicht vereinbar. In
        Artikel 1 unseres Grundgesetzes ist festgehalten: „Die
        Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und
        zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“
        Diese Schutzwürdigkeit gilt vom Anfang bis zum Ende
        des Lebens. Sie gehört zu den Kernaufgaben unseres de-
        mokratischen Gemeinwesens. Deshalb dürfen wir die
        Möglichkeit, dass das Sterben eines Menschen mit ei-
        nem Geschäft in Zusammenhang gebracht wird, nicht
        zulassen.
        Das Verbot der Beihilfe zur Selbsttötung hängt un-
        trennbar mit dem Ausbau der Hospiz- und Palliativ-
        versorgung zusammen. Die Palliativmedizin ist eine
        vergleichsweise junge Wissenschaft. Die Beratungsan-
        gebote in Deutschland sind vielen Menschen bisher noch
        nicht ausreichend bekannt oder sehr unterschiedlich aus-
        gebaut. In Zukunft wird es wichtig sein, in den einzelnen
        Bundesländern die Beratungsangebote und notwendigen
        Hilfestellungen für die Betroffenen und ihre Angehöri-
        gen weiter auszubauen. Nur so können wir die Würde
        des Menschen im Kreise seiner Familie bis zum Lebens-
        ende schützen und bewahren.
        Die Abwägung zwischen Werten wie Freiheit, Würde
        und Selbstbestimmung bewegt sich häufig auf einem
        Anlagen
        11204 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
        (A) (C)
        (D)(B)
        schmalen Grat zwischen Emotionen und Rechtspre-
        chung. Der Gruppenantrag von Thomas Dörflinger und
        Dr. Patrick Sensburg behandelt das Thema Sterbehilfe
        mit der notwendigen Verantwortung vor Gott und den
        Menschen und schafft eine wichtige Klarheit im Straf-
        recht.
        Jeder Mensch hat das Recht auf ein menschenwürdi-
        ges Leben und ein ebenso menschenwürdiges Lebens-
        ende. Wenn wir diesen Grundsatz beherzigen, werden
        wir den Menschen in unserem Land gemeinsam mit
        Hospizen, Familie und medizinischem Fachpersonal ein
        Lebensende in Würde und Geborgenheit bieten können.
        Ansgar Heveling (CDU/CSU): Weniger als zwei
        Monate vor seinem eigenen Tod schrieb Franz Kardinal
        König, der beliebte Alterzbischof von Wien sowie sei-
        nerzeit wesentlicher Denker und Lenker des Zweiten Va-
        tikanischen Konzils, im Januar 2004 in einem Brief an
        den österreichischen Verfassungskonvent zu Fragen der
        Sterbehilfe: „Menschen sollen an der Hand eines ande-
        ren Menschen sterben und nicht durch die Hand eines
        anderen Menschen.“ Damit hat Kardinal König jenseits
        aller juristischen Kategorien sehr griffig und unmissver-
        ständlich auf den Punkt gebracht, wo die ethische Grenz-
        linie im Umgang mit dem Sterben für die Gesellschaft
        liegt.
        Die Unantastbarkeit der Würde des Menschen ist ein
        fundamentales Gebot auch im säkularen Verfassungs-
        staat. Sie zu achten und zu schützen, ist Aufgabe aller
        staatlichen Gewalt. Dessen sollten wir uns sehr deutlich
        bewusst sein. Es mögen unabhängige Begründungswur-
        zeln sein – dennoch: In diesem Verständnis sind sich das
        christliche und das humanistische Menschenbild im Üb-
        rigen einig. Bei beiden steht der einzelne Mensch im
        Mittelpunkt; seine Würde ist es, um die es geht.
        Natürlich hat der autonome Wunsch des Einzelnen,
        über sein Leben zu entscheiden, Respekt verdient. Auf
        die Gesellschaft als Ganzes bezogen ist es indessen ein
        Indiz des gesellschaftlichen Versagens: Wie ist es um die
        Würde des Menschen im Sterben bestellt, wenn bei dem
        Einzelnen der Wunsch entsteht, seinem Leben ein Ende
        zu setzen?
        Kardinal König spricht in diesem Zusammenhang
        von einer „Kultur des Lebens“, um die es gehe und zu
        der auch eine „Kultur des Sterbens“ gehöre. Dabei for-
        muliert er so: „Das Leben des Menschen ist mehr als
        eine beliebige biologische Tatsache unter anderen.“
        Auch dessen sollten wir uns als Richtschnur bewusst
        sein.
        Das Strafrecht kann dabei zwangsläufig nicht das
        erste Mittel sein, ethischen Aufträgen an die Gesell-
        schaft gerecht zu werden. Behutsamkeit, Verständnis für
        die körperlichen und psychischen Veränderungen, die
        etwa das Alter mit sich bringt, Sensibilität – alles das
        kann nicht der Staatsanwalt bescheren. Aber das Straf-
        recht ist dann gefordert, wenn es darum geht, den beson-
        deren Schutz der Würde des Menschen durchzusetzen.
        Gegen Entwicklungen, die dem zuwiderlaufen.
        Nach einer intensiven Orientierungsdebatte im No-
        vember des vergangenen Jahres und dem Zusammenfin-
        den verschiedener Gruppen beraten wir heute in erster
        Lesung vier unterschiedliche Gesetzentwürfe, die sich
        mit dem Umgang mit der Suizidbeihilfe und dem „assis-
        tierten Suizid“ befassen.
        Ich unterstütze den mit Michael Brand, Kerstin
        Griese, Kathrin Vogler, Dr. Harald Terpe, Michael
        Frieser, Dr. Eva Högl, Halina Wawzyniak, Elisabeth
        Scharfenberg und Dr. Claudia Lücking-Michel gemein-
        sam eingebrachten Gesetzentwurf, der vorsieht, die ge-
        schäftsmäßige Suizidbeihilfe – und nur diese – in einem
        § 217 StGB strafbewehrt zu verbieten. Ich halte diesen
        Ansatz für richtig und die begrenzte strafrechtliche Er-
        fassung der geschäftsmäßigen Suizidbeihilfe für einen
        behutsamen und zurückhaltenden Weg, um mit dem Mit-
        tel des Strafrechts auf Fehlentwicklungen zu reagieren.
        So griffig die eingangs zitierte Formel von Kardinal
        König auch zunächst einmal ist – macht sie doch deut-
        lich, dass es eine strenge Grenzlinie zwischen Tötung
        auf Verlangen und Hilfe beim Sterben gibt –, so unscharf
        ist sie, wenn es um die Selbsttötung geht.
        Der historische Gesetzgeber des Strafgesetzbuches im
        19. Jahrhundert hat sich bewusst – und im Übrigen vor
        der Geltung eines Grundrechtskataloges – entschieden,
        den Suizid, den versuchten Suizid und dementsprechend
        auch Anstiftung und Beihilfe zum Suizid nicht unter
        Strafe zu stellen. Diese Wertentscheidung des Gesetzge-
        bers hat nun über 100 Jahre Bestand und wird in der Ge-
        sellschaft anerkannt.
        Über eine lange Zeit hat es auch nur wenig Probleme
        bei der Handhabung gegeben. Lange Zeit bestand hierzu
        auch kaum ein Anlass. Die Frage nach strafrechtlicher
        Verantwortung stellte sich im Wesentlichen in Einzelfäl-
        len mit besonderen Konstellationen, die allesamt Aus-
        druck innerer Konflikte im zwischenmenschlichen Nah-
        bereich sind.
        Davon haben wir uns indessen mittlerweile weit ent-
        fernt. Aus dem individuellen Konflikt ist durch das Auf-
        treten von Sterbehilfevereinen die Diskussion um ein
        Dienstleistungsangebot geworden. Es geht um All-inclu-
        sive-Pakete in den Tod. Das ist eine Entwicklung, der
        wir nicht tatenlos zusehen dürfen.
        Wie der Gesetzentwurf festhält, nehmen auch in
        Deutschland die Fälle zu, in denen Personen auftreten,
        deren Anliegen es ist, einer Vielzahl von Menschen in
        Form einer Dienstleistung eine schnelle und effiziente
        Möglichkeit für einen Suizid anzubieten. Dies geschieht
        beispielsweise durch das Verschaffen eines tödlich wir-
        kenden Mittels und das Anbieten einer Räumlichkeit, in
        der das Gift durch die suizidwillige Person eingenom-
        men werden kann.
        Zu denken ist aber auch an Fälle, in denen von
        Deutschland aus die Gelegenheit vermittelt wird, im
        Ausland die für eine Selbsttötung notwendigen Mittel
        und Räumlichkeiten zu erhalten. Im Vordergrund solcher
        Handlungen steht dabei nicht ein Beratungsangebot mit
        primär lebensbejahenden Perspektiven, sondern die ra-
        sche und sichere Abwicklung des Selbsttötungsent-
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11205
        (A) (C)
        (D)(B)
        schlusses. Diese Entwicklung lässt befürchten, dass die
        Hilfe zum Suizid als eine normale Dienstleistung ange-
        sehen wird und sich Menschen zur Selbsttötung verleiten
        lassen, die dies ohne ein solches Angebot nicht tun wür-
        den.
        Der Gesetzentwurf, der sich für die Einführung der
        Strafbarkeit der Förderung der geschäftsmäßigen Suizid-
        beihilfe einsetzt, wird einerseits dem Respekt vor der in
        der Vergangenheit nie bestrittenen Grundentscheidung
        des historischen Gesetzgebers gerecht, der sich gegen
        eine Strafbarkeit des Suizids und der Teilnahme daran
        entschieden hatte, und greift andererseits korrigierend
        ein, um neuen Entwicklungen entgegenzutreten. Damit
        wird eine behutsame strafrechtliche Korrektur vorge-
        nommen. Die Grundentscheidung zur Straflosigkeit des
        Suizids und der Teilnahme daran wird nicht angetastet.
        Vielmehr wird durch das Abstellen auf die Geschäftsmä-
        ßigkeit als eigenständigem Tatbestand deutlich gemacht,
        dass es um die strafrechtliche Bewertung eines eigenen
        Unwerts geht. In der Geschäftsmäßigkeit der Suizidhilfe
        liegt der eigenständige Grund für die Strafbarkeit.
        Ich halte diesen Weg für richtig, auch wenn daraus ein
        rechtssystematisches Problem erwächst, das der Gesetz-
        entwurf mit einer Abwägungsentscheidung löst. Die Ge-
        schäftsmäßigkeit ist ein sogenanntes persönliches Merk-
        mal im Sinne von § 28 Absatz 1 StGB. Nach dieser
        Vorschrift verhält es sich aber so, dass ein Teilnehmer
        – also jemand, der an der geschäftsmäßigen Beihilfe
        zum Suizid in irgendeiner Form teilnimmt – selbst nicht
        das Merkmal der Geschäftsmäßigkeit erfüllen muss, um
        unter die Strafbarkeit des § 217 neu StGB zu fallen – als
        Teilnehmer. Dies kann insbesondere für Angehörige und
        nahe stehende Personen relevant werden.
        Hier haben wir abgewogen und sind zu dem Schluss
        gekommen, dass das Näheverhältnis Vorrang vor straf-
        rechtlichen Untersuchungen haben sollte. Daher ist für
        Angehörige und nahestehende Personen ein persönlicher
        Strafausschließungsgrund in § 217 Absatz 2 StGB nor-
        miert. Angehörige und nahestehende Personen werden
        mithin von § 217 StGB nicht erfasst.
        Auch wir als Parlament haben einen klaren Verfas-
        sungsauftrag. Es ist auch unsere Aufgabe, die Würde des
        Menschen zu schützen. Diesem umfassenden Schutzauf-
        trag müssen wir sorgfältig gerecht werden. Gerade die
        Regelung von Lebenssachverhalten, die sich mit dem
        Beginn und dem Ende des Lebens befassen, bedarf dabei
        einer besonderen Sensibilität. Das sind die Punkte, an
        denen, um nochmals Kardinal König zu zitieren, „das
        Leben in besonderer Weise gefährdet, ja ‚zerbrechlich‘
        ist, wo die Gefahr droht, dass der Mensch ganz über den
        Menschen verfügt“. Dort liegt unser besonderer Schutz-
        auftrag. Dort geht es nicht mehr um den Vorrang der in-
        dividuellen Selbstbestimmung, sondern um das ethische
        Fundament einer ganzen Gesellschaft.
        Folgen wir der Maxime „Menschen sollen an der
        Hand eines anderen Menschen sterben und nicht durch
        die Hand eines anderen Menschen“. Übersetzen wir
        diese klare menschliche Grundregel in das juristisch
        Mögliche!
        Michaela Noll (CDU/CSU): Heute kommen wir er-
        neut zusammen, um darüber zu sprechen, wie wir das
        Thema Sterbebegleitung gesetzlich regeln wollen. Nach
        einer sehr bedachten Debatte im November des letzten
        Jahres und sehr intensiven Gesprächen sowohl hier im
        parlamentarischen Raum als auch bei Veranstaltungen in
        meinem Wahlkreis habe ich mich dazu entschieden, den
        Gruppenantrag „Entwurf eines Gesetzes zur Strafbarkeit
        der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung“ des
        Kollegen Michael Brand zu unterstützen.
        Aus meiner heutigen Sicht ist dieses Gesetzesvorha-
        ben der richtige Weg und zusammen mit den Vorhaben
        unseres Bundesgesundheitsministers, Hermann Gröhe,
        die Hospiz- und Palliativversorgung zu verbessern, ein
        wichtiger Schritt, um bestmögliche Voraussetzungen für
        eine menschenwürdige Sterbebegleitung zu schaffen.
        Dies ist jedoch meine sehr persönliche Sicht, und mir ist
        bewusst, dass man sich als gesunder Menschen nur
        schwer in den Gefühlszustand eines Sterbenskranken hi-
        neinversetzen kann.
        In den vergangenen Monaten habe ich mich mit vielen
        Ärzten, Mitarbeitern von Hospizeinrichtungen, Angehö-
        rigen schwerkranker Menschen und Theologen unterhal-
        ten. Ich habe Veranstaltungen organisiert, um verunsi-
        cherten Bürgern die Möglichkeit zu geben, Fragen zu
        stellen und Sorgen zu erläutern. Die eine Veranstaltung
        trug den Titel „Lebenshilfe statt Sterbehilfe“ und die an-
        dere „Erfülltes Leben – in Würde sterben“. Beide Titel re-
        gen sehr zum Nachdenken an und sind auch meine An-
        satzpunkte in dieser Debatte.
        Sehr deutlich wurde in all diesen Gesprächen, dass
        das Thema Sterben ein Tabuthema ist und es erschre-
        ckend viele Menschen gibt, die Angst haben, eines Tages
        schwerstkrank und einsam sterben zu müssen. Deshalb
        möchte ich den Schwerpunkt dieser Debatte nicht allein
        auf ein Für oder Wider hinsichtlich der ärztlichen Sui-
        zidassistenz legen. Ich bin der Meinung, dass die Angst
        vor dem sozialen Tod, der Einsamkeit am Lebensende,
        eine besonders große Aufgabe für unsere Gesellschaft
        ist. Hier geht es darum, alle Ressourcen zu mobilisieren,
        damit die Würde des Menschen geschützt ist. Hier darf
        niemand wegschauen, und wir sind alle gefragt, schwä-
        cheren und älteren Menschen zu helfen.
        Ein weiterer wichtiger Punkt in meinen Gesprächen
        war die große Angst davor, dass ein organisiertes Ange-
        bot ärztlicher Hilfe beim Suizid ältere und schwächere
        Menschen in den Tod drängen könnte.
        Dazu möchte ich heute sagen: Es darf nicht sein, dass
        wir als Gesetzgeber Türen öffnen, durch die verzweifelte
        oder schwerkranke Menschen hindurchgehen oder sogar
        gedrängt werden. Ein Angebot organisierter Suizidassis-
        tenz könnte Entscheidungen hin zum Suizid fördern. Bei
        Fachgesprächen auch hier im Bundestag haben wir aber
        erfahren, dass ein Wunsch nach Suizid durch psycho-
        logische, medizinische und letztendlich einfühlsame
        menschliche Hilfe sich wieder in einen Wunsch, zu le-
        ben, ändern kann. Viele Menschen, die die Absicht ha-
        ben, sich selbst zu töten, leiden Studien zufolge an De-
        pressionen. Wenn ein Mensch erfährt, welche konkrete
        Hilfe er bekommen kann, und sich ernst genommen fühlt
        11206 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
        (A) (C)
        (D)(B)
        in seiner Not und Angst, sind die Aussichten gut, dass er
        vom Wunsch, zu sterben, Abstand nimmt.
        Wenn wir nun diese sehr persönlichen Lebenssituatio-
        nen und die rechtliche Lage in Deutschland verknüpfen,
        können wir Folgendes festhalten: Regelungsbedarf er-
        gibt sich bei der organisierten Beihilfe zum Suizid. Es
        darf keine Sterbehilfevereine und andere organisierte
        Formen der Förderung der Selbsttötung geben.
        Ich wünsche mir für unsere Gesellschaft ein mensch-
        liches Begleiten der Sterbenden statt ein aktives Been-
        den des Lebens. Deshalb sage ich auch, dass es keine ge-
        setzlichen Sonderregelungen für Ärzte geben soll. Ich
        denke, hier sollten wir auf die ethischen Grundsätze ärzt-
        licher Sterbebegleitung vertrauen. Hier geht es darum,
        Leiden zu lindern und Sterbenden bis zum Tod auch mit
        den Möglichkeiten der Palliativmedizin beizustehen.
        Eine Sonderregelung für Ärzte birgt für mich die Gefahr,
        dass ärztlich assistierter Suizid als eine „Behandlungsop-
        tion“ gesehen werden könnte. Wenn wir hier ansetzen
        würden, wäre es bis zum Töten auf Verlangen nicht mehr
        weit. Eine Sonderreglung für Ärzte wäre somit eine Öff-
        nungsklausel, die wir dann nicht mehr schließen könn-
        ten.
        Die Ärzte, mit denen ich in Fachgesprächen hier in
        Berlin und auch bei mir im Wahlkreis gesprochen habe,
        sehen es als ihren Grundsatz, dass jeder Mensch das
        Recht hat, an einer helfenden Hand statt durch eine Hand
        zu sterben. Auch sie sprechen sich alle für eine weitrei-
        chende Verbesserung der Palliativ- und Hospizversor-
        gung aus.
        Als Schirmherrin des Franziskus-Hospizes Hochdahl
        in meinem Wahlkreis begleite ich diese wichtige und
        wertvolle Arbeit schon sehr lange. Ich möchte mich
        ausdrücklich dafür aussprechen, dass wir einen massiven
        und raschen Ausbau der palliativmedizinischen und -pfle-
        gerischen Begleitung von Schwerstkranken und Sterben-
        den vorantreiben. Besonders wichtig erscheint es mir,
        dass wir neben den sterbenskranken Menschen auch An-
        gehörigen, Freunden und Pflegenden mehr Unterstüt-
        zung zukommen lassen.
        Niemand soll schwerstkrank, verzweifelt und alleine
        sterben müssen. Ich hoffe sehr, dass wir durch das Ge-
        setz, das unser Bundesgesundheitsminister auf den Weg
        gebracht hat, die professionelle palliative und psychoso-
        ziale Begleitung sterbender Menschen schnellstmöglich
        flächendeckend ausbauen können.
        Ich wünsche mir, dass wir mit unserem Antrag und
        dem Ausbau der Hospiz- und Palliativversorgung die
        Möglichkeiten für eine humane Sterbebegleitung aufzei-
        gen können und so letztlich die Kultur der Lebensbeja-
        hung fördern.
        Johannes Selle (CDU/CSU): Wir kommen mit dem
        Gesetzesvorhaben, bei dem die letzte Lebensphase in
        den Mittelpunkt gestellt wird, an eine ethische Grenze.
        Wir tangieren ganz elementare Überzeugungen der ein-
        zelnen Kollegen. Die unausgesprochene Frage „Bin ich
        nach dem Tod noch verantwortlich?“ schwingt mit.
        Deshalb verlaufen die Textvorschläge ja auch nicht
        entlang von Parteilinien.
        Als ein zentraler Begriff erweist sich in der Debatte
        die Selbstbestimmung über das eigene Leben. Das ist
        ziemlich einsichtig und heißt für mich, jeder sollte nur
        für sich selbst verantwortlich sein. Ich habe erlebt, wie
        Menschen kein Wasser und keine Nahrung mehr annah-
        men, als für sie die Zeit erfüllt war.
        Für mich bedeutet das ebenfalls, dass ich nicht per
        Gesetz Handlungen, hier die aktive Hilfe zum Tod, als
        verantwortlich und unbedenklich bezeichnen möchte,
        die möglicherweise zu verantworten sind. Wir kommen
        durch die moderne Medizin in diese Grenzbereiche, aber
        wir können durch die moderne Medizin auch sicherstel-
        len, dass Schmerzen verhindert werden können. Mir ge-
        fällt die Aussage, dass unsere mitmenschliche Verpflich-
        tung darin besteht, beim Sterben zur Seite zu stehen und
        nicht zum Sterben zu verhelfen.
        Bei meinen Besuchen im Hospiz und an Sterbebetten
        erlebte ich, wie dankbar Nähe angenommen wird und
        wie schwierig eine zusammenhängende Kommunikation
        werden kann. Den Hinweis auf die und die Diskussion
        der Möglichkeit des assistierten Suizids kann ich mir in
        diesen Situationen nicht vorstellen und empfinde ich als
        unwürdig.
        Bei der Zulassung der Beihilfe zum Tod befürchte ich
        auch ein Aufweichen des Unrechtsbewusstseins und ein
        schleichendes Ausweiten auf Fälle, die heute wie selbst-
        verständlich ausgeschlossen werden. Das ist unsere viel-
        fache menschliche Erfahrung.
        Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Zur ersten Lesung
        der Gruppenanträge zur Sterbebegleitung möchte ich ei-
        nige kurze Gedanken skizzieren, die mir für die anste-
        henden Beratungen wichtig erscheinen.
        Sterbebegleitung, so der Titel der Debatte, bedeutet
        Begleitung eines Menschen am Ende seines Lebens.
        Auch wenn Sterben das Leben beendet, so steht der Ster-
        beprozess im Leben und ist Teil des Lebens. Wir haben
        daher eine Entscheidung in Bezug auf uns selbst und un-
        sere Vorstellung vom Leben zu treffen. Nicht der Tod
        darf für die Debatte bestimmend sein, sondern die Mo-
        mente des Lebens in seinen letzten Augenblicken.
        Zugrunde liegt die Frage: Gibt es rechtliche und ethi-
        sche Konstanten, die zu allen Phasen des Lebens in sei-
        nen unterschiedlichen Aspekten gleichermaßen gelten?
        Die Antwort darauf kann nur lauten, dass es diese
        Konstante gibt. Es ist die Idee von der unteilbaren
        Würde des Menschen, aus der sich die aufgeworfene
        Frage von selbst beantwortet.
        Der Text unseres Grundgesetzes beginnt mit zwei
        grundlegenden Wertentscheidungen: einmal in der Prä-
        ambel. Diese setzt unsere Verfassung in einen verant-
        wortlichen Bezugsrahmen zu Gott und den Menschen.
        Die andere Wertentscheidung findet sich in Artikel 1:
        „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten
        und zu schützen ist Auftrag aller staatlichen Gewalt.“
        Dieser Anspruch ist absolut. Nicht in einem religiös zu
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        verstehendem Sinne, sondern vielmehr als eine bewusste
        Orientierung des Verfassungsgebers an Werten, die eine
        freiheitliche und ethische Ordnung erst gewährleisten,
        ohne sie aus sich selbst heraus begründen zu können.
        Der absolute Wert des menschlichen Lebens und un-
        sere Menschlichkeit werden zu einem immerwährenden
        und nicht abdingbaren Dogma erhoben, weil wir sonst
        nicht leben könnten. Der Mensch kann die Begründung
        für das Menschsein nicht schaffen oder gar definieren.
        Sie ist einfach gegeben. Weil wir Menschen sind.
        Daraus erwächst für die staatliche Ordnung die
        Pflicht, Leben zu schützen. Das gilt aber gleichermaßen
        für den Einzelnen. Die staatliche Ordnung lebt durch das
        Handeln der Menschen. Sie ist davon nicht getrennt,
        sondern ergibt sich erst daraus. Leben mit ethischen und
        solidarischen Regeln ist das Band, das die Menschen zu-
        sammenhält. Deswegen trennt dieses Band, wer das Le-
        ben eines anderen beendet oder dies gezielt fördert. Er
        stellt sich somit außerhalb des notwendigen und akzepta-
        blen Grundkonsenses. Der Philosoph Robert Spaemann
        spricht daher zu Recht von einer „ungeheuerlichen Zu-
        mutung“, wenn von Menschen verlangt würde, an der
        Beendigung des Lebens behilflich zu sein. Es würde sich
        am Ende gegen die Leidenden und somit auch gegen uns
        selbst richten.
        Andererseits muss die Frage erlaubt sein, welches
        Leid und welche Linderung wir den Menschen zumuten
        dürfen oder gestatten müssen. Von der Erduldung von
        Leid zu sprechen, fällt leichter, wenn man davon nicht
        betroffen ist. Es ändert aber nichts an der Realität des
        Schmerzes. Daher gibt es die Situationen, in denen Le-
        ben nicht mehr ertragbar erscheint. Darauf muss eine
        Antwort geben, wer Leben schützen und bewahren
        möchte. Dies ist die Stunde für richtige und mitfühlende
        Palliativ- und Hospizmedizin.
        Die Antwort auf Aspekte des Leids darf nicht in der
        aktiven Hilfe zum Sterben liegen. Erst recht nicht, wenn
        diese Hilfe zum Sterben als Teil des Lebens kommerzia-
        lisiert oder regelmäßig wäre. Dies würde eine ethische
        Entwicklung aufzeigen, die entgrenzt und kaum zu be-
        herrschen wäre. Wird ein Aspekt des Lebens zur Dispo-
        sition gestellt und ihm daher weniger Würde zugeschrie-
        ben, dann ist es nicht völlig fernliegend, dass auch
        Menschen in anderen Lebenslagen infrage gestellt oder
        gar unter Gesichtspunkten der Nützlichkeit betrachtet
        werden.
        Diesen Weg wollen und dürfen wir niemals beschrei-
        ten. Nicht allein aus historischen Gründen oder wegen
        der konzeptionellen Idee der Würde des Menschen, son-
        dern auch aus einem einfachen und einleuchtenden
        Grund: wegen uns selbst.
        Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Die Dis-
        kussion über das Thema „Sterbebegleitung“ in unserer
        Gesellschaft und bei uns im Bundestag ist von großem
        Ernst und hohem Verantwortungsbewusstsein geprägt.
        Begonnen haben wir die Beratungen im Parlament
        bereits im vergangenen Jahr mit einer sogenannten
        Orientierungsdebatte. Ich hoffe, dass wir zusammen auf
        einem guten Weg sind, dieses Thema in einem großen
        parlamentarischen und gesellschaftlichen Konsens zu
        entscheiden. Sowohl hier im Deutschen Bundestag als
        auch in zahlreichen öffentlichen Veranstaltungen und
        Diskussionen ist zu spüren, dass der Respekt vor der an-
        deren Meinung prägend für diese Diskussion ist.
        Es ist gut, dass wir in dieser Frage einzig und allein
        unserem Gewissen folgen. Die fraktionsübergreifenden
        Anträge, die uns heute vorliegen, sind bereits jetzt Aus-
        druck einer lebendigen Debattenkultur.
        Was mir Sorge bereitet, ist, dass in den vergangenen
        Jahren die Aktivität von Vereinen und Einzelpersonen
        zugenommen hat, die Sterbewilligen Hilfsdienste beim
        Suizid anbieten. Tödliche Substanzen werden besorgt,
        Hinweise zur Einnahme gegeben, und gelegentlich sind
        sogenannte Helfer sogar bei der Selbsttötung zugegen.
        Einige von ihnen betrachten diese Tat als reine Dienst-
        leistung, für die eine Rechnung ausgestellt wird. Andere
        wiederum legen Wert darauf, lediglich ehrenamtlich zu
        handeln. Bisher ist es in Deutschland nicht eindeutig ge-
        regelt gewesen, ob sie mit ihrem Handeln gegen gelten-
        des Recht verstoßen haben oder auch nicht. Das Ziel ei-
        ner gesetzlichen Regelung zur Sterbebegleitung muss
        daher sein, einen Rechtsrahmen zu setzen, der in Zu-
        kunft für Klarheit sorgt.
        Die Begleitung Sterbender stellt grundsätzliche Fra-
        gen an jeden von uns selbst. Jeder geht daher mit seinem
        ganz eigenen Blickwinkel in diese Debatte über die Ster-
        bebegleitung hinein. Orientierungspunkte können der
        Glaube und die eigenen religiösen Überzeugungen sein,
        auch persönliche Erfahrungen, Erlebnisse und Schick-
        sale. Für Christen, aber auch für Angehörige anderer Re-
        ligionsgemeinschaften ist das Leben zuallererst ein Ge-
        schenk Gottes.
        Der Tod ist eine oft verdrängte Tatsache im Leben.
        Viele sind unsicher, wie sie mit der Situation des Ster-
        bens umgehen sollen. Der Abschied von einem geliebten
        Menschen ist oftmals gerade auch für die Angehörigen
        und für Freunde eine starke emotionale Belastung. Rein
        rational betrachtet wissen wir, dass die Geburt, das Le-
        ben und der Tod untrennbar zu unserem Wesen als Men-
        schen gehören. Schließlich ist uns die Endlichkeit unse-
        res eigenen irdischen Daseins mit unserer Geburt
        vorherbestimmt.
        Während wir jedoch die Geburt und auch das Leben
        insgesamt als Geschenk und Glück empfinden, ist unsere
        letzte Lebensphase oftmals geprägt durch das Gefühl
        von Unsicherheit und Einsamkeit, von Leid und
        Schmerz, von Belastung und Hilfsbedürftigkeit. In man-
        chen Menschen erwächst vor dem Hintergrund der Er-
        wartungen an einen möglicherweise leidvollen Sterbe-
        prozess der Wunsch, den Zeitpunkt des eigenen Todes
        selbst bestimmen zu können. Die Würde des Menschen
        drücke sich auch in der Selbstbestimmung des Zeitpunk-
        tes des Todes aus, so eine häufig vorgebrachte Argumen-
        tation.
        Ich persönlich kann diese Argumentation nicht teilen.
        Ich bin der Auffassung, dass sich die Würde des Men-
        schen im gesellschaftlichen Umgang mit Schwerkran-
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        ken, Alten und Schwachen und in ihrer Sterbebegleitung
        widerspiegelt. Mein Standpunkt ist, dass jedes Leben
        von Gott gewollt ist und wir das Leben tatsächlich als
        Gabe, für die wir Verantwortung tragen, verstehen soll-
        ten. Es ist deshalb unsere Aufgabe, jedes Leben als Teil
        unserer Gesellschaft zu betrachten und jeden Menschen
        mit seinen Begabungen, Fähigkeiten und Schwächen in
        unsere Gesellschaft zu integrieren.
        Die Evangelische Kirche in Deutschland, EKD, hat
        über das Forschungsinstitut Emnid eine bundesweite
        Studie zum Thema Sterbehilfe in Auftrag gegeben.
        61 Prozent der Befragten glauben demnach, dass bei ei-
        ner Legalisierung der ärztlichen Hilfe zum Freitod Men-
        schen vermehrt um todbringende Medikamente bitten
        würden – um Belastungen der Familie zu vermeiden.
        Das menschliche Leben darf sich jedoch nicht nach
        seiner Leistung und Nützlichkeit für die Gesellschaft er-
        messen. Eine Gesellschaft, die nur auf Aktivität und
        Leistung setzt, wird unmenschlich. Deshalb ist es Auf-
        gabe einer humanen Gesellschaft, den Menschen die
        Ängste, Sorgen und Nöte beim Sterben zu nehmen und
        für sie auch in den schwersten Stunden da zu sein. Es ist
        als Gesellschaft unsere Aufgabe, den Menschen beizu-
        stehen und ihnen Trost zu spenden. Es ist unsere gemein-
        same Aufgabe, die Menschen in der letzten Phase ihres
        Lebens zu begleiten, ihre Schmerzen zu lindern und ih-
        nen das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit zu ge-
        ben.
        Als Gesellschaft sollten wir daher lieber darüber
        nachdenken, wie Menschen würdevoll auf ihrem letzten
        Weg begleitet werden können, statt ihnen einen schnel-
        len und selbst herbeigeführten Tod am Lebensende zu
        ermöglichen. Schwerkranken und alten Menschen darf
        nicht das Gefühl gegeben werden, eine Last zu sein.
        Ich lehne daher jede Form der kommerziellen oder ei-
        ner auf Wiederholung angelegten Sterbehilfe ab. Sterbe-
        hilfe soll kein Geschäft wie jedes andere auch sein. Ich
        bin gegen eine Dienstleistungsbranche „Tod“ aus den
        Gelben Seiten. Ich möchte nicht, dass wir in Deutsch-
        land in eine Spirale geraten, in der Menschen – insbe-
        sondere alte Menschen – das Gefühl bekommen, eine
        Belastung für ihre Angehörigen und die Gesellschaft zu
        sein, und sich aus diesem Gedanken heraus zu einem
        schnellen und aktiv herbeigeführten Tod entschließen.
        Ebenso ist eine zweite Sache wichtig. Wir sollten das
        Arzt-Patienten-Verhältnis – ein ganz besonderes Vertrau-
        ensverhältnis – nicht verändern. Wenn ein Patient leidet,
        ist es Aufgabe des Arztes, ihm die Schmerzen zu neh-
        men und nicht das Leben. Suizidbeihilfe ist im Regelfall
        keine ärztliche Aufgabe. Trotz aller Fortschritte in der
        Palliativmedizin und bester Versorgung wird es dennoch
        immer Menschen geben, deren letzte Lebensphase nicht
        ohne Leid verläuft. Diese Fälle machen gerade auch
        Ärzte betroffen und manchmal auch ratlos. Dennoch
        müssen wir uns davor hüten, Einzelfälle zum Maßstab
        allgemeiner Regelungen zu machen.
        Ich halte es für ein zentrales Anliegen, dass wir eine
        gute und humane Kultur des Sterbens entwickeln, die
        nicht von Angst geleitet ist, sondern in der Liebe und
        Barmherzigkeit Raum gewinnt. Daher brauchen wir zum
        einen eine qualitativ hochwertige und von menschlicher
        Hingabe geprägte Pflege. Zum anderen brauchen wir
        eine Hospiz- und Palliativversorgung, die auch in der al-
        lerletzten Lebensphase der Menschen die Würde des
        Einzelnen bewahrt. Eine Hospiz- und Palliativversor-
        gung, die Schmerzen und nicht das Leben nimmt, die
        Menschen in den letzten Stunden ihres Lebens nicht al-
        leinlässt, sondern Begleitung ermöglicht.
        Deshalb werbe ich dafür, dem Gesetzentwurf zur
        Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbst-
        tötung, der von 210 Abgeordnetenkolleginnen und -kol-
        legen eingebracht wurde, zuzustimmen.
        Dagmar G. Wöhrl (CDU/CSU): Bei der Debatte über
        das Thema Sterbehilfe gibt es kein Richtig oder Falsch.
        Es gibt keinen Anspruch auf absolute Wahrheit. Das
        Wertvollste an der Diskussion heute aber ist, dass sie
        stattfindet. Dass wir über elementare Fragen zwischen
        Leben und Tod sprechen. Dass wir Parameter abstecken,
        zwischen juristischen, medizinischen, philosophischen,
        theologischen, ethischen Fragen. Ruhig, sachlich, nach-
        denklich, aber nicht ideologisch oder gar parteipolitisch.
        Unser Grundgesetz gibt es vor: Die Würde des Men-
        schen ist unantastbar. Daraus leiten wir ab, dass wir ein
        selbstbestimmtes Leben führen können müssen. Daraus
        muss sich aber auch ableiten lassen, dass man selbstbe-
        stimmt sterben darf.
        Dies jedoch nicht um jeden Preis. Wir dürfen keine
        Ökonomisierung des Sterbens in Deutschland zulassen,
        das heißt, ein an den Maßstäben der Wettbewerbsfähig-
        keit und Gewinnmaximierung orientierter Markt für
        Suizidbeihilfeleistungen darf nicht entstehen. Deshalb
        lehne ich persönlich gewerbliche und organisierte Unter-
        stützung zum Suizid ab. Eine Hilfestellung bei der
        selbstvollzogenen Lebensbeendigung sollte nur auf der
        Grundlage ärztlicher Fachkenntnis und in medizinischer
        Begleitung erfolgen. Nicht sollte die Verantwortung al-
        lein auf enge Angehörige übertragen werden.
        Unsere Verantwortung gebietet es, alles in unserer
        Macht Stehende zu tun, um kranken Menschen durch die
        bestmögliche medizinische und menschliche Begleitung
        ein Ja zum Leben zu ermöglichen.
        Dazu gehören eine konsequente Inanspruchnahme
        und Fortentwicklung palliativmedizinischer Möglichkei-
        ten und ein Ausbau des Hospizwesens. Der medizinische
        Fortschritt ermöglicht es, dass Menschen besser und län-
        ger leben können. Dies ist ein großer zivilisatorischer
        Fortschritt. Zugleich führt die medizinisch ermöglichte
        Lebensverlängerung zu neuen Herausforderungen in der
        Behandlung eines krankheitsbedingten Leidens in der
        Sterbephase. In den Fällen, in denen auch die Palliativ-
        medizin bei zum sicheren Tod führenden Erkrankungen
        für den Patienten nicht infrage kommt, leiden schwerst-
        kranke Menschen oftmals eine große Not. Das körperli-
        che und psychische Leiden ihrer Patienten stellt auch für
        die Ärzte eine äußerst belastende Situation dar.
        Während die Hilfestellung zum Suizid gesetzlich
        straflos ist, untersagen einige Ärztekammern in Deutsch-
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        land jede Form der Hilfestellung zur selbstvollzogenen
        Lebensbeendigung ihrer Patienten. Dies sowie eine in
        Bezug auf Grenzfälle komplizierte Rechtslage führen
        zur Rechtsunsicherheit bei Ärzten und Patienten. Men-
        schen in auswegloser Lage werden hierdurch zusätzlich
        belastet. Gerade auch durch die zahlreichen Grauberei-
        che, die es im momentanen Regelungskonstrukt gibt.
        Derzeit ist es so, dass die 17 Landesärztekammern in
        Deutschland unterschiedlich in ihrem jeweiligen Stan-
        desrecht regeln, ob Ärzte ihren Patienten bei der Selbst-
        tötung assistieren dürfen. Es kann aber nicht sein, dass
        wir in Deutschland 17 verschiedene Wege zum Sterben
        haben. Und erst recht möchten wir einem möglichen
        „Sterbetourismus innerhalb und außerhalb Deutsch-
        lands“ vorbeugen.
        Deshalb möchte ich an dieser Stelle auf die Bayeri-
        sche Landesärztekammer verweisen. In der Berufsord-
        nung für bayerische Ärzte steht, dass sie Sterbenden un-
        ter Wahrung ihrer Würde und ihres Willens beizustehen
        haben. Die Unterstützung von Sterbenden führt also
        nicht zu einem möglichen Berufsverbot. Auf diese Ge-
        wissensfreiheit, die bayerische Ärzte genießen, sollen
        sich alle Ärzte in Deutschland berufen können.
        Wir haben Regelungen für ein menschenwürdiges Le-
        ben. Wir benötigen aber auch Normen für ein menschen-
        würdiges Sterben. Eine solche Regelung, wie ich sie un-
        ter anderem mit meinen Kollegen Peter Hintze,
        Katherina Reiche, Dr. Carola Reimann, Professor
        Dr. Karl Lauterbach und Burkhard Lischka vorgestellt
        habe, sollte es volljährigen und einsichtsfähigen Men-
        schen ermöglichen, die freiwillige Hilfe eines Arztes bei
        der selbstvollzogenen Lebensbeendigung in Anspruch
        zu nehmen, wenn feststeht, dass eine unheilbare Erkran-
        kung unumkehrbar zum Tod führt, der Patient objektiv
        schwer an einer organischen Krankheit leidet, eine um-
        fassende Beratung des Patienten bezüglich anderer, ins-
        besondere palliativer Behandlungsmöglichkeiten stattge-
        funden hat und die ärztliche Diagnose von einem
        anderen Arzt bestätigt wurde.
        Bei unserem Entwurf steht also ein umfassendes und
        lebensbejahendes Gespräch zwischen Patient und Arzt
        im Mittelpunkt. Die Ermutigung zum Leben sowie eine
        umfassende Aufklärung über die palliativmedizinischen
        Möglichkeiten müssen dabei immer Vorrang haben. Al-
        lein das sichere Wissen, im Falle einer aussichtslosen
        Lebenssituation auf die Möglichkeit einer ärztlichen
        Hilfe zur Beendigung ihres Lebens zurückgreifen zu
        können, hilft schwer leidenden Menschen, von einer tat-
        sächlichen Inanspruchnahme dieser Möglichkeit abzuse-
        hen.
        Aus Sterbehilfe wird somit Lebenshilfe.
        Auch wenn wir hier über das Ende der menschlichen
        Existenz sprechen, dürfen wir nie vergessen, dass das
        Leben unser wertvollstes Geschenk ist.
        Dr. Eva Högl (SPD): Unser Gruppenentwurf wurde
        bereits umfänglich vorgestellt; das möchte ich in meinen
        fünf Minuten Redezeit nicht alles wiederholen. Ich
        möchte mich auf ein wichtiges Thema konzentrieren: die
        Rolle der Ärztinnen und Ärzte und des ärztlichen Stan-
        desrechts.
        Wir werden mit unserem Entwurf kein Sonderrecht
        für Ärztinnen und Ärzte schaffen, weder ein Sonderstraf-
        recht noch einen Sondererlaubnistatbestand.
        Das hat einen guten Grund: Wir wollen gerade nicht,
        dass der ärztlich assistierte Suizid ein „normales Be-
        handlungsangebot“ wird, ein Dienstleistungsangebot,
        das man am Lebensende als eine von mehreren Optionen
        wählen kann. Schon gar nicht soll diese Form der Sui-
        zidbeihilfe eine medizinische Versorgungsleistung mit
        quasi-staatlichem Gütesiegel werden.
        Wir wollen durch gesetzliche Regelungen auch kei-
        nen Rechtsanspruch konstruieren. Das Ende des Lebens
        sollte unter Einbeziehung der Menschen aus dem Um-
        feld des Sterbenden, der Ärzte/Ärztinnen und Pflegerin-
        nen und Pfleger unter ethischen Gesichtspunkten indivi-
        duell gestaltet werden.
        Wir wollen nicht, dass alte oder kranke Menschen
        sich direkt oder indirekt gedrängt fühlen, diesen – dann
        gesetzlich aufgezeigten – Weg auch gehen zu müssen!
        Was wir aber auch auf gar keinen Fall wollen, ist die
        Einschränkung der ärztlichen Behandlungsfreiheit. Ärz-
        tinnen und Ärzten muss erlaubt bleiben, in individuellen
        Situationen individuelle Entscheidungen zu treffen.
        Unser Entwurf ändert nichts an den bisher bestehen-
        den ärztlichen Möglichkeiten. Die sogenannte passive
        Sterbehilfe, also die Nichtaufnahme oder der Abbruch
        einer lebenserhaltenden Behandlung im Einklang mit
        dem Patientenwillen, wird weiterhin straflos möglich
        sein. Gleiches gilt für die indirekte Sterbehilfe, also die
        Gabe von schmerzstillenden Medikamenten unter In-
        kaufnahme einer Lebensverkürzung. Ebenso werden die
        palliativmedizinischen Möglichkeiten in keiner Weise
        eingeschränkt.
        Ärzte sollen eben nur keine geschäftsmäßige Suizid-
        beihilfe leisten dürfen. Sie sollen die Suizidbeihilfe nicht
        zum Mittelpunkt ihres Behandlungsangebots machen,
        sie nicht wiederholt, in der Absicht, die Selbsttötung ei-
        nes Patienten zu fördern, anbieten.
        Ärzte sollen als Allererstes und vorrangig Helfer zum
        Leben sein – nicht Helfer zum Sterben. Das sieht der
        Großteil der Ärzteschaft übrigens genauso. Sie möchten
        nicht beim Sterben helfen.
        Nach einer aktuellen Umfrage des Instituts für Demo-
        skopie Allensbach können sich nur 37 Prozent aller
        Ärzte überhaupt vorstellen, die Beihilfe zum Suizid un-
        ter bestimmten Bedingungen zu leisten. 61 Prozent hin-
        gegen lehnen die Suizidbeihilfe strikt ab.
        Bevor wir vorschnell nach Sterbehilfe als Mittel der
        Wahl rufen, sollten wir uns fragen, warum die Menschen
        einen Sterbewunsch äußern. Oft geschieht dies aus Ein-
        samkeit, aus Angst vor dem Alleinsein, aus Angst davor,
        anderen zur Last zu fallen.
        Hierfür muss die Gesellschaft jedoch andere Lösun-
        gen finden als den schnellen, ärztlich verordneten Tod.
        11210 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
        (A) (C)
        (D)(B)
        Oft ist es aber auch die Angst vor Krankheit, vor
        Schmerzen, vor unendlichem Leid. Diese Angst müssen
        wir den Menschen nehmen. Mit den heute bestehenden
        Möglichkeiten der Palliativmedizin können Schmerzen
        gut behandelt werden.
        In den wenigen Fällen, in denen trotzdem das Leid
        und die Schmerzen zu groß sind, darf der Arzt nach un-
        serem Gesetzentwurf auch weiterhin individuelle Ent-
        scheidungen treffen. Da wollen wir nichts verbieten,
        nichts einschränken, nicht bestimmen, in welchen Fällen
        er helfen darf und in welchen nicht, wie beispielsweise
        der Hintze/Lauterbach/Reimann-Entwurf es vorsieht.
        Ein großes Problem bereitet an dieser Stelle zugege-
        benermaßen das ärztliche Standesrecht. Seit 2011 die
        Musterberufsordnung dahin gehend geändert wurde,
        dass Ärzte „keine Beihilfe zum Suizid mehr leisten dür-
        fen“, herrscht standesrechtliches Chaos und ein bundes-
        weiter Flickenteppich.
        10 von 17 Ärztekammern haben diese Regelung in
        ihre verbindlichen Berufsordnungen aufgenommen. Die
        anderen Kammern haben die Formulierung gar nicht
        oder nur in abgeschwächter Form übernommen.
        Im Ergebnis hängt die Frage, ob ein Arzt Suizidbei-
        hilfe leisten darf, jetzt davon ab, in welchem Kammer-
        bezirk er Mitglied ist. Es ist aber in erster Linie an der
        Ärzteschaft selbst – daher an dieser Stelle auch mein
        dringender Appell –, dieses Chaos zu beseitigen und
        eine einheitliche Regelung zu finden. Es wäre gut, wenn
        sie wieder zu der alten Beschlusslage zurückfänden, dass
        Ärzte „keine Beihilfe zum Suizid leisten sollen“. So
        bleibt es dann jedem Arzt überlassen, in Einzelfällen
        eine Gewissensentscheidung zu treffen.
        Im Zweifel müssten die Landesgesetzgeber eingreifen
        und eine – im besten Fall einheitliche – Regelung in ih-
        ren jeweiligen Kammer- oder Heilberufegesetzen be-
        schließen. Diese bilden schließlich die Grundlage der
        ärztlichen Berufsordnungen; hier können verbindliche
        Vorgaben gemacht werden.
        Auf gar keinen Fall kann der Bundesgesetzgeber tätig
        werden. Es liegt ganz einfach nicht in unserem Kompe-
        tenzbereich. In unserem föderalen System gilt nun mal
        nach Artikel 70 Grundgesetz die grundsätzliche Gesetz-
        gebungszuständigkeit der Länder, sofern das Grundge-
        setz keine gegenteiligen Regelungen trifft.
        Der Bundesgesetzgeber ist nach Artikel 74 Absatz 1
        Nummer 19 Grundgesetz nur für die Zulassung zu ärztli-
        chen und anderen Heilberufen und zum Heilgewerbe zu-
        ständig, nicht aber für die Berufsausübung. Das obliegt
        ganz allein den Ländern.
        Da kommen wir auch nicht weiter mit einer Regelung
        im BGB oder einem eigenen Gesetz, das berufsständi-
        sche Regelungen für unzulässig erklären will. In diesem
        Fall bricht auch Bundesrecht nicht Landesrecht, da nur
        kompetenzgemäß erlassenes Bundesrecht überhaupt im
        Konfliktfall die Anwendungshoheit für sich beanspru-
        chen kann.
        Daher ist beispielsweise – wenn man es genau nimmt –
        der Entwurf von Renate Künast gleich in doppelter Hin-
        sicht eine Mogelpackung. Zum einen steht drauf: „Ge-
        setz über die Straffreiheit der Hilfe zur Selbsttötung“,
        obwohl mehr strafrechtliche Regelungen drin sind als in
        allen anderen Entwürfen. Zum anderen kann dieses Ge-
        setz nichts an den bestehenden standesrechtlichen Rege-
        lungen ändern. Der Bundesgesetzgeber hat schlicht
        keine Gesetzgebungskompetenz.
        Auch der Reimann/Hintze/Lauterbach-Entwurf ver-
        spricht, was er nicht halten kann: Rechtssicherheit für
        Ärztinnen und Ärzte. Auch dieser Entwurf kann kompe-
        tenzrechtlich gar keine Rechtssicherheit bieten, er
        schränkt lediglich die ärztlichen Handlungsmöglichkei-
        ten am Ende des Lebens ein.
        Wenn wir eine strafrechtliche Regelung treffen, haben
        wir hierfür die Gesetzgebungskompetenz, und auch das
        Standesrecht hat sich daran zu halten. Was strafrechtlich
        verboten ist, kann das Standesrecht nicht erlauben. Um-
        gekehrt kann das Standesrecht auch grundsätzlich Dinge
        verbieten, die das Strafrecht erlaubt bzw. nicht verbietet.
        In diesem Fall bin ich jedoch der Ansicht, dass das aus-
        nahmslose Verbot der ärztlichen Suizidbeihilfe im ärztli-
        chen Standesrecht nicht verfassungsgemäß ist.
        Das hat auch das Verwaltungsgericht Berlin so gese-
        hen. Bisher hat kein Arzt berufsrechtliche Konsequen-
        zen davongetragen. Mir ist zumindest kein Fall bekannt.
        Falls dies doch mal passieren würde und der betreffende
        Arzt oder die betreffende Ärztin dies bis zum Bundes-
        verfassungsgericht durchfechten würde, stünden die
        Chancen gut, dass das BVerfG die Regelung kippt.
        Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Wir debattieren
        heute über verschiedene Gruppenanträge zum Thema
        Sterbebegleitung. Ich selbst habe den Antrag der Gruppe
        Griese, Brand und andere mit eingereicht. Lassen Sie
        mich zunächst sagen, dass mir die Arbeit an einem
        Gruppenantrag viel Spaß bereitet hat. Es ging endlich
        einmal darum, in der Sache zu streiten und gemeinsame
        Positionen zu finden. Es war eine Debatte, in der allein
        das Argument zählte. Ich wünsche mir mehr solcher De-
        batten.
        Zum Zeitpunkt der Orientierungsdebatte im Bundes-
        tag wusste ich noch nicht, welche der Positionen ich un-
        terstütze. Ich habe also lange überlegt, wie ich mich in
        dieser Frage positioniere.
        Jede und jeder von uns hat einen anderen Zugang zum
        Thema Sterbebegleitung. Mein Zugang ist die personale
        Autonomie. Ich finde, jede und jeder hat das Recht,
        selbst zu entscheiden, ob er bzw. sie weiterleben will –
        im Übrigen unabhängig vom Vorliegen einer nicht mehr
        therapierbaren, organischen und zugleich irreversibel
        tödlich verlaufenden Erkrankung. Das Recht, selbst zu
        entscheiden, wann der Zeitpunkt zu gehen da ist, setzt
        aber gerade personale Autonomie voraus. Eine Gesell-
        schaft trägt dafür Verantwortung, dass diese individuelle
        personale Autonomie auch gegeben ist. Eine Gesell-
        schaft, in der die Verwertung von allem und jedem eine
        herausgehobene Stellung hat, trägt eine besondere Ver-
        antwortung. In meinen Augen ist diese personale Auto-
        nomie dann gefährdet, wenn ein gesellschaftlicher
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11211
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        Druck entsteht, der eine Handlung als „normal“ ansieht.
        Die „Normalisierung“ einer Dienstleistung der ge-
        schäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung einer ande-
        ren Person gefährdet in meinen Augen die personale Au-
        tonomie.
        Ich hätte mir gewünscht, dass eine Regelung, mit der
        eine „Normalisierung“ der Dienstleistung der Förderung
        der Selbsttötung einer anderen Person durch geschäfts-
        mäßige Gewährung, Verschaffung oder Vermittlung der
        Gelegenheit dazu einhergeht, jenseits des Strafrechts
        möglich gewesen wäre. Ich habe gedacht, das geht über
        das Vereins- oder Gewerberecht. Meine Recherchen ha-
        ben ergeben, dass es nicht geht. Die Vereine, um die es
        mir vor allem geht, unterfallen aber dem Vereinsrecht.
        Und das hat glücklicherweise einen hohen Stellenwert.
        Ein Vereinsverbot kann nach § 3 Absatz 1 Vereinsgesetz
        eben nur stattfinden, wenn die Zwecke und Tätigkeiten
        des Vereins den Strafgesetzen zuwiderlaufen, sich gegen
        die verfassungsmäßige Ordnung oder den Gedanken der
        Völkerverständigung richten. Deshalb muss – zu mei-
        nem großen Bedauern – auf das Strafrecht zurückgegrif-
        fen werden, obwohl ich sonst bei Strafrechtsverschärfun-
        gen Pickel bekomme und schreiend wegrenne. Für mich
        ist das vorwiegend geschützte Rechtsgut in dem von mir
        unterzeichneten Gruppenantrag die personale Autono-
        mie. Gegen deren Gefährdung richtet sich der vom Ge-
        setzentwurf vorgeschlagene Straftatbestand vor allem.
        Es geht mit dem Gesetzentwurf ausdrücklich nur um
        die Strafbarkeit der Förderung der Selbsttötung einer an-
        deren Person durch eine geschäftsmäßige Gewährung,
        Verschaffung oder Vermittlung der Gelegenheit dazu.
        Nur eine solche geschäftsmäßige Förderung rechtfertigt
        einen Straftatbestand, da Strafrecht Ultima Ratio ist und
        nicht jede gesellschaftlich unerwünschte Handlung unter
        Strafe gestellt werden soll und darf. Mit dem Gesetzent-
        wurf soll die Straflosigkeit des eigenverantwortlichen
        Suizid – und Suizidversuchs –, wie sie im deutschen
        Strafrecht existiert, nicht infrage gestellt werden. Da das
        deutsche Strafrecht einen Teilnehmer einer Tat (Gehilfen
        oder Anstifter) nur bestrafen kann, wenn auch eine straf-
        bare Haupttat vorliegt, bleibt mit dem Gesetzentwurf
        auch die Suizidbeihilfe, also die physische oder psychi-
        sche Hilfeleistung zum eigenständig durchgeführten,
        freiverantwortlichen Suizid, straffrei. Und das ist gut so.
        Der Gesetzentwurf – und damit die Strafbarkeit – soll
        sich allein auf diejenigen beziehen, die einen Suizid ei-
        ner anderen Person fördern, indem sie geschäftsmäßig
        dazu Gelegenheit gewähren, verschaffen oder vermit-
        teln. Der Gesetzentwurf soll sich also an diejenigen rich-
        ten, die dieses Gewähren, Verschaffen oder Vermitteln
        von Gelegenheiten zum Suizid wiederholt anbieten und
        sie zum dauernden und wiederkehrenden Bestandteil ih-
        rer Tätigkeit machen. Auf eine Gewinnerzielungsabsicht
        kommt es nicht an. Der Gesetzentwurf soll also nur die-
        jenigen treffen, die wiederholt und damit dauernd und
        wiederkehrend äußere Umstände herbeiführen, die ge-
        eignet sind, den Suizid zu ermöglichen oder wesentlich
        zu erleichtern. Es geht dabei um Sachen wie die Überlas-
        sung von Räumlichkeiten oder die Überlassung von Mit-
        teln zum Suizid (-gewähren) oder die Vermittlung eines
        konkreten Kontaktes zwischen einer suizidwilligen Per-
        son und jemandem, der geschäftsmäßig die Gelegenheit
        zum Suizid einer anderen Person gewährt. Der Gesetz-
        entwurf soll diejenigen treffen, die all dies mit Absicht,
        also zweck- und zielgerichtet, tun. Er soll also diejenigen
        treffen, die wissen, dass sie – wiederholt und als dauern-
        der und wiederkehrender Bestandteil ihrer Tätigkeit –
        eine Gelegenheit zum Suizid einer anderen Person an-
        bieten und dies auch so wollen.
        Das deutsche Strafrecht ist kompliziert. Da der Ge-
        setzentwurf diejenigen bestrafen soll, die geschäftsmä-
        ßig den Suizid einer anderen Person fördern, sind auch
        diejenigen als Teilnehmer strafbar, die selbst nicht ge-
        schäftsmäßig handeln. Bei der geschäftsmäßigen Hand-
        lung handelt es sich um ein sogenanntes besonderes per-
        sönliches Merkmal (§ 14 Absatz 1 StGB, „Umstand“).
        Die Strafe für einen solchen Teilnehmer – das sind An-
        stifter und Gehilfen – ist aber zu mildern (§ 28 Absatz 1
        StGB). Das hat – theoretisch – Auswirkungen auf Ange-
        hörige und nahestehende Personen des Suizidwilligen.
        Der Gesetzentwurf will diese, soweit sie nicht selbst ge-
        schäftsmäßig handeln, aber explizit von der Strafbarkeit
        ausnehmen. Deswegen wollen wir für diese Personen-
        gruppe einen sogenannten persönlichen Strafausschlie-
        ßungsgrund schaffen. Diese Personen sind damit dann
        nicht strafbar. Um es noch deutlicher zu sagen: Der An-
        gehörige, der eine suizidwillige Person zu jemandem
        fährt, der geschäftsmäßig Gelegenheiten zum eigenver-
        antwortlichen Suizid gewährt, verschafft oder vermittelt,
        ist nicht strafbar. Was Angehörige und nahestehende
        Personen sind, ist bereits im Gesetz geregelt (§ 11 Ab-
        satz 1 Nummer 1 StGB) oder in der Kommentarliteratur
        völlig unstreitig im Hinblick auf andere Straftatbestände,
        sodass darauf zurückgegriffen werden kann. (§ 35 Ab-
        satz 1, § 238 Absatz 1 Nummer 4, § 238 Absatz 2 und 3
        und § 241 Absatz 1 StGB).
        Ich glaube, dieser Gesetzentwurf sichert angemessen
        die personale Autonomie. Deshalb bitte ich um Ihre Zu-
        stimmung.
        Matthias Gastel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Viele von uns befinden sich noch in einem intensiven
        Meinungsbildungsprozess – oder haben diesen bereits
        abgeschlossen. Nicht eine Fraktionsmeinung ist gefragt,
        sondern die eigene. Die eigene Meinung, die sich bildet
        aus persönlichen Erfahrungen im Umgang mit Sterben-
        den und dem Tod sowie aus eigenen Wertvorstellungen.
        Bei vielen von uns sind diese Wertevorstellungen zusätz-
        lich religiös geprägt. Hinzu kommen die – widerstreben-
        den – Erwartungen aus der Gesellschaft. Letztlich geht
        es insbesondere um die Frage, welche Rolle der Mensch
        spielen darf – oder auch muss –, wenn es um das Ende
        eines Lebens geht.
        Ich selber habe in den letzten sieben Monaten einen
        intensiven Meinungsbildungsprozess betrieben durch die
        Lektüre von Fachartikeln und zahlreichen Gesprächen
        mit Bürgerinnen und Bürgern, Hospizhelfern, Fachkräf-
        ten aus der Palliativversorgung, Beratungsstellen sowie
        Kirchenvertreterinnen und Kirchenvertretern. Dazu habe
        ich in meinem Wahlkreis zu Gesprächen geladen. Zu
        vielen Aspekten konnte ich mir eine klare Meinung bil-
        11212 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
        (A) (C)
        (D)(B)
        den. In einigen Fragen bin ich mir nach wie vor unsicher,
        ob es überhaupt einer gesetzlichen Regelung bedarf und
        wenn ja, wie diese konkret gefasst werden kann.
        Inzwischen habe ich mich für einen Gesetzentwurf
        entschieden, den ich unterschrieben habe. Dieser wurde
        von Renate Künast und Kai Gehring (Bündnis 90/Grüne)
        sowie Petra Sitte (Die Linke) ausgearbeitet und wird in-
        zwischen von Abgeordneten aus drei Fraktionen unter-
        stützt.
        Es handelt sich um den Entwurf eines „Gesetzes über
        die Straffreiheit der Hilfe zur Selbsttötung“. Dieser Ge-
        setzentwurf belässt die Rechtslage im Wesentlichen so,
        wie sie derzeit ist. Die Hilfe zur Selbsttötung bleibt dem-
        nach straffrei. Es handelt sich um ein eigenständiges,
        neues Gesetz und nicht die Änderung eines bestehenden
        Gesetzes. Zweck dieses Gesetzes ist die Festlegung der
        Voraussetzungen für die Hilfe zur Selbsttötung.
        Zu den Inhalten dieses Gesetzes:
        Die Selbsttötung wie die Hilfe dazu bleiben wie bis-
        her straffrei.
        Dem entgegenstehende berufsständische Regelungen
        der Ärzteschaft werden unwirksam.
        Wer in organisierter oder geschäftsmäßiger Form
        (Ärzte) Hilfe zum Suizid leistet, muss vorher ein Bera-
        tungsgespräch geführt haben. Dabei sind Alternativen
        zur Selbsttötung zu besprechen. Zwischen dem Bera-
        tungsgespräch und der Hilfeleistung zum Suizid müssen
        mindestens 14 Tage vergangen sein.
        Die gewerbsmäßig (das heißt auf fortlaufende Ge-
        winnerzielung) ausgerichtete Hilfe zur Selbsttötung ist
        untersagt und wird mit einer Freiheitsstrafe von bis zu
        zwei Jahren bestraft.
        Das Gesetz schafft die Voraussetzung für ein Werbe-
        verbot für Hilfeleistungen zu Selbsttötungen.
        Das Gesetz wird alle vier Jahre evaluiert.
        Weshalb ich diesen Gesetzentwurf unterstütze: Der
        Suizid ist straffrei und auch die Hilfe dazu. An Ersterem
        will niemand rütteln. Wie kann etwas straffrei sein, die
        Hilfe dazu aber nicht? Und ist es nicht so, dass, wenn
        sich jemand Hilfe holt, sie oder er durch die andere, be-
        ratende Person vielleicht noch Alternativen aufgezeigt
        bekommen kann und dadurch vom Vorhaben, aus eige-
        ner Hand das Leben zu beenden, abgehalten wird? Wer
        nicht auf Hilfe setzen kann, wird mit größerer Wahr-
        scheinlichkeit einen einsamen Tod sterben. Und wer
        nicht auf Hilfe setzen kann, wird mit größerer Wahr-
        scheinlichkeit eine brutalere Methode wählen, um aus
        dem Leben zu scheiden. Solche Methoden belasten häu-
        fig für lange Zeit andere, unfreiwillig beteiligte Men-
        schen. Man denke an die vielen Suizide auf den Gleisen
        der Bahn und denke dabei auch daran, welches Leid dies
        bei den Lokführern auslöst.
        Ich finde, dass niemand das Recht hat, den Entschluss
        eines des Lebens überdrüssigen Menschen zu bewerten
        oder gar zu verurteilen. Es sollten aber alle Wege für Ge-
        spräche und Beratungen offengehalten werden. Ein Ver-
        bot der Assistenz würde diese Wege weitgehend ver-
        schließen. Denn weshalb sollte eine sterbewillige Person
        einen Arzt aufsuchen, wenn dieser ihm unter keinen
        Umständen das ersehnte Medikament bereitstellen darf?
        Das Beratungsgespräch bietet die Chance, dass sich der
        Betreffende doch noch anders, nämlich für sein Leben,
        entscheidet. Der Verzicht auf ein Hilfeverbot wirkt damit
        suizidpräventiv. Es ist gut, dass dies von den Autoren
        mehrerer Gesetzentwürfe so gesehen wird.
        Was mir am oben skizzierten Gesetzentwurf gut ge-
        fällt, ist die Bedenkzeit. Damit wird das Risiko verrin-
        gert, dass es zu fatalen Kurzschlussentscheidungen
        kommt. Dem Festhalten am Leben wird ebenso eine
        Chance eingeräumt, wie der feste Wunsch eines Sterbe-
        willigen ernst genommen wird.
        Wichtig ist mir, dass die Ärzteschaft auf Grundlage
        eines bundesweit einheitlichen Rechtsprinzips arbeitet.
        Dass einige Standesvertretungen ihren Mitgliedern et-
        was verbieten, was der Gesetzgeber nicht verboten hat,
        ist nicht hinnehmbar und führt zu einem kaum durch-
        schaubaren Flickenteppich an unterschiedlichen Regeln
        und fördert noch dazu einen Sterbehilfetourismus.
        Selbstverständlich sind Ärzte ihrem Gewissen unterwor-
        fen und werden zu nichts gezwungen, was ihrem ethi-
        schen Gewissen widerspricht.
        Ich bin nicht mit allem, was der beschriebene Gesetz-
        entwurf enthält, vollständig einverstanden. So halte ich
        beispielsweise zur Vermeidung von Missverständnissen
        eine auch für juristische Laien eindeutige Klarstellung
        für notwendig, dass die Hilfe zum Freitod unter den ge-
        nannten Bedingungen ausschließlich für Menschen ge-
        währt werden darf, die an einer unheilbaren, zum Tode
        führenden Krankheit leiden. Insoweit hoffe ich, dass sich
        im Laufe des weiteren Prozesses Abgeordnete für Ände-
        rungen zusammenfinden und dann auf noch breiterer
        Grundlage eine Mehrheit zusammenfindet. Und ich
        hoffe, dass sich im Nachgang Mehrheiten für Verbesse-
        rungen der Beratungs- und Therapieangebote für Men-
        schen mit psychischen Erkrankungen finden. Dies fehlt
        mir gänzlich in der bisherigen Debatte. Das ist fatal.
        Denn die meisten Suizide werden von Menschen mit
        psychischen Erkrankungen begangen. Ziel unserer Be-
        mühungen muss sein, dass weniger Menschen für sich
        im Suizid die Lösung sehen.
        Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir hö-
        ren heute zweieinhalb Stunden lang Redebeiträge, die al-
        lesamt für eine Gesetzesänderung hinsichtlich der Ster-
        behilfe in Deutschland plädieren.
        Was wir leider nicht hören können, ist die Gegenrede
        zu sämtlichen dieser Gesetzentwürfe. Und deswegen ist
        es mir persönlich wichtig, dass Sie diese Rede wenigs-
        tens lesen können.
        Denn eines macht jemandem wie mir, die, wenn man
        den Umfragen Glauben schenken kann, die Mehrheit der
        Bevölkerung vertritt, Hoffnung: Am Ende müssen alle
        diese Gesetzentwürfe – und zwar jeder für sich – eine
        Mehrheit in diesem Parlament finden.
        Die aktuelle Rechtslage hat zwar leider keinen Für-
        sprecher in dieser Debatte; sie steht aber dennoch zur
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11213
        (A) (C)
        (D)(B)
        Abstimmung. Sie alle können sich entscheiden, gegen
        jeden dieser Gesetzentwürfe zu stimmen, und die
        Gründe dafür will ich Ihnen hier so knapp wie möglich
        darlegen:
        Am kürzesten geht dies beim Entwurf des Kollegen
        Sensburg und andere. Für diesen Entwurf können Sie
        stimmen, wenn Sie alle Angehörigen, alle Ärzte und alle
        sonstigen Helfer, die einem zum Suizid entschlossenen
        Menschen, aus welchen Gründen auch immer und in
        welcher Form auch immer, darin unterstützen, diesen
        Weg zu gehen, hinter Schloss und Riegel bringen wol-
        len. Dieser Entwurf hat gegenüber allen anderen den
        Vorteil, dass er in sich konsequent und widerspruchsfrei
        ist. In diesem Fall brauchen Sie diese Rede auch nicht
        weiterzulesen.
        Der Entwurf von Brand, Griese und anderen will die
        geschäftsmäßige, das heißt jede organisierte Form der
        Sterbehilfe, unter Strafe stellen. Das bedeutet im Ergeb-
        nis, dass nur Personen im Einzelfall, wie beispielsweise
        Angehörige, die Hilfeleistung erbringen dürfen, ohne
        mit einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren rechnen
        zu müssen. Vereine sind ebenso strafbar wie Ärzte, auch
        wenn die Unterzeichner des Entwurfs das teilweise be-
        streiten.
        Jeder Arzt handelt im Hinblick auf seine Patienten
        immer geschäftsmäßig im Rahmen seiner Berufsaus-
        übung und würde sich damit immer – und zwar auch
        schon durch eine ergebnisoffene Beratung – einem straf-
        rechtlichen Ermittlungsverfahren aussetzen. Der erbwil-
        lige Neffe dagegen, der seiner reichen Großtante Mut
        zuspricht, doch endlich diesen letzten Weg zu gehen,
        wäre nach diesem Entwurf der Einzige, der von jedem
        Straftatverdacht befreit wäre.
        Wer also Ärzten und Vereinen jede Tätigkeit im Zu-
        sammenhang mit Sterbehilfe untersagen will, kann für
        diesen Entwurf stimmen und kann jetzt aufhören zu le-
        sen.
        Als Nächstes hätten wir den Gesetzentwurf mit der
        Überschrift: „Gesetz über die Straffreiheit der Hilfe zur
        Selbsttötung“ von Künast & Co. Dieser Entwurf enthält
        leider entgegen der Überschrift zwei neue Straftatbe-
        stände, womit bereits die erste Widersprüchlichkeit of-
        fenbar wird. Danach riskiert jeder, der gewerbsmäßige
        Sterbehilfe leistet, bis zu drei Jahren Gefängnis, ebenso
        wie jeder, der einem Suizidwilligen ein tödliches Mittel
        verschafft.
        Gewerbsmäßig ist alles, was zur Erzielung von regel-
        mäßigen Einkünften erfolgt. Jede Ärztin und jeder Arzt
        trifft auf seine Patienten im Rahmen seiner Berufsaus-
        übung. Diesen Beruf üben Ärzte nicht ehrenamtlich aus,
        sondern zur Erzielung von Einkünften. Es kommt mithin
        nicht darauf an, ob für die ergebnisoffene Beratung oder
        Hilfeleistung für einen Suizidwilligen ein eigener Ge-
        bührentatbestand abgerechnet werden kann. Auch wenn
        keine gesonderte Gebühr anfällt, handeln die Ärzte
        selbstverständlich immer im Rahmen ihrer Berufstätig-
        keit, mit der sie ihren Lebensunterhalt verdienen.
        Die weiteren Regelungen in diesem Entwurf, die den
        ärztlich assistierten Suizid näher regeln, sind daher in
        sich völlig widersprüchlich. Aus anwaltlicher Sicht kann
        keinem Arzt empfohlen werden, sich in Anbetracht einer
        solch widersprüchlichen Rechtslage der Gefahr eines
        strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens auszusetzen.
        Für die nichtärztlichen Sterbehelfer wäre die Lage bei
        diesem Gesetz noch viel gefährlicher. Sie müssten un-
        verzüglich einen Arzt hinzuziehen, bevor sie sich auf ein
        Gespräch mit einem suizidwilligen Patienten einlassen.
        Alles andere würde den Staatsanwalt auf den Plan rufen.
        Wenn Sie bis hierhin gelesen haben, lohnt sich der
        Rest auch noch.
        Denn ganz zuletzt gibt es den scheinbar liberalen Ge-
        setzentwurf von Hintze, Reimann und anderen. Danach
        soll eine Gesetzesänderung im Vierten Buch des BGB
        – Familienrecht – klarstellen, dass die Ärztekammern ih-
        ren Mitgliedern die Sterbehilfe unter bestimmten Um-
        ständen nicht berufsrechtlich untersagen können sollen.
        Rein formal stellt sich dabei schon das Problem, dass
        wir als Bundesgesetzgeber leider keine Gesetzgebungs-
        kompetenz in dem Bereich des ärztlichen Berufsrechts
        haben. Und selbst wenn wir sie hätten, wäre das BGB si-
        cherlich nicht der richtige Ort, dieses zu regeln.
        Aber auch inhaltlich müssen wir feststellen, dass zum
        einen die Voraussetzungen dieser ärztlichen Sterbehilfe
        auffallend eng und dabei auch noch unbestimmt gefasst
        sind. Wer soll denn die „Wahrscheinlichkeit des Todes“
        medizinisch feststellen? Zum anderen können wir der
        Gesetzesbegründung außerdem entnehmen, dass ganz
        bewusst nur und ausschließlich die Ärzte vor Sanktionen
        geschützt werden sollen. Die Verfasser dieses Entwurfs
        wollen ausdrücklich keine Sterbehilfevereine zulassen
        und stellen implizit in Aussicht, dass ihr Gesetzentwurf
        doch durchaus mit anderen Entwürfen, die weitere Ver-
        bote enthalten, kombiniert werden könne.
        Die Flexibilität ist in der Tat vorhanden. Man müsste
        entscheiden, ob man diese Restriktionen mittragen will.
        Wer sich am Ende entscheidet, gegen all diese Ent-
        würfe zu stimmen, verteidigt damit die aktuelle Rechts-
        lage, die auch im internationalen Bereich nicht die
        schlechteste ist. Die Tötung auf Verlangen – aktive Ster-
        behilfe –, wie sie in Belgien und den Niederlanden teil-
        weise praktiziert wird, ist und bleibt eine Straftat nach
        deutschem Recht, und das halte ich auch für richtig. Wer
        die Grenzen zur Tatherrschaft überschreitet, wie die Ju-
        risten das nennen, wird wegen eines Tötungsdeliktes zur
        Verantwortung gezogen. Das erfährt auch gerade der
        Herr Kusch, der den Anlass für diese ganze Debatte ge-
        geben hat.
        Auch das restriktive Arzneimittelrecht verhindert,
        dass effektive tödliche Mittel in Deutschland unmittelbar
        verschrieben werden können. Das ist der eigentliche
        Grund, warum Menschen zum Suizid in die Schweiz
        reisen. Nicht das Strafrecht macht den Unterschied, son-
        dern das Arzneimittelrecht. Ich finde es durchaus überle-
        genswert, ob nicht auch deutsche Ärzte das entspre-
        chende Mittel nach professioneller Prüfung verschreiben
        können sollten. Aber das steht hier heute nicht zur De-
        batte.
        11214 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
        (A) (C)
        (D)(B)
        Menschen, die sich, aus welchen Gründen auch im-
        mer, mit dem Gedanken tragen, ihr Leben selbst zu be-
        enden, sollten uneingeschränkt Zugang zu ergebnisoffe-
        ner Beratung und Unterstützung haben. Auf diesem
        Wege können sie möglicherweise auch wieder von ihrem
        Vorhaben Abstand nehmen. Ob diese Menschen sich ih-
        ren Angehörigen oder dem Arzt ihres Vertrauens zuwen-
        den oder aber einem unabhängigen Sterbehilfeverein,
        sollte ihre Entscheidung bleiben und nicht vom Gesetz-
        geber vorgeschrieben werden.
        Müssten die Ärzte oder Vereine im Zusammenhang
        mit ihrer Tätigkeit Sorgen haben, sich strafbar zu ma-
        chen, würde den Betroffenen dieser Weg versperrt und
        sie würden andere Wege finden – im Zweifel grausamere
        Wege.
        Selbst die ärztliche, ergebnisoffene Beratung an sich
        kann unter den Rechtsbegriff der Beihilfe fallen. Auch
        die gewerbsmäßige Hilfeleistung muss daher im Sinne
        der Betroffenen straffrei bleiben. Unseriöse Angebote
        verhindert man am besten durch Sicherstellung profes-
        sioneller Angebote und nicht durch die strafrechtliche
        Ahndung derselben.
        Deswegen plädiere ich dafür, gegen alle vorgelegten
        Gesetzentwürfe zu stimmen.
        Vielen Dank, dass Sie diese Rede bis zum Ende gele-
        sen haben.
        Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Freiheit ist in unserer Gesellschaft einer der höchsten
        Werte. Selbstbestimmung, die Möglichkeit, frei ent-
        scheiden zu können, zwischen Alternativen wählen zu
        können, ist in nahezu allen Lebensbereichen heute fast
        selbstverständlich. Unser Grundgesetz hat Entschei-
        dungsfreiheiten festgelegt, andere wurden von mutigen
        Frauen und Männern in Parlament und Gesellschaft er-
        kämpft.
        Am Ende des Lebens ändert sich das. Wir dürfen
        nicht frei entscheiden, wann und wie wir sterben wollen.
        Viele Menschen müssen durch eine manchmal lange Zeit
        der Qualen und der immer größeren Abhängigkeit bis
        zum bitteren Ende durchhalten. Für tief religiöse Men-
        schen mag das richtig sein. Von Menschen, die nicht an
        ein Leben nach dem Tod glauben, kann es als absolut
        sinnlos empfunden werden.
        Nach derzeitiger Rechtslage ist die aktive Sterbehilfe
        unter Strafe gestellt, die passive Sterbehilfe und die Bei-
        hilfe zum Suizid dagegen nicht. Trotzdem kann es in der
        Realität für einen sterbewilligen Menschen schwer bis
        unmöglich sein, Hilfe zu bekommen. Er hat kein ver-
        brieftes Recht auf die Hilfe, er kann nur darum bitten.
        Den Weg zu einem Sterbehilfeverein kennt nicht jeder.
        Der Bundestag will die Beihilfe zum Suizid nun neu
        regeln. Es gibt vier Gruppenanträge. In der Tendenz geht
        es aber leider nicht darum, mehr Selbstbestimmung zu
        ermöglichen, sondern darum, Sterbehilfe restriktiver zu
        regeln:
        Der Antrag der CDU-Politiker Sensburg und
        Dörflinger will Beihilfe zum Suizid ohne Ausnahme
        strafrechtlich bewehrt verbieten.
        Der fraktionsübergreifende Antrag der Gruppe Griese/
        Brand/Terpe/Vogler will lediglich „geschäftsmäßige“
        Sterbehilfe unter Strafe stellen – gemeint sind Sterbever-
        eine. Es stellt sich aber die Frage, ob nicht auch ein Arzt
        dem Patienten gegenüber grundsätzlich geschäftsmäßig
        handelt, da er für seine Tätigkeit ja bezahlt wird. Die
        schon heute ungeklärte Situation eines Arztes, der sei-
        nem Patienten ein Mittel überlässt, mit dem dieser sich
        auf eigenen Wunsch töten kann, verschärft sich also.
        Den Arzt als Helfer, auch beim Wunsch nach Suizid,
        wollen Hintze und Lauterbach dagegen mit ihrem An-
        trag rechtlich absichern. Sie wollen den ärztlich assis-
        tierten Suizid im Bürgerlichen Gesetzbuch verankern
        und damit die in 10 (von 17) Landesärztekammern be-
        stehenden Verbotsvorschriften im ärztlichen Standes-
        recht überwinden. Der Patient kann die Sterbehilfe vom
        Arzt allerdings nicht fordern; sie unterliegt der Freiwil-
        ligkeit. Und die Beihilfe zum Suizid ist an strenge Be-
        dingungen geknüpft. So muss eine unumkehrbar zum
        Tode führende Krankheit vorliegen.
        Aus der Opposition – Künast/Gehring/Sitte – kommt
        der Antrag, für die Beihilfe zum Suizid eindeutige Be-
        dingungen festzulegen und lediglich die gewerbsmäßige
        Hilfe zur Selbsttötung zu verbieten. Auch er wirft die
        Frage auf, was das Verbot der „gewerbsmäßigen“ Ster-
        behilfe für den Arzt als Suizidhelfer bedeutet.
        Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages befas-
        sen sich mit großer Ernsthaftigkeit mit der Thematik
        Sterbehilfe. Die Anträge spiegeln unterschiedliche Hal-
        tungen dem Thema Sterben und Tod gegenüber wider.
        Ich finde mich in keinem der Anträge bisher wieder. Die
        komplexe Gesamtlage, in der der Deutsche Bundestag
        zu einer Entscheidung kommen muss, ist mir bewusst.
        Da ist die Sorge, alte, kranke Menschen könnten subtil
        zur Inanspruchnahme von Sterbehilfe gedrängt werden.
        Oder es könnte nach außen so aussehen, dass das Land,
        das in seiner dunklen Geschichte neben vielen anderen
        Verbrechen auch Verbrechen im Namen der Euthanasie
        beging, die Lehre aus diesen Verbrechen anfange zu ver-
        gessen. Da sind die Ärzte, deren erster Auftrag ist, Le-
        ben zu erhalten, und die zu nicht unbeträchtlichen Teilen
        Suizidbeihilfe ablehnen.
        Und doch steht der Mensch mit seinem Recht auf
        Selbstbestimmung für mich im Zentrum. Der Mensch,
        den wir mit unserem politischen Bemühen um beste ge-
        sellschaftliche Rahmenbedingungen zu einem mündi-
        gen, selbstbewussten, entscheidungsfähigen Individuum
        aufwachsen lassen wollen. Das Selbstbestimmungsrecht
        am Ende des Lebens kommt mir in allen Anträgen noch
        zu kurz. Eine Bedingung für das Recht auf Beihilfe zum
        Suizid kann für mich nicht das Leiden an einer unwei-
        gerlich zum Tode führenden Krankheit sein. Wenn Men-
        schen ihr Dasein für sich als entwürdigend empfinden,
        weil sie schmerzgequält, entstellt und/oder vollkommen
        abhängig sind, dann müssen sie das Recht haben, zu ge-
        hen. Und wenn sie dazu Hilfe benötigen, müssen Sie
        diese Hilfe bekommen. Mir ist bewusst, wie schwer die
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11215
        (A) (C)
        (D)(B)
        Verhinderung von Missbrauch ist und dass aktive Sterbe-
        hilfe in unserer Gesellschaft ein Tabu ist. Und doch ist
        mein Anspruch an uns als den Deutschen Bundestag,
        dem Menschen an seinem Lebensende Selbstbestim-
        mung zu ermöglichen. Niemand hat das Recht, zu defi-
        nieren, was die Würde eines anderen Menschen aus-
        macht. Das kann jeder Mensch nur für sich selbst.
        Den Anspruch auf Selbstbestimmung erfüllt keiner
        der vorliegenden Anträge. Deshalb bin ich zu diesem
        Zeitpunkt der Debatte der Meinung, es sei besser, keinen
        der Anträge zu beschließen, um uns die Chance auf eine
        vielleicht bessere Lösung zu lassen – das mag sich aber
        bis November noch ändern.
        Anlage 3
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Kersten Steinke, Dr. Dietmar
        Bartsch, Matthias W. Birkwald, Kerstin
        Kassner, Cornelia Möhring und Birgit Wöllert
        (alle DIE LINKE) zu den Abstimmungen über
        die Beschlussempfehlungen des Petitionsaus-
        schusses: Sammelübersichten 215 und 217 zu
        Petitionen (Drucksachen 18/5394, 18/5396) (Zu-
        satztagesordnungspunkte 4 g und 4 i)
        Dem ablehnenden Abschluss aller folgenden Petitio-
        nen können wir nicht zustimmen, da diese Ungerechtig-
        keiten, die mit der Rentenüberleitung 1991 ins bundes-
        deutsche Recht entstanden sind, besser heute als nie
        hätten beseitigt werden sollen. Viele der Betroffenen in
        den neuen Bundesländern sehen heute genauer, wie an-
        ders, wie finanziell besser doch Personen mit gleichen
        Erwerbsbiografien oder ähnlichen Lebenswegen in den
        alten Bundesländern ihren Lebensabend verbringen kön-
        nen.
        Gerade die Geschiedenen hätten eine Lösung benö-
        tigt. Nach einer oft aufopferungsvollen Lebensphase für
        die Versorgung der Familie, damit der Mann ungestört
        seinen beruflichen Aufgaben nachgehen konnte, stehen
        fast alle ohne Versorgungsausgleich da. In der DDR hat-
        ten sie über eine Mindestrente einen gewissen Schutz,
        heute zählt nur, was aus eigener Erwerbstätigkeit an An-
        sprüchen entstanden ist. Das ist häufig sehr wenig und
        die – zumeist – Frauen sind auf Grundsicherung im Alter
        angewiesen – für fast alle eine entwürdigende Situation.
        Diese Probleme, die sich aus dem Wechsel der Siche-
        rungssysteme, Renten- und Familienrecht, ergeben, wur-
        den im Einigungsprozess vollständig übersehen. Es ist
        unerträglich, dass die Bundesregierung diesen Fakt als
        Argument dafür nutzt, eine Lösung des Problems nicht
        anzugehen.
        Die Professorinnen und Professoren wurden bei der
        Rentenüberleitung 1991 zwar mit einem gesonderten
        Gesetz, dem Anspruchs- und Anwartschaftsüberfüh-
        rungsgesetz, AAÜG, behandelt, doch das Ergebnis ist
        unbefriedigend: Sie wurden alle in die gesetzliche Ren-
        tenversicherung überführt. Als Kronzeuge muss hier der
        Einigungsvertrag herhalten, der besagt, dass auch diese
        Versorgung in die GRV zu überführen ist. Vergessen
        wird immer der nachfolgende Halbsatz, der besagt, dass
        dabei keine Besserstellung gegenüber vergleichbaren öf-
        fentlichen Versorgungssystemen erfolgen darf. Dieser
        Nachsatz war dem Umstand geschuldet, dass das 1. Ren-
        tenangleichungsgesetz der letzten Volkskammer vom
        Juni 1990 vorgesehen hatte, dass in einem 2. Anglei-
        chungsgesetz diese Personengruppe so gestellt werden
        sollte, als hätten sie über das gesamte Einkommen ent-
        sprechende Beiträge gezahlt. Das war übrigens bei vie-
        len der Zusatz- und Sonderversorgungssystemen auch
        tatsächlich der Fall. Durch die Dynamik des Einigungs-
        prozesses im Sommer 1990 ist es zu dieser Gesetzge-
        bung nicht mehr gekommen. Und gerade deshalb hätte
        dieser Halbsatz des Einigungsvertrages für eine Korrek-
        tur der Gesetzgebung von 1991 heutzutage wieder auf-
        gegriffen werden müssen.
        Die Sammelpetition von rund 75 Tausend Petenten,
        die sich dagegen wehren, dass bei bestimmten in den
        Führungsebenen der DDR Beschäftigten bzw. denen, die
        beim MfS beschäftigt waren, noch immer in die Renten-
        formel eingegriffen wird, einfach mit einem Urteil des
        Bundesverfassungsgerichts abzutun, zeugt nur von nicht
        vorhandenem Willen, etwas für diese Betroffenengrup-
        pen zu tun. Das Bundesverfassungsgericht hat in dem zi-
        tierten Urteil von 1999 festgestellt, dass das durch-
        schnittliche Einkommen der Bevölkerung keinesfalls
        unterschritten werden darf, was bis dahin mit der Aner-
        kennung von 70 Prozent geschah. Im Umkehrschluss
        ließe die Formulierung des Bundesverfassungsgerichts
        aber auch zu, höhere Einkommensanteile als den Durch-
        schnitt für die Rente anzuerkennen. Müssen wir uns
        denn mit der neuen, derzeit anhängigen Beschwerde
        wieder erst vom Bundesverfassungsgericht die Richtung
        zeigen lassen, wie Unrecht zu beseitigen und die Wert-
        neutralität des Rentenrechts endlich herzustellen ist?
        Einzig schwierig zu erfüllen ist die Petition, die be-
        gehrt, die Jahresendprämie auch ohne handfesten Nach-
        weis anzuerkennen. Das würde den Bundestag als Ge-
        setzgeber aber nicht daran hindern, endlich dafür zu
        sorgen, dass auch bei normalen Renten und nicht nur bei
        solchen, die aus den vormaligen Zusatzversorgungssys-
        temen entstanden sind, nachweisbare Zahlungen an Jah-
        resendprämien und sonstigen einmaligen Zulagen, die es
        bei Polizei, Zoll und Armee gab, als rentenwirksame
        Leistungen anerkannt werden.
        Sozial untragbar ist auch, für diejenigen, die verant-
        wortungsvolle und schwere Tätigkeiten im Gesundheits-
        und Sozialwesen der DDR verrichteten, den Vertrauens-
        schutz nicht zu wahren. Ja, die DDR-Regelung für diese
        Personen, in der Rente einen Hochwertungsfaktor zu ge-
        währen, war ein Wechsel auf die Zukunft. Doch was
        können diese, zumeist Frauen dafür, dass ihr Lebens-
        abend in einem anderen Rechtssystem stattfindet? Hier
        eine angemessene Lösung zu suchen, zeugte von Huma-
        nität unseres Handelns.
        Warum konnte der Petitionsausschuss nicht dem Geist
        des zitieren Urteils des Bundessozialgerichts folgen und
        bei der Altersversorgung der technischen Intelligenz die
        Instrumentalisierung von Versorgungszusagen zu DDR-
        Zeiten auch für politische Zwecke korrigieren. Das
        11216 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
        (A) (C)
        (D)(B)
        brächte nur die Anerkennung des damals erzielten Ein-
        kommens bis zur Beitragsbemessungsgrenze, die vielen
        der Betroffenen aber eine einigermaßen anständige
        Rente bringen würde und nicht eine, die nach geltender
        Rechtslage über fast 20 Jahre – von 1972 bis 1991 –
        nicht einmal auf einem Entgeltpunkt basiert. Gerade für
        diejenigen, die derzeit erst in Rente gehen, die folglich
        nach der Einheit fachlich anerkannt mit Kollegen aus
        den Altbundesländern gearbeitet haben, ist die derzeitige
        rentenrechtliche Bewertung der DDR-Zeit demütigend.
        Generell sollten wir endlich den Schritt gehen und in
        der DDR gelebtes Leben anerkennen.
        Mit Nichtstun wird kein sozialer Friede zwischen Ost
        und West hergestellt werden.
        25 Jahre deutsche Einheit wären ein guter Anlass ge-
        wesen, hier endlich zu handeln. Der negative Abschluss
        aller Petitionen stellt eine vertane Chance dar.
        Anlage 4
        Erklärung nach § 31 GO
        des Abgeordneten Volker Beck (Köln) (BÜND-
        NIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstimmung über
        den Wahlvorschlag auf Drucksache 18/5365
        (Tagesordnungspunkt 7)
        Da die Zusammensetzung des Stiftungsrates nicht re-
        präsentativ für die Gesellschaft ist und beispielsweise
        die Opposition gar nicht repräsentiert wird, stimme ich
        mit Nein. Dies ist keine Aussage über die vorgeschlage-
        nen Personen und Wahlvorschläge.
        Anlage 5
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Marco Bülow, Dr. Lars
        Castellucci, Christina Kampmann, Kirsten
        Lühmann, Andreas Rimkus, Gülistan Yüksel
        (alle SPD) zur Abstimmung über den von der
        Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines
        Gesetzes zur Neubestimmung des Bleiberechts
        und der Aufenthaltsbeendigung (Tagesord-
        nungspunkt 13 a)
        Erstens. In den Verhandlungen haben wir ursprüng-
        lich ebenfalls eine Aufenthaltserlaubnis nach dem Vor-
        bild des Bundesrates gefordert. Als Kompromiss mit der
        Union konnten wir nur einen klarstellenden Duldungs-
        grund durchsetzen. Wenngleich wir mehr wollten, glau-
        ben wir, dass auch damit ein Fortschritt erreicht ist: Wir
        haben eine gesetzliche Klarstellung bewirkt, wonach die
        Aufnahme einer qualifizierten Berufsausbildung für Ju-
        gendliche und Heranwachsende ausdrücklich als Dul-
        dungsgrund gelten kann. Das gibt Rechtssicherheit. Ar-
        beitgeber wissen, dass ihr Auszubildender nicht
        abgeschoben wird, wenn sie einem Geduldeten oder ei-
        nem Asylbewerber mit offenem Verfahrensausgang ei-
        nen Ausbildungsvertrag geben. Der junge Asylbewerber
        oder Geduldete weiß, dass er die Ausbildung sicher be-
        enden kann. Und für die Zeit danach gilt schon jetzt:
        Wer eine Ausbildung beendet, kann eine Aufenthaltser-
        laubnis bekommen.
        Außerdem enthält die Neuregelung keine zwingende
        Beschränkung auf Personen unter 21, wie es der Ände-
        rungsantrag von Bündnis 90/Die Grünen (Drucksache
        18/5423) suggeriert. Richtig ist, dass die Norm insbeson-
        dere auf Personen dieser Altersgruppe zielt. Die Formu-
        lierung „insbesondere“ und der lediglich klarstellende
        Charakter der Neuregelung eröffnen aber die Möglich-
        keit, in atypischen Einzelfällen auch in anderen Fällen
        einen dringenden persönlichen Grund anzunehmen, der
        die Duldung begründet. Im Übrigen ist sie auch nach
        Vollendung des 21. Lebensjahres anwendbar, wenn die
        Ausbildung vor dem 21. Lebensjahr begonnen wurde.
        Zweitens. Der Änderungsantrag von Bündnis 90/Die
        Grünen (Drucksache 18/5424) ist auf die Abschaffung
        des viertägigen Ausreisegewahrsams gerichtet. Wir hät-
        ten ihn auch lieber vermieden. Aber ohne diesen hätte
        die Union das Gesetz als Ganzes nicht mitgetragen. Im
        Rahmen eines Gesamtkompromisses, der auch viele für
        uns positive Regelungen enthält, haben wir uns bereit er-
        klärt, die Einführung dieses Rechtsinstituts zu akzeptie-
        ren.
        Im Übrigen ist die Behauptung im Antrag nicht zu-
        treffend, wonach Haft „ohne Vorliegen eines Haftgrun-
        des verhängt werden können soll“. Auch hier ist es nach
        § 62 b Absatz 1 Nummer 2 des Entwurfs erforderlich,
        dass der Ausländer „ein Verhalten gezeigt hat, das er-
        warten lässt, dass er die Abschiebung erschweren oder
        vereiteln wird, indem er fortgesetzt seine gesetzlichen
        Mitwirkungspflichten verletzt hat oder über seine Identi-
        tät oder Staatsangehörigkeit getäuscht hat“.
        Drittens. Der Änderungsantrag von Bündnis 90/Die
        Grünen (Drucksache 18/5424) zielt darauf, das Sprach-
        erfordernis vor Einreise beim Ehegattennachzug abzu-
        schaffen. Wir haben auf Drängen der Union bei den
        Sprachkenntnissen vor Einreise beim Ehegattennachzug
        die Aufnahme einer Härtefallregelung ins Gesetz akzep-
        tiert. Wir hätten die Regelung lieber ganz abgeschafft.
        Das war aber gegenüber der Union erwartungsgemäß
        nicht durchsetzbar. Zumindest können nun Härten im
        Einzelfall berücksichtigt werden.
        Anlage 6
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Dr. Ute Finckh-Krämer und
        Hilde Mattheis (beide SPD) zur Abstimmung
        über den von der Bundesregierung eingebrach-
        ten Entwurf eines Gesetzes zur Neubestimmung
        des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendi-
        gung (Tagesordnungspunkt 13 a)
        In den Verhandlungen haben wir ursprünglich eben-
        falls eine Aufenthaltserlaubnis nach dem Vorbild des
        Bundesrates gefordert. Als Kompromiss mit der Union
        konnten wir nur einen klarstellenden Duldungsgrund
        durchsetzen. Wenngleich wir mehr wollten, glauben wir,
        dass auch damit ein Fortschritt erreicht ist: Wir haben
        eine gesetzliche Klarstellung bewirkt, wonach die Auf-
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11217
        (A) (C)
        (D)(B)
        nahme einer qualifizierten Berufsausbildung für Jugend-
        liche und Heranwachsende ausdrücklich als Duldungs-
        grund gelten kann. Das gibt Rechtssicherheit.
        Arbeitgeber wissen, dass ihr Auszubildender nicht abge-
        schoben wird, wenn sie einem Geduldeten oder einem
        Asylbewerber mit offenem Verfahrensausgang einen
        Ausbildungsvertrag geben. Der junge Asylbewerber
        oder Geduldete weiß, dass er die Ausbildung sicher be-
        enden kann. Und für die Zeit danach gilt schon jetzt:
        Wer eine Ausbildung beendet, kann eine Aufenthaltser-
        laubnis bekommen.
        Außerdem enthält die Neuregelung keine zwingende
        Beschränkung auf Personen unter 21, wie es der Ände-
        rungsantrag von Bündnis 90/Die Grünen (Drucksache
        18/5423) suggeriert. Richtig ist, dass die Norm „insbe-
        sondere“ auf Personen dieser Altersgruppe zielt. Die
        Formulierung „insbesondere" und der lediglich klarstel-
        lende Charakter der Neuregelung eröffnen aber die Mög-
        lichkeit, in atypischen Einzelfällen auch in anderen Fäl-
        len einen dringenden persönlichen Grund anzunehmen,
        der die Duldung begründet. Im Übrigen ist sie auch nach
        Vollendung des 21. Lebensjahres anwendbar, wenn die
        Ausbildung vor dem 21. Lebensjahr begonnen wurde.
        Anlage 7
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Klaus Mindrup und
        Mechthild Rawert (beide SPD) zur Abstimmung
        über den von der Bundesregierung eingebrach-
        ten Entwurf eines Gesetzes zur Neubestimmung
        des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung
        (Tagesordnungspunkt 13 a)
        Die Zahl von Flüchtlingen, die in der europäischen
        Staatengemeinschaft und in Deutschland Schutz suchen,
        steigt. Die SPD steht uneingeschränkt zum Grundrecht
        auf Asyl für politisch Verfolgte und den Regelungen des
        Flüchtlingsschutzes. Wir Sozialdemokratinnen und So-
        zialdemokraten wollen Flüchtlingen und Migrantinnen
        und Migranten eine Teilhabe am Leben in unserer Ge-
        sellschaft ermöglichen, wollen allen Flüchtlingen so früh
        wie möglich den barrierefreien Zugang zu Arbeit und
        Beschäftigung, zu Sprachkursen und Bildungsange-
        boten, einschließlich der beruflichen Bildung, eröffnen.
        Wir gehen den Weg weiter, der von negativen und de-
        fizitorientierten Ansätzen wegführt hin zu Wertschät-
        zung und Anerkennung von gesellschaftlicher Vielfalt
        und zu den Potenzialen, Chancen und Ressourcen von
        Einwanderung. Wir wollen eine gesellschaftliche Will-
        kommenskultur nachhaltig etablieren. Wir wollen das er-
        neute Entstehen von Rassismus bekämpfen. Vorausset-
        zung ist, dass die Bevölkerung unseren Weg weiterhin so
        unterstützt, wie dies derzeit in unzähligen Hilfsangebo-
        ten und Initiativen aus der Zivilgesellschaft geschieht.
        Schon im Vorfeld der Mitgliederabstimmung zum
        Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD 2013
        haben wir festgestellt, dass der Koalitionsvertrag viel
        Licht und viel Schatten enthält – und zwar in nahezu je-
        dem einzelnen Politikbereich. Dennoch waren und sind
        wir überzeugt: Die SPD hat hart und gut verhandelt.
        Gesetzentwurf zur Neubestimmung des Bleiberechts
        und der Aufenthaltsbeendigung: Am 2. Juli 2015 haben
        wir im Deutschen Bundestag den Gesetzentwurf zur
        Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthalts-
        beendigung – Drucksachen 18/4097, 18/4199 – in 2.
        und 3. Lesung beschlossen. Auch dieser Gesetzentwurf
        enthält Licht und Schatten, er ist ein „klassischer Kom-
        promiss“ der Großen Koalition. Ohne Hinnahme von
        Verschärfung repressiver Maßnahmen der Aufenthalts-
        beendigung sind die Verbesserungen beim Bleiberecht
        zu unserem sehr großen Leidwesen nicht durchsetzbar
        gewesen.
        Mit diesem Gesetz werden wichtige humanitäre Vor-
        haben aus dem SPD-Regierungsprogramm und dem
        Koalitionsvertrag umgesetzt. Vor allem schaffen wir
        endlich ein stichtagsunabhängiges Bleiberecht für lang-
        jährig Geduldete bei nachhaltiger Integration. Dieses
        Ziel haben wir zusammen mit vielen gesellschaftlichen
        Kräften, wie Kirchen, Flüchtlingsorganisationen und den
        Gewerkschaften, seit Beginn der Verhandlungen zum
        Zuwanderungsgesetz vor über einem Jahrzehnt kontinu-
        ierlich verfolgt. Die im Gesetz getroffenen Regelungen
        zum Bleiberecht werden von Pro Asyl oder dem
        UNHCR begrüßt.
        Wir unterstützen die wegweisenden Verbesserungen
        beim Bleiberecht. Sie tragen dazu bei, den nötigen Para-
        digmenwechsel zu schaffen, weg vom alten ordnungs-
        politischen Repressionsdenken hin zu einer Willkom-
        menskultur, in der geflüchtete Menschen hier bleiben
        können und sollen. Die durchgesetzten Verbesserungen
        des Bleiberechts ergänzen insofern die bisherigen Er-
        folge der SPD: die Abschaffung der Residenzpflicht, die
        Abschaffung des Sachleistungsprinzips und die Eröff-
        nung erleichterter Arbeitsaufnahme.
        Verbesserungen beim Bleiberecht:
        Einführung einer allgemeinen alters- und stichtagsunab-
        hängigen Bleiberechtsregelung für langjährige Gedul-
        dete bei nachhaltiger Integration (neuer §25b).
        Erweitertes Bleiberecht für gut integrierte Jugendliche
        (§25a und §60a).
        Verbesserungen für Resettlement-Flüchtlinge.
        Verbesserungen für Opfer von Menschenhandel.
        Schaffung einer neuen Aufenthaltserlaubnis zur Aner-
        kennung eines ausländischen Abschlusses.
        Verfestigung humanitärer Aufenthaltstitel.
        Nach Angaben von Pro Asyl leben mehr als
        75 000 Menschen seit sechs Jahren oder länger ohne
        Aufenthaltsrecht in Deutschland. Das sind mehr als
        75 000 Menschen, die seit Jahren gezwungen sind, ein
        Leben auf Abruf zu führen. Eine Rückkehr in ihr Her-
        kunftsland ist für die allermeisten von ihnen undenkbar,
        und in Deutschland sind sie nur befristet geduldet. Im-
        mer wieder droht ihnen die Abschiebung. Sie alle kön-
        nen ihre Zukunft nicht gestalten, weil sie in Deutschland
        keine sichere Lebensperspektive haben.
        11218 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
        (A) (C)
        (D)(B)
        Bleiberecht bei nachhaltiger Integration: Mit dem er-
        weiterten Bleiberecht für gut integrierte Jugendliche
        schaffen wir eine deutliche Verbesserung. Für junge
        Flüchtlinge bis zum 21. Lebensjahr genügt nunmehr ein
        vierjähriger Voraufenthalt. Die SPD hat sich dafür einge-
        setzt, dass die im Referentenentwurf vorgesehene Alters-
        grenze bei 27 Jahren bleibt, um auch den 17-jährigen
        Minderjährigen die Bleiberechtsperspektive nach vier
        Jahren zu ermöglichen. Dies war mit der CDU/CSU
        leider nicht möglich. Dafür konnten wir im Laufe der
        Verhandlungen durchsetzen, dass Ausbildung ausdrück-
        lich als Duldungsgrund verankert wird. Dies schafft
        Rechtssicherheit auch für Arbeitgeber und wird zu mehr
        Ausbildungsstellen für Menschen mit offenem Verfah-
        rensausgang führen.
        Voraussetzung für die Bleiberechtsregelung ist für Al-
        leinstehende ein mindestens achtjähriger Voraufenthalt.
        Für Eltern minderjähriger Kinder reichen sechs Jahre.
        Dabei haben wir durchgesetzt, dass die Betroffenen
        keine volle Lebensunterhaltssicherung nachweisen müs-
        sen, wie sie im Aufenthaltsrecht sonst üblich ist, sondern
        nur eine überwiegende. Das betrifft insbesondere An-
        tragsteller, die im Niedriglohnsektor tätig und auf aufsto-
        ckende SGB-II-Leistungen angewiesen sind. Auch diese
        bekommen jetzt eine dauerhafte Perspektive in unserem
        Land.
        Ergänzend schaffen wir eine noch günstigere Rege-
        lung für Jugendliche und Heranwachsende bis zum
        21. Lebensjahr. Hier reicht ein vierjähriger Voraufent-
        halt.
        Aufenthalt während der Berufsausbildung: Wir haben
        eine gesetzliche Klarstellung bewirkt, wonach die
        Aufnahme einer qualifizierten Berufsausbildung für
        Jugendliche und Heranwachsende ausdrücklich als
        Duldungsgrund gelten kann. Das gibt Rechtssicherheit.
        Arbeitgeber wissen, dass ihre Auszubildenden nicht ab-
        geschoben werden, wenn sie einem Geduldeten oder
        Asylsuchenden mit offenem Verfahrensausgang einen
        Ausbildungsvertrag geben. Die jungen Asylsuchenden
        und Geduldeten wissen nun, dass sie die Ausbildung si-
        cher beenden können. Und für die Zeit danach gilt schon
        jetzt: Wer eine Ausbildung beendet, kann eine Aufent-
        haltserlaubnis bekommen.
        Resettlement-Verfahren: Es wird, wie auf unser Drän-
        gen im Koalitionsvertrag verankert, eine Rechtsgrund-
        lage für das Resettlement-Verfahren geschaffen. Das ist
        die Aufnahme besonders schutzbedürftiger Flüchtlinge
        aus dem Ausland. Sie werden beim Familiennachzug
        und dem schnelleren Zugang zur Niederlassungserlaub-
        nis – unbefristetes Aufenthaltsrecht – nach nur drei Jah-
        ren mit Asylberechtigten und Flüchtlingen nach der
        Genfer Flüchtlingskonvention gleichgestellt und sind au-
        ßerdem BAföG-berechtigt.
        Familiennachzug für subsidiär Geschützte: Subsidiär
        Geschützte (EU) sind Personen, die von Menschen-
        rechtsverletzungen bedroht sind, ohne dass ein Diskrimi-
        nierungsgrund wie bei Asylberechtigung oder Genfer
        Flüchtlingskonvention vorliegt. Sie unterlagen beim
        Familiennachzug bisher einer sehr restriktiven Ausnah-
        meregelung. Nun werden sie Asylberechtigten und
        Flüchtlingen nach der Genfer Flüchtlingskonvention
        gleichgestellt. Das ist ein bedeutender menschenrechtli-
        cher Fortschritt für Zehntausende hier lebende Men-
        schen.
        Schutz für Opfer von Menschenhandel: Der Entwurf
        enthält Verbesserungen für Opfer von Menschenhandel.
        Die Aufenthaltserlaubnis soll künftig erteilt werden. Zu-
        vor war dies nur eine Kannregelung, die im reinen Er-
        messen der Behörde stand. Statt auf sechs Monate soll
        sie künftig auf ein bis zwei Jahre befristet werden. Fami-
        liennachzug ist möglich. Es besteht ein erhöhter Auswei-
        sungsschutz. Bei Verlängerung des Aufenthaltstitels
        nach einem Strafverfahren besteht Anspruch auf einen
        Integrationskurs. Dies alles verbessert die Situation der
        Opfer in erheblichem Umfang.
        Niederlassungserlaubnis bei humanitären Aufent-
        haltstiteln: Bei humanitären Aufenthaltstiteln, die nicht
        Asylberechtigung, Flüchtlingseigenschaft nach der Gen-
        fer Flüchtlingskonvention oder subsidiärer Schutz sind,
        wird die bisherige Schlechterstellung bei der Niederlas-
        sungserlaubnis – also dem unbefristeten Aufenthalts-
        recht – aufgehoben, zum Beispiel für Begünstigte der
        Bleiberechtsregelung. Die Wartefrist wird von bisher
        sieben Jahren auf die für andere Titel geltenden fünf
        Jahre abgesenkt.
        Anerkennung ausländischer Abschlüsse: Es wird eine
        neue Aufenthaltserlaubnis zur Durchführung einer
        Anpassungsqualifizierung zwecks Anerkennung eines
        ausländischen Abschlusses geschaffen.
        Neuregelungen bei der Aufenthaltsbeendigung: Die
        Verschärfungen der repressiven Maßnahmen zur Aufent-
        haltsbeendigung machen mir die Zustimmung zum Ge-
        setzentwurf zur Neubestimmung des Bleiberechts und
        der Aufenthaltsbeendigung sehr schwer. Die Kritik von
        Flüchtlingsorganisationen, Verbänden und des SPD-
        Landesverbandes Berlin an diesem Teil des Gesetzes ist
        berechtigt – obwohl anzuerkennen ist, dass es der SPD-
        Bundestagsfraktion gelungen ist, im parlamentarischen
        Verfahren den Repressionscharakter einiger Regelungen
        zu entschärfen.
        Neuregelung der Abschiebungshaft: Die Neuregelung
        der Abschiebungshaft hat viel Kritik erfahren. NGOs
        und Verbände fürchten eine Ausweitung der Inhaftie-
        rung. Ich hätte mir eine andere Reglung gewünscht.
        Allerdings kodifiziert die Neuregelung bisheriges
        Richterrecht und stellt damit keine Verschärfung der bis-
        herigen Praxis dar. Einen Automatismus zur Inhaft-
        nahme gibt es nicht, es muss stets eine Einzelfallprüfung
        erfolgen. Um hier Verbesserungen für die Geflüchteten
        zu erreichen, haben wir der CDU/CSU eine erhöhte Dar-
        legungs- und Begründungslast für die Behörden abge-
        rungen. Somit soll sichergestellt werden, dass die Inhaft-
        nahme wegen Fluchtgefahr auch weiterhin nur in
        Einzelfällen erfolgt. Die schon jetzt als Anhaltspunkt für
        Fluchtgefahr gewertete Zahlung von Geldbeträgen an
        Schleuser wurde durch unsere Intervention insofern ge-
        genüber der geltenden Rechtslage entschärft, als nun-
        mehr nur „erhebliche“ Geldbeträge in Betracht kommen.
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11219
        (A) (C)
        (D)(B)
        Ich vertrete auch weiterhin die Position, dass den
        Menschen auf der Flucht legale Einreisewege eröffnet
        werden müssen. Dies sollte in gesonderten Gesetz-
        gebungsverfahren eingeleitet werden, um die Regelung
        von Anhaltspunkten der Fluchtgefahr auf diejenigen zu
        begrenzen, die trotzdem illegale Einreisewege nutzen.
        Klarstellung bei der Dublin-Haft: Europarechtlich
        sind wir verpflichtet, Anhaltspunkte für Fluchtgefahr
        auch für Rücküberstellungen nach der Dublin-III-Ver-
        ordnung gesetzlich zu bestimmen. Das tun wir mit dem
        Gesetzentwurf. In diesen Fällen reicht aber keine einfa-
        che Fluchtgefahr. Der Richter muss eine erhebliche
        Fluchtgefahr feststellen. Das ist eine besonders hohe
        Hürde. Diese hohe Hürde war aus dem Regierungsent-
        wurf nicht unmittelbar ersichtlich. Deshalb haben wir ei-
        nen klarstellenden Verweis auf die VO aufgenommen,
        die die Erheblichkeit ausdrücklich benennt.
        Ausreisegewahrsam: Es wird ein viertägiger Ausrei-
        segewahrsam geschaffen. Das ist sehr problematisch. In
        den Verhandlungen mit der Union hat sich leider heraus-
        gestellt, dass die CDU/CSU ohne diese Regelung das
        Gesetz als Ganzes nicht mitgetragen hätte.
        Einreise- und Aufenthaltsverbote: Wir kritisieren die
        Neueinführung von Einreise- und Aufenthaltsverboten.
        Der SPD ist es immerhin gelungen, den Anwendungs-
        bereich der Verbote auf Menschen aus sicheren Her-
        kunftsstaaten, deren zweiter Asylfolgeantrag abgelehnt
        wurde, zu begrenzen. Zudem sollen die Verbote bei un-
        verschuldeten Duldungsgründen nicht verhängt und bei
        Vorliegen der Voraussetzungen für Bleiberecht oder hu-
        manitären Aufenthalt aufgehoben werden.
        Neuordnung des Ausweisungsrechts: Das Auswei-
        sungsrecht wird neu geregelt. Das war wegen der Recht-
        sprechung des Europäischen Gerichtshofes für Men-
        schenrechte, des Europäischen Gerichtshofes und des
        Bundesverwaltungsgerichtes erforderlich. Das Gesetz
        war längst nicht mehr europarechtskonform. Dabei
        werden auf Drängen der Union die Ausweisungsgründe
        teilweise verschärft. Das war ein Zugeständnis aus dem
        Koalitionsvertrag.
        Zugleich werden aber Verbesserungen beim Auswei-
        sungsschutz, unter anderem für Minderjährige und Opfer
        von Menschenhandel, eingeführt. Zudem ist der Rechts-
        schutz verbessert: Die Abwägung zwischen Bleibe- und
        Ausweisungsinteresse ist künftig durch Gerichte in je-
        dem Einzelfall voll überprüfbar.
        Auslesen von Datenträgern: Datenträger – insbeson-
        dere Mobiltelefone und Smartphones – können zur Iden-
        titätsfeststellung ausgewertet werden, wie es jetzt schon
        bei Urkunden möglich ist. Diesen Eingriff in das Recht
        auf informationelle Selbstbestimmung halten wir für
        problematisch. Wir haben, um effektiven Datenschutz zu
        gewährleisten, für eine bereichsspezifische Löschungs-
        vorschrift für nicht mehr erforderliche Daten gesorgt.
        Zulassungsfreie Rechtsbeschwerde auch für Behör-
        den: Bei der Abschiebungshaft wollte die Union die
        zulassungsfreie Rechtsbeschwerde der Betroffenen in
        Abschiebungshaftsachen abschaffen. Wir haben uns ge-
        gen diese Verschlechterung des Rechtsschutzes gewehrt.
        Stattdessen haben wir akzeptiert, dass die zulassungs-
        freie Rechtsbeschwerde auch für die Behörde zugelassen
        wird.
        Härtefallregelung für Sprachkenntnisse beim Ehegat-
        tennachzug: Auf Drängen der Union haben wir bei den
        Sprachkenntnissen vor Einreise beim Ehegattennachzug
        die Aufnahme einer Härtefallregelung ins Gesetz akzep-
        tiert. Wir hätten die Regelung lieber ganz abgeschafft.
        Das war aber gegenüber der Union erwartungsgemäß
        nicht durchsetzbar. Zumindest können nun Härten im
        Einzelfall berücksichtigt werden.
        Wie bereits ausgeführt, enthält der Gesetzentwurf zur
        Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthalts-
        beendigung viel Licht und viel Schatten. Nach sorg-
        fältiger Abwägung überwiegen aus unserer Sicht die
        erreichten Verbesserungen beim Bleiberecht die Ver-
        schärfungen von repressiven Maßnahmen der Aufent-
        haltsbeendigung. Deswegen stimmen wir dem Gesetz zu
        und lehnen die oben genannten Anträge ab.
        Anlage 8
        Erklärungen nach § 31 GO
        zur Abstimmung über den von der Bundesregie-
        rung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
        Neubestimmung des Bleiberechts und der Auf-
        enthaltsbeendigung (Tagesordnungspunkt 13 a)
        Bärbel Bas (SPD): Ich werde dem Gesetzentwurf
        zustimmen, weil mit diesem Gesetz substanzielle Ver-
        besserungen für die Betroffenen geschaffen werden.
        Mit einem Bleiberecht für langjährig Geduldete be-
        gegnen wir der langjährigen Praxis der Kettenduldung.
        Viele Geduldete bekommen nun endlich eine Perspek-
        tive in Deutschland. Voraussetzung für die Bleiberechts-
        regelung ist für Alleinstehende ein mindestens achtjähri-
        ger Voraufenthalt. Für Eltern minderjähriger Kinder
        reichen sechs Jahre. Dabei hat die SPD-Bundestagsfrak-
        tion durchgesetzt, dass die Betroffenen keine volle Le-
        bensunterhaltssicherung nachweisen müssen, sondern
        nur eine überwiegende. Das betrifft insbesondere An-
        tragsteller, die im Niedriglohnsektor tätig und auf aufsto-
        ckende SGB-II-Leistungen angewiesen sind. Ergänzend
        schaffen wir eine noch günstigere Regelung für Jugend-
        liche und Heranwachsende bis zum 21. Lebensjahr. Hier
        reicht ein vierjähriger Voraufenthalt.
        Außerdem wird eine Rechtsgrundlage für das Resett-
        lement-Verfahren geschaffen, um besonders schutzbe-
        dürftige Flüchtlinge aus dem Ausland aufzunehmen. Sie
        werden beim Familiennachzug und dem schnelleren
        Zugang zur Niederlassungserlaubnis – unbefristetes
        Aufenthaltsrecht – nach nur drei Jahren mit Asylbe-
        rechtigten und Flüchtlingen nach der Genfer Flücht-
        lingskonvention gleichgestellt und sind außerdem
        BAföG-berechtigt.
        Wir geben jungen Asylbewerbern und Geduldeten
        ebenso wie deren Arbeitgebern Rechtssicherheit. Wir
        haben eine gesetzliche Klarstellung bewirkt, wonach die
        11220 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
        (A) (C)
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        Aufnahme einer qualifizierten Berufsausbildung für Ju-
        gendliche und Heranwachsende ausdrücklich als Dul-
        dungsgrund gelten kann. Und für die Zeit danach gilt
        schon jetzt: Wer eine Ausbildung beendet, kann eine
        Aufenthaltserlaubnis bekommen.
        Wir stellen subsidiär Schutzberechtigte endlich beim
        Familiennachzug mit anderen anerkannten Flüchtlingen
        gleich. Und wir verbessern die aufenthaltsrechtliche Si-
        tuation für Opfer von Menschenhandel.
        Wir setzen bei der Inhaftierung in Dublin-Fällen eine
        europarechtliche Verpflichtung um: Nach der Verord-
        nung müssen wir Anhaltspunkte für Fluchtgefahr auch
        für Rücküberstellungen nach der Dublin-III-Verordnung
        gesetzlich bestimmen. Das tun wir mit dem Gesetzent-
        wurf. In diesen Fällen reicht aber keine einfache Flucht-
        gefahr. Der Richter muss eine erhebliche Fluchtgefahr
        feststellen. Diese besonders hohe Hürde haben wir im
        Gesetzgebungsverfahren noch einmal ausdrücklich klar-
        gestellt.
        Das Ausweisungsrecht wird neu geregelt. Das war
        wegen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichts-
        hofes für Menschenrechte, des Europäischen Gerichts-
        hofes und des Bundesverwaltungsgerichtes erforderlich.
        Das Gesetz war längst nicht mehr europarechtskonform.
        Auf Drängen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion wurden
        die Ausweisungsgründe zwar teilweise verschärft. Zu-
        gleich werden aber Verbesserungen beim Ausweisungs-
        schutz, unter anderem für Minderjährige und Opfer von
        Menschenhandel, eingeführt. Zudem ist der Rechts-
        schutz verbessert: Die Abwägung zwischen Bleibe- und
        Ausweisungsinteresse ist künftig durch Gerichte in je-
        dem Einzelfall voll überprüfbar.
        Auch gibt es keine Ausweitung von Abschiebungs-
        haft. Die Rechtsgrundlage bleibt unverändert. Mit fünf
        der sechs Anhaltspunkte – der sechste ist ein Auffangtat-
        bestand – wird nur das ins Gesetz geschrieben, was die
        Rechtsprechung seit Jahren urteilt. Das ist keine Aus-
        weitung gegenüber dem Istzustand für die Betroffenen.
        Und die Neuregelung nennt nur Anhaltspunkte für
        Fluchtgefahr. Es gibt keinen Automatismus, jeder Ein-
        zelfall muss gewürdigt werden. Bei der Abschiebungs-
        haft wollte die CDU/CSU-Bundestagsfraktion die zu-
        lassungsfreie Rechtsbeschwerde der Betroffenen in
        Abschiebungshaftsachen abschaffen. Wir haben uns ge-
        gen diese Verschlechterung des Rechtsschutzes gewehrt.
        Stattdessen haben wir akzeptiert, dass die zulassungs-
        freie Rechtsbeschwerde auch für die Behörde zugelassen
        wird.
        Auf Drängen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ha-
        ben wir bei den Sprachkenntnissen vor Einreise beim
        Ehegattennachzug die Aufnahme einer Härtefallrege-
        lung ins Gesetz akzeptiert. Wir hätten die Regelung lie-
        ber ganz abgeschafft. Das war aber gegenüber der CDU/
        CSU-Bundestagsfraktion erwartungsgemäß nicht durch-
        setzbar. Zumindest können nun Härten im Einzelfall be-
        rücksichtigt werden.
        Auch wenn wir einige Zugeständnisse an den Koali-
        tionspartner machen mussten, werden mit diesem Ge-
        setzentwurf humanitäre Verbesserungen eingeführt, die
        viele Menschenrechtsorganisationen seit Jahren fordern.
        Daher werde ich dem Gesetzentwurf zustimmen und die
        Änderungsanträge der Grünen sowie den Entschlie-
        ßungsantrag der Linken ablehnen.
        Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD): Die SPD hat eine
        Aufenthaltserlaubnis nach dem Vorschlag des Bundesra-
        tes gefordert. Leider war mit der Union nur ein klarstel-
        lender Duldungsgrund durchsetzbar. Wenngleich wir
        auch mehr wollten, bin ich mir sicher, dass auch damit
        ein großer Fortschritt erreicht ist:
        Die gesetzliche Klarstellung bewirkt, dass die Auf-
        nahme einer qualifizierten Berufsausbildung für Jugendli-
        che und Heranwachsende ausdrücklich als Duldungsgrund
        gelten kann. Das gibt Rechtssicherheit. Arbeitgeber wis-
        sen, dass ihr Auszubildender nicht abgeschoben wird,
        wenn sie einem Geduldeten oder einem Asylbewerber
        mit offenem Verfahrensausgang einen Ausbildungsver-
        trag geben. Der junge Asylbewerber oder Geduldete
        weiß, dass er die Ausbildung sicher beenden kann. Und
        für die Zeit danach gilt schon jetzt: Wer eine Ausbildung
        beendet, kann eine Aufenthaltserlaubnis bekommen.
        Es wird neu geregelt, dass es keine zwingende Be-
        schränkung auf unter 21-jährige Personen gibt, wie es
        der Änderungsantrag suggeriert. Richtig ist, dass die
        Norm „insbesondere“ auf Personen dieser Altersgruppe
        zielt. Die Formulierung „insbesondere“ und der lediglich
        klarstellende Charakter der Neuregelung eröffnen aber
        die Möglichkeit, in atypischen Einzelfällen auch in an-
        deren Fällen einen dringenden persönlichen Grund anzu-
        nehmen, der die Duldung begründet.
        Es wird klargestellt dass die Regelungen auch nach
        Vollendung des 21. Lebensjahres anwendbar sind, wenn
        die Ausbildung vor dem 21. Lebensjahr begonnen
        wurde. Das schafft Planungssicherheit.
        Leider war die Abschaffung des viertägigen Ausreise-
        gewahrsams, der de facto unbescholtene Menschen in
        Haft nimmt, mit dem Koalitionspartner nicht durchsetz-
        bar. Da jedoch dieses Gesetz deutliche Verbesserungen
        zur augenblicklichen Rechtslage enthält, wäre es für
        mich unverantwortbar, dem Gesetz die Zustimmung zu
        verweigern.
        Dr. Karamba Diaby (SPD): Bei Abstimmungen mit
        erheblicher Reichweite oder auch bei Gewissensfragen
        nehme ich für mich das Recht eines jeden Abgeordneten
        nach Artikel 38 (1) des Grundgesetzes in Anspruch. In
        Abwägung der getroffenen Verbesserungen und Ver-
        schärfungen bei der Neubestimmung des Bleiberechts
        und der Aufenthaltsbeendigung stimme ich dem Gesetz-
        entwurf der Bundesregierung nicht zu. Den oben ge-
        nannten Änderungsanträgen stimme ich zu.
        Erstens. Derzeit sind nach Schätzungen des UNHCR
        60 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. Dies ist
        die höchste Zahl, die jemals von UNHCR verzeichnet
        wurde, und sie wächst weiterhin rasant. In dieser globa-
        len Flüchtlingskrise sehe ich sowohl die Europäische
        Union als auch die Bundesrepublik Deutschland in der
        Verantwortung für eine solidarische und humane Asyl-
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11221
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        (D)(B)
        politik. Hierzu erachte ich eine Modernisierung des
        Asylrechts als erforderlich, im Sinne beispielsweise le-
        galer Wege nach Europa für Asylsuchende und im Sinne
        einer menschenrechtsbasierten Asylpraxis in der Euro-
        päischen Union und der Bundesrepublik Deutschland.
        Hierzu zählen für mich ebenfalls Maßnahmen wie einen
        Zweckwechsel für Asylsuchende zu ermöglichen. Als
        Sozialdemokrat lehne ich grundsätzlich Verschärfungen
        ab, die einer menschenrechtsbasierten Asylpraxis entge-
        genstehen.
        Zweitens. In folgenden wesentlichen Punkten sehe
        ich deutliche Verbesserungen für die Rechtsstellung, der
        in Deutschland lebenden Asylsuchenden und Einwan-
        dernder:
        a. Es wird eine neue Möglichkeit geschaffen, zum
        Zwecke der Anerkennung einer ausländischen Qualifi-
        kation nach Deutschland einzureisen, für die Dauer von
        bis zu 18 Monaten. Dies begrüße ich, damit mehr Men-
        schen den Weg nach Deutschland finden können, um
        hier zu leben und zu arbeiten.
        b. Bleiberecht bei nachhaltiger Integration – nach die-
        sem Prinzip wird eine deutliche Verbesserung für die
        Menschen geschaffen, die seit vielen Jahren in Dul-
        dungsketten in Deutschland leben. Sie erhalten nun end-
        lich Rechtssicherheit und eine Zukunftsperspektive für
        Leben hier in Deutschland. Insbesondere die Neureglung
        für Jugendliche ist aus menschenrechtlicher Sicht zu be-
        grüßen.
        c. Resettlement-Verfahren – mit der Neuregelung
        wird das Resettlement-Verfahren endlich endlich gesetz-
        lich verankert, ein guter Schritt im Sinne einer verant-
        wortlichen Asylpolitik.
        Drittens. Hingegen sind folgende Neuregelungen im
        Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Inhaftierung
        und Ausweisung für mich aus menschenrechtlichen Er-
        wägungen heraus und aus dem Anspruch heraus, dass
        Flucht nach Deutschland möglich sein muss, nicht zu-
        stimmungsfähig. Insofern finden die oben genannten
        Änderungsanträge von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
        meine Zustimmung.
        a. Die Neuregelung der Abschiebungshaft kommt ei-
        ner Verschärfung gleich. Schätzungsweise weniger als
        einhundert Menschen befanden sich im letzten Jahr in Ab-
        schiebungshaft in Deutschland. Davon waren die meisten
        sogenannte Dublin-Fälle. Nach der Grundsatzentschei-
        dung des Bundesgerichtshofs, BGH, von Juli 2014 wur-
        den jedoch die meisten „Dublin-Fälle“ freigelassen. Die
        Neuregelung sieht für einreisende Asylsuchende neue
        Haftgründe vor, die es einfacher machen, Menschen zu
        inhaftieren, die abgeschoben werden sollen.
        b. Verschärfung des Ausweisungsrechtes: Es werden
        neue Einreise- und Aufenthaltsverbote geschaffen. Sie
        sind aus meiner Sicht ebenfalls kritikwürdig.
        c. Bleibeperspektive bei Berufsausbildung – hier
        braucht es eine gesetzliche Klarstellung in Form eines
        neuen § 25 c, damit Jugendlichen in Berufsausbildung
        und ihren Ausbildern Rechtssicherheit geboten wird.
        Und für die Zeit danach gilt schon jetzt: Wer eine Aus-
        bildung beendet, kann eine Aufenthaltserlaubnis bekom-
        men.
        d. Die Familienzusammenführung muss menschen-
        rechtlich ausgestaltet werden. Insofern lehne ich unter
        anderem den Sprachnachweis vor Ehegattennachzug ab.
        Swen Schulz (Spandau) (SPD): Der Gesetzentwurf
        zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufent-
        haltsbeendigung enthält Verbesserungen, für die sich
        viele Engagierte jahrelang eingesetzt haben. Ich begrüße
        das ausdrücklich. Insbesondere das stichtagsunabhän-
        gige Bleiberecht für langjährig Geduldete ist ein wesent-
        licher Fortschritt.
        Allerdings enthält das Gesetz auch massive Ver-
        schlechterungen, vor allem die Neuregelung der Ab-
        schiebungshaft, das neue Ausreisegewahrsam und neue
        Einreise- und Aufenthaltsverbote.
        Ich erkenne an, dass in den parlamentarischen Bera-
        tungen der Gesetzentwurf der Bundesregierung an
        verschiedenen Stellen „entschärft“ wurde. Gleichwohl
        komme ich in der Abwägung von positiven und negati-
        ven Bestandteilen des nun zur Abstimmung stehenden
        Gesetzentwurfs zu dem Ergebnis, dass ich nicht zustim-
        men kann, weil er den Ansprüchen an ein modernes, pro-
        blemadäquates und humanes Bleiberecht nicht gerecht
        wird.
        Frank Schwabe (SPD): Das vorliegende Gesetz ent-
        hält für mich nicht nachvollziehbare neue Kriterien für
        die Abschiebehaft und für den Abschiebegewahrsam.
        Ich würde gern glauben, dass die Argumente stimmen,
        dass sich praktisch an der Vollzugspraxis nichts ändern
        wird, bin davon aber nicht überzeugt.
        Ich begrüße es sehr, dass mit dem Gesetz zwei neue
        gesetzliche Gründe für die Erteilung einer Aufenthaltser-
        laubnis geschaffen werden: die Anerkennung ausländi-
        scher Berufsqualifikationen nach § 17 a AufenthG und
        die Aufenthaltsgewährung bei nachhaltiger Integration.
        Dies sind gute Gesetzesänderungen, die dazu beitra-
        gen werden, dass langjährig geduldeten Ausländerinnen
        und Ausländern ein Bleiberecht erteilt werden kann. Au-
        ßerdem ermöglicht der Gesetzentwurf es, die berufliche
        Integration von Ausländerinnen und Ausländern zu för-
        dern.
        Da ich jedoch einer Gesetzesänderung nicht zustim-
        men will, bei der auch nur eine Wahrscheinlichkeit be-
        steht, dass unschuldige Flüchtlinge zusätzlich in Ab-
        schiebehaft genommen werden, enthalte ich mich der
        Stimme.
        Stefan Schwartze (SPD): Bei der Abstimmung über
        das Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der
        Aufenthaltsbeendigung habe ich mich aus folgenden
        Gründen enthalten:
        Ich begrüße sehr, dass mit dem Gesetz zwei neue ge-
        setzliche Gründe für die Erteilung einer Aufenthaltser-
        laubnis geschaffen werden: die Anerkennung ausländi-
        11222 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
        (A) (C)
        (D)(B)
        scher Berufsqualifikationen nach § 17 a AufenthG und
        die Aufenthaltsgewährung bei nachhaltiger Integration.
        Dies sind gute Gesetzesänderungen, die dazu beitra-
        gen werden, dass langjährig geduldeten Ausländerinnen
        und Ausländern ein Bleiberecht erteilt werden kann.
        Außerdem ermöglicht es der Gesetzentwurf, die berufli-
        che Integration von Ausländerinnen und Ausländern zu
        fördern.
        Allerdings kann ich die nun gesetzlich verankerten
        Gründe für eine Abschiebehaft und für den Abschiebe-
        gewahrsam nicht unterstützen. Insbesondere sehe ich die
        Gefahr, dass damit der Rechtsschutz der Schutzsuchen-
        den praktisch erheblich eingeschränkt wird. Die Be-
        schleunigung der Asylverfahren führt inzwischen dazu,
        dass bereits innerhalb weniger Wochen eine rechtskräf-
        tige Entscheidung und sehr häufig eine vollziehbare
        Abschiebungsentscheidung vorliegt. Eine gründliche
        rechtliche Prüfung ist praktisch nicht möglich.
        Die neu formulierten konkreten Anhaltspunkte für
        eine Abschiebehaft liegen bei den allermeisten Auslän-
        derinnen und Ausländern vor, insbesondere was die
        Unterdrückung von Ausweispapieren betrifft. Vielen
        Ausländern werden während ihrer gefährlichen Reise
        aus Krisen-, Kriegs- und Hungergebieten die Ausweis-
        papiere sogar abgenommen. Insofern sind potenziell na-
        hezu alle vollziehbar abschiebepflichtigen Ausländer
        von einer Abschiebehaft bedroht.
        Rainer Spiering (SPD): Dem vorliegenden Gesetz-
        entwurf kann ich nicht zustimmen und enthalte mich.
        Trotz der Umsetzung wichtiger, im Rahmen des
        Koalitionsvertrages mit der SPD vereinbarter Forderun-
        gen, wie etwa der alters- und stichtagsunabhängigen
        Bleiberechtsregelung für langjährig Geduldete bei nach-
        haltiger Integration, kann ich diesen Gesetzentwurf nicht
        mittragen. Die Verabschiedung des Gesetzes würde eine
        massive Kriminalisierung der Flüchtlinge verursachen
        und damit eine Beschneidung des aktuell bestehenden
        Asylrechts darstellen.
        Besonders kritisch sehe ich die Regelungen bezüglich
        minderjähriger Geflüchteter, die Ausweitung von Haft-
        gründen sowie die starke Diskriminierung von Schutz-
        suchenden aus den sogenannten sicheren Herkunftsstaa-
        ten des Westbalkans. Die deutliche Verschlechterung der
        weltweiten Menschenrechtslage, insbesondere durch
        zahlreiche bewaffnete Konflikte in der unmittelbaren eu-
        ropäischen Umgebung, erfordert von Deutschland ein
        deutliches Bekenntnis zu einer Asylpolitik, die die
        Betroffenen im Zentrum sieht. Trotz der humanitären
        Verbesserungen, die die SPD-Bundestagsfraktion im
        Gesetzgebungsverfahren durchsetzen konnte, überwie-
        gen jedoch weiterhin die negativen Auswirkungen des
        Gesetzes.
        Sonja Steffen (SPD): Der Deutsche Bundestag
        stimmt heute über den Gesetzentwurf zur Neubestim-
        mung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung
        ab. Bei der Abstimmung habe ich mich aus folgenden
        Gründen enthalten:
        Ich begrüße es sehr, dass mit dem Gesetz zwei neue
        gesetzliche Gründe für die Erteilung einer Aufenthaltser-
        laubnis geschaffen werden: die Anerkennung ausländi-
        scher Berufsqualifikationen nach § 17 a AufenthG und
        die Aufenthaltsgewährung bei nachhaltiger Integration.
        Dies sind gute Gesetzesänderungen, die dazu beitra-
        gen werden, dass langjährig geduldeten Ausländerinnen
        und Ausländern ein Bleiberecht erteilt werden kann. Au-
        ßerdem ermöglicht der Gesetzentwurf es, die berufliche
        Integration von Ausländerinnen und Ausländern zu för-
        dern.
        Allerdings kann ich die nun gesetzlich verankerten
        Gründe für eine Abschiebehaft und für den Abschiebe-
        gewahrsam nicht unterstützen. Insbesondere sehe ich die
        Gefahr, dass damit der Rechtsschutz der Schutzsuchen-
        den praktisch erheblich eingeschränkt wird. Die Be-
        schleunigung der Asylverfahren führt inzwischen dazu,
        dass bereits innerhalb weniger Wochen eine rechtskräf-
        tige Entscheidung und sehr häufig eine vollziehbare
        Abschiebungsentscheidung vorliegen. Eine gründliche
        rechtliche Prüfung ist praktisch nicht möglich.
        Die neu formulierten konkreten Anhaltspunkte für
        eine Abschiebehaft liegen bei vielen Ausländerinnen
        und Ausländern vor, insbesondere, was die Unterdrü-
        ckung von Ausweispapieren betrifft. Manchen Flüchtlin-
        gen werden während ihrer gefährlichen Reise aus Kri-
        sen-, Kriegs- und Hungergebieten die Ausweispapiere
        sogar abgenommen. Insofern sind potenziell nahezu alle
        vollziehbar abschiebepflichtigen Ausländer von einer
        Abschiebehaft bedroht.
        Christoph Strässer (SPD): Das vorliegende Gesetz
        enthält für mich nicht nachvollziehbare neue Kriterien
        für die Abschiebehaft und für den Abschiebegewahrsam.
        Ich würde gern glauben, dass die Argumente stimmen,
        dass sich praktisch an der Vollzugspraxis nichts ändern
        wird, bin davon aber nicht überzeugt, obwohl ich unse-
        rem Berichterstatter, Rüdiger Veit, voll vertraue.
        Ich begrüße es sehr, dass mit dem Gesetz zwei neue
        gesetzliche Gründe für die Erteilung einer Aufenthalts-
        erlaubnis geschaffen werden: die Anerkennung ausländi-
        scher Berufsqualifikationen nach § 17 a AufenthG und
        die Aufenthaltsgewährung bei nachhaltiger Integration.
        Dies sind gute Gesetzesänderungen, die dazu beitra-
        gen werden, dass langjährig geduldeten Ausländerinnen
        und Ausländern ein Bleiberecht erteilt werden kann.
        Außerdem ermöglicht der Gesetzentwurf es, die berufli-
        che Integration von Ausländerinnen und Ausländern zu
        fördern.
        Da ich jedoch einer Gesetzesänderung nicht zustim-
        men will, bei der auch nur eine Wahrscheinlichkeit
        besteht, dass unschuldige Flüchtlinge zusätzlich in
        Abschiebehaft genommen werden, enthalte ich/mich der
        Stimme.
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11223
        (A) (C)
        (D)(B)
        Anlage 9
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Sevim Dağdelen (DIE
        LINKE) zur Abstimmung über den Entschlie-
        ßungsantrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
        GRÜNEN zu der dritten Beratung des von der
        Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
        Gesetzes zur Neubestimmung des Bleiberechts
        und der Aufenthaltsbeendigung (Tagesord-
        nungspunkt 13 a)
        Zu dem Entschließungsantrag und teilweise den Än-
        derungsanträgen von Bündnis90/Die Grünen ist keine
        Zustimmung, sondern nur eine Enthaltung möglich.
        Die vorgeschlagene Aufenthaltsregelung für gedul-
        dete Jugendliche in Ausbildung wurde vom Bundesrat
        übernommen und enthält unnötige Ausschlussgründe
        und Anforderungen (etwa zum Niveau von Deutsch-
        kenntnissen, ein Bekenntnis zur freiheitlich demokrati-
        schen Grundordnung, eine unbestimmte Ausschluss-
        klausel bei Bezügen zu extremistischen oder
        terroristischen Organisationen und bei fehlender Mitwir-
        kung bei der eigenen Abschiebung).
        Die Dauer der Abschiebungshaft von maximal 28 Ta-
        gen, wie von den Grünen vorgeschlagen, ist eindeutig zu
        lang, selbst wenn man dies als einen realpolitischen Vor-
        schlag auf dem Weg zur Abschaffung der Abschiebungs-
        haft, wie sie Die Linke fordert, versteht, wie es die Grü-
        nen in der Begründung darlegen. Flüchtlinge sind keine
        Kriminellen und gehören nicht in Haft.
        Beim Ausweisungsrecht tragen die Grünen im Ergeb-
        nis die Verschärfung mit, wonach künftig bereits ab ei-
        ner einjährigen Freiheitsstrafe von einem schwerwiegen-
        den Ausweisungsinteresse ausgegangen werden soll.
        Das ist abzulehnen.
        Im Entschließungsantrag zu den Integrationskursen
        gehen die Forderungen zwar in eine richtige Richtung
        und werden von der Linken weitgehend geteilt, aller-
        dings wird das derzeitige Integrationskurssystem zu un-
        kritisch dargestellt, es fehlen insbesondere Feststellun-
        gen und Forderungen zu Zwangsmitteln und Sanktionen
        im derzeitigen Integrationskurssystem. So kann der Inte-
        grationskursbesuch nach geltendem Recht mit Mitteln
        des Zwangs durchgesetzt werden, Versäumnisse können
        zu sozial- und aufenthaltsrechtlichen Sanktionen bis hin
        zur Aufenthaltsbeendigung und zur kompletten Einstel-
        lung sozialer Unterstützungsleistungen führen. Seit
        Mitte 2011 wird sogar sanktioniert, wenn Betroffene das
        geforderte Sprachniveau (B1) nicht erreichen – so lange
        erhalten sie nur eine auf längstens ein Jahr befristete
        Aufenthaltserlaubnis. Diese soziale Diskriminierung und
        Integration mit Zwangsmitteln ist abzulehnen und för-
        dert bzw. fußt auf irrigen und populistischen Vorurteilen,
        wonach Einwanderinnen und Einwanderer sich angeb-
        lich nicht integrieren wollen.
        Im Entschließungsantrag wird verschwiegen, dass die
        Einführung der Integrationskurse in der rot-grünen Re-
        gierungszeit im Jahr 2005 zu einer deutlichen Verschlech-
        terung der ohnehin niedrigen Honorare der Lehrkräfte im
        Sprachkursbereich führte. Wenn es in der Begründung
        heißt, dass die grüne Bundestagsfraktion „immer wieder“
        Anträge für „adäquate Arbeitsbedingungen im Rahmen
        von Festanstellungen oder auf der Basis angemessener
        Honorare“ eingebracht habe, ist dies irreführend: So for-
        derten die Grünen noch Ende 2011 in einem Antrag
        – Bundestagsdrucksache 17/7639 – eine Mindestvergü-
        tung in Höhe von nur 24 Euro die Stunde für Lehrkräfte
        im Integrationskursbereich und wies dabei ausdrücklich
        damalige Forderungen der Lehrkräfte bzw. der GEW
        nach einer Mindestvergütung in Höhe von 30 Euro zu-
        rück. Die Linke unterstützte hingegen bereits damals
        eine solche Mindestvergütung in Höhe von 30 Euro;
        grundsätzlich streben wir jedoch gut bezahlte, sozialver-
        sicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse für die
        Lehrkräfte an, die eine so wichtige und hochqualifizierte
        Arbeit leisten.
        In dem Antrag wird der Eindruck erweckt, als sei das
        deutsche Integrationskurssystem international Maßstäbe
        setzend, es besitze „auch im Ausland hohe Anerken-
        nung“. Dabei gibt es zum Beispiel in Schweden seit
        1970 ein kostenloses Sprachkurssystem für Einwande-
        rinnen und Einwanderer, das an den Vorkenntnissen und
        dem Bildungsstand der Betroffenen anknüpft und ent-
        sprechend individuell angepasste Ziele setzt; die Lehr-
        kräfte erhalten ein angemessenes Gehalt. Im deutschen
        System wird hingegen im Grundsatz von allen Einwan-
        derinnen und Einwanderern – ausgenommen werden be-
        zeichnenderweise zum Beispiel Hochqualifizierte – das-
        selbe Sprachniveau (B1) gefordert, und ursprünglich
        mussten auch alle dieses Ziel in derselben Zeit erreichen
        (600 Stunden). Trotz einiger Verbesserungen in den letz-
        ten Jahren hinsichtlich eines differenzierteren Kursange-
        bots bedarf es grundlegender Änderungen am deutschen
        Integrationskurssystem, wozu die Linke Vorschläge un-
        terbreiten wird.
        In der Begründung des Entschließungsantrags heißt
        es schließlich, dass die Haushaltsmittel für Integrations-
        kurse „auf Druck“ der grünen Bundestagsfraktion erhöht
        worden seien. Das ist eine groteske Selbstüberschätzung,
        die man nicht noch durch Zustimmung nähren sollte.
        Anlage 10
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Marco Bülow, Dr. Lars
        Castellucci, Dr. Ute Finckh-Krämer, Christina
        Kampmann, Kirsten Lühmann, Andreas
        Rimkus und Gülistan Yüksel (alle SPD) zur na-
        mentlichen Abstimmung über den Entschlie-
        ßungsantrag der Fraktion DIE LINKE zu der
        dritten Beratung des von der Bundesregierung
        eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
        Neubestimmung des Bleiberechts und der Auf-
        enthaltsbeendigung (Tagesordnungspunkt 13 a)
        Mit dem Antrag der Fraktion Die Linke werden eine
        „umfassende humanitäre Bleiberechtsregelung, ein
        wirksames Nachzugsrecht für Familienangehörige, das
        nicht von Sprach- oder Einkommensnachweisen abhän-
        11224 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
        (A) (C)
        (D)(B)
        gig ist, und eine Beendigung der Abschiebungshaft, statt
        ihrer Ausweitung“ gefordert.
        Die erste Forderung erfüllen wir mit dem Gesetzent-
        wurf in der Fassung der Änderungsanträge der Koali-
        tion. Voraussetzung für die Bleiberechtsregelung ist für
        Alleinstehende ein mindestens achtjähriger Voraufent-
        halt. Für Eltern minderjähriger Kinder reichen sechs
        Jahre. Dabei haben wir durchgesetzt, dass die Betroffe-
        nen keine volle Lebensunterhaltssicherung nachweisen
        müssen, wie sie im Aufenthaltsrecht sonst üblich ist,
        sondern nur eine überwiegende. Das betrifft insbeson-
        dere Antragsteller, die im Niedriglohnsektor tätig und
        auf aufstockende SGB-II-Leistungen angewiesen sind.
        Auch diese bekommen jetzt eine dauerhafte Perspektive
        in unserem Land.
        Ergänzend schaffen wir eine noch günstigere Rege-
        lung für Jugendliche und Heranwachsende bis zum
        21. Lebensjahr. Hier reicht ein vierjähriger Voraufent-
        halt.
        Zur Forderung nach einem wirksamen Nachzugsrecht
        für Familienangehörige, das nicht von Sprach- oder Ein-
        kommensnachweisen abhängig ist: Auf Drängen der
        Union haben wir bei den Sprachkenntnissen vor Einreise
        beim Ehegattennachzug die Aufnahme einer Härtefall-
        regelung ins Gesetz akzeptiert. Wir hätten die Regelung
        lieber ganz abgeschafft. Das war aber gegenüber der
        Union erwartungsgemäß nicht durchsetzbar. Zumindest
        können nun Härten im Einzelfall berücksichtigt werden.
        Einen generellen Verzicht auf Einkommensnachweise
        beim Ehegattennachzug unterstützen wir nicht.
        Zur Forderung nach einer Beendigung der Abschie-
        bungshaft statt ihrer Ausweitung: Die SPD-Fraktion
        setzt sich nicht für eine generelle Abschaffung der Ab-
        schiebungshaft ein, sondern für ihre Einschränkung. Im
        Übrigen sagen wir hierzu:
        Erstens bestand die Rechtsgrundlage – Fluchtgefahr –
        zuvor und bleibt unverändert. Mit fünf der sechs An-
        haltspunkte – der sechste ist ein Auffangtatbestand –
        wird nur das ins Gesetz geschrieben, was die Rechtspre-
        chung seit Jahren urteilt. Das ist keine Ausweitung ge-
        genüber dem Istzustand für die Betroffenen.
        Zweitens gibt die Neuregelung nur Anhaltspunkte für
        Fluchtgefahr. Es gibt keinen Automatismus, jeder Ein-
        zelfall muss gewürdigt werden.
        Drittens haben wir durchgesetzt, dass die schon in der
        Vergangenheit bestehende Möglichkeit der Inhaftierung,
        wenn jemand erhebliche Geldbeträge für einen Schleu-
        ser ausgegeben hat, entschärft wird. Bisher hat die
        Rechtsprechung dies nur oberflächlich begründet. Wir
        haben die Darlegungs- und Begründungslast für Behör-
        den und Gerichte erhöht. So wird der Anwendungs-
        bereich gegenüber der bisherigen Rechtsprechung einge-
        engt. Ursprünglich hatten wir in den Verhandlungen eine
        vollständige Streichung dieser Passage gefordert, konn-
        ten dies aber nicht durchsetzen.
        Anlage 11
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Ulrike Bahr, Dr. Matthias
        Bartke, Bärbel Bas, Uwe Beckmeyer, Dr. Karl-
        Heinz Brunner, Dr. Lars Castellucci, Elvira
        Drobinski-Weiß, Michaela Engelmeier, Saskia
        Esken, Ulrike Gottschalck, Ulrich Hampel,
        Dirk Heidenblut, Gabriela Heinrich, Frank
        Junge, Ralf Kapschack, Gabriele Katzmarek,
        Ulrich Kelber, Dr. Bärbel Kofler, Daniela
        Kolbe, Birgit Kömpel, Christine Lambrecht,
        Steffen-Claudio Lemme, Hiltrud Lotze, Kirsten
        Lühmann, Dr. Birgit Malecha-Nissen,
        Dr. Matthias Miersch, Susanne Mittag, Markus
        Paschke, Detlev Pilger, Sabine Poschmann,
        Dr. Simone Raatz, Mechthild Rawert, Gerold
        Reichenbach, Andreas Rimkus, Susann Rüthrich,
        Bernd Rützel, Johann Saathoff, Annette
        Sawade, Dr. Hans-Joachim Schabedoth,
        Dr. Nina Scheer, Dr. Dorothee Schlegel, Swen
        Schulz (Spandau), Norbert Spinrath, Svenja
        Stadler, Kerstin Tack, Michael Thews,
        Dr. Karin Thissen, Carsten Träger, Gabi Weber
        und Gülistan Yüksel (alle SPD) zu den nament-
        lichen Abstimmungen über die Beschlussemp-
        fehlung des Ausschusses für Wirtschaft und
        Energie
        – zu dem Antrag der Fraktion DIE LINKE:
        Aktiv gegen Subventionen für den Neubau
        von Atomkraftwerken in der EU
        – zu dem Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN: Subventionen für britisches
        Atomkraftwerk Hinkley Point C stoppen
        und rechtliche Schritte einlegen
        (Tagesordnungspunkt 18)
        Wenn Deutschland nicht gegen die Entscheidung der
        EU-Kommission zur Genehmigung der Beihilfe für
        Hinkley Point C klagt, ist darin keine Unterstützung von
        Atomenergie zu sehen. Genauso liegt in der Ablehnung
        entsprechender Bundestagsanträge keine Abwendung
        vom notwendigen Atomausstieg vor.
        Der Atomausstieg in Deutschland ist für uns unum-
        kehrbar. Mit der SPD setzen wir uns sowohl national als
        auch europäisch und international für den Ausstieg aus
        der Atomenergie, den Umstieg auf erneuerbare Energien
        sowie für mehr Energieeffizienz ein. Der europäische
        Atomausstieg ist insofern eine politische Aufgabe, die
        nicht über einen beihilferechtlichen Klageweg auf den
        EuGH abgewälzt werden kann und sollte.
        Im Einzelnen zu den genannten Bundestagsanträgen:
        Ende 2014 hat die EU-Kommission die nationalen
        Beihilfen, die die britische Regierung für Hinkley Point
        C vorsieht, genehmigt. Mit den genannten Anträgen
        wird Deutschland aufgefordert, gegen die Entscheidung
        der EU-Kommission beim EuGH zu klagen.
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11225
        (A) (C)
        (D)(B)
        Die von der britischen Regierung für Hinkley Point C
        vorgesehene Förderung ist unbestritten eine Beihilfe.
        Das EU-Beihilferecht gesteht der EU-Kommission über
        Artikel 107 AEUV weite Ermessensspielräume für die
        Genehmigung von Beihilfen zu. Die Beihilfegenehmi-
        gung der EU-Kommission ist nach Einschätzung der
        vonseiten der SPD im Rahmen der öffentlichen Anhö-
        rung des Ausschusses für Wirtschaft und Energie am
        17. Juni 2015 benannten Sachverständigen nicht offen-
        kundig rechtsfehlerhaft. Diese Einschätzung wird auch
        von der Bundesregierung geteilt.
        Eine Klage gegen die Entscheidung der EU-Kommis-
        sion erhielte insbesondere vor diesem Hintergrund eine
        politische Dimension, zumal hiermit auf die britische
        Entscheidung über die Ausgestaltung ihres Energiemi-
        xes eingegangen wird. Nach Artikel 194 AEUV ist es
        das Recht der Mitgliedstaaten, über ihren Energiemix zu
        entscheiden. Deutschland hat bei der Förderung erneuer-
        barer Energien stets – zu Recht – die nationale energie-
        politische Entscheidungskompetenz betont. Dieser
        Maßstab sollte auch für den Umgang mit den Energie-
        politiken anderer Mitgliedstaaten gelten. Mit der Beihil-
        feentscheidung zu Hinkley Point C hat die EU-Kommis-
        sion einen weiter gehenden Förderrahmen erlaubt, als sie
        etwa für erneuerbare Energien in den – für die Mitglied-
        staaten nicht verbindlichen – Energie-Beihilfeleitlinien
        vorgesehen sind. Vor diesem Hintergrund und auch, weil
        sich die EU gemeinsam auf den Ausbau erneuerbarer
        Energien verständigt hat, muss zukünftig erst recht ein
        breiterer Handlungsspielraum bei der Gestaltung von
        Fördersystemen für erneuerbare Energien möglich sein.
        Klar ist aber auch, dass es eine europäische Förderung
        für den Neubau von Atomkraftwerken aus öffentlichen
        Geldern nicht geben darf. In den Beratungen zum Euro-
        päischen Fonds für strategische Investitionen, EFSI,
        haben sich zuerst Bundesminister Sigmar Gabriel und
        dann auch die gesamte Bundesregierung explizit gegen
        eine Aufnahme der Förderung von Kernkraftwerken aus-
        gesprochen. Die Bundesregierung hat erklärt, dass sie
        auch im Rahmen weiterer Diskussionen zu den Einzel-
        bausteinen der Energieunion eine EU-Förderung oder
        gar einen europäischen Förderrahmen für Kernkraft-
        werke entschieden ablehnen wird.
        Aus diesen Gründen lehnen wir die oben angegebe-
        nen Anträge ab.
        Anlage 12
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Lothar Binding (Heidelberg)
        und Josip Juratovic (beide SPD) zu den na-
        mentlichen Abstimmungen über die Beschluss-
        empfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und
        Energie
        – zu dem Antrag der Fraktion DIE LINKE:
        Aktiv gegen Subventionen für den Neubau
        von Atomkraftwerken in der EU
        – zu dem Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN: Subventionen für britisches
        Atomkraftwerk Hinkley Point C stoppen
        und rechtliche Schritte einlegen
        (Tagesordnungspunkt 18)
        Klagen gegen Atomstrom. Klingt gut – ist aber falsch.
        Greenpeace Energy hat einen Massenbrief entworfen.
        Wer sich seine Meinung nicht bilden möchte, sondern
        klicken, nimmt seine Maus in die Hand und in etwa
        30 Sekunden wird folgender Text an das Parlament ge-
        schickt, der von einer selbst geschriebenen Mail nicht
        unterscheidbar ist:
        Die EU-Kommission hat im Herbst 2014 staatliche
        Beihilfen für den britischen Reaktorneubau Hinkley
        Point C genehmigt. Mit der Veröffentlichung im EU-
        Amtsblatt ist diese Genehmigung seit Ende April recht-
        lich verbindlich.
        Damit darf die britische Regierung das geplante
        Atomkraftwerk mit Staatsgarantien und einer hohen Ein-
        speisevergütung fördern. Insgesamt sollen umgerechnet
        mehr als 20 Milliarden Euro an öffentlichen Geldern in
        das Projekt fließen. Die Atomenergie in Europa erhält
        damit auf Jahrzehnte einen privilegierten Status, der ei-
        nen freien und fairen Stromhandel auf dem europäischen
        Energie-Binnenmarkt beschädigt und die erneuerbaren
        Energien schwächt.
        Durch den grenzüberschreitenden Stromhandel in der
        EU hätte ein hochsubventioniertes Hinkley Point C ei-
        nen direkten und messbaren Einfluss auf den deutschen
        Strommarkt. Zudem könnte das Beihilfe-Modell für
        Hinkley Point C Schule machen und für andere, derzeit
        geplante Reaktorbauten in Polen oder Tschechien über-
        nommen werden. Dies würde den Wettbewerb auf dem
        deutschen Strommarkt weiter verzerren.
        Der Ökostromanbieter Greenpeace Energy, zahlreiche
        weitere Energiemarkt-Akteure sowie die Staaten Öster-
        reich und Luxemburg wollen deshalb gegen die Beihil-
        fen für Hinkley Point C vor Gericht ziehen. Ich halte es
        für dringend geboten, dass auch die deutsche Bundesre-
        gierung mit konkreten rechtlichen Schritten gegen über-
        zogene Subventionen für die riskante und unzeitgemäße
        Atomtechnologie vorgeht. Ich bitte Sie daher, sich ent-
        sprechend Ihrer Möglichkeiten als Parlamentarier dafür
        einzusetzen.“
        Soweit der Standardtext, den einige Bürgerinnen und
        Bürger schicken.
        Die Aufforderung, die Bundesregierung zu rechtli-
        chen Schritten gegen diese Genehmigung zu bewegen,
        klingt gut, denn Investitionen in Atomenergie sind un-
        verantwortlich. Wir denken an die bittere Erfahrung,
        dass es auch in Deutschland erst Fukushimas bedurfte,
        damit die CDU/CSU ihren Wiedereinstieg in die Atom-
        stromversorgung rückgängig machte. Hoffentlich bedarf
        es nun nicht für jeden kleinen Erkenntnisschritt eines Fu-
        kushima. Wir kennen die Risiken und das Problem der
        Atommülllagerung.
        Alle Folgekosten eingeschlossen, ist Atomenergie die
        teuerste Energieerzeugung, die wir kennen – und unver-
        hältnismäßig viel teurer als erneuerbare, auf der Sonnen-
        11226 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
        (A) (C)
        (D)(B)
        energie basierende Energieversorgung. Deswegen ist es
        rückwärtsgewandt und falsch, dass Großbritannien und
        andere EU-Staaten an der Atomenergie festhalten und
        diese sogar ausbauen wollen.
        Greenpeace Energy verkennt, dass Hinkley Point C
        nur vordergründig ein rechtliches Problem ist. Vielmehr
        handelt es sich um ein politisches Problem, denn wir
        werden die Atomenergie in Europa nicht beenden, wenn
        wir die Entscheidung der EU-Kommission über den Weg
        einer Klage angreifen.
        Stattdessen brauchen wir eine gesellschaftliche Mehr-
        heit in ganz Europa für den Atomausstieg, damit jene
        Parteien, die weiterhin für die Atomkraft eintreten, ihre
        Mehrheiten verlieren.
        Das Problem ist also nicht, dass die Europäische
        Union die staatliche Förderung des Reaktorneubaus ge-
        nehmigt, sondern dass Großbritannien überhaupt einen
        Atomreaktor neu bauen und mit Steuergeldern subven-
        tionieren will. Die Genehmigung durch die EU-Kom-
        mission erfolgt nach Artikel 194 EUV: Danach hat die
        Europäische Union keinen Einfluss auf den Energiemix
        der einzelnen Mitgliedstaaten. Diese rechtliche Rege-
        lung ist in speziellen Einzelfällen extrem ärgerlich –
        manchmal aber auch die Rettung der Energiewende in
        Richtung solarbasierter nicht fossiler Energieversor-
        gung. Ich denke natürlich an das EEG in Deutschland.
        Das Energieeinspeisegesetz ist die Basis für eine ökolo-
        gische Energieversorgung in Deutschland. Würden wir
        durch eine Klage allerdings erreichen, dass künftig der
        Energiemix der Entscheidungskompetenz der einzelnen
        Mitgliedstaaten entzogen würde – der deutsche Weg
        wäre extrem gefährdet. Denn Deutschland könnte erneu-
        erbare Energien durch das Erneuerbare-Energien-Ge-
        setz nicht „im Alleingang“ fördern – und die Wirtschaft-
        lichkeit der erneuerbaren Energien unter Beweis stellen.
        Geht Deutschland diese Möglichkeit verloren, gerät
        eine technologische Entwicklung in der Energieversor-
        gung – ohne Atomkraft, ohne fossile Energieträger – un-
        ter Druck und zukünftig notwendige Technologien wä-
        ren nicht verfügbar. Technologie und Technik, die genau
        dann gebraucht werden, wenn England oder Frankreich
        – hoffentlich ohne ein Fukushima – die Zukunftsfähig-
        keit der Sonne erkannt haben werden.
        So schrecklich es ist. Polen und Energie heißt Kohle
        bzw. Kohlendioxyd. England und Energie heißt Atom-
        strom und Radioaktivität. Deutschland und Energie heißt
        Solartechnik, Sicherheit und Zukunftsfähigkeit. Wenn
        wir diese Entscheidungskompetenz der einzelnen Mit-
        gliedstaaten zur Disposition stellen, gefährden wir die
        ökologische Erneuerung Deutschlands – ohne in anderen
        Ländern bzw. ganz Europa Kohle- und Atomstrom zu-
        rückdrängen zu können.
        Das Ziel von Greenpeace Energy, der Atomausstieg,
        wird von der gesamten SPD-Fraktion geteilt und unter-
        stützt – die Klage gegen die Beihilfe anderer Länder ge-
        fährdet den Einstieg in alternative Technologien.
        Manchmal ist der Rechtsweg eben doch schlechter als
        gute Politik. Machen wir gute Politik in Europa.
        Anlage 13
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Dr. Ute Finckh-Krämer und
        Hilde Mattheis (beide SPD) zu den namentli-
        chen Abstimmungen über die Beschlussempfeh-
        lung des Ausschusses für Wirtschaft und Ener-
        gie
        – zu dem Antrag der Fraktion DIE LINKE:
        Aktiv gegen Subventionen für den Neubau
        von Atomkraftwerken in der EU
        – zu dem Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN: Subventionen für britisches
        Atomkraftwerk Hinkley Point C stoppen
        und rechtliche Schritte einlegen
        (Tagesordnungspunkt 18)
        Wenn Deutschland nicht gegen die Entscheidung der
        EU-Kommission zur Genehmigung der Beihilfe für Hin-
        kley Point C klagt, ist darin keine Unterstützung von
        Atomenergie zu sehen. Genauso liegt in der Ablehnung
        entsprechender Bundestagsanträge keine Abwendung
        vom notwendigen Atomausstieg vor.
        Der Atomausstieg in Deutschland ist für uns unum-
        kehrbar. Mit der SPD setzen wir uns sowohl national als
        auch europäisch und international für den Ausstieg aus
        der Atomenergie, den Umstieg auf erneuerbare Energien
        sowie für mehr Energieeffizienz ein. Der europäische
        Atomausstieg ist insofern eine politische Aufgabe, die
        nicht über einen beihilferechtlichen Klageweg auf den
        EuGH abgewälzt werden kann und sollte.
        Im Einzelnen zu den genannten Bundestagsanträgen:
        Ende 2014 hat die EU-Kommission die nationalen Bei-
        hilfen, die die britische Regierung für Hinkley Point C
        vorsieht, genehmigt. Mit den genannten Anträgen wird
        Deutschland aufgefordert, gegen die Entscheidung der
        EU-Kommission beim EuGH zu klagen.
        Die von der britischen Regierung für Hinkley Point C
        vorgesehene Förderung ist unbestritten eine Beihilfe.
        Das EU-Beihilferecht gesteht der EU-Kommission über
        Artikel 107 AEUV weite Ermessensspielräume für die
        Genehmigung von Beihilfen zu. Die Beihilfegenehmi-
        gung der EU-Kommission ist nach Einschätzung der
        vonseiten der SPD im Rahmen der öffentlichen Anhö-
        rung des Ausschusses für Wirtschaft und Energie am
        17. Juni 2015 benannten Sachverständigen nicht offen-
        kundig rechtsfehlerhaft. Diese Einschätzung wird auch
        von der Bundesregierung geteilt.
        Eine deutsche Klage gegen die Entscheidung der EU-
        Kommission erhielte insbesondere vor diesem Hinter-
        grund eine politische Dimension, zumal hiermit auf die
        britische Entscheidung über die Ausgestaltung ihres
        Energiemixes eingegangen wird. Nach Artikel 194
        AEUV ist es das Recht der Mitgliedstaaten, über ihren
        Energiemix zu entscheiden. Deutschland hat bei der För-
        derung erneuerbarer Energien stets – zu Recht – die na-
        tionale energiepolitische Entscheidungskompetenz be-
        tont. Dieser Maßstab sollte auch für den Umgang mit
        den Energiepolitiken anderer Mitgliedstaaten gelten. Mit
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11227
        (A) (C)
        (D)(B)
        der Beihilfeentscheidung zu Hinkley Point C hat die EU-
        Kommission einen weiter gehenden Förderrahmen er-
        laubt, als sie etwa für erneuerbare Energien in den – für
        die Mitgliedstaaten nichtverbindlichen – Energie-Bei-
        hilfeleitlinien vorgesehen sind. Vor diesem Hintergrund
        und auch, weil sich die EU gemeinsam auf den Ausbau
        erneuerbarer Energien verständigt hat, muss zukünftig
        erst recht ein breiterer Handlungsspielraum bei der Ge-
        staltung von Fördersystemen für erneuerbare Energien
        möglich sein.
        Klar ist aber auch, dass es eine europäische Förderung
        für den Neubau von Atomkraftwerken aus öffentlichen
        Geldern nicht geben darf. In den Beratungen zum Euro-
        päischen Fonds für strategische Investitionen, EFSI, ha-
        ben sich zuerst Bundesminister Sigmar Gabriel und dann
        auch die gesamte Bundesregierung explizit gegen eine
        Aufnahme der Förderung von Kernkraftwerken ausge-
        sprochen. Die Bundesregierung hat erklärt, dass sie auch
        im Rahmen weiterer Diskussionen zu den Einzelbaustei-
        nen der Energieunion eine EU-Förderung oder gar einen
        europäischen Förderrahmen für Kernkraftwerke ent-
        schieden ablehnen wird.
        Aus diesen Gründen lehnen wir die oben angegebe-
        nen Anträge ab.
        Anlage 14
        Erklärungen nach § 31 GO
        zu den namentlichen Abstimmungen über die
        Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirt-
        schaft und Energie
        – zu dem Antrag der Fraktion DIE LINKE:
        Aktiv gegen Subventionen für den Neubau
        von Atomkraftwerken in der EU
        – zu dem Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN: Subventionen für britisches
        Atomkraftwerk Hinkley Point C stoppen
        und rechtliche Schritte einlegen
        (Tagesordnungspunkt 18)
        Heike Baehrens (SPD): Die Entscheidung der briti-
        schen Regierung zum Bau eines neuen Atomkraftwerks
        am Standort Hinkley Point sowie die Entscheidung der
        EU-Kommission, die Beihilfen für diesen Bau zu geneh-
        migen, senden ein falsches Signal aus. Aufgrund der Ge-
        fahr, die von Atomkraftwerken ausgeht, der nach wie
        vor ungelösten Entsorgungsfrage und der immens hohen
        Kosten hat die Atomenergie keine Zukunft mehr. Anstatt
        sich auf einen europaweiten Atomausstieg zuzubewe-
        gen, wird bei einer tatsächlichen Realisierung des Pro-
        jekts Hinkley Point C, welches für eine Laufzeit von
        60 Jahren geplant wird, das Atomzeitalter in Europa um
        viele Jahre verlängert. Viele weitere Jahre, in denen die
        Menschen in Großbritannien und Europa der Gefahr ei-
        nes AKW-Unfalls ausgesetzt sind. Viele weitere Jahre,
        in denen zusätzlicher hochstrahlender Atommüll produ-
        ziert wird.
        Unflexible Großkraftwerke wie in Hinkley Point pas-
        sen auch nicht zur Systemumstellung auf eine Energie-
        produktion auf Basis erneuerbarer Energien. Der Volati-
        lität von zum Beispiel Wind- und Sonnenenergie muss
        mit flexiblen Kraftwerken begegnet werden. Statt den
        Systemumbau durch die Förderung zukunftsträchtiger
        Technologien zu unterstützen, müssen die britischen
        Stromkunden und Steuerzahler mit Milliardensummen
        eine Technologie fördern, die es in sechs Jahrzehnten
        nicht geschafft hat, ohne Subventionen so profitabel zu
        sein, dass sie sich frei am Markt finanzieren lässt. Wäh-
        rend die Vergütungssätze der erneuerbaren Energien de-
        gressiv sind, diese also immer günstiger werden, garan-
        tiert der sogenannte Contract for Difference den
        Betreibern von Hinkley Point C beispielsweise eine hö-
        here Vergütung als hierzulande aktuell Strom aus Wind-
        krafträdern. Dieser über 35 Jahre (!) garantierte Atom-
        strompreis ist aber nicht degressiv, sondern soll sich
        inflationsbedingt sogar noch erhöhen. Zudem gibt die
        britische Regierung dem Betreiberkonsortium eine Kre-
        ditgarantie über 22 Milliarden Euro und garantiert Aus-
        fallzahlungen, sollten sich durch politische Entscheidun-
        gen Rahmenbedingungen für die Atomenergieproduktion
        verschlechtern.
        Im Gegensatz zur Förderung der erneuerbaren Ener-
        gien richtet sich die geplante Unterstützung auch nicht
        an eine Vielzahl konkurrierender Anbieter, sondern an
        einen einzigen Betreiber. Diese einseitige Atomenergie-
        förderung wird aber aller Wahrscheinlichkeit nach Nach-
        teile für Erneuerbare-Energien-Anbieter nicht nur in
        Großbritannien, sondern auch in anderen EU-Ländern
        haben, vor allem wenn die Stromtrassen zwischen Eng-
        land und Resteuropa ausgebaut werden. Schließlich
        kann der in Hinkley Point C produzierte Strom durch die
        hohe Förderung besonders günstig angeboten werden
        und sogar bei negativen Marktpreisen Gewinne erzielen.
        Zu bedenken ist weiterhin, dass andere EU-Länder,
        die den Bau von Atomkraftwerken planen oder in Erwä-
        gung ziehen, von der Entscheidung der EU-Kommission
        eher in ihrem Vorhaben bestärkt als abgeschreckt wer-
        den. Hinkley Point C kann so zum Präzedenzfall werden.
        Die beiden weiteren schon im Bau befindlichen AKW-
        Projekte in Finnland und Frankreich haben aufgrund der
        Vielzahl der Probleme – zum Beispiel beim Reaktor-
        druckbehälter im französischen Flamanvilley – der aus-
        ufernden Kosten und der sich immer weiter nach hinten
        verschiebenden Inbetriebnahme sicher keinen starken
        Anreizcharakter.
        Aufgrund der aufgeführten Argumente und meines
        langjährigen Engagements gegen Kernenergie bin ich
        ausdrücklich gegen den Reaktorneubau Hinkley Point C.
        Daher habe ich Verständnis für die Motivation, die hinter
        den Anträgen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/
        Die Grünen steht. Beide wollen damit versuchen, das
        Projekt doch noch zu verhindern. Allerdings muss an
        dieser Stelle auch gesagt werden, dass die heutige Ab-
        stimmung im Deutschen Bundestag nicht über die Reali-
        sierung oder Nichtrealisierung von Hinkley Point C ent-
        scheidet. Auch eine Entscheidung für eine Klage ändert
        nichts an dem Vorhaben.
        11228 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
        (A) (C)
        (D)(B)
        Es ist auch nicht eindeutig klar, wie die Aussicht auf
        Erfolg bei einer Nichtigkeitsklage ist und welche Folgen
        eine solche Klage für das weitere Handeln der EU be-
        züglich der deutschen Erneuerbare-Energien-Förderung
        haben wird. Die Experten der Anhörung im Wirtschafts-
        ausschuss kamen hier nicht zu einer eindeutigen Mei-
        nung. Die Kommission hat bei Beihilferechtsfragen
        schließlich einen großen Ermessensspielraum. Eine Kla-
        geniederlage würde die Präzedenzwirkung der Kommis-
        sionsentscheidung noch weiter festigen.
        Viel wichtiger als den beihilferechtlichen Klageweg
        gegen ein AKW-Projekt anzustrengen, ist es, sich auf
        politischer Ebene innerhalb der EU gezielt für einen eu-
        ropäischen Atomausstieg zu engagieren, das heißt EU-
        Partner zu überzeugen, dass Atomenergie keine Zukunft
        hat.
        Aus diesen Gründen enthalte ich mich bei der Ab-
        stimmung.
        Marco Bülow (SPD): Die Entscheidung der briti-
        schen Regierung zum Bau eines neuen Atomkraftwerks
        am Standort Hinkley Point sowie die Entscheidung der
        EU-Kommission, die Beihilfen für diesen Bau zu geneh-
        migen, senden ein absolut falsches Signal aus. Aufgrund
        der immensen Gefahr, die von Atomkraftwerken aus-
        geht, aufgrund der nach wie vor ungelösten Entsor-
        gungsfrage und aufgrund der immens hohen Kosten hat
        die Atomenergie keine Zukunft mehr. Anstatt sich auf
        einen europaweiten Atomausstieg zuzubewegen, wird
        bei einer tatsächlichen Realisierung des Projekts Hinkley
        Point C, welches für eine Laufzeit von 60 Jahren geplant
        wird, das Atomzeitalter in Europa um viele Jahre verlän-
        gert. Viele weitere Jahre, in denen die Menschen in
        Großbritannien und Europa der Gefahr eines AKW-
        Unfalls ausgesetzt sind. Viele weitere Jahre, in denen zu-
        sätzlicher, hochstrahlender Atommüll produziert wird.
        Unflexible Großkraftwerke wie die Atomkraftwerke
        in Hinkley Point passen auch nicht zur Systemumstel-
        lung auf eine Energieproduktion auf Basis erneuerbarer
        Energien. Der Volatilität von zum Beispiel Wind- und
        Sonnenenergie muss mit flexiblen Kraftwerken begegnet
        werden. Statt den Systemumbau durch die Förderung zu-
        kunftsträchtiger Technologien zu unterstützen, müssen
        die britischen Stromkunden und Steuerzahler mit Milli-
        ardensummen eine Technologie fördern, die es in sechs
        Jahrzehnten nicht geschafft hat, ohne Subventionen so
        profitabel zu sein, dass sie sich frei am Markt finanzie-
        ren lässt. Während die Vergütungssätze der erneuerbaren
        Energien degressiv sind, diese also immer günstiger
        werden, garantiert der sogenannte Contract for Diffe-
        rence den Betreibern von Hinkley Point C beispielsweise
        eine höhere Vergütung als hierzulande aktuell Strom aus
        Windkrafträdern. Dieser über 35 Jahre garantierte Atom-
        strompreis ist aber nicht degressiv, sondern soll sich
        inflationsbedingt sogar noch erhöhen. Zudem gibt die
        britische Regierung dem Betreiberkonsortium eine
        Kreditgarantie über 22 Milliarden Euro und garantiert
        Ausfallzahlungen, sollten sich durch politische Entschei-
        dungen Rahmenbedingungen für die Atomenergiepro-
        duktion verschlechtern. Angesichts des offensichtlich
        nötigen gigantischen Ausmaßes des Förderpakets für
        eine solch alte Technologie kann man klar feststellen,
        dass hier kein Versagen des britischen Strommarkts vor-
        liegt, sondern ein Technologieversagen.
        Im Gegensatz zur Förderung der erneuerbaren Ener-
        gien richtet sich die geplante Unterstützung auch nicht
        an eine Vielzahl konkurrierender Anbieter, sondern an
        einen einzigen Betreiber. Diese einseitige Atomenergie-
        förderung wird aber aller Wahrscheinlichkeit nach Nach-
        teile für Erneuerbare-Energien-Anbieter nicht nur in
        Großbritannien, sondern auch in anderen EU-Ländern
        haben, vor allem wenn die Stromtrassen zwischen
        England und Resteuropa ausgebaut werden. Schließlich
        kann der in Hinkley Point C produzierte Strom durch die
        hohe Förderung besonders günstig angeboten werden
        und sogar bei negativen Marktpreisen Gewinne erzielen.
        Zu bedenken ist weiterhin, dass andere EU-Länder,
        die den Bau von Atomkraftwerken planen oder in Erwä-
        gung ziehen, von der Entscheidung der EU-Kommission
        eher in ihrem Vorhaben bestärkt als abgeschreckt wer-
        den. Hinkley Point C kann so zum Präzedenzfall werden.
        Die beiden weiteren schon im Bau befindlichen AKW-
        Projekte in Finnland und Frankreich haben aufgrund der
        Vielzahl der Probleme – zum Beispiel beim Reaktor-
        druckbehälter im französischen Flamanville –, der
        explodierenden Kosten und der sich immer weiter nach
        hinten verschiebenden Inbetriebnahme sicher keinen
        starken Anreizcharakter.
        Aufgrund der aufgeführten Argumente und meines
        langjährigen Engagements gegen Atomenergie bin ich
        ein entschiedener Gegner des Reaktorneubaus Hinkley
        Point C. Aus meiner Sicht handelt es sich um eine fatale
        Entscheidung. Daher habe ich Verständnis für die Moti-
        vation, die hinter den Anträgen der Fraktionen Die Linke
        und Bündnis 90/Die Grünen steht. Beide wollen damit
        versuchen, das Projekt doch noch zu verhindern. Ich
        kann daher nicht gegen diese Anträge bzw. für die Be-
        schlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und
        Energie stimmen. Allerdings muss an dieser Stelle auch
        gesagt werden, dass die heutige Abstimmung im Deut-
        schen Bundestag nicht über die Realisierung oder Nicht-
        realisierung von Hinkley Point C entscheidet. Auch eine
        Entscheidung für eine Klage ändert nichts an dem Vor-
        haben.
        Es ist auch nicht eindeutig klar, wie die Aussicht auf
        Erfolg bei einer Nichtigkeitsklage ist und welche Folgen
        eine solche Klage für das weitere Handeln der EU be-
        züglich der deutschen Erneuerbare-Energien-Förderung
        haben wird. Die Experten der Anhörung im Wirtschafts-
        ausschuss kamen hier nicht zu einer eindeutigen
        Meinung. Die Kommission hat bei Beihilferechtsfragen
        schließlich einen großen Ermessensspielraum. Eine
        Klageniederlage würde die Präzedenzwirkung der Kom-
        missionsentscheidung noch weiter festigen.
        Viel wichtiger als den beihilferechtlichen Klageweg
        gegen ein AKW-Projekt anzustrengen, ist es, sich auf
        politischer Ebene innerhalb der EU gezielt für einen
        europäischen Atomausstieg zu engagieren, das heißt
        EU-Partner zu überzeugen, dass Atomenergie keine Zu-
        kunft hat.
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11229
        (A) (C)
        (D)(B)
        Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Atomenergie ist der
        falsche Weg. Subventionen dafür sind rückwärtsge-
        wandt. Ziel muss ein europäischer Ausstieg aus der
        Atomenergie sein. Die vorliegenden Anträge fordern
        aber aus meiner Sicht, gegen geltendes europäisches
        Recht zu klagen. Der Europäische Gerichtshof ist hierfür
        der falsche Adressat. Wenn wir gesetzliche Regelungen
        ändern wollen und müssen, dann ist die gesetzgebende
        Ebene gefragt, nicht die rechtsprechende Ebene.
        Ende 2014 hat die EU-Kommission die nationalen
        Beihilfen genehmigt, die die britische Regierung für
        Hinkley Point C vorsieht. Deutschland wird in den vor-
        liegenden Anträgen aufgefordert, gegen die Entschei-
        dung der EU-Kommission beim EuGH zu klagen.
        Die von der britischen Regierung für Hinkley Point C
        vorgesehene Förderung ist eine Beihilfe. Das EU-Beihil-
        ferecht gesteht der EU-Kommission über Artikel 107
        AEUV weite Ermessensspielräume für die Genehmi-
        gung von Beihilfen zu. Die Beihilfegenehmigung der
        EU-Kommission ist nach Einschätzung der vonseiten
        der SPD im Rahmen der öffentlichen Anhörung des
        Ausschusses für Wirtschaft und Energie am 17. Juni
        2015 benannten Sachverständigen nicht offenkundig
        rechtsfehlerhaft. Diese Einschätzung wird auch von der
        Bundesregierung geteilt.
        Eine Klage gegen die Entscheidung wäre auch mit der
        Frage über die Ausgestaltung des Energiemixes der Mit-
        gliedstaaten verbunden. Nach Artikel 194 AEUV ist es
        das Recht der Mitgliedstaaten, über ihren Energiemix zu
        entscheiden. Deutschland hat bei der Förderung erneuer-
        barer Energien stets – zu Recht – die nationale energie-
        politische Entscheidungskompetenz betont. Dieser
        Maßstab sollte auch für den Umgang mit den Energie-
        politiken anderer Mitgliedstaaten gelten. Mit der Beihil-
        feentscheidung zu Hinkley Point C hat die EU-Kommis-
        sion einen weitergehenden Förderrahmen erlaubt, als sie
        etwa für erneuerbare Energien in den – für die Mitglied-
        staaten nicht verbindlichen – Energie-Beihilfeleitlinien
        vorgesehen sind. Vor diesem Hintergrund und auch, weil
        sich die EU gemeinsam auf den Ausbau erneuerbarer
        Energien verständigt hat, muss zukünftig erst recht ein
        breiterer Handlungsspielraum bei der Gestaltung von
        Fördersystemen für erneuerbare Energien möglich sein.
        Der Atomausstieg in Deutschland ist für mich unum-
        kehrbar. Mit der SPD setze ich mich sowohl national als
        auch europäisch und international für den Ausstieg aus
        der Atomenergie, den Umstieg auf erneuerbare Energien
        sowie für mehr Energieeffizienz ein. Eine europäische
        Förderung für den Neubau von Atomkraftwerken aus öf-
        fentlichen Geldern halte ich für falsch. In den Beratun-
        gen zum Europäischen Fonds für strategische Investitio-
        nen, EFSI, haben sich zuerst Bundesminister Sigmar
        Gabriel und dann auch die gesamte Bundesregierung ge-
        gen eine Aufnahme der Förderung von Kernkraftwerken
        ausgesprochen. Die Bundesregierung hat erklärt, dass sie
        auch im Rahmen weiterer Diskussionen zu den Einzel-
        bausteinen der Energieunion eine EU-Förderung oder
        gar einen europäischen Förderrahmen für Kernkraft-
        werke entschieden ablehnen wird. Der europäische
        Atomausstieg ist eine politische Aufgabe, die nicht über
        einen beihilferechtlichen Klageweg auf den EuGH abge-
        wälzt werden kann und sollte.
        Deswegen lehne ich die vorliegenden Anträge ab.
        Ulli Nissen (SPD): Der Atomausstieg in Deutsch-
        land ist für mich unumkehrbar. Mit der SPD setze ich
        mich sowohl national als auch europäisch und internatio-
        nal für den Ausstieg aus der Atomenergie, den Umstieg
        auf erneuerbare Energien sowie für mehr Energieeffi-
        zienz ein. Der europäische Atomausstieg ist insofern
        eine politische Aufgabe, die nicht über einen beihilfe-
        rechtlichen Klageweg auf den EuGH abgewälzt werden
        kann und sollte.
        Ich persönlich halte den Neubau des Atomkraftwer-
        kes am Standort Hinkley Point für eine falsche Entschei-
        dung und für ein falsches Signal. Atomenergie hat keine
        Zukunft mehr. Anstatt sich auf einen europaweiten
        Atomausstieg zuzubewegen, wird durch den Bau das
        Atomzeitalter um Jahrzehnte verlängert.
        Der Deutsche Bundestag entscheidet heute aber nicht
        über die Realisierung oder Nichtrealisierung von Hink-
        ley Point C. Auch eine Entscheidung für eine Klage, wie
        in diesen Anträgen gefordert, ändert nichts an dem Vor-
        haben der britischen Regierung. Die Beihilfen, um die es
        geht, trägt ausschließlich der britische Steuerzahler.
        Es ist auch nicht eindeutig klar, wie die Aussicht auf
        Erfolg bei einer Nichtigkeitsklage ist und welche Folgen
        eine solche Klage für das weitere Handeln der EU be-
        züglich der deutschen Erneuerbare-Energien-Förderung
        haben wird. Die Kommission hat bei Beihilferechtsfra-
        gen einen großen Ermessensspielraum. Eine Klagenie-
        derlage würde die Präzedenzwirkung der Kommissions-
        entscheidung noch weiter festigen. Wenn Deutschland
        nicht gegen die Entscheidung der EU-Kommission zur
        Genehmigung der Beihilfe für Hinkley Point C klagt, ist
        darin keine Unterstützung von Atomenergie zu sehen.
        Genauso liegt in der Ablehnung entsprechender Bundes-
        tagsanträge keine Abwendung vom notwendigen Atom-
        ausstieg vor. Deshalb stimme ich gegen die Anträge.
        Viel wichtiger als eine Klage gegen ein AKW-Projekt
        anzustrengen ist es, sich auf EU-Ebene gezielt für einen
        europäischen Atomausstieg zu engagieren, das heißt
        EU-Partner zu überzeugen, dass Atomenergie keine Zu-
        kunft hat.
        Zum Hintergrund der genannten Bundestagsanträge:
        Ende 2014 hat die EU-Kommission die nationalen
        Beihilfen, die die britische Regierung für Hinkley
        Point C vorsieht, genehmigt. Mit den genannten Anträ-
        gen wird Deutschland aufgefordert, gegen die Entschei-
        dung der EU-Kommission beim EuGH zu klagen.
        Die von der britischen Regierung für Hinkley Point C
        vorgesehene Förderung ist unbestritten eine Beihilfe.
        Das EU-Beihilferecht gesteht der EU-Kommission über
        Artikel 107 AEUV weite Ermessensspielräume für die
        Genehmigung von Beihilfen zu. Die Beihilfe-Genehmi-
        gung der EU-Kommission ist nach Einschätzung der
        vonseiten der SPD im Rahmen der öffentlichen Anhö-
        rung des Ausschusses für Wirtschaft und Energie am
        11230 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
        (A) (C)
        (D)(B)
        17. Juni 2015 benannten Sachverständigen nicht offen-
        kundig rechtsfehlerhaft. Diese Einschätzung wird auch
        von der Bundesregierung geteilt.
        Eine Klage gegen die Entscheidung der EU-Kommis-
        sion erhielte insbesondere vor diesem Hintergrund eine
        politische Dimension, zumal hiermit auf die britische
        Entscheidung über die Ausgestaltung ihres Energiemi-
        xes eingegangen wird. Nach Artikel 194 AEUV ist es
        das Recht der Mitgliedstaaten, über ihren Energiemix zu
        entscheiden. Deutschland hat bei der Förderung erneuer-
        barer Energien stets – zu Recht – die nationale energie-
        politische Entscheidungskompetenz betont. Dieser
        Maßstab sollte auch für den Umgang mit den Energiepo-
        litiken anderer Mitgliedstaaten gelten. Mit der Beihilfe-
        entscheidung zu Hinkley Point C hat die EU-Kommis-
        sion einen weitergehenden Förderrahmen erlaubt, als sie
        etwa für erneuerbare Energien in den – für die Mitglied-
        staaten nicht verbindlichen – Energie-Beihilfeleitlinien
        vorgesehen sind. Vor diesem Hintergrund und auch, weil
        sich die EU gemeinsam auf den Ausbau erneuerbarer
        Energien verständigt hat, muss zukünftig erst recht ein
        breiterer Handlungsspielraum bei der Gestaltung von
        Fördersystemen für erneuerbare Energien möglich sein.
        Klar ist aber auch, dass es eine europäische Förderung
        für den Neubau von Atomkraftwerken aus öffentlichen
        Geldern nicht geben darf. In den Beratungen zum Euro-
        päischen Fonds für strategische Investitionen, EFSI, ha-
        ben sich zuerst Bundesminister Sigmar Gabriel und dann
        auch die gesamte Bundesregierung explizit gegen eine
        Aufnahme der Förderung von Kernkraftwerken ausge-
        sprochen. Die Bundesregierung hat erklärt, dass sie auch
        im Rahmen weiterer Diskussionen zu den Einzelbaustei-
        nen der Energie-Union eine EU-Förderung oder gar ei-
        nen europäischen Förderrahmen für Kernkraftwerke ent-
        schieden ablehnen wird.
        Aus diesen Gründen lehne ich die oben angegebenen
        Anträge ab.
        Anlage 15
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Antrags: Transparenzinitiative
        der Europäischen Kommission mitgestalten –
        Bewährte Standards im Handwerk und in den
        Freien Berufen erhalten (Tagesordnungspunkt 15)
        Astrid Grotelüschen (CDU/CSU): Die Europäische
        Kommission hat 2011 einen Vorschlag zur Modernisie-
        rung der Richtlinie über die Anerkennung von Berufs-
        qualifikationen vorgelegt. Die Umsetzung in nationales
        Recht hat bis zum 18. Januar 2016 zu erfolgen.
        Wir, die CDU/CSU-Fraktion, wollen diesen Prozess
        im eigenen Interesse begleiten und natürlich auch die
        Bundesregierung in den entscheidenden Punkten unter-
        stützen.
        Grundsätzlich ist die Absicht der Kommission zu be-
        grüßen, den Binnenmarkt zu stärken und die Mobilität
        der Arbeitnehmer zu erleichtern. Aus deutscher Sicht ist
        gleichzeitig hervorzuheben, dass nur eine gute Qualität
        der Dienstleistungen den Binnenmarkt und die Innova-
        tionsstärke Europas wirklich unterstützen kann. Hierbei
        ist der Verbraucherschutz für den Bürger das entschei-
        dende Kriterium für die Akzeptanz europäischer Rege-
        lungen bei den Bürgern.
        Bei der Erarbeitung des Antrags ist mir sehr bewusst
        geworden, dass es die zentrale Herausforderung sein
        wird, das richtige Verhältnis zwischen der Regulierung
        und Harmonisierung der Märkte zu finden. In diesem
        Zusammenhang ist es bedeutsam, dass die anerkannt
        hohe Qualität der deutschen Produkte und Dienstleistun-
        gen erhalten bleibt. Genau aus diesen Gründen wollen
        und müssen wir mit Augenmaß den Leistungs- und Qua-
        litätswettbewerb im deutschen Mittelstand fördern.
        Nicht nur laut Statistik haben die Freien Berufe eine
        wichtige ökonomische Bedeutung, die sich auch anhand
        aktueller Zahlen 2015 weiterhin positiv darstellt: ein Zu-
        wachs von knapp 3,5 Prozent bei den Selbstständigen;
        knapp 4,8 Millionen Menschen sind als Selbstständige
        oder Beschäftigte tätig, darunter – und das ist ein neuer
        Höchststand – 122 000 Auszubildende; ein erwirtschaf-
        teter Jahresumsatz von rund 381 Milliarden Euro.
        Aber Freiberufler sind mehr als Kennziffern. Sie ste-
        hen als Ärzte, Hebammen, Psychologen, Rechtsanwälte,
        Wirtschaftsprüfer, Ingenieure, Architekten, Journalis-
        ten, Wissenschaftler und viele weitere Berufssparten für
        eine Kultur von Unternehmertum, gesellschaftlicher
        Verantwortung und Leistungsbereitschaft. Vor allem
        aber sind ihre Dienstleistungen und Produkte ein bei-
        spielhafter Ausdruck des hohen Standards „Made in
        Germany“. Damit tragen sie wesentlich zur Wirtschafts-
        kraft in Deutschland und auch in Europa bei.
        Niemand in der Union, aber auch bei den freien Beru-
        fen selbst verschließt sich einer vernünftigen Moderni-
        sierung, wenn sie das Gemeinwohl im Blick behält. Des-
        halb müssen wir auch darauf achten, dass nicht an
        sensiblen Stellen die Weichen falsch gestellt werden. Be-
        währte Standards im Handwerk und in den Freien Beru-
        fen müssen in einem zukunftsfesten europäischen Bin-
        nenmarkt erhalten bleiben.
        In diesem Zusammenhang ist es besonders wichtig,
        dass wir als nationales Parlament immer wieder betonen,
        dass die Frage der Reglementierung der Berufe eine au-
        tonome Entscheidung der Mitgliedstaaten ist. Wenn also
        in Brüssel Deregulierungspotenziale identifiziert wer-
        den, gilt es aufzupassen. Unser Credo dabei ist, dass wir
        auf ein nachhaltiges Wachstum hinwirken und Chancen
        in einem Wettbewerb um die beste Qualität nutzen. Kon-
        sequenterweise muss also der Spagat zwischen Förde-
        rung eines Leistungswettbewerbs auf der einen und Er-
        halt von Standards auf der anderen Seite bewältigt und
        hier ein Weg gefunden werden.
        Besonders relevant für Deutschland ist auch das
        Thema Fachkräftemangel, unter anderem hervorgerufen
        durch die demografische Entwicklung. Daher erhält die
        Mobilität von EU-Bürgern eine besonders starke Bedeu-
        tung, weil nur so die Bürger ihre Qualifikationschancen
        gut nutzen können. Für Deutschland ist diese Art von
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11231
        (A) (C)
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        Mobilität zentral, weil wir so den Fachkräftemangel et-
        was kompensieren können. Es darf aber keineswegs ver-
        gessen werden, dass Deutschland ausgezeichnete Struk-
        turen der beruflichen Bildung hat. Der Berufszugang
        – an die Qualifikation gebunden – und die handwerkli-
        che Ausbildung sind Vorbilder in der EU.
        Damit möchte ich abschließend den Fokus auf einen
        – mir sehr wichtigen – Qualitätsstandard lenken:
        Deutschland hat ausgezeichnete Strukturen in der be-
        ruflichen Bildung. Der Berufszugang, der bei uns an die
        Qualifikation und an die handwerkliche Ausbildung ge-
        bunden ist, ist vorbildlich in der EU. Deshalb müssen
        wir diese positiven Aspekte betonen, und sie müssen
        auch mit entsprechenden statistischen Zahlen belegt
        werden.
        In diesem Kontext ist zum Beispiel auch die OECD-
        Studie „Skills Outlook 2015“ zu nennen, die belegt, dass
        der Anteil 15- bis 29-Jähriger mit höherem Schulab-
        schluss, die weder in Beschäftigung noch in Ausbildung
        sind, in Deutschland mit 5,7 Prozent so gering wie in
        kaum einem anderen OECD-Land ist.
        Mit unserem Koalitionsantrag und dieser heutigen
        Diskussion soll verdeutlicht werden, dass die laufende
        Evaluierung in der EU auf eine Vergleichbarkeit der Be-
        rufszugangs- und Berufsübergangsreglementierungen
        zwischen den EU-Mitgliedstaaten hinauslaufen wird. Es
        ist unsere zentrale Aufgabe in diesem Prozess, Qualitäts-
        standards als strukturellen Wettbewerbsvorteil zu begrei-
        fen und zu bewahren.
        In diesem Sinne werde ich mich auch in Zukunft für
        einen selbstbewussten und selbstständigen Mittelstand in
        Deutschland und in Europa einsetzen.
        Barbara Lanzinger (CDU/CSU): Die Freien Berufe
        und das Handwerk leisten wichtige Beiträge für unsere
        Wirtschaft und unsere Gesellschaft. Sie stehen mit ihrer
        großen Breite und Vielfalt beruflicher Tätigkeiten für
        eine Kultur von Unternehmertum und Leistungsbereit-
        schaft, für Innovation und Wachstum sowie für Arbeits-
        und Ausbildungsplätze. Allen voran stehen sie jedoch
        für unsere hohen Qualitätsstandards „Made in Germany“
        und sind dadurch zentraler Bestandteil für die Wohlfahrt
        unseres Landes.
        Darüber hinaus übernehmen die Freien Berufe und
        das Handwerk auch eine besondere gesellschaftliche
        Verantwortung, etwa als Ärzte und Rechtsanwälte oder
        Ingenieure und Architekten sowie bei handwerklichen
        Berufen, die es zu bewahren gilt. Durch die hohen Qua-
        litätsanforderungen schaffen sie das notwendige Ver-
        trauen für die Verbraucher und sorgen für Sicherheit und
        Entlastung bei wirtschaftlichen Gefahren. Sie stellen da-
        mit in besonderer Weise die Ideale des selbstständigen
        Mittelstands dar.
        Um diese Grundlage unseres wirtschaftlichen Erfolgs
        – die Qualität – auch weiterhin auf einem hohen Niveau
        halten zu können, benötigen die Freien Berufe und das
        Handwerk qualifiziertes Personal. Sie sind nach der In-
        dustrie der größte Ausbildungs- und Arbeitgeberbereich
        und gelten dadurch als tragende Säule unseres Ausbil-
        dungssystems. Damit wirken die Freien Berufe und das
        Handwerk maßgeblich an einer geringeren Jugendar-
        beitslosigkeit sowie einem hohen Bildungsniveau in
        Deutschland mit.
        Diese Qualität kann jedoch nur gewährleistet werden,
        wenn wir die Reglementierung unseres Berufszugangs
        weiterhin aufrechterhalten. Hierzu zählt auch, das be-
        währte Instrument der Selbstverwaltung und der Kam-
        mern zu schützen. Die Ausübung bestimmter besonders
        verantwortungsvoller und gefahrengeneigter Tätigkei-
        ten darf nur unter dem Vorbehalt einer fachspezifischen
        Qualifikation erfolgen. Nicht umsonst gilt das deutsche
        marktkonforme Regelungssystem als eines der wesentli-
        chen Grundlagen für unsere überdurchschnittlich gute
        Wirtschafts- und Beschäftigungslage.
        Dies bestätigt auch die von der Kommission in Auf-
        trag gegebene Studie des CSES (Centre for Strategy &
        Evalution Services): Der Abbau der Berufsreglementie-
        rung führt nicht zu mehr Wachstum und Beschäftigung.
        Ganz im Gegenteil, Zulassungsstrukturen können sogar
        eine positive ökonomische Wirkung hervorrufen. Damit
        wird die Richtigkeit des Regulierungsansatzes bestätigt.
        Wir unterstützen, ebenso wie der Bundesrat, eine
        Evaluierung der Zugangsstrukturen der reglementierten
        Berufe in der EU und werden diesen Prozess aktiv be-
        gleiten. Zugleich weisen wir jedoch auch darauf hin,
        dass – und das betone ich – eine Überprüfung nicht mit
        Maßnahmen wie einer Deregulierung des Berufszugangs
        einherzugehen hat. Die Kompetenz zum Erlass von Re-
        gelungen über den Berufszugang muss bei den einzelnen
        Mitgliedstaaten selbst liegen. Wir dürfen nicht zulassen,
        dass unser System gänzlich infrage gestellt wird.
        Deshalb begrüße ich es sehr, dass die deutsche Regie-
        rung in ihrem Schreiben vom 10. März 2015 unsere
        Positionen unterstreicht. Sie weist zu Recht darauf hin,
        dass verbindliche Vergütungssätze für Architekten und
        Ingenieure die hohe Qualität der Dienstleistungen si-
        chern und zudem auch dem Schutz der Dienstleistungs-
        empfänger und Verbraucher und damit letztendlich auch
        dem Gemeinwohl dienen. Diese Aspekte zeigen damit
        auch deutlich, dass die HOAI einen zwingenden Grund
        des Allgemeininteresses – allem voran den Schutz der
        Verbraucher – darstellt und damit eindeutig die Bedin-
        gungen des Artikels 15 Absatz 3 b der Dienstleistungs-
        richtlinie erfüllt.
        Denken Sie einmal an Ihre Kinder, die in den Kinder-
        garten oder die Grundschule gehen. Gerade hier sind
        präzise ausgearbeitete Planungen und qualitativ hoch-
        wertig ausgeführte Bau- und Ingenieursleistungen von
        zentraler Bedeutung. Daher sehe ich es als unsere Auf-
        gabe und Pflicht an, dass diese Qualität und dieser
        Schutz der Verbraucher gewahrt und entsprechend hono-
        riert werden müssen.
        Die Weiterentwicklung unserer Märkte ist ein wichti-
        ges Gut für die europäische Wirtschaft; sie darf jedoch
        nicht auf Kosten unserer wertvollen Standards und unse-
        rer Qualität gehen. „Made in Germany“ ist nicht ohne
        Grund in der Welt hochbeliebt. Und Deutschland hat
        11232 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
        (A) (C)
        (D)(B)
        nicht ohne Grund aktuell den größten Exportüberschuss
        auf der Welt.
        Deshalb muss es auch weiterhin unser Ziel sein, die
        Freien Berufe und das Handwerk zu unterstützen und die
        entsprechenden Rahmenbedingungen für unsere hohen
        Qualitätsstandards zu bewahren. Unser erfolgreicher
        Mittelstand ist der Wachstumsmotor unserer Marktwirt-
        schaft. Um dies weiterhin gewährleisten zu können, ist
        ein wesentlicher Aspekt die Aufrechterhaltung unserer
        Berufszugangsstruktur.
        Sabine Poschmann (SPD): Das Thema, über das
        wir heute reden, ist uns bestens vertraut: Erst vor weni-
        gen Monaten, im Dezember, haben wir uns an gleicher
        Stelle mit guten Argumenten für den Erhalt des Meister-
        briefes im Handwerk starkgemacht. Wir haben deutlich
        werden lassen, dass wir die Bundesregierung bei den
        Verhandlungen mit der EU-Kommission zur Bewertung
        nationaler Reglementierungen für den Berufszugang un-
        terstützen. Daran hat sich nichts geändert.
        Ja, wir möchten vergleichen, welche Berufe in den
        einzelnen Mitgliedstaaten wie stark reglementiert sind.
        Ja, wir möchten, dass Hemmnisse so weit wie möglich
        abgebaut und ausländische Fachkräfte ermuntert wer-
        den, nach Deutschland zu kommen. Das alles liegt in
        unserem eigenen Interesse. Was wir allerdings nicht
        möchten, ist, dass unsere hohen und bewährten Quali-
        tätsstandards durch neue Regeln aufgeweicht werden
        und in eine Abwärtsspirale geraten.
        Das gilt sowohl für das Handwerk als auch für die
        freien Berufe. Deshalb haben wir heute unseren Antrag
        vorgelegt. Die EU-Kommission bemängelt, die Freien
        Berufe in Deutschland seien zu stark reguliert. Konkret
        geht es um die Honorar- und Gebührenordnungen für
        Steuerberater, Architekten und Ingenieure. Sie behindern
        angeblich das Wirtschaftswachstum und würden auslän-
        dischen Dienstleistern den Zutritt zum deutschen Markt
        erschweren.
        Ich glaube, dass die Bundesregierung bei ihren Ver-
        handlungen viele gute Argumente hat, am bewährten
        System festzuhalten. Denn es ist richtig und gerechtfer-
        tigt. Es geht nicht darum, Pfründe für einzelne Berufs-
        stände zu sichern. Es geht darum, Rechtssicherheit und
        Transparenz herzustellen, ruinösen Preiswettbewerb zu
        verhindern und Verbraucher zu schützen.
        Das dient sowohl dem Freiberufler als auch seinem
        Kunden. Beiden Seiten bietet die Gebührenordnung eine
        gute und zuverlässige Orientierung, die zeigt, welchen
        Wert die Arbeit des Steuerberaters oder des Architekten
        hat. Ich möchte nicht erleben, wie eine ungeübte Häusle-
        bauerfamilie mit einem versierten Architekturbüro frei-
        händig um Preise feilschen muss. Ebenso wenig möchte
        ich erleben, wie sich ein junger Steuerberater oder Ar-
        chitekt dem Preisdiktat von Großkunden beugen muss.
        Damit würde ein Verdrängungswettbewerb in Gang ge-
        setzt, der große Zusammenschlüsse provoziert. Der ge-
        wachsenen Landschaft aus kleinteiligen Büros und Pra-
        xen mit wohnortnaher Versorgung aber fügt er massiven
        Schaden zu.
        Wir wollen genau das Gegenteil. Wir wollen Exis-
        tenzgründungen und Selbstständigkeit fördern. Mit un-
        serem Antrag machen wir deutlich, welchen Stellenwert
        ein qualitätsvolles, freiberufliches Engagement in einer
        modernen Dienstleistungsgesellschaft hat. Die Selbst-
        verwaltung der Freien Berufe funktioniert. Es gibt auch
        keine Rechtsunsicherheit: Dass die HOAI, die Honorar-
        ordnung für Architekten und Ingenieure, mit EU-Recht
        vereinbar ist, haben uns bereits 2013 mehrere Gutachten
        bestätigt. Der Europäische Gerichtshof ist in eine ähnli-
        che Richtung gegangen.
        Die SPD wird sich Harmonisierungen zwischen den
        EU-Staaten nicht verschließen. Aber die Angleichungen
        müssen notwendig und sinnvoll sein. Und sie müssen
        dem Gemeinwohl dienen.
        Leider ist das nicht immer der Fall – ebenso wenig
        wie die Annahme richtig ist, dass eine Liberalisierung
        per se nachhaltiges Wachstum auslöst. Zwar hat die Auf-
        hebung der Meisterpflicht in vielen Handwerksberufen
        dazu geführt, dass sich die Zahl der zulassungsfreien Be-
        triebe fast um das Dreifache erhöht hat, auf 232 000. Die
        Kehrseite des Gründerbooms haben wir aber auch aus-
        führlich beleuchtet: viele Soloselbstständige mit gerin-
        ger Wettbewerbsfähigkeit, wenig Personal, kaum Auszu-
        bildende. Damit ist niemandem gedient.
        Wir sehen auch keinen Bedarf, Anwalts- und Steuer-
        beratungskanzleien für Finanzinvestoren, Banken oder
        Supermarktketten wie in England zu öffnen. Ich möchte
        mich als Mandant keinem Anwalt anvertrauen, von dem
        ich nicht weiß, ob er meine Interessen vertritt oder viel-
        leicht doch die Renditeabsichten seines Mitinhabers. Ich
        möchte keinem Steuerberater gegenübersitzen, bei dem
        ich fürchten muss, dass meine vertraulichen Daten auch
        für seinen Geldgeber von Nutzen sein könnten.
        Es gibt gute Gründe für das Verbot der Fremdkapital-
        beteiligung in Deutschland. Wer dieses Verbot aufhebt,
        legt die Axt an das Vertrauensverhältnis zwischen Man-
        dant und Anwalt. Mehr noch: Er erschüttert das Ver-
        trauen in unseren Rechtsstaat – nämlich dann, wenn
        auch nur der Anschein entsteht, dass die Durchsetzung
        der Ansprüche eines Mandanten durch einen Konflikt
        mit dem Investor berührt wird. Rechtsrat darf keinem
        wirtschaftlichen Diktat unterliegen und zu einer Ware
        verkommen!
        Es gibt in Deutschland rund 1,2 Millionen selbststän-
        dige Freiberufler. Sie beschäftigen 3,3 Millionen Mitar-
        beiter und erwirtschaften 10,1 Prozent des Bruttoinlands-
        produkts. Wir alle wissen, dass wir uns künftig noch
        stärker in Richtung Dienstleistungsgesellschaft orientie-
        ren werden. Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen,
        dass diese vielen Selbstständigen ihre Produkte und
        Leistungen auch weiterhin sach- und fachgerecht und in
        hoher Qualität erstellen können. Denn sie dienen dem
        Gemeinwohl.
        Klaus Ernst (DIE LINKE): Um was geht es in die-
        sem Antrag der Großen Koalition? Die EU-Kommission
        will mit Blick auf einen einheitlichen europäischen Bin-
        nenmarkt die regulierten Berufe unter die Lupe nehmen.
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11233
        (A) (C)
        (D)(B)
        Sollte ein Mitgliedstaat eine unverhältnismäßige Regu-
        lierung beibehalten wollen, droht die Kommission, ein
        Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten. Union und
        SPD machen sich deshalb Sorgen um den qualifikations-
        gebundenen Berufszugang und die handwerkliche Aus-
        bildung.
        Das Bekenntnis der Bundesregierung zum bewährten
        dualen Ausbildungssystem und zu guter Qualifikation ist
        begrüßenswert. Doch leider scheint sich die Bundesre-
        gierung bei der Handwerkspolitik darauf zu beschränken,
        alle halbe Jahre einen Schaufensterantrag ins Plenum ein-
        zubringen. Das ist zu wenig. Eine viel differenziertere
        Betrachtung ist notwendig. Denn: Die beste Art, das
        Handwerk zu schützen, wäre es, bestehende Probleme
        anzuerkennen und die sich daraus ergebenden Aufgaben
        anzugehen.
        Ihre Schaufensteranträge können nicht davon ablen-
        ken, dass Sie sich erstens seit Jahren weigern, die Hand-
        werksnovelle von 2004 zu evaluieren. Zweitens reagie-
        ren Sie nicht auf die immer lauter werdende Kritik an
        den Handwerkskammern und an der Pflichtmitglied-
        schaft.
        Zunächst zur Handwerksnovelle. Kern der damaligen
        Gesetzesänderungen war es, die Meisterpflicht als
        Voraussetzung zur selbstständigen Berufsausübung in
        53 Gewerken aufzuheben. Das war über die Hälfte der
        Gewerke. Für diese Bereiche ist nun nicht einmal mehr
        ein Gesellenbrief notwendig. So braucht heute ein Maler
        und Lackierer einen Meisterbrief, ein Fliesenleger nicht.
        Ein Feinwerkmechaniker muss Meister sein, ein Uhrma-
        cher nicht. Damals forderte die Union in einem Antrag:
        „... ist für alle Berufe im ersten Abschnitt der Anlage B
        sowohl die Gesellenprüfung als auch der Leistungsnach-
        weis ausreichender Ausbilderqualitäten zur Existenz-
        gründung obligatorisch festzuschreiben“. Sie forderten
        auch eine Revisionsklausel. Alle sieben Jahre sollte die
        geltende Liste der Meisterberufe überprüft werden.
        Nichts davon ist passiert.
        Nun ähnelt das Ziel der EU-Kommission heute dem
        Ziel von Rot-Grün damals. Es geht um mehr Wachstum
        und um mehr Beschäftigung durch Liberalisierung. Was
        jedoch genau die Ergebnisse der Liberalisierung damals
        waren, wissen wir nicht. Eine Studie des Volkswirt-
        schaftlichen Instituts für Mittelstand und Handwerk an
        der Universität Göttingen zeigt aber, dass sich weit mehr
        meisterpflichtige Betriebe fünf Jahre nach Gründung er-
        folgreich am Markt behauptet haben als zulassungsfreie
        Betriebe.
        Im nicht mehr meisterpflichtigen Fliesen-, Platten-
        und Mosaiklegerhandwerk sank die Zahl der Gesellen-
        prüfungen von 1 665 im Jahr 2003 auf 658 im Jahr 2010.
        Im gleichen Zeitraum gingen die Meisterprüfungen von
        557 auf 84 zurück.
        In anderen Bereichen wiederum mag der Meistervor-
        behalt gemessen an den beiden Kriterien Gefahrenge-
        neigtheit und Ausbildungsleistung weniger sinnvoll sein.
        Oder möglicherweise werden die Ausnahmeregelungen
        nicht so großzügig angewandt, wie es das Bundesverfas-
        sungsgericht aufgrund des Eingriffs in die Freiheit der
        Berufswahl anmahnte. Für all diese offenen Fragen
        bräuchte es endlich eine gründliche Evaluierung.
        Nun zum zweiten Punkt: der Selbstverwaltung im
        Handwerk. Seit Inkrafttreten der Handwerksordnung
        1953 fanden in den 53 Handwerkskammern bis auf drei
        Ausnahmen keine wirklichen Wahlen statt, da es keine
        konkurrierenden Listen gab. Das ist zugegebenermaßen
        der Stand von 2012, es dürfte sich jedoch nicht viel
        geändert haben. Dies steht im Widerspruch zum in der
        Wahlordnung benannten Regelfall, der von der Zulas-
        sung von mehreren Wahlvorschlägen und der Durchfüh-
        rung einer Briefwahl ausgeht.
        Anstatt sich hier Gedanken zu machen, wie mit dem
        Problem der nicht stattfindenden Wahlen zur Vollver-
        sammlung umzugehen ist, sprechen Sie von einer durch
        die Wahl der Kammervorstände demokratisch legiti-
        mierten Selbstverwaltung. Das ist peinlich!
        Gerade durch die Pflichtmitgliedschaft sollten die
        Handwerkskammern in besonderem Maße demokrati-
        schen Prinzipien genügen und transparent organisiert
        sein. Doch es gibt kaum Veröffentlichungspflichten. Und
        die Beitragsgestaltung sowie der Betätigungsumfang der
        Kammern sind für viele Pflichtmitglieder nicht nachvoll-
        ziehbar. Sie als Gesetzgeber sind in der Pflicht, das anzu-
        gehen.
        Auch hat das Bundesverfassungsgericht in seinem
        Nichtannahmebeschluss zum Thema Pflichtmitglied-
        schaft vom Dezember 2001 geschrieben, dass der Ge-
        setzgeber verpflichtet ist, regelmäßig zu überprüfen, ob
        die Voraussetzungen für den Grundrechtseingriff noch
        vorliegen. Tatsächlich ist dies aber seit 1998 nicht mehr
        passiert. Zur Rechtfertigung wird allerdings von Kam-
        mern und Gerichten auf eine vermeintliche „inzidente“
        bzw. „konkludente“ Bestätigung durch den Bundestag
        verwiesen. Das heißt, wenn der Bundestag sich gegen
        die Pflichtmitgliedschaft hätte aussprechen wollen, hätte
        er das im Rahmen mit der Beschäftigung mit anderen
        Anträgen zu den Kammern ja tun können.
        Ich bin mir nicht sicher, inwieweit dieser Antrag wie-
        derum Grundlage für diese angebliche konkludente Be-
        stätigung sein soll. Ist das der Fall, kann ich nur sagen:
        Diese impliziten Wege sind ein Unding! Wir brauchen
        eine echte Überprüfung, ob die Voraussetzungen für den
        Grundrechtseingriff noch vorliegen. Genauso brauchen
        wir eine echte Überprüfung der Handwerksnovelle.
        Zum Schluss möchte ich noch die Erkenntnis der
        Bundesregierung hervorheben, dass eine „Deregulierung
        im Handwerk ... nicht zu nachhaltig mehr Wachstum und
        Beschäftigung“ führt. Ich empfehle Ihnen, diese Er-
        kenntnis auch auf andere Felder anzuwenden – etwa auf
        die geplanten Freihandelsabkommen CETA und TTIP.
        Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Sie legen uns hier mal wieder einen Antrag mit
        dem Credo, es möge alles so bleiben, wie es ist, vor. Für
        die Große Koalition ist das im Prinzip keine Überra-
        schung. Allerdings ist es wie so oft: Offenkundige Pro-
        bleme werden nicht angepackt, sondern schlicht negiert.
        11234 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
        (A) (C)
        (D)(B)
        Dass Sie sich an einigen Stellen beim Forderungstext
        wieder einmal fast eins zu eins an einschlägige Bran-
        chenzuschriften gehalten haben, ist auch nichts Neues
        und spricht nach wie vor nicht für Sie und Ihre wirt-
        schaftspolitische Kompetenz. Ich hatte es bereits in einer
        früheren Debatte zum Handwerk gesagt: Einfach Kon-
        zepte aus den Interessenverbänden zu übernehmen,
        springt zu kurz.
        Ich sage ganz ausdrücklich: Ja, eine gute und an-
        spruchsvolle Regulierung von Berufen und Berufsquali-
        fikationen ist wichtig – für die Qualität erbrachter Leis-
        tungen und damit auch für den Verbraucherschutz. Aber
        anders als die Koalition sehe ich durchaus Baustellen,
        gerade in Bezug auf die Regulierung der im Antrag an-
        gesprochenen Berufsgruppen:
        Nehmen Sie den Teilbereich der Freien Berufe. Steu-
        erberater haben das Recht, Umsatzsteuervoranmeldun-
        gen für ihre Mandanten zu erstellen und abzugeben. Die-
        ses Recht haben selbstständige Bilanzbuchhalterinnen
        und Bilanzbuchhalter nicht. Sie dürfen zwar die Um-
        sätze in ein Programm buchen, und dieses Programm
        errechnet dann automatisch die Umsatzsteuervoranmel-
        dung, aber auf den Knopf zum Abschicken der Voran-
        meldung an das Finanzamt dürfen die Buchhalter nicht
        drücken. Diese völlig praxisferne Regelung ist nichts
        weiter als eine Reglementierung zum Schutz einer Be-
        rufsgruppe vor Wettbewerb. Und sie bedeutet einen un-
        nötigen Verwaltungsvorgang, das heißt unnötige Büro-
        kratie. Weil diese Regelung durch die Digitalisierung
        schlicht lebensfremd und überholt ist, sehen wir Verbes-
        serungsbedarf im Sinne eines stärkeren Wettbewerbs,
        von dem dann auch und gerade die auftraggebenden Un-
        ternehmen profitieren werden.
        Nehmen Sie das Handwerk. Zu Recht loben Sie die
        duale Ausbildung und ihren Beitrag zur guten wirt-
        schaftlichen Entwicklung in der BRD. Aber dennoch bin
        ich der Auffassung, dass wir an der Handwerksordnung
        durchaus feilen können, um eben nicht durch teilweise
        praxisferne und wettbewerbsfeindliche Regulierung eine
        noch bessere Entwicklung hin zu mehr Innovationen zu
        verhindern.
        Kürzlich musste ein Gericht in Lübeck feststellen,
        dass eine Tortendesignerin eben keine Handwerkerin ist
        und deswegen auch keinen Meisterbrief braucht. Treiber
        der Klage waren unter anderem die örtliche Verwaltung
        und auch die örtliche Kammer. Damit solche ärgerlichen
        Vorgänge nicht immer wieder auftreten, kann man zum
        Beispiel das Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz ändern
        und schlicht den Punkt streichen, wo es um unerlaubte
        Handwerksausübung geht. Das Handwerksrecht reicht
        aus, um Zugang und Qualifikation zu den Handwerksbe-
        rufen zu reglementieren; wir brauchen hier kein Netz
        und doppelten Boden. Auch sollte man sich einmal an-
        schauen, ob die Einhaltung der Handwerksordnung nicht
        einer objektiveren Prüfung unterzogen werden muss, als
        es jetzt in zum Teil eigeninteressengeleiteter Verantwor-
        tung geregelt ist.
        Auch moderne Handwerksleistungen, wie etwa die
        Installation einer Photovoltaikanlage, finden oft im
        Graubereich der Handwerksordnung statt, weil rein for-
        mal verschiedene Handwerksleistungen wie Dachdecke-
        rei, Elektroinstallation oder weitere als Anforderung an
        diese Dienstleistung gestellt werden. Die Verschränkung
        der Gewerke erfordert eine Neuregelung dieser überlap-
        penden Verantwortungen. Wir brauchen dringend einen
        Streitbeilegungsmechanismus zwischen den Gewerken,
        denn die fehlende Abstimmung führt am Ende zu Quali-
        tätsverlusten der Handwerksleistung und schadet damit
        dem gesamten Handwerk. An dieser Stelle müssen mehr
        Klarheit und Rechtssicherheit geschaffen werden.
        Dies waren nur wenige Beispiele. Sie zeigen: Man
        muss sich mit neuen Entwicklungen auseinandersetzen
        und nicht den Stillstand als Fortschritt preisen. Die
        EU-Kommission hat mittlerweile den ersten Schritt ei-
        nes Vertragsverletzungsverfahrens gegen Deutschland
        eingeleitet, weil sie die Honorarordnung in bestimmten
        Freien Berufen für EU-rechtswidrig hält. Ich finde in Ih-
        rem Antrag keine Antwort auf diese Entwicklung.
        Wir brauchen auch Antworten auf die Frage, wie wir
        die Dienstleistungsfreiheit in der EU als eine der vier
        Grundfreiheiten so ausgestalten, dass nationale Stan-
        dards hoch bleiben und gleichzeitig Arbeitnehmerinnen
        und Arbeitnehmer innerhalb der EU mobiler werden.
        Wir haben das Problem, dass Inländer teilweise schwie-
        riger Dienstleistungen erbringen können als Wettbewer-
        ber aus der EU. Auch hier brauchen wir dringend um-
        setzbare Lösungen.
        Es reicht nicht aus, mit schönen Worten den Status
        quo zu preisen. Als Regierungsfraktion haben Sie die
        Verantwortung, Antworten auf die wirtschaftspolitischen
        Fragen des Landes zu erarbeiten. Weil dem aber nicht so
        ist, können wir Ihrem Antrag einfach nicht folgen; dazu
        ist er schlicht zu dünn, und wir werden uns enthalten.
        Anlage 16
        Zu Protokoll gegebene Rede
        zur Beratung des Antrags: Jemen – Militärische
        Intervention stoppen – Neue Friedensverhand-
        lungen beginnen (Tagesordnungspunkt 14)
        Niels Annen (SPD): Die Lage im Jemen ist drama-
        tisch. Das ärmste Land der arabischen Halbinsel wird
        seit mehr als 15 Jahren durch Gewalt und Bürgerkrieg
        erschüttert.
        Der Krieg im Jemen steht sinnbildlich für ein weiteres
        Versagen der Politik in der gesamten Region. Von dem
        kurzen Arabischen Frühling im Jahr 2011/2012, der mit
        dem Sturz des Langzeitherrschers Saleh endete, ist
        nichts mehr übrig geblieben.
        Auf der einen Seite gibt es den innerjemenitischen
        Machtkampf zwischen dem Norden mit den Huthi-Re-
        bellen und dem Süden des Landes sowie den Anhängern
        des Anfang des Jahres ins Exil geflohenen international
        anerkannten Präsidenten Hadi – der auch nach unserer
        Auffassung weiterhin der legitime Präsident bleibt – und
        dem vormaligen Präsidenten Saleh, der nun seine
        Chance zur Rückkehr sieht. Auf der anderen Seite sind
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11235
        (A) (C)
        (D)(B)
        die alten Bündnisse und Frontstellungen inzwischen
        gänzlich überholt. Die neue Gemengelage im Jemen ist
        reichlich verwirrend:
        Da kämpft der gestürzte Präsident Saleh mit Teilen
        der ihm loyal ergebenen Armee an der Seite der Huthis,
        obwohl er in seiner Zeit der mehr als 30-jährigen Herr-
        schaft mindestens sechs Kriege gegen sie geführt hat.
        Gleichzeitig flüchtete sich Präsident Hadi in die Arme
        der Saudis, die jetzt eine neue Rolle angenommen ha-
        ben: Sie sind nicht länger die Finanziers, die die Geschi-
        cke des Landes entscheidend lenken. Sie intervenieren
        direkt an der Spitze einer aus zehn arabischen Ländern
        bestehenden Koalition, die mit militärischen Mitteln ver-
        sucht, den Vormarsch der Huthi-Saleh-Koalition zu stop-
        pen und Präsident Hadi wieder in sein Amt einzusetzen.
        Daneben mischen der jemenitische Arm von al-Qaida
        und andere dschihadistische Gruppen als „dritte Partei“
        im Bürgerkrieg mit. Wurden diese in der Vergangenheit
        noch von Huthis und dem jemenitischen Sicherheitsap-
        parat gemeinsam bekämpft, so nutzen al-Qaida und
        Konsorten das jetzt entstandene Machtvakuum und brei-
        ten sich weiter im Land aus. Eine zusätzliche Destabili-
        sierung des Jemen und der gesamten arabischen Halbin-
        sel bedroht nun mehr denn je die Region.
        Inzwischen muss man im Jemen von einem maßgeb-
        lich durch Saudi-Arabien geführten Interventionskrieg
        sprechen. Ein Krieg, der die innere Auseinandersetzung
        im Jemen weiter verschärft und das Land noch weiter in
        Anarchie und Chaos stürzt. Das neue saudische
        Königshaus glaubt offenbar, mit seinem schonungslosen
        Luftkrieg die Huthis und ihren Verbündeten, Expräsident
        Saleh, in die Knie zwingen zu können.
        Nach wochenlangem Bombardement muss man nüch-
        tern feststellen: Die Strategie hat erkennbar nicht funk-
        tioniert. Stattdessen wurden in den vergangenen drei
        Monaten nicht nur militärische Ziele angegriffen. Immer
        wieder werden auch zivile Ziele mit zahlreichen Opfern
        bombardiert. Dass dabei wichtige Kulturschätze des Je-
        men wie Teile der Altstadt Sanaa unwiederbringlich zer-
        stört werden, ist nicht hinnehmbar.
        Die humanitäre Lage im Jemen ist katastrophal. Von
        den rund 24 Millionen Jemeniten sind 80 Prozent auf hu-
        manitäre Hilfe angewiesen. 10 Prozent der Bevölkerung
        gelten als mangelernährt.
        Aktuell wird der humanitäre Zugang zum Jemen
        zudem durch die See- und Luftblockade der Militäralli-
        anz massiv eingeschränkt. Gleichzeitig stehen die von
        Saudi-Arabien angekündigten Mittel in Höhe von
        274 Millionen US-Dollar für humanitäre Hilfe weiterhin
        aus.
        Nach Angaben der Vereinten Nationen sind seit Be-
        ginn der Luftangriffe 2 800 Todesopfer und rund 13 000
        Verwundete zu beklagen.
        Die UN geht zudem von 1 Million Binnenflüchtlin-
        gen im Land aus. Zehntausende Jemeniten sind über den
        Seeweg zum Beispiel nach Dschibuti und Somalia ge-
        flüchtet. Das muss man sich einmal vorstellen: eine
        Flucht vom Krieg im Jemen in den „failed state“ Soma-
        lia!
        Während die Huthis vom Iran unterstützt werden,
        wird die von Saudi-Arabien geführte Militärkoalition lo-
        gistisch und nachrichtendienstlich insbesondere von den
        USA unterstützt. Doch trotz dieser Unterstützung sowie
        der Luftangriffe und der Blockade gibt es keinerlei
        Hinweise darauf, dass in absehbarer Zukunft ein militä-
        rischer Sieg einer der beiden Seiten errungen werden
        könnte. Der Vormarsch der Huthi-Saleh-Einheiten in den
        Süden des Landes konnte weiterhin nicht gestoppt
        werden.
        Welche Strategie verfolgen die Saudis im Jemen?
        Selbst Militärexperten sind ratlos: Offenbar setzt die
        neue saudische Führung einzig auf ihre militärische
        Luftüberlegenheit, auf ihre großen finanziellen Ressour-
        cen und auf ihr damit angenommenes längeres Durch-
        haltevermögen.
        Gleichzeitig folgt Saudi-Arabien dem Narrativ eines
        Religionskrieges zwischen Sunniten und Schiiten. Das
        ist wenig überzeugend und birgt zudem die Gefahr,
        Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten weiter zu
        vertiefen.
        Die Huthis sind zwar Saiditen und gehören damit ins
        religiöse Spektrum des Schiitentums. Gleichwohl sind
        die Huthis immer ihren eigenen Religionsgebräuchen
        gefolgt, und dazu gehört insbesondere auch, dass sie mit
        den Sunniten des Landes nie wirklich aneinandergeraten
        sind.
        Denn im Gegensatz zu Saudi-Arabien kennen die
        Huthis kein militantes und exklusives Eifertum, wie es
        der wahabitischen Glaubensrichtung leider zu eigen ist.
        Vielmehr sind die jemenitischen Sunniten und Schiiten
        in der Vergangenheit gemeinsam zum Gebet in die
        Moschee gegangen.
        Auch die These, dass es sich im Jemen um einen
        Stellvertreterkrieg zwischen Saudi-Arabien und dem
        Iran handelt, halten Experten für – noch – nicht stichhal-
        tig.
        Es drängt sich vielmehr die Vermutung auf, dass das
        militärische Engagement Saudi-Arabiens im Jemen nicht
        zuletzt innenpolitisch motiviert und vermeintlichen ira-
        nischen Expansionsbestrebungen geschuldet ist. Nichts-
        destoweniger ist auch Iran als wichtiger Akteur in der
        Region in der Verantwortung. Teheran muss versuchen,
        Einfluss auf eine friedliche Lösung im Jemen zu neh-
        men.
        Die Lage im Jemen kann uns nicht gleichgültig sein.
        An erster Stelle brauchen wir eine Waffenruhe, um den
        Menschen im Jemen helfen zu können. Dafür brauchen
        die Vereinten Nationen uneingeschränkten humanitären
        Zugang und die entsprechende finanzielle Ausstattung.
        Insbesondere Saudi-Arabien ist hier in der Pflicht, seine
        finanzielle Zusage auch einzuhalten.
        In diesem Krieg gibt es keine militärische Lösung. Es
        benötigt vielmehr einen politischen Konsens aller betei-
        ligten Konfliktparteien durch Verhandlungen. Dafür
        müssen alle Parteien Zugeständnisse machen. Insbeson-
        11236 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
        (A) (C)
        (D)(B)
        dere gilt dabei, die Huthis nicht weiter systematisch poli-
        tisch, wirtschaftlich und religiös zu marginalisieren.
        Unser Interesse muss ein stabiler Jemen sein, der al-
        Qaida nicht als Rückzugsort dient und die Sicherheit an
        einer der am meisten befahrenen Wasserstraßen der
        Welt, der Bab al-Mandab, sicherstellt.
        Eine politische Einigung mit den Huthis wäre daher
        auch im Interesse aller Golfmonarchien, die nichts mehr
        als den Zerfall staatlicher Strukturen und instabile Ver-
        hältnisse fürchten.
        Anlage 17
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung:
        – Beschlussempfehlung und Bericht: Durch
        Stärkung der Digitalen Bildung Medien-
        kompetenz fördern und digitale Spaltung
        überwinden
        – Antrag: Empfehlungen der Enquete-Kom-
        mission „Internet und digitale Gesellschaft“
        zur digitalen Bildung umsetzen
        (Tagesordnungspunkt 17 und Zusatztagesord-
        nungspunkt 7)
        Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU): Schule lebt
        im Hier und Jetzt, um auf das Morgen vorzubereiten.
        Das, was wir heute in der Bildungspolitik festlegen und
        umsetzen, wird gesellschaftlich wie wirtschaftlich in 10
        bis 15 Jahren voll zum Tragen kommen, nämlich dann,
        wenn die heutigen Kinder und Jugendlichen ins Berufs-
        leben eintreten werden. Und hoffentlich kreativ und ge-
        staltend tätig sein werden – etwa als Arbeitnehmerin und
        Arbeitnehmer ebenso wie als Startup-Unternehmerin
        oder -Unternehmer.
        Schule muss also heute auf die Zukunft vorbereiten.
        Diese Zukunft wird digital sein. Denn das Digitale ist
        bereits in der Gegenwart elementarer Bestandteil unseres
        Alltags, Wirtschaftsfaktor und Partizipationsraum.
        Das Deutsche Institut für Vertrauen und Sicherheit im
        Internet, DIVSI, untersucht regelmäßig das Nutzungs-
        verhalten von jungen Menschen in Deutschland und
        kommt zu dem Schluss: Schon bei den Dreijährigen
        spielt das Internet eine große Rolle. Jeder zehnte Drei-
        jährige ist online. Bei den Sechsjährigen geht fast ein
        Drittel ins Internet, und bei den Achtjährigen sind es be-
        reits mehr als die Hälfte. Die Internetnutzung und der
        Umgang mit mobilen Endgeräten starten somit bereits
        im Kindergartenalter und bestimmen im jungen Erwach-
        senenalter das Kommunikationsverhalten durchgehend.
        Die Frage, ob Kinder und Jugendliche häufig online
        sein sollten, ist in der Praxis damit bereits entschieden.
        Wenn die Hälfte der Grundschüler in Deutschland
        doch schon „drin sind“, bei den Jugendlichen bereits
        98 Prozent online sind und selbst die, die noch nicht le-
        sen und schreiben können, schon App-Symbole erken-
        nen und benutzen, können wir keine Diskussion mehr
        darüber führen, ob Schülerinnen und Schüler nicht bes-
        ser ausschließlich analog unterrichtet werden sollen.
        Wir sind im Jahr 2015 schon mittendrin in der Digita-
        lisierung, und daher müssen wir jetzt nur noch über das
        Wie diskutieren. Es gilt zu diskutieren und festzulegen,
        wie wir Kinder und Heranwachsende am besten auf eine
        Welt vorbereiten, die digitale Kompetenzen voraussetzt,
        erstens, weil künftig nicht nur der Computer und Fernse-
        her, sondern auch der Heizkörper und das Auto online
        sein werden; zweitens, weil in sozialen Netzwerken oder
        im Gesundheitssystem kompetenter Dateneinsatz gefragt
        ist; drittens, weil fast jeder Beruf IT-Kompetenzen vor-
        aussetzt; viertens, weil die Digitalwirtschaft der Treiber
        unserer Volkswirtschaft ist.
        Neben dem Elternhaus sind Schule, Ausbildungsbe-
        trieb und Universität die wesentlichen Orte, die das Auf-
        wachsen in der digitalen Welt begleiten und prägen. Da-
        bei geht es nicht nur um technische Ausstattung mit
        Tablets, Whiteboards und WLAN, auch wenn die gute
        Ausgestaltung der digitalen Infrastruktur eine Grundvor-
        aussetzung ist. Dort müssen die digitalen Kompetenzen
        vermittelt werden. Damit meine ich, dass erstens Kennt-
        nisse des Programmierens und der Algorithmen gelehrt
        werden; zweitens analytisches und vernetztes Denken
        und Arbeiten vermittelt werden sowie drittens Medien-
        kompetenz, also die Kompetenz zum verantwortungs-
        vollen Umgang mit Medien, beigebracht wird.
        Wir müssen junge Menschen für Risiken sensibilisie-
        ren, etwa Bewusstsein für Urheberrecht, Datenschutz
        oder IT-Sicherheit vermitteln, und sie zugleich fitma-
        chen, die zahlreichen Werkzeuge und Dienste gewinn-
        bringend zu nutzen.
        Und es ist eine Frage von Chancen und Teilhabe, dies
        allen Kindern zu ermöglichen, damit nicht diejenigen
        abgehängt werden, in deren Elternhaus kein guter und
        pädagogischer Umgang mit digitalen Medien stattfindet.
        Die digitale Unterrichtsgestaltung ist in Deutschland
        noch eine punktuelle Entwicklung. Dabei ist es nicht nur
        eine Mentalitäts- oder Geldfrage, sondern auch eine
        Frage der Qualifizierung von Lehrerinnen und Lehrern.
        Selbst die jungen, digitalaffinen Lehrkräfte werden noch
        nicht strukturiert darin ausgebildet, digitale Medien im
        Unterricht sinnvoll einzusetzen.
        Es darf nicht Glückssache sein, ob Kinder, Jugendli-
        che oder Studenten digitale Bildung in Deutschland erle-
        ben. Wir müssen zielgerichtet herangehen. Das heißt vor
        allem, die digitale Infrastruktur für Schulen zu schaffen,
        die Lehrerinnen und Lehrer dafür zu qualifizieren und
        kreative Konzepte in unsere Bildungseinrichtungen zu
        bringen.
        Wir haben in Deutschland bereits großes Potenzial.
        Auf dem Kongress der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
        zu Bildung 2.0 im Juni haben sich viele kreative Köpfe
        – von Startups im Bildungssektor über Initiativen großer
        Unternehmen und Verbände – vorgestellt, die sich in der
        digitalen Bildung einbringen wollen. Hier müssen wir
        stärker vernetzen und bündeln – das darf nicht im Bil-
        dungsföderalismus untergehen!
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11237
        (A) (C)
        (D)(B)
        Es war ein wichtiger Schritt, gemeinsam mit dem Ko-
        alitionspartner den Antrag „Durch Stärkung der Digita-
        len Bildung Medienkompetenz fördern und digitale
        Spaltung überwinden“ in den Deutschen Bundestag ein-
        zubringen. Damit setzt der Bund wichtige Impulse, ent-
        lässt die Länder und Kommunen aber nicht aus ihrer
        Verantwortung für ihre Kernaufgabe: Die Länder müs-
        sen für eine nachhaltige Bildungspolitik sorgen.
        Ich weiß, dass die Bildungseinrichtungen derzeit mit
        hohen Ansprüchen konfrontiert werden. Demografie, Mi-
        gration, Inklusion und vieles mehr erfordern von Lehr-
        kräften und Schulleitung große Anstrengungen. Aber das
        Digitale kann nicht warten, bis sich die Bildungspolitik
        in so manchem Land entwirrt hat.
        Ob Industrie 4.0, Smart Data oder E-Health – überall
        werden Digitalkompetenzen gefragt sein. Nur eine strin-
        gente Integration von digitaler (Aus)Bildung an Schulen,
        Berufsschulen und Universitäten bringt uns für die Zu-
        kunft akademische Exzellenz im IT-Bereich, anpackende
        Unternehmerinnen und Unternehmer, Fachkräfte für die
        IT-Industrie und mündige Bürger, die sich sicher und
        souverän im Netz bewegen.
        Wir brauchen jetzt einen Pakt für digitale Bildung, an
        dem Politiker aus allen Ebenen – Bund, Land, Kom-
        mune – sowie Vertreterinnen und Vertreter aus Wissen-
        schaft, Wirtschaft und Schule zusammenarbeiten.
        Wir müssen eine moderne, kreative digitale Bildung
        in Deutschland etablieren. Ich danke allen, die im Bund,
        in den Ländern und Kommunen und vor allem in den
        Bildungseinrichtungen daran arbeiten.
        Sven Volmering (CDU/CSU): Der Antrag von
        CDU/CSU und SPD gibt sowohl der Bundesregierung
        als auch den Ländern sehr konkrete Aufträge und Hand-
        lungsempfehlungen für die Entwicklung einer Strategie
        „Digitales Lernen“ auf den Weg. Das Feedback war bei
        vielen Lehrerverbänden, Professoren, Institutionen und
        Vereinen ausgesprochen positiv. Alle Experten des Fach-
        gesprächs zur Digitalen Bildung im Ausschuss haben die
        richtige Zielsetzung des Antrags gelobt. Wir gehen mit
        unseren Forderungen über den Koalitionsvertrag hinaus,
        berücksichtigen die wichtigsten Ergebnisse der Enquete-
        Kommission „Internet und Digitale Gesellschaft“ und
        leisten somit einen wichtigen Beitrag zur Digitalen
        Agenda der Bundesregierung.
        Die internationale ICILS-Computerstudie, die, liebe
        Kolleginnen und Kollegen der Grünen, nicht, wie in Ih-
        rem Antrag steht, aus dem Jahr 2014, sondern aus dem
        Jahr 2013 stammt, hat den seit Jahren gefühlt vorhande-
        nen Nachholbedarf bei der Digitalen Bildung empirisch
        belegt. Es wird daher Zeit, dass wir den Aufholprozess
        endlich beginnen! Das Rüstzeug für den Erfolg liegt auf
        dem Tisch. Jetzt geht es an die Umsetzung. Wir müssen
        an die Aus- und Fortbildung der Pädagogen heran, es
        geht um gemeinsame inhaltliche und technische Stan-
        dards sowie um pädagogisch sinnvolle Konzepte, die in
        den Bildungsalltag aller Bereiche von der frühkindlichen
        Bildung bis zur Hochschul- und Weiterbildung integriert
        werden müssen. Ich spreche sicher auch im Namen mei-
        ner geschätzten Berichterstatterkollegin Saskia Esken,
        wenn ich darauf hinweise, dass die Regierungsfraktio-
        nen sehr genau darauf achten werden, dass Bund und
        Länder in ihrem jeweiligen Verantwortungsbereich ihre
        Hausaufgaben erfüllen, damit wir vorankommen.
        Gleichzeitig habe ich die Hoffnung, dass sich insbe-
        sondere die Landesregierungen mit Grünen-Beteiligun-
        gen konstruktiver bei der Entwicklung der Strategie
        „Digitales Lernen“ einbringen, als dies die grüne Bun-
        destagsfraktion getan hat. Lieber Herr Mutlu, ich muss
        es leider so deutlich sagen: Ihr nachgereichter Antrag ist
        nicht mehr als ein welkes Feigenblatt. Sie haben ge-
        merkt, dass die Regierungsfraktionen von CDU/CSU
        und SPD mit dem Antrag, mit eigenen gut besuchten
        Workshops und Kongressen das Thema besetzt haben
        und Sie jetzt im Bundestag zwar nicht persönlich, aber
        inhaltlich doch sehr nackt sind. Sie haben das Thema
        verpasst! Sie fordern etwas, was von der Regierung um-
        gesetzt wird, und setzen im Gegensatz zu uns über den
        Enquete-Bericht hinaus nicht einen einzigen eigenen in-
        haltlichen Schwerpunkt.
        Als ein Beispiel nenne ich die von der CDU/CSU ein-
        gebrachte und von der SPD unterstützte Idee des Pakts
        für Digitale Bildung, der die unterschiedlichen Aktivitä-
        ten von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft bündelt. Sie
        stößt auf großes Interesse. Mehrere Stiftungen stellen
        bereits Überlegungen an, wie sie Infrastruktur schaffen
        und Projekte bündeln und koordinieren können, um digi-
        tale Leerstellen abzubauen. Ich nenne das Stichwort
        Staatsvertrag, von dem ich glaube, dass es gut ist, dass
        wir ihn ins Gespräch gebracht haben, damit wir endlich
        Bewegung in die Diskussion um allgemeingültige tech-
        nische und inhaltliche Standards bekommen. Der Antrag
        von CDU/CSU und SPD greift darüber hinaus explizit
        die wichtigsten Forderungen der Enquete-Kommission
        auf.
        Grundsätzlich ist dabei darauf hinzuweisen, dass die
        Enquete-Kommission auf die Verantwortung der Länder
        bei der Vermittlung von Medienkompetenz verweist und
        eben nicht nur den Bund in die Verantwortung nimmt,
        wie Sie es in Ihrem Antrag tun. Exemplarisch nenne ich
        drei konkrete Forderungen des Enquete-Berichts, die wir
        aufgegriffen haben: erstens die Stärkung der digitalen
        Ausbildung des pädagogischen Personals in allen Bil-
        dungssektoren, zweitens einheitliche Mindeststandards
        zur Medienkompetenz, drittens vergleichende Länder-
        studien zur Digitalen Bildung als Instrument der Bil-
        dungsforschung.
        Sie sehen also: Unser Antrag baut sinnvoll auf die En-
        quete-Kommission auf und geht sogar weiter. Daher
        werden wir Ihren nachgeschobenen Antrag ablehnen.
        Ich möchte den Rest meiner Redezeit dazu nutzen,
        noch kurz einige grundsätzliche Punkte anzusprechen.
        Unabhängig von den jeweiligen Zusammensetzungen
        der Regierungen auf Bundes- und Landesebene müssen
        wir uns bei der Durchsetzung der Strategie „Digitales
        Lernen“ darüber Gedanken machen, wie wir die Vorrei-
        ter in den Kommunen und den Schulen stärken und de-
        ren Unterstützerzahl ausweiten. Ich habe festgestellt,
        dass an verschiedenen Stellen Kämmerer und Schul-
        11238 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
        (A) (C)
        (D)(B)
        dezernenten auf kommunaler Ebene unabhängig von der
        Finanzlage die Blockierer sind, wenn es darum geht, in
        den Bereich der digitalen Bildung zu investieren oder be-
        stehende Mittel umzuschichten. Deswegen ist es wich-
        tig, in der Öffentlichkeit ein positives Bild für die digi-
        tale Bildung zu schaffen. Digitale Endgeräte sind
        Bestandteil der Lebensrealität. Deshalb müssen wir ihre
        enormen positiven Möglichkeiten nutzen, aber natürlich
        genauso über mögliche Risiken informieren.
        Niemand fordert ernsthaft eine totale Zwangsdigitali-
        sierung, niemand will die klassischen Kulturtechniken
        abschaffen. Es geht immer nur um den sinnvollen päda-
        gogischen Einsatz. Dabei kann man sich sehr gut am Lö-
        wenzahn-Kultmoderator Peter Lustig orientieren, der
        das Fernsehen als Medium für seine fantastische Sen-
        dung genutzt hat, aber jede Sendung auch mit dem Ap-
        pell „Ausschalten“ beendete. Vor dem Hintergrund, dass
        es die Zielsetzung unseres Antrags ist, die Gefahr einer
        dauerhaften digitalen Spaltung zu verhindern und die
        jungen Menschen auf die beruflichen Herausforderun-
        gen der Industrie 4.0 vorzubereiten, wäre es fahrlässig,
        nicht zu handeln und panikmachenden Leuten hinterher-
        zulaufen, die von der „Lüge der digitalen Bildung“ spre-
        chen. Deshalb ist der Antrag von CDU/CSU und SPD
        ein enorm wichtiger Beitrag, da der Deutsche Bundestag
        mit seiner Verabschiedung nun eine klare Positionierung
        im Bereich der digitalen Bildung vorgenommen hat, die
        sich sehen lassen kann.
        Als zuständiger Berichterstatter bedanke ich mich
        sehr herzlich bei meiner AG, die mich immer unterstützt
        hat, bei der Kollegin Saskia Esken und ihrem Team für
        die konstruktive und menschlich angenehme Zusam-
        menarbeit, bei Frau Hain und Herrn Mutlu für ihre Kritik
        und Anregungen, wobei ich der festen Überzeugung bin,
        dass sie den Antrag in Wahrheit gar nicht mal so schlecht
        finden, sowie bei meinem Büro, und hier insbesondere
        bei Frau Klaas für die Unterstützung.
        Ich freue mich auf die weiteren Debatten zum Thema
        digitale Bildung und danke für die Aufmerksamkeit.
        Saskia Esken (SPD): Wir beraten und beschließen
        heute den Antrag der Koalitionsfraktionen zur Stärkung
        der sogenannten digitalen Bildung. Ich sage „sogenannte
        digitale Bildung“, weil wir uns durchaus darüber be-
        wusst sind, dass Bildung als ein lebensbegleitender Pro-
        zess der Weltaneignung niemals digital sein kann. Als
        Buzzword, als Überschrift oder Hashtag in den sozialen
        Medien hat sich der Kurzbegriff dennoch eingebürgert
        und ist auch durchaus geeignet, dafür zu stehen, was wir
        eigentlich meinen: die Bildung in einer digitalisierten
        Welt.
        In einem ersten Schritt wollen wir mit diesem Antrag
        den didaktisch sinnvollen Einsatz digitaler Medien im
        schulischen Unterricht fördern und damit den Erwerb
        von Medienkompetenz und informatischer Grundbil-
        dung. Wir wollen die souveräne Teilhabe aller jungen
        Menschen an einer digitalisierten Gesellschaft, Wirt-
        schaft und Arbeitswelt sicherstellen und damit nicht nur
        auf den Fachkräftebedarf eines grundlegenden wirt-
        schaftlichen Wandels reagieren. Wir sprechen im Titel
        dieses Antrags über eine digitale Spaltung der Gesell-
        schaft, die sich nicht nur zwischen Generationen und
        Geschlechtern oder entlang eines Stadt-Land-Gefälles
        zeigt, sondern sich durchaus auch entlang sozialer Her-
        kunft und Bildungshintergrund entwickelt hat und die es
        zu überwinden gilt.
        Mit dem Antrag konkretisieren die Koalitionsfraktio-
        nen das Vorhaben der Digitalen Agenda der Bundesre-
        gierung, mit den Bundesländern und weiteren Akteuren
        des Bildungssystems gemeinsam eine Strategie „Digita-
        les Lernen“ zu erarbeiten und umzusetzen. Welche Rolle
        kann der Bund im Zusammenhang mit der schulischen
        Bildung denn überhaupt spielen? Das müssen wir uns
        nicht nur von den Vertretern der Oppositionsfraktionen
        fragen lassen. Nun, genau aus diesem Grund finden Sie
        im Antrag zwei Bereiche, von denen sich der eine mit
        den originären Aufgaben des Bundes befasst und der an-
        dere mit einer Art von Brückenbau für eine solche „ge-
        meinsame Strategie der Länder und weiterer Akteure“.
        Klar in die Zuständigkeit des Bundes und gegebenen-
        falls der europäischen Gesetzgebung fällt dabei die Wei-
        terentwicklung des Urheberrechts, das noch nicht im
        Zeitalter der Digitalisierung angekommen ist. Auch
        durch einen hohen Grad an Komplexität findet das Urhe-
        berrecht derzeit außerhalb des Bildungssystems zu we-
        nig und innerhalb des Bildungssystems zu viel Beach-
        tung. Lehrkräfte agieren beim Umgang mit digitalen
        Medien mit angezogener Handbremse, und zwar aus
        Angst vor der Abmahnung. Das müssen wir ändern.
        Deshalb freut es mich besonders, dass der Bundes-
        minister der Justiz und für Verbraucherschutz Heiko
        Maas angekündigt hat, einen diesbezüglichen Gesetzent-
        wurf zu erarbeiten und dabei gerade die Belange von
        Bildung und Wissenschaft zu beachten.
        Im Bereich der beruflichen Bildung ist der Bund
        handlungsfähig und soll deshalb im Rahmen der verfüg-
        baren Haushaltsmittel für eine gute und sichere techni-
        sche Infrastruktur sorgen, die für einen verstärkten Ein-
        satz digitaler Medien im Unterricht benötigt wird, also
        beispielsweise ein Internetanschluss mit zukunftsfähiger
        Bandbreite und ein leistungsfähiges WLAN.
        Den Einsatz digitaler Medien und Materialien in allen
        Bildungsbereichen fördern kann der Bund darüber hi-
        naus, indem er die Entwicklung von offenen Lehr- und
        Lernmaterialien, sogenannten Open Educational Resour-
        ces, ermöglicht und dafür sorgt, dass die vorhandenen
        OER-Materialien besser auffindbar und verfügbar ge-
        macht werden.
        Wenn es darum geht, wie die Bundesländer ihre Leh-
        reraus- und -fortbildung weiterentwickeln und stärken,
        die Medienkompetenz und informatische Grundbildung
        in ihren Lehr- und Bildungspläne verankern, welche
        Infrastruktur Länder und Schulträger bereitstellen und
        welche Medienbildungskonzepte die Schulen entwickeln
        und umsetzen: Da kann der Bund nur Impulse geben,
        Plattformen für Diskussion, Austausch und Kollabora-
        tion bieten und die Entwicklung im Bereich der Bil-
        dungsforschung und -berichterstattung begleiten.
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11239
        (A) (C)
        (D)(B)
        Im Rahmen der Antragsberatung hat die SPD-Bun-
        destagsfraktion neben öffentlichen Fachgesprächen in
        Fraktion und Ausschuss in der vorvergangenen Woche
        eine Fachtagung veranstaltet. Eine beachtliche Anzahl
        von Fachleuten aus der gesamten Republik und darüber
        hinaus waren unserer Einladung gefolgt, sich mit den
        Chancen und den Herausforderungen einer „Bildung in
        einer digitalisierten Welt“ im kritisch-positiven Sinne zu
        beschäftigen. In meiner Einführung zu der Veranstaltung
        habe ich deutlich gemacht, dass Digitalisierung und Bil-
        dung in einem wechselseitigen Nutzenverhältnis stehen:
        Bildung muss zum Gelingen der Digitalisierung und zur
        Überwindung einer digitalen Spaltung beitragen. Ebenso
        wichtig ist mir aber auch, was – sozusagen im Gegenzug –
        die Digitalisierung für die Qualität der Bildung tun kann.
        Nach Impulsen aus den Ländern, hier von Ties Rabe,
        dem sozialdemokratischen Schulsenator der Freien und
        Hansestadt Hamburg, sowie aus der Wissenschaft, na-
        mentlich von Richard Heinen vom Learning Lab der
        Universität Duisburg-Essen und von Professor Dr.
        Christoph Igel vom Deutschen Forschungszentrum für
        Künstliche Intelligenz, haben wir in vier thematischen
        Workshops den Diskurs gesucht zwischen Theorie und
        Praxis, aber auch zwischen scheinbar widerstreitenden
        Konzepten, die zusammengeführt werden müssen, damit
        die Bildung in einer digitalisierten Welt gelingen kann.
        Wie schon in den Fachgesprächen, so wurde auch bei
        unserer Fachtagung deutlich, dass der Zielsetzung und
        den Ansätzen unseres Antrags viel fachliches Interesse
        und positives Feedback entgegengebracht werden und
        dass viele Teilnehmer und weitere Akteure des Bil-
        dungssystems Interesse an einer Fortführung und Wei-
        terentwicklung des Dialogs haben. Wir wollen uns wäh-
        rend der Sommerpause deshalb überlegen, wie wir die
        Themen unserer Fachtagung, aber sukzessive auch wei-
        tere Themen zur Diskussion und Vertiefung anbieten
        können.
        Die SPD-Bundestagsfraktion will sich in den anste-
        henden Haushaltsberatungen außerdem dafür starkma-
        chen, dass ein Anteil der Überschüsse aus dem Etat für
        das Betreuungsgeld im Bildungs- und Forschungsetat für
        die Förderung der Digitalisierung im Bildungsbereich
        genutzt wird. Ab 2016 könnten so jährlich 50 oder
        60 Millionen Euro zur Verfügung stehen. Wir fordern
        das Bundesministerium für Bildung und Forschung des-
        halb auf, baldmöglichst einen Investitionsplan über die
        Verwendung dieser Mittel vorzulegen.
        Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE): Nein, wir haben
        keinen eigenen Antrag zu diesem Tagesordnungspunkt
        dazugelegt wie die Grünen. Ich weiß ja, dass die Grünen
        etwas von der Sache verstehen, aber was Sie da aufge-
        schrieben haben, hätten Sie auch bleibenlassen können.
        Der schadet zwar nicht, aber der nützt auch nichts. Die
        einfache Forderung, dass die Bundesregierung ihre Ar-
        beit macht, finde ich wenig prickelnd. Und die Bezug-
        nahme auf die Internet-Enquete-Kommission auch nicht.
        Wir haben aus gutem Grunde einen Bericht des Büros
        für Technikfolgenabschätzungen eingefordert. Zwar sind
        wir uns einig, dass die Forderungen und Empfehlungen
        der Internet-Enquete richtig sind, aber für deren Umset-
        zung entstehen doch noch ein paar Fragen.
        Wenn der Bericht dieses Büros mit dem Titel „Bil-
        dung 4.0“ vorliegt, wollen wir auf dieser Grundlage kon-
        kretere Vorschläge machen. Manches liegt allerdings
        jetzt schon auf der Hand, und es ist auch im Arbeitsbe-
        richt 122 des TAB-Büros aus dem Jahre 2007 schon gut
        nachzulesen.
        Zum Beispiel die Frage: Was kostet das alles? Lassen
        Sie mich bitte zitieren:
        „Erst wenn die Förderung von Modellprojekten und
        Pilotvorhaben ausgelaufen ist, Garantien für die techni-
        sche Ausstattung abgelaufen sind, Ersatzbeschaffungen
        anstehen oder der Support an externe Dienstleister ver-
        geben wird, können die tatsächlich und dauerhaft auf die
        Schulträger zukommenden Kosten realistisch einge-
        schätzt werden.“ TAB-Arbeitsbericht 122, Zusammen-
        fassung, Seite 13, Dezember 2007.
        Und es geht auch darum, wie sich die Lernmittelkos-
        ten verändern. Dass die Bundesregierung Mittel für die
        Entwicklung offener Lernmittel eingestellt hat, ist ja löb-
        lich. Aber man muss sie auch aufs Tablet bekommen.
        Und bezahlt werden muss das auch. Wenn ein Buch her-
        unterfällt, hat es vielleicht ein Eselsohr. Wenn ein Tablet
        herunterfällt, ist es möglicherweise kaputt. Die Kosten
        für die Ersatzbeschaffung sind deutlich höher. Darum
        bestehen wir mindestens auf Lernmittelfreiheit. Doch
        auch die muss jemand bezahlen. Das sind in der Regel
        die Länder.
        Das kommt zu den offenen Fragen der technischen
        Ausstattung von Schulen, der Ausbildung von Lehrkräf-
        ten, der Einstellung von Administratorinnen usw. alles
        noch dazu.
        Es geht auch um die Inhalte und die Veränderung der
        pädagogischen Arbeitsweise und der Vorbereitung der
        Schulen, der Eltern, der Öffentlichkeit darauf. Künftig
        wird mehr als je das alte Sprichwort gelten: Man muss
        nicht alles wissen; man muss nur wissen, wo es steht.
        Dann aber stellt sich gleich die Frage: Wie umgehen mit
        der Informationsflut? Wie auswählen, was wichtig ist?
        Wie kritische Distanz bewahren? Medienkompetenz
        nennt man das, und die ist längst zu einer Kulturtechnik
        geworden, die aber unterschiedlich gut beherrscht wird.
        Der selbstbewusste und verantwortungsbewusste Um-
        gang mit persönlichen Daten im Netz, das Netzwerken
        überhaupt – alles erhält eine andere Dimension als noch
        vor 10 bis 15 Jahren. Ende offen.
        Darum brauchen wir möglichst schnell so etwas wie
        fächerübergreifende – und vielleicht auch bildungspha-
        senübergreifende – Bildungsstandards für digitales Ler-
        nen und Medienkompetenz. Lernende warten nicht, bis
        die Schulen und die Bildungspolitik so weit sind. Profes-
        sor Esser hat erst gestern im Ausschuss darauf hingewie-
        sen, dass die Kompetenzen der Jugendlichen oft schon
        fortgeschrittener sind als die ihrer Lehrkräfte. Wir laufen
        also Gefahr, unaufhaltsam hinterherzulaufen.
        Es erweist sich erneut als Problem, dass wir durch die
        strikte Trennung von Zuständigkeiten zwischen Bund
        11240 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
        (A) (C)
        (D)(B)
        und Ländern in unseren Handlungsmöglichkeiten einge-
        schränkt sind. Irgendwie wartet immer der eine auf den
        anderen. So passiert gar nichts oder weniges, und das nur
        verstreut, oder es muss von zu wenigen Menschen be-
        wältigt werden.
        Auf dem Bildungsserver meines Bundeslandes Sach-
        sen-Anhalt findet sich die Rubrik „Medienberatung“.
        Dort stehen für 14 Landkreise ganze 10 engagierte Be-
        ratungskräfte mit unglaublich interessanten Angeboten
        für Unterricht, Elternabend, Schulhomepage und
        Dienstberatung zur Verfügung, und ich wage nicht, mir
        vorzustellen, dass die knapp 900 allgemeinbildenden
        und 300 berufsbildenden Schulen alle ihr Herz für die
        digitale Bildung entdecken und auf die 10 Leute zwecks
        Fortbildung zugreifen.
        Wir werden diese Mammutaufgabe nicht den Schulen
        allein, nicht den Kommunen allein und auch nicht den
        Ländern allein überlassen können. Und schon gar nicht
        dem Selbstlauf.
        Nun hat die Koalition ein Instrument entdeckt, mit
        dem das Kooperationsverbot ein bisschen umgangen
        werden kann und die Länder genötigt werden sollen,
        einheitlich und abgestimmt zu handeln: den Länder-
        staatsvertrag. Einmal abgesehen davon, dass sich der
        Bund damit wieder aus der Verantwortung stiehlt, ist das
        ein Instrument, das die Legislative nur zum Abnicken
        braucht, aber nicht in die Verantwortung nimmt. Insofern
        ist es alles andere als ein föderales Instrument. Es
        schränkt demokratische Meinungsbildung und Mitspra-
        che ein. Es ist aber auch ein untaugliches Instrument,
        denn was soll es bewirken? Die Implementierung von
        noch nicht vereinbarten Bildungsstandards? Und wenn
        sie es nicht tun? Wer soll es wie sanktionieren? Die KMK
        hat keine Sanktionsmöglichkeiten außer der gegenseiti-
        gen Nichtanerkennung von Abschlüssen. Das aber pas-
        siert jetzt schon über die Maßen und völlig inakzeptabel.
        Und wie wollen Sie denn die technischen Voraussetzun-
        gen für einen Länderstaatsvertrag schaffen? Ich fürchte,
        es ist ein stumpfes Schwert, und es riecht nach viel Bü-
        rokratie.
        Also erneuern wir die Forderung nach der Aufhebung
        des Kooperationsverbotes und fordern, dass auch der
        Bund in einem gemeinsamen Bund-Länder-Programm
        richtig viel Geld in die Hand nimmt, um die dort ge-
        meinsam zu vereinbarenden Standards für digitale Bil-
        dung auch zu finanzieren.
        Weil in den Anträgen ansonsten wenig Falsches steht,
        uns aber viel Konkretes fehlt, werden wir uns der
        Stimme enthalten und kündigen hier schon einen eige-
        nen, dann hoffentlich weitergehenden Antrag an.
        Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Im
        November 2014 wurde die ICILS-Studie veröffentlicht.
        In ihr wurde erstmalig der Frage nachgegangen, wie es
        um die computer- und informationsbezogenen Kompe-
        tenzen von Schülerinnen und Schülern der Jahrgangs-
        stufe 8 bestellt ist.
        Nicht gut ist es um diese Kompetenzen bestellt, mit
        den Ergebnissen der ICILS-Studie können wir deshalb
        auch nicht zufrieden sein.
        Denn wenn 30 Prozent der Schülerinnen und Schüler
        lediglich eine der unteren beiden Kompetenzstufen errei-
        chen und beispielsweise schon daran scheitern, einen
        einfachen Link zu öffnen oder in die Suchleiste zu ko-
        pieren, dann ist etwas faul in der sogenannten Bildungs-
        republik Deutschland.
        Insbesondere die digitale Spaltung innerhalb der
        Schülerschaft ist skandalös. Es ist wie so oft: Es wird vor
        allem denen gegeben, die schon haben. Bei der digitalen
        Bildung ist das nicht anders. Das darf so nicht bleiben.
        Dass Schülerinnen und Schüler in Deutschland den
        Umgang mit dem Computer hierzulande trotz Schule ler-
        nen – um mal den Leiter der ICILS-Studie, Wilfried Bos,
        zu zitieren –, sagt viel aus und sollte nicht nur zum
        Nachdenken, sondern auch zum Handeln anregen.
        Es ist deshalb richtig und wichtig, dass sich die Große
        Koalition endlich in puncto digitaler Bildung und Medi-
        enkompetenz auf den Weg macht. „Zeit wird’s!“, kann
        ich da nur sagen.
        Wenn man sich den Koalitionsantrag aber genau an-
        schaut, dann muss man leider wieder einmal feststellen:
        Ihr Antrag greift viel zu kurz, und es ist wie so oft bei Ih-
        nen: Gut gemeint ist nicht gut gemacht.
        Gut gemacht wäre nämlich ein Antrag, der die Hand-
        lungsempfehlungen der Enquete-Kommission Internet
        und digitale Gesellschaft im Hinblick auf Bildung und
        Forschung in der Breite umsetzt – von der Kita bis zur
        Hochschule, von der Schule bis zur Aus- und Weiterbil-
        dung.
        Und wenn Sie jetzt sagen, dass Sie sich erst einmal
        nur auf Schule konzentrieren wollen, und alles andere
        kommt dann später, dann sage ich Ihnen: Das reicht
        nicht aus. Von einer Großen Koalition, von der 28 Mit-
        glieder im Bildungsausschuss sitzen, kann und darf man
        mehr erwarten. Von einer Großen Koalition, die seit na-
        hezu zwei Jahren an der Regierung ist, muss man auch
        mehr erwarten.
        Und ich sage ihnen auch: Wenn Sie sich in ihrem
        Antrag auf Schule konzentrieren, dann aber selbst da
        zahlreiche Handlungsempfehlungen der Enquete-Kom-
        mission nicht berücksichtigen, dann muss schon die
        Frage erlaubt sein, warum sie eigentlich Handlungsemp-
        fehlungen mitbeschließen – im Übrigen, die Handlungs-
        empfehlungen der Enquete-Kommission sind in diesem
        Hause einstimmig beschlossen worden –, die Sie dann
        entweder auf die lange Bank schieben oder überhaupt
        nicht umsetzen.
        Denn klar ist doch auch: All das, was Sie uns hier im
        Plenum unter den Schlagwörtern „Industrie 4.0“, „Digi-
        tale Technologien“ oder „Digitale Agenda“ verkaufen,
        all das verkommt doch zur Floskel, wenn junge Men-
        schen nicht über entsprechende Kompetenzen verfügen
        und diese in der Bildung nicht konsequent gelehrt und
        gelernt werden. Digitale Bildung ist mehr als die Aus-
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        stattung von Schulen mit Whiteboards, Laptops und
        Ähnlichem.
        Diesbezüglich hat uns die ICILS-Studie viele Haus-
        aufgaben in unser bildungspolitisches Hausaufgabenheft
        geschrieben. Hier einige Stichworte: Aus- und Fortbil-
        dung der Lehrer und Lehrerinnen, Open Educational Re-
        sources, Hardwareausstattung, Breitbandzugang, Vernet-
        zung, Datenschutz usw. usf.
        Die Handlungsempfehlungen der Enquete-Kommis-
        sion geben darauf zahlreiche und vor allem sinnvolle
        und hilfreiche Antworten.
        Deshalb fordern wir Sie auf, das umzusetzen, was Sie
        seinerzeit mit uns gemeinsam beschlossen haben.
        Die Handlungsempfehlungen der Enquete-Kommis-
        sion Internet und digitale Gesellschaft können die Län-
        der und Kommunen dabei aber nicht alleine stemmen.
        Der Bund wird deshalb nicht umhin kommen, mehr
        Geld für die digitale Bildung in die Hand zu nehmen.
        Deshalb meine Aufforderung an Sie: Verstecken Sie
        sich nicht hinter Zuständigkeiten und ihrem heißgelieb-
        ten, in Wahrheit aber äußerst dümmlichen Kooperations-
        verbot. Schieben Sie die Verantwortung nicht per Län-
        derstaatsvertrag auf andere ab, sondern übernehmen Sie
        selbst Verantwortung. Eine Große Koalition sollte dazu
        eigentlich in der Lage sein.
        Anlage 18
        Zu Protokoll gegebene Reden
        Integrationsbetriebe fördern – Neue Chancen
        für schwerbehinderte Menschen auf dem ersten
        Arbeitsmarkt eröffnen (Tagesordnungspunkt 19)
        Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU): Wir haben
        heute Mittag bereits über Möglichkeiten gesprochen,
        wie wir die Chancen für schwerbehinderte Menschen am
        Arbeitsmarkt verbessern könnten. Mit dem vorliegenden
        Antrag möchten wir einen kleinen, aber umso wichtige-
        ren Teil dieses Arbeitsmarktes stärken und verbessern:
        die Integrationsbetriebe.
        Es gibt zwei maßgebliche Gründe dafür, Integrations-
        betriebe auf einem Weg zur inklusiven Gesellschaft zu
        fördern.
        Der erste Grund ist die Funktion als Arbeitgeber. Inte-
        grationsfirmen beschäftigen einen sehr hohen Anteil an
        Menschen mit Behinderung. Mehr als 10 000 behinderte
        Menschen können so am allgemeinen Arbeitsmarkt teil-
        haben. Das ist umso wichtiger, weil sich dort in den ver-
        gangenen Jahren die Beschäftigungschancen von Men-
        schen mit Behinderung nicht signifikant verbessert
        haben. Auch aus rechtlicher Sicht ist die Arbeit der Inte-
        grationsunternehmen als Arbeitgeber wichtig: Sie tragen
        einen großen Teil dazu bei, dass die UN-Behinderten-
        rechtskonvention in die Praxis umgesetzt wird – inklusi-
        ves Arbeiten ist das Tagesgeschäft. Da wir diese
        Entwicklung ausdrücklich begrüßen, möchten wir die
        Förderung so verstärken, dass noch mehr Arbeitsplätze
        für Menschen mit Behinderung in Integrationsbetrieben
        geschaffen werden können. In den Jahren 2015, 2016
        und 2017 sollen dazu jeweils 50 Millionen Euro aus dem
        Ausgleichsfonds kommen.
        Neben dieser Kernfunktion als Arbeitgeber von
        schwerbehinderten Menschen erfüllen Integrations-
        betriebe aber noch eine andere, mindestens ebenso wich-
        tige Funktion: Sie sind Vorzeigeprojekte der Inklusion.
        Die Bundesarbeitsgemeinschaft Integrationsfirmen,
        BAG IF, fasst diese Funktion in ihren Leitsätzen perfekt
        zusammen:
        „Unsere Vision ist es, für ein soziales Unternehmer-
        tum zu werben und dieses so zu verbreitern, dass überall
        in Deutschland benachteiligte und behinderte Menschen
        einen für sie passenden und attraktiven Arbeitsplatz er-
        halten können.“
        Integrationsunternehmen zeigen tagtäglich, dass
        Inklusion im Arbeitsleben möglich ist, und sie beweisen,
        dass sich wirtschaftlicher Erfolg und die Beschäftigung
        besonders betroffener Schwerbehinderter nicht aus-
        schließen. Denn die Firmen müssen sich dem Wettbe-
        werb des Marktes stellen wie alle anderen Unternehmen
        auch. Sie schaffen dies nicht mühelos, aber sie schaffen
        es.
        Das Geschäft der Integrationsbetriebe zeigt, dass
        viele Ängste und Befürchtungen von Unternehmern im
        Hinblick auf die schwerbehinderten Angestellten nicht
        nötig sind. Mit verlässlichen Nachteilsausgleichen und
        unterstützenden Rahmenbedingungen kann Politik dafür
        sorgen, dass viel mehr Menschen und auch Firmen die-
        sen inklusiven Weg im Arbeitsleben gehen können.
        Mit den Mitteln aus dem Ausgleichsfonds und der da-
        mit verbundenen Stärkung der Integrationsbetriebe ist
        ein erster Schritt gemacht. Das ist aber nur ein Teil unse-
        rer Planungen für eine bessere Teilhabe am Arbeitsleben
        für Menschen mit Behinderung.
        Einen weiteren Teil werden wir mit dem Bundesteil-
        habegesetz angehen. Hier wollen wir das „Budget für
        Arbeit“ flächendeckend und bundesweit einführen und
        gesetzlich verankern. Es hat sich in Modell-Projekten
        bewährt und gewährleistet mehr Wahlfreiheit und mehr
        Selbstbestimmung. Menschen mit Behinderung können
        dann einfacher selbst entscheiden, wo und in welcher
        Form sie eine bedarfsgerechte Unterstützungsleistung im
        Arbeitsleben erhalten.
        Ein anderer Punkt, der zu einer größeren Wahlfreiheit
        führt, wäre die Zulassung von anderen Leistungsanbie-
        tern neben den Werkstätten für behinderte Menschen. Im
        Interesse der beschäftigten Menschen müssen wir aber
        dafür sorgen, dass die Qualitätsanforderungen an diese
        Anbieter doch mindestens ähnlich hoch wie die an die
        bestehenden Werkstätten sind. Klar ist aber auch: Nicht
        jeder Leistungsberechtigte benötigt die Komplexleis-
        tung, die in der Werkstatt erbracht wird. Wir werden hier
        einen Kompromiss finden müssen, der aber die Leis-
        tungsberechtigten in den Mittelpunkt stellen muss.
        Sie sehen: In nächster Zeit wird sich in dem Bereich
        der Teilhabe am Arbeitsleben für Menschen mit Behin-
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        derung noch viel tun. Mit dem heutigen Antrag wollen
        wir aber erst einmal die Integrationsunternehmen stär-
        ken, damit sich möglichst viele Unternehmen an ihnen
        orientieren können und sich der inklusiven Gesellschaft
        öffnen.
        Uwe Schummer (CDU/CSU): Für Menschen mit
        oder ohne Behinderung ist die Teilhabe am Arbeitsleben
        sinnstiftend und existenziell zugleich. Jeder möchte für
        seinen Lebensunterhalt selbstständig sorgen, seine Fä-
        higkeiten einbringen und einen Beitrag für die Gemein-
        schaft leisten. Arbeit hat einen hohen Stellenwert in unse-
        rer Gesellschaft. Die UN-Behindertenrechtskonvention
        hat dies aufgegriffen und macht dazu eindeutige Vorga-
        ben. Deutschland als Vertragsstaat muss entsprechende
        Maßnahmen vorhalten, um das Ziel der vollen Teilhabe
        von Menschen mit Behinderung zu erreichen und zu be-
        wahren. Dazu gehören auch das Recht behinderter Men-
        schen auf gleichberechtigte Teilhabe und das Recht, ei-
        nen Beitrag dazu zu leisten, den eigenen Lebensunterhalt
        durch Arbeit zu verdienen.
        In Deutschland haben wir dafür bereits verschiedene
        Strategien entwickelt, um dieses Ziel zu verwirklichen.
        Zum einen gibt es die Werkstätten für behinderte Men-
        schen. In ihnen arbeiten bundesweit 300 000 Menschen
        mit Behinderung. Der UN-Fachausschuss sagt, das sei
        keine echte Teilhabe am Arbeitsleben. Viele Betroffene
        selbst sehen das ganz anders. Ich möchte an dieser Stelle
        hervorheben: Wunsch- und Wahlfreiheit sind für die
        Union maßgebliche Leitlinie. Werkstätten sind ein Son-
        derweg, den die meisten anderen Länder nicht beschrei-
        ten. Dennoch leisten sie einen wesentlichen Beitrag zur
        Teilhabe am Arbeitsleben. Doch sie müssen sich noch
        sehr viel stärker am ersten Arbeitsmarkt ausrichten, sich
        flexibler aufstellen und durchlässiger werden. Mit einem
        „Budget für Arbeit“, das dem Menschen und nicht der
        Institution Werkstatt folgt, könnte das gelingen. Es
        wurde bereits erfolgreich in Modellprojekten erprobt
        und sollte aus Sicht der Union auch bundesweit Schule
        machen.
        Ein wichtiges und bekanntes Instrument, das noch
        großes Potenzial hat, viel mehr Arbeitsplätze abseits von
        Sonderstrukturen zu verwirklichen, sind die Integra-
        tionsbetriebe. Als Unternehmen auf dem ersten Arbeits-
        markt besetzen sie bis zu 40 Prozent ihrer Stellen mit
        schwerbehinderten Menschen. Bundesweit beschäftigen
        aktuell rund 800 Integrationsbetriebe über 22 000 Men-
        schen. Davon haben etwa 10 000 Menschen eine
        Schwerbehinderung. Seit Einführung der Integrationsbe-
        triebe mit dem SGB IX im Jahr 2011 konnten über 8 000
        sozialversicherungspflichtige, tariflich bzw. ortsüblich
        entlohnte Arbeitsplätze geschaffen werden. Das liegt vor
        allem an der erfolgreichen Kooperation von Integra-
        tionsbetrieben mit Unternehmen direkt vor Ort in der
        Region. Sie sind als Lotsenboote für echte Inklusion in
        Arbeit unterwegs und zeigen mit innovativen Konzep-
        ten, dass Menschen mit Behinderungen alles können,
        wenn sie die Chance bekommen.
        Deswegen sind Integrationsbetriebe in sehr vielen
        Branchen am Markt, ob in der Gastronomie oder Hotel-
        lerie, im Garten- und Landschaftsbau, in der Industrie-
        produktion, im Facility Management, im Handel oder im
        Handwerk. Mit einer durchschnittlichen Betriebsgröße
        von etwa 23 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
        sind viele von ihnen mittlerweile ein fester Bestandteil
        des erfolgreichen Mittelstands in Deutschland.
        Der gesetzliche Auftrag der Integrationsbetriebe lau-
        tet, schwerbehinderte Menschen mit einer geistigen oder
        seelischen Behinderung, die eine individuelle arbeitsbe-
        gleitende Betreuung benötigen, sowie Menschen mit ei-
        ner schweren Sinnes-, Körper- oder Mehrfachbehinde-
        rung auszubilden, zu beschäftigen, arbeitsbegleitend zu
        betreuen und sie auf Arbeitsplätze in anderen Betrieben
        des allgemeinen Arbeitsmarktes vorzubereiten. Aus die-
        sem Grund bilden sie eine wichtige Brücke für Werk-
        stattbeschäftigte, die auf den ersten Arbeitsmarkt wech-
        seln wollen. In Integrationsbetrieben bleiben alle
        rentenrechtlichen Vorteile weiterhin bestehen. Auch das
        macht sie für den Sprung raus aus der Werkstatt so at-
        traktiv.
        Die Union will das erfolgreiche Konzept der Integra-
        tionsbetriebe noch erfolgreicher machen. Mit einem
        Sonderprogramm werden wir in den Jahren 2015 bis
        2017 aus den Mitteln des Ausgleichsfonds im Bundesar-
        beitsministerium insgesamt 150 Millionen Euro in Neu-
        gründungen sowie in die Weiterentwicklung zu Inklu-
        sionsunternehmen investieren. Ziel ist, mittelfristig
        doppelt so viele Integrationsbetriebe wie heute zu haben,
        die sich dauerhaft am Markt halten können. Dazu reicht
        nicht nur eine gute Geschäftsidee, dazu müssen auch
        entsprechende Gelder fließen, um notwendige Investitio-
        nen in Barrierefreiheit und Lohnzuschüsse zu decken.
        Zudem sollen Integrationsbetriebe künftig bei der Ver-
        gabe öffentlicher Aufträge besonders berücksichtigt
        werden. Das stärkt ihre Wettbewerbsfähigkeit ebenfalls
        nachhaltig und langfristig.
        Darüber hinaus sollen Gesundheitsförderung und
        Weiterbildung in Integrationsbetrieben eine größere
        Rolle einnehmen. Schwerbehinderte Menschen sind ne-
        ben den beruflichen auch weiteren, zusätzlichen Belas-
        tungen ausgesetzt. Sie haben ein höheres Risiko, krank
        oder arbeitsunfähig zu werden. Eine betriebliche Ge-
        sundheitsstrategie in Integrationsbetrieben, in denen
        überdurchschnittlich viele schwerbehinderte Mitarbeiter
        angestellt sind, ist aus Sicht der Union nur folgerichtig.
        Integrationsbetriebe sind auch ein Sprungbrett in an-
        dere Betriebe des allgemeinen Arbeitsmarktes. Regel-
        mäßige Weiterbildung ist dafür eine zentrale Vorausset-
        zung. Mehr Angebote für die betreffenden Mitarbeiter
        sollen ihre Beschäftigungschancen erhöhen.
        Eine echte Alternative zur Werkstatt sind Integra-
        tionsunternehmen insbesondere für Menschen mit psy-
        chischen Erkrankungen. Sie haben es besonders schwer,
        beruflich wieder Fuß zu fassen, und brauchen individuell
        angepasste Arbeitszeitmodelle und Strukturen. Dann
        können sie ihr Können erfolgreich abrufen. Dazu soll
        auch beitragen, dass Integrationsbetriebe künftig bereits
        ab 12 Wochenstunden, statt bislang 15 Stunden, soge-
        nannte begleitende Hilfen am Arbeitsleben bei den Inte-
        grationsämtern abrufen können.
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        Die meisten Jugendlichen mit Behinderung wechseln
        nach der Förderschule direkt in eine Werkstatt für behin-
        derte Menschen und bleiben dort. Diesen Automatismus
        wollen wir durchbrechen. Auch für sie bieten Integra-
        tionsunternehmen einen guten Ausbildungsort. Dort
        können sie neue Fähigkeiten erlernen, ihre Interessen in-
        dividuell entfalten und sich gleichzeitig neue Beschäfti-
        gungschancen erarbeiten.
        Integrationsbetriebe sind schon heute in vielen Regio-
        nen sehr erfolgreich. Wie jedes Unternehmen brauchen
        sie Zeit, um sich am Markt behaupten zu können. Sie ha-
        ben mit ihrem gesetzlichen Auftrag eine besondere He-
        rausforderung zu meistern: im Wettbewerb mit anderen
        mittelständischen Betrieben konkurrieren und Teilhabe
        an Arbeit für schwerbehinderte Menschen organisieren.
        Das ist ein Spagat, den die Union mit ihrem Sonderpro-
        gramm künftig erleichtern will. Damit setzen wir ein
        Zeichen für mehr inklusive Beschäftigung und investie-
        ren zugleich in das Potenzial und die Fähigkeiten von
        Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mit Behinde-
        rung.
        Kerstin Tack (SPD): Menschen mit Behinderung
        sollen gleichberechtigt an der Gesellschaft teilhaben
        können. Das ist nicht nur unser großes Anliegen, son-
        dern spätestens seitdem wir im Jahr 2009 die UN-Behin-
        dertenrechtskonvention ratifiziert haben auch unsere
        Verpflichtung. Die gleichberechtigte Teilhabe am Ar-
        beitsleben spielt dabei eine besonders wichtige Rolle.
        Die Beschäftigungsquote von Menschen mit Behin-
        derung liegt in Deutschland bei 35 Prozent. Nicht nur
        der EU-Durchschnitt liegt mit 38 Prozent darüber,
        sondern Länder wie Schweden und Frankreich schaffen
        sogar mehr als 60 Prozent. Da müssen wir besser wer-
        den! Denn ein selbstbestimmtes Leben schließt ein, den
        eigenen Lebensunterhalt mit einer frei gewählten Tätig-
        keit selbst zu verdienen.
        Unser Ziel ist darum ein inklusiver Arbeitsmarkt. Das
        bedeutet: Wir brauchen mehr sozialversicherungspflich-
        tige Beschäftigungsverhältnisse für Menschen mit Be-
        hinderung auf dem ersten Arbeitsmarkt. Wir brauchen
        mehr Beschäftigungsverhältnisse, in denen der Fokus
        darauf liegt, was ein Mensch kann, und nicht, was er
        nicht kann. Und wir brauchen mehr Beschäftigungsver-
        hältnisse, in denen Menschen arbeitsbegleitende Unter-
        stützung erhalten, wenn sie sie gerade brauchen.
        Genau solche Arbeitsplätze bieten die rund 800 Inte-
        grationsbetriebe in Deutschland schon jetzt an. Die meist
        kleinen und mittelständischen Unternehmen beschäfti-
        gen insgesamt mehr als 22 000 Mitarbeitende. Knapp die
        Hälfte davon lebt mit einer Schwerbehinderung. Vor
        allem Menschen mit seelischen und geistigen Behinde-
        rungen, aber auch Menschen mit schweren Sinnes-,
        Körper- oder Mehrfachbehinderungen finden dort eine
        passgenaue Ausbildung oder Beschäftigung – falls nötig,
        und das ist das Besondere, mit individueller Unterstüt-
        zung.
        Gerade für Schulabgängerinnen und -abgänger aus
        Förderschulen bieten sie auch eine gute Möglichkeit, die
        leider noch viel zu häufig praktizierte Bildungskette
        Förderschule – Werkstatt zu durchbrechen. Anstatt dass
        schwerbehinderte Jugendliche von einem separierenden
        System in das nächste wechseln, erhalten sie in Integra-
        tionsbetrieben direkt eine Chance auf dem ersten Ar-
        beitsmarkt. Darum streben wir mit unserer Initiative
        auch ein besseres Übergangsmanagement für den Wech-
        sel von der Schule in Integrationsfirmen an.
        Zurzeit fördern die Integrationsämter die Integra-
        tionsbetriebe mit Mitteln der Ausgleichsabgabe. Im Jahr
        2013 sind 68 Millionen Euro in den Aufbau und die In-
        standhaltung von Betrieben geflossen. Sie wurden damit
        betriebswirtschaftlich beraten, und besonderer Aufwand
        und außergewöhnliche Belastungen wurden ausgegli-
        chen. Doch diese Mittel reichen nicht aus.
        In Integrationsbetrieben leben Menschen mit und
        ohne Behinderung schon jetzt Tag für Tag vor, wie ein
        inklusiver Arbeitsmarkt aussehen kann. Diese Erfolgs-
        geschichte müssen wir aktiv fortschreiben. Es kann
        darum nicht sein, dass Anträge auf Gründung neuer Inte-
        grationsbetriebe nicht bearbeitet werden können, weil
        das Geld dazu fehlt.
        Darum wollen wir die Integrationsbetriebe mit
        150 Millionen Euro aus dem Ausgleichsfonds des Bun-
        desministeriums für Arbeit und Soziales massiv stärken.
        Je 50 Millionen Euro sollen in den Jahren 2015, 2016
        und 2017 zur Verfügung stehen, um den Ausbau von
        Integrationsbetrieben zu fördern und so die Anzahl der
        Arbeitsplätze zu verdoppeln. Aber auch Werkstätten
        können Integrationsbetriebe gründen und Gesamtkon-
        zepte zur Stärkung entwickeln, die eine hohe Durchläs-
        sigkeit zum ersten Arbeitsmarkt gewährleisten.
        Dass Integrationsbetriebe neben Werkstätten bei der
        Vergabe von öffentlichen Aufträgen zukünftig bevorzugt
        berücksichtigt werden können, ist eine weitere wichtige
        Maßnahme, um sie zu stärken. Damit unterstützen wir
        ihre Wettbewerbsfähigkeit, denn sie müssen im Wettbe-
        werb mit anderen Unternehmen bestehen. Anders als
        diese anderen Unternehmen beschäftigen sie aber eine
        hohe Anzahl von besonders betroffenen schwerbehin-
        derten Menschen und müssen rentabel wirtschaften. Das
        ist ein Drahtseilakt, den die Integrationsbetriebe seit Jah-
        ren respektabel meistern. Mit der neuen Regelung zur
        Vergabe wollen wir jetzt die Bedingungen dafür verbes-
        sern.
        Vor dem Hintergrund, dass das Modell der Integra-
        tionsbetriebe sich bewährt hat, ist jetzt der richtige
        Zeitpunkt, um es fortzuentwickeln. Darum wollen wir
        mehr Menschen die Möglichkeit geben, in Integrations-
        betrieben zu arbeiten und von dem Konzept zu profitie-
        ren. Wir wissen, dass Menschen, die schon lange Zeit
        arbeitslos sind, die Wiedereingliederung in den Arbeits-
        markt oft besonders schwer fällt. Auf langzeitarbeitslose
        Menschen mit Schwerbehinderungen trifft das noch ein-
        mal in besonderem Maße zu.
        Wir wissen, dass leider viele Langzeitarbeitslose bei
        der Arbeitssuche auf Vermittlungshemmnisse und Vor-
        behalte stoßen, die zeigen, wie wichtig ein inklusiver
        Arbeitsmarkt für die gesamte Gesellschaft ist. Auch
        11244 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
        (A) (C)
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        viele langzeitarbeitslose Menschen finden in Integra-
        tionsbetrieben Arbeitsbedingungen und Unterstützungs-
        angebote vor, die ihnen den Wiedereinstieg in die Ar-
        beitswelt erleichtern können. Ich finde es darum richtig
        und nicht zuletzt im Sinne der Idee von Inklusion, dass
        wir die Integrationsbetriebe zukünftig auch für die Ziel-
        gruppe der Langzeitarbeitslosen öffnen wollen. Dabei
        muss jedoch klar sein, dass Langzeitarbeitslose mit und
        ohne Schwerbehinderung auch weiterhin durch die Ein-
        gliederungsmittel der Bundesagentur für Arbeit geför-
        dert werden.
        Ich freue mich über diese Initiative, denn wir schaffen
        für mehr Menschen die Gelegenheit, den eigenen Le-
        bensunterhalt mit einer frei gewählten Tätigkeit selbst zu
        verdienen. Damit gehen wir einen großen Schritt in
        Richtung inklusiver Arbeitsmarkt – auch wenn außer
        Frage steht, dass wir auf diesem Weg noch viele weitere
        Schritte zu gehen haben.
        Und natürlich haben wir auch noch viel mehr vor:
        Im Zuge des Bundesteilhabegesetzes wollen wir das
        Budget für Arbeit bundesweit einführen. In Nordrhein-
        Westfalen, Rheinland-Pfalz, Hamburg und Niedersach-
        sen gibt es schon sehr gute Erfahrungen damit, und es ist
        ein vielversprechendes Instrument, um personenzen-
        trierte Arbeitsplätze in Unternehmen zu fördern.
        Klar ist auch, dass wir flexible Übergänge zwischen
        den Werkstätten für behinderte Menschen und dem ers-
        ten Arbeitsmarkt brauchen, damit mehr Werkstattbe-
        schäftigte sich dazu entscheiden, die Werkstatt zu verlas-
        sen. Dazu gehören vor allem klare Regelungen zum
        Rückkehrrecht. Diejenigen, die den Mut und den Willen
        aufbringen, auf den ersten Arbeitsmarkt zu wechseln,
        brauchen die Sicherheit, in die Werkstatt zurückkommen
        zu dürfen, falls sie das möchten.
        Außerdem müssen wir bei Unternehmen mehr für die
        Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen wer-
        ben. Wir müssen Förderinstrumente verbessern und mit
        Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern darüber ins Ge-
        spräch kommen. Denn natürlich zählen sie zu den wich-
        tigsten Akteurinnen und Akteuren auf unserem Weg zum
        inklusiven Arbeitsmarkt. Viele von ihnen setzen sich be-
        reits für dieses Ziel ein. Aber viel zu viele tun es noch
        nicht. Es gibt noch immer 37 500 Unternehmen, die die
        Beschäftigungsquote erfüllen müssten, aber gar keine
        schwerbehinderten Mitarbeitenden haben.
        Es sei dahingestellt, ob der Grund dafür Unwissenheit
        oder Unwille ist. In jedem Fall müssen wir sie darüber
        informieren, was es bedeutet – und vor allem, was es
        nicht bedeutet –, Menschen mit Behinderung einzustel-
        len. Hier gibt es bereits gute Programme wie das Projekt
        „Wirtschaft inklusiv“, auf denen wir aufbauen können.
        Ein inklusiver Arbeitsmarkt mit tatsächlicher Wahl-
        freiheit ist erst dann gegeben, wenn jede Wahl zur
        Arbeitsaufnahme auch ermöglicht werden kann. Zu die-
        ser Wahlfreiheit gehören für Menschen mit Schwerbe-
        hinderungen Arbeitsmöglichkeiten auf dem allgemeinen
        Arbeitsmarkt, zu denen auch Integrationsbetriebe zäh-
        len, genauso wie Arbeitsmöglichkeiten in geschützten
        Werkstätten oder Außenarbeitsplätze.
        Mit unserem Antrag kommen wir einen wichtigen
        Schritt weiter auf dem inklusiven Arbeitsmarkt.
        Katrin Werner (DIE LINKE): Vor wenigen Minuten
        diskutierten wir den Antrag der Linken „Gute Arbeit für
        Menschen mit Behinderungen“. Dabei wurde wieder
        einmal ganz deutlich: Bei der Umsetzung der UN-Behin-
        dertenrechtskonvention fehlt nach wie vor die Men-
        schenrechtsperspektive!
        Der UN-Menschenrechtsausschuss über die Rechte
        von Menschen mit Behinderung ist besorgt über die Son-
        derarbeitswelten in Deutschland. Er kritisiert die Dop-
        pelstruktur und finanziellen Fehlanreize, die Inklusion
        verhindern. Deutschland ist das Land in Westeuropa mit
        dem am stärksten ausgeprägten Sondersystem.
        Aber was bedeuten der Regierung die Empfehlungen
        des UN-Fachausschusses?
        Seit dem Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskon-
        vention vor über sechs Jahren hat sich bei der Teilhabe
        von Menschen mit Behinderungen an Arbeit und Be-
        schäftigung am ersten Arbeitsmarkt nicht viel getan. Im
        Gegenteil: ihre Arbeitslosenzahlen steigen entgegen dem
        allgemeinen Trend weiter an und die Zahl der Menschen,
        die auf Sonderwege geschickt werden, nimmt zu.
        Und jetzt sagen Sie uns bitte nicht wieder, wie schon
        beim letzten Mal, die Empfehlungen aus Genf würden
        sich auf den Staatenbericht von 2011 beziehen und seien
        quasi veraltet. Denn das sind sie nicht! Sie beziehen sich
        auf die Prüfung diesen Jahres und sind somit brandaktu-
        ell!
        Ja, Menschen mit Behinderung sind nach wie vor
        überdurchschnittlich oft arbeitslos, und das meist sehr
        lange. Ihre Arbeitslosenquote ist doppelt so hoch wie die
        nicht behinderter Menschen. Sie werden nach wie vor
        ganz klar diskriminiert, sei es durch fehlende Unterstüt-
        zung oder weil Arbeitsplätze nicht barrierefrei sind.
        Menschen mit Behinderung haben immer noch oft mit
        Vorurteilen zu kämpfen. Hinzu kommt die mangelnde
        Sensibilisierung vieler Arbeitgeber und Arbeitgeberin-
        nen für ihre Kompetenz. Viele junge Menschen mit Be-
        hinderungen sind ausgezeichnet ausgebildet. Vor Ar-
        beitslosigkeit schützt sie aber auch eine gute Ausbildung
        nicht.
        Und dennoch, meine Damen und Herren der Koali-
        tion, Ihr Antrag greift viel zu kurz und kommt auch
        reichlich spät!
        Ehrlich gesagt, er ist ein wenig „Show“. Sie wollen
        zwar einerseits Integrationsunternehmen in Inklusions-
        unternehmen umbenennen, aber bei der Übersetzung der
        UN-Behindertenrechtskonvention halten sie eisern und
        stur an dem Begriff der Integration fest. Warum ersetzen
        sie ihn nicht auch dort endlich durch Inklusion?
        Die bereits rund 800 existierenden Integrationsunter-
        nehmen sind einfach nicht genug, da geben wir Ihnen
        Recht! Aber wieso beschränken Sie sich dann auf
        150 Millionen Euro in den kommenden drei Jahren? Wa-
        rum ergreifen Sie nicht mehr aus der Schatztruhe des
        Ausgleichsfonds des BMAS? Und wie wollen Sie denn
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11245
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        noch in diesem Jahr die Integrationsunternehmen mit
        50 Millionen entlasten? Wenn Sie Integrationsunterneh-
        men für langzeitarbeitslose Menschen öffnen, was ge-
        schieht mit den dort arbeitenden Menschen mit Behinde-
        rung?
        Eine Förderung der Integrationsbetriebe allein reicht
        nicht aus. Wir brauchen eine strukturelle und schritt-
        weise Umgestaltung des gesamten Werkstattsystems.
        Integrationsfirmen sind für einen inklusiven Arbeits-
        markt fundamental wichtig. Sie tragen wegweisend zur
        Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben von Men-
        schen mit Behinderungen bei. Wir müssen sie wesentlich
        stärken.
        Deshalb wollen wir, die Linke, bei der Umstrukturie-
        rung des derzeitigen Arbeitsmarktes für Menschen mit
        Behinderung vor allem Dreierlei:
        Wir wollen erstens Integrationsbetriebe nicht nur
        durch eine bevorzugte Vergabe bei öffentlichen Aufträ-
        gen fördern, sondern zusätzlich durch Investitionsförde-
        rungen und Steuerentlastungen in der Gründungsphase
        langfristig unterstützen. Wir wollen zweitens ein Budget
        für Arbeit, das es jedem Arbeitnehmer und jeder Arbeit-
        nehmerin erlaubt, ihren Arbeitsplatz frei zu wählen.
        Wir wollen drittens eine unabhängige verpflichtende
        Beratung durch Menschen mit Behinderung, die Men-
        schen bei der Ausübung ihres Wunsch- und Wahlrechts
        bezüglich Arbeit mit zahlreichen Alternativen unter-
        stützt.
        Die UN-Behindertenrechtskonvention wurde in
        Deutschland mit ihrem Inkrafttreten geltendes Recht.
        Dieses Recht gilt es jetzt endlich auch in Bezug auf ei-
        nen inklusiven Arbeitsmarkt umzusetzen. Menschen mit
        Behinderung müssen endlich mit entsprechender Unter-
        stützung am allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein.
        Liebe Regierungsmitglieder, krempeln Sie die Ärmel
        hoch und erfüllen Sie ihre Hausaufgaben aus Genf.
        Setzen Sie die Empfehlungen aus Genf und somit
        Menschenrechte endlich auch bei uns um.
        Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich
        habe es heute Nachmittag schon einmal gesagt: Ich freue
        mich, dass nun endlich auch von den Koalitionsfraktio-
        nen ein konkreter Vorschlag vorliegt, um die Chancen
        behinderter Menschen auf dem Arbeitsmarkt zu verbes-
        sern.
        Ich habe mich bereits heute Nachmittag ausführlich
        zum Thema geäußert, aus diesem Grund möchte ich nur
        mit einigen wenigen Sätzen auf den vorliegenden Antrag
        eingehen.
        Den Fokus auf die Integrationsbetriebe zu legen, ist
        eine gute Entscheidung: Sie bieten bereits jetzt vielen
        schwerbehinderten Menschen tariflich bzw. ortsüblich
        entlohnte Arbeitsplätze. Leider scheitern Neugründun-
        gen immer wieder daran, dass in den Ländern nicht aus-
        reichend Geld zur Verfügung steht. Aus diesem Grund
        freue ich mich, dass hier vorgeschlagen wird, aus Bun-
        desmitteln Gelder zur Verfügung zu stellen.
        Ich möchte aber auf zwei Aspekte hinweisen, die wir
        unbedingt im Auge behalten müssen: Zum einen spre-
        chen Sie in Ihrem Antrag von „Anschubfinanzierung“.
        Nach meiner Kenntnis ist es gegenwärtig ein großes Pro-
        blem, die Arbeitsplätze in Integrationsfirmen auf Dauer
        zu finanzieren. Wenn es also um die dauerhafte Beglei-
        tung und die Finanzierung von Lohnkostenzuschüssen
        geht, auf die sich Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber
        auch verlassen können. Wenn wir die Integrationsfirmen
        als Alternative zur Werkstatt für behinderte Menschen
        ernsthaft stärken möchten, dann muss es auch hier Ver-
        lässlichkeit geben. Nun soll hier eine schöne Summe für
        Integrationsbetriebe zur Verfügung gestellt werden, und
        es wäre doch sinnvoll, dass die Betriebe das Geld auch
        so verwenden können, wie es zur Unterstützung der ent-
        sprechenden behinderten Menschen vor Ort sinnvoll ist.
        Den zweiten Punkt möchte ich hier als Anstoß in die
        Runde geben: Wir wissen, dass es große Unterschiede
        zwischen den Bundesländern gibt, was die Förderung
        von Integrationsfirmen angeht. Wenn sich der Bund jetzt
        finanziell für die Integrationsfirmen engagiert, sollten
        wir gemeinsam darüber nachdenken, wie wir sicherstel-
        len können, dass sich in der Folge kein Land aus der Ver-
        antwortung zurückzieht.
        Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich danke Ihnen für
        diesen Aufschlag und freue mich auf die weitere parla-
        mentarische Beratung.
        Anlage 19
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
        Berichts zu dem Antrag: Bericht der Bundesre-
        gierung zur weltweiten Lage der Religions- und
        Glaubensfreiheit (Tagesordnungspunkt 21)
        Erika Steinbach (CDU/CSU): Wir beraten heute ab-
        schließend über den von CDU/CSU, SPD und Grünen
        gemeinsam vorgelegten Antrag „Bericht der Bundesre-
        gierung zur weltweiten Lage der Religions- und Glau-
        bensfreiheit“. Zu Beginn meiner Rede will ich mich aus-
        drücklich bei unserem Fraktionsvorsitzenden Volker
        Kauder bedanken, der sich seit vielen Jahren mit großem
        Nachdruck für das Menschenrecht auf Religionsfreiheit
        engagiert. Lieber Volker, mit deinem unermüdlichen
        Einsatz hast du das Feld bestellt, auf dem wir nun auch
        mit diesem Antrag aussäen können.
        Franz Josef Jung hat den Antrag gemeinsam mit den
        Beauftragten für Kirchen und Religionsgemeinschaften
        unseres Koalitionspartners und der Grünen „auf die
        Schienen gesetzt“. Auch dafür danke ich ausdrücklich.
        Die Religion drückt die tiefste Sehnsucht des Men-
        schen aus. Sie bestimmt seine Weltanschauung und re-
        gelt die Beziehung zu den anderen. Letztlich gibt sie die
        Antwort auf die Frage nach dem wahren Lebenssinn im
        persönlichen und im sozialen Bereich. Die Religionsfrei-
        heit bildet daher das Herz der Menschenrechte.
        11246 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
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        Deshalb muss jeder Mensch seine Religion frei leben
        können. Für uns in Deutschland und in Europa ist dieser
        Satz selbstverständlich. In vielen anderen Teilen der
        Welt gilt dies aber nicht. Die Zahl der religiösen Aus-
        einandersetzungen steigt. Religiös motivierter Hass ist
        weltweit zu einer der größten Bedrohungen des Friedens
        geworden – und das nicht nur im Nahen und Mittleren
        Osten, wo der Terror des „Islamischen Staates“ auch im-
        mer mehr Muslime bedroht.
        Religionsfreiheit ist eng verwoben mit anderen Frei-
        heitsrechten. Wo es keine Religionsfreiheit gibt, da gibt
        es keine Freiheit. Die Debatte über die Mohammed-
        Karikaturen hat die direkte Verbindung der Religions-
        freiheit mit der Meinungs- und Pressefreiheit mehr als
        deutlich gemacht. Darüber hinaus haben viele Minder-
        heitenkonflikte auch eine religiöse Dimension. Auch
        hier gilt: ohne Religionsfreiheit kein Minderheiten-
        schutz.
        Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist die Reli-
        gions- und Glaubensfreiheit seit langem ein wichtiges
        Anliegen, das sie aus dem C in ihrem Namen, dem Be-
        kenntnis zum Christentum, herleitet. Die Hilfe für reli-
        giöse Minderheiten auf der ganzen Welt gehört in den
        Kontext ihrer wertegebundenen Außenpolitik. Wertege-
        bundene Außenpolitik darf nicht nur ein Lippenbekennt-
        nis sein. Sie muss ihren Ausdruck in der praktischen
        Politik finden. Bereits in der vergangenen Wahlperiode
        verabschiedete der Bundestag auf Initiative der Unions-
        fraktion einen Koalitionsantrag zur Religionsfreiheit. Es
        freut mich sehr, dass wir nun mit dem vorliegenden in-
        terfraktionellen Antrag gemeinsam die nächsten Schritte
        auf diesem Weg gehen können.
        Neu ist, dass die Bundesregierung in unserem Antrag
        dazu aufgefordert wird, bis Mitte nächsten Jahres erst-
        malig einen Bericht vorzulegen, in dem der Stand der
        Religions- und Glaubensfreiheit in den Staaten weltweit
        beschrieben wird. Dabei muss die Regierung auch ihre
        politischen Bemühungen vorstellen, die sie zur Förde-
        rung dieses Menschenrechts unternimmt. Damit folgen
        wir dem Beispiel der USA. Dort muss das State Depart-
        ment sogar jährlich berichten. Ich wünsche mir sehr,
        dass wir – aufbauend auf diesen zunächst einmaligen
        Bericht – mittelfristig ebenfalls einen regelmäßigen Be-
        richtsrhythmus erreichen werden. So wäre zum Beispiel
        ein zweijähriger Rhythmus – immer im Wechsel mit
        dem Menschenrechtsbericht der Bundesregierung –
        denkbar.
        In unserem Antrag machen wir sehr deutlich, dass wir
        keine Religion oder Glaubensgemeinschaft besonders
        begünstigen wollen. Für unser eigenes Land heißt das,
        dass in der Bundesrepublik Deutschland jeder im Rah-
        men unserer Gesetze seinen Glauben frei leben kann.
        Das bedeutet zum Beispiel, dass alle Religionsgemein-
        schaften ihre Gottes- und Gebetshäuser bauen dürfen.
        Das bedeutet aber auch, dass das, was bei uns erlaubt ist,
        zum Beispiel in der Türkei oder anderen mehrheitlich
        muslimischem Ländern möglich sein sollte.
        In diesem Zusammenhang muss allerdings auch ganz
        klar sein, dass die mittelalterlichen Regeln der Scharia
        nicht mit unserem Grundgesetz und den freiheitlichen
        Werten der Europäischen Union kompatibel sind. Der
        Bericht wird sicherlich dazu beitragen, die doch manch-
        mal sehr emotional geführten Debatten in diesem Be-
        reich zu versachlichen.
        Die deutsche Außenpolitik kann viel für die Reli-
        gionsfreiheit und religiöse Toleranz erreichen. Kaum ein
        Land dieser Welt wird es gerne hören, wenn Missstände
        auf diesem Gebiet offen angesprochen werden. Gegen
        den islamistischen Terror, wie er jüngst Tunesien und
        Frankreich erschüttert hat, hilft aber keine Diplomatie.
        Hier können wir nur die Kräfte unterstützen, die gegen
        diese Barbarei Widerstand leisten.
        Grundsätzlich muss ein neuer Geist der religiösen
        Toleranz in dieser Welt einziehen. Das Eintreten für die
        Religionsfreiheit ist ein Einsatz für den Frieden. Der in
        unserem gemeinsamen Antrag geforderte Bericht zur
        weltweiten Situation der Religions- und Glaubensfrei-
        heit kann in diesem Kontext ein deutscher Beitrag sein.
        Die erste Lesung und die Ausschussberatungen haben
        gezeigt, dass es in allen Fraktionen des Deutschen Bun-
        destages eine breite Unterstützung für unser Vorhaben
        gibt. Deshalb würde ich mich auch heute in der abschlie-
        ßenden Abstimmung über Ihre Zustimmung freuen.
        Frank Schwabe (SPD): Zurzeit ist Ramadan, der
        Fastenmonat der Muslime. Weltweit sind die Muslime
        dazu aufgerufen, von Sonnenaufgang bis Sonnenunter-
        gang auf Essen und Trinken zu verzichten. Der Ramadan
        hat einen hohen Stellenwert für gläubige Muslime.
        In China unternimmt die Zentralregierung dieser Tage
        den Versuch, diese äußeren Symbole muslimischer Reli-
        giosität zu unterdrücken, unsichtbar zu machen. In eini-
        gen Landkreisen in der Provinz Xinjiang, deren Bevöl-
        kerung knapp zur Hälfte aus dem Volk der muslimischen
        Uiguren besteht, verbieten Parteimitglieder und Beamte
        das Fasten. Uigurische Beamte müssen schwören, die
        Fastenzeit zu boykottieren und nicht an Gott zu glauben
        und nicht an religiösen Aktivitäten teilzunehmen. Han-
        chinesische Kollegen sind aufgefordert, darauf zu ach-
        ten, ob die Beamten mittags wirklich etwas essen. In den
        Schulen sollen Lehrer Schülern Wasser geben mit der
        Aufforderung, es öffentlich zu trinken. In der Öffentlich-
        keit wird vermehrt für Restaurantbesuche und vor allem
        auch für den Genuss von Alkohol geworben. All diese
        Aktionen stellen eine Verletzung des Rechts auf Glau-
        bens- und Religionsfreiheit dar.
        Leider ist die Situation der Uiguren in China nur ein
        Beispiel. In den letzten Jahren steigt die Zahl der Men-
        schen, die aufgrund ihrer religiösen Überzeugung, der
        Ausübung ihrer Religion oder aufgrund eines Wechsels
        ihrer Religionszugehörigkeit Opfer von Diskriminie-
        rung, Unterdrückung, Verfolgung und erheblicher
        Repressionen werden, stetig. Diese Menschen werden
        verhaftet, misshandelt, vertrieben. Vielfach müssen sie
        sogar um Leib und Leben fürchten.
        Der Fall der Uiguren in der chinesischen Region Xin-
        jiang reiht sich in eine endlose Liste der Verletzungen
        der Religions- und Weltanschauungsfreiheit ein. Dies
        zeigt der Bericht zur internationalen Lage der Religions-
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11247
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        freiheit, den die US-Regierung seit einigen Jahren veröf-
        fentlicht: Dort wird von über 400 schiitischen Muslimen
        und 80 Christen berichtet, die in Pakistan von Milizen
        getötet wurden. In Ägypten sind Schiiten und Christen
        weiterhin vielfach gewalttätigen Angriffen ausgesetzt.
        Im Iran werden religiöse Gruppierungen, die nicht dem
        schiitischen Islam angehören, von Beamten und den so-
        genannten Gotteswächtern schikaniert und bedroht – so
        auch die Bahai. In Bangladesch wurden, angefacht durch
        politische Unruhen, Hindus und andere ethnische Grup-
        pierungen belästigt und ebenfalls Opfer physischer An-
        griffe. In Sri Lanka zerstörten gewaltbereite nationalisti-
        sche Buddhisten Moscheen und Kirchen, ohne dass
        Sicherheitskräfte eingriffen.
        Uns allen sind auch die Gräueltaten des „Islamischen
        Staates“ vor Augen, der in großen Teilen Syriens und des
        Irak in quasistaatlicher Funktion herrscht. IS-Anhänger
        versklaven Jesiden, Christen, aber auch schiitische
        Muslime, verkaufen Frauen und Kinder und töten viele
        Andersgläubige auf brutalste Weise.
        Wir sollten den Blick allerdings nicht nur auf die isla-
        misch geprägten Länder des Nahen und Mittleren Ostens
        oder auf den asiatischen Kontinent richten. Auch hier bei
        uns in Europa werden Menschen aufgrund ihrer Reli-
        gionszugehörigkeit mit Skepsis beäugt, ausgegrenzt.
        Dies belegen Phänomene wie Pegida, antisemitische
        oder antiislamische Äußerungen in Internetforen und in
        der Öffentlichkeit sowie die Kontroversen um den Bau
        von Synagogen, Moscheen und anderen Gotteshäusern
        „fremder“ Religionen.
        In den letzten Jahren lässt sich eine Renaissance der
        Religion feststellen. In einer zunehmend globalisierten
        Welt suchen viele Menschen im Glauben und im Zuge-
        hörigkeitsgefühl zu einer Glaubensgemeinschaft Sinn
        und Sicherheit. Ein Trend, der sich auf allen Kontinenten
        beobachten lässt, seien es die evangelikalen Bewegun-
        gen in den USA, in Lateinamerika oder in Afrika, die
        Strahlkraft des Islam oder aber die Wiederentdeckung
        und Stärkung der orthodoxen Kirche in Russland.
        Zunehmende Religiosität und eine wachsende Bedeu-
        tung von religiösen Faktoren in Politik und Gesellschaft
        führen, wie die genannten Beispiele zeigen, jedoch nicht
        automatisch zu mehr Verständigung und Frieden. Im Ge-
        genteil: Sie lösen Spannungen aus in der Gesellschaft,
        Spannungen, die zu Einschränkungen des Rechts auf
        Religions- und Meinungsfreiheit und somit de facto zur
        Einschränkung von Menschenrechten führen. Diese kön-
        nen, wie wiederum durch die Fallbeispiele deutlich wird,
        durch zivilgesellschaftliche Akteure, aber auch durch
        staatliche Stellen geschehen. Häufig sind religiöse
        Minderheiten die Leidtragenden, aber auch die Mehr-
        heitsreligionen können betroffen sein. Oft geht es nur
        vordergründig um Religion; politische, soziale und wirt-
        schaftliche Motive spielen eine ebenso große Rolle. Zur
        Bewältigung der Konflikte bedarf es daher oftmals einer
        tiefergehenden Analyse.
        Die SPD-Fraktion verfolgt mit großer Sorge die welt-
        weite Verfolgung von religiösen Minderheiten und setzt
        sich mit all ihren Möglichkeiten für den Schutz der Reli-
        gions- und Glaubensfreiheit ein. Dabei unterscheiden
        wir nicht nach Religionen, Weltanschauungen oder nach
        der Zahl der Anhängerschaft.
        Die weltweite Achtung und der Schutz der Religions-
        und Glaubensfreiheit muss eine vordringliche Aufgabe
        der internationalen Gemeinschaft sein. Die rechtlichen
        Grundlagen dafür sind längst vorhanden, denn Religi-
        ons- und Glaubensfreiheit sind in internationalen und
        regionalen Menschenrechtskonventionen sowie in natio-
        nalen Verfassungen verankert: in Artikel 18 der Allge-
        meinen Erklärung der Menschenrechte, in Artikel 18 des
        UN-Zivilpakts, in Artikel 9 der Europäischen Men-
        schenrechtskonvention, EMRK, in Artikel 10 der Grund-
        rechtecharta der EU, in Artikel 12 der Amerikanischen
        Menschenrechtskonvention und in Artikel 8 der Banjul
        Charta. Religionsfreiheit ist ein universales Recht, keine
        Frage der Toleranz. 166 Staaten haben den UN-Zivilpakt
        ratifiziert und erkennen damit verbindlich den folgenden
        Artikel 18 an:
        (1) Jedermann hat das Recht auf Gedanken-, Ge-
        wissens- und Religionsfreiheit. Dieses Recht um-
        fasst die Freiheit, eine Religion oder eine Weltan-
        schauung eigener Wahl zu haben oder anzunehmen,
        und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschau-
        ung allein oder in Gemeinschaft mit anderen, öf-
        fentlich oder privat durch Gottesdienst, Beachtung
        religiöser Bräuche, Ausübung und Unterricht zu be-
        kunden.
        (2) Niemand darf einem Zwang ausgesetzt werden,
        der seine Freiheit, eine Religion oder eine Weltan-
        schauung seiner Wahl zu haben oder anzunehmen,
        beeinträchtigen würde.
        (3) Die Freiheit, seine Religion oder Weltanschau-
        ung zu bekunden, darf nur den gesetzlich vorgese-
        henen Einschränkungen unterworfen werden, die
        zum Schutz der öffentlichen Sicherheit, Ordnung,
        Gesundheit, Sittlichkeit oder der Grundrechte und
        -freiheiten anderer erforderlich sind.“
        Religions- und Glaubensfreiheit ist eine Ausprägung
        der Menschenwürde. Sie bezieht sich auf den einzelnen
        Menschen und sein Recht, eine Religion oder eine Welt-
        anschauung zu haben oder anzunehmen. Er kann sie
        auch wechseln oder einen atheistischen Standpunkt ein-
        nehmen. Diese Entscheidungen zu treffen ist seine indi-
        viduelle Freiheit. Positive Religionsfreiheit bedeutet,
        dass ein Mensch in allen seinen religiösen oder weltan-
        schaulichen Aktivitäten Schutz genießt, negative Reli-
        gionsfreiheit bedeutet, dass er zu keiner Religion oder
        Weltanschauung und den damit verbundenen Aktivitäten
        gezwungen werden darf. Positive und negative Reli-
        gionsfreiheit sind zwei Seiten ein und derselben Me-
        daille.
        Für alle den Menschenrechten verpflichteten Staaten,
        Gesellschaften und Religionsgemeinschaften ist es eine
        große Herausforderung, wirksam gegen die politische
        Instrumentalisierung von Religion und für den Schutz
        der Religions- und Glaubensfreiheit einzutreten, sowohl
        im Innern als auch in den internationalen Beziehungen.
        In Europa ist Religionsfreiheit besser umgesetzt als in
        anderen Regionen der Welt. Deshalb haben die europäi-
        11248 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
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        schen Staaten eine besondere Vorbildfunktion und Ver-
        antwortung für den inter- und intrareligiösen Dialog und
        für ein tolerantes Zusammenleben von Menschen unter-
        schiedlicher Religionszugehörigkeit.
        Der für das nächste Jahr geplante Bericht über die
        weltweite Lage der Religions- und Glaubensfreiheit ist
        eine gute Basis zur intensiven Auseinandersetzung mit
        der Thematik und wird die Arbeit in den Ausschüssen
        und im Bundestag unterstützen. Hervorzuheben ist, dass
        dieser Bericht nicht nur die Verletzungen des Rechts auf
        Religionsfreiheit aufzeigen, sondern auch auf die Maß-
        nahmen der Bundesregierung eingehen wird, die diese
        zum Schutz der betroffenen religiösen Gruppen sowie
        zur Verbesserung der menschenrechtlichen Lage in den
        jeweiligen Ländern getroffen hat.
        Ich bitte um Zustimmung zu diesem Antrag.
        Christine Buchholz (DIE LINKE): Heute stimmen
        wir über einen Antrag ab, der die Bundesregierung auf-
        fordert, bis zum 30. Juni 2016 einen Bericht über den
        Stand der Religionsfreiheit weltweit vorzulegen. Die
        Linke wird diesem Antrag zustimmen.
        Zwei Aspekte möchte ich in der Debatte besonders
        hervorheben:
        Wenn es um Religionsfreiheit geht, sollten wir zuerst
        vor der eigenen Haustür kehren. Das betrifft die Situa-
        tion sowohl in der Bundesrepublik als auch in der EU.
        Zum anderen will ich hervorheben, dass viele Kon-
        flikte, die religiös bemäntelt werden, in aller Regel im
        Kern politische und soziale Auseinandersetzungen dar-
        stellen. Das Eintreten für Religionsfreiheit darf im Übri-
        gen nicht für eine Außenpolitik instrumentalisiert wer-
        den, die diese Konflikte nicht löst, sondern befördert.
        Zum ersten Punkt: Wie steht es um die Religionsfrei-
        heit in Deutschland und Europa? Dazu zählt nicht nur
        das formale Recht auf Ausübung der Religion der eige-
        nen Wahl. Es muss auch ein Klima herrschen, in dem
        alle Menschen ohne Angst sich zu ihrem Glauben beken-
        nen können.
        Dies ist nicht der Fall. Es herrscht ein Klima der
        Feindseligkeit gegen Muslime in vielen europäischen
        Ländern. Dies wurde jüngst durch eine Umfrage des US-
        Meinungsforschungsinstituts Pew Research Center be-
        stätigt, wonach 56 Prozent der Bevölkerungen in den
        sechs größten EU-Ländern negativ gegenüber Muslimen
        eingestellt seien.
        Die Folgen dieser feindseligen Haltung gegenüber
        dem Islam sind dramatisch. So jährte sich gestern zum
        sechsten Mal der Mord an Marwa al-Schirbini, die im
        Dresdner Landgericht vor den Augen ihres Kindes und
        ihres Mannes von einem Rassisten niedergestochen
        wurde. Die damalige Bundesregierung hat mehrere Tage
        gebraucht, bevor sie sich überhaupt zu diesem Verbre-
        chen geäußert hat.
        Zurückhaltung bei der Verteidigung von Muslimen
        gibt jenen Rückenwind, die mit dem Hass gegen Mus-
        lime Menschen mobilisieren. Pegida konnte so Tausende
        in Dresden mobilisieren. Viele Politiker stellten sich ge-
        gen Pegida. Nur die wenigsten sprachen aus, was diese
        Bewegung antrieb: Rassismus gegen Muslime.
        Pegida ist nur der sichtbare Ausdruck für ein verbrei-
        tetes Problem. Moscheen wurden in den vergangen Jah-
        ren zu Dutzenden Ziele rassistischer Anschläge. Es gab
        wiederholt Proteste gegen den Bau von Moscheen. In ei-
        nigen Orten versuchen kommunale Verwaltungen über
        Bauvorschriften und andere bürokratische Tricks, den
        Bau von Moscheen in zentraler Lage zu verhindern.
        Solange Muslime, Juden und andere religiöse Min-
        derheiten nicht Gotteshäuser nach ihren Vorstellungen
        bauen oder angstfrei besuchen können, ist die Religions-
        freiheit bei uns nicht für alle garantiert.
        Seit einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts im
        März darf Lehrerinnen nicht mehr pauschal verboten
        werden, an Schulen das Kopftuch zu tragen. Dies ist ein
        Schritt nach vorn. Denn das Kopftuchverbot ist nichts
        anderes als ein Akt der Unterdrückung einer religiösen
        Minderheit. Doch wir erleben weiterhin tagtäglich die
        Diskriminierung von muslimischen Frauen, die Kopf-
        tuch tragen.
        Einer der Gründe sind Äußerungen und Schriften be-
        kannter Politiker, nicht zuletzt der Sozialdemokraten
        Sarrazin und Buschkowsky. In dem Bezirksamt von Ber-
        lin-Neukölln, dort, wo Buschkowsky Bürgermeister war,
        bewarb sich die kopftuchtragende Muslima Betül Ulu-
        soy als Rechtsreferendarin. Sie musste erleben, wie eine
        telefonische Zusage zurückgezogen wurde, nachdem sie
        dort persönlich vorstellig wurde. Das ist Diskriminie-
        rung und widerspricht geltendem Recht. Leider ist diese
        Erfahrung kein Einzelfall.
        Häufig wird mit dem Finger auf andere Länder ge-
        zeigt, wenn es darum geht, religiöse Diskriminierung an-
        zuprangern. Doch wie verhält sich die deutsche Aus-
        landsvertretung in dem Land gegenüber diesem
        Phänomen? Die Ahmadiyya-Gemeinde wird in Pakistan
        verfolgt, ihre Eheschließungen werden in Pakistan nicht
        anerkannt. Wenn nach Deutschland ausgewanderte Mit-
        glieder der Ahmadiyya-Gemeinde Ehegatten oder -gat-
        tinnen im Zuge der Familienzusammenführung nachho-
        len wollen, bekommen sie Probleme. Oft müssen sie
        erleben, dass sich die Deutsche Botschaft in Pakistan die
        Position der pakistanischen Behörden zu eigen macht
        und die Eheschließungen nicht anerkennt.
        Wer weltweit glaubwürdig für Religionsfreiheit ein-
        treten möchte, darf nicht gleichzeitig diskriminierende
        Standards bei der Vergabe von Visa und Aufenthaltsbe-
        rechtigungen übernehmen. Hier gibt es Handlungsbe-
        darf.
        Herr Kauder setzt sich besonders für die Religions-
        freiheit von Christinnen und Christen ein, zum Beispiel
        in Ägypten. Ich bin auch für die Religionsfreiheit der
        Koptischen Gemeinde in Ägypten. Wer aber die Rechte
        der Kopten hochhält und dann dem ägyptischen Diktator
        el-Sisi den roten Teppich in Berlin ausrollt, der predigt
        eine Doppelmoral. Unter Präsident el-Sisi wurden rund
        1 500 Todesurteile gegenüber Muslimbrüdern und ande-
        ren Oppositionellen verhängt. Man kann sehr wohl die
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11249
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        Rechte der Kopten verteidigen, ohne sich vor den Karren
        el-Sisis spannen zu lassen.
        Nicht nur el-Sisi, auch das saudische Regime wird ho-
        fiert – obgleich in dem Land auf die Ausübung der
        christlichen Religion die Todesstrafe steht. Offenbar
        trägt der Vorsatz einer „wertegeleiteten“ Außenpolitik
        nur so weit, wie die „Werte“ nicht mit wirtschaftlichen
        oder strategischen Interessen kollidieren. Das ist leider
        die Realität.
        Die Redner der Union haben in der ersten Lesung die-
        ses Antrages auf die Verbrechen des sogenannten „Isla-
        mischen Staates“ verwiesen. Der IS mordet, versklavt
        und vergewaltigt im Namen der Religion Christen und
        Jesiden. Das ist richtig. Allerdings ist es falsch, den Ein-
        druck zu erwecken, es handele sich beim Krieg im Irak
        um einen Krieg zwischen Christentum und Islam. Ers-
        tens sind es in der Mehrzahl Muslime, die unter dem IS
        leiden. Zum anderen werden vonseiten der radikal-schii-
        tischen Milizen Verbrechen begangen, die jenen des IS
        gleichen. Doch diese Milizen sind es, auf die sich das
        mit der westlichen Allianz verbündete Regime in Bag-
        dad stützt. Die Religion dient nicht nur dem IS, sondern
        beiden Seiten als Vorwand, um Ortschaften zu plündern,
        Gefangene hinzurichten und Bevölkerungen zu vertrei-
        ben.
        Wir sind gespannt auf den Bericht der Bundesregie-
        rung zur Religionsfreiheit. Und wir sind gespannt, wie
        sie das eigene Agieren in der Frage bilanzieren wird. Es
        geht um die Stärkung der Religionsfreiheit und aller an-
        deren Menschenrechte. Hierzulande und weltweit.
        Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Religiöse Intoleranz ist weltweit auf dem Vormarsch.
        Menschen werden aufgrund ihrer Religion in vielen Tei-
        len der Welt diskriminiert, schikaniert, gefoltert und ge-
        tötet. Mit barbarischem Eifer verfolgen extremistische
        Gruppierungen wie ISIS Andersgläubige – ob gemäßigte
        Muslime, Jesiden oder Christen. Die Terroranschläge am
        vergangenen Freitag mit insgesamt mehr als 65 Toten
        haben uns diese grausame Realität wieder einmal vor
        Augen geführt. In Lyon hinterließ der Attentäter eine
        IS-Flagge und auch zu dem Anschlag auf Touristinnen
        an einem Strand in Tunesien bekannte sich die Terror-
        miliz. Der saudi-arabische Ableger des IS zeigte sich
        verantwortlich für die Bombe in einer Moschee in Ku-
        wait.
        Christenverfolgung ist ein besorgniserregendes Pro-
        blem, in Syrien sind derzeit 200 000 Assyrer auf der
        Flucht, auch die Drusen werden von ISIS bedroht. Der
        „Weltverfolgungsindex 2015“ des christlichen Hilfs-
        werks Open Doors zeigt mit Blick auf verfolgte Christin-
        nen und Christen einen wichtigen Ausschnitt der religiö-
        sen Verfolgung. Aber die Realität ist komplexer als das:
        Heiner Bielefeldt umschreibt es treffend: „Religionsfrei-
        heit ist ein universelles Menschenrecht, das Menschen in
        all ihrer Vielfalt und Unterschiedlichkeit schützt“. Er ist
        UN-Sonderberichterstatter für Religions- und Weltan-
        schauungsfreiheit. Glauben als Menschenrecht beinhal-
        tet also nicht nur das Recht, sich einen Glauben zu bil-
        den, sondern auch das Recht, ihn zu wechseln oder
        überhaupt nicht an eine Religion zu glauben.
        Auch Muslime sind sehr häufig Opfer religiöser Ver-
        folgung, nicht nur, aber gerade auch durch Islamisten.
        Im Irak und Syrien werden neben den Jesiden auch
        Schiiten und kritische Sunniten vom IS verfolgt. In In-
        dien kommt es mit dem Hindu-Nationalismus immer
        wieder zu Gewalt gegenüber religiösen Minderheiten. In
        Myanmar gehen buddhistische Mönche gegen Muslime
        vor, auch in Sri Lanka wird Gewalt im Namen des Bud-
        dhismus verübt. In den Südstaaten der USA sind in den
        letzten Wochen zahlreiche sogenannte Black Churches
        angezündet worden von Tätern, deren krudes rassisti-
        sches „Ku-Klux-Klan“-Weltbild sich auf die christliche
        Lehre berufen will. In vielen Teilen der Welt werden au-
        ßerdem immer wieder Atheisten verfolgt.
        Zur Religionsfreiheit gehört auch die negative Reli-
        gionsfreiheit. Das heißt, die Freiheit, religiöse Riten und
        Äußerungsformen nicht vollziehen zu müssen. Aber im-
        mer wieder werden religiöse Argumente missbraucht,
        um Menschenrechtsverletzungen zu rechtfertigen, so am
        vergangenen Wochenende in Istanbul. Die friedlich De-
        monstrierenden von Istanbul Gay Pride wurden mit
        Knüppeln, Tränengas, Wasserwerfern und sogar Plastik-
        geschossen vertrieben. Ihr Protest wurde als „unverein-
        bar mit dem Ramadan“ denunziert. Dieser Missbrauch
        der Religion als Legitimation für Gewalt ist inakzeptabel
        und besonders alarmierend. Die Demonstrierenden ver-
        dienen unsere volle Solidarität.
        Alle diese Vorfälle zeigen, dass wir endlich eine ehrli-
        che und sachliche Debatte brauchen, sowohl über die
        Verfolgung im Namen des Glaubens als auch über die
        Verfolgung von Gläubigen. Hierbei kommt es darauf an,
        Zusammenhänge zwischen Gewalt und Religion nicht zu
        vereinfachen. Es ist wichtig, dass wir ein Bild davon be-
        kommen, wo Menschen überall auf der Welt aufgrund
        ihres Glaubens verfolgt und diskriminiert werden. Der
        von uns gemeinsam mit den Koalitionsfraktionen einge-
        forderte Bericht der Bundesregierung zur weltweiten
        Lage der Religions- und Glaubensfreiheit kann dieses
        Bild zeichnen. Er kann die Debatte um Religionsfreiheit
        schärfen und auf sachlicher Ebene voranbringen. Es geht
        uns um eine präzise Berichterstattung zur weltweiten
        Lage der Verfolgung von religiösen Minderheiten.
        Der Bericht muss dann aber auch Konsequenzen für
        unsere eigene Politik haben. Unsere Aufmerksamkeit
        muss allen Schwachen, allen Opfern religiöser Verfol-
        gung gelten. Denn dort, wo religiöse Gemeinschaften
        sich unterdrückt und benachteiligt fühlen, lassen sie sich
        für politische Zwecke mobilisieren. Außenpolitik muss
        den respektvollen Umgang der Religionsgemeinschaften
        untereinander fördern. Die Bundesregierung muss deut-
        liche Kritik an der Diskriminierung aller religiösen Min-
        derheiten in allen Teilen der Welt üben. Saudi-Arabien
        kann dann nicht mehr immer wieder als Partner bezeich-
        net werden, wenn die Regierung bereits den Besitz einer
        Bibel mit dem Tod bestraft und religiös-dogmatische,
        gewaltbereite salafistische Gruppierungen weltweit un-
        terstützt.
        11250 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
        (A) (C)
        (D)(B)
        Religionsfreiheit ist ein zentrales Menschenrecht, und
        wir dürfen eines nicht vergessen: Sie muss der gleichen
        freiheitsrechtlichen Logik folgen wie die Meinungsfrei-
        heit. Es geht darum, dass Menschen ihre Religion gemäß
        ihrer persönlichen Überzeugung gleichberechtigt und
        frei leben können. Dazu gehört auch, dass man religiös
        provozieren darf. Zum demokratischen Rechtsstaat muss
        gehören, diese Provokationen auszuhalten – egal ob von
        Monty Python oder „Charlie Hebdo“. Der Graben ver-
        läuft nicht zwischen Religionen, sondern zwischen De-
        mokraten und den Feinden der Demokratie.
        Anlage 20
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
        gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
        rung des Fischetikettierungsgesetzes und des
        Tiergesundheitsgesetzes (Tagesordnungspunkt 22)
        Thomas Mahlberg (CDU/CSU): Gerade mal vor
        zwei Tagen kam eine Meldung des Statistischen Bundes-
        amtes, dass die Erzeugung in deutschen Aquakulturbe-
        trieben im Jahr 2014 gegenüber dem Vorjahr um 3,0 Pro-
        zent gestiegen ist. Immer mehr Fisch, der auf unserem
        Teller landet, kommt aus der Zucht. In absehbarer Zeit
        werden wir wohl mehr Fisch aus Aquakulturen als aus
        dem Fang verspeisen. Im Hinblick auf die Überfischung
        und zum Schutz der Ökosysteme ist diese Entwicklung
        zu begrüßen. Bei der Nutzung der Wachstumspotenziale
        der Aquakultur ist jedoch darauf zu achten, dass dies
        nachhaltig und tierschutzgerecht erfolgt.
        Der Appetit auf Aquakultur- und Fischereiprodukte
        wächst weltweit seit dem Jahr 2004 kontinuierlich. Fisch
        ist nicht nur ein wichtiger Teil der menschlichen Ernäh-
        rung, sondern auch ein bedeutsamer Wirtschaftsfaktor.
        Alleine in der deutschen Fischwirtschaft betrug der
        Umsatz im Jahr 2014 rund 2 Milliarden Euro. Für die
        nächsten Jahre werden der Branche stabile Umsätze pro-
        gnostiziert. Die Fischwirtschaft hat nicht nur unseren
        Fischhunger zu stillen und dabei auf die nachhaltige
        Nutzung natürlicher Ressourcen zu achten.
        Mit der heute zur Beratung stehenden Änderung des
        Fischetikettierungsgesetzes wird die Fischwirtschaft ver-
        pflichtet, noch mehr Transparenz über die Herkunft und
        die Produktionsmethoden ihrer Produkte herzustellen.
        Die Überführung der neuen, ergänzenden EU-Vorschrif-
        ten zur Verbraucherinformation in nationales Recht ist
        eine Eins-zu-eins-Umsetzung und stärkt das Vertrauen
        der Konsumenten, was wir als CDU/CSU-Bundestags-
        fraktion äußerst begrüßen. Dank der neuen Kennzeich-
        nungsvorschriften wird sich jeder Verbraucher informie-
        ren können, in welchem Untergebiet genau und mit
        welchen Fanggeräten der Fisch gewonnen wurde.
        Auch bei Binnenfischerei- und Aquakulturerzeugnis-
        sen muss künftig ihre Herkunft angegeben werden. So
        kann jeder beim Kauf verstärkt Nachhaltigkeitsaspekte
        in Erwägung ziehen und den Schutz unserer natürlichen
        Ressourcen fördern. Das entspricht unserem Leitbild ei-
        nes mündigen Verbrauchers, der auf der Grundlage
        klarer Angaben sein Kaufverhalten steuern und dadurch
        Verantwortung übernehmen kann. Die Stärkung der
        Verbraucherinformation rechtfertigt geringfügig höhere
        Kosten, die der Wirtschaft durch die erweiterte Etikettie-
        rung ihrer Erzeugnisse entstehen sowie den eher unbe-
        deutenden Mehraufwand für die Verwaltung.
        Mit keinerlei Kosten verbunden ist wiederum die
        Änderung des Tiergesundheitsgesetzes, die heute ebenso
        in der zweiten und dritten Lesung beraten wird. Mit die-
        ser Änderung wird eine Regelungslücke geschlossen,
        um bestimmte Verordnungsregelungen mit einem
        Bußgeld zu bewehren. Dies ist wichtig, damit im Falle
        einer virulenten Tierseuche Zuwiderhandlungen gegen
        entsprechende Verbote als Ordnungswidrigkeit geahndet
        werden können.
        Ferner wollen wir mit einem Änderungsantrag der
        Koalitionsfraktionen dem Friedrich-Loeffler-Institut, das
        als Bundesforschungsinstitut für die Tiergesundheit zu-
        ständig ist, eine Veröffentlichung von Testergebnissen
        ermöglichen. Die Ermächtigung sieht vor, dass das Insti-
        tut die im Rahmen seiner Tätigkeit als Referenzlabor ge-
        wonnenen Erkenntnisse veröffentlichen kann, soweit
        dies einer Gefahrenabwehr oder einer Risikovorbeugung
        dient. Bei der Entscheidung über die Veröffentlichung
        hat das Friedrich-Loeffler-Institut die Belange der Be-
        troffenen zu beachten und ihnen Rechnung zu tragen.
        Eine Veröffentlichung personenbezogener Daten ist aus-
        geschlossen.
        Mit diesem Vorschlag verbessern wir die Rechtslage
        im Sinne der Tiergesundheit. Für meine Fraktion und
        mich persönlich ist die Stärkung der Tiergesundheit ein
        wichtiger Auftrag und hohe Verantwortung, die sich aus
        dem Staatsziel Tierschutz ergeben.
        Zum Schluss möchte ich um breite Unterstützung
        für die Änderung des Tiergesundheitsgesetzes und des
        Fischetikettierungsgesetzes werben. Denn mit diesen
        Änderungen stärken wir den Verbraucher und sein Recht
        auf verständliche und umfassende Information, fördern
        das Verbrauchervertrauen in die Fischerei- und Aquakul-
        turprodukte, machen die Fischerzeugung nachhaltiger
        und schützen die Gesundheit unserer Mitgeschöpfe.
        Alois Rainer (CDU/CSU): Mit dem vorliegenden
        Gesetzentwurf zur Änderung des Fischetikettierungsge-
        setzes und des Tiergesundheitsgesetzes vollziehen wir
        die Durchführung der Rechtsakte der Europäischen Ge-
        meinschaft durch die Verordnung 1379/2013 vom
        29. Dezember 2013.
        Damit gehen wir auf die gemeinsame Marktorganisa-
        tion für Erzeugnisse der Fischerei und der Aquakultur
        ein mit dem Ziel, den Verbraucherinnen und Verbrau-
        chern weiterführende, klare und verständliche Informa-
        tionen verfügbar zu machen.
        Die Gesetzesänderung berücksichtigt in Artikel 1 die
        erweiterten Verbraucherinformationen des Unionsrechts,
        die bei der Etikettierung nach diesem Gesetz in Zukunft
        zusätzlich berücksichtigt werden müssen. Unverändert
        davon bleiben in dem Entwurf die Bestimmungen hin-
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11251
        (A) (C)
        (D)(B)
        sichtlich der Aufgaben der zuständigen Behörden sowie
        die Bußgeldvorschriften. So ist die Bundesanstalt für
        Landwirtschaft und Ernährung weiterhin für die Über-
        wachung der Einhaltung der Rechtsakte der EU außer-
        halb der verbindlichen Anlandeorte zuständig.
        Demnach müssen sowohl für die Gebiete des
        Nordostatlantiks, die FAO-Fanggebiete, in denen die
        deutsche Flotte überwiegend fischt, als auch für das
        Fanggebiet im Mittelmeer und im Schwarzen Meer, dif-
        ferenzierte Angaben über die Herkunft der Fischereipro-
        dukte, mit Angabe über das Untergebiet oder über den
        Bereich des Fischens, gemacht werden.
        Die Änderungen in Artikel 2 bezüglich des Tier-
        schutzgesetztes dienen vorrangig der Schließung einer
        Lücke bei den Ordnungswidrigkeiten.
        Zum derzeitigen Zeitpunkt sieht das Tiergesundheits-
        gesetz keine ausreichende Bußgeldbewehrung bestimm-
        ter Verordnungsregelungen vor, die Verbote des innerge-
        meinschaftlichen Verbringens, der Einfuhr oder der
        Ausfuhr von Tieren, Teilen von Tieren oder tierischen
        Erzeugnissen zum Inhalt haben. Zum Beispiel bei hoch-
        ansteckenden Tierseuchen, wie etwa der Schweinepest,
        wäre bei Zuwiderhandlungen gegen entsprechende Ver-
        bote eine Ahndung als Ordnungswidrigkeit derzeit nicht
        möglich.
        Mit der nun vorliegenden Änderung soll die derzeit
        bestehende Bewehrungslücke im Tiergesundheitsgesetz
        geschlossen werden. Dazu bedarf es sowohl einer Ände-
        rung der Bußgeldvorschrift in § 32 des Tiergesundheits-
        gesetzes als auch einer Neufassung des § 14 Absatz 1
        des Tiergesundheitsgesetzes.
        Ferner wollen wir mit einem Änderungsantrag sicher-
        stellen, dass das Friedrich-Loeffler-Institut, FLI, er-
        mächtigt wird, die im Rahmen der Wahrnehmung seiner
        Aufgaben als Referenzlabor gewonnenen Testergebnisse
        bei Vorliegen einer Gefahr oder eines Risikos für die
        Tiergesundheit zu veröffentlichen, soweit die Veröffent-
        lichung der gewonnenen Erkenntnisse, einschließlich
        der damit im Zusammenhang stehenden produktbezoge-
        nen Angaben, einer Gefahrenabwehr oder Risikovorbeu-
        gung dienlich erscheint.
        Insgesamt ist festzuhalten, dass mit den geschaffenen
        Kennzeichnungsänderungen im Fischetikettierungsge-
        setz die Verbraucherinnen und Verbraucher künftig mehr
        über die Herkunft und die Produktionsmethoden von
        Fischerei- und Aquakulturprodukten erfahren werden.
        Außerdem wird mit der Änderung im Tiergesundheitsge-
        setz die bestehende Bewehrungslücke geschlossen und
        damit die Durchsetzung von Verboten beim Auftreten
        hochansteckender Tierseuchen verbessert.
        Johann Saathoff (SPD): Fisch ist gesund und wir
        sollten alle mehr Fisch essen. Das ist keine Neuigkeit.
        Aber alle, die es bislang nicht wussten, können auch die
        aktuelle Zeitschrift der Stiftung Warentest lesen. Da
        steht drin, dass sich die Omega-3-Fettsäuren sehr positiv
        auf das Gehör auswirken können. Leider war der Pro-
        Kopf-Fischverbrauch der Deutschen in den vergangenen
        Jahren leicht rückläufig. Zwischen 13 und 14 Kilo-
        gramm verzehrt der durchschnittliche Deutsche pro Jahr.
        In der Liste der meistverzehrten Arten steht dabei der
        Alaska-Seelachs an erster Stelle, gefolgt von Lachs und
        Hering. Der Pangasius hat in den vergangenen Jahren
        wieder Marktanteil verloren. Auch unter gesundheitli-
        chen Gesichtspunkten ist das von Vorteil, denn er enthält
        vergleichsweise wenig Omega-3-Fettsäuren. Und damit
        sind wir bei der gesunden Ernährung.
        Die SPD-Bundestagsfraktion hat in dieser Woche eine
        große Veranstaltung zum Thema „Gute Ernährung“
        durchgeführt. Allein die große Zahl der Teilnehmer hat
        deutlich gemacht, dass die Ernährung ein Kernthema für
        uns alle sein muss, da es darum geht, was die Menschen
        essen und wie Lebensmittel erzeugt werden. Es geht
        aber auch darum – und damit komme ich zu unserem
        heutigen Thema –, wie Menschen, die bei ihrem Einkauf
        auf die nachhaltige Produktion der Lebensmittel achten,
        erkennen, dass die Lebensmittel, in diesem Fall der
        Fisch, nachhaltig produziert oder gefangen wurden.
        Der uns heute vorliegende Entwurf des Gesetzes zur
        Änderung des Fischetikettierungsgesetzes stellt nicht nur
        die einfache Umsetzung von EU-Recht dar, er ist viel-
        mehr auch durch die deutliche Kennzeichnung ein gro-
        ßer Zugewinn für die Verbraucherinnen und Verbraucher
        und für eine noch nachhaltigere Fischereiwirtschaft.
        Die Verbraucherpräferenzen haben sich, was die Kon-
        sumentscheidung angeht, in den letzten Jahren stark ver-
        ändert. Heutzutage hat der Verbraucher eine viel größere
        Auswahl, welchen Fisch er essen möchte. Denn Fisch
        wird weltweit gefangen, erzeugt, gehandelt und trans-
        portiert. Nicht umsonst stand Frau Aigner nach dem Un-
        glück in Fukushima am Frankfurter Flughafen und kon-
        trollierte dort öffentlichkeitswirksam den ankommenden
        Fisch. Ein Großteil der Fischimporte nach Deutschland
        kommt nämlich per Flugzeug.
        Die neue Gemeinsame Marktordnung, auf der die
        heutige Gesetzesvorlage basiert, ist Teil des Verord-
        nungspaketes zur Reform der Gemeinsamen Fischerei-
        politik, die bekanntlich im Jahr 2013 unter der griechi-
        schen Kommissarin Maria Damanaki novelliert wurde.
        Mit der Reform wurden einige Pflöcke für eine deutlich
        nachhaltigere Fischerei in europäischen Gewässern und
        darüber hinaus eingeschlagen. Die Fangquoten werden
        nach dem MSY-Ansatz, dem maximalen nachhaltigen
        Dauerertrag, festgelegt und gefangener Fisch, für den
        man keine Quote hat, sogenannter Beifang, darf zukünf-
        tig nicht mehr über Bord geworfen werden.
        Wir müssen aber zur Kenntnis nehmen, dass sich die
        Situation der Bestände der einzelnen Fischarten sehr un-
        terschiedlich darstellen. Dabei müssen wir uns vor Au-
        gen führen, dass die Fischerei die einzelnen Fischarten
        deutlich detaillierter betrachtet als der gemeine Verbrau-
        cher. Im Nordostatlantik gibt es allein 13 Kabeljaube-
        stände, und der Bestand in der Barentssee ist zehnmal so
        groß wie die anderen Bestände zusammen. Die kleineren
        Bestände sind teilweise in schlechtem Zustand; man
        kann also über den Zustand des Kabeljaus keine pau-
        schale Aussage treffen.
        11252 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
        (A) (C)
        (D)(B)
        Mit der Gesetzesänderung wollen wir den Verbrau-
        chern an der Theke und an der Tiefkühltruhe die Mög-
        lichkeit geben, auf diese differenzierte Situation der Be-
        stände zu reagieren. Die derzeitige Einteilung in „FAO-
        Fischereigebiete“, der Nordostatlantik ist die FAO 27,
        wird als zu grobes Raster angesehen und daher durch die
        Aufteilung in sogenannte Untergebiete und Bereiche
        weiter gestaffelt. Diese kleinräumigere Einteilung er-
        möglicht eine weitaus genauere Herkunftsbestimmung.
        Für die Verbraucherinnen und Verbraucher ist es zum ei-
        nen eine anspruchsvolle Aufgabe, diese Informationen
        zu akquirieren. Andererseits geben die Angabe des ge-
        nauen Fanggebiets und des Fanggeräts noch keine Aus-
        kunft über die Bestandssituation.
        Aber es ist ein Schritt in die richtige Richtung. Kom-
        biniert mit den detaillierten Informationen von Fischbe-
        stände-Online ist es den Menschen möglich, Fisch sehr
        zielgerichtet zu kaufen. Ich möchte alle Menschen ermu-
        tigen, sich beim oder vielleicht schon vor dem nächsten
        Fischeinkauf einmal dort schlauzumachen getreu dem
        Motto: „Watt de Buur neet kennt, dat frett he neet!“. Das
        Thünen-Institut hat auf Fischbestände-Online in den
        letzten fünf Jahren umfangreiche Informationen über die
        Fischbestände des Nordostatlantiks zusammengestellt,
        und diese werden auch laufend aktualisiert.
        Mit der Gesetzesänderung wird neben der genaueren
        Fanggebietskennzeichnung auch eine Kennzeichnung
        des Fanggeräts umgesetzt. Dabei wird zunächst nach ak-
        tiven und passiven Fanggeräten unterschieden und diese
        dann noch weiter gruppiert. Auch zu den einzelnen
        Fanggeräten kann man sich auf Fischbestände-Online
        sehr genau informieren.
        Der Kunde kann bei seiner Kaufentscheidung also
        viele neue Elemente berücksichtigen. Unsere Aufgabe
        war und ist es nun, die Verbraucherinnen und Verbrau-
        cher dazu zu ermutigen, von diesem Informationsange-
        bot Gebrauch zu machen. Also, meine Damen und Her-
        ren, besuchen Sie Fischbestände-Online.
        Am Rande sei mir noch eine Bemerkung erlaubt: Ich
        würde mich im Sinne der Bürgerinnen und Bürger, die
        sich dafür interessieren, welche Nahrungsmittel sie hin-
        sichtlich der Art der Nahrungsmittelproduktion und de-
        ren Verarbeitung und der Transportwege kaufen, freuen,
        wenn diese neue Form der Transparenz für die Verbrau-
        cherinnen und Verbraucher vom Fisch auch auf andere
        landwirtschaftliche Produkte – insbesondere Fleisch –
        übergehen könnte. Die Argumentation, das ginge vom
        Verfahrensablauf schlicht nicht, ist mit diesem Gesetz
        spätestens widerlegt.
        In diesem Sinne schließe ich für heute, in der Hoff-
        nung, dass das Thema Fischerei, dass hier leider viel zu
        oft zu kurz kommt, in naher Zukunft noch weitergehend
        an dieser Stelle behandelt wird.
        Karin Binder (DIE LINKE): Fisch ist wertvoller Be-
        standteil einer ausgewogenen Ernährung. Ein bis zwei
        Fischmahlzeiten pro Woche empfiehlt die Deutsche Ge-
        sellschaft für Ernährung. Gleichzeitig sind die Meere
        von Überfischung und umweltschädlichen Fangmetho-
        den bedroht. Auch Zuchtfisch aus der Teichwirtschaft
        oder den Aquakulturen in offenen Gewässern belastet
        das Ökosystem. So wird für die Aufzucht von Forellen
        Fischmehl und Fischöl verwandt, das aus gefangenem
        Meeresfisch stammt. Für 1 Kilo Zuchtfisch müssen oft
        5 Kilo Wildfang als Futter herhalten, was wiederum die
        Meeresumwelt bedroht.
        Damit uns nicht der Appetit vergeht, müssen wir also
        genau wissen, was auf dem Teller landet. Fisch muss als
        Teil einer ausgewogenen Ernährung aus bestandserhal-
        tender und umweltschonender Fischerei stammen.
        Der hier vorliegende Entwurf zur Änderung des
        Fischetikettierungsgesetzes ist ein wichtiger Schritt in
        die richtige Richtung. Verbraucherinnen und Verbrau-
        cher erfahren künftig genauer, woher der Fangfisch oder
        die Erzeugnisse aus Aquakulturen stammen. Sie werden
        zudem über die Fangmethoden, beispielsweise
        „Schleppnetz“ oder „Treibnetz“ informiert. Das war
        überfällig!
        Hilfreich beim Fischkauf ist auch das MSC-Logo. Es
        wird von einer gemeinnützigen Organisation vergeben
        und zeichnet Meeresfisch aus, der aus umweltverträgli-
        cher und bestandsschonender Fischerei stammt. Der
        Lebensmitteleinzelhandel setzt zunehmend auf MSC-
        Fisch, was zu begrüßen ist. Allerdings ist die Menge an
        Fisch aus nachhaltiger Fischerei begrenzt, und wir müs-
        sen aufpassen, dass die bisher strengen Regeln der MSC-
        Zertifizierung nicht auf Druck des Handels aufgeweicht
        werden, bloß um die fangbare Menge zu erhöhen. Das
        wäre dann krasse Verbrauchertäuschung, und das Logo
        würde seine Glaubwürdigkeit verlieren.
        Wir werden uns auch mehr mit dem rasanten Zu-
        wachs an Zuchtfisch auseinandersetzen müssen. Nicht
        einmal jeder zehnte Lachs stammt heute aus dem Meer.
        Ganz überwiegend kommt er aus riesigen Fischfarmen.
        Das sind schwimmende Käfiganlagen vor den Küsten,
        die jeweils bis zu 50 000 Lachse aufnehmen. Schon wird
        mit gentechnisch veränderten Lachsen experimentiert,
        um noch schneller noch größere Zuchtfische mit noch
        größerem Profit zu bekommen. Gelangt dieser Genlachs
        durch schadhafte Maschen ins freie Meer, besteht die
        Gefahr, dass er ganze Ökosysteme verändert. Wir lehnen
        solche Experimente deshalb ab!
        Die industrielle Zucht erfordert zudem den Einsatz
        von Medikamenten und Tierfutter, das mit zum Teil
        krebserregenden Chemikalien belastet ist. Gerade ges-
        tern sprachen wir im Ausschuss für Ernährung und
        Landwirtschaft über schädliche Zusätze in Fischmehl.
        Der möglicherweise Erbgut schädigende und krebserre-
        gende Konservierungsstoff Ethoxyquin, der als Pflan-
        zenschutzmittel bereits 2011 verboten wurde, gelangt
        über die Fütterung von Zuchtlachs mit Fischmehl in die
        menschliche Nahrungskette und in die Muttermilch. Wir
        brauchen also auch für diese Form der Massentierhal-
        tung strenge Vorgaben für den Verbraucherschutz.
        Kritisch sehen wir die Einschränkung des Friedrich-
        Loeffler-Instituts, FLI, durch das Gesetz bei der Veröf-
        fentlichung bestimmter Forschungsergebnisse. Wenn
        „bei der Entscheidung über die Veröffentlichung den Be-
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11253
        (A) (C)
        (D)(B)
        langen der Betroffenen angemessen Rechnung zu tragen
        ist“, kann das auch bedeuten, dass damit unbequeme
        Wahrheiten und unangenehme Veröffentlichungen unter-
        bunden werden können. Hier muss die Bundesregierung
        im Interesse der Verbraucherinnen und Verbraucher un-
        bedingt für juristische Klarheit und die notwendige
        Transparenz sorgen.
        Fisch ist wertvoller Bestandteil einer ausgewogenen
        Ernährung. Es ist die Aufgabe der Politik, dafür zu sor-
        gen, dass es auch so bleibt.
        Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Wir diskutieren hier heute einen Gesetzentwurf zur
        Fischetikettierung. Die Reform der Gemeinsamen Euro-
        päischen Fischereipolitik, GFP, wurde nach dreißig Jah-
        ren endlich auf den Weg gebracht. Jetzt setzen wir
        schrittweise auf nationaler Ebene die EU-Beschlüsse in
        nationales Recht um.
        Wir begrüßen die Reform im Grundsatz, da sie ver-
        sucht, Fischbestände langfristig nachhaltig zu bewirt-
        schaften. Die Fischerei weltweit kann mit Schauer-
        geschichten aufwarten: Bestände sind erschöpft und
        überfischt, regionalen Fischern in Asien oder Afrika
        wird durch industrielle Fischerei die Lebensgrundlage
        genommen, Fische werden nach dem Fang tonnenweise
        über Bord gekippt, weil die Ausbeute nicht genügend
        Geld auf dem Markt einbringt, und durch „höherwer-
        tige“ Fänge ersetzt – um nur einige Beispiele zu nennen.
        Es ist ja schön, dass Sie jetzt auch national regeln,
        dass auf den Fischverpackungen neben vielen anderen
        Dingen auch die Fanggerätekategorie angegeben werden
        muss. Haben Sie sich schon einmal Fischverpackungen
        genauer angesehen? Auf vielen Fischverpackungen steht
        bereits eine große Liste an Angaben – freiwillig oder
        verpflichtend. Wirklich vergleichbar sind die Verpa-
        ckungen jedoch häufig nicht. Meist steht auf den Pa-
        ckungen ein Mischmasch aus verpflichtenden und frei-
        willigen Angaben. Bei den wenigsten – rund 5 Prozent
        nach Ermittlungen von Greenpeace – kann man die ge-
        samte Fang- und Lieferkette nachvollziehen.
        Es stehen dort meist Informationen zu Fischart, Fangart,
        Fanggebiet usw. Dies macht es in vielen Fällen für den
        Verbraucher nicht wirklich einfacher. Der Kunde muss
        inzwischen ja schon fast Fischereiexperte sein, um die
        Angaben auf den Verpackungen verstehen zu können.
        Ehrlich, nachvollziehbar und transparent wäre die not-
        wendige Lösung.
        Hier müsste die Bundesregierung ansetzen: Statt im-
        mer mehr Angaben auf den Fischverpackungen zu plat-
        zieren, müssten diese Angaben übersichtlicher gestaltet
        werden, etwa mit dem Fanggebiet auf einer Landkarte.
        Ein Beispiel: Eine Kennzeichnung des Fanggebiets
        FAO 27 lässt den Kunden nicht sofort nachvollziehen,
        wo der Fisch gefangen wurde, und schon gar nicht, ob in
        diesem Fanggebiet die gekaufte Fischart bereits am
        Limit ist.
        Wir sind generell für mehr Kennzeichnung und vor
        allem Kontrolle der Lebensmittel. Die Konsumenten
        müssen verlässlich nachvollziehen können, woher das
        Produkt stammt und welchen weiteren Weg es nach dem
        Fang noch genommen hat. Diese Kennzeichnung muss
        auch für Informationen auf den Fischverpackungen gel-
        ten. Und das Ganze muss verständlich, nachvollziehbar
        und transparent sein. Nur dann macht eine ausführliche
        Kennzeichnung auch Sinn.
        Bessern Sie also in diesem Sinne das Gesetz nach. So
        geht es zwar in die richtige Richtung, greift aber viele
        wichtige Punkte für die Verbraucherinnen und Verbrau-
        cher nicht ausreichend auf. Wir werden daher mit Ent-
        haltung stimmen.
        Anlage 21
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
        gebrachten Entwurfs eines Neunten Gesetzes
        zur Änderung des Weingesetzes (Tagesord-
        nungspunkt 23)
        Kordula Kovac (CDU/CSU): Wir wollen heute er-
        neut über eine Novellierung des Weingesetzes beraten
        und beschließen. Wein in Deutschland hat eine lange
        Tradition. Dass Tradition aber nichts mit altmodisch zu
        tun hat, durfte ich in meiner Heimat erfahren. Gerade in
        diesem Jahr wurden dort die badischen Winzer von
        CreatiWi aus Sasbachwalden als beste Jungwinzerverei-
        nigung ausgezeichnet. Für diese jungen Menschen ist
        Tradition vor allem der eigene Anspruch an qualitativ
        hochwertige Produkte und gelebte Winzerleidenschaft.
        Es ist unsere Aufgabe als Bundestagsabgeordnete,
        Vorgaben aus Brüssel so umzusetzen, dass wir den euro-
        päischen Wünschen entsprechen und gleichzeitig unsere
        traditionsreiche deutsche Weinbaukultur schützen. Das
        überarbeitete Genehmigungssystem für Neuanpflanzun-
        gen von Weinreben in der Novelle des Weingesetzes ist
        notwendig geworden, um auf ein Überangebot des
        Marktes reagieren zu können.
        Das neue Genehmigungsverfahren betrifft vor allem
        Neuanpflanzungen, die nun unter besonderen Vorausset-
        zungen in ganz Deutschland zu ermöglichen sind. Waren
        die Verhandlungen auf Grundlage der EU-Vorlagen bei
        den vorangegangenen Abstimmungen doch immer rela-
        tiv harmonisch, so haben wir diesmal mehr Diskussions-
        bedarf gehabt.
        Auf den Punkt gebracht: Eine solche Gesetzesände-
        rung ruft vor Ort bei den Betroffenen immer Unsicher-
        heiten hervor. Dass es zudem nie einfach ist, es allen
        recht zu machen, zeigt sich auch bei diesem Thema.
        Denn sowohl im Bundesrat als auch hier im Hohen
        Hause wurde die Debatte kontroverser geführt, als man
        es in der Vergangenheit gewohnt war. Zu verschieden
        waren die Positionen der betroffenen Bundesländer und
        ihrer Abgeordneten.
        Ganz deutlich: Ein Bundesgesetz zu verabschieden,
        das die einheitliche Grundlage für Bundesländer mit sol-
        11254 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
        (A) (C)
        (D)(B)
        chen grundverschiedenen Voraussetzungen in der Sache
        beinhalten soll, erweist sich per se als äußerst schwierig.
        Lebhaft zu ging es bei dem Wert der zur Verfügung
        stehenden Genehmigungen für Neuanpflanzungen für
        die Jahre 2016 und 2017: Von 1 Prozent bis 0,1 Prozent
        gab es die verschiedensten Forderungen seitens der Bun-
        desländer, der Berufsverbände, aber auch innerhalb der
        Kollegen über die Fraktionsgrenzen hinweg. Dies sorgte
        vor allem bei unseren Winzern für Unsicherheit. Deshalb
        war und ist es wichtig, dass wir uns auf einen Wert von
        0,3 Prozent verständigen konnten. Gleichzeitig haben wir
        dem Wunsch der Länder mit kleineren Anbauregionen
        Rechnung getragen. Für diese soll es eine Sonderregelung
        geben, die einen aus betriebswirtschaftlichen und ver-
        waltungstechnischen Gründen notwendigen Mindestan-
        teil an den Neupflanzungen bis zu 5 Hektar sichern soll.
        Politik ist immer eine Abwägung von Interessen und
        deshalb oft verbunden mit der Findung von Kompromis-
        sen. Mit der neuen Regelung ist uns, denke ich, ein guter
        und gerechter Interessenausgleich zwischen kleinen und
        großen Anbaugebieten gelungen. So trägt diese Lösung
        der sensiblen Marktlage Rechnung. Niemand will, dass
        der deutsche Wein als Discountprodukt unter Wert ge-
        handelt wird.
        Die Zulassung neuer Anpflanzungen muss sich an
        den langfristigen Entwicklungen der Märkte orientieren.
        Kurzfristige Ansätze sind hier keine Lösung. Ein vorläu-
        figer Wert von 0,3 Prozent ist ein guter Kompromiss. Ei-
        nerseits wird beachtet, dass das Angebot auf Kosten des
        Preises nicht zu sehr steigen darf. Andererseits wird ge-
        währleistet, dass je nach Bedarf und Marktanteil eine
        Steigerung der Anbaufläche generell möglich ist.
        Als Prioritätskriterien haben wir verankert, dass vor-
        rangig zu bescheidende Anträge mit einer Beantragung
        von Flächen in der Steillage berücksichtigt werden.
        Diese Stellungen stehen für unsere geschlossenen Kul-
        turlandschaften, die unsere deutsche Weinbautradition so
        besonders machen und daher schützenswert sind.
        Einen zweiten großen, wenn auch eher bürokrati-
        schen, Punkt galt es zu klären. Die Zulassungsmodalitä-
        ten – ob ein- oder zweistufig, war die Frage – wollen wir
        praxisnah, aber natürlich auch unter Berücksichtigung
        der Bundes- und Länderkompetenzen umsetzen. Die
        Union spricht sich für ein einstufiges Verwaltungsver-
        fahren zur Beantragung und Genehmigung von Neuan-
        pflanzungen aus. Dies entlastet sowohl Antragsteller als
        auch Landesverwaltungen. Damit haben wir eine gute
        Lösung gefunden; denn ich will, dass sich unsere Winzer
        dem europäischen Wettbewerb weiter auf höchstem Ni-
        veau stellen können.
        Hierfür benötigen sie verlässliche Partner in der Poli-
        tik. Wenn die Auswirkungen der heutigen Beschlüsse
        erst in mehreren Jahren bewertet werden können, kön-
        nen wir so dementsprechend flexibel reagieren. Gerade
        deshalb halte ich es für enorm wichtig, dass wir die
        Möglichkeit einer Nachjustierung mit eingeplant haben,
        wenn uns in zwei Jahren der Bericht der Bundesregie-
        rung zu den Auswirkungen dieses Gesetzes vorliegen
        wird.
        Sowohl im Parlamentarischen Weinforum als auch im
        Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft haben wir
        über dieses Gesetz ausgiebig diskutiert. Wir wissen, dass
        einige Länder, welche noch Nachholbedarf im Weinbau
        sehen, sich größere Anbauflächen für Neuanpflanzungen
        gewünscht hätten. Ich persönlich bin froh und auch den
        Kollegen Berichterstatter aller anderen Fraktionen dank-
        bar, dass sie alle diesen Kompromiss mittragen.
        Mit dieser Novelle wollen wir dafür sorgen, den
        Weinbau in ganz Deutschland in Zukunft weiter konkur-
        renzfähig zu gestalten – im Sinne der Verbraucherinnen
        und Verbraucher, der Winzerinnen und Winzer. Dafür
        bitte ich Sie alle um Ihre Zustimmung.
        Mehr als 400 Jahre vor Christus sagte Euripides einst:
        „Wo der Wein fehlt, stirbt der Reiz des Lebens.“
        Gustav Herzog (SPD): Seit mehr als 20 Jahren ist
        die Weinbaupolitik in Deutschland auf Qualität statt
        Menge ausgerichtet. Wir haben nur begrenzt geeignete
        Fläche für den Qualitätsanbau. Wir haben einen eher zu-
        rückgehenden Weinkonsum, und trotz der Exporterfolge
        und der Wettbewerbsfähigkeit unserer Weinwirtschaft
        gibt es keinen Anlass für eine gewollte stetige Mengen-
        steigerung.
        Die EU-Politik ist widersprüchlich: Bei der vorletzten
        Reform gab es Rodungsprämie und, statt rektifiziertes
        Traubenmostkonzentrat oder Destillation, Geld für Mar-
        keting und die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit
        im Wingert, Weinkeller und der Vinothek.
        Dann die EU-Entscheidung für Flächenausweitung.
        In Mainzer Weingipfeln haben Weinwirtschaft, Bund
        und Länder immer wieder einmütig ihre Position gegen-
        über der Europäischen Union bekräftigt. Trotzdem hat
        die EU unser strengstes Wiederbepflanzungsregime kas-
        siert und uns eine Flächenausweitung aufgezwungen.
        Mit der 9. Änderung des Weingesetzes gehen wir an
        die Umsetzung. Strittig war vor allem eins: die Größe
        des Flächenzuwachses. Im Regierungsentwurf war eine
        Begrenzung der Neuanbaufläche von jährlich 0,5 Pro-
        zent vorgesehen. Das war für die kleinen Weinanbaulän-
        der zu wenig und für die großen viel zu viel.
        Wir dürfen aber nicht vergessen: 3 000 Hektar Wie-
        derbepflanzungsrechte im Bestand sind eine Aufforde-
        rung zur Vorsicht. Zurückgehender Konsum und Export
        könnten die Erzeugerpreise gefährden. Das wollen wir
        nicht riskieren!
        Die SPD-Bundestagsfraktion hat sich deshalb immer
        für einen behutsamen Start bei den Neuanpflanzungen in
        den kommenden Jahren 2016 und 2017 ausgesprochen.
        Dem stimmten auch die wichtigsten deutschen Weinbau-
        länder und der Deutsche Weinbauverband, DWV, zu.
        Deshalb hat die SPD-Bundestagsfraktion eine Begren-
        zung auf 0,3 Prozent pro Jahr gefordert. Das sind immer-
        hin 300 Hektar in ganz Deutschland. Bei einem maxima-
        len Ertrag von 200 Hektolitern Wein pro Hektar sind das
        6 Millionen Liter Wein. Eine spürbare Steigerung bei ei-
        nem durchschnittlichen Konsum von rund 24 Litern pro
        Kopf und Jahr in Deutschland.
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        Deshalb haben wir uns in allen Fraktionen – die einen
        gut, die anderen weniger gut – und in Absprache mit
        dem Bundesministerium für Ernährung und Landwirt-
        schaft auf einen Kompromiss geeinigt. Dieser sieht eine
        Begrenzung von 0,3 Prozent pro Jahr und eine Sonderre-
        gelung für alle Anbauländer vor. Diese haben vorab je-
        weils 5 Hektar ihres Gebiets für Neuanpflanzungen re-
        serviert.
        Begrüßt wird von der SPD-Bundestagsfraktion die
        eindeutige Priorisierung der Steillage bei Neuanpflan-
        zungen. Das einzigartige Kulturgut prägt die Landschaft
        in vielen Weinanbaugebieten, wie zum Beispiel an der
        Mosel.
        Ebenfalls gibt es Änderungen im Genehmigungsver-
        fahren für Neuanpflanzungen. Winzer stellen nun nur
        noch einen Antrag bei der Bundesanstalt für Landwirt-
        schaft und Ernährung, BLE, und nicht, wie zunächst vor-
        gesehen, noch zusätzlich bei der zuständigen Landesbe-
        hörde.
        Um Anfang 2017 auf empirischer Grundlage weiter
        über eine Begrenzung ab 2018 entscheiden zu können,
        fordert die SPD von der Bundesregierung einen Bericht
        über die Auswirkungen der Wieder- und Neuanpflanzun-
        gen auf den deutschen Weinbau und die Handhabung des
        Genehmigungsverfahrens.
        Mit unserer Entschließung wollen wir die Bundesre-
        gierung unterstützen, die europäische Weinbaupolitik
        wieder auf den Weg eines qualitätsorientierten nachhalti-
        gen Weinbaus zu bringen. Die Einstimmigkeit bei der
        Abstimmung gestern im Ausschuss zeigt, dass wir mit
        dem Gesetzentwurf auf dem richtigen Weg sind. Wir ha-
        ben es geschafft, die Wünsche der Anbauländer zu be-
        rücksichtigen.
        Für die SPD ist wichtig, dass nach den Differenzen
        um die Anpflanzungsquote wieder die Gemeinsamkeit
        der Weinanbaugebiete und der Bundestagsfraktionen ge-
        funden wird.
        Roland Claus (DIE LINKE): Ich freue mich, dass
        wir auch diesmal wieder – altem Brauch folgend – in Sa-
        chen Weingesetz so lange verhandelt haben, bis ein ein-
        vernehmlicher Kompromiss zustande gekommen ist.
        Dafür möchte ich mich bei der Mitberichterstatterin und
        den Mitberichterstattern wie auch bei den Mitgliedern
        im Parlamentarischen Weinforum herzlich bedanken.
        Als Vertreter der beiden ostdeutschen Weinbauregio-
        nen Saale/Unstrut in Sachsen-Anhalt und Thüringen so-
        wie Meißen an der Elbe in Sachsen habe ich mich zu-
        nächst – das will ich hier nicht verhehlen – für eine
        Zuwachsmöglichkeit von 0,5 Prozent, gleich 500 Hektar,
        der Rebfläche eingesetzt. In Sachsen gab es gar ein Inte-
        resse an 1 Prozent. Nun haben wir uns auf 0,3 Prozent
        geeinigt, und das ergibt eine akzeptable Balance zwi-
        schen dem für die jeweiligen Weinbaugebiete aufge-
        schlüsselten Wachstum und der Verhinderung eines dro-
        henden Überangebots an Wein. Besonders wichtig für
        die beiden ostdeutschen Weinbaugebiete ist die mit dem
        Änderungsantrag gefestigte Priorisierung des Weinan-
        baus in der Steillage, denn fast aller Weinanbau dort fin-
        det in der Steillage statt. Wir unterstützen daher nach-
        drücklich eine Politik, die diese Form des Weinanbaus
        als Teil einer besonderen Kulturlandschaft für schützens-
        wert hält und ein Abwandern des Anbaus von der Steil-
        lage in die Flachlage zu verhindern sucht.
        Angesichts der guten Erfahrungen, die wir mit dem
        engagierten Aushandeln günstiger Bedingungen für den
        Weinanbau gemacht haben, schlagen wir Linken vor,
        diese auch einmal auf andere Kulturlandschaften und
        Agrarprodukte zu übertragen, zum Beispiel auf die
        Milch und auf die Landschaften, in denen sie produziert
        wird.
        Zum Wein zurück: Wir Linken haben – ich habe vor
        vielen Jahren an dieser Stelle schon einmal Bezug darauf
        genommen – einen Ahnherrn, der sich auch in der kom-
        plexen Problematik des Weinanbaus und des Weingenus-
        ses bestens auskannte: Friedrich Engels. Er erinnerte im
        Februar 1876 in einem Zeitungsartikel daran, dass ernst-
        liche und besonders erfolgreiche Aufstände nur in Wein-
        ländern oder in solchen deutschen Staaten vorkamen, die
        sich durch Zölle vor den verheerenden Wirkungen des
        preußischen Kartoffelschnapses geschützt hatten.
        Lassen Sie uns also den Weinanbau auch weiter be-
        fördern. Und vielleicht macht ja die gemeinsame Suche
        nach einvernehmlichen Lösungen im Parlament noch
        Schule.
        Markus Tressel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der
        Weinbau ist gerade für ländliche Regionen ein bedeuten-
        der Wirtschaftszweig. Der hochqualitative Wein aus
        Deutschland wird mittlerweile weltweit geschätzt und
        erzielt Preise, von denen unsere Winzerinnen und Win-
        zer leben können. Der Weinbau ist längst auch bedeuten-
        der Tourismusfaktor: Seit Jahren erfreut sich der Wein-
        tourismus wachsender Beliebtheit. Besucherinnen und
        Besucher schätzen die Kulturlandschaften mit ihren
        Weinbergen, Steilterrassen und Trockenmauern und ge-
        nießen die besondere Lebensqualität, die wir mit Wein
        verbinden. Die Qualität des Weins ist also der entschei-
        dende Faktor für die regionale Wertschöpfung durch
        Weinbau. Für uns gilt also der einfache Grundsatz:
        Klasse statt Masse.
        Diesem Grundsatz sind wir in der Weinpolitik ver-
        pflichtet. Wir verfolgen das gemeinsame Ziel, die Quali-
        tät des Weins aus Deutschland zu fördern. Es gilt, die
        Weinpreise stabil zu halten, um unseren Winzerinnen
        und Winzern im Wettbewerb den Rücken stärken. So
        können wir attraktive Arbeitsplätze in den Regionen er-
        halten und auch die prägende Kulturlandschaft schützen.
        Heute geht es um eine Frage, die die Weinbauregio-
        nen seit langem beschäftigt. Der europaweite Anbau-
        stopp für Reben wird durch die EU-Kommission zum
        1. Januar 2016 abgeschafft. Die Rebfläche darf jährlich
        um 1 Prozent ausgeweitet werden, wenn wir nicht bun-
        desweit eine strengere Regelung finden. Diese Entschei-
        dung hat große Bedeutung für betroffene Weinbauregio-
        nen, die eine starke Ausweitung der Rebflächen und
        damit einen Preisverfall für die Winzerinnen und Winzer
        befürchten.
        11256 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
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        Vorneweg: Wir sind mit dem Ergebnis sehr zufrieden.
        Wir haben es geschafft, uns – wie in der Weinpolitik üb-
        lich – auf einen gemeinsamen Weg zu einigen, der der
        Wichtigkeit dieser Entscheidung gerecht wird. Wir ha-
        ben uns interfraktionell auf eine Beschränkung der Neu-
        bepflanzungen auf 0,3 Prozent geeinigt. Aber – und das
        richtet sich besonders an die Kolleginnen und Kollegen
        der CDU/CSU-Fraktion – das hätten wir auch leichter
        haben können. Denn vor diesem guten Kompromiss ha-
        ben wir einige Extrarunden zurücklegen müssen: 0,3
        oder 0,5 Prozent? Ein- oder zweistufiges Verwaltungs-
        verfahren? Lange schien hier die Position der Koali-
        tionsfraktionen nicht ganz eindeutig zu sein. Aber was
        lange währt, wird endlich gut.
        Denn das Endergebnis ist ganz in unserem Sinne. Von
        Beginn an hatten wir neben den 0,3 Prozent zur Be-
        schränkung der Neubepflanzungen auch ganz praktisch
        eine Entlastung der Winzerinnen und Winzer gefordert.
        Der ursprüngliche Gesetzentwurf sah ein zweistufiges
        Verfahren vor. Die Winzerinnen und Winzer hätten also
        einen Antrag bei einer Landesbehörde und einen beim
        Bund stellen müssen – für ein und denselben Vorgang!
        Für uns bedeutet Entlastung eben auch: Weniger büro-
        kratische Anforderungen für diejenigen, die den guten
        Wein anbauen und produzieren. Hier waren die Koali-
        tionsfraktionen wenig gesprächsbereit. Umso überrasch-
        ter waren wir, als im letzten Änderungsantrag das einstu-
        fige Verfahren auf einmal aufgetaucht ist. Das begrüßen
        wir sehr! Denn das einstufige Verfahren bei der BLE
        vermeidet doppelten Aufwand – auch übrigens aufseiten
        der Verwaltungen der weinbauenden Bundesländer.
        Ich bin mir sicher, dass wir auch weiterhin politisch
        immer wieder auf den gemeinsamen Weg in der Wein-
        politik zurückfinden. Das Wichtigste ist jetzt ein starkes
        gemeinsames Signal in diese Richtung aus dem Bundes-
        tag. Denn wir müssen den Winzerinnen und Winzern die
        Sorge nehmen, die Preise könnten verfallen. Ein behut-
        samer Einstieg in das neue Genehmigungssystem ist vor
        diesem Hintergrund richtig. Daher begrüßen wir auch
        die gemeinsame Entschließung zur Evaluation in zwei
        Jahren und den Auftrag, besonders die Steillagen zu
        schützen. Denn alle Weinpolitikerinnen und Weinpoliti-
        ker hier im Bundestag wollen eine ungehemmte Auswei-
        tung der Rebflächen verhindern, wollen die Kulturland-
        schaften schützen, wirtschaftliche Potenziale heben und
        die Winzerinnen und Winzer stärken.
        Peter Bleser, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
        ministerium für Ernährung und Landwirtschaft: Die zur
        Entscheidung anstehende Änderung des Weingesetzes
        hat die betroffenen Winzer und Winzerinnen, aber auch
        die interessierten Landes- und Bundesverwaltungen und
        nicht zuletzt auch die Agrarpolitiker dieses Hohen Hau-
        ses intensiv beschäftigt. Ich freue mich, dass es nach lan-
        gen Diskussionen, in die sich auch Herr Bundesminister
        Schmidt noch einmal persönlich eingebracht hat, gelun-
        gen ist, eine sachgerechte Entscheidung zu finden, die
        aller Voraussicht nach auch so vom Bundesrat akzeptiert
        wird.
        Letztlich ist es im Sinne aller Beteiligten, dass bald
        Klarheit über Inhalt und Verfahren bei der Umsetzung
        des EU-Genehmigungssystems für Rebpflanzungen zum
        1. Januar 2016 herrscht. Es geht vor allem darum, die
        hohe Qualität des deutschen Weinbaus zu sichern und
        dabei ein moderates, nachhaltiges Wachstum des Wein-
        marktes zu ermöglichen. Deutscher Wein wird bei unse-
        ren Verbrauchern, aber auch im Ausland immer belieb-
        ter. Darauf sollten unsere Erzeuger reagieren können.
        Eile ist geboten, um sicherzustellen, dass – entspre-
        chend dem EU-Recht – alte Wiederanpflanzungsrechte
        ab dem 15. September 2015 in Genehmigungen umge-
        wandelt werden können. Deshalb ist es sehr gut, wenn es
        zu einem Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens vor
        der Sommerpause kommt.
        Aus Zeitgründen möchte ich nur die zentralen Punkte
        des Gesetzentwurfs erläutern:
        Erstens. Obergrenze bei Neuanpflanzungen. Nach
        dem Entwurf werden in den ersten beiden Jahren, das
        heißt 2016 und 2017, 0,5 Prozent der deutschen Rebflä-
        che für Neuanpflanzungen vorgesehen. Der Ernährungs-
        ausschuss empfiehlt nun, die Obergrenze auf 0,3 Prozent
        für zwei Jahre abzusenken, um so der Sorge, dass ein zu
        starkes Anwachsen der Weinanbaufläche zu Marktstö-
        rungen führt, Rechnung zu tragen. Diese Sorgen werden
        insbesondere im größten Weinanbauland Rheinland-
        Pfalz artikuliert. Die vom Ernährungsausschuss eben-
        falls empfohlene Sonderregelung soll sicherstellen, dass
        in jedem Flächenland zumindest 5 Hektar Neuanpflan-
        zungen genehmigt werden können. Dies ist Vorausset-
        zung dafür, dass kleinere Anbaugebiete wie zum Bei-
        spiel Sachsen oder Saale-Unstrut am Ende nicht leer
        ausgehen.
        Es wird sich zeigen, ob, wann und inwieweit die
        Obergrenze von 0,3 Prozent in den kommenden Jahren
        verändert werden muss. Ich versichere Ihnen, dass das
        Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft
        die Marktsituation genau beobachten wird.
        Zweitens. Prioritätskriterien. In dem Gesetzentwurf
        ist vorgesehen, dass Neuanpflanzungsanträge in der
        Steillage gegenüber Anträgen in der Flachlage bevorzugt
        werden. Weitere Kriterien sollen derzeit nicht festgelegt
        werden. Auch hier sind aber Anpassungen in der Zu-
        kunft möglich, wenn dies aufgrund der Praxis der ersten
        beiden Jahre mit dem neuen Genehmigungssystem ange-
        zeigt ist.
        Eine Verlagerung des Anbaus aus der Steillage in die
        Flachlage kann zwar nicht völlig unterbunden, aber doch
        erschwert werden. In dem Gesetzentwurf ist vorgesehen,
        dass Antragsteller, die bei ihrem Antrag angeben, dass
        die Neuanpflanzung in der Steillage erfolgt, sich ver-
        pflichten müssen, die betroffene Fläche innerhalb eines
        Zeitraums von sieben Jahren nicht zu roden oder wieder
        zu bepflanzen. Für den Fall, dass gar keine Anpflanzung
        erfolgt, wird dies mit einer Strafe belegt. Unabhängig
        davon wird sich die Bundesregierung weiterhin dafür
        einsetzen, dass die EU-rechtlichen Regelungen in Zu-
        kunft so ausgestaltet werden, dass der – auch kulturell –
        bedeutsame Steillagenweinbau erhalten bleibt.
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11257
        (A) (C)
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        Drittens. Zuständigkeit für das Verfahren bei Neuan-
        pflanzungen. Der Gesetzentwurf sieht vor, dass die Ar-
        beitslast zwischen Bund und Ländern verteilt wird – „ge-
        stuftes Verfahren“). Der Ernährungsausschuss fordert
        nun in Übereinstimmung mit dem Bundesrat und der ge-
        samten Weinwirtschaft, dass ausschließlich die Bundes-
        anstalt für Landwirtschaft und Ernährung, BLE, für das
        Genehmigungsverfahren bei Neuanpflanzungen zustän-
        dig sein soll. Dies hat den Vorteil einer unbürokratischen
        Regelung, da nun nur noch ein Antrag zu stellen ist.
        Ich verhehle nicht, dass die Bundesregierung das ge-
        stufte Verfahren für das bessere hält. Die Feststellung, ob
        nun eine beantragte Neuanpflanzungsfläche wirklich in
        der Steillage liegt oder nicht, kann besser von den orts-
        nahen Landesbehörden getroffen werden. Im Übrigen
        sind ja grundsätzlich auch die Länder für die Durchfüh-
        rung agrarrechtlicher Regelungen in Deutschland zu-
        ständig.
        Letztlich kann sich die Bundesregierung aber nicht
        davor verschließen, dass eine Einigung mit dem Bundes-
        rat ohne ein Zugeständnis in dieser Frage wohl kaum zu
        erreichen ist. Bleibt also noch der Appell an Sie, liebe
        Kolleginnen und Kollegen: Helfen Sie mit, die zur Um-
        setzung nun erforderlichen Stellen für die BLE im Rah-
        men des parlamentarischen Verfahrens zur Haushaltsauf-
        stellung 2016 zu schaffen. Ohne diese zusätzlichen
        Stellen ist die BLE nicht in der Lage, diese zusätzlichen
        Arbeiten zu leisten.
        Abschließend bitte ich Sie um Zustimmung zu dem
        aus Sicht der Bundesregierung ausgewogenen Gesetz-
        entwurf nach Maßgabe der Beschlussempfehlung des
        Ausschusses für Ernährung und Landwirtschaft.
        Anlage 22
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung
        eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
        Änderung des Häftlingshilfegesetzes und zur
        Bereinigung des Bundesvertriebenengesetzes
        (Tagesordnungspunkt 24)
        Heinrich Zertik (CDU/CSU): Wir beraten heute ab-
        schließend das Häftlingshilfegesetz, HHG. Dieses Ge-
        setz wurde 1955 mit der Absicht eingeführt, Menschen
        für ihr furchtbares Kriegsfolgeschicksal zu entschädi-
        gen, welches sie schuldlos und wehrlos den kommunisti-
        schen, sozialistischen oder stalinistischen Regimen aus-
        geliefert hatte. Davon betroffen waren Menschen, die
        aus politischen Gründen nach dem Zweiten Weltkrieg
        inhaftiert oder deportiert wurden, weil sie bei der Errich-
        tung der kommunistischen Systeme in Osteuropa unbe-
        quem oder hinderlich waren. Das ist sehr milde ausge-
        drückt. Dahinter verbirgt sich unermessliches Leid,
        welches Hunderttausende von Familien erlitten haben.
        Mit Geld ist das eigentlich gar nicht wiedergutzuma-
        chen.
        Es ist fast 75 Jahre her, dass Wolgadeutsche nach Si-
        birien, an den Ural oder nach Kasachstan – so wie es
        auch meine Familie erlebt hat – deportiert wurden. Ru-
        mäniendeutsche wurden noch 1951 aus den Grenzgebie-
        ten Rumäniens und Ex-Jugoslawiens in die Baragan-
        steppe deportiert. Von ihnen sind heute noch einige
        Tausend übrig, die diese schrecklichen Ereignisse am ei-
        genen Leib erfahren haben.
        Im Erlass des Obersten Sowjets der UdSSR vom
        28. August 1941 heißt es: „… hat das Präsidium des
        Obersten Sowjets der UdSSR es für notwendig befun-
        den, die gesamte deutsche Bevölkerung, die in den
        Wolga-Rayons ansässig ist, in andere Rayons umzusie-
        deln, und zwar derart, dass den Umzusiedelnden Land
        zugeteilt und bei der Einrichtung in den neuen Rayons
        staatliche Unterstützung gewährt werden soll. Für die
        Ansiedlung sind die an Ackerland reichen Rayons der
        Gebiete Nowosibirsk und Omsk, der Region Altaj, Ka-
        sachstans und weitere benachbarte Gegenden zugewie-
        sen worden. Im Zusammenhang damit ist das Staatliche
        Verteidigungskomitee angewiesen worden, die Umsied-
        lung aller Wolgadeutschen und die Zuweisung von
        Grundstücken und Nutzland an die umzusiedelnden
        Wolgadeutschen in den neuen Rayons unverzüglich in
        Angriff zu nehmen.
        Der Vorsitzende des Präsidiums des Obersten Sowjets
        der UdSSR
        gez. M. Kalinin
        Der Sekretär des Präsidiums des Obersten Sowjets
        der UdSSR
        gez. A. Gorkin
        Moskau, Kreml, 28. August 1941“
        Was hier als sachliches, scheinbar gut organisiertes
        Unterfangen beschrieben wird, hat sich oftmals in einer
        Hauruckaktion innerhalb weniger Stunden abgespielt.
        Mitten in der Nacht wurden Familien mit Kindern aus
        ihren Betten gerissen, angewiesen, einige Sachen zu pa-
        cken, und dann auf Viehwaggons verladen. Manche
        konnten nur das mitnehmen, was sie auf dem Leib trugen.
        Was in dem Erlass als Ackerland in Aussicht gestellt
        wurde, entpuppte sich in Wirklichkeit als eine unwirtliche,
        menschenfeindliche Steppe, der ein landwirtschaftlicher
        Ertrag mühsam abgetrotzt werden musste.
        Kann man das finanziell wiedergutmachen? Durch
        das Häftlingshilfegesetz von 1955 hat die damalige Bun-
        desregierung versucht, die Notlage der auch als Zivilde-
        portierte bezeichneten Deutschen östlich der Oder/
        Neiße-Grenze zu lindern. Das Häftlingshilfegesetz galt
        zunächst für ehemalige Sowjetzonenhäftlinge, die als
        Klassenfeinde hingestellt wurden, und Deutsche aus den
        ehemaligen Ostgebieten gleichermaßen. Für ehemalige
        DDR-Häftlinge wurde 1990 das Strafrechtliche Rehabi-
        litierungsgesetz geschaffen und somit eine Unterschei-
        dung getroffen, die zum Teil als ungerecht empfunden
        wurde, weil sie ein Leid gegen das andere stellt.
        Das Häftlingshilfegesetz, über welches wir heute
        sprechen, soll ausdrücklich der Linderung einer Notlage
        dienen. 95 Prozent der 5 000 Anträge, die im Jahr ge-
        stellt werden, werden von Russlanddeutschen und von
        Rumäniendeutschen gestellt, die von den eingangs ge-
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        schilderten Deportationen betroffen waren. Die Stiftung
        für ehemalige politische Häftlinge, StepH, prüft, bear-
        beitet und bewilligt die Anträge, und in der Regel wer-
        den etwa 500 Euro pro Jahr und Antragsteller ausge-
        zahlt. Nur etwa 15 Prozent dieser Anträge sind
        Erstanträge. Bei den anderen handelt es sich um Wieder-
        holungsanträge, die jedes Jahr wieder gestellt werden.
        Die Bundesregierung hat jetzt ein Gesetz vorgelegt,
        mit dem die jährlichen Unterstützungsleistungen durch
        eine abschließende Einmalzahlung beendet werden sol-
        len. Die Stiftung für ehemalige politische Häftlinge hatte
        darauf hingewiesen, dass die Unterstützungsleistung
        nicht als effektive Hilfe von den betagten Berechtigten
        empfunden würde.
        Mir ist bewusst, dass nicht alle dies so sehen. Die
        Landsmannschaft der Deutschen aus Russland macht da-
        rauf aufmerksam, dass „eine kontinuierliche, wenn auch
        nur jährliche Leistung wichtiger als eine Einmalzuwen-
        dung“ sei, weil dadurch die ohnehin meist kleinen Ren-
        ten oder Grundsicherungszuwendungen dauerhaft aufge-
        stockt würden.
        Da die meisten Antragsteller jedoch inzwischen ein
        hohes Alter erreicht haben, scheint es mir sinnvoll zu
        sein, ihnen mit einer Einmalzahlung einen größeren fi-
        nanziellen Spielraum zu verschaffen und ihnen die
        mühselige jährliche Antragstellung zu ersparen. Da die
        Zahlung weder auf die Rente noch auf mögliche Grund-
        sicherungsleistungen angerechnet wird, steht der Betrag
        in vollem Umfang zur Verfügung.
        Im Jahr 2016 sollen in den Bundeshaushalt einmalig
        13,5 Millionen Euro, davon 11,5 Millionen zusätzlich,
        eingestellt werden.
        Es wird damit angestrebt, jedem Antragsteller, dessen
        Antrag positiv beschieden wurde, einmalig etwa 3 000
        Euro auszuzahlen. Das entspricht in etwa dem Betrag,
        der vormals über einen Zeitraum von sechs Jahren von
        der Stiftung für ehemalige politische Häftlinge gewährt
        wurde.
        Das Gesetz sieht die Einführung eines Stichtages in
        § 18 Häftlingshilfegesetz, HHG, vor, sodass Anträge auf
        eine Unterstützungsleistung bei der Stiftung für politi-
        sche Häftlinge faktisch noch bis zum 30. Juni 2016 ge-
        stellt werden können. An den Voraussetzungen für eine
        positive Bescheidung der Anträge ändert sich nichts. Der
        Gesetzgeber führt weiterhin einige Neuerungen ein, die
        das bürokratische Verfahren erleichtern sollen. Demnach
        kann der Stiftungsrat zukünftig die Entscheidung über
        die Anträge teilweise auf den Vorsitzenden des Vorstan-
        des oder dessen Stellvertreter übertragen. Dies bezieht
        sich in erster Linie auf die Wiederholungsanträge und er-
        leichtert das Verwaltungsverfahren.
        Unberührt von den gesetzlichen Änderungen bleibt
        die Tatsache, dass nach wie vor kein Rechtsanspruch auf
        die Förderung nach § 18 HHG besteht. Begünstigte sind
        die ehemaligen politischen Häftlinge und Deportierten,
        die zu der sogenannten Erlebnisgeneration zählen und
        deren Geschichte und deren Schicksal allerhöchsten
        Respekt verdienen.
        Mein Anliegen ist es, dass diese schrecklichen
        Kriegsfolgenschicksale nicht vergessen und die ge-
        schichtlichen Ereignisse aufgearbeitet und der Öffent-
        lichkeit zugänglich gemacht werden. Ein wesentlicher
        Ort des Erinnerns wird die Stiftung Flucht, Vertreibung,
        Versöhnung sein. Die Regierungsparteien von CDU/
        CSU und SPD hatten sich im Koalitionsvertrag 2005 zu
        dieser Stiftung bekannt. Sie ist im Deutschen Histori-
        schen Museum angesiedelt und wird seit 2008 durch den
        Bund gefördert. Ihre Aufgabe besteht darin, als ein „Ort
        lebendigen Gedächtnisses“ zu wirken, und zwar in enger
        Abstimmung mit der oben beschriebenen Erlebnisgene-
        ration, durch Einbeziehung von Einzelschicksalen und
        biografischen Erzählungen. Damit erhalten die histori-
        schen Fakten auch für die jüngere Generation ein Ge-
        sicht.
        Ich werde mich auch weiterhin dafür einsetzen und
        dafür werben, dass es bundesweit Orte des Erinnerns,
        der Aufklärung und der Kommunikation gibt, um gegen
        das Vergessen zu wirken.
        Matthias Schmidt (Berlin) (SPD): Erlittenes Un-
        recht lässt sich nicht finanziell entschädigen. Darüber
        sind wir uns hier im Haus einig. Von Deutschland ausge-
        hend ist allerdings vor mehr als 70 Jahren unsägliches
        Unrecht über Europa und die Welt ausgebreitet worden.
        Wie kann ermessen werden, wie groß das Leid war und
        welche Schäden es im Leben des Einzelnen hinterlassen
        hat?
        Leid ist individuell. Es wird individuell erlebt und
        hinterlässt tiefe Spuren im Leben der Menschen. Wir als
        Bundestagsabgeordnete können das in der Tiefe kaum
        ermessen. Was wir aber können und müssen, ist, Verant-
        wortung zu übernehmen.
        In der Vergangenheit wurden zahlreiche Gesetze er-
        lassen, um eine moralische und finanzielle Wiedergut-
        machung für die Opfer von Unrechtssystemen zu leisten.
        In der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft waren es
        vor allen Dingen die Opfer des Nationalsozialismus, die
        im Blickpunkt einer Entschädigung standen. 1952 wurde
        das Luxemburger Abkommen zwischen der Bundesre-
        publik, Israel und der Jewish Claims Conference be-
        schlossen, das eine erste wichtige Wegmarke setzte. Ihm
        folgten weitere Gesetze und Abkommen wie das wich-
        tige 1956 erlassene Bundesgesetz zur Entschädigung für
        die Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung. Auch
        weitere Jahrzehnte später wurden Gesetze erlassen, die
        den Anspruch der Wiedergutmachung in sich trugen.
        1998 wurden Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege
        aufgehoben, und erst vor kurzem haben wir das Gesetz
        für den Bezug von Renten aus „Ghettobeschäftigungen“
        für Menschen mit Wohnsitz in Polen verbessert. Jede
        Maßnahme, die durch staatliches Unrecht erlittenes Leid
        mindert und die Situation der Menschen verbessert, ist
        auch Jahre später noch richtig und zu begrüßen.
        Auch das vorliegende Gesetz ist von diesem Gedan-
        ken getragen. 1955 wurde das Häftlingshilfegesetz erlas-
        sen. Es richtet sich an Menschen, die in der ehemaligen
        sowjetischen Besatzungszone oder in den ehemaligen
        deutschen Ostgebieten aus politischen Gründen rechts-
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11259
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        staatswidrig in Gewahrsam genommen wurden. Es ist
        ein schweres Schicksal, das diese Menschen erleiden
        mussten, und es war richtig, ihnen bereits in den 50er-
        Jahren diese Unterstützungsleistungen zuteil werden zu
        lassen.
        Seither können sie Leistungen in Höhe von rund
        500 Euro im Jahr erhalten. Die Stiftung für ehemalige
        politische Häftlinge mit Sitz in Bonn übernimmt seit
        1970 die Ausreichung der Mittel. Gut 60 Jahre nach
        Inkraftsetzung des Häftlingshilfegesetzes strebt die Bun-
        desregierung an, das Verfahren zu ändern. Die Antrag-
        steller sind inzwischen zumeist hochbetagt, und die Be-
        lastung, die mit der jährlichen Antragstellung verbunden
        ist, halte ich für unverhältnismäßig. Darum hat nun die
        Bundesregierung eine Regelung vorgeschlagen, die das
        Verfahren deutlich erleichtert. Die jährliche Leistung
        soll in eine Einmalzahlung umgewandelt werden. Das
        heißt, dass anstelle der bisher jährlich neu zu beantra-
        genden rund 500 Euro einmalig die sechsfache Summe,
        nämlich rund 3 000 Euro, als Abschlusssumme geleistet
        wird. Für die Anspruchsberechtigten ist das mit deutlich
        weniger Aufwand und einer höheren finanziellen
        Leistung verbunden. Dabei wird angestrebt, dass die
        Menschen von dieser hohen Einmalzahlung stärker pro-
        fitieren als von den geringeren Jahresbeträgen. Im Bun-
        deshaushalt werden für diese Maßnahme zusätzlich rund
        11,3 Millionen Euro veranschlagt, und ich freue mich,
        dass es gelungen ist, diese nicht unbeträchtliche Summe
        für die Umsetzung des Gesetzesvorhabens bereitzustel-
        len. Ich halte es für eine gute Entscheidung, das Häft-
        lingshilfegesetz in dieser Weise zu verändern und zum
        Abschluss zu bringen.
        Auch 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg tragen
        wir Verantwortung. Verantwortung für Unrecht und
        Leid, das im Namen oder infolge deutscher Unrechts-
        regime begangen wurde. Es ist Ausdruck einer mündi-
        gen demokratischen Gesellschaft, sich dieser Verantwor-
        tung immer aufs Neue zu stellen.
        Ulla Jelpke (DIE LINKE): Die Bundesregierung be-
        antragt eine Änderung des Häftlingshilfegesetzes. Bisher
        müssen die Berechtigten jedes Jahr einen Antrag auf
        Beihilfe stellen, die aber nur 500 Euro beträgt. Diese
        Regelung soll jetzt ersetzt werden durch eine einmalige
        Zahlung von 3 000 Euro.
        Das Gesetz steht jenen Personen offen, die nach der
        Befreiung vom Faschismus von den Sowjetbehörden zu
        Unrecht in Gewahrsam genommen worden waren. Ge-
        genwärtig handelt es sich bei den meisten der rund 5 000
        Antragsteller um Russlanddeutsche bzw. um Rumänien-
        deutsche, die in die Sowjetunion verschleppt worden
        waren. Es liegt auf der Hand, dass eine Beihilfe, die ge-
        rade einmal 500 Euro pro Jahr umfasst, von den Betrof-
        fenen kaum als wirksame Unterstützung wahrgenommen
        wird. Von daher ist es zu begrüßen, dass ihnen die all-
        jährliche Auseinandersetzung mit dem Antragsformular
        erspart wird und sie stattdessen eine Zahlung von 3 000
        Euro erhalten. Problematisch ist aus unserer Sicht aber,
        dass diese Summe als „Abschlusszahlung“ bezeichnet
        wird. Ob sich das für die Betroffenen unterm Strich
        lohnt, hängt damit von ihrer Lebenserwartung ab. Wenn
        man der Auffassung ist, dass die Beihilfe an sich legitim
        und notwendig ist, warum lässt man sie dann auslaufen?
        Dazu hat die Bundesregierung keine Begründung gelie-
        fert.
        Ich möchte die Gelegenheit nutzen, auf einen grund-
        sätzlichen Mangel dieser Regelung hinzuweisen. Natür-
        lich hat es beim Vormarsch der Roten Armee auch Ex-
        zesse und unrechtmäßige Inhaftierungen gegeben. Dass
        die Betroffenen heute eine, wenn auch bescheidene,
        Hilfe erhalten, ist völlig in Ordnung. Bemerkenswert ist
        aber, dass das nur für Deutsche gilt, die Opfer der Roten
        Armee wurden. Menschen, die rechtswidrigem Verhal-
        ten der Wehrmacht oder der Waffen-SS zum Opfer fie-
        len, wie etwa die Einwohner der griechischen Ortschaft
        Distomo, in der die Nazibesatzer ein Massaker verübten,
        haben bis heute nicht einen Cent an Entschädigung be-
        kommen.
        Als Webfehler des Gesetzes sehen wir auch den Aus-
        schluss von Personen, die den sozialistischen Regierun-
        gen Osteuropas „Vorschub geleistet“ haben. Das ist eine
        absolute Gummiformulierung. Während altgediente Na-
        zis nur ausgeschlossen werden, sofern ihnen hieb- und
        stichfest Verbrechen nachweisbar sind, sind etwa Kom-
        munisten, die sich für den Aufbau und den Erhalt der
        DDR eingesetzt haben, von einem prinzipiellen Aus-
        schluss bedroht. Das spiegelt sehr deutlich den antikom-
        munistischen Geist der 1950er-Jahre in der BRD, als
        dieses Gesetz entstanden ist.
        Die Linke wird sich aus den genannten Gründen ent-
        halten.
        Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Im vorliegenden Antrag stellt die Bundesregierung fest,
        dass knapp 70 Jahre nach Beendigung des Zweiten Welt-
        krieges die Empfänger von Unterstützungsleistungen
        nach dem Häftlingshilfegesetz, HHG, im Durchschnitt
        über 80 Jahre alt sind. 95 Prozent dieser Antragsteller er-
        halten nach Angabe der Bundesregierung gemäß den Ar-
        beitsanweisungen der Stiftung für ehemalige politische
        Häftlinge, StepH, eine Unterstützungsleistung in Höhe
        von 500 Euro pro Jahr. Nach Schilderung der StepH
        wird eine Unterstützungsleistung in dieser Höhe aller-
        dings nicht als effektive Hilfe wahrgenommen. Den
        hochbetagten Antragstellern sei es deshalb nicht mehr
        zuzumuten, jedes Jahr erneut diese relativ geringe Leis-
        tung zu beantragen.
        Der Vorschlag der Bundesregierung ist deshalb, durch
        die Änderung des HHG die jährliche Unterstützungsleis-
        tung an ehemalige politische Häftlinge ab 2016 durch
        eine Einmalzahlung zu ersetzen, für die der Bund einma-
        lig 13,5 Millionen Euro – davon 11,5 Millionen Euro zu-
        sätzlich – bereitstellen wird. Durch diese zusätzlichen fi-
        nanziellen Mittel wird die Einmalzahlung deutlich höher
        ausfallen als die bisher jährlich gezahlte Unterstützungs-
        leistung.
        Wir begrüßen den großzügigen Ansatz, dass An-
        spruchsberechtigte vorab für sechs Jahre den ihnen zuste-
        henden Entschädigungs- bzw. Anerkennungsbetrag auf
        11260 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
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        einmal bekommen. Darin sehe ich keinen Grund für eine
        Ablehnung. Insgesamt hätten wir uns aber eine konse-
        quentere Entscheidung, auch mit Blick auf andere
        Opfergruppen, erhofft und hätten eine höhere Zahlung
        begrüßt, weshalb wir uns heute enthalten werden.
        Anlage 23
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Antrags der Fraktionen der
        CDU/CSU und SPD: Energiesteuerermäßigung
        für Erd- und Flüssiggas über 2018 hinaus ver-
        längern (Tagesordnungspunkt 25)
        Steffen Bilger (CDU/CSU): Alternative Antriebe
        sind eine gute, sinnvolle und notwendige Alternative zu
        herkömmlichem Sprit auf Erdölbasis. Um unseren Um-
        welt- und Klimabeitrag im Verkehrsbereich zu erbrin-
        gen, müssen wir dafür sorgen, dass auf Deutschlands
        Straßen weniger CO2 und andere Schadstoffe ausgesto-
        ßen werden. Auch die Lärmemissionen müssen sinken,
        und nicht zuletzt sollten wir unsere Abhängigkeit von
        Ölimporten verringern. Dafür muss der Verbrauch von
        Diesel und Benzin abnehmen. Die sinnvollste Variante
        ist dabei der Elektroantrieb. Er ist leise, stößt lokal keine
        Emissionen aus, kann mit regenerativ erzeugter Energie
        betrieben werden und unterstützt die Weg-vom-Öl-
        Strategie. Da aber E-Fahrzeuge – seien sie batteriebetrie-
        ben oder durch Wasserstoff angetrieben – noch nicht für
        alle Anwendungen nutzbar sind, benötigen wir andere
        Antriebsmöglichkeiten. Dazu gehören Erd-und Flüssig-
        gas. Gasbetriebene Fahrzeuge ermöglichen umwelt- so-
        wie klimafreundlichere Mobilität.
        Um die Gasmobilität voranzutreiben, wurde schon
        vor Jahren mit wichtigen Maßnahmen begonnen. Das
        Tankstellennetz wurde fast flächendeckend ausgebaut
        und die Steuerermäßigung eingeführt. Zusammen mit
        den Fahrzeugherstellern entstand dadurch ein Markt für
        die Kunden. Denn nur wenn auch bei dieser Technik das
        klassische Henne-Ei-Problem gelöst ist, kommen wir bei
        der notwendigen Verbreitung voran. Die Hersteller müs-
        sen Fahrzeuge oder Umrüstmöglichkeiten anbieten, die
        Tankstelleninfrastruktur muss angemessen ausgebaut
        und der Preis des Gases attraktiv sein. Auf die ersten bei-
        den Bedürfnisse hat der Staat wenige Einwirkungsmög-
        lichkeiten, auf letzteres umso mehr. Experten sagen des-
        halb, dass ohne die eingeführte Steuerermäßigung Erd-
        und Flüssiggas für Autos nur noch schwer verkäuflich
        wäre. Daher brauchen wir diese Form der Förderung.
        Das Bundesfinanzministerium macht sich nun sinn-
        vollerweise intensiv Gedanken darüber, wie sich die
        Mindereinnahmen durch Steuerzugeständnisse bei den
        alternativen Kraftstoffen in Zukunft auf den Bundes-
        haushalt auswirken werden. Hierzu wird gerade ein
        Gutachten erarbeitet. Es ist verständlich, dass erst nach
        Abschluss des Gutachtens über die weitere Steuerermä-
        ßigung bei der Gasmobilität Schlussfolgerungen gezo-
        gen werden sollten. Vor allem steht eben die Frage im
        Raum, ob es sie geben wird und, wenn ja, wie eine mög-
        liche Degression der Steuerermäßigung aussehen und bis
        wann diese komplett abgeschmolzen sein wird. Auch
        deshalb ist es gut, dass vertieft und in einem breiteren
        Ansatz über alternative Antriebe geforscht wird.
        Zu Recht wird von der Politik Verlässlichkeit einge-
        fordert. Es kann schließlich nicht sein, dass Rahmen-
        bedingung von heute auf morgen zum Schaden von
        Wirtschaft und Bevölkerung geändert werden. Gelegent-
        lich gibt es gute Gründe dafür, es sollte aber die Aus-
        nahme bleiben. Auch aus diesem Grund ist es wichtig,
        dass spätestens im kommenden Frühjahr die Bundes-
        regierung einen Gesetzentwurf zur Steuerermäßigung
        vorlegt, bei dem dann jeder weiß, woran er ist.
        Potenzielle Käufer, Hersteller und Tankstellenbetrei-
        ber brauchen aber schon jetzt ein Signal, ob die Steuer-
        ermäßigung auch über 2018 hinaus tatsächlich bleiben
        wird. Autos werden gekauft und über Jahre genutzt.
        Wenn eine Gas-Tankstelle überholt bzw. erneuert wer-
        den muss, benötigt der Betreiber Sicherheit, ob er weiter
        in diese Technologie investieren sollte, und die Herstel-
        ler – obwohl sie natürlich international anbieten – sind
        ebenfalls daran interessiert, wie sich der Markt in
        Deutschland aufgrund der steuerlichen Rahmenbedin-
        gungen entwickeln könnte. Überhaupt sollte es unser
        Anspruch im Autoland Deutschland sein, dass wir bei al-
        len Formen der Mobilität der Zukunft in Forschung, Pro-
        duktion und Anwendung vorne mit dabei sind.
        Aus diesen Gründen haben sich die Koalitionsfraktio-
        nen von CDU/CSU und SPD entschlossen, diesen An-
        trag in den Deutschen Bundestag einzubringen. Er for-
        dert die Bundesregierung auf, den Koalitionsvertrag
        umzusetzen. Dort heißt es: „Die bis Ende 2018 befristete
        Energiesteuerermäßigung für klimaschonendes Autogas
        und Erdgas wollen wir verlängern.“ Auch im Nationalen
        Aktionsplan Energieeffizienz des Bundeswirtschafts-
        ministeriums wird die Verlängerung der steuerlichen
        Begünstigung von Erd- und Flüssiggas über das Jahr
        2018 als Maßnahme gelistet. Mit diesem Antrag machen
        wir deutlich, dass der Bund auch weiterhin die Gasmobi-
        lität fördern wird. Alle Beteiligten können sich darauf
        verlassen und entsprechend planen. Wir stehen zur Gas-
        mobilität und wünschen uns ihren Erfolg!
        Danken möchte ich als Verkehrspolitiker an dieser
        Stelle allen Beteiligten aus der Koalition. Der Erfolg hat
        bekanntlich viele Väter. Meine Kollegen aus den
        Bereichen Finanzen, Verkehr, Umwelt und Wirtschaft
        der Koalitionsfraktionen haben den Entstehungsprozess
        konstruktiv begleitet, und auch das zuständige Bundes-
        finanzministerium hat seinen Beitrag geleistet.
        Nun freue ich mich auf die weiteren Beratungen und
        bitte um breite Zustimmung.
        Norbert Schindler (CDU/CSU): Mit dem vorlie-
        genden Antrag der Koalitionsfraktionen wird die Bun-
        desregierung aufgefordert, auch in Zukunft das im Ver-
        kehrssektor verwendete komprimierte und verflüssigte
        Erdgas, CNG/LNG, und Flüssiggas, LPG, mit einem ver-
        günstigten Mineralöl-(Energiesteuer-)satz zu belegen.
        Ziel dieser Maßnahme ist es, die derzeitige Konkurrenz-
        fähigkeit der mit CNG und LPG betriebenen Kfz mit den
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        konventionell betriebenen (Otto- und Dieselmotoren)
        beizubehalten.
        Die Gründe für diesen Vorstoß mit dem heutigen An-
        trag sind vielschichtig; ich möchte hier einige heraus-
        greifen:
        Für das Gelingen der Energiewende und das Errei-
        chen der Klimaziele sind nicht nur Treibhausgasminde-
        rungen im Bereich der Energieerzeugung – wie gestern
        von der Großen Koalition beschlossen – notwendig, son-
        dern gerade auch im Verkehrssektor, der für circa
        17 Prozent der Treibhausgasemissionen in Deutschland
        (159 Millionen Tonnen) verantwortlich ist. Durch die
        Zunahme des Individual- und Güterverkehrs in Deutsch-
        land werden sich diese Emissionen in Zukunft mit kon-
        ventionellen Kraftstoffen nicht reduzieren lassen. Des-
        halb brauchen wir im Verkehrssektor einen Energiemix,
        zu dem eben auch verflüssigte Gase für Verbrennungs-
        motoren gehören.
        Die Beibehaltung der Steuerermäßigung für Erd-
        und Flüssiggas für einen zu definierenden Zeitraum
        soll Motivation für Innovationen in diesem Bereich
        sein. So entfallen heute zwar nur circa 0,3 Prozent des
        Energieverbrauchs des Verkehrssektors auf Erdgas (circa
        100 000 Pkw), das eine deutlichere THG-Minderung
        aufzuweisen hat als LPG; jedoch ist der mögliche mittel-
        fristige Marktanteil auf das 12- bis 15-Fache prognosti-
        ziert. Ein derartiger Zuwachs könnte zu einer signifikan-
        ten Reduzierung der Emissionen um circa 1 Million
        Tonnen pro Jahr führen.
        Gerade die jetzt anlaufende Herstellung von Methan
        mittels der Power-to-Gas-Technologie oder die Beimi-
        schung von Biogas als erneuerbare Energieträger ma-
        chen den Erdgaseinsatz noch vorteilhafter. Da die Pro-
        duktion jedoch derzeit noch deutlich teurer ist als die
        Fragmentierung von Erdölprodukten, muss ein deutli-
        cher steuerlicher Abstand beibehalten bleiben.
        Erdgas gilt auch als alternativer Kraftstoff für den
        Ziel- und Quellverkehr, für den Elektrofahrzeuge auf-
        grund der Reichweite nicht eingesetzt werden können.
        Darüber hinaus wird auch der Einsatz von Erdgas als Al-
        ternative zu Diesel im Straßentransport im Rahmen der
        Mobilitäts- und Kraftstoffstrategie, MKS, der Bundesre-
        gierung vorbereitet. Die entsprechende Initiative Erdgas-
        mobilität muss durch Beibehaltung von günstigen Steu-
        ersätzen flankiert werden.
        Neben dem Lkw-Bereich, in dem der Einsatz von gas-
        betriebenen Fahrzeugen erst anläuft, kann schon auf
        langjährige Erfahrungen bei Bussen zurückgeblickt wer-
        den. Auch hier sind (Bio-)Erdgasfahrzeuge eine gute Al-
        ternative insbesondere für die Innenstädte, da die direk-
        ten Abgasemissionen deutlich niedriger sind als bei
        Dieselfahrzeugen und zudem Feinstaubemissionen nicht
        mittels teurer Technik bekämpft werden müssen, da sie
        nahezu vollständig ausbleiben.
        Mit der geforderten Verstetigung der Steuerminde-
        rung für den Einsatz von Erd- und Flüssiggas in Fahr-
        zeugen vermeiden wir eine Erosion des Gastankstellen-
        netzes. Durch den Teufelskreis wenige Fahrzeuge
        (Kunden), wenig Umsatz, hohe Wartungs- und Instand-
        haltungskosten, Abbau der Kapazitäten, weniger Fahr-
        zeuge ist für viele Unternehmen das Betreiben der Gas-
        tankstellen unattraktiv geworden. Auch das möchten wir
        mit dieser Initiative stoppen, und wir hoffen, dass die
        Tankstellenbetreiber dies als Signal für einen Ausbau
        des Netzes werten.
        Nicht zuletzt wollen wir die in- und ausländischen
        Kfz-Hersteller hiermit motivieren, mehr Fahrzeug-
        varianten mit Gasbetrieb herzustellen und zu vertreiben.
        Wird die Flotte attraktiver, ist auch der Anreiz zum Er-
        werb eines Fahrzeugs mit Gastank – trotz Mehrkosten in
        der Beschaffung – vorteilhaft, da die Gesamtkosten im
        Lebenszyklus des Kfz, TCO – Total Cost of Ownership,
        durchaus mit konventionell betriebenen Fahrzeugen
        konkurrenzfähig sind.
        Nach den Erfolgen eines deutschen Premiumherstel-
        lers mit erdgasbetriebenen Fahrzeugen kündigten wei-
        tere an, dieses Segment ebenfalls bedienen zu wollen.
        Und auch die Importeure ziehen nach. Ich kann nur sa-
        gen: Weiter so!
        Das Potenzial der Energieträger CNG und LPG, zu ei-
        ner nachhaltigen Energieversorgung im Straßenverkehr
        beizutragen, ist noch lange nicht ausgeschöpft. Gerade
        hinsichtlich der Dekarbonisierung im Verkehrssektor ist
        der Einsatz dieser Energieträger auch mittelfristig not-
        wendig und muss schnellstmöglich auf den Straßentrans-
        port ausgeweitet werden. Die größtmögliche Reduzie-
        rung der Treibhausgas- und Schadstoffemissionen kann
        in diesem Sektor erfolgen, wenn erneuerbare Energien
        bei der Herstellung dieser Energieträger Verwendung
        finden.
        Die Vorteilhaftigkeit insbesondere von (Bio-)Erdgas
        wird nur noch von Biokraftstoffen übertroffen, die direkt
        oder als Beimischung zu Benzin oder Diesel in Verbren-
        nungsmotoren eingesetzt werden. Auch hier ist eine hö-
        here Beimischungsquote durchaus denkbar, zum Bei-
        spiel die Erhöhung auf E 20 (20 Prozent Bioethanol im
        Benzin) als weiterer Baustein, um die nationalen Klima-
        ziele auch im Verkehrssektor zu erreichen.
        Mit dem Antrag der Koalitionsfraktionen, die Ener-
        giesteuerermäßigung für Erd- und Flüssiggas – gegebe-
        nenfalls differenziert – über 2018 hinaus zu verlängern,
        haben wir heute die steuerpolitische Richtung vorgege-
        ben. Die Umsetzung wird im Frühjahr nächsten Jahres
        erfolgen, nachdem das Ergebnis des Forschungsvorha-
        bens zur Entwicklung der Energiesteuereinnahmen im
        Kraftstoffsektor ausgewertet worden ist.
        Ich werde mich dafür einsetzen, dass wir eine Rege-
        lung mit Augenmaß erhalten, mit der alle Beteiligten gut
        leben können. Dabei werde ich weder das nationale Kli-
        maziel noch das Ziel der Haushaltsneutralität aus den
        Augen verlieren.
        Christian Petry (SPD): Heute beraten wir einen An-
        trag der Koalitionsfraktionen zur Verlängerung der be-
        stehenden Energiesteuerermäßigung für Erd- und Flüs-
        siggas. Bevor ich auf inhaltliche Details zu sprechen
        komme, möchte ich den Antrag und seine Ziele gerne in
        einen größeren Kontext setzen. Im Koalitionsvertrag ha-
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        ben sich CDU/CSU und SPD auf eine massive Reduzie-
        rung der Treibhausgasemissionen verständigt. Bis zum
        Jahr 2020 wollen wir im Zuge der Energiewende die
        Emissionen national um 40 Prozent senken – ein ambi-
        tioniertes Ziel. Im letzten Jahr konnten in vielen treib-
        hausgasemittierenden Sektoren Erfolge erzielt werden.
        Die aktuellen Emissionsdaten des Umweltbundesam-
        tes zeigen einen grundsätzlich positiven Trend bei den
        Treibhausgasemissionen: Seit drei Jahren sind die Emis-
        sionen wieder rückläufig. Das ist erfreulich und vor-
        nehmlich den strukturellen Veränderungen in der Ener-
        giewirtschaft geschuldet. Ganz anders sieht es dagegen
        im Verkehrssektor mit einer unterdurchschnittlichen Per-
        formance aus. Die Emissionen sind hier im Vergleich
        zum Vorjahr um mehr als 3 Prozent gestiegen, sie ma-
        chen aktuell insgesamt 17 Prozent der deutschen Treib-
        hausgasemissionen aus.
        Der Hauptgrund für die gesteigerte Verkehrsleistung
        im privaten und gewerblichen Bereich ist dabei volks-
        wirtschaftlich durchaus positiv zu sehen: konstantes
        Wirtschaftswachstum, das von niedrigen Kraftstoffprei-
        sen befeuert wird. Umweltverträgliche Kraftstoffe konn-
        ten sich zwar teilweise im Markt etablieren, der überwäl-
        tigende Großteil der Energieträger im Verkehrssektor
        wird jedoch aus Mineralölen gewonnen.
        Dieser kurze Exkurs zeigt: Die Energiewende kann
        nur dann gelingen, wenn es auch im Verkehrsbereich zu
        einem Umdenken kommt, ein Umdenken hin zur ver-
        mehrten Nutzung regenerativer Kraftstoffe und hin zu
        verstärktem Forschen an alternativen Antriebstechnolo-
        gien. Die Energiewende verstehe ich dabei als eine ge-
        samtwirtschaftliche Herausforderung, die viele Wirt-
        schaftszweige vor große Veränderungen stellt. Hier muss
        die Politik mit zielgenauer und differenzierter Unterstüt-
        zung diesen Veränderungsprozess begleiten. Ich bin
        überzeugt: Das Gießkannenprinzip sollte nicht das Mit-
        tel der Wahl sein. Daher gilt es, jede politische Entschei-
        dung zugunsten einer Technologie oder eines Kraftstof-
        fes vorab sorgsam abzuwägen.
        Ich komme damit zum Kern des vorliegenden An-
        trags. In Deutschland sind bis Ende 2018 Erd- und Flüs-
        siggas energiesteuerlich begünstigt. Beide Kraftstoffe
        konnten sich in den vergangenen Jahren mit Erfolg im
        Markt etablieren. Im Koalitionsvertrag haben sich SPD
        und CDU/CSU daher darauf verständigt, diese Begünsti-
        gung auch über 2018 hinaus zu verlängern. Die konkrete
        Ausgestaltung dieser Verlängerung gilt es nun in den
        kommenden Monaten zu definieren. In diesem Zusam-
        menhang hat das Bundesfinanzministerium ein umfang-
        reiches Forschungsvorhaben ausgeschrieben, das die
        Entwicklungen der Energiesteuereinnahmen im Kraft-
        stoffsektor zum Gegenstand hat. Ich denke, dass neben
        dem reinen Zahlenwerk auch eine Blaupause vonnöten
        ist, die für Erd- und Flüssiggas einen Weg in die Wettbe-
        werbsfähigkeit mit anderen Kraftstoffen ohne steuerli-
        che Vergünstigungen aufzeigt.
        Neben diesen zentralen Überlegungen zur mittelfristi-
        gen Marktetablierung von Erd- und Flüssiggas stellt der
        vorliegende Antrag somit zunächst sicher, dass die Bun-
        desregierung bis zum Frühjahr 2016 einen konkreten
        Vorschlag zur Verlängerung der angesprochenen Steuer-
        begünstigungen macht. Ich glaube, dass dies ein richti-
        ges Signal für die weitere Unterstützung umweltscho-
        nender Kraftstoffe ist. Die kommenden Monate müssen
        jetzt genutzt werden, um die Details der zukünftigen
        steuerlichen Vergünstigung für Erd- und Flüssiggas zu
        formulieren. Dabei fordern wir von der Bundesregierung
        auch ein, dass sie nichtsteuerliche Möglichkeiten zur
        besseren Etablierung dieser beiden Kraftstoffe aufzeigt.
        Andreas Rimkus (SPD): Es ist sehr wichtig, dass
        wir es geschafft haben, diesen Antrag noch vor der Som-
        merpause auf den parlamentarischen Weg zu bringen.
        Denn in der Tat soll er ein wichtiges Signal an die Indus-
        trie, aber auch an die Nutzerinnen und Nutzer sein, dass
        wir zur Technologie des Gasantriebs stehen und ihn als
        wichtigen Bestandteil der Energiewende im Verkehr be-
        greifen. Dies ist als Aufforderung zu betrachten, sich of-
        fen den bereits etablierten ökologischen Antriebsformen
        zuzuwenden und selbst einen Beitrag dazu zu leisten,
        dass die Transformation zu umweltfreundlicher Mobili-
        tät gelingt.
        Mit den UN-Mitgliedstaaten hat sich auch die Bun-
        desrepublik auf klare Zielvorgaben verständigt, zu denen
        Deutschland seinen Beitrag leisten muss. Deshalb hat
        sich die Bundesregierung das Ziel gesetzt, die Treib-
        hausgasemissionen maßgeblich zu senken. Bis 2050
        wollen wir 80 bis 95 Prozent CO2-Emissionen gegen-
        über 1990 reduzieren, bis 2020 immerhin schon 40 Pro-
        zent. Diese Zahlen gehen einem leicht von den Lippen,
        doch ihre Umsetzung wird nicht von alleine kommen,
        sondern bedarf unserer tatkräftigen Unterstützung.
        Ich nehme zur Kenntnis, dass die Verkehrsleistung
        stetig zunimmt, wie auch die Verkehrsverflechtungspro-
        gnose zeigt. Insbesondere im Straßengüterverkehr wird
        ein Anstieg der Verkehrsleistung um 39 Prozent pro-
        gnostiziert, was den dringenden Handlungsbedarf sicht-
        bar macht. So müssen wir auch im Verkehrsressort kurz-
        und mittelfristig deutlichere Fortschritte machen. Hier
        haben wir mit LNG einen Kraftstoff, der besonders im
        Straßengüterverkehr bei der Reduzierung von Emissio-
        nen helfen kann.
        Damit uns die Abkehr von den klassischen Kraftstof-
        fen Diesel und Benzin gelingt und wir einen Paradig-
        menwechsel im Verkehrssektor hinbekommen, müssen
        wir uns ehrlich anstrengen. Es braucht Ideen, Innovatio-
        nen und Konzepte. Erste Schritte sind wir mit dem Na-
        tionalen Aktionsplan Energieeffizienz von Sigmar
        Gabriel und dem Aktionsprogramm Klimaschutz 2020
        aus dem Hause von Barbara Hendricks gegangen. Dort
        wurden Gesamtkonzepte vorgelegt, die deutlich über
        100 Maßnahmen beinhalten. Unsere Aufgabe ist nun,
        diese in die Tat umzusetzen. Ergänzend dazu haben wir
        aber auch bereits im Koalitionsvertrag Maßnahmen ver-
        abredet. Einen wesentlichen Baustein dieser Maßnah-
        men bildet ebendiese Verlängerung der Steuervergünsti-
        gung für Erd- und Flüssiggas. Mit dem vorliegenden
        Antrag bekräftigen wir dieses Bekenntnis noch einmal
        und machen deutlich, dass wir auch im Verkehrssektor
        zu unseren ökologischen Zielen stehen.
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        Um diese zu erreichen, müssen wir allerdings ran.
        Dies gelingt uns mit der Förderung von Gastechnologie,
        aber auch mit weiteren Antriebsformen, wie Elektroan-
        trieben mit Akku und Brennstoffzelle, Power-to-Gas und
        Biokraftstoffen der zweiten Generation. Deshalb stehen
        auch ich und meine Fraktion hinter alternativen An-
        triebstechnologien.
        Auch die EU-Kommission erkennt diesen Ansatz und
        berücksichtigt in der Richtlinie zum Ausbau von Lade-
        und Tankinfrastruktur alternativer Antriebe (Clean Power
        for Transport) sowohl Wasserstoff und Strom als auch
        Gas. Ausdrücklich werden hier auch Anforderungen für
        den Ausbau von LNG-Tankinfrastruktur für die Schiff-
        fahrt definiert. Auch hier bietet Flüssiggas eine ökologi-
        sche Alternative zu den klassischen Brennstoffen.
        Die Zukunft wird uns vor die Aufgabe stellen, nicht
        nur aus Umweltschutzgründen die Energiewende im
        Verkehr zum Erfolg zu führen, sondern auch aufgrund
        der Ansprüche der Bürgerinnen und Bürger. Viele Men-
        schen drängen in die Städte, wo sich der Verkehr staut.
        Wir stehen vor der Herausforderung, auf der einen Seite
        den Mobilitätsbedürfnissen der Menschen gerecht zu
        werden und auf der anderen Seite Probleme wie die
        Feinstaubbelastung in den Innenstädten zu reduzieren.
        Auch dazu kann der Treibstoff Gas seinen Beitrag leis-
        ten.
        Wie ich bereits an dieser Stelle im Plenum deutlich
        gemacht habe, ist mein Credo: Technologieoffenheit.
        Lassen Sie uns doch die Nutzerinnen und Nutzer ent-
        scheiden, wo die Reise hingehen soll. All die genannten
        Technologien bieten noch erhebliches Innovationspoten-
        zial. Gute Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen
        sich diese Potenziale ideal heben lassen, sehe ich als
        meine und unsere gemeinsame Aufgabe.
        Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Wir sprechen
        heute hier über einen Antrag der Koalitionsfraktionen
        zur Energiesteuerermäßigung für Erd- und Flüssiggas.
        Die Steuerermäßigung soll über 2018 hinaus verlängert
        werden. Begründet wird dies mit Klimaschutz und der
        Dekarbonisierung des Verkehrssektors. Es ist ja schön,
        dass das Wort Dekarbonisierung nun auch von der Bun-
        deskanzlerin und CDU-Vorsitzenden in Elmau in den
        Mund genommen wurde.
        Aber mit schönen Worten ist es beim Klimaschutz lei-
        der nicht getan. Wenn es um Taten geht, dann sieht man
        die schwache Willenskraft der Koalition wie gerade
        heute bei den Ergebnissen des Spitzentreffens zur Ener-
        gie. Wirklich wirksame Instrumente zum Klimaschutz
        haben bei der Koalition wenig Chancen, wie man am
        heute gescheiterten Klimabeitrag für Kohlekraftwerke
        wunderbar sehen kann. Dekarbonisierung – Sie von der
        Koalition müssen erst noch lernen, wie man das buchsta-
        biert.
        Auch im Verkehrsbereich. Grundsätzlich sagen wir
        als Linke, dass es zwar nicht falsch ist, über eine solche
        Steuerermäßigung Anreize zu geben, um den Marktan-
        teil von erdgasbetriebenen Fahrzeugen zu erhöhen.
        Wenn ich mir allerdings Ihre Begründung ansehe, meine
        ich, Sie hätten hier nicht so einen klimapolitisch klingen-
        den großen Aufwasch zu machen brauchen. Für einen
        Beitrag des Verkehrssektors zum Aufhalten der Klimaer-
        wärmung würde ich mir ambitioniertere Anträge aus den
        Reihen der Koalition wünschen.
        Im Verkehr wird etwa ein Fünftel der deutschen CO2-
        Emissionen ausgestoßen – Tendenz steigend. Da sind
        noch nicht einmal die anteiligen Emissionen aus dem in-
        ternationalen Flugverkehr eingerechnet. Insbesondere
        der Straßenverkehr wächst, auf den über 95 Prozent der
        Verkehrsemissionen entfallen. Höhere Wachstumsraten
        als im Straßenverkehr sind allein im Flugverkehr zu ver-
        zeichnen, wo endlich die umweltschädliche Steuerbe-
        freiung bei Kerosin aufgegeben werden müsste.
        Ich will aber beim Straßenverkehr bleiben: Hierzu-
        lande fahren die Leute immer leistungsstärkere Autos
        und haben eine Vorliebe für große Schüsseln: SUVs sind
        beliebt. Die Klimaschutzwirkung von effizienterer Tech-
        nik wird durch immer höhere PS-Zahlen leider ausgehe-
        belt. In Deutschland stieg die durchschnittliche Motor-
        leistung von Neufahrzeugen von 123 PS im Jahr 2005
        auf 137 PS im Jahr 2013. Das ist Gift für das Klima,
        denn dies führte zu zusätzlichen 9,5 Millionen Tonnen
        CO2-Emissionen – allein wegen PS-stärkerer Motoren.
        Allein der Autoverkehr ist in der EU für 12 Prozent
        der CO2-Emissionen verantwortlich. Wir haben jetzt
        zwar CO2-Grenzwerte für Pkw, aber da wurde ja die
        Bundesregierung in Brüssel sehr aktiv, um die deutsche
        Automobilindustrie vor zu strengen Auflagen zu schüt-
        zen. Nachdem sie strengere CO2-Grenzwerte nicht ver-
        hindern konnte, setzt Angela Merkel sich jetzt für soge-
        nannte Supercredits ein, besondere Boni, mit denen die
        Firmen verkaufte Elektrofahrzeuge in ihrer Flotte gleich
        mehrfach anrechnen – und sich damit auf dem Papier
        CO2-ärmer rechnen, als sie es tatsächlich sind. Klima-
        politischer Unsinn.
        Ein weiteres Problem ist, dass die CO2-Werte der
        Hersteller kaum mit der Realität übereinstimmen. Hier
        gibt es eine riesige Diskrepanz, die man in den Griff be-
        kommen muss.
        Beim Elektroauto greift der Rebound-Effekt, weil es
        hauptsächlich als Zweit- und Drittwagen zum Einsatz
        kommt. Im Verkehrsbereich muss es zu einem Umden-
        ken kommen, wenn man für das Klima etwas erreichen
        will: neue Verkehrskonzepte mit einem starken ÖPNV
        und kurzen Wegen, mehr Güterverkehr auf die Schiene.
        Deswegen kann die Koalition hier lange Begründun-
        gen schreiben, wie sie über Erdgassteuererleichterungen
        das Klima schützen will; wenn es darauf ankommt, be-
        dient sie eher die Interessen der Automobilindustrie als
        die Interessen des Klimas.
        Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Für die
        deutsche Klimapolitik stellt der Verkehrssektor eine
        enorme Herausforderung dar. Der vorliegende Antrag
        zur Verlängerung der Energiesteuerermäßigung für Erd-
        und Flüssiggas beginnt hier mit einer treffenden Ana-
        lyse. Es ist richtig, dass das stetig steigende Verkehrsauf-
        kommen im Güter- und Personenverkehr und eine fast
        11264 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
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        vollständige Abhängigkeit von Mineralölprodukten es
        erschweren, die Treibhausgase in diesem Sektor zu redu-
        zieren.
        Allerdings: Der zweite Teil des Antrags erweckt den
        Eindruck, als wenn alle Klimaschutzprobleme im Ver-
        kehrssektor mit einer Verlängerung der Energiesteuerer-
        mäßigung für Erd- und Flüssiggas gelöst wären. Dies ist
        jedoch ganz sicher nicht der Fall.
        Mit dem vorliegenden Antrag verfestigt sich der Ein-
        druck, dass die Koalitionsfraktionen die wirklich wichti-
        gen Schwerpunkte in der Verkehrspolitik nicht angehen
        wollen. Stattdessen schreiben sie einen Showantrag, in
        dem sie das Finanzministerium auffordern, etwas zu tun,
        was es ohnehin plant, nämlich ein Gutachten zur Zu-
        kunft der Energiesteuer im Verkehrsbereich vorzulegen
        und die im Koalitionsvertrag vereinbarte Verlängerung
        der Steuerermäßigungen für Erd- und Flüssiggas umzu-
        setzen.
        Der Titel des Antrags und die Tatsache, dass die
        Koalitionsfraktionen eine Sofortabstimmung über den
        Antrag fordern, macht es umso deutlicher, dass es ihnen
        nicht um eine sorgfältige Beratung geht, wie man die
        Klimaziele im Verkehr tatsächlich erreichen kann, son-
        dern lediglich um die schlichte Botschaft, dass die Sub-
        vention von Erd- und Flüssiggas fortgesetzt wird.
        Um im Verkehrssektor die CO2-Einsparungsziele zu
        erreichen, muss auf mehreren Feldern deutlich umge-
        steuert werden. Der Fuß- und Radverkehr, aber auch
        Busse und Bahnen müssen im Vergleich zum Auto eine
        sehr viel bedeutendere Rolle spielen. Massive öffentli-
        che Investitionen in einen einfachen, komfortablen und
        gut ausgebauten öffentlichen Personenverkehr wären
        hier das Mittel der Wahl. Von der Bundesregierung ist
        hier leider kaum etwas zu sehen. Im Gegenteil: Noch im-
        mer bangen die Länder, ob sie in den nächsten Jahren ih-
        ren Nahverkehr aufrechterhalten können, weil der Bund
        mit seiner Zusage für weitere Regionalisierungsmittel
        zögert.
        Die beste Maßnahme für eine effektive Klimaschutz-
        politik wurde von der Bundesregierung auf EU-Ebene
        ausgebremst. Leider hat sich die Kanzlerin in Brüssel er-
        folgreich dafür eingesetzt, dass die Autobauer nur lasche
        Vorgaben dafür bekommen, wie sparsam ihre Autos sein
        müssen.
        Eine weitere Stellschraube, um die großen Herausfor-
        derungen im Verkehrssektor anzupacken, ist mehr Kos-
        tenwahrheit im Verkehrssektor. Wer auf die 10-Millar-
        den-Euro-Subventionen für den Luftverkehr oder die
        fortdauernde Subventionierung von schweren Dienstwa-
        gen schaut, der erkennt, dass es einen neuen Anlauf für
        eine ökologische Finanzreform braucht. Auch im inter-
        nationalen Vergleich hinkt Deutschland hier hinterher.
        Der Anteil der Umweltsteuern an den Gesamtsteuerein-
        nahmen ist in Deutschland seit 2003 um ganze 4 Pro-
        zentpunkte, von 13 auf 9 Prozent, gesunken. Die OECD
        weist darauf hin, dass die Einnahmen aus Umweltsteu-
        ern in Deutschland mittlerweile unter dem Durchschnitt
        der 34 OECD-Staaten liegen, und empfiehlt, dass Steu-
        ervergünstigungen für umweltschädliche Aktivitäten ab-
        geschafft und Mehreinnahmen durch wirkungsvollere
        Umweltsteuern erzielt werden.
        Solche sinnvollen Initiativen aus den Reihen der Ko-
        alitionsfraktionen gibt es aber leider nicht. Stattdessen
        dominierte eine komplett sinnfreie Pkw-Ausländermaut
        die verkehrspolitische Agenda der Koalition, die unge-
        fähr null Effekt auf die CO2-Emissionen im Autoverkehr
        haben wird.
        Worum geht es bei der Verlängerung der Energiesteu-
        erermäßigung im Detail? Erd- und Flüssiggas werden
        heute mit 13,90 Euro pro Megawattstunde besteuert. Der
        reguläre Steuersatz beträgt 31,80 Euro. Zum Vergleich:
        Rechnet man die Litersteuersätze beim Benzin in Mega-
        wattstunden um, beträgt der Steuersatz 73,20 Euro, beim
        Diesel sind es 46,90 Euro.
        Daran erkennt man zweierlei: Erstens. Die hier zur
        Diskussion stehenden Steuerermäßigungen für Erdgas
        und Flüssiggas sind gemessen an den derzeitigen Steuer-
        sätzen für Diesel und Benzin sehr weitgehend. Zweitens
        sieht man, dass die regulären Steuersätze unsystematisch
        ausgestaltet sind. Sie sind historisch gewachsen, orien-
        tieren sich aber nicht an einer klima- oder verkehrspoliti-
        schen Fragestellung.
        Vor diesem Hintergrund ist es ausdrücklich zu begrü-
        ßen, dass das Finanzministerium die Studie zur Zukunft
        der Energiebesteuerung in Auftrag gegeben hat. Darin
        sollte nicht nur untersucht werden, wie sich alternative
        Antriebe auf die Steuerbasis auswirken, sondern auch,
        welche Effekte die dauerhafte Subventionierung des
        Diesels auf Steuereinnahmen und den Verkehrssektor
        hat.
        Bevor im Bundestag über die Verlängerung der
        Steuerermäßigungen für Flüssig- und Erdgas abge-
        stimmt wird, sollte die Studie des Finanzministeriums
        sorgfältig ausgewertet werden. Denn es gilt zu klären,
        inwieweit diese im Koalitionsvertrag vereinbarte Steuer-
        ermäßigung das passende Instrument ist, um dem Klima-
        schutz im Verkehr einen ordentlichen Schub zu verlei-
        hen.
        Unbestritten ist, dass insbesondere Neuwagen mit
        Erdgasantrieb im Vergleich mit ihren Schwestermodel-
        len sehr gute Umwelteigenschaften ausweisen. So sto-
        ßen Erdgasautos bis zu einem Viertel weniger CO2 aus
        als vergleichbare Benzinmodelle und belegen seit Jahren
        Spitzenplätze in der VCD-Auto-Umweltliste.
        Dennoch gilt es zunächst zu erörtern, ob eine
        schlichte Fortführung der Energiesteuerermäßigungen
        für Erd- und Flüssiggas tatsächlich der richtige Weg ist.
        Fragen, die dabei zu klären sind, wären etwa: Sind die
        derzeitigen üppigen Ermäßigungen in dieser Höhe aus
        klimapolitischer Sicht zu rechtfertigen? Sind auch Moto-
        ren auf Basis von Flüssiggas eine Brückentechnologie,
        die massive Steuervorteile rechtfertigt? Und sollte die
        nun anstehende Novelle nicht schon jetzt dafür genutzt
        werden, um mit einer schrittweisen Erhöhung der Steu-
        ersätze die Antriebstechnologien an den Wettbewerb mit
        Benzin- und Dieselantrieben heranzuführen?
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11265
        (A) (C)
        (D)(B)
        Letztlich muss die Subventionierung von Erdgas und
        Flüssiggas auch vor dem Hintergrund alternativer Regu-
        lierungsinstrumente betrachtet werden – etwa inwieweit
        die Marktdurchdringung mit effizienten Antriebstechno-
        logien vor allem durch ehrgeizige und technologieneut-
        rale Verbrauchsgrenzwerte auf EU-Ebene forciert wer-
        den sollte anstatt mit einer Subventionierung bestimmter
        Kraftstoffarten. Um dieser Entscheidung nicht vorzu-
        greifen, enthält sich die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
        zu dem vorliegenden Antrag.
        Anlage 24
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
        gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuor-
        ganisation der Zollverwaltung (Tagesordnungs-
        punkt 26)
        Uwe Feiler (CDU/CSU): Wir beraten heute über ein
        Gesetz zur Neuorganisation der Zollverwaltung. Mit die-
        sem hat die Bundesregierung ein schlüssiges und konse-
        quentes Konzept vorgelegt, um unsere Zollbehörde noch
        effektiver und effizienter zu machen. Der Zoll hat bereits
        2007 eine erfolgreiche Strukturreform auf der Ortsebene
        durchlaufen und steht gut da. Jetzt ist es an der Zeit, die
        Ergebnisse dieser Reform zu sichern und konsequent zu
        Ende zu bringen.
        Zentraler Bestandteil der Reform ist die Bildung der
        Generalzolldirektion in Bonn. Diese wird die bisherigen
        Bundesfinanzdirektionen bündeln, sodass die gesamte
        Kompetenz der Zollverwaltung mit Zuständigkeit für
        das ganze Bundesgebiet dort zusammengefasst wird. Die
        allgemeine Verwaltung und die IT werden zentral bei der
        Generalzolldirektion angesiedelt. Durch kürzere Ent-
        scheidungswege und klarere Zuständigkeiten wird die
        Verwaltung optimiert. Auch die Zusammenarbeit in Eu-
        ropa kann dann noch besser koordiniert werden. So kann
        der Zoll seine in den letzten Jahren gewachsenen und
        auch in Zukunft wachsenden Aufgaben noch besser er-
        füllen.
        Dabei wird aber nicht alles umgeworfen. Zum Bei-
        spiel wird die mit maritimen Fragen erfahrene Bundesfi-
        nanzdirektion Hamburg zu einer Außenstelle der Gene-
        ralzolldirektion. Die Verwaltung wird reformiert, die
        Spezialisten in Hamburg sind nun aber sogar für die ma-
        ritimen Fragen des Zolls in ganz Deutschland zuständig,
        sodass der Zoll in Gänze und die Ansprechpartner in der
        maritimen Wirtschaft von der Kompetenz der Mitarbei-
        terinnen und Mitarbeiter profitieren.
        Auch das Zollkriminalamt wird in die neue Behörde
        eingegliedert, bleibt aber als eigenständige etablierte Si-
        cherheitsbehörde erhalten. Entlastet von allgemeinen
        Verwaltungsaufgaben kann es noch besser wirken und
        sich auf seine originären Zuständigkeiten konzentrieren.
        Gleichzeitig bleibt die bewährte Ortsstruktur erhalten.
        Der Zoll wird weiterhin – und in Zukunft sogar ver-
        stärkt – in der Fläche aktiv und sichtbar sein. Dafür ste-
        hen die 43 Hauptzollämter und acht Zollfahndungsäm-
        ter.
        Überhaupt wird die gesamte Umstellung geordnet
        und überlegt verlaufen. Sie wurde mit den Personalver-
        tretungen und Gewerkschaften gemeinsam diskutiert,
        und es wurden verbindliche Verabredungen getroffen.
        Alle Dienststellen bleiben erhalten, sogar größtenteils an
        den bisherigen Orten. Umzüge sind freiwillig. Änderun-
        gen wird es vor allem in der Abteilung III des BMF ge-
        ben. Das Ergebnis wird eine bessere Zollverwaltung
        ohne Nachteile für die Mitarbeiter sein.
        Damit sorgen wir dafür, dass auch in Zukunft unser
        Zoll seine vielfältigen Aufgaben zur Sicherung der staat-
        lichen Einnahmen und der Sicherheit der Menschen er-
        füllen kann. Vor allem die Überprüfung des gesetzlichen
        Mindestlohns und die von den Ländern übernommene
        Verwaltung der Kraftfahrzeugsteuer haben eine große
        gesellschaftliche Bedeutung und die Behörde vor neue
        Aufgaben gestellt.
        Die angegebenen Kosten der Zollreform beinhalten
        nicht nur die IT-Umstellung und Anmietung neuer
        Räumlichkeiten, sondern auch die Modernisierung der
        Kommunikationsausstattung der Zollliegenschaften.
        Auch in der Ausrüstung wird der Zoll somit besser auf-
        gestellt.
        Wenn man sich den vorliegenden Gesetzesvorschlag
        der Bundesregierung anschaut, muss man feststellen,
        dass wir hier eine durchdachte, konsequente und sinn-
        volle Reform vorliegen haben. Unser Zoll wird damit für
        seine wichtigen und auch in Zukunft weiter wachsenden
        Aufgaben gerüstet.
        Ingrid Arndt-Brauer (SPD): Fast jeder erwachsene
        Bürger kennt ihn: den Zoll; aber nur wenige kennen das
        wirkliche Maß seiner Bedeutung. Die Zollverwaltung ist
        eine Großbehörde und hat ungefähr 39 000 Mitarbeiter.
        Diese sichern nationale und europäische Einnahmen in
        dreistelliger Milliardenhöhe, vor allem im Bereich der
        Verbrauchsteuern. Für das Jahr 2014 waren das ungefähr
        130 Milliarden Euro. Zu den Kernaufgaben des Zolls
        gehören die Unterbindung illegalen Handels und der
        Schutz der Bevölkerung durch die Bekämpfung der
        grenzüberschreitenden Kriminalität. Ich nenne an dieser
        Stelle nur einmal exemplarisch den Schmuggel von ver-
        brauchsteuerpflichtigen Waren wie Zigaretten und Alko-
        hol, Drogen-, Waffenschmuggel, Markenpiraterie, Geld-
        wäsche, Artenschutz – Handel mit geschützten Tier- und
        Pflanzenarten –, Einfuhr verbotener Arznei- und Le-
        bensmittel und vieles andere mehr.
        Vor der Öffnung der Grenzen in Europa – Stichwort:
        Schengen-Raum – hatten zumindest diejenigen, die ins
        Ausland fuhren, im Regelfall unmittelbaren Kontakt mit
        den Grenzbeamten des Zolls. Das ging auch mir als Ab-
        geordnete aus einer Grenzregion zu den Niederlanden
        häufig so. Mit dem Wegfall der Grenzkontrollen wurde
        der Zoll für viele Bürger weniger erfahrbar und unsicht-
        barer. Aufgabenspektrum und Bedeutung des Zolls aber
        sind seitdem nicht weniger geworden – ganz im Gegen-
        teil, sie haben sogar zugenommen.
        11266 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
        (A) (C)
        (D)(B)
        Ich nenne hier die Finanzkontrolle Schwarzarbeit, die
        seit 2004 vom Zoll übernommen wurde, die jüngst hin-
        zugekommene Übernahme der Verwaltung der Kraft-
        fahrzeugsteuer von den Ländern und die Kontrolle des
        gerade von der Bundesregierung beschlossenen gesetzli-
        chen Mindestlohns. Um den wachsenden Aufgaben ge-
        recht werden zu können, hat die Regierung jetzt eine
        umfassendere Neuorganisation der Zollverwaltung be-
        schlossen, die wir heute erstmalig im Bundestag einbrin-
        gen und in den kommenden Wochen und Monaten in den
        Gremien beraten werden.
        Wesentliches Element der Reform ist die Schaffung
        einer Generalzolldirektion als zentrale Oberbehörde in
        Bonn. In diese werden die fünf Bundesfinanzdirektionen
        und die Bereiche aus dem Finanzministerium, die nicht
        der Gesetzgebung dienen, überführt. Das Zollkriminal-
        amt bleibt als Generaldirektion als eigenständige Abtei-
        lung bestehen. Die neue Einheit Generalzolldirektion
        wird unmittelbar dem Bundesfinanzministerium unter-
        stellt.
        Die Reform will bestehende Strukturen effizienter ge-
        stalten und verschlanken; sie will Hierarchieebenen ab-
        bauen. Leitbild der Regierung war der Erhalt des Zolls
        als Einheit von Finanzverwaltung und Vollzug. Die
        meisten Verbände, denen der Gesetzentwurf zur Konsul-
        tation vorab übersandt wurde, unterstützen diesen An-
        satz im Grundsatz.
        Ich will aber nicht verschweigen, dass die Gewerk-
        schaft der Polizei, GdP, eine davon abweichende
        Meinung vertritt. Die GdP lehnt eine Integration des
        Zollkriminalamtes als eigenständigen Teil der General-
        direktion ab. Empfohlen wird die Trennung von Verwal-
        tungs- und Polizeiaufgaben. Kontroll-, Fahndungs-, und
        Ermittlungsaufgaben sollten nach Vorstellung der GdP
        in einer von drei eigenständigen „Säulen“ unter dem
        Dach des Zollkriminalamts gebündelt werden. Laut
        GdP-Vorschlag würden die FKS und die Kontrolldienste
        Teil des ZKAs. Das Zollkriminalamt soll dann entweder
        direkt dem Bundesfinanzminister oder demselben mittel-
        bar mit einer dazwischengeschalteten Generaldirektion
        unterstehen. Die GdP erhofft sich von der Zusammen-
        führung „polizeilicher“ Aufgaben eine Stärkung der
        polizeilichen und eine bessere Zusammenarbeit mit den
        Sicherheitsbehörden der Landes- und Bundespolizeibe-
        hörden.
        Die Abschaffung der Mittelbehörden dagegen wird
        ausnahmslos von allen Verbänden unterstützt. Ausdrück-
        lich begrüße ich den Ansatz der Regierung, kein Perso-
        nal abzubauen. Stellen, die durch Neu- und Umorganisa-
        tion der Verwaltungsstrukturen an der einen Stelle frei
        werden, entfallen nicht, sondern werden dorthin verla-
        gert, wo sie im Zuge der Neuorganisation benötigt
        werden. Es steht außer Frage, dass der Zoll heute und zu-
        künftig jede Fachkraft benötigt. Der demografische
        Wandel wird auch am Zoll nicht spurlos vorbeigehen.
        Personalgewinnung bleibt ein zentrales Thema – nicht
        der Abbau! Die Herausforderungen sind und bleiben
        groß: Ich erinnere an die 1 600 zusätzlichen Stellen für
        die Mindestlohnkontrolle, für die Personal gewonnen
        und ausgebildet werden muss.
        Der Zoll bleibt auch in der Fläche in vollem Umfang
        präsent. Kein Standort wird geschlossen. Das gilt für die
        ehemaligen Bundesfinanzdirektionen ebenso wie für die
        43 Hauptzollämter und die acht Zollfahndungsämter.
        Die Fachkompetenz vor Ort und in der Fläche kann so
        erhalten werden.
        Ich halte den vorliegenden Entwurf für eine gute Dis-
        kussionsgrundlage. In den nächsten Wochen haben wir
        alle Zeit, um intensiv darüber nachzudenken, um dann
        nach der Sommerpause vertieft in die Sachdebatte einzu-
        steigen.
        Frank Tempel (DIE LINKE): Die Linke hat in der
        vergangenen Wahlperiode einen Antrag zur Einrichtung
        einer Bundesfinanzpolizei als Wirtschafts- und Finanz-
        ermittlungsbehörde eingebracht. Unser Ansatz war es,
        die Bundeszollverwaltung zu einer selbstständigen, ori-
        ginär polizeilich ausgerichteten Behörde umzuwandeln.
        Mit der Bündelung der Ermittlungs-, Fahndungs- und
        Kontrolleinheiten des Zolls unter eine einheitliche Füh-
        rung und Fachaufsicht sollte ein Effizienzschub bei der
        Bekämpfung der grenzüberschreitenden organisierten
        Geldwäsche, der Außenwirtschaftskriminalität, des Sub-
        ventionsbetrugs und des organisierten Schmuggels er-
        reicht werden. Die Bundesregierung hat ebenfalls die
        Notwendigkeit einer Strukturreform der Zollverwaltung
        erkannt, aber einen anderen – unserer Meinung nach viel
        zu zaghaften – Ansatz gewählt, die bestehenden Pro-
        bleme anzugehen. Die aufgeblähten sechs Mittelbehör-
        den sollen abgeschafft und eine effizientere Struktur
        durch die Bildung einer Generalzolldirektion als Oberbe-
        hörde mit neun Direktionen geschaffen werden. Das Zoll-
        kriminalamt und das Bildungs- und Wissenschaftszent-
        rum der Bundesfinanzverwaltung sollen innerhalb der
        Generalzolldirektion als funktionale Einheit erhalten
        bleiben.
        Es stellt sich die Frage, ob ein einheitliches und stra-
        tegisch ausgerichtetes Zusammenwirken aller Kontroll-,
        Fahndungs- und Ermittlungskräfte erreicht werden kann,
        wenn sich die operative Steuerung der vollzugspolizeili-
        chen Kontroll-, Fahndungs- und Ermittlungsdienste auf
        vier Direktionen, die Streifen- und Kontrolldienste sich
        auf drei verschiedene Direktionen und die Fahndungs-
        und Ermittlungsdienste auf zwei Direktionen verteilen.
        Die Führungskräfte der Mittelebene waren bisher zum
        Großteil leitende Finanzbeamte ohne Erfahrungen be-
        züglich der Führung eher polizeilich ausgerichteten Er-
        mittlungseinheiten. Es ist zu befürchten, dass sich dieser
        Umstand in den Direktionen wiederfindet. Das grund-
        hafte Problem der Zollverwaltung, dass die Ermittlungs-
        einheiten als Anhängsel der Finanzverwaltung behandelt
        werden, würde sich strukturell und personell fortsetzen.
        Neben der zweifelhaften Grundrichtung der Reform
        sieht die Linke schon jetzt Probleme bei der Umsetzung.
        Der nötige Kulturwandel einer bisher stark hierarchisch
        geleiteten Behörde hin zu mehr Entscheidungsbefugnis
        und Eigenverantwortung an die örtlichen Strukturen
        wird extrem schwierig. Ohne diesen Wandel ist aber
        auch diese begrenzte Reform zum Scheitern verurteilt.
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11267
        (A) (C)
        (D)(B)
        Die Gewerkschaften, vom DGB über die Gewerk-
        schaft der Polizei – GdP – bis hin zur Deutschen Zoll-
        und Finanzgewerkschaft – BDZ – fordern für die Be-
        schäftigten ein transparentes Herangehen an den Umbau
        des Zolls. Wegfallende Tätigkeiten und Aufgabenumver-
        teilungen werden mit Dienstpostenverschiebungen ein-
        hergehen. Frühzeitige Information über Veränderungen
        ermöglichen den Betroffenen frühzeitige individuelle
        Planungen zum Beispiel zum Wohnungswechsel oder
        notwendige Weiterbildungen. Das abschreckende Bei-
        spiel der Reform der Bundespolizei muss den Verant-
        wortlichen eine Warnung sein, die Reform nicht auf dem
        Rücken der Beschäftigten durchzudrücken. Dort hatte
        sich der Zustand zunehmender Aufgabenverdichtung
        ständig verschärft. Bei der Zollverwaltung sieht es seit
        Jahren ähnlich aus. Die bislang erfolgte mangelnde Be-
        teiligung der Beschäftigten und Personalvertretungen
        und die knapp bemessene Zeitschiene der Umsetzung bis
        zum 1. Januar 2016 lässt hingegen Schlechtes ahnen. Ein
        Umbauprozess ist ohne das Engagement der Beschäftig-
        ten aber nicht zu bewerkstelligen. Die Linke wird diesen
        Prozess beobachten und parlamentarisch begleiten.
        Die Gewerkschaft der Polizei, GdP, weist in ihrer
        Stellungnahme zum Gesetzentwurf berechtigterweise
        darauf hin, dass mit der Zuordnung des Zollkriminalam-
        tes und seiner nachgeordneten Zollfahndungsämter unter
        die Generalzolldirektion die Befugnisse nach dem Zoll-
        fahndungsdienstgesetz, ZFdG, auf die Generalzolldirek-
        tion übergehen werden. Damit sind bei der Generaldi-
        rektion tiefgehende Befugnisse beim Eingriff in die
        Persönlichkeitsrechte gebündelt, die im Übrigen weit
        über polizeiliche Eingriffsrechte hinausgehen. Zu nen-
        nen sind etwa umfangreiche Zugriffsmöglichkeiten auf
        Datenbanken, präventive Abhörmöglichkeiten und weit-
        gehende Befugnisse zum Führen von verdeckten Ermitt-
        lern. Diese neue Qualität der institutionellen Machtfülle
        in einer Behörde von 7 000 Beschäftigten bedarf einer
        viel schärferen gesetzlichen Regelung der innerbehördli-
        chen Zuständigkeiten und datenschutzrechtlicher Be-
        stimmungen, als dies im vorliegenden Gesetzentwurf
        vorhanden ist. Es bedarf auch einer neuen Qualität de-
        mokratischer Kontrolle. Die jetzige Arbeitsweise des
        Gremiums nach § 23 c Absatz 8 des Zollfahndungs-
        dienstgesetzes wird dem nicht gerecht. Bloße Berichter-
        stattungen ohne Kontrollmöglichkeiten vor Ort, das
        Recht der Akteneinsicht und Vorladungsrechte sind nicht
        ausreichend.
        Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Auch
        wenn die Zollverwaltung in der Öffentlichkeit nicht be-
        sonders im Vordergrund steht, erfüllt sie doch eine wich-
        tige Rolle für die Funktion unseres Gemeinwesens. Zu
        nennen ist die Überwachung des mit unserer Unterstüt-
        zung eingeführten gesetzlichen Mindestlohns, die Be-
        kämpfung des Schwarzmarktes und der illegalen Be-
        schäftigung sowie die Erhebung und Verwaltung der
        Kfz-Steuer und der Verbrauchsteuern.
        Besonders wichtig ist die Zollverwaltung für die Be-
        kämpfung organisierter Wirtschafts- und Finanzkrimina-
        lität, insbesondere der Steuerhinterziehung. Die Metho-
        den der organisierten Kriminalität werden von Jahr zu
        Jahr raffinierter, und damit erweitert sich auch das Auf-
        gabenspektrum des Zolls kontinuierlich. Es ist daher
        richtig und wichtig, den zunehmend komplexer werden-
        den Aufgaben mit einer effektiven und effizienten Struk-
        tur der Zollverwaltung Rechnung zu tragen – aber auch
        für eine ausreichend dicke Personaldecke zu sorgen.
        Dass es hier deutlichen Verbesserungsbedarf gibt,
        sieht man etwa, wenn es darum geht, Steuerhinterzie-
        hung zu verhindern. Zwar leistet der Zoll hier wertvolle
        Arbeit. Dennoch gehen dem Staat nach Schätzungen der
        Finanzämter aufgrund von Umsatzsteuerbetrug jährlich
        mehrere Milliarden an Steuereinnahmen verloren. Zu
        nennen sind hier vor allem die sogenannten Umsatzsteu-
        erkarusselle.
        Der Finanzminister möchte sein Ziel der Effektivität
        und Effizienz mit der Einrichtung einer Generalzolldi-
        rektion als Oberbehörde erreichen, in der die bisherigen
        Aufgaben der fünf Bundesfinanzdirektionen sowie des
        Zollkriminalamts zusammengeführt werden. Die Ver-
        schlankung besteht darin, dass die bisherigen Mittelebe-
        nen wegfallen, an örtlichen Zollämtern aber festgehalten
        wird. Insbesondere vor dem Hintergrund des Problems
        Steuerhinterziehung begrüßen wir das Ziel, die Zoll-
        verwaltung zu stärken. Das Ziel einer effektiven und
        effizienten neuen Organisation, wie es der vorliegende
        Gesetzentwurf verfolgt, wird auch von uns Grünen
        grundsätzlich unterstützt.
        Inwieweit genau diese neue Organisationsstruktur ef-
        fektiver und effizienter sein wird, muss sich noch zeigen.
        Das Gesetz allein überzeugt da noch nicht. Vielleicht
        kann die Anhörung da noch weiterhelfen. Denn auch die
        derzeitige Struktur mit den fünf Bundesfinanzdirektio-
        nen wurde seinerzeit mit der gleichen oder ähnlichen Be-
        gründung eingeführt. Wir fordern daher eine regelmä-
        ßige Überprüfung der im Zusammenhang mit der
        Neuorganisation vorgenommenen Änderungen hinsicht-
        lich ihrer Effizienz und Effektivität.
        Schwer nachzuvollziehen ist, auf welche Analyse der
        alten Struktur sich Finanzminister Schäuble im vorlie-
        genden Gesetzentwurf bezieht. Beschäftigte und deren
        Interessenvertretungen wurden offensichtlich dabei
        kaum berücksichtigt. Ohne eine umfassende Analyse der
        Ist-Situation wird eine Bewertung von Effizienz- und
        Effektivitätssteigerungen, die auf die Neuorganisation
        zurückzuführen sind, jedoch schwierig.
        Die ganze Strukturreform wird auf jeden Fall verpuf-
        fen, wenn die Personalausstattung nicht aufgabenad-
        äquat ist. Die Finanzkontrolle Schwarzarbeit kontrolliert
        zum Beispiel seit diesem Jahr den flächendeckenden
        Mindestlohn – ein Mammutprojekt für den Zoll. Auf
        Anfrage stellte sich heraus, dass es sich bei den von der
        Bundesregierung angekündigten 1 600 neuen Stellen für
        Finanzkontrolle Schwarzarbeit um leere Versprechungen
        handelt. Diese sollen bis zum Jahr 2019 geschaffen
        werden. Tatsächlich blieb bei dieser Rechnung unbe-
        rücksichtigt, dass 3 Prozent des Personals pro Jahr
        altersbedingt oder aus anderen Gründen ausscheidet.
        Realistisch kann mit etwa 160 Neueinstellungen im Jahr
        gerechnet werden. Das ist zu wenig, um die Überlastung
        abzumildern. Zudem kommt die Hilfe zu spät.
        11268 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
        (A) (C)
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        Darüber hinaus hat der Zoll im letzten Jahr zusätzlich
        die Erhebung der Kraftfahrzeugsteuer von den Ländern
        übernommen. Hier konnte man bereits erkennen, dass
        der Zoll stellenweise völlig überlastet ist. Es kam zu feh-
        lerhaften Steuerbescheiden, da es an Personal fehlte. Zu-
        mindest der zusätzliche Personalbedarf im Rahmen der
        Einführung der PKW-Maut scheint sich glücklicher-
        weise erledigt zu haben.
        Die Umsiedlung der Abteilung III des BMF, zustän-
        dig für Zoll und Verbrauchsteuern, von Bonn nach Ber-
        lin ist überfällig. Es ist nicht nachvollziehbar, warum
        diese als einzige Abteilung nicht in Berlin angesiedelt
        war. Genauso bleibt die Frage offen, nach welchen
        Kriterien die Entscheidung für den Standort der Oberbe-
        hörde getroffen wurde. Auch das wird sich vielleicht im
        Rahmen der Anhörung klären.
        Abschließend lässt sich festhalten, dass wir einer
        sinnvollen Neuorganisation der Zollverwaltung nicht im
        Wege stehen werden.
        Dr. Michael Meister, Parl. Staatssekretär beim Bun-
        desminister der Finanzen: Der Zoll stellt seine Leis-
        tungsfähigkeit seit Jahrzehnten erfolgreich unter Beweis
        als Einnahmeverwaltung des Bundes, als Ansprechpart-
        ner und für den Schutz der Bürgerinnen und Bürger so-
        wie als Partner der Wirtschaft. Sein Aufgabenspektrum
        ist in den letzten Jahren stetig gewachsen. Zuletzt hat der
        Zoll die Verwaltung der Kraftfahrzeugsteuer von den
        Ländern und die Überprüfung des gesetzlichen Mindest-
        lohns übernommen.
        Der vom Bundeskabinett am 6. Mai 2015 beschlos-
        sene Gesetzentwurf zur Neuorganisation der Zollverwal-
        tung schafft die Rahmenbedingungen, unter denen die
        Zollverwaltung ihre künftigen Aufgaben weiter erfolg-
        reich und mit hoher Effizienz erfüllen kann. Die Erfah-
        rungen bisheriger Reformschritte werden genutzt, um
        die Strukturen der Zollverwaltung auch für die Zukunft
        optimal zukunftsorientiert zu gestalten. Mit den zu betei-
        ligenden Verbänden und Gewerkschaften gab es im Vor-
        feld der parlamentarischen Beratungen einen breiten
        Konsens.
        Wesentliches Element der Neuorganisation der Zoll-
        verwaltung ist die Einrichtung einer Generalzolldirek-
        tion als neue Bundesoberbehörde mit Sitz in Bonn zum
        1. Januar 2016.
        In der Generalzolldirektion werden die Aufgaben der
        bisherigen Mittelbehörden der Zollverwaltung sowie
        die nicht zum unmittelbaren ministeriellen Kernbereich
        gehörenden Aufgaben der Zoll- und Verbrauchsteuer-
        abteilung des Bundesministeriums der Finanzen zu-
        sammengeführt. Hierzu werden die derzeit fünf Bundes-
        finanzdirektionen sowie das Zollkriminalamt in die
        Generalzolldirektion integriert.
        Die Generalzolldirektion soll aus neun Direktionen
        bestehen, einschließlich des Zollkriminalamtes und des
        Bildungs- und Wissenschaftszentrums der Bundesfi-
        nanzverwaltung.
        Das Zollkriminalamt bleibt dabei – innerhalb der Ge-
        neralzolldirektion – als funktionale Einheit mit seiner
        gesetzlich normierten Stellung im Verbund der bundes-
        deutschen Sicherheitsbehörden erhalten.
        Das Bildungs- und Wissenschaftszentrum der Bun-
        desfinanzverwaltung wird als Einheit ebenfalls organisa-
        torisch in die Struktur der Generalzolldirektion einge-
        gliedert. Die besondere Stellung des Fachbereichs
        Finanzen als integraler Bestandteil der Hochschule des
        Bundes für öffentliche Verwaltung bleibt dabei unbe-
        rührt.
        Die Standorte der bisherigen Mittelbehörden – Ham-
        burg, Potsdam, Köln, Neustadt an der Weinstraße und
        Nürnberg – sowie des Zollkriminalamtes – Köln – und
        des Bildungs- und Wissenschaftszentrums – Münster –
        bleiben bestehen. Sie sind Dienstsitze der Generalzolldi-
        rektion – neben dem Hauptdienstsitz in Bonn.
        Der Generalzolldirektion werden rund 7 000 Beschäf-
        tigte angehören.
        Mit der Einrichtung der Generaldirektion geht kein
        Stellenabbau bei der Zollverwaltung einher. Die durch
        Synergien zu erzielenden Effizienzgewinne sollen viel-
        mehr der Ortsebene zugutekommen. Bereits kurzfristig
        lässt sich eine Rendite von rund 90 Dienstposten auf-
        grund der konsequenten Zentralisierung der Verwal-
        tungssteuerung realisieren. In einzelnen Bereichen
        konnte darüber hinaus bereits Potenzial zur weiteren Ab-
        schichtung von Aufgaben auf die Ortsebene identifiziert
        werden – zum Beispiel Aufhebung von Zustimmungs-
        und Genehmigungsvorbehalten, Sachbearbeitung im
        Marktordnungsbereich, Zulassung von Steuerbürgen.
        Angestrebt wird mittelfristig eine Effizienzrendite von
        weiteren gut 300 Dienstposten.
        Die Leitung der Generalzolldirektion soll mit B 9
        – politisches Amt –, die Stellvertretung mit B 7 bewertet
        werden. Die Direktionspräsidenten sind mit B 6 bewertet
        – analog zu den Präsidenten der bisherigen Mittelbehör-
        den. Die neu zu schaffenden Leitungsdienstposten sind
        im Haushaltsvoranschlag für die Zollverwaltung stellen-
        wirtschaftlich kompensiert.
        Die Ortsebene der Zollverwaltung mit ihren 43
        Hauptzollämtern, acht Zollfahndungsämtern und 271
        Zollämtern bleibt den Bürgerinnen und Bürgern, den
        Wirtschaftsbeteiligten und den Länderverwaltungen als
        kompetenter Ansprech- und Kooperationspartner voll-
        ständig erhalten. Die Präsenz der Zollverwaltung in der
        Fläche soll künftig durch die erwähnten Effizienzge-
        winne noch weiter gestärkt werden.
        Der vorliegende Gesetzentwurf enthält die zur Um-
        setzung der skizzierten Neuorganisation notwendigen
        Änderungen von Bundesgesetzen und Rechtsverordnun-
        gen. Das sind im Wesentlichen: Änderungen im Finanz-
        verwaltungsgesetz zur Einrichtung der Generalzolldirek-
        tion sowie zur Auflösung und Integration der
        behördlichen Mittelebene der Zollverwaltung in die Ge-
        neralzolldirektion; Änderungen des Bundesbeamten-
        und des Bundesbesoldungsgesetzes; Änderungen von
        Fachgesetzen – Zollfahndungsdienstgesetz, Abgaben-
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11269
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        ordnung, Marktordnungsgesetz und Außenwirtschafts-
        gesetz; Anpassungen sonstigen Bundesrechts.
        Die Verwaltungsstrukturen der Länder werden durch
        das Gesetz nicht berührt. Das Gesetz betrifft ausschließ-
        lich die Bundesverwaltung.
        Im Vorfeld der für den 10. Juli 2015 vorgesehenen
        ersten Beratung des Gesetzentwurfs im Bundesrat haben
        der federführende Finanzausschuss, der Ausschuss für
        Innere Angelegenheiten und der Ausschuss für Kul-
        turfragen am 26. Juni 2015 jeweils die Empfehlung aus-
        gesprochen, keine Einwendungen gegen den Gesetzent-
        wurf zu erheben.
        Auf Antrag der Freien und Hansestadt Hamburg
        sprach sich der mitberatende Wirtschaftsausschuss für
        eine differenziertere Stellungnahme des Bundesrates
        aus. Die Empfehlung des Wirtschaftsausschusses zielt
        im Wesentlichen auf den Fortbestand des Dienstleis-
        tungsangebots der Zollverwaltung in der Fläche und auf
        eine gute Zusammenarbeit mit den Wirtschaftsbeteilig-
        ten ab.
        Zusammenfassend ist festzustellen: Die Präsenz der
        Zollverwaltung in der Fläche ist und bleibt gewährleis-
        tet. Die Ortsebene der Zollverwaltung wird – wie ausge-
        führt – nicht berührt. Durch die Beibehaltung der Stand-
        orte der bisherigen Mittelbehörden sowie des
        Zollkriminalamtes bleiben zudem regionale Kompetenz
        und Erfahrung auf Ebene der Generalzolldirektion erhal-
        ten. Ich bin daher überzeugt, dass auch in der neuen
        Struktur der bislang sehr gute Dialog mit der Wirtschaft
        und das gemeinsame Streben nach praxisorientierten Lö-
        sungen weiterhin fortgesetzt und ausgebaut wird.
        Das Gesetz hat keine negativen Auswirkungen auf die
        öffentlichen Haushalte. Dem Bund entsteht im Finanz-
        planungszeitraum, bis 2019, ein einmaliger Umstel-
        lungsaufwand von rund 28 Millionen Euro. Der Erfül-
        lungsaufwand entsteht im Wesentlichen durch die
        Anpassung zahlreicher IT-Verfahren und die Ausstattung
        der Liegenschaften im gesamten Bundesgebiet mit ge-
        eigneter Kommunikationstechnik.
        Parallel zur Einrichtung der Generalzolldirektion
        wird die bisherige Zoll- und Verbrauchsteuerabteilung
        des Bundesministeriums der Finanzen auf ihren ministe-
        riellen Kernbereich reduziert und schrittweise bis Ende
        2019 nach Berlin umziehen. Als verwaltungsinterne
        Maßnahme des BMF ist der Umzug nicht Gegenstand
        des Gesetzentwurfs zur Neuorganisation der Zollverwal-
        tung.
        Die Vorteile der Neuorganisation liegen auf der Hand:
        Wir erhalten Bewährtes und entwickeln es in einem
        neuen organisatorischen Rahmen fort, der das Arbeiten
        hinsichtlich Effizienz und Effektivität optimiert. Kurze
        Entscheidungswege gewährleisten schnelles und zielge-
        richtetes Verwaltungshandeln bei der Lösung der fachli-
        chen Aufgaben. Ich bin zuversichtlich, dass wir mit der
        Einrichtung der Generalzolldirektion als Kernstück der
        Neuorganisation die Erfolgsgeschichte der Zollverwal-
        tung fortschreiben werden.
        Anlage 25
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
        gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
        Übereinkommen vom 25. Januar 1988 über die
        gegenseitige Amtshilfe in Steuersachen und zu
        dem Protokoll vom 27. Mai 2010 zur Änderung
        des Übereinkommens über die gegenseitige
        Amtshilfe in Steuersachen (Tagesordnungs-
        punkt 27)
        Uwe Feiler (CDU/CSU): Heute beraten und be-
        schließen wir in zweiter und dritter Lesung zu einem
        Thema, dessen Umsetzung ein großer Fortschritt für
        den Vollzug der Besteuerung in einer globalisierten
        Finanzwelt darstellt.
        51 Staaten haben sich im Oktober letzten Jahres auf
        Initiative von Bundesfinanzminister Schäuble in Berlin
        darauf verständigt, zukünftig durch einen gemeinsamen
        Informationsaustausch in Steuersachen die Zusammen-
        arbeit zu intensivieren und Schlupflöcher zu schließen.
        Sie knüpft damit an den Foreign Account Tax Compliance
        Act, FATCA, mit den Vereinigten Staaten von Amerika
        und dem Übereinkommen zur Amtshilfe in Steuersachen
        von 1988 an. Diese Vereinbarung stellt aber auch sicher,
        dass Ungleichbehandlungen und Doppelbesteuerungen
        vermieden werden. Von daher ist dieser Gesetzentwurf
        das Resultat zwischen dem Erfordernis, dass kein Steu-
        erpflichtiger seiner Verantwortung durch Steuerhinter-
        ziehung und Vermeidung ausweichen kann, und dem
        Bekenntnis der teilnehmenden Staaten, dass die Besteue-
        rung nach feststehenden Regeln erfolgt. Die im Titel die-
        ses Gesetzes enthaltene Jahreszahl 1988 macht aber auch
        deutlich, dass dringender Handlungsbedarf bestand, um
        die Vereinbarung den Erfordernissen der heutigen Zeit
        anzupassen.
        Gleichzeitig galt es sicherzustellen, dass mit den
        Möglichkeiten der automatisierten Übertragung von
        Steuerdaten auch dem Datenschutz zur Sicherstellung
        des Steuergeheimnisses besondere Bedeutung zukommt.
        Dies wird durch die Vereinbarung sichergestellt, dass die
        Staaten nur dann Informationen erteilen sollen, wenn
        dies im Einklang mit ihrem innerstaatlichen Recht steht.
        In dem Gesetz ist deshalb sehr detailliert festgelegt, wel-
        che Übermittlungspflichten bestehen und wie die Fi-
        nanzinstitute die Daten entsprechend aufzubereiten ha-
        ben.
        Aber auch auf das Bundeszentralamt für Steuern
        kommen Aufgaben zu. Da aus guten Gründen die Über-
        mittlung nicht zwischen den Finanzinstituten direkt er-
        folgt, sondern über staatliche Institutionen, die einer be-
        sonderen Aufsicht unterliegen, abgewickelt wird, sind
        zum einen die Datensätze an die teilnehmenden Staaten
        zu übermitteln und zum anderen die ankommenden
        Datensätze anzunehmen und an die Landesfinanzver-
        waltungen weiterzuleiten, die Daten für 15 Jahre zu
        speichern – die Löschung ist sicherzustellen – und die
        Melde- und Sorgfaltspflichten der Finanzinstitute zu
        überprüfen. Das Übereinkommen umfasst deshalb auch
        11270 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
        (A) (C)
        (D)(B)
        die Durchführung gleichzeitiger Steuerprüfungen sowie
        die Teilnahme deutscher Finanzbeamter an Steuerprü-
        fungen im Ausland.
        Mit dem heutigen Beschluss wird sichergestellt, dass
        die Ende 2014 getroffenen Vereinbarungen in der EU-
        Amtshilferichtlinie in nationales Recht übertragen wer-
        den und zum 30. Juni 2017 der Austausch der Steuer-
        daten ab dem Jahr 2016 erfolgen kann. Nur mit dieser
        Vorlaufzeit ist es den Finanzinstituten und Behörden
        möglich, entsprechende Vorbereitungen für die Umset-
        zung zu treffen.
        Nicht verschweigen will ich, dass für die Wirtschaft,
        aber auch für unsere Finanzverwaltung auch finanzielle
        Mehrbelastungen bestehen. In diesem Fall halte ich das
        jedoch für gut investiertes Geld, da die Maßnahmen
        maßgeblich zur Steuergerechtigkeit beitragen und si-
        cherstellen, dass niemand nur aufgrund besonderer
        Kenntnisse im Bereich der Steuergestaltung über Aus-
        landskonten bevorteilt wird.
        Philipp Graf Lerchenfeld (CDU/CSU): Mit dem
        heute zu verabschiedenden Gesetz gehen wir wieder ei-
        nen weiteren Schritt zu einer vollständigen Erfassung
        steuerlicher Sachverhalte im internationalen Bereich.
        Im Herbst 2014 fand eine Konferenz mit Vertretern
        von 50 Staaten statt, auf der mit der Unterzeichnung glo-
        baler Standards ein wichtiges Signal gesetzt wurde.
        Diese Vereinbarung basiert auf dem Übereinkommen zur
        gegenseitigen Amtshilfe in Steuersachen aus dem Jahr
        1988 sowie dem Abkommen „Foreign Account Tax
        Compliance Act“ mit den USA. Laut dieser Vereinba-
        rung vom 24. Oktober 2014 ergibt sich für die deutschen
        Steuerbehörden die Verpflichtung, Namen, Anschrift,
        Steueridentifikationsnummer, Kontonummern etc. an die
        anderen Vertragsstaaten zu übermitteln. Die Steuerbe-
        hörden der Vertragsstaaten werden ab 2017 die entschei-
        denden und notwendigen Daten von im Staat ansässigen
        Finanzdienstleistern und Banken erhalten und diese ein-
        mal jährlich austauschen.
        Mit diesem heute zu verabschiedenden Gesetz setzen
        wir das Abkommen bzw. die EU-Richtlinie in nationales
        Recht um. Damit wird ein einheitlicher Rechtsrahmen
        für die Amtshilfe in Steuersachen geschaffen.
        Neben dem Informationsaustausch werden auch die
        gleichzeitige Steuerprüfung und die Teilnahme an Steu-
        erprüfungen im Ausland geregelt. Dies alles verfolgt
        letztendlich das Ziel einer ordnungsgemäßen und umfas-
        senden Ermittlung der Steuerpflicht und damit auch der
        Bekämpfung von Steuerhinterziehung und Steuerver-
        meidung.
        Die Steuerpflichtigen werden aber damit auch bei der
        Wahrnehmung ihrer Rechte unterstützt, insbesondere im
        Hinblick auf ein einheitliches ordnungsgemäßes rechtli-
        ches Verfahren für Steuersachen in allen Vertragsstaaten
        sowie im Hinblick auf den Schutz vor Ungleichbehand-
        lung und Doppelbesteuerung.
        Mit dem Gesetz wird das Bundesfinanzministerium
        auch ermächtigt, Änderungen und Ergänzungen der in
        Anlage A zum Übereinkommen aufgeführten Steuern
        durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesra-
        tes vorzunehmen. Die Steuerpflichtigen müssen in die-
        sem Zusammenhang auch hinsichtlich ihrer personenbe-
        zogenen Daten geschützt bleiben. Hierzu wird eine
        entsprechende Erklärung zur Wahrung des Datenschut-
        zes abgegeben werden.
        Wesentlich ist aber auch, dass durch die ausdrückli-
        che Nennung der Schutzbestimmungen nach Artikel 22
        Absatz 1 des Abkommens der Bezug zu deutschen und
        europäischen Grund- und Menschenrechtsstandards
        hergestellt wird. Damit wird jedwede Nutzung von
        Steuerdaten in Strafverfahren ausgeschlossen, die zu ei-
        ner Verletzung der grundgesetzlich garantierten Men-
        schenrechte führen könnte.
        Mit diesem Gesetz gehen wir einen großen Schritt
        nach vorne zu einer größeren Steuergerechtigkeit. Es
        wird in Zukunft nicht mehr so leicht sein, Steuern zu
        hinterziehen oder zu vermeiden, indem man sich auslän-
        discher Banken und Finanzdienstleister bedient.
        Natürlich gibt es immer noch vielfältige Gestaltungs-
        möglichkeiten, um die Steuerlast so gering wie möglich
        zu halten. Große internationale Konzerne machen uns
        das ebenso vor wie erfolgreiche Fernsehmoderatoren,
        die sich von im Ausland liegenden eigenen Produktions-
        firmen anstellen lassen, um hohe Gewinne aus ihren ei-
        genen Auftritten im deutschen Fernsehen in niedrigbe-
        steuerte Nachbarländer zu verschieben.
        Ich möchte die Gelegenheit aber auch nutzen, mich
        heute beim Bundesfinanzminister und seinen Mitarbei-
        tern ausdrücklich zu bedanken, dass ein weiterer wichti-
        ger Schritt zur umfassenden Erfassung steuerlicher Sach-
        verhalte im Ausland gemacht wurde.
        Dieses Gesetz ist vernünftig und notwendig, und des-
        halb bitte ich um Ihre Zustimmung.
        Andreas Schwarz (SPD): Mit dem vorliegenden
        Gesetzentwurf legen wir die Basis für eine konsequente
        Weiterentwicklung der gegenseitigen Amtshilfe in Steu-
        ersachen. Endlich werden die von uns unterzeichneten
        Abkommen zum Datenaustausch in Steuersachen auch
        in nationales Recht umgesetzt.
        Wir begrüßen ausdrücklich, dass den Steuerbehörden
        mit dieser Ratifizierung in Zukunft deutlich bessere
        Möglichkeiten zur Verfügung stehen, Steuerkriminalität
        noch wirksamer zu bekämpfen. Die Verabschiedung des
        vorliegenden Gesetzentwurfs wird den Kampf gegen
        Steuerhinterziehung und Steuervermeidung erheblich
        verbessern. Diese verstärkte internationale Zusammen-
        arbeit vor allem auch in Steuersachen liegt im Interesse
        unseres Landes und unserer Bürgerinnen und Bürger.
        Es ist gerecht, wenn wir Steuerbetrug noch härter be-
        kämpfen, weil jeder und jede seinen gerechten Anteil an
        der Finanzierung des Staates leisten muss. Wenn das
        nicht der Fall ist, gerät die Finanzierung des Staates in
        Schieflage. Das können wir nicht länger hinnehmen, und
        deshalb handeln wir.
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11271
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        Ich kann mich noch sehr gut an die Debatte über das
        deutsch-schweizerische Steuerabkommen vor drei Jahren
        erinnern. Damals hat Rot-Grün im Bundesrat dieses Ab-
        kommen zu Fall gebracht. Einer der Hauptgründe: Das
        deutsch-schweizerische Steuerabkommen hätte Steuer-
        hinterzieher geschützt und somit quasi eine Legalisie-
        rung von Steuerkriminalität bei fortbestehender Anony-
        mität bedeutet.
        Es war inakzeptabel, dass Steuerbetrüger in die
        Anonymität hätten abtauchen bzw. sich weiter in ihr ver-
        stecken können – und das auch noch legalisiert durch
        dieses Abkommen! Wir hätten als Bundesrepublik über-
        haupt keine Handhabe beispielsweise gegenüber der
        Schweiz gehabt, um an Informationen zu deutschen
        Staatsbürgern mit Vermögen in der Schweiz zu gelan-
        gen.
        Wer sich der Steuerpflicht und damit der Solidarität
        dem Staat und seinen Bürgern gegenüber entzieht, der
        darf dafür weder belohnt noch nachträglich geschützt
        werden!
        Die damalige Ablehnung des Steuerabkommens war
        eine weise Entscheidung, wie sich nicht nur im Nach-
        hinein herausstellt.
        Mit der Aufdeckung prominenter Fälle von Steuerhin-
        terziehung und dem Ankauf von Steuer-CDs aus dem
        Ausland ist in den letzten Jahren nämlich zweierlei er-
        reicht worden:
        Erstens. Es hat unzweifelhaft dazu geführt, dass sich
        immer mehr Steuerflüchtlinge selbst angezeigt und den
        Steuerbehörden offenbart haben.
        Zweitens. Wir haben das Institut der strafbefreienden
        Selbstanzeige im vergangenen Jahr erheblich verschärft
        und dafür gesorgt, dass sich Steuerbetrug nicht mehr
        lohnt.
        Nationale Gesetzgebung gegen Steuerhinterziehung
        ist unverzichtbar, um effektiv gegen Steuervermeidung
        und -betrug vorzugehen. Genauso klar ist aber auch, dass
        wir letzten Endes nur erfolgreich sein werden, wenn wir
        das Problem global angehen. Mit anderen Worten: Ohne
        eine verstärkte internationale Zusammenarbeit kommen
        wir hier nicht weiter.
        Und hier hat sich seit der Ablehnung des deutsch-
        schweizerischen Steuerabkommens viel getan. Wer hätte
        es für möglich gehalten, dass Abkommen mit Staaten
        verabredet werden konnten, die einem verstärkten inter-
        nationalen Datenaustausch, sagen wir mal, von jeher
        eher skeptisch gegenüberstanden?
        Es ist nicht hoch genug einzuschätzen, dass es gelun-
        gen ist, auch befreundete Länder wie zum Beispiel die
        Schweiz und Liechtenstein mit ins Boot zu holen, um
        mit ihnen gemeinsam im Kampf gegen Steuerhinterzie-
        hung voranzukommen. Das alles hätte vor drei Jahren
        kaum jemand für möglich gehalten.
        Wenn der automatische Datenaustausch nach dem
        Common Reporting Standard, CRS, der OECD jetzt
        endlich nationaler und internationaler Standard wird,
        wird dies zusätzlichen Druck auf Steuersünder auslösen
        und sich hoffentlich positiv auf deren Steuermoral aus-
        wirken. Dafür spricht die SPD-Bundestagsfraktion allen
        Beteiligten ihren besonderen Dank aus.
        Der Gesetzentwurf bietet gleichzeitig auch praktische
        Verbesserungen für Steuerpflichtige, nämlich Schutz vor
        Ungleichbehandlung und Doppelbesteuerung. Freuen
        dürfen sich übrigens auch diejenigen, die seit jeher dem
        Ankauf von Steuer-CDs ablehnend gegenüberstehen,
        denn je konkreter der Datenaustausch zwischen den
        Staaten geregelt ist, desto überflüssiger wird irgendwann
        auch der Ankauf dieser CDs.
        Ich komme zum Schluss. Die Amtshilfe der Staaten
        untereinander ist unverzichtbar, um Steuerbetrug und
        Steuervermeidung wirksam zu bekämpfen. Hier kom-
        men wir mit diesem Gesetzentwurf einen großen Schritt
        voran.
        Richard Pitterle (DIE LINKE): Die Regierungsko-
        alition wird wieder einmal den heutigen Tag zum guten
        Tag erklären. Nicht wegen des heute sonnigen Wetters,
        sondern weil sie versucht, uns weiszumachen, dass hier
        große Schritte bei der Bekämpfung von Steuerhinterzie-
        hung und Steuervermeidung gemacht würden. Der vor-
        liegende Gesetzentwurf hat aber gerade einmal Symbol-
        charakter, mehr nicht! Ich kann Ihnen deshalb schon
        jetzt verraten, dass die Linke sich der Stimme enthalten
        wird.
        Aber nun zum Inhalt. Mit dem Gesetz wird dem
        Übereinkommen über gegenseitige Amtshilfe in Steuer-
        sachen zugestimmt. Dieses bereits im Jahr 1988 erarbei-
        tete Übereinkommen soll der Bekämpfung von Steuer-
        hinterziehung und Steuervermeidung dienen. Es
        beinhaltet Regelungen zum Informationsaustausch zwi-
        schen den jeweiligen Steuerbehörden, zu gleichzeitigen
        Steuerprüfungen sowie zu Teilnahmen an Steuerprüfun-
        gen im Ausland. Durch diese Zusammenarbeit der Be-
        hörden soll also den schwarzen Schafen, die ihr Geld auf
        Kosten der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler im Aus-
        land verstecken, das Leben schwer gemacht werden.
        Das hört sich so weit ja ganz nett an, aber bei genaue-
        rem Hinsehen ist das leider wieder einmal nur heiße
        Luft. Es wird kaum etwas Verbindliches festgeschrieben;
        das meiste ist optional oder kann durch Vorbehalte durch
        die einzelnen Staaten umgangen werden. Das Überein-
        kommen mag zwar 1988 wegweisend gewesen sein;
        heute ist es das jedoch definitiv nicht mehr. Das Ende
        letzten Jahres unterzeichnete Abkommen über den auto-
        matischen Informationsaustausch in Steuersachen ist da
        bereits ein ganzes Stück weiter, obwohl auch das immer
        noch Schlupflöcher für Steuervermeidung lässt.
        Ich will Ihnen ja zugestehen, meine Damen und Her-
        ren von der Bundesregierung, dass es immer schwierig
        ist, bei internationalen Abkommen alle Interessen unter
        einen Hut zu bringen. Aber gerade deshalb müssen wir
        mit gutem Beispiel vorangehen. Wenn Sie es mit der Be-
        kämpfung von Steuervermeidung und Steuerhinterzie-
        hung wirklich ernst meinen, meine Damen und Herren
        von der Großen Koalition, beginnen Sie vor der eigenen
        Haustür, und lassen Sie uns dafür sorgen, dass wir den
        11272 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
        (A) (C)
        (D)(B)
        schwarzen Schafen schon hierzulande, auf nationaler
        Ebene, das Leben schwer machen. Es gibt diverse Maß-
        nahmen, die wir längst hätten umsetzen können.
        Die Behörden sind chronisch unterbesetzt, und die
        Bundesländer agieren beim Steuervollzug uneinheitlich.
        Die Linke fordert deswegen schon seit langem mehr Per-
        sonal und eine stärkere Zuständigkeit des Bundes beim
        Steuervollzug hin zu einer Bundessteuerverwaltung samt
        einer Bundesfinanzpolizei. Hier hat die Große Koalition
        bisher nichts zustande gebracht.
        Oder nehmen wir den Bereich der Unternehmensteu-
        ern: Hier blocken Sie alles ab, meine Damen und Herren
        von Union und SPD, was es Unternehmen erschweren
        würde, ihre Gewinne durch Schlupflöcher im Steuersys-
        tem ins Ausland zu schleusen. Erst kürzlich haben Sie
        einen Antrag der Linken zur Beseitigung von Konzern-
        privilegien bei der Bilanzveröffentlichung abgelehnt, ob-
        wohl wir dort dringend mehr Transparenz brauchen. Und
        auch das Country-by-Country-Reporting, welches Un-
        ternehmen dazu zwingen würde, offenzulegen, welche
        Umsätze sie in welchem Land erzielen, lehnen Sie ab.
        Dabei hatten Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von
        der SPD, im Wahlkampf sogar noch damit geworben.
        Mit solchen Gesetzen wie dem vorliegenden, die
        letztlich lediglich Symbolcharakter haben, ändern wir
        kaum etwas. Um den internationalen Kampf gegen Steu-
        ervermeidung und Steuerhinterziehung wirklich voran-
        zubringen, müssen wir erst einmal unsere eigenen Haus-
        aufgaben machen und auf innerstaatlicher Ebene mit
        gutem Beispiel vorangehen. Die Linke steht dafür in je-
        dem Fall bereit.
        Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Wir bekommen heute ein Gesetz zur Abstim-
        mung vorgelegt, das ein fast 30 Jahre altes internationa-
        les Übereinkommen zur Amtshilfe in Steuersachen in
        nationales Recht umsetzt. Diese Amtshilfe umfasst In-
        formationsaustausch, gleichzeitige Steuerprüfungen und
        die Teilnahme an Steuerprüfungen im Ausland. Dies
        sind wichtige Instrumente zur Bekämpfung von Steuer-
        hinterziehung und Steuervermeidung. Gleichzeitig dient
        das Gesetz als völkerrechtliche Grundlage für den auto-
        matischen Informationsaustausch, den wir Grüne seit
        vielen Jahren fordern. Wir werden diesem Gesetz daher
        zustimmen.
        Nun preisen die Koalitionsfraktionen diesen Schritt
        beim Kampf gegen Steuerhinterziehung. Hier müssen
        wir jedoch genauer hinsehen: Wir stellen fest, dass die
        Bundesregierung die Ratifizierung dieses Abkommens
        um viele Jahre verschleppt hat. Das Abkommen von
        1988 hat die Bundesregierung 2008 unterzeichnet. Im
        Jahr 2010 gab es ein Änderungsprotokoll zur Verbesse-
        rung des Abkommens, dies hat die Bundesregierung
        2011 unterzeichnet. Beide Dokumente werden aber erst
        jetzt, im Jahr 2015, ratifiziert und können somit auch erst
        jetzt in Kraft treten. Das macht deutlich, dass die Bun-
        desregierung international dem Kampf gegen Steuerhin-
        terziehung eher die kalte Schulter gezeigt hat. Sie hat
        dem Thema in der Vergangenheit offenbar keine Priori-
        tät beigemessen. Deutschland kann so kein Vorbild bei
        der Bekämpfung von Steuerhinterziehung und -gestal-
        tung sein, was ich sehr bedauere. Es liegt sogar nahe,
        dass bestimmte Instrumente der gegenseitigen Amtshilfe
        für Deutschland versperrt geblieben sind, da das Ab-
        kommen bisher de facto nicht genutzt werden konnte.
        Der internationale Prozess in Sachen Informations-
        tausch ist mittlerweile viel weiter fortgeschritten. Ende
        Oktober letzten Jahres unterzeichneten rund 50 Länder
        einen Standard zum globalen automatischen Informa-
        tionsaustausch – ein großer Durchbruch. Denn bisher
        wurden nur auf Anfrage Informationen ausgetauscht,
        was Steuerhinterziehung nicht effektiv verhindern kann.
        Die Bundesregierung wurde vom Saulus zum Paulus –
        einige Jahre zuvor wollte sie mit der Schweiz noch ein
        anonymes Abgeltungsteuer-Abkommen vereinbaren.
        Dies hätte nach Meinung vieler Experten den internatio-
        nalen Prozess zu einem automatischen Informationsaus-
        tausch um Jahre zurückgeworfen. Ich bin froh, dass die
        rot-grünen Länder im Bundesrat dieses unsägliche
        Deutsch-Schweizer Steuerabkommen damals stoppen
        konnten. Als nächster Schritt steht nun die Umsetzung
        des automatischen Informationsaustausches in Deutsch-
        land an. Die Referentenentwürfe liegen bereits vor. Dies
        werden wir aufmerksam und intensiv begleiten.
        So entscheidend der automatische Informationsaus-
        tausch für die Bekämpfung von Steuerhinterziehung und
        Steuervermeidung ist, für die Eindämmung der Steuer-
        gestaltung multinationaler Unternehmen brauchen wir
        noch ein weiteres Instrument: Transparenz. Es waren
        erst die Berichte in der Öffentlichkeit und eben nicht die
        Initiativen der nationalen Gesetzgeber, die die Steuerge-
        staltung international agierender Unternehmen sichtbar
        gemacht haben. Dabei geht es nicht nur um die Einnah-
        meverluste von einzelnen Staaten, sondern es geht vor
        allem auch um die Wettbewerbsverzerrung zwischen
        einzelnen Ländern und um die Wettbewerbsverzerrung
        zwischen national und international tätigen Unterneh-
        men. Ein geordneter Wettbewerb, die Schaffung eines
        „level playing field“ ist die Voraussetzung für die wirt-
        schaftliche Leistungsfähigkeit, und genau diese zu för-
        dern, ist der Auftrag der Regierung.
        Auf europäischer Ebene konnten zumindest für Ban-
        ken und rohstoffextrahierende Industrien länderbezo-
        gene Offenlegungspflichten vereinbart werden, und na-
        tionale – auch der deutsche – Gesetzgeber mussten diese
        Offenlegungspflichten in ihr Recht umsetzen. Um aber
        Steuergestaltung der Konzerne auch in anderen Bran-
        chen transparent zu machen und entsprechende Gegen-
        maßnahmen nicht nur einzuleiten, sondern vor allem in
        ihrer Wirksamkeit zu überwachen, brauchen wir länder-
        bezogene Offenlegungspflichten für alle Branchen. Und
        dies ist möglich, wie Berichtspflichten in anderen Län-
        dern beweisen. Selbstverständlich wird man dabei be-
        achten müssen, mit Augenmaß vorzugehen und kleine
        und mittlere Unternehmen auszunehmen bzw. nicht
        übermäßig zu belasten.
        Ich appelliere an die Regierungsfraktionen: Lassen
        Sie uns nicht nur den Austausch von Finanzverwaltun-
        gen verbessern, sondern Transparenz schaffen bei der
        Steuergestaltung multinationaler Unternehmen! Denn
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11273
        (A) (C)
        (D)(B)
        um die Wirksamkeit der entsprechenden nationalen
        Steuergesetzgebung überwachen zu können, brauchen
        wir Transparenz in Form eines öffentlichen Country-by-
        Country-Reportings. Hier muss die Bundesregierung
        ihre Verweigerungshaltung endlich aufgeben.
        Anlage 26
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung:
        – Entwurf eines Gesetzes zur Entlastung ins-
        besondere der mittelständischen Wirtschaft
        von Bürokratie (Bürokratieentlastungsge-
        setz)
        – Beschlussempfehlung und Bericht zu dem
        Antrag: Bürokratie gezielt abbauen statt
        Stillstand manifestieren
        (Tagesordnungspunkte 28 a und 28 b)
        Helmut Nowak (CDU/CSU): Diese Koalition hat es
        sich zum Ziel gesetzt, unsere Wirtschaft und Bevölke-
        rung von Bürokratie und Bürokratiekosten zu entlasten.
        Hierzu wurden bereits am 11. Dezember 2014 Eck-
        punkte für eine Bürokratieentlastungsstrategie von der
        Bundesregierung beschlossen. Diese Strategie wird nun
        im Verlaufe dieser Wahlperiode Schritt für Schritt umge-
        setzt. Es ist insbesondere die Absicht, vor allem für klei-
        nere und mittlere Unternehmen eine spürbare Absen-
        kung der bürokratischen Hürden zu realisieren.
        Vornehmlich Existenzgründer müssen unserer Ansicht
        nach deutlich von zahlreichen Aufzeichnungs-, Berichts-
        und Aufbewahrungspflichten sowie steuerlichen Anzei-
        gepflichten entlastet werden, wenn wir vor allem auch
        die Gründungsdynamik in Deutschland verbessern wol-
        len. Gerade in Zeiten wirtschaftlicher Prosperität ist es
        wichtig, die Markteintrittsbarrieren nicht bereits auf-
        grund staatlicher Regelungsdichte für junge Unterneh-
        merinnen und Unternehmer zu erhöhen und so Men-
        schen davon abzuhalten, sich eine selbstständige
        Existenz aufzubauen. Wir müssen auch in Zukunft alles
        daransetzen, Unternehmertum und unternehmerische
        Selbstständigkeit in Deutschland zu fördern; denn jede
        Neugründung schafft erfahrungsgemäß durchschnittlich
        vier bis fünf Arbeitsplätze. Schaut man sich jüngst ver-
        öffentlichte Zahlen zu der Entwicklung der Existenz-
        gründungen in Deutschland an, so muss man ernüch-
        ternd feststellen, dass die Zahl der Gründungen von
        572 500 im Jahr 2004 auf 309 900 im Jahr 2014 zurück-
        gegangen ist. Natürlich ist dies eine Entwicklung, die
        auch auf die derzeitige Stärke unserer Wirtschaft und auf
        die dementsprechende Attraktivität abhängiger Beschäf-
        tigung zurückzuführen ist. Diese Attraktivität steigt al-
        lerdings umso mehr, als selbstständige Arbeit und Unter-
        nehmertum durch eine immer mehr um sich greifende
        Regelungsdichte unattraktiv werden. Unternehmer wol-
        len etwas unternehmen und nicht verwalten.
        Als Gesetzgeber haben wir dementsprechend die Auf-
        gabe, die Bedingungen für Unternehmertum so optimal
        zu gestalten, dass möglichst viele Menschen in diesem
        Land sich selbst und andere durch ihre Selbstständigkeit
        beschäftigen. Insbesondere unnötige oder nicht nach-
        vollziehbare bürokratische Regelungen behindern dies
        zunehmend. Dem Bürokratieabbau kommt daher eine
        durchaus sehr wichtige Rolle zu: Auf der einen Seite be-
        nötigen wir selbstverständlich eine leistungsfähige,
        transparente und auch serviceorientierte Verwaltung für
        das Funktionieren unseres Gemeinwesens. Allerdings
        muss hier gelten: So viel Verwaltung und damit Bürokra-
        tie wie nötig, aber auch so wenig wie möglich!
        Bürokratie darf sich nicht verselbstständigen und da-
        mit zum Selbstzweck werden. Wir müssen uns daher fra-
        gen, ob beispielsweise wirklich alle Daten benötigt wer-
        den, die Firmen und Selbstständige regelmäßig zu
        übermitteln haben. Vielfach wird man zu dem Schluss
        kommen, dass auf viele verzichtet werden kann, weil
        keine zusätzlich relevanten Informationen zu erwarten
        sind.
        Genau hier setzt auch der heute von uns zu beschlie-
        ßende Entwurf eines Bürokratieentlastungsgesetzes an.
        Es handelt sich zunächst im Wesentlichen um rasch um-
        setzbare Maßnahmen, die insbesondere auf kleine und
        mittelständische Unternehmen sowie Selbstständige ab-
        zielen. Erstmals werden wir etwa Existenzgründer von
        Meldepflichten zur Umweltstatistik befreien; durch die
        Anhebung der Grenzwerte für Buchführungs- und Auf-
        bewahrungspflichten im Handelsgesetzbuch und in der
        Abgabenordnung von 500 000 Euro auf 600 000 Euro
        sowie eine Anhebung der Meldeschwellen in der Intra-
        handelsstatistik von 500 000 Euro auf 800 000 Euro
        werden deutlich mehr und insbesondere kleinere Firmen
        als bisher profitieren. Gerade hier sind Entlastungen not-
        wendig und auch effektiv, und daher freue ich mich be-
        sonders, dass für diesen Kreis spürbare Entlastungen
        vorgenommen werden. Auch durch die Reduzierung be-
        stimmter Mitteilungspflichten über den Kirchensteuer-
        abzug reduzieren wir unnötige Bürokratie erheblich. Das
        Entlastungsvolumen dieses Gesetzes beträgt insgesamt
        immerhin circa 750 Millionen Euro pro Jahr.
        Einen weiteren wichtigen Schritt in die richtige Rich-
        tung geht die Bundesregierung auch mit der Einführung
        der „One in, one out“-Regelung; man könnte auch sa-
        gen: Es ist die erstmalige Einführung einer Bürokra-
        tiebremse. Ein Verfahren, das bereits in einigen europäi-
        schen Ländern existiert oder sich in der
        Einführungsphase befindet: Frankreich, Spanien, Li-
        tauen und Portugal haben die „One in, one out“-Regel
        schon übernommen. Großbritannien will sogar für jedes
        neue Gesetz zwei alte abschaffen. Kern dieser „One in,
        one out“-Regelung ist, in gleichem Maße gesetzgeberi-
        sche Belastungen dauerhaft abzubauen, wie durch neue
        Regelungsvorhaben zusätzliche Belastungen entstehen,
        ohne politisch gewollte Maßnahmen zu behindern.
        Bereits vorgestern, zum 1. Juli 2015, wurde mit der
        Bilanzierung begonnen. Die Ergebnisse werden ab 2016
        jährlich veröffentlicht. Aufpassen müssen wir allerdings
        hier, dass wir die jetzige Regelungsdichte nun nicht ze-
        mentieren, sondern vielmehr auch in Zukunft verstärkt
        an einer Reduzierung bürokratischer Altlasten arbeiten.
        Auch Umgehungen der „One in, one out“-Regelung bei-
        11274 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
        (A) (C)
        (D)(B)
        spielsweise durch untergesetzliche Normierungen stellen
        eine Versuchung dar, der nicht nachgegeben werden
        darf. Festzuhalten ist, dass die Einführung einer solchen
        Selbstverpflichtung der Regierung, die Bürokratie nicht
        noch weiter anwachsen zu lassen, einen wirklichen Mei-
        lenstein darstellt. Dieser klare Mentalitätswechsel nahm
        seinen Anfang mit der Gründung des Nationalen Nor-
        menkontrollrates 2006. Seitdem hat der NKR unter Füh-
        rung von Herrn Dr. Ludewig diesen Prozess mit hoher
        Kompetenz und Engagement begleitet und hat daher un-
        seren Respekt und Dank verdient.
        Über die quantitative Kostenerfassung zur Zeit des
        Kabinettsbeschlusses hinaus wäre es meines Erachtens
        erforderlich, dass ein möglicher zusätzlicher Erfüllungs-
        aufwand, der durch das parlamentarische Verfahren ver-
        ursacht wird, rechtzeitig benannt wird. Erst hierdurch
        wäre der tatsächliche Aufwand eines Gesetzes sichtbar,
        der womöglich durch zusätzliche Forderungen in der
        parlamentarischen Befassung die von der Bundesregie-
        rung ursprünglich genannten Kosten deutlich überstei-
        gen könnte.
        Dadurch ist es bei späterer Überprüfung möglich, auf
        den wirklichen Erfüllungsaufwand eines Gesetzes Bezug
        zu nehmen.
        Das Bürokratieentlastungsgesetz kann nur als ein ers-
        ter Schritt auf dem Weg zum Abbau unnötiger bürokrati-
        scher Lasten angesehen werden. Weitere Anstrengungen
        im Hinblick auf eine Verschlankung und Vereinfachung
        für mehr Entbürokratisierung und Wettbewerbsfähigkeit
        sind auch in den kommenden Wochen und Monaten not-
        wendig. Dies ist eine für die Zukunft ständig erforderli-
        che Aufgabe für Regierungen und Parlamentarier.
        Entbürokratisierung gilt im Übrigen nicht nur für die
        Wirtschaft, sondern genauso für viele Lebenslagen in
        unserem privaten Alltag. Im Vordergrund muss bei-
        spielsweise eine bessere Vernetzung von Behörden un-
        tereinander stehen, sodass etwa Unternehmen Daten
        nicht mehrmals abgeben müssen und somit bei Melde-
        pflichten deutlich und effektiv entlastet werden. Wir dür-
        fen dabei auch nicht übersehen, dass nahezu alle Spit-
        zenverbände der deutschen Wirtschaft vehement
        Reformen in diesem Bereich anmahnen. Hierzu gehören
        beispielsweise die Rücknahme der sogenannten Vorfäl-
        ligkeit und eine Verringerung der Anforderungen an
        Aufbewahrungspflichten und vieles mehr. Ganz eindeu-
        tig möchte ich mich in diesem Zusammenhang auch
        noch einmal für eine Anhebung des Schwellenwertes für
        die Sofortabschreibung geringwertiger Wirtschaftsgüter
        aussprechen. Eine Anpassung ist nach über einem hal-
        ben Jahrhundert dringend geboten.
        Bei einer signifikanten Erhöhung, etwa auf 1 000 Euro,
        und einer gleichzeitigen und vollständigen Abschaffung
        der Poolabschreibung wäre dies nicht nur ein deutliches
        Signal für alle Unternehmen in Deutschland, sondern es
        würde auch den Verwaltungsaufwand für die Wirtschaft
        und insbesondere für den Mittelstand erheblich reduzie-
        ren. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir dieses Ziel, ne-
        ben anderem Wichtigen, bereits in diesem Herbst ge-
        meinsam angehen können, wenn wir uns mit dem Abbau
        bürokratischer Belastungen aus finanzieller und steuerli-
        cher Perspektive beschäftigen. Denn die hohe Dichte an
        bürokratischen Regelungen und der damit verbundene
        Kostenaufwand stellen eine zunehmend größer wer-
        dende Herausforderung an die Wettbewerbsfähigkeit
        deutscher Unternehmen im internationalen Wettbewerb
        dar.
        Zusammenfassend können wir feststellen, dass das
        uns von der Bundesregierung vorgelegte Bürokratieent-
        lastungsgesetz als ein erster Aufschlag zu einer umfas-
        senden Überprüfung und Reduzierung bürokratischer
        Hemmnisse unserer Volkswirtschaft zu verstehen ist.
        Viele der Maßnahmen können bereits 2016 umgesetzt
        werden und reduzieren die tagtägliche Belastung in vie-
        len, besonders kleinen und mittelständischen Unterneh-
        men. Wir sind hier auf dem richtigen Weg, und daher
        bitte ich um Ihre Zustimmung.
        Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Bürokratie be-
        deutet die Herrschaft von Regeln und festgelegten Ver-
        fahren. Eine solche Vorherrschaft behindert Menschen
        und Unternehmen in ihrer Entwicklung. Wichtige Res-
        sourcen werden durch die Einhaltung bürokratischer Re-
        geln gebunden und stehen nicht mehr für Innovationen
        und Wachstum zur Verfügung. Wir müssen deshalb das
        Dickicht bürokratischer Regeln und Vorgaben immer
        wieder durchforsten und möglichst durchgreifend lich-
        ten. Bürokratieabbau ist eine Daueraufgabe.
        Heute befasse ich mich mit den steuerrechtlichen Ver-
        einfachungen. Mit dem Bürokratieentlastungsgesetz he-
        ben wir die Grenzbeträge für Buchführungs- und Auf-
        zeichnungspflichten im Handelsgesetzbuch und in der
        Abgabenordnung an. Wir stellen damit sicher, dass
        kleine Unternehmen weiterhin von Buchführungs- und
        Aufzeichnungspflichten befreit bleiben.
        Wir erhöhen die Grenze für die Lohnsteuerpauscha-
        lierung für kurzfristig Beschäftigte. Die Verdienstgrenze
        für die Pauschalierung steigt von 62 Euro auf 68 Euro
        pro Arbeitstag. Damit können Arbeitgeber auch nach
        Einführung des Mindestlohns (8,50 Euro, acht Arbeits-
        stunden) weiterhin kurzfristig Aushilfen beschäftigen
        und die Lohnsteuer pauschal erheben.
        Die jährliche Informationspflicht aller Kirchensteuer-
        abzugsverpflichteten, dass ein Abruf des Religionsmerk-
        mals beim Bundeszentralamt für Steuern erfolgt und
        dass ein Widerspruchsrecht zum Abruf des Kunden be-
        steht, ersetzen wir durch eine einmalige und gezielte
        individuelle Information während des Bestehens der
        Geschäftsbeziehung. Dies erspart vielen kleinen Kapital-
        gesellschaften und Genossenschaften, die eben auch zu
        den Kirchensteuerabzugsverpflichteten gehören, über-
        flüssige Meldungen ohne praktischen Nutzen.
        Schließlich vereinfachen wir das Faktorverfahren.
        Durch das Faktorverfahren werden bei jedem Ehegatten
        oder Lebenspartner steuerentlastende Vorschriften, wie
        der Grundfreibetrag oder die Wirkung des Splittingver-
        fahrens, beim Lohnsteuerabzug berücksichtigt. Das Fak-
        torverfahren führt damit zu einer Lohnsteuerbelastung,
        die recht nahe an der endgültigen Steuerbelastung liegt.
        Leider standen bisher hohe bürokratische Hürden einer
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11275
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        größeren Verbreitung des Faktorverfahrens im Wege.
        Bisher mussten die Ehegatten oder Lebenspartner jähr-
        lich einen gemeinsamen Antrag auf den Faktor beim Fi-
        nanzamt stellen. Um das Faktorverfahren attraktiver zu
        machen, muss dieser Antrag künftig nur noch alle zwei
        Jahre gestellt werden.
        Ein zentrales Anliegen der Wirtschafts- und Finanz-
        politiker der SPD, die Anhebung des Schwellenwertes
        für die Sofortabschreibung von geringwertigen Wirt-
        schaftsgütern, konnte dagegen noch nicht umgesetzt
        werden. Angesichts der unbestrittenen Notwendigkeit
        der Anhebung der GWG-Grenze ist dies nur schwer hin-
        nehmbar, geschweige denn zu verstehen. Die Grenze
        liegt seit 1962 bei 410 Euro. Von einer Anhebung wür-
        den nach Schätzung des DIHK wenigstens 3 Millionen
        Unternehmen profitieren. Eine Anhebung der Grenze
        hätte mehrere Vereinfachungseffekte:
        Die nicht buchführungspflichtigen Unternehmen, also
        Gewerbetreibende mit einem Gewinn bis nunmehr
        60 000 Euro jährlich bzw. einem Umsatz bis maximal
        600 000 Euro, und Freiberufler könnten bei den Auf-
        zeichnungspflichten entlastet werden.
        Eine Ermittlung der Nutzungsdauer könnte nach der
        Anhebung des Schwellenwertes für eine viel größere
        Anzahl von Wirtschaftsgütern entfallen.
        Ein Anlagenverzeichnis bräuchte in diesen Fällen
        nicht mehr geführt zu werden.
        Die höhere GWG-Grenze würde auch eine Vielzahl
        an Auseinandersetzungen mit der Finanzverwaltung über
        Nutzungsdauer und etwaige Aktivierungspflicht von
        Wirtschaftsgütern vermeiden.
        In die Betrachtung müssen natürlich auch die Steuer-
        ausfälle durch die höheren Abschreibungen in den ersten
        Jahren einbezogen werden. Diese fallen durchaus ins
        Gewicht. Auf die zunächst höheren Abschreibungen fol-
        gen dann aber niedrigere Abschreibungen in den Folge-
        jahren. Angesichts der überfälligen Bürokratieentlastung
        und der zu erwartenden Investitionsimpulse halte ich
        diese Haushaltsbelastungen aber für gut investiertes Geld.
        Der Einsicht in die Notwendigkeit einer Erhöhung der
        GWG-Grenze können sich natürlich auch die Wirt-
        schafts- und Finanzpolitiker der Union nicht entziehen.
        Dennoch konnten sie bisher nicht über ihren Schatten
        springen. Eine höhere GWG-Grenze soll es erst später,
        wahrscheinlich im Rahmen eines unter der Federführung
        des Bundesfinanzministeriums eingebrachten Gesetzge-
        bungsvorhabens, geben. Nicht, dass Sie nun denken,
        Partei- und Ressortinteressen würde offensichtlich der
        Vorzug vor der ökonomischen Vernunft gegeben. All
        den enttäuschten Mittelständlern versichere ich aber,
        dass sich die Wirtschafts- und Finanzpolitiker der SPD
        weiterhin für eine Anhebung der GWG-Grenze einset-
        zen werden.
        Nun kommt die sitzungsfreie Zeit, und wir sind selte-
        ner in Berlin; die meisten von uns sind in dieser Zeit
        zwei oder drei Wochen im Urlaub. Ich wünsche allen ei-
        nen schönen Urlaub und gute Erholung. Das gilt beson-
        ders für all jene, die sich hier im Hintergrund um alles
        kümmern und ohne die ein demokratisches Parlament
        überhaupt nicht arbeitsfähig wäre.
        Andrea Wicklein (SPD): Heute beschließen wir das
        Bürokratieentlastungsgesetz und reduzieren den Erfül-
        lungsaufwand der Wirtschaft um circa 744 Millionen
        Euro jährlich. Mit diesem Gesetz werden wir die
        Schwellenwerte für Buchführungs- und Aufzeichnungs-
        pflichten sowie für Meldepflichten für Existenzgründer
        und junge Unternehmen anheben und den Aufwand für
        rund 150 000 Unternehmen reduzieren. Wir werden den
        Lohnsteuerabzug für Ehegatten bzw. Lebenspartner ver-
        einfachen und die Pauschalierungsgrenze für kurzfristig
        Beschäftigte anheben. Und wir werden die Mitteilungs-
        pflichten für Kirchensteuerabzugsverpflichtete deutlich
        reduzieren.
        Die Öffentliche Anhörung zum Bürokratieentlas-
        tungsgesetz hat einmal mehr gezeigt, dass die Regie-
        rungskoalition auf dem richtigen Weg ist. Für die fünf
        Spitzenverbände der deutschen gewerblichen Wirtschaft
        sind bürokratische Lasten eines der maßgeblichen Hin-
        dernisse für mehr Wettbewerb und Innovationen. Alle
        Expertinnen und Experten, ob vom Deutschen Gewerk-
        schaftsbund, vom Industrie- und Handelskammertag
        oder vom Bundesverband der Deutschen Industrie, ha-
        ben bestätigt, dass überflüssige Bürokratie und bessere
        Rechtssetzung ganz zentrale Themen sind.
        Neben den im Gesetz verankerten Entlastungs-
        maßnahmen hat die Bundesregierung weitere Schritte
        beschlossen, die in unterschiedlichen Gesetzgebungs-
        verfahren wie dem Bundesstatistikgesetz, dem Vergabe-
        gesetz oder bei der Novellierung der Energiestatistik
        umgesetzt werden.
        Bereits seit 1. Juli ist die „One in, one out“-Regelung
        in Kraft, die die Bundesregierung verpflichtet, durch
        neue Regelungen für die Wirtschaft entstehende Belas-
        tungen an anderer Stelle abzubauen. Das baut Druck in
        den Ressorts auf, die eigene Regelungsdichte kritisch zu
        beobachten. Ich bin sehr gespannt, wie die Bundesregie-
        rung damit umgeht.
        Ich finde, wir haben mit dieser sogenannten „One in,
        one out“-Regelung einen guten Weg eingeschlagen, der
        allerdings nicht dazu führen darf, dass wir uns auf dem
        erreichten Stand ausruhen.
        Ich möchte auf einen Punkt des Antrags der Fraktion
        der Grünen besonders eingehen, und zwar auf Ihren
        Vorschlag, den Nationalen Normenkontrollrat unabhän-
        giger von der Bundesregierung zu machen. Hierbei
        schließe ich mich der kritischen Bewertung des DGB an,
        der das bei der Expertenanhörung abgelehnt hat. Auch
        aus meiner Sicht ist eine Veränderung der derzeitigen
        Praxis in diesem Zusammenhang nicht notwendig. Die
        Aufgaben und die Stellung des NKR sind im NKR-
        Gesetz klar und eindeutig geregelt.
        Der NKR hat danach die Aufgabe, die Bundesregie-
        rung bei der Umsetzung ihrer Maßnahmen auf den Ge-
        bieten des Bürokratieabbaus und der besseren Rechtsset-
        zung zu unterstützen. Er prüft den Erfüllungsaufwand
        neuer Regelungen für Bürgerinnen und Bürger, Wirt-
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        schaft und öffentliche Verwaltung auf ihre Nachvollzieh-
        barkeit und Methodengerechtigkeit. Aber die Ziele und
        Zwecke der Regelungen hat er nicht zu prüfen. Das ist
        Sache des Gesetzgebers.
        Ich finde, diese Aufgabenbeschreibung des NKR hat
        sich bewährt. Auch aus diesem Grund lehnt die SPD-
        Fraktion den Antrag der Grünen ab.
        Bereits bei der Einbringung des Gesetzes und auch
        bei der Anhörung wurde deutlich, dass der Vorstoß der
        SPD-Fraktion, den Schwellenwert bei der Sofortab-
        schreibung geringwertiger Wirtschaftsgüter deutlich an-
        zuheben, breite Zustimmung findet. Leider ist es uns bis
        zum heutigen Tag trotz intensiver Bemühungen nicht
        gelungen, unseren Koalitionspartner davon zu überzeu-
        gen, die Höhersetzung des Schwellenwertes mit diesem
        Gesetz auf den Weg zu bringen. Das bedaure ich sehr.
        Die SPD-Bundestagsfraktion sieht bei der Anpassung
        der Schwellenwerte weiterhin einen dringenden, längst
        überfälligen Handlungsbedarf. Es ist nun wirklich nicht
        mehr zu rechtfertigen, dass seit 1965 – also seit nunmehr
        50 Jahren – der Schwellenwert bei 410 Euro netto liegt.
        Allein inflationsbereinigt müsste der Wert heute bereits
        bei rund 1 200 Euro liegen.
        Die SPD-Fraktion bleibt deshalb dabei, dass wir eine
        deutliche Anhebung der Schwellenwerte für die sofor-
        tige Abschreibung geringwertiger Wirtschaftsgüter
        brauchen. Das wäre sowohl ein steuerliches Vereinfa-
        chungsprogramm als auch gleichzeitig ein enormer In-
        vestitionsanreiz für die Unternehmen.
        Ich bin dennoch froh, dass wir heute mit dem vorlie-
        genden Gesetzentwurf vor allem die Mittelständler und
        Existenzgründer von überflüssiger Bürokratie entlasten.
        Michael Schlecht (DIE LINKE): Es ist bemerkens-
        wert, mit welcher Geschwindigkeit dieses Gesetz hier
        durch das Parlament gebracht wird. Bemerkenswert ist
        auch, dass das wichtigste Vorhaben der Bundesregierung
        zum Bürokratieabbau zwar im Quasivorwort des Geset-
        zes auftaucht, aber gar nicht im Gesetz selbst steht, son-
        dern das Kabinett dieses nur als untergesetzliche Rege-
        lung umgesetzt hat, welche gestern, also zum 1. Juli, in
        Kraft getreten ist. Es geht um die sogennante „One in,
        one out“-Regelung, nach der bei einer zusätzlichen büro-
        kratischen Belastung eine zwingende Entlastung für Un-
        ternehmen vorzusehen ist.
        Es kann nicht sein, dass unter Umgehung des Parla-
        ments eine so weitreichende Norm geschaffen wird. Mit
        der „One in, one out“-Regelung entscheidet nicht mehr
        die Sach- und Fachpolitik über Sinnhaftigkeit von ge-
        setzlichen Regelungen, sondern entscheidend ist, dass
        die Kostenbelastung der Unternehmen nicht erhöht wird.
        Man muss davon ausgehen, dass etwa die Einführung
        des Equal-pay-Grundsatzes für die Leiharbeit, das Ent-
        geltgleichheitsgesetz oder die Revision der Arbeitsstät-
        tenverordnung damit wohl beerdigt sind. Denn sinnvoll
        gemacht würden sie zu mehr Erfüllungsaufwand für die
        Unternehmen führen. Da es kaum eine Möglichkeit zur
        Kompensation gibt, wird mit der „One in, one out“-Re-
        gelung das Ende jeglicher Reformpolitik in der Arbeits-
        welt durch die Regierung faktisch verkündet.
        Hätte es diese Regelung bereits vor der Einführung
        des Mindestlohnes gegeben, dann wäre er wahrschein-
        lich nicht eingeführt worden. Denn der Erfüllungsauf-
        wand wurde auf etwa 9,6 Milliarden Euro geschätzt,
        Ausgleich fast unmöglich.
        Die Bundesregierung will mit diesem Gesetz gerade
        kleinen und mittleren Unternehmen helfen. Die Absicht
        ist löblich. Aber sie kommt über ein paar Verzierungen
        nicht hinaus.
        Auch noch so viele gestrichene Vorschriften bringen
        keine neuen Aufträge für kleine und mittelständische
        Unternehmen. Tun Sie was für die Binnennachfrage! Le-
        gen Sie ein groß dimensioniertes Zukunftsinvestitions-
        programm von 100 Milliarden Euro jährlich auf! Dann
        bekommen auch viele kleine und mittlere Unternehmen
        wieder ihre Aufträge.
        Wir bleiben dabei: Sorgen Sie endlich dafür, dass
        Löhne in Deutschland wieder steigen können. Gegen-
        über dem Jahr 2000 gibt es noch eine Lohnlücke von
        mindestens 14 Prozent. Die muss geschlossen werden.
        Dann können viele auch wieder ihre Handwerker bezah-
        len.
        Die größte Entlastung mit geschätzt 500 Millionen
        Euro schafft das Gesetz, indem in Zukunft eine ordentli-
        che Buchführung erst ab einem Umsatz von 600 000 Euro
        gegenüber heute von 500 000 Euro gefordert wird. Das
        finde ich abstrus. Jeder Unternehmer mit mindestens
        500 000 Euro Umsatz macht schon als ordentlicher
        Kaufmann eine Rechnungslegung mit Bilanz und Ge-
        winn- und Verlustrechnung. Und wer es nicht freiwillig
        macht, sollte ruhig dazu angehalten werden. Schon aus
        Fürsorgepflicht!
        Bürokratieabbau ist sinnvoll, wenn er im Interesse der
        Menschen ist. Bürokratieabbau mit ein paar Verzierun-
        gen, der zum Stopp staatlicher Reformpolitik führt, leh-
        nen wir jedoch ab.
        Und in Richtung der Grünen will ich noch sagen, dass
        wir die von Ihnen in Ihrem Antrag geforderten Maßnah-
        men mehrheitlich durchaus für sinnvoll erachten; doch
        Ihre grundsätzlich positive Haltung zur „One in, one
        out“-Regelung, die sich in Ihrem Antrag widerspiegelt,
        können wir nicht nachvollziehen. Auch für sinnvolle
        ökologische Regelungen werden durch die „One in, one
        out“-Regelung Sperren hochgezogen. Wir sind sehr ge-
        spannt, wo Sie da den Erfüllungsaufwand kompensieren
        wollen. Ein bisschen mehr Ökologie gegen ein bisschen
        weniger Beschäftigtenschutz? Daher können wir uns bei
        Ihrem Antrag auch nur enthalten.
        Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Diese Debatte heute ist eine der groteskesten und,
        ich finde, auch unbefriedigendsten, die ich bisher in
        meiner Zeit im Bundestag erlebt habe. Ich will erklären,
        warum.
        Bis auf die Fraktion Die Linke sind wir uns im Prin-
        zip einig, dass der Bürokratieabbau ein wichtiges, für
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11277
        (A) (C)
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        kleine und mittlere Unternehmen fast zentrales Thema
        ist. Die Bundesregierung in Person von Minister Gabriel
        sagt das auch selber. Aus dieser Erkenntnis ist bei der
        Koalition der vorliegende Entwurf des Bürokratieentlas-
        tungsgesetzes entstanden. Dieser greift richtige Punkte
        auf und regelt diese neu im Sinne eines Abbaus von
        Bürokratie. So weit, so gut. Aber: Diesem Gesetzent-
        wurf muss und kann unmittelbar und heute deutlich
        mehr Substanz hinzugefügt werden. Dazu haben wir ei-
        nen eigenen Antrag eingebracht und an einer zentralen
        Stelle, zu den geringwertigen Wirtschaftsgütern, einen
        Änderungsantrag gestellt. Wir wollen die Sofortab-
        schreibungsgrenze für diese GWG von aktuell 410 Euro
        auf 1 000 Euro anheben und die sogenannte Pool-
        abschreibung abschaffen.
        Genau hier komme ich zu dem Punkt, der mich so
        stört. Lesen Sie das Protokoll der ersten – übrigens in der
        Kernzeit gehaltenen – Debatte. Nahezu jeder Redner der
        Koalition hat uns an dem zentralen Punkt der Erhöhung
        dieser GWG-Grenze zugestimmt. Je nach neuer Grenze,
        hat der DIHK berechnet, würde so circa 300 Millionen
        Euro Bürokratieentlastung möglich werden. Für eine
        kleine Maßnahme eine sehr große und positive Wirkung,
        die vor allem Selbstständigen und kleinen und mittleren
        Unternehmen helfen würde. Zudem würde die Anhe-
        bung der Abschreibungsgrenze von geringwertigen
        Wirtschaftsgütern zusätzliche Liquidität gerade für
        kleine und mittlere Unternehmen zur Verfügung stellen –
        ein weiteres starkes Argument für diese Maßnahme.
        Lesen Sie das Protokoll der Anhörung, die meine
        Fraktion erst durchsetzen musste, womit sie einen Be-
        schluss des Gesetzentwurfes ohne weitere Debatte, wie
        von der Koalition erwünscht, verhindert hat. Die Koali-
        tion hat das Thema GWG rauf und runter abgefragt, im-
        mer mit der Erkenntnis: Es spricht sehr viel für und fast
        nichts gegen eine Erhöhung der Abschreibungsgrenze
        für GWG. Die Koalition hat sogar ihren unsinnigen Plan
        fallengelassen, direkt nach der Anhörung den Gesetzent-
        wurf im Ausschuss beschließen zu lassen. So bestand
        zumindest die Möglichkeit, Ergebnisse aus der Anhö-
        rung zu prüfen, zu bewerten und in den Gesetzentwurf
        aufzunehmen. Leider heißt das bei der Großen Koalition,
        dass wir einfach ein bisschen länger warten müssen, bis
        dann ohne weitere Änderung dieser richtige, aber in den
        Maßnahmen ausbaubare Gesetzentwurf beschlossen
        werden soll. Übrigens auch das erst auf Antrag der Grü-
        nen mit einer Debatte. Aber die Koalition kann die
        Tagesordnung festlegen, und so ist diese Debatte für
        2.45 Uhr anberaumt worden – mitten in der Nacht. Die
        Koalition weiß, dass ihr Gesetzentwurf ganz nett, das
        Gesetzgebungsverfahren aber eine Katastrophe war und
        ist.
        Im Handelsblatt war zu lesen, dass die Union der
        SPD die Erhöhung der GWG-Grenze nicht gönnt und
        man lieber auf einen Gesetzentwurf von Minister
        Schäuble wartet. Ich sage dazu ganz klar: Diese groß-
        koalitionäre Kleingeistigkeit geht voll auf Kosten insbe-
        sondere kleiner und mittlerer Unternehmen.
        Und es gibt noch einen anderen Grund: Wie den Ein-
        lassungen von einzelnen Unionsabgeordneten zu entneh-
        men war, haben die Haushälter in der Union immer noch
        das Sagen. Das bedeutet, dass der Unterschied von
        Liquidität und Einnahmen zwar zur Kenntnis genommen
        wird, aber dennoch einfach negiert wird. Die schwarze
        Null wird zum Mantra gegen Bürger und gegen die Wirt-
        schaft. Damit werden alle Verlautbarungen der Großen
        Koalition zur Bedeutung von kleinen und mittleren Un-
        ternehmen und des Mittelstandes zur reinen Sonntags-
        rede.
        Die Union muss nebenbei erklären, was der Mehrwert
        eines Schäuble-Gesetzes gegenüber einem Gabriel-
        Gesetz ist. Die betroffenen Unternehmen, auf deren
        Rücken Sie dieses unwürdige Schauspiel abliefern, wer-
        den diese Erklärung sehr genau notieren.
        Aber es gibt ja noch viele andere Baustellen, die wir
        auch in unserem Antrag aufzeigen, für die Sie aber nicht
        die Courage haben. Genau jetzt wäre der richtige
        Zeitpunkt, Anmeldung und Abführung von Sozialversi-
        cherungsbeiträgen wieder zusammenzuführen. Die So-
        zialkassen sind gefüllt und könnten ohne Verwerfungen
        diese Maßnahme mittragen. Die bürokratische Entlas-
        tung wäre enorm.
        Nehmen Sie das Beispiel Umsatzsteuer: Diese für
        Unternehmen wohl arbeitsintensivste Steuer muss end-
        lich vereinfacht werden, sei es durch weniger Ausnah-
        men à la Ermäßigung für Rennpferde nein, aber für
        Holzrückpferde ja. Und Unternehmen brauchen hier
        mehr Rechtssicherheit, die sie durch eine rechtsverbind-
        liche Auskunft auch bekommen könnten.
        Nehmen Sie das Beispiel verbessertes E-Government:
        Mit einer Anerkennung und wirklichen Umsetzung von
        elektronisch gespeicherten Rechnungen könnte das
        Thema „Zehn Jahre Aufbewahrungspflicht für steuerlich
        relevante Unterlagen“ kurzfristig erledigt werden. Bei
        Umsetzung einer reinen elektronischen Archivierung
        wäre eine Bürokratiekostensenkung deutlich über 1 Mil-
        liarde Euro zu erwarten; so versichern es zumindest be-
        troffene Unternehmen.
        Und stärken Sie den Normenkontrollrat. Wir brau-
        chen eine unabhängige Institution, die sich Regierungs-
        handeln genau anschaut, damit bürokratische Monster
        wie die Dobrindt-Maut schon im Gesetzgebungsprozess
        gestoppt werden können und vorhandene bürokratische
        Prozesse wie die bereits erwähnte vorgezogene Abfüh-
        rung der Sozialversicherungsbeiträge wieder korrigiert
        werden können.
        Sie sehen, es gibt noch viel Bürokratie abzubauen.
        Lassen Sie das nicht an Ihren Kindergartenstreitereien in
        der Koalition scheitern, und erfüllen Sie den eigenen
        Anspruch. Springen Sie über die Hürden der Kameralis-
        tik, und bewerten Sie endlich die Situation aus Sicht der
        Bürgerinnen und Bürger sowie der Wirtschaft. Legen Sie
        mehr als diesen Gesetzentwurf vor, damit klar wird, dass
        der Abbau von Bürokratie wirklich eines Ihrer zentralen
        Themen und kein PR-Gag ist. Ich würde mich freuen,
        wenn Sie doch noch unsere Vorschläge und Anregungen
        annähmen.
        11278 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
        (A) (C)
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        Anlage 27
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Antrags: Herstellung des Ein-
        vernehmens des Deutschen Bundestages mit der
        Bestellung des Max-Planck-Instituts für auslän-
        disches und internationales Strafrecht in Frei-
        burg als wissenschaftlicher Sachverständiger
        im Rahmen der Evaluierung der Gefahrenab-
        wehrbefugnisse nach den §§ 4 a, 20 j und 20 k
        des Gesetzes über das Bundeskriminalamt und
        die Zusammenarbeit des Bundes und der Län-
        der in kriminalpolizeilichen Angelegenheiten
        (Bundeskriminalamtgesetz – BKAG) (Tages-
        ordnungspunkt 29)
        Clemens Binninger (CDU/CSU): Der Deutsche
        Bundestag hat durch eine Verfassungsänderung dem
        Bund die Aufgabe übertragen, Gefahren des internatio-
        nalen Terrorismus abzuwehren. Um dieser wichtigen
        Aufgabe nachzukommen, haben wir die Befugnisse des
        Bundeskriminalamtes erweitert. Es hat erstmals in seiner
        Geschichte präventive Befugnisse zur Gefahrenabwehr
        erhalten. Diese präventiven Befugnisse waren bis dahin
        den Polizeibehörden der Länder vorbehalten. Viele Re-
        gelungen fanden sich bereits in den Polizeigesetzen der
        Länder und hatten sich daher über Jahrzehnte bewährt.
        Andere Regelungen waren neu und müssen nun evaluiert
        werden, nachdem man erste Erfahrungen mit ihnen sam-
        meln konnte.
        Weil sich Terroristen zunehmend moderner Technik
        und des Internets als Kommunikationsmittel bedienen,
        müssen auch die Ermittlungsbehörden mit der techni-
        schen Entwicklung Schritt halten. Deshalb haben wir
        dem Bundeskriminalamt mit dem Gesetz zur Abwehr
        von Gefahren des internationalen Terrorismus auch das
        neue Ermittlungsinstrument der Onlinedurchsuchung an
        die Hand gegeben. Zudem haben wir eine neue Rechts-
        grundlage für die sogenannte Rasterfahndung geschaf-
        fen. Ich bin davon überzeugt, dass dies die richtige
        Entscheidung war, weil das Bundeskriminalamt diese
        Ermittlungsinstrumente angesichts der Bedrohungslage
        benötigt. Genau das wird auch die anstehende Evalua-
        tion belegen.
        Als wir hier im Deutschen Bundestag das neue BKA-
        Gesetz verabschiedeten, standen wir noch unter dem
        Eindruck der Terroranschläge vom 11. September 2001
        in den Vereinigten Staaten. Hinzu kamen die Anschläge
        von Madrid 2004 und London 2005. Sie machten uns auf
        brutale Weise deutlich, dass die Gefährdungslage auch
        hier in Europa ernst ist. Und das gilt auch jetzt noch.
        Während wir heute im Deutschen Bundestag über die
        Evaluation des BKA-Gesetzes beraten, stehen wir unter
        dem Eindruck der schrecklichen Anschläge von Brüssel,
        Paris und – erst vor einer Woche – Lyon und Sousse.
        Hinzu kommt das Wissen, dass mehrere Tausend euro-
        päische Staatsangehörige in den Reihen des sogenannten
        „Islamischen Staates“ kämpfen und jederzeit nach Eu-
        ropa zurückkehren können. Wir sind deshalb heute mehr
        denn je auf unsere Sicherheitsbehörden und ihre Arbeit
        angewiesen. Zugleich sind wir gefordert, die Wirksam-
        keit der bestehenden Ermittlungsinstrumente kritisch zu
        prüfen. Auch dem dient die angestrebte Evaluation des
        BKA-Gesetzes.
        Ich erinnere mich aber auch ganz lebhaft an die laut-
        starke Kritik an dem BKA-Gesetz, die uns damals wäh-
        rend der Beratungen aus den Reihen der Opposition ent-
        gegenschlug. Von unseren Sicherheitsbehörden wurde
        ein Zerrbild gezeichnet, das nichts mit der Realität zu
        tun hatte und hat. Es wurde in der Öffentlichkeit der Ein-
        druck erweckt, dass der Bundesinnenminister am liebs-
        ten jeden einzelnen Computer in Deutschland per On-
        linedurchsuchung überwachen möchte. Das Wort
        „Überwachungsstaat“ machte die Runde. Solche Be-
        fürchtungen und Mutmaßungen über unsere Sicherheits-
        behörden haben sich wieder einmal als falsch herausge-
        stellt. Denn das Bundeskriminalamt setzt seine neuen
        Befugnisse mit Augenmaß und Verstand ein. Das wird
        auch die Evaluation durch unabhängige Dritte belegen,
        über die wir heute debattieren.
        Der Deutsche Bundestag hat das Gesetz aus gutem
        Grund mit einer Evaluationsklausel versehen, damit die
        neuen Regelungen nach einer angemessenen Zeitspanne
        überprüft werden. Eine solche Rückkopplung ist wich-
        tig, damit wir als Gesetzgeber unsere eigene Arbeit kri-
        tisch bewerten können. Die Evaluation soll das Max-
        Planck-Institut für ausländisches und internationales
        Strafrecht in Freiburg durchführen. Das Institut soll prü-
        fen, ob die neuen gesetzlichen Regelungen effektiv um-
        gesetzt wurden und ihren Zweck erfüllen. Dabei wird
        auch zu prüfen sein, ob die neuen Regelungen uner-
        wünschte Nebenwirkungen entfaltet haben oder sich die
        ursprünglichen Rahmenbedingungen geändert haben.
        Mithilfe des wissenschaftlichen Sachverstands des Max-
        Planck-Instituts werden wir die Folgen des Gesetzes in
        der Retrospektive abschätzen und seine Wirkung bewer-
        ten können. Das ist sinnvoll und notwendig.
        In diesem Zusammenhang möchte ich auch darauf
        eingehen, dass in der kommenden Woche die mündliche
        Verhandlung des Bundesverfassungsgerichts über das
        BKA-Gesetz ansteht. Ich bin mir sicher, dass unser Ge-
        setz auch dort Bestand haben wird. Wir haben uns im
        Gesetzgebungsverfahren ausführlich mit der Rechtspre-
        chung des Bundesverfassungsgerichts auseinanderge-
        setzt und insbesondere auch die jüngsten Entscheidun-
        gen zum Schutz des Kernbereichs der persönlichen
        Lebensgestaltung berücksichtigt. Deshalb haben wir ins-
        besondere den Einsatz des Ermittlungsinstruments der
        Onlinedurchsuchung an sehr hohe Hürden geknüpft. Un-
        ser Gesetz entspricht Punkt für Punkt den Vorgaben, die
        wir dafür aus Karlsruhe erhalten haben. Es wird deshalb
        auch vor dem Bundesverfassungsgericht Bestand haben.
        Alle Experten bestätigen, dass die Gefährdungslage
        nach wie vor ernst ist. Wir sollten deshalb nicht zur Hys-
        terie neigen, aber wir sollten tun, was wir tun können.
        Genau so verfahren wir, Schritt für Schritt und mit Be-
        dacht. Wenn wir aber Misstrauen gegen unsere Sicher-
        heitsbehörden schüren und ihnen den Missbrauch ihrer
        Befugnisse unterstellen, macht das weder unser Land si-
        cherer noch unsere Freiheit größer. Die Menschen beim
        Bundeskriminalamt und den anderen Sicherheitsbehör-
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11279
        (A) (C)
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        den verdienen unser Vertrauen, denn sie schützen die
        Menschen in unserem Land.
        Uli Grötsch (SPD): Mit dem heutigen Antrag gibt
        der Deutsche Bundestag sein Einverständnis, dass das
        Max-Planck-Institut für ausländisches und internationa-
        les Strafrecht als Sachverständiger bestellt wird, um be-
        stimmte Gefahrenabwehrbefugnisse des Bundeskrimi-
        nalamtes zu evaluieren.
        Es geht um das BKA-Gesetz zur Abwehr von Gefah-
        ren des internationalen Terrorismus, das vor fünf Jahren
        in Kraft getreten ist. Das BKA ist seitdem bei der Terro-
        rismusbekämpfung nicht nur für die Strafverfolgung,
        sondern auch für die Gefahrenabwehr zuständig. Dafür
        sind dem BKA polizeiliche Befugnisse wie die Raster-
        fahndung und die Onlinedurchsuchung übertragen wor-
        den, die in dieser Form neu waren. Aus diesem Grund ist
        eine wissenschaftliche Überprüfung im damaligen Ge-
        setzgebungsverfahren ganz bewusst verankert worden.
        Die Gefahrenabwehr beim BKA anzusiedeln, war
        zweifelsohne erforderlich. Aber einzelne Befugnisse wie
        die Onlinedurchsuchung sind nicht unumstritten. Des-
        halb ist es gut, dass wir die Auswirkung dessen nun nach
        einer angemessenen Zeit einer wissenschaftlichen Über-
        prüfung unterziehen.
        Klar ist dabei: Eine solche Untersuchung muss natür-
        lich von unabhängiger Seite erfolgen. Klar ist auch:
        Nicht das gesamte BKA-Gesetz wird auf den Kopf ge-
        stellt, sondern der Fokus liegt auf den genannten neuen
        Befugnissen.
        Ich denke, es besteht kein Zweifel, dass das Max-
        Planck-Institut für ausländisches und internationales
        Strafrecht für diese Aufgabe bestens geeignet ist. Das In-
        stitut bündelt wissenschaftliche Expertise zu Strafrecht
        und Kriminologie in einem Haus und ist parteiübergrei-
        fend anerkannt. Zuletzt hat das MPI den Gesetzgeber
        zum Beispiel bei der Verabschiedung des Gesetzes zur
        Terrorismusfinanzierung sehr fundiert beraten. Und die
        Wissenschaftler haben sich selbstverständlich nicht ge-
        scheut, rechtliche Bedenken offen vorzutragen.
        Über den Inhalt des heutigen Antrages der Regie-
        rungskoalition kann also kaum gestritten werden.
        Ich möchte die Gelegenheit daher auch gerne nutzen,
        um über einige Mythen des BKA-Gesetzes aufzuklären.
        Bei der Verabschiedung des Gesetzes hieß es, das BKA
        erhalte im Antiterrorkampf vollkommen ungerechtfer-
        tigte Kompetenzen und es entstehe ein Art „deutsches
        FBI“. Hierzu möchte ich in Erinnerung rufen, dass bei
        Instrumenten wie der Onlinedurchsuchung oder der
        Rasterfahndung ein klarer Richtervorbehalt im Gesetz
        steht. Zudem wird stets der Datenschutzbeauftragte des
        BKA hinzugezogen. Zum Vergleich: In vielen Polizeige-
        setzen in den Ländern ist der Richtervorbehalt nicht so
        klar geregelt wie im BKA-Gesetz. Und Instrumente wie
        die Rasterfahndung gab es in den Ländern bereits viele
        Jahre zuvor.
        Nein, das BKA ist durch das Gesetz kein „deutsches
        FBI“ geworden. Dazu haben wir in Deutschland ganz
        bewusst gar nicht die personellen und finanziellen Mittel
        bereitgestellt. Außerdem haben wir in Deutschland un-
        sere bewährte föderale und eben nicht eine zentral orga-
        nisierte Sicherheitsstruktur.
        Aber klar ist auch: Der Bekämpfung von Terrorismus
        in einer immer stärker vernetzten Gesellschaft sind die
        einzelnen Landeskriminalämter alleine nicht gewachsen.
        Deshalb kann kaum jemand ernsthaft bestreiten, dass wir
        eine gute Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern
        brauchen und dass dafür einige Kompetenzen in den
        letzten Jahren an Bundesbehörden wie das BKA übertra-
        gen werden mussten.
        Natürlich kann an einigen Stellen Verbesserungs-
        bedarf bestehen. Unsere Gesetze zur inneren Sicherheit
        sollten stets kritisch hinterfragt werden. Das ist genau
        der Grund, warum das MPI das BKA-Gesetz genau prü-
        fen soll. Ich denke, dies können wir besten Gewissens
        heute hier beschließen.
        Zu einer guten rechtsstaatlichen Überprüfung gehört
        nicht zuletzt auch der Weg zum Bundesverfassungsge-
        richt, der damals von einigen Kritikern eingeschlagen
        wurde. Hier ist, wie wir alle wissen, bald mit einem
        Urteil zu rechnen, und das haben wir als Parlamentarier
        natürlich im Blick.
        Sowohl bei der wissenschaftlichen als auch bei der ju-
        ristischen Überprüfung bin ich schon gespannt auf die
        Ergebnisse. Und ich freue mich schon, auf dieser Grund-
        lage gemeinsam mit allen Fraktionen sachlich über mög-
        liche Verbesserungen zu diskutieren.
        Frank Tempel (DIE LINKE): Diese Evaluation der
        Gefahrenabwehrbefugnisse des BKA ist schon lange
        überfällig. Nach dem Wortlaut des Änderungsgesetzes
        sollte die Evaluation fünf Jahre nach Inkrafttreten vorge-
        nommen werden; das wäre Ende 2013 gewesen, selbst
        bei großzügiger Auslegung Ende 2014. Ausweislich des
        Zeitplans wird sie nun Mitte 2016 vorliegen. Vor einem
        halben Jahr wurde das Angebot des Max-Planck-Insti-
        tuts vom BMI befürwortet, und das Einvernehmen mit
        dem Deutschen Bundestag hätte schon lange hergestellt
        werden können.
        Die Koalition hat nun kurz vor Sitzungsbeginn den
        Antrag eingebracht, der jetzt auch noch zur Sofortab-
        stimmung steht. Für die Opposition besteht keine Mög-
        lichkeit, noch Änderungen einzubringen. Beim Antrag
        zur Evaluation der Sicherheitsgesetze durch das Deutsche
        Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung Speyer
        Anfang dieser Legislatur gab es noch die Möglichkeit
        für die Opposition, Stellungnahmen abzugeben. Die par-
        lamentarischen Sitten verfallen zusehends!
        Hätte die Evaluation fristgerecht vorgelegen, hätte sie
        außerdem auch in die Entscheidungsfindung des Bun-
        desverfassungsgerichtes, BVerfG, zur nächste Woche
        verhandelten Klage einfließen können. Diese Chance ist
        nun vertan; ein Jahr wird das BVerfG mit seiner Ent-
        scheidung sicherlich nicht warten wollen.
        Sehr geehrte Kollegen von der Koalition, der Ansatz
        für die Evaluation greift viel zu kurz. Hier stehen zwei
        11280 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
        (A) (C)
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        tief in die Persönlichkeitsrechte eingreifende Befugnisse
        zur Bewertung.
        Es handelt sich dabei um die Rasterfahndung, also
        den Abruf von Datensätzen aus verschiedenen Datenbe-
        ständen und deren Zusammenführung, sowie um den
        verdeckten Eingriff in informationstechnische Systeme.
        Bei beiden bestehen Zweifel, ob sie überhaupt erforder-
        lich und geeignet sind. Sie stehen aber in einer Reihe
        von weiteren Befugnissen nach § 20 a bis § 20 x des
        Bundeskriminalamtsgesetzes, BKAG. Es bringt daher
        nichts, nur bei einzelnen Befugnissen zu prüfen, ob dort
        die Regelungen zum Schutz des Kernbereiches privater
        Lebensgestaltung ausreichend und effektiv sind. Die Ge-
        samtheit sich ergänzender Überwachungsmaßnahmen
        erzeugt die Gefahr, zum Objekt staatlicher Ausforschung
        zu werden. Auch das müsste Gegenstand einer Evaluation
        sein. Völlig außerhalb dieser Evaluation steht zudem, dass
        die Befugnisse des BKA durch die tiefe Vernetzung und
        den Erkenntnisaustausch mit den Landeskriminalämtern
        und den Geheimdiensten eine Eingriffstiefe haben oder
        gewinnen können, die für die Bürgerinnen und Bürger
        allein aus dem Gesetzestext nicht ersichtlich ist.
        Die Befugnisse zur Übermittlung von Daten, nach
        Ansicht des BVerfG ein eigener Grundrechtseingriff,
        sind schon von vornherein verfassungsrechtlich unzurei-
        chend. Die Übermittlung an ausländische Stellen ist
        nicht besonders geregelt, was angesichts jüngster Ent-
        wicklungen sehr zu denken gibt. Ebenfalls nicht über-
        prüft wird die Eilfallregelung bei den Befugnissen. Der
        Großen Koalition war es wichtiger, das Gesetz für das
        BKA praktisch handhabbar zu machen, als Vorkehrun-
        gen für einen effektiven Rechtsschutz zu schaffen. Bei
        heimlichen Überwachungsmaßnahmen ist nur durch den
        Richtervorbehalt ein effektiver Rechtsschutz sicherzu-
        stellen. Doch gerade der wird im vermeintlichen Eilfall
        ausgehebelt!
        Die Erweiterung der Befugnisse des BKA weit in das
        Vorfeld konkreter Straftaten lässt die Abgrenzung zu den
        Nachrichtendiensten verschwimmen. Das an sich ist
        schon problematisch. Wenn man das aber macht, dann
        muss neben die richterliche Kontrolle auch, wie üblich
        bei nachrichtendienstlichen Befugnissen, eine parlamen-
        tarische Kontrolle treten. Eine Evaluation durch externen
        Sachverstand, selbst wenn es sich um das renommierte
        Max-Planck-Institut für ausländisches und internationa-
        les Strafrecht handelt, der im Wesentlichen auf die An-
        gaben aus den befugnisnutzenden Behörden angewiesen
        ist, kann eine effektive parlamentarisch-politische Kon-
        trolle nicht ersetzen.
        Das Evaluationsdesign an sich ist das bislang beste im
        Bereich der Evaluation von Sicherheitsgesetzen in der
        Bundesrepublik. Es werden auch Normen in den Blick
        genommen, die zur Bewertung der „Eingriffstiefe und
        Eingriffsbreite“ herangezogen werden müssen.
        Das Evaluationsdesign nimmt auch in den Blick, dass
        im Bereich der Terrorismusbekämpfung zwischen Ge-
        fahrenabwehr und Strafverfolgung keine scharfe Trenn-
        linie besteht und Maßnahmen der Gefahrenabwehr un-
        mittelbar zu Maßnahmen der Strafverfolgung führen
        können.
        Unverständlich ist es, wenn die Bieter selbst davon
        ausgehen, dass bisher keine Anwendung der Befugnisse
        im präventiven Bereich stattgefunden habe. Die Unter-
        suchung wird sich also somit auf Fälle beziehen müssen,
        bei denen solche Maßnahmen gegebenenfalls diskutiert
        und vorbereitet wurden.
        Gegenstand sind auch die Probleme, die aus der
        „Übernahmebefugnis“ des BKA in Fällen von interna-
        tionalem Terrorismus nach § 4 a bestehen, insbesondere
        zur doch weiterhin möglichen Mehrfacherhebung von
        Daten, zu den Benachrichtigungsregeln und zur Über-
        nahme von Fällen durch die Länder. In diesem Zusam-
        menhang soll dann geklärt werden, wie der Begriff des
        „internationalen Terrorismus“ in der Praxis überhaupt
        angewendet wird. In der Anhörung zum Gesetz war be-
        reits die unpräzise Begrifflichkeit kritisiert worden.
        Weiterhin soll geprüft werden, ob bei der Rasterfahn-
        dung und dem verdeckten Eingriff in informationstech-
        nische Systeme die bisher nicht vorhandene Eilkompe-
        tenz des BKA geschaffen werden sollte. Die Linke
        fordert eindringlich, dass im Gegensatz zur oft geübten
        Regierungspraxis der Evaluationsbericht dem Parlament
        vollständig vorgelegt wird.
        Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir
        stimmen dem Antrag der Koalition zu, das Max-Planck-
        Institut für ausländisches und internationales Strafrecht
        in Freiburg, hier insbesondere die Herren Professoren
        Hans-Jörg Albrecht und Ralf Poscher, als Sachverstän-
        dige für die Unterstützung der Evaluation des BKA-Ge-
        setzes zu bestellen. Die Gefahrenabwehrbefugnisse des
        BKA sind ja nicht mehr ganz neu. Dem Bundeskriminal-
        amt als Polizei wurde mit der Novelle des BKA-Geset-
        zes geheimdienstähnliche Befugnisse weit im Gefahren-
        vorfeld gegeben.
        Deshalb ist es richtig und es ist auch überfällig, dass
        diese Befugnisse nun endlich evaluiert werden. Schließ-
        lich sollte der Bericht schon seit zwei Jahren vorliegen.
        Ach ja, nur nebenbei: Wo bleibt eigentlich der Evalu-
        ierungsbericht zum Terrorismusbekämpfungsgesetz? Der
        ist auch längst fällig.
        Gut ist es auch, sehr gut sogar, dass wir mit dem An-
        gebot des MPI – vielleicht erstmals – ein Konzept für die
        Evaluierung eines Sicherheitsgesetzes aufgrund einer
        gesetzlichen Evaluierungsklausel auf dem Tisch haben,
        das eine adäquate Auseinandersetzung mit dem schwie-
        rigen Thema verspricht. Mit dem Evaluierungsbericht
        wird uns als Gesetzgeber die Expertise an die Hand ge-
        geben, die wir brauchen, um entscheiden zu können, ob
        die untersuchten Vorschriften zur Terrorismusbekämp-
        fung, zur Rasterfahndung und zur Onlinedurchsuchung
        den Grundrechten entsprechen, ob sie tatsächlich mehr
        Sicherheit bringen oder vielleicht doch mehr Schaden
        anrichten als Nutzen bringen.
        Deshalb bin ich wirklich froh, dass alle Fraktionen es
        mitgetragen haben, dass der Innenausschuss des Deut-
        schen Bundestages die Evaluierungsprozesse kritisch be-
        gleitet. Damit am Ende des Prozesses nicht – auch das
        hat es schon gegeben – eine Werbebroschüre für das
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11281
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        Bundesministerium des Innern als Auftraggeber steht,
        sondern ein aussagekräftiger Evaluierungsbericht. Und
        Sie sind dem Antrag von uns Grünen und dem Wortlaut
        der Evaluierungsklausel gefolgt, die Bestellung des wis-
        senschaftlichen Sachverständigen im Plenum öffentlich
        zu debattieren. Beides ist nötig, damit wir in dem
        schwierigen Feld der inneren Sicherheit unserer Pflicht
        nachkommen, die Anwendung der von uns erlassenen
        Gesetze im Verhältnis zu den Grundrechten immer und
        immer wieder zu beobachten und gegebenenfalls nach-
        zubessern.
        Aber obwohl ich froh bin, dass das BKA-Gesetz nun
        endlich evaluiert wird, habe ich auch ein paar Zweifel.
        Der Deutsche Bundestag hat im Jahr 2008 – gegen die
        Stimmen meiner Fraktion und gegen den Rat einer Reihe
        von hochkompetenten Sachverständigen – das BKA-Ge-
        setz in der jetzt geltenden Fassung erlassen. Jetzt, sieben
        Jahre danach, hat die Praxis gezeigt, dass die von den
        Sachverständigen angeführten Bedenken berechtigt wa-
        ren. Der Chaos Computer Club hat aufgedeckt, dass der
        Staatstrojaner mehr konnte, als er verfassungsrechtlich
        darf, und nun bestellen wir einen der besonders kriti-
        schen Sachverständigen von damals zum wissenschaftli-
        chen Sachverständigen für die Evaluation.
        Und wie Sie wissen, wird am kommenden Dienstag in
        Karlsruhe beim Bundesverfassungsgericht über die Ver-
        fassungsbeschwerden meiner Abgeordnetenkollegen
        Wieland, Ströbele, Terpe, Roth, Nachtwei, Trittin,
        Müller, Künast und Beck verhandelt, die sich durch die-
        ses weitreichende und unbestimmte BKA-Gesetz in ih-
        ren Grundrechten verletzt sehen. Also müssen wir wie-
        der einmal das Bundesverfassungsgericht mit einem
        Sicherheitsgesetz beschäftigen, das der Deutsche Bun-
        destag wider besseres Wissen erlassen hat. So war es
        beim Antiterrordateigesetz, und so wird es auch – das
        prophezeie ich Ihnen – bei der Novelle des Bundesver-
        fassungsschutzgesetzes sein, welches Sie, liebe Kolle-
        ginnen und Kollegen der Großen Koalition, morgen ver-
        abschieden wollen.
        Das ist nicht richtig so. Das ist populistische Politik
        ohne Sicherheitsgewinn, aber dafür zulasten der Grund-
        rechte.
        Zudem bin ich mir nicht ganz sicher, ob das, was das
        MPI zu Recht für eine grundrechtsorientierte Evaluie-
        rung für nötig hält, so auch durchgeführt werden kann.
        Ob das alles funktioniert, liegt maßgeblich am auftrag-
        gebenden Ministerium und an der Mitarbeit der Sicher-
        heitsbehörden. Wenn das Bundeskriminalamt und die
        Landeskriminalämter den umfassenden Einblick in das
        Fallmaterial verweigern oder es an Dokumentationen
        fehlt, wird eine sinnvolle Evaluation nicht möglich sein.
        Es geht hier um heimliche Überwachungsmaßnahmen
        und Datenanalysen. Von deren Praxis wissen wir kaum
        etwas – eben weil sie heimlich sind. Die Evaluation steht
        und fällt daher damit, dass die Evaluatoren umfassenden
        Einblick bekommen und dass die Praxis auch dokumen-
        tiert wurde.
        Wir Grüne werden nicht nur den Erlass neuer Sicher-
        heitsgesetze, sondern auch diesen Evaluierungsprozess
        kritisch begleiten und genau darauf achten, dass die
        Grundrechte nicht für einen zweifelhaften Sicherheitsge-
        winn ausgehöhlt werden.
        Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
        115. Sitzung
        Inhaltsverzeichnis
        TOP 4 Sterbebegleitung
        TOP 5 Reform der Strukturen der Krankenhausversorgung
        TOP 12 Medizinische Versorgung für Asylsuchende
        TOP 36, ZP 3 Überweisungen im vereinfachten Verfahren
        TOP 37, ZP 4 Abschließende Beratungen ohne Aussprache
        TOP 7 Wahl „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“
        ZP 5 Aktuelle Stunde zur Sicherheitslage nach islamistischen Anschlägen
        TOP 8 Wohngeldrecht und Wohnraumförderung
        TOP 9 Aufarbeitung von sexuellem Kindesmissbrauch
        TOP 10 Suizidprävention
        TOP 11 Entsorgung von Elektro- und Elektronikgeräten
        TOP 16 Arbeit für Menschen mit Behinderungen
        TOP 13 Bleiberecht und Aufenthaltsbeendigung
        TOP 18 Subventionen für Atomkraftwerke in der EU
        ZP 6 Karenzzeit für Regierungsmitglieder
        TOP 20 Umgang mit Atommüll
        TOP 15 Standards in Handwerk und Freien Berufen
        TOP 14 Jemen
        TOP 17, ZP 7 Digitale Bildung und Medienkompetenz
        TOP 19 Förderung von Integrationsbetrieben
        TOP 21 Weltweite Lage der Religions- und Glaubensfreiheit
        TOP 22 Fischetikettierungs- und Tiergesundheitsgesetz
        TOP 23 Weingesetz
        TOP 24 Häftlingshilfegesetz, Bundesvertriebenengesetz
        TOP 25 Energiesteuerermäßigung für Erd- und Flüssiggas
        TOP 26 Neuorganisation der Zollverwaltung
        TOP 27 Übereinkommen über Amtshilfe in Steuersachen
        TOP 28 Bürokratieentlastungsgesetz
        TOP 29 Sachverständiger für Gefahrenabwehrbefugnisse
        Anlagen